c< ^80
138
jfilrotrg uf
tyrimct&n Uni^r&xt^
Digitized by
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
\
Digitized by
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Digitized by
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
ARCHIY
FUR
PSYCHIATRIE
UND
NERYENKRANKHEITEN
HERAUSGEGEBEN VON
G. ANTON
HALLE
A. HOCHE
FREIBURG I. B.
E. SCHULTZE
GOTTINGEN
0. BINSWANGER
JENA
E. MEYER
K0NIG3BERG
E. SIEMERLING
KIEL
R. WOLLENBERG
BRESLAU
K. BONHOEFFER
BERLIN
J. RAECKE
FRANKFURT A. M.
A. WESTPHAL
BONN
REDIGIERT VON
E. SIEMERLING
SIEBENUNDSECHZIGSTER BAND
MIT 30 TEXTABBILDUNGEN
BERLIN
VERLAG VON JULIUS SPRINGER
1923
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
I)ruck von Oscar Hrandstetter in Leipzig.
Digitized by
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Inlialtsverzeichnis
Spite
Luharsch, 0. Uber die Ablagerung eisenhaltigen Pigments im Gehirn und ihre
Bedeutung bei der progressiven Paralyse. 1
Ganter, Rudolf. Uber die Dicke und das Gewicht des Schadeldaches bei Epi-
leptischen und Schwachsinnigen.13
Jakoby, Kurt. Uber die Indikationen zu hirndruckentlastendcn Operationen 20
Skliar, N. Uber die katatonische Demenz und deren klinische Formen. . 58
Marqnard, Kurt. Uber ungewohnlich lokalisierte Encephalitisfojmen nacli
Grippe. Mit einein Beitrag iiber das Symptom der Adiadochokinese 84
47. Wanderversammlung der siidwestdeutschen Neurologen und Irrenarzte am
27. und 28. Mai 1922 in Baden-Baden.105
Bucherbesprechungen .133
i Berger, H. Otto Binswanger zum 70. Geburtstag.
Raeeke. Emil Sioli f.137
Baffner, Hugo. Zur Psychopathologie der Konigsberger Mucker .... 151
Range, W. Beobachtungen beim akinetisch-hypertonischen Symptomen-
komplex. I. Mit 3 Textabbildungen.167
Range, W. Beobachtungen beim akinetisch-hypertonischen Symptomen-
komplex. II.214
Richter, H. Britraga zur Klinik und pathologischen Atiatomie der extra-
p.- i n'la’ji BiwagngHt3.’aig3i. Mit 12 Textabbildung.m.226
Richter, H. Bemerkungen zur Histogenese der Tabes. Mit 5 Textabbildungen 295
Schaffer, Karl. Beitrage zur Histopathologic der Spinalganglienzellen. Mit
4 Textabbildungen.318
Miskolczy, Desiderias. Zur Markscheidenentwicklung des Rautenhirns.
Mit 4 Textabbildungen.330
Abderhalden, Emil. Richtigstellung zu ,,Die Bedeutung der Abdcrhalden-
schen Reaktion fiir Psychiatrie und Nervenkrankheiten nach dent
heutigen Stande imserer Kenntnisse' 1 von Max Kastan .352
Sioli, F. Berichtigung zu „Uber Spirochaten bei Endarteriitis syphilitica des
Gehiras“.353
Buchtrbe&prechnngen .355
Mittfilung: Medizinisch-literarische Zentrnlstelle.356
Portriit Gamer.
Ilberg, Georg. Sigbert Ganser, zum 24. Januar 1923 . 357
Ilberg, Georg. Multiple Verodungen in der Hirnrinde. (Herrn Geheimen
Medizinalrat Dr. Ganser zum 70. Geburtstage.) Mit 2 Textabbildungen 363
Medow, W. BewuBtseinstriibungen l>ei Dementia praecox.373
1A 741883
V Digitized by VjO glcV
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Digitized by
IV Inhaltsverzeichnis.
Seite
Pohiisch,]Kurt. Zur Frage der Pyknolepsie. (Gehaufte kleine Anfalle der
Kinder).424
Biicherbesprechuvgen .454
Ruhe, Heinrich. Uber die 'nosologische Stellung und Differentialdiagnose
der sogenannten Meningitis serosa.459
Fischer, Siegfried. Die sogenannten BewuBtseinsstorungen. Eine psycho-
pathologische Untersuchung.537
Stern-Piper, Ludwig. Kretschmers peycho-physische Typen und die Rassen-
formen in Deutschland. Mit 4 Textabbildungen.569
Lapinsky, Michael. Zur Frage iiber den Mechanismus der (sogenannten
Wurzel-)Neuralgie des N. ischiadicus.600
Knichel. Zur Frage der Halluzinations-Theorie.690
Biicherbesprechungen .705
Auiorenverzeichnis .709
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
fiber die Ablagerung eisenlmltigen Pigments im Geliirn und
ihre Bedeutung bei der progressive Paralyse.
Von
0. Lubarsch.
(Eingegangen am 20. August 1922.)
Im Jahre 1917 (Berl. klin. Wochenschr. Nr. 3) habe ich die Auf-
merksamkeit auf das haufige Vorkommen eisenhaltigen Farbstoffes
im Gehirn — vorwiegend in Streifenhiigel, Putamen und Substantia
nigra, sowie dem Hinterlappen des Gehirnanhangs — gelenkt und etwas
ausfuhrlichere Angaben dariiber durch meinen Schuler Odefey 1 ) machen
lassen. Seitdem hat sich besonders Spatz 2 ) mit dieser Frage beschaftigt
und meine Befunde teils weitgehend bestatigt, teils in wesenthchen
Punkten erganzt. Ich selbst habe seit dieser Zeit meine Erfahrungen
fortwahrend an sehr groBem Material erganzt, aber leider noch keine
Zeit gefunden, dariiber zusammenhangend zu berichten und deswegen
auch noch nicht auf die von meinen bisherigen Angaben abweichenden
Anschauungen Spatz’ eingehen konnen.
Spatz unterscheidet namlich zweiArten Eisenfarbstoffablagerungen
im Gehirn, die sich zum Teil durch ihre Lokalisation unterscheidensollen.
Bei der einen Gruppe handelt es sich um aus dem Hamoglobin stam-
mendes Abbaueisen (Haemosiderin), das normalerweise nur im Streifen-
hiigel,Substantia nigra und Hypophysenhinterlappen und -stielvorkommt
und mit dem von mir nachgewiesenen ubereinstimmt. Bei der anderen
Gruppe soli dagegen das eisenhaltige Pigment nicht aus dem Hamo¬
globin der roten Blutkorperchen stammen, nicht Abbau-, sondern
Aufbaueisen sein, aus dem sich durch Assimilation Funktionseisen
entwickelt. Dieses soli nicht nur an den drei genannten Orten vor¬
kommen, wo sich Abbaueisen findet, sondern auBerdem noch in Nucleus
ruber, Nucleus dentatus und Corpus Luysii. Die beiden Gehirnzentren,
die stets den starksten Grad der Reaktion zeigten, Globus pallidus
und Stratum intermedium der Substantia nigra gehorten auch strukturell
aufs eng,te zusammen. Zum Unterschiede vom Abbaueisen ware das
Vorkommen des Aufbaueisens an diesen Stellen ein ganz regelmaCiger
*) Arch. f. Psychiatr. 59, 1918.
2 ) Zur Eisenfrage, bes. bei der progress. Paralyse und iiber nervose Zentren
mit eisenhalt. Pigment. Zentralbl. f. d. ges. Neurologic 25, S. 102 u. 27, S. 171.
Archly ffir Psychiatric. Bd. 67. 1
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
2 O. Lubarsch : Cbor die Ablagerung eLsenhaltigea Pigments
Befund, wahrend nach raeinen eigenen Angaben das Abbaueisen hier
fehlen konne und bei Kindern und Tieren normalenveise nicht vor-
kame. Als einen weiteren Hanptunterschied zwischen den beiden Gnip-
pen von Eisenpigment gibtSpatz dannan, daB es sich bei dem Aufbau-
eisen urn eine gleichmaBige, schon mit bloBern Auge erkennbare Reak-
tion handle.
Da ich tatsachlich, wie Spatz schon annahm, bei meinen fruheren
Untersuchungen eine makroskopische Eisenreaktion nicht vorgenom-
men hatte, habe ich das inzwischen nachgeholt und mit Unterstutzung
von Henen Dr. Pauntz und Plenge iiber 100 Falle aus den verschie-
densten Lebensaltern und den verschiedensten Sektionsfallen daraufhin
untersucht. Das Ergebnis der Untersuchungen, die ich in Tabellenfonn
wiedergebe, stimmt in der Hauptsache mit denen von Spatz iiberein.
nur hat sich gezeigt, daB das Pigment erst am Ende des ersten Lebens-
jahres, und zwa*' nur im Globus pallidus ganz schwach auftritt, vom
dritten Lebensjahr an auch in Putamen und der Zwischenschicht der
Substantia nigra erscheint und erst vom 4. Lebensjahr an, dann aber
fast ganz gleichmaBig stark durch alle Lebensalter hindurch im Streifen-
hiigel und Substantia nigra gefunden wird.
Pigmenthefunde.
Nr.
.41 ter
Globus
pallidus
Putamen
Intermed. Zone
d. Subst. nigra
1
37 cm lange Tot-
geburt .
2
45 cm lange Tot-
geburt .
_
3
1 Std. altes Neu-
geborenes ....
_
.
4
2 Tage alter Saug-
ling, 47 cm lang
_
.
_
5
3 Tage alter Sfiug-
hng .
_
_
6
6 Tage alter Siiugling
—
—
—
7
11 Tage alter Sftug-
ling (Friihgeburt)
_
,
8
19 Tage altes Kind
—
—
—
9
6 V 2 Wochen altes
Kind .
10
7 Wochen altes Kind
—
—
—
H
3 monatiges Kind .
—
—
—■
12
ff »f •
—
—
—
13
** 99 •
—
—
14
99 99 •
—
—
—
15
4 monatiges Kind .
—
—
16
«* y* •
—
17
4 1 2 monatiges Kind
—
—
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
im Gehirn und ihre Bedeutung bei der progressive!! Paralyse.
3
Globus
pallidus
Putamen
Intermed. Zone
d. Subst. nigra
5monatige8 Kind .
6 monatiges Kind .
7 j /2 monatiges Kind
99 99 •
9 monatiges Kind .
10' /2 monatiges Kind
1 Jahr .
1 Jahr 1 Monat . .
lVo Jahr.
1 Jalir 7 Monate
1% Jahre ....
2 Jahre 4 Monate
2*2 Jahre ....
3 Jahre ....
--ganz schwacli
99 99
I 99 99
I* 99 99
99 99
99 99
’ l 99 99
-- schwach
99
+
-f- ganz schwach-f- ganz schwach
-j- schwach -- schwach
>* i >*
-(- schwach erst
nach 12 St<ln.
eintretend
+ +
+ +
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
4
O. Lubarsch: t)ber die Ablagerung eisenhaltigen Pigments
Xr.
Alter
i
Globus
pallidus
1
r , . Intermed. Zone
Putamen , 0 , ,
d. Subst. nigra
69
49 Jahre .
_
_
1
_
70
49.
-
r-
(- 1 H
-
71
50 ..
-
-
-
1
-
72
50 „ .
-
-
-
-
73
50 ,, .
-
-
-
-
-
74
51 „ .
-
- 1
-
75
52.
-
-
-
76
53 „ .
-
-
-
-
77
53 „ .
-
-
-
-
-
78
54.
-
-
-
i
-
79
54 ..
-
-
- i -
-
80
56 ..
-
-
i
-
81
57.
-
-
-
-
82
57.
-
-
t 1
-
83
59 ..
-
-
-
84
59 .
—
-
—
-
-
85
61 ..
-
-
-
-
86
61 ..
-
-
_
~
-
87
61 .
-
-
-
-
88
62 ,, .
-
-
—
-
89
63 .
-
-
-
-
90
64 ..
-
-
-
-
91
66 ..
—
-
b -1
-
92
66 .
-
-
H
b H
-
93
67 ,. .
-
b H
-
94
67.
—
-
b i
-
95
68 ..
_
-
-
96
68.
-
-
-
-
97
68.
H
-
i
-
-
98
69.
H
-
-
99
73.
-
—
-i
-
100
75.
J
-
-
1
-
Befunde im Nucleus dentatus.
Xr.
Alter
Nucleus dentatus
Nr.
l
Alter
1
Nucleus dentatus
I
1
Neugebor.
_
36
36 Jahre
geringe diffuse Reakt.
2
lOTagealt
—
37
38 „
geringe herdf. Reakt.
3
SWochen
—
38
39 „
geringe diffuse Reakt.
4
6 „
—
39
39 „
geringe d.ffuse Reakt.
5
10 „
—
40
40 „
ganz ger. diff. Reakt.
6
2 Monate
—
41
40 „
starke diffuse Reakt.
7
3 „
—
42
45 „
geringe diffuse Reakt.
8
4 „
—
43
46 „
maO. starke diff. Reakt.
9
8 „
geringe herdf. Reakt.
44
47 „
mail, starke diff. Reakt.
10
1% Jahre
geringe herdf. Reakt.
45
48 „
starke diffuse Reakt.
11
2 Jahre
—
46
48 „
starke diffuse Reakt.
12
2%Jahre
ganz ger. diff. Reakt.
47
49 „
maQ. st. diff. Reakt.
13
3V 2 „
48
50 „
ger. diff., stellenweise
stiirkere herdf. Reakt.
Digitized by
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
im Gehirn und ihre Bedeutung bei der progressiven Paralyse.
5
Nr.
Alter
Befunde
Nr.
Alter
Befunde
14
7 Jahre
ganz ger. diff., stellen-
weise st. herdf. Reakt.
49
1
51 Jahre maB. starke diff. Reakt.
15
10
yy
—
50
52
yy
geringe diffuse Reakt.
16
12
—
51
52
yy
maBig starke Reakt.
17
16
yy
ganz ger. herdf. Reakt.
52
53
yy
miiB. starke diff. Reakt.
18
16
yy
—
53
53
yy
starke diffuse Reakt.
19
18
yy
—
54
54
yy
starke diffuse Reakt.
20
19
yy
ganz ger. diff. Reakt.
55
56
yy
geringe diffuse Reakt.
21
20
yy
ganz ger. diff. Reakt.
56
56
yy
gmaB. starke diff. Reak.
geringe diffuse Reakt.
geringe diffuse Reakt.
22
21
ganz ger. diff. Reakt.
57
57
yy
23
21
yy
maB. st. diff. Reakt.
58
57
yy
24
24
yy
ganz ger. diff. Reakt.
59
57
yy
maBig starke Reakt.
25
25
maB. st. diff. Reakt.
60
69
yy
maB. starke diff. Reakt.
26
25
mall. st. diff. Reakt.
61
59
yy
geringe herdf. Reakt.
27
21
yy
ganz ger. diff. Reakt.
62
61
yy
maB. st. diff. Reakt.
28
27
ganz ger. diff. Reakt.
63
62
yy
geringe diffuse Reakt.
29
26
:
—
64
63
yy
geringe diffuse Reakt.
30
33
maB. st. diff. Reakt.
65
66
yy
starke diffuse Reakt.
31
33
yy
starke d ffuse Reakt.
66
66
yy
geringe diffuse Reakt.
32
33
yy
geringe diffuse Reakt.
67
67
yy
starke diffuse Reakt.
33
34
yy
inaBig starke Reakt.
68
67
yy
geringe diffuse Reakt.
34
35
yy
geringe diffuse Reakt.
69
67
yy
maB. st. diff. Reakt.
35
36
yy
maB. st. diff. Reakt.
70
80
yy
maB. st. diff. Reakt.
Befunde a. der RrUcke.
Nr.
Alter
!
Befunde
Nr.
Alter
Befunde
i
6 Wochen
_
26
36 Jahre
_
2
2 Monate
—
27
36
yy
—
3
3 „
—
28
38
yy
—
4
l%J&hr
—
29
39
yy
—
5
2 „
—
30
45
yy
—
6
2% „
—
31
46
yy
—
7
10 „
—
32
47
"
—
8
3 Monate
—
33
48
yy
—
9
3 „
—
34
48
„
—
10
4 „
—
35
51
„
—
11
16 Jahre
geringe herdf. Reakt.
36
52
—
12
16 „
—
37
54
zieml. st. herdf. Reakt.
13
18 „
—
38
56
„
—
14
19 „
—
39
56
yy
—
15
20
—
40
57
yy
—
16
21 „
—
41
57
—
17
21 „
—
42
57
—
18
24 „
—
43
59
—
19
25 „
—
44
59
—
20
26 „
—
45
62
21
27 „
—
46
63
—
22
33 „
—
47
66
geringe herdf. Reakt.
23
33 „
—
48
66
yy
24
34 „ |
—
49
67
yy
—
25
35 „
—
50
80
yy
maB. st. diff. u. starkere
herdformige Reakt ion
Digitized by Goo
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(j O. Lubarsch: t T ber die Ablagerung eisenbaltigen Pigments
Aus diesen Untersuchungen ergibt sich zuniichst, daB die Reaktion
am friihesten im Globus pallidus, und zwar gegen Ende des 1. Lebens-
jahres, im Putamen und Substantia nigra etwas spater auitritt, um
dann vom 4. Lebensjahrc starker und ganz regelmiiBig zu werden,
mit zunehmendem Alter immer starker werdend. Im Nucleus dentatus
liegen die Dingo etwas anders: regelmaBige Befunde treten erst um die
Zeit der Geschlechtsreife auf; sie sind in der Starke wechselnd, meist
diffus, aber gelegentlich aueh herdformig, wofiir freilich meist besondere
Umstande verantwortlich gemacht werden konnten. Die zur Kon-
trolle angestellten Untersuchungen der Briicke ergaben — abgesehen
\ on 3 Fallen, wo kleine Blutungen erfolgt waren und daher eine herd-
formige Reaktion sich fand — standiges Fehlen der diffusen Reaktion.
Die Befunde unterscheiden sich also in der Tat von den von mir
mitgeteilten mikroskopischen, wonach ein regelmaBiger Befund des
eisenhaltigen Pigments selbst bei alteren Personen nicht festgestellt
werden konnte, was auch meine weiteren Untersuchungen immer wieder
bestatigt haben. Ob man aber daraufhin zu einer so seharfen Trennung
der makro- und mikroskopischen Befunde kommen muB, wie das
Spatz tut, dariiber kann man doch noch verschiedener Meinung sein.
Er hat daher auch noch eine Reihe von anderen Griinden angegeben,
die ihn veranlassen, beide Pigmente voneinander zu trennen. Zunachst
hebt er hervor, daB sich der physiologisehe Eisengehalt sehon fiir das
bloBe Auge bei der Vornahme der Eisenreaktion abhebt. Das ist richtig,
wird aber lediglich durch die Reichlichkeit der Pigmentablagerungen
oder Durchtrankung mit eisenhaltiger Fliissigkeit bedingt. Bei der
progressive!! Paralyse erscheint in sehr ausgepragten Fallen die Rinde
bereits fiir das bloBe Auge deutlich braunlich gefarbt, und derartige
Gehirnstiickchcn erscheinen bei Anstellung der Eisenreaktion eben-
falls makroskopisch diffus, selten gesprenkelt. blau, obgleich es sich
hier doch auch nach Spatz’ Ansicht um Abbaueisen handelt. Ebenso
richtig ist es, daB die mikroskopische Reaktion bei niederen Gradeu
nur diffus und nur bei hoheren Graden im Zelleib granular ist. Das
gleiche gilt aber auch fiir Abbaueisen an jedem beliebigen Ort. Als
weitcre Unterscheidungen gibt Spatz folgendes an: 1. Das Aufbau-
eisen erscheint mikroskopisch farblos und feinkornig, das Abbaueisen
dagegen gelb und gelbbraun und meist grobkornig. 2. Das Abbaueisen
wird vorwiegend in mesodermalen, das Aufbaueisen in ektodermalen
Gewebsbestandteilen gefunden. 3. Das Aufbaueisen ist gleichmiiBig
aasgebreitet auf Hirngebiete, die wegen ihres Aufbaus und ihrer Faser-
verbindungcn als physiologisehe Einheiten gelten miissen; das Abbau¬
eisen ware dagegen ziemlich unregelmiiBig oder der Ausbreitung eines
krankhaften Vorganges folgend abgelagert. 4. An den Hinterlappen
und Sticl des Gehirnanhangs sei die makroskopische Eisenreaktion sehr
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
im Gehim und ihre Bedeutung bei der progressiven Paralyse.
7
schwach, obgleich diese Teile doch sehr haufig Abbaueisen enthielten.
5. Bei der progressiven Paralyse ware trotz des massenhaften Auftre-
tens von Hamosiderin in der Rinde keineswegs eine regelmabige Stei-
gerung der diffusen makroskopischen Eisenreaktion an den Gehirn-
zentren nachweisbar, die physiologischerweise am starksten reagierten
(Globus pallidus, intermediaere Schicht der Substantia nigra, Stria¬
tum usw.).
Ich kann keineswegs alle diese Unterschiede zugeben. Zu 1. bemerke
ich folgendes: Spatz gibt selbst zu, dab bei notorischem Blutzerfall
Eisen ,,auch diffus und an feine Protoplasmagranula gebunden, sowie
in farblosem Zustand auftreten kann.“ Ob Hamosiderin und auch
andere Pigmente tief gefarbt oder fast farblos auftreten, hangt im
wesentlichen von ihrer Dichtigkeit ab. Es ist richtig, dab E. Neumann
nur das als Hamosiderin bezeichnet hat, was auber der positiven
Eisenreaktion eine gelbe Naturfarbe zeigt und Diirck 1 ) hat in der
Aussprache zum Vortrag von Spatz es in hohem Grade begriibt, dab
er den Begriff ,,Hamosiderin“ wieder scharf in dem urspriinglichen,
ihm von Neumann gegebenen Sinne auffabt. Ich kann dem in
keiner Hinsicht zustimmen; es war sehr begreiflich, dab Neumann
diese Forderungen aufstellte. Aber wenn w r ir uns jetzt noch danach
richten wollten, wiirden wir fast bei alien Organen unter Bedingungen,
die zweifellos mit einem verstarkten Zerfall roter Blutkorperchen in
Zusammenhang stehen, feinkornige intra- und extrazellu litre Ablage-
rungen, die die Eisenreaktion geben, nicht als Hamosiderin ansehen
diirfen. Man kann sieh leicht davon iiberzeugen, dab unter dem
Mikroskop der Farbenton der Pigmente im wesentlichen abliangig
ist von ihrer grobphysikalischen Beschaffenheit. Untersucht man
rein dargestelltes melanotisclies oder braunes Abnutzungspigment,
so kann man beliebig schwarzbraune bis beinahe farblose Korner
zu sehen bekommen, je nachdem man mit Nadeln die Zerkleinerung
des Pigments grober oder feiner vornimmt; ja das gilt sogar vom
Kohlenpigment. Und es ist geniigend bekannt, dab auch in mela-
notischen Gewachsen wii neben braunschwarzen nicht nur hell-
gelbe, sondern auch feinste kauin gefiirbte Korner zu sehen bekommen.
Das zeigt eben, dab, w r ie ich oben schon sagte, die Farbung von der
Dichtigkeit der Zusammenlagerung der einzelnen Farbst off korner
abhangt. Auch der 2. von Spatz hervorgehobene Unterscheidungs-
punkt trifft nicht zu. Auch das Hamosiderin kommt sehr oft in ekto-
und entodermalen Zellen vor und wild auch dort gespeichert — in
Schilddriisen- und Speieheldrusenepithelien, in Magendriisen- und
*) Diirck in der Aussprache zum Vortrag von Spatz. Zentralbl. f. d.
ges. Neurol. 27.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
8
O. Lubarsch: t)ber die Ablagerung eisenhaltigen Pigments
Leberepithelien usw. Selbst in Ganglienzellen und vor allem nicht
selten in den Epithelien des Vorderlappens der Hypophyse habe ich
es gefunden. Auch dein 5 . Punkt, dem Verhalten der als Aufbau- und
Abbaueisen von Spatz getrennten Pigmente bei der progressiven Para¬
lyse kann ich auf Grund meiner Erfahrungen nicht ganz zustimmen.
Ich gebe zu, daft ein regelmaftiges Verhalten hier nicht besteht, daft
es aber doch sehr viele Falle gibt, in denen namentlich in der Substantia
nigra und im Putamen die diffusen und feinkornigen Eisenpigment-
ablagerungen in Gliazellen erhebhch starker sind als normal. Dagegen
mu ft ich anerkennen, daft das Auftreten des Abbaueisens in den groften
Ganglien ein viel unregelmaftigeres auch in der Verteilung ist und daft
namentlich im Gehirnanhang kein Parallelismus zwischen der makro-
skopischen Eisenreaktion und den mikroskopisch nachweisbaren Eisen-
pigmentablagerungen besteht. Ich habe freilich auch hier haufiger
neben dem kornigen Eisenpigment diffuse Eisenreaktion erhalten, als
Spatz sie gesehen zu haben scheint; aber das mag daran liegen, daft
ich nicht immer so frisches Leichenmaterial untersucht habe, wie es
Spatz vermutlich zur Verfiigung stand und postmortale Diffusion von
Eisenpigment gerade dort haufig ist, wo Hamosiderinablagerungen in
korniger Gestalt vorhanden sind. — Auch das muft ich zugeben, daft
dem auch nach meinen Untersuchungen regelmaftigen Vorkommen
raakroskopischer Eisenreaktion durchaus nicht immer ein mikrosko¬
pisch nachweisbares Eisenpigment entspricht und daft im Nucleus ruber
und meist auch dem Dentatus fein- und grobkorniges Eisenpigment
unter annahernd physiologischen Verhaltnissen nicht gefunden wird.
Das sind gewifi sehr bemerkenswerte Unterschiede. Ob aber daraus
auf eine verschiedene Entstehungsweise des Pigments geschlossen wer-
den darf, erscheint mir doch recht zweifelhaft. Gewift kann man vom
theoretischen Standpunkt zugeben, daft eisenhaltiges Pigment auch aus
anderen Substanzen, wie dem Hamoglobin gebildet werden kann;
aber sichere Erfahrungen dariiber besitzen wir noeh nicht eine einzige
beim Menschen. M. B. Schmidt nimmt zwar an, daft das durchaus
nicht selten in queigestreifter willkurlicher, seltener in der Herz-
muskulatur vorkommende Eisenpigment nicht aus dem Hamo-, sondern
dem Myoglobin gebildet sei — aber dariiber, ob der Muskelfarbstoff
iiberhaupt vom Blutfarbstoff unterschieden ist, gehen bekanntlich die
Meinungen der sachverstandigen physiologischen Chemiker noch weit
auseinander. Auch das Auftreten diffuser Eisenreaktion ist nichts
fiir die genannten GehirnzentrenSpezifisches; es kommt auch in anderen
Organen — z. B. den Nierenepithelien bei Neugeborenen, Sauglingen
und Erwachsenen (pemicose Anamie) — nicht allzu selten vor und
ist nur ein Zeichen fiir eine Durchtriinkung der Zellen mit eisenhaltiger
Gewebsfliissigkeit, ohne daft die Zellen die Zeit gefunden odei die
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
im Gehim und ihre Bedeutung bei der progressiven Paralyse. 9
Fahigkeit besessen hatten, das Eisen granular niederzuschlagen. — Auf
der anderen Seite hat Spatz selbst hervorgehoben, daB ,,die beiden Ge-
hirnzentren, die stets am makroskopischen Objekt den starksten Grad
der Reaktion zeigen — der Globus pallidus und das Strat. intermedium
der Substantia nigra.auch gleichzeitig Pradilektionsstellen fur
Abbaueisen sind“, freilich hinzugefiigt, daB dies vielleicht darauf
beruhe, daB physiologischerweise auch stets etwas von dem eisenreichen
Gewebe zugrunde ginge. Dann ware dies also auch kein hamoglobino-
genes Eisen! Das erscheint doch aber sehr unwahrscheinlich, wenn man
die vollstandige histologische Ubereinstimmung mit den Hamosiderin-
ablagerungen beriicksichtigt. Mir erscheint es zum mindesten ebenso
berechtigt, die Erklarung fur die Unterschiede auf einem anderen Wege
zu versuchen. Die Pradilektionsorte fiir Spatz’ ,,Aufbau- und Abbau-
eiscn“ sind diejenigen, in denen sich die feinsten und diinnwandigsten
BlutgefaBe, ein reichliches Kapillarnetz finden, wo augenscheinlich
auch geringe Kreislaufstorungen und Druckschwankungen, wie sie
gerade bei dem doch stets — wenn auch un- und unterbewuBt —
arbeitenden Gehirn unvermeidlich sind, zum Austritt roter Blutkor-
perchen AnlaB geben konnen. Wie das freiwerdende Hamoglobin oder
die ausgetretenen ganzen Blutkorperchen verarbeitet werden, mag dann
von der Eigenart der hier vorhandenen Zellen bedingt sein, ebenso auch
mitabhangig von der Menge der ausgepreBten roten Blutzellen. Auf
diese Weise mogen die Unterschiede verstandlich werden, und beson-
ders auch die sehr bemerkenswerte, von Spatz aufgedeckte Tatsache,
daB die makroskopische Eisenreaktion an funktionell eng zusammen-
gehorige Gebiete gekniipft ist, die ja natiirlich auch eine ahnliche Blut-
versorgung und Blutumlauf haben. Unterstiitzt wird meine Ansicht
auch noch durch die Tatsache, daB z. B. in der Briicke, an der ich niemals
eine makroskopische Eisenreaktion gefunden habe und wo sie auch von
Spatz nicht angegeben wird, auch bei der progressiven Paralyse die
adventitiellen Hamosiderinmantel fast stets fehlcn. Auf der anderen
\
Seite muB ich freilich zugeben, daB der Umstand, deB die Reaktion
erst gegen Ende des ersten Lebenjahres auftritt — im Nucleus dentatus
sogar erst gegen die Reifezeit — mehr fiir Spatz’ Auffassung sprechen
wiirde. Denn die Durchlassigkeit der BlutgefaBe pflegt. wie meine
Untersuchungen an zahlreichen Organen ergaben, gerade im friihen
Sauglingsalter am starksten zu sein. —
Ich komme nun zu den Hamosiderinbefunden bei der progressiven
Paralyse. Hier haben Spatz und auch Spielmeyer zugegeben, daB
dem Auftreten der Hamosiderinmantel ein gewisser diagnostischer
Wert zukame. Spatz hat in samtlichen untersuchten Fallen meine
Angaben bestatigt gefunden und ebenso in Kontrolluntersuchungen
festgestellt, daB bei anderen auch mit perivascularen Zelhnfiltraten
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
10 O. Lubara-h: Uber die Ablagerang eisenhaltigen Pigments
verbundenen Gehirnerkrankungen — abgesehen von der Schlafkrank-
heit — nennenswerte Hamosiderinablagerungen nicht vorkommen.
Meine fortgesetzten sehr zahlreichen Untersuchungen haben immer
wieder das gleiche Ergebnis gehabt — besonders, daB irgendwelche
auch nur ahnliche Befunde, wie bei der progressiven Paralyse, bei
anderen Krankheiten, besonders Gehirn- und Geisteskrankheiten nicht
vorkommen. Namentlich habe ich bei Fallen von sender Demenz und
arteriosklerotischem Irresein stets Hamosiderinablagerungen vermiBt,
wahrend Abbaupigment meist sehr reichlich in den Adventitialscheiden
vorhanden war. Auch in einigen Fallen von Malaria, wo reichlich
Malariamelanin in den Kapdlaren und auch einige Zellherde in der
Gehirnsubstanz vorhanden waren, fehlten perivasculare Haemosiderin-
ablagerungen vollkommen, ebenso auch in alien von mir untersuchten
Fallen von Encephalitis lethargica. Falle von Schlafkrankheit standen
mir nicht zur Verfiigung. t)ber die Lokalisation sei folgendes bemerkt:
gewohnlich ist die starkste Hainosiderinablagerung, in Form von rich-
tigen Hamosiderinzellmanteln, in der Rinde des Stirn- und Schlafen-
hims vorhanden, nimmt in der weiCen Substanz und subependymar
etwas ab, ist meist noch recht ausgepragt und oft sehr stark im
j.Striatum'', weniger im Globus pallidus und fehlt stets in der Briicke,
auch wenn Plasmazellenmantel dort vorhanden sind. In der Zwischen-
schicht der Substantia nigra sind die Befunde etwas wechselnd; mit-
unter sind sehr breite und machtige Hamosiderinmantel vorhanden,
mitunter fehlen sie fast ganz. Es gibt auch Falle, in denen in der Rinde
und Mark des Stirn und Schlafenbeins nur sehr kleine und sparliche
mitunter fehlen sie fast ganz. Es gibt auch Falle, in denen in der
Rinde und Mark des Stirn- und Schlafenhirns nur sehr kleine und
sparliche Hamosiderinablagerungen sich finden, wahrend sie in Linsen-
kem und Substantia nigra sehr machtig sind. Dagegen sind in der
weichen Hirnhaut — gleichviel ob es sich um frischere Falle mit zahl¬
reichen Zellinfiltraten oder um alte mit vorwiegender Bindegewebs-
wucherung handelt — die Hamosiderinablagerungen fast stets ge-
ringfiigig. Nur in der weichen Riickenmarkshaut habe ich in einigen
Fallen reichlichere und auch ausgesproehenere perivasculare Hamo¬
siderinablagerungen gefunden. — Was den diffentialdiagnostischen_
Wert der Befunde anbetrifft, so mochte ich folgendes vorausschicken.
Meine Befunde waren keine Zufallsbefunde, sondern das Suchen
nach Hamosiderin bei der progressiven Paralyse — und zwar gerade
in Fallen, die klinisch diagnostische Schwierigkeiten gemacht hatten —
entsprang folgenden t)berlegungen. Bei der Aortitis productiva, bei
der die Veranderungen in Adventitia und Media bis in die Einzel-
heiten mit denen bei der progressiven Paralyse am gefiiBfuhrenden
Stutzgewebe und den BlutgefaBen vorhandenen ubereinstimmen,
Digitized by Goe)gle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
ira Gehirn und ihre Bedeutung bei der progressiven Paralyse.
11
besonders auch hinsichtlich der Reichlichkeit der Plasmazelleo, war
mir das Vorkommen reichlicher perivascularer Hamosiderinablage-
rungen aufgefallen, besonders stark in einigen Fallen, die mit progres-
siver Paralyse verbunden waren. Ferner fand ich in den inneren Or-
ganen bei progressiver Paralyse, auch in solchen Fallen, die nicht
septisch geendet hatten, sehr haufig starke Hamosiderinablagerungen
in Milz, Leber, Nebennieren, Nierenmarkbindegewebe. Das brachte mich
auf den Gedanken, auch im Gehirn danach zu suchen; die Befunde waren
liberraschend reichlich und regelmaBig. In einigen Fallen der Sie-
merlingschen Klinik, die wegen zu kurzer Beobachtungszeit nicht
mit Sicherheit als progressive Paralyse diagnostiziert werden konnten,
hatte ich nun zunachst bei der Untersuchung auf Plasmazellmantel
keine sehr befriedigende Ergebnisse; wohl waren einige Rundzellen vom
Typus der Lymphozyten und vereinzelt Plasmazellen vorhanden, aber
typische Plasmazellmantel waren nicht zu finden; dagegen ergab sich
bei Anstellung der Eisenreaktion eine ungemein reichliche Ansamm-
lung von teils intracellular, teils frei gelegenem, bald feinkornigem, bald
grobscholligem Hamosiderin. Diese und ahnliche Falle haben mich
zu dem Urteil bewogen, daB der Befund ein noch regel maBigerer ist,
als der der Plasmazellmantel. WennSpielmeyer 1 )demgegenuber betont
hat, daB in den vielen hunderten Fallen von Paralyse, dievonNissl,
Alzheimer und anderen Neurohistologen untersucht worden sind, die
Plasmazellen nie fehlten, so hat er iibersehen, daB ich nicht, wie er angibt,
von Plasmazellinfiltration, sondern von Plasmazellmanteln
gesprochen habe, d. h. von einer machtigen, sich scheiden- und mantel-
formig um die BlutgefaBe legenden Plasmazellansammlung 2 ). Ich habe
nie behauptet, daB Plasmazellen fehlen konnten — ich habe freilich mit-
unter sehr lange suchen miissen, bis ich auch nur vereinzelte fand, aber
ich habe sie nie vermiBt. DaB sie mitunter recht sparlich sein konnen, hat
ja auch Spatz zugegeben. Aber gerade in solchen Fallen konnen die
Hamosiderinablagerungen sehr stark sein. Das liegt vielleicht daran, daB
sich die Hamosiderinablagerungen bekanntlich sehr lange iiberall unver-
andert halten konnen (monate- bis jahrelang), wahrend die Plasmazellen-
ansammlungen nur so lange bestehen bleiben, wie die, wenn auch schlei-
chenden, Entziindungsprozesse anhalten. Dadurch wird es verstandlich,
daB, soweit meine Erfahrungen reichen (es liegen mir durchaus nicht
1 ) Zentralbl. f. d. ges. Neurol. 27. Aussprache zum Vortr. von Spatz.
2 ) Wortlich heiBt es bei mir (Berl. klin. Wochensehr. 1917 Nr. 3): „Es ist
auBerordentlich auffallend, daB diesem Vorkommen (namlich der perivaseuliiren
Ansammlungen eisenhaltiger Pigmentzellen) trotz der zahlreichen Untersuchungen
liber die pathologisehe Histologie der progressiven Paralyse noch keine Beachtung
geschenkt ist, obgleich es ein regelmaBigerer Befund ist, als der der Plasmazellen-
mantel....“
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
12 O. Lubarsch: t v ber die Ablagerung eisenhaltiges Pigments usw.
in alien Fallen genaue Angaben iiber die Dauer der Geisteskrankheit.
vor), keine wesentlichen Unterschiede vorhanden sind in der Menge und
Ausdehnung der Hamosiderinablagerungen zwischen den mehr statio-
naren und akuter verlaufenden oder dureh eine interkurrente todliche
Krankheit friihzeitig abgebrochenen Fallen. Nur darin bestehen Unter¬
schiede, daB in den langer dauernden und stationaren Fallen die Plasma -
zellenansammlungen ganz hinter den Hamosiderinablagerungen zuriick-
treten, wahrend sie in den rascher verlaufenden oder friihzeitig unter-
brochenen Fallen ihnen vollstandig die Wage halten oder sogar stark
iiber sie iiberwiegen konnen. Auch von juveniler Paralyse — vondenen
einer einen kaum 19jahrigen wahrend des Krieges eingestelltenRekruten
betraf — habe ich 2 Falle untersuchen konnen; sie waren beide rasch
verlaufen und zeichneten sich dureh eine ungeheure Menge von Hamo-
siderin- und Plasmazellmanteln fast in alien Gehirngebieten und dem
Hypophysenhinterlappen aus. — Ich wiirde es sehr begriiBen, wenn
diese Untersuchungen vonPsychiatern an groBem,klinisch genau bekanli¬
tem Material erweitert wiirden. Ebenso ware es sehr wiinschenswert,
die Befunde sowohl hinsichtlich ihrer Machtigkeit, wie ihrer Ausdehnung
und ortlichen Verteilung mit den Spirochatenbefunden zu vergleichen —
ich habe damit erst seit Bekanntwerden der neuen Jahnelschen Me-
thode beginnen konnen und noch keine klaren Ergebnisse erhalten.
Nachtrag.
Wahrend der Drucklegung dieser Arbeit erschien die ausfuhrliche
Darstellung seiner Befunde von Spatz 1 ), auf die ich hier nicht mehr
ausfiihrlich eingehen kann. In vielen Punkten — auch in Einzelheiten
und besonders hinsichtlich der Befunde bei der progressiven Paralyse —
stimmen wir vollig iiberein. Die Hauptfrage, ob das physiologischer-
weise in gewissen Hirnzentren vorkommende Eisen ,,Gewebseisen'‘
und wirklich ,,autogenes”' Pigment ist, ist, wie ich glaube, nicht aus-
schlieBlich dureh Untersuchungen am Gehirn zu entscheiden, sondern
muB im Rahmen der gesamten, ja immer noch recht dunklen Pigment-
frage entschieden werden. Eine noch spater erschienene Arbeit von
M. Muller aus dem Institut von Wegelin in Bern iiber das physio-
logische Vorkommen von Eisen im Zentralnervensyatem (Ztschr. f. d.
ges. Neurol. Bd. 77, S. 519), die mir eben erst zu Gesicht kommt,
konnte nicht mehr beriicksichtigt werden.
1. Nov. 1922.
*) tlber den Eisennachweis im Gehhn. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psych. 77,
S. 261—390.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Uber die Dicke und das Gewicht des Schadeldaches
bei Epileptischen und Schwachsinnigen.
Von
San.-Rat Dr. Rudolf Grantor, Worraditt (Ostpr.).
(Eingegangen am 3.Juli 1922.)
In einer friiheren Arbeit 1 ) haben wir eine statistische Zusammen-
stellungdes Verhaltens des Schadeldaches nach den Ergebnissen von 1017
Sektionsbefunden von Geisteskranken der ehemaligen deutschen Irrenan-
staltSaargemiind gemacht. Diese Ergebnisse fuBten aber lediglich auf den
subjektiven Angaben verschiedener Obduzenten, und wenn man auch
durch Dbung einen ziemlich sicheren Blick erwerben und ohne grofie
Fehler angeben kann, wann ein Schadeldach dick oder diinn ist, so
sind doch MaBe vorzuziehen, mit denen man beim Leser eine deut-
liche Vorstellung auszulosen vermag. Reichardt sucht dieser Forde-
rung in der Weise nachzukommen, daB er das Volumen des Schadel¬
daches bestimmt 2 ). Wir haben uns damit begniigt — und fur unsere
Zwecke diirfte das auch ausreichend sein —, die Dicke des nach Rei-
chardts Weise (s. H. 1) aufgesagten Schadeldaches zu messen. Da
nun die Sageflache nicht uberall gleich dick ist, haben wir von drei
Stellen MaB genommen: vorn und hinten etwa 1 cm neben der Mittel-
linie und seithch in der Richtung des groBten Durchmessers. Von
diesen drei MaBen haben wir dami die Durchschnittszahl gesucht,
ohne gerade immer genau mathematisch zu rechnen. Betrug z. B.
die Dicke des Schadeldaches am Stirnbein 5 mm, am Seitenwandbein
4 und am Hinterhauptsbein ebenfalls 4 mm, so haben w r ir als durch-
schnittliche Dicke 4 mm genommen, so bei 6, 5 und 5 mm:5 mm usw.
Bei einigen Fallen hatten die rechte und die linke Halfte des Schadel¬
daches im ganzen oder nur stellenweise nicht die gleiche Dicke. Diese
Fade haben wir gesondert gerechnet. Jsach dem gesehilderten Ver-
fahren haben wir die Schadeldacher von 166 Epileptikern und 110
Schwachsinnigen untersucht und geordnet. Aus Riicksicht auf das
Schadelwachstum, das mit etwa 20 Jahren abgeschlossen ist, haben
1 ) Zeitschr., Allg., f. Psychiatr. u. psych.-gerichtl. Mod. 65, 1908.
2 ) Reichardt, Uber die Untersuchungen des gesunden und kranken Ge-
hims mit der Wage. H. 1) Jena 1906 und Sch&del und Gehirn, H. 4, 1909.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
14
R. Ganter: Uber die Dicke und das Gewicht des Schadel-
Digitized by
wir bei beiden Krankheitsgruppen wieder zwei Unterabteilungen ge-
gemacht, deren Grenze das 20. Lebensjahr bildete. Die folgende Tabelle
bringt die auf diese Weise erhobenen Befunde:
Durchschnittl. Epilepsie
Idiotie
Dicke des
Sehadeldaches Zahl cL Falle Zahl d - FalIe
v. 1-20Jahren fiber 20 Jahre
Zahl d. Falle Zahl d. Falle
v. l-20Jahren uber 20 Jahre
2 mm 1 = 2,7o/o
3 „ 1= 2,7 „
4 ,, 5 = 13,5 ,,
5 „ 0 = 24,3,,
6 „ 9 = 24,3 „
7 „ 4=10,8,,
8 ,, 3 = 8,1 ,,
9 „ -
2= l,5o/ 0
15= 11,6 „
46 = 35,6 „
28 = 21,7,,
9= 6,9 „
8= 6,2 „
4= 3,1 „
6 = 10,2o/o
16 = 27,1 „
lo — 2o,5,,
12 = 20,3 „
4= 6,8 „
2= 3,4 „
1 = 1,7 „
I 3= 5,9o/ 0
9 = 17,6 „ I
17 = 33,3 „
9= 17,6 „
2= 3,9 „
10 „ —
11 „ I —
rechts u. links 1
ungleich dick 1 5 = 13,5 „
17 = 13,2 „
_ i
3= 5,1 „
l —
1= 1,9 „
10 = 19,6 „
| 37 +
129 = 166 |
59 +
| 51 = 110
276
Nach dieser Tabelle weisen von den erwachsenen Epileptischen
und Schwachsinnigen die Falle mit einer durchschnittlichen Dicke
von 5—6 mm den hochsten Prozentsatz auf. Wir diirfen darum wohl
eine solche Dicke als die normale Dicke des Sehadeldaches betracliten.
Unter den Epileptischen unter 20 Jahren zeigt der grolite Prozentsatz
ebenfalls eine Dicke von 5—6 mm, wahrend bei den Schwachsinnigen
dieses Alters der grolite Prozentsatz mit 3—4 mm vertreten ist. Dies
kommt daher, da 13 sich unter den Epileptischen mehr dem Grenzalter
von 20 Jahren nahe stehende Falle befinden, wahrend unter den Schwach-
sinnigen mehr Kinder sind. VerhaltnismaBig hoch ist unter den er¬
wachsenen Schwachsinnigen der Prozentsatz mit einer Dicke von
4 mm.
Reichardt hat bei seinen Untersuchungen gefunden, dal3 ver-
haltnismaliig mehr dicke Schadeldacher bei der Katatonie und Epi-
lepsie vorkommen. Was die Epilepsie betrifft, so ist auch bei uns der
Prozentsatz der Epileptischen mit einem Sehadeldach von 7 und mehr
mm Dicke hoher als bei den Schwachsinnigen. Nehmon wir bei den
beiden Krankheitsgruppen die Schadeldacher mit mehr als 7 mm Dicke
zusammen, so erhalten wir bei den Epileptischen 20, bei den Schwach-
sinnigen 6 Falle. Wenn wir nun auch noch die Falle hinzunehmen, die
rechts und links ungleich dicke Schadeldacher aufweisen, deren Dicke
aber an keiner Stelle unter 7 mm heruntergeht, so bekommen wir bei
den Epileptischen 31, bei den Schwachsinnigen 12 Falle, d. h. 18,7
gegen 10,9%- Das umgekehrte Verhaltnis herrscht hinsichtlich des
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
daches bei Epileptischen und Schwachsinnigen.
15
diinnen Schadeldaches rait einer Dicke von 4 und 3 mm. Hier wiegen
die Schwachsinnigen gegen die Epileptischen vor: 23,5 gegen 13,1%.
Wir ha ben hierbei natiirlich nur die Falle mit iiber 20 Jahren gerechnet.
Nicht ganz doppelt so haufig findet sich demnach das dicke Schadel-
dach bei den Epileptischen gegeniiber den Schwachsinnigen.
Die gleiche Erscheinung, namlich das Uberwiegen der dicken Schadel-
dacher bei den erwachsenen Epileptischen, bemerken wir auch bei
unsern jugendlichen Epileptischen unter 20 Jahren. Bei ihnen kommt
ein Schadeldach von 7 ram Dicke in 10,8% gegeniiber nur 3,4% der
jugendlichen Schwachsinnigen vor, ein solches von 8mm Dicke bei
8,1% gegeniiber 1,7%. Auch die Schadeldacher mit der fiir Erwachsene
geltenden Durchschnittsdicke von 5—6 mm finden sich bei den jugend¬
lichen Epileptischen in einem hoheren Prozentsatz. Vielleicht darf
man da auf einen gewissen Zusammenhang zwischen Epilepsie und
Dicke des Schadeldaches schlieCen, wenn auch mit einigem Vorbehalt.
Findet sich doch gerade das Schadeldach von 11 mm, das dickste iiber-
haupt, bei einem an derGrenze der Idiotie stehenden Schw’achsinnigen.
Um einen naheren Einblick zu gewinnen, haben wir lange Tabellen
zusammengestellt — mit denen w r ir aber den Leser verschonen wollen —,
wobei wir die Befunde am Schadeldach in Beziehung gebracht haben
zum Himgewicht, Schadelraum, zur KorpergroBe, zum Korpergewicht
und zum Geschlecht. Hinsichtlich der drei letzten Punkte sind wir
zu dem gleichen Ergebnis gekommen, wie in unserer friiheren Arbeit,
namlich daB die Dicke des Schadeldaches in keinerlei Beziehung zu
diesen drei Punkten steht. Was den ersten Punkt betrifft, so haben
wir friiher die Ansicht ausgesprochen, daB die Dicke des Schadeldaches
moglicherweise in Beziehung steht zum Himgewicht. Wir wollen diese
Falle jetzt an unserem neuen selbst untersuchten Materiale priifen.
Statt des Hirngewichts wollen wir aber lieber als den konstanteren Teil
den Schadelinhalt nehmen, und zwar wollen wir, da die Verhaltnisse
hier am offenkundigsten liegen, nur die Extreme, die Mikro-, Makro-
und Hydrozephalen-Schadel wahlen 1 ). Unter 29 Fallen mit einem
Schadelinhalt von 970 bis herab zu 655 ccm sind alle Dicken vertreten
von 4—10 mm und unter den Fallen mit einem Schadelinhalt von
1410—4000 wiederum alle Dicken von 3—8 mm. Der Hydrozephalen-
schadel von 4000 ccm hat allerdings nur eine Dicke von 3 mm. Man
konnte nun folgern: je geraumiger der Schadel, desto diinner die Decke.
Aber da ist gleich wieder ein Hydrozephalus von 2005 ccm Inhalt und
einer Dicke von 8 mm. Doch sind im allgemeinen die Dicken von 7—10
mm und mehr unter den Schadeln mit einem Inhalt um 800—900 ccm
Bei der Beetimmung des Sch&delinhalts durch EingieBen von Wasser haben
wir die Dura nicht aus dem Sch&del entfemt.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
16
R. Gantor: t)ber die Dicke und das Gewicht des Schadel-
Digitized by
zu finden, wenn auch viele Schadel mit dem gleichen Inhalt nur eine
Dicke von 5 mm aufweisen. Trotz dieser Ausnahmen laBt sich doch
im groBen ganzen sagen, daB die Schadel mit kleinem Inhalt eher eine
erhebliche Dicke zeigen als die mit groBem Inhalt.
Bei 22 = 13,3% der Epileptischen und 13= 11,8% der Schwach-
sinnigen ist die rechte und linke Halfte des Schadeldaches nicht gleich-
maBig dick. Meist erstreckt sich dieser Unterschied nur auf eine oder
zwei Stellen der beiden Seiten (vorn, hinten oder seitlich), seltener
auf eine ganze Halfte, z. B. j ^ oder g g, oder ~ ± § mm.
Der Unterschied ist meist nicht groB, aber wo er 2 oder 3 und mehr mm
betragt, schon mit dem bloBen Auge erkennbar, wie in diesen Fallen:
5 4
oder
5 4
oder
mm. Von den 35 Fallen
r. 6
1. „ 11 5’- 10 8 6’
ungleicher Dicke ist in 21 Fallen die linke Seite und in 9 Fallen die
rechte Seite dicker a s die andere. In 5 Fallen verhalten sich die Dicken
ganz umegelmaBig, indem dickere und diinnere Stellen miteinander
abwechseln, so z. B. wenn in einem Falle die eine Stelle 7, die andere
4 mm miteinander abwechselnd miBt.
Es ist behauptet worden, daB sich bei Porencephalie und andern
Entwicklungshemmungen des Gehirns eine Asymmetrie der Schadel-
halften ausbilden kann 1 2 ). Abgesehen von einer Asymmetrie, die uns
in unsern Fallen nicht aufgefallen ist, sollte man meinen, daB einseitige
Himprozesse auch zu einer ungleichen Dicke des Schadeldaches Ver-
anlassung geben wurden. In 5 Fallen haben wir auch einen derartigen
Befund erhoben: 1.
Mikrogyrie. 2.
5 5 4
r.
1 .
7 5
„ 7
10
>9
6
7’
10
7
6— 7
7— 8
mm, rechte Hemisphare <C,
einzelne Hirnwindungen mikrogyrisch.
3. IQ g g, linke Hemisphare <C, Mikrogyrie. 4.
5—6
4—5
5—6
4—5
5—6
4—5*
Mikrogyrie. 5. _ A , linke Hemisphare %, Mikrogyrie. Aus diesen
,, o o
Fallen ist ersichtlich, daB auf seiten des Hirnprozesses das Schadeldach
eine groBere Dicke aufweist. Allem Anschein nach handelt es sich um
einen Kompensationsvorgang, eine Raumausfiillung-). Doch stehen
diesen 5 Fallen 28 andere gegeniiber, in denen trotz der gleichen Er-
scheinungen am Gehim die Dicke der rechten und linken Seite
des Schadeldaches gleich ist. Eine Erklarung hierfur ist schwer zu
finden.
1 ) Stroebe, Fla to w im Handbuch der path. Anat. des Nervensystems.
1, S. 310, Berlin 1904.
2 ) 8. Stroebe.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
daches bei Epilcptischen und Schwachsinnigen.
17
In folgenden 11 Fallen (7 Epil., 4 Id.) haben wir es mit einem be-
sondersdickenundkompaktenStimbeinzu tun: 1. j ^ ^ ^ mm.
10 5 5—6
2. 9 6 7, 3. 10 7—8 7—8, 4. , 5. 11 7 8,
6. 12 7 8, 7. 10 10 8, 8. 10 5 2, 9. 10 5—6 5—6, 10. 15 10 7,
11. ^ 5. Nr. 8 1st eine 4jahrige Idiotin. Die groBten Stirn-
j? 11 y
dicken gehoren ebenfalls 2Idioten an. Diese 11 Falle weisen zugleich
eine niedrige fliehende Stirne auf.
Was das Verhaltnis der Dicke zum Gewicht des Schadeldaches be-
trifft, so gibt es hierin keine feststehenden Beziehungen, so hat z. B.
ein Schadeldach von 5 mm Dicke ein Gewicht von 432 g, ein solches
von 8 mm dagegen nur ein Gewicht von 370 g. Das hangt einmal von
der Ausdehnung des Schadeldaches ab und dann auch von dem Ver¬
haltnis der Diploe zur Compacta, das sehr wechselnd ist. Messungen
haben wir hior keine ausgefiihrt, sondern nur nach dem Augenschein
geurteilt, ob Diploe und Compacta in entsprechendem Verhaltnis zu-
einander stehen, oder ob die Diploe oder Compacta iiberwiegt, oder ob
reine Compacta vorhanden ist. Die folgende Tabelle soil hieriiber
AufschluB geben:
Epilepsie: Idiotie:
C. und D. entsprechend
22
Falle]
| 36
1
30
FaUf ]52
i). >
14
” J
22
” J
C. >
40
” 1
28
” 1
nur C.
36
1
j 79
18
„ 46
Caput eburneum
3
J
—
J
Danach besitzen die Epilcptischen etvvas mehr als doppelt so haufig
ein Schadeldach mit reiner Compacta (79 gegen 36), wahrend bei den
Schwachsinnigen die Falle mit reiner Compacta und Compacta und
Diploe sich fast in gleicher Haufigkeit finden. Zu den Epilcptischen
gehoren auBerdem nocli die 3 Falle von Caput eburneum, das bei
den Schwachsinnigen nicht vorkommt. Ob man aus diesen Befunden
auf eine gewisse Beziehung zwischen dem kompakten Schadel und dem
Auftreten der epileptischen Anfalle schlieBen darf !
Was die Gewichtsverhaltnisse des Schadeldaches betrifft, so schwankt
sein Gewicht in mehr oder weniger groBen Ausschlagen um 300 g herum.
Zu den schweren Schadeldachern sind die mit 400 g Gewicht und dariiber
zu rechnen. Bei den Epileptischen haben wir ein Gewicht von 400 g
und dariiber in 30 Fallen = 18,0°/ 0 angetroffen, worunter wiederum
4 Falle mit einem Gewicht von 500 g und dariiber. Das Caput
eburneum wog in den 3 Fallen 438, 527 und 501 g. Das betrachtliche
Archlv filr Psychiatric Bd. (57. 2
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
18
R. Ganter: t)ber die Dicke und das Gewicht des Schadel-
Digitized by
Gewicht von 557 g bei einer Dicke von 9 ram stelltcn wir bei einem
kompakten Schitdeldach fest. Bei den Schwachsinnigen fanden wir
ein Gewicht von 400 g und dariiber in 16 Fallen = 14,5%, wovon
4 Falle ein Gewicht von 500 g und dariiber zeigten. Das sehr hohe Ge¬
wicht von 607 g bei nur 3 mm Dicke wies ein Hydrozephalenschadel
auf, der einen Rauminhalt von 4000 ccm hatte. Die Hydrozephalen¬
schadel besitzen iiberhaupt ein hohes Schadeldachgewicht: 400—500 g
und dariiber. Ein Fall von Idiotie hatte das zweithochste Gewicht
von 607 g. Die schweren Schadeldacher kommen also bei den Epi-
leptischen etwas haufiger vor, sie wiirden noch mehr iiberwiegen, wenn
nicht das hohe Gewicht der Hydrozephalenschadel ausgleichend wirken
w'iirde.
Noch ein Wort iiber die Beziehung des kompakten Schadeldaches
zura Hirnbefund. In einem Falle von Caput eburneum (527 g, 8 mm)
und in zwei Fallen von kompaktem Schadeldach (349 g, 7 mm und
410 g, 6 mm) handelte es sich zugleich auch um eine diffuse Skleiose
des Gehirns, in den beiden letzten Fallen noch verbunden mit einem
Epinephrom. Ein besonderes Interesse verdient noch folgender Fall:
720 g (das hochste von uns festgestellte Schadeldachgewicht!),
r 10 8 T
I g _g, Hirnsklerose. Patient wmrde im 7. Lebensjahr von einem
Hufschlag an der linken Stirnseite getroffen: Trepanation, Krampfe
nach 2 Jahren, rechtsseitige Lahmung. Sektion: MarkgroBe Trepa-
nationsoffnung mit hautigem VerschluB l cm iiber dcr linken Orbita.
Dieser Stelle entsprechend eine nuBgroBe Hohle im Gehirn mit er-
weichter Umgebung, diffuse Sklerose des Gehirns. Hier darf man wohl
das Trauma fiir den Zusammenklang der Veninderungen verantw r ort-
lich machen.
In den ebenerwahnten Fallen hat also die Sklerosierung gleich-
maBig Schtidel und Hirn betroffen. Da darf man doch wohl eine ge-
meinsame, wenn auch, abgesehen von dem letzten Fall, unbekannte
Ursache der Schadel- und Hirnsklerose annehmen. Dem widerspricht
auch nicht die Tatsache, daB in den iibrigen Fallen von kompaktem
und Elfenbeinschadel ein derartiger gemeinsamer Befund nicht er-
hoben werden konnte.
Zu sam menfassu ng.
Die Mehrzahl unserer Falle von Epilepsie und Schwachsinn hat
im Durchschnitt ein 5—6 mm dickes Schadeldach. Wir diirfen deshalb
wohl diese Dicke als die normale Dicke des Schadeldaches ansehen.
Nicht ganz doppelt so haufig findet sich das dicke Schadeldach
(7 mm und mehr) bei den Epileptischen gegeniiber den Schwachsinnigen.
Dies zeigt sich auch bei den jugendlichen Epileptischen, die in einem
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
daches bei Epileptisehen und Schwachsinnigen.
19
groBen Prozentsatz schon eine Dicke des Schadeldaches aufweisen, wie
sie den Erwachsenen zukomrat. Dasselbe gilt hinsichtlich der groBeren
Dicke von 7 mm und mehr. Trotz mancher Ausnahmen darf man
daraus wohl auf einen Zusammenhang zwischen Epilepsie und Dicke
des Schadeldaches schlieBen.
Was die Beziehung zwischen Dicke des Schadeldaches und Schadel-
inhalt betrifft, so laBt sich im groBen ganzen trotz der Ausnahmen
sagen, daB die Schadel mit kleinem Inhalt eher eine erhebliche Dicke
des Schadeldaches zeigen als die mit groBem Inhalt.
In einem gewissen Prozentsatz weist die rechte und linke Halite
des Schadeldaches eine verschiedene Dicke auf, wobei iiber doppelt so
haufig die linke Halfte dicker ist als die rechte. In einigen Fallen sind
die dicken und diinnen Stellen ganz unregelmaBig verteilt.
In einigen Fallen, in denen ein HirnprozeB vorlag (Porencephalie,
Entwicklungshemmung einer Hirnhalfte), war auf der betreffenden
Seite das Schadeldach dicker (Kompensationsvorgang, Raumausfullung).
Doch uberwiegt hier die Zahl der Ausnahmen.
In Fallen von einer niedrigen, fliehenden Stirn zeigte das Stirnbein
eine auffallende Dicke und Kompaktheit.
Zwischen Dicke und Gewicht des Schadeldaches gibt es wegen der
Ausdehnung des Schadeldaches und des schwankenden V T erhaltens von
Diploe und Compacta keine festen Beziehungen. Doch geht aus unseren
Befunden hervor, daB unter den Epileptisehen das Schadeldach mit
reiner Compacta uberwiegt, wahrend bei den Schwachsinnigen die
Falle mit reiner Compacta und Compacta und Diploe sich fast die
Wage halten. Das Caput eburneum findet sich nur bei den Epi-
leptischen (Beziehung zwischen Kompaktheit und dem Auftreten
der Anfalle?).
In der Mehrzahl der Falle schwankt das Gewicht des Schadeldaches
in weiteren Grenzen um 300 g herum. Die schweren Schadeldacher
finden sich bei den Epileptisehen etwas haufiger. Das Hochstgewicht
eines Schadeldaches betrug 720 g (Fall von Trauma und Epilepsie).
In 4 Fallen ist ein Zusammenhang zwischen Kompaktheit des Schadel¬
daches und Hirnsklerose unverkennbar.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Digitized by
(Aus der psych, u. Nervenklinik Konigsberg i. Pr.
[Direktor: Geheimrat Prof. E. Meyer].)
t)ber dip Imlikationen zu hirmlnickentlastemlen Operationen.
Von
Kurt Jakoby, appr. Arzt.
(Eingegangen am 2. August 1922.)
Wenn es gestattet ist, aus den Funden prahistorischer 8cha.de!
unter Beriicksichtigung der Operationen, die von heute noch auf ahn-
licher Kulturstufe stehenden Volkern vorgenoramen werden, einen ent-
sprechenden RiickschluB zu ziehen, dann dtirfen wir vielleicht die Tre¬
panation als die alteste nachweisbare Operation bezeichnen. 1868 fand
Pruniferes Schadel aus der Steinzeit mit kiinstlich hergestellten, sym-
metrischen Lochern, und auf deni AnthropologenkongreB 1873 konnte
er ein bearbeitetes, elliptisches Knochenstiick aus dem rechten Os
parietale eines Menschen vorlegen, das aus einera solchen Schadeldefekt
stammen muBte. Weitere Funde forderten dann Schadel zutage, die
neben einem kleinen Loch von etwa 7—10 mm Durchmesser mit glatten,
scharfen Randern sowie den Zeichen von Knochennarben rundherum
noch groBere Locher mit rauhen, schartigen Randern ohne Reaktions-
zeichen lebendigen Knochens aufwiesen. Diese Funde brachten Pru-
nieres und Broca zu der Annahrae, daB bereits in der Steinzeit Tre-
panationen gemacht worden seien und die gefundenen Knochenstiicke
Amulette waxen, die aus dem Schadel Toter, zu Lebzeiten mit Erfolg
Trepanierter geschnitten worden waren. Diese Annahme ist uni so
wahrscheinlicher, als beobaehtet ist, daB auch heute noch bei Natur-
volkern Leute nach gliicklich iiberstandenen Operationen als Heilige
verehrt werden. Broca unterschied darum zwischen Trepanations
ehinirgiques und posthumes und nahm an, daB die Indikation fiir den
Eingriff, der wohl angesichts der leichteren Technik nur bei Kindern
gemacht wurde, durch bestimmte Geisteskrankheiten wie Idiotie oder
mit Konvulsionen verbundenen Hirnkrankheiten gegeben wurde. DaB
auf Grund einer zielbewuBten, internen Diagnose trepaniert wurde,
durfte vielleicht ein besonders bekannt gewordener Schadel eines ope-
rierten Inka beweisen, der etwa 7—14 Tage nach der Operation gestor-
ben zu sein scheint. Dieser Schadel zeigt nach Broca die Zeichen eines
subduralen Hamatoms ohne irgendeinen Anhaltspunkt fiir ein Trauma.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
K. Jftkoby: Uber die Indikationen zu hirndruckentlastenden Operationen. 21
Dio Naturvolker heute trepanieren nach einer Beschreibung Sansous
zum Toil in der durchaus berechtigten Vorstellung, „daB gewisse Krank-
heiten des Gehirns durch Druck auf das Gehirn bedingt werden", und
trepanieren auch bei Verletzungen. Sie haben also bereits eine Vor¬
stellung von gesteigertem Hirndruck als Operation bedingendem Fak-
tor. SchlieBlieh mag noch Hippokrates erwahnt werden, der eben-
falls bei Verletzungen die Operation fur indiziert hielt und dessen ge-
naue Beschreibung eines dazu notigen Instrumentariums erhalten go-
blieben ist. In den letzten Jahrzehnten ist dann allerdings erst unsere
Kenntnis vom Hirndruck wissenschaftlicli ausgebaut worden, so daB
sicherere, umfassendere Indikationen fur den entlastenden Eingriff auf-
gestellt und neue Methoden der Druckentlastung gefunden werden
konnten.
Als wichtigste Hirndruck erzeugende Faktoren kominen die Tu-
rnoren in Frage, deren Behandlung bis vor etwa 40 Jahren ganz un-
moglich war. Der Arzt muBte bei der Stellung der Diagnose halt rnachen,
und erst durch die Ergebnisse von Arbeiten der letzten 4—6 Jahrzehnte
wurde ihre operative Entfernung bzw. Behandlung ermoglicht. Graefes
Entdeckung von der Haufigkeit der Stauungspapille bei Hirntumoren,
Bouillauds und Dax-Brocas klinische Beobachtungen iiber die
Aphasie, die physiologischen Arbeiten Hitzigs iiber die motorischen
Zentren der Hirnrinde w'aren grundlegend fur die Stellung der Allgemein-
und Lokaldiagnose gewesen, wahrend die Einfiihrung der Asepsis, sow'ie
die Vervollkommnung der chirurgischen Technik einerseits und die
hau fig bei Sektionen gemachte Erfahrung von der leichten Auslosbar-
keit der Tumoren andererseits zu ihrer Exstirpation ermutigten. So
konnte Wernicke 1881 als erster grundlegende Indikationen dazu auf-
stellen, die auch heute noch Bedeutung haben.
I. Wenn das Schadeldach durch den Tumor perforiert ware oder
sonst unzweifelhafte Erscheinungen dartaten, daB der Tumor an einer
bestimmten, zuganglichen Stelle des Gehirns oberflachlieh sitzt, wobei
flic hint ere Schadelgrube aber wohl ein Nolimetangere bilden diirfte,
wahrend die Orbitalflache des Stirnlappens von der Augenhbhle her
zuganglich sein miiBte, ware die Exstirpation zu versuchen. Vorbe-
dingung ware: Lokalisation des Tumors, Erfolglosigkeit der internen
Behandlung, Asepsis und gute Technik.
II. Bei unzweifelhaften Symptomen eines Ergusses in die Hirn-
ventrikel kame die Trepanation und Punktion der Seitenventrikel,
evtl. wiederholt oder auf beiden Seiten in Frage.
Nach Bruns operierten als erste Bennet und Godlee auf Grund
einer zielsicheren Diagnose und Ijokalisierung einen okkulten Hirntumor,
doch starb ihr Patient an Sepsis, und erst die Erfolge Horsleys ver-
mochten endgiiltig Zutrauen zu erwecken und zur Nachahmung anzu-
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
22
K. Jakoby:
Digitized by
spornen. Die anfangliche Begeisterung wurde allerdings sehr bald ge-
dampft, die Statistiken erwiesen sich als ungenau, MiBerfolge waren
sehr zahlreich, und Oppenheim sagt: „sowohl die allgemeine wie die
personliche Erfahrung haben gelehrt, daB es nur ein verhaltnismaBig
kleiner Prozentsatz von Fallen ist, in denen ein Dauererfolg erzielt
wird“. Nach einer von ihm zitierten Statistik Starrs sind fur die
Operation nur etwa 10% geeignet und 5% erfolgversprechend. Ahnlich
sind die Erfahrungen Oppenheims selbst, Bruns, von Bergmanns,
Krauses u. a. Wenn also auch die Entfernung des Tumors die ideale
Therapie des Hirndrucks darstellt, so ist darum doch eine strenge,
individualisierende Auswahl nach den folgenden Oberlegungen fiir die
Erfolg versprechende Operation unbedingt notwendig:
1. Es muB die Allgemein- und Lokaldiagnose sichergestellt und
2. die Geschwulst operativ erreichbar sein.
3. Es darf sich der Tumor nicht diffus ins Gewebe verlieren son-
dern muB ausschalbar sein.
4. Es muB die Wahrscheinlichkeit bestehen, daB es sich um eine
solitare Geschwulst, und zwar nicht malignen oder metastatischen
Charakters handelt.
5. Der Tumor darf nicht zu groB sein.
6. Das Allgeraeinbefinden des Patienten muB die Operation noch
gestatten (Oppenheim, Bruns, v. Bergmann u. a.).
Was die Bedeutung der Allgemeinsymptome (Kopfschraerz, Schwin-
del, Erbrechen, Konvulsionen, Pulsverlangsamung, Benommenheit,
Denk- und Assoziationshemmungen, Stauungspapille) ira Hinblick auf
die Radikaloperation anbetrifft, so ist zunachst zu bemerken, daB sie
nicht immer da zu sein brauchen und oft nur einzeln auftreten. So
fehlen sie mitunter im Anfang besonders bei noch kleinen Tumoren
der Zentralwindungen. In den meisten Fallen allerdings werden sie ver-
einzelt oder miteinander kombiniert da sein, und dann ist ihre Be¬
deutung fiir die Indikation zur Operation eine verschiedene. Einmal
charakterisieren sie oftmals erst als die typischen Erscheinungen des
Hirndrucks durch ihre stetige Dauer oder Zunahme die Herdsymptome
als durch Tumoren bedingt, dann aber sind sie in vielen Fallen uberhaupt
die ersten Anzeichen der Erkrankung, konnen die einzigen bleiben, die
Herdsymptome verwischen oder vollstandig verdecken. Weiter konnen
sie aber auch eine Rolle spielen, wenn sie als Herdsymptome auftreten.
So kann der meist diffuse Kopfschmerz auch iiber dem Sitz des Tumors
lokalisiert sein, oder eine infolge Usurierung des Knochens auftretende
lokale Perkussionsempfindlichkeit des Schadels einen oberfliichlich
sitzenden, meist vom Periost, den Meningen oder der Rinde ausgehen-
den Tumor an der betreffenden Stelle anzeigen. So konnen ferner z. B.
Erbrechen, Herzatemanomalien auf eine Erkrankung der Medulla
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
t)ber die Indikationen zu hirndruckentlastenden Operationen. 23
oblongata, Schwindel auf eine solche des Kleinhirns und Konvulsionen
auf eine solche der Zentralwindungen hinweisen.
Die eigentlichen Herdsymptome haben nur in ihrer reinen Form
chirurgischen Wert. Dann allerdings konnen sie in seltenen Fallen —
meist wird es sich um die motorischen Zentren handeln — auch ohne
Allgemeinsymptome auftretend, richtig diagnostiziert und lokalisiert, eine
Indikation fiir sofortige Operation abgeben. Verwischen sich Nachbar-
symptome, dann wird man aus ihrer Zunahme nur das Wachsen des
Tumors verfolgen konnen, und es wird hochstens von Fall zu Fall zu
entscheiden sein, ob man sie in der Hoffnung, hier den Tumor zu finden,
bei notwendig gewordener Palliativtrepanation zur Richtschnur fiir die
Wahl der Stellung des Angriffspunktes nehmen kann.
Nach Sicherstellung der Allgemein- und Lokaldiagncse ergibt sich
die Frage nach der Erreichbarkeit der Geschwulst. Ein Tumor kann
nur entfernt werden, wenn er kortikal oder subkortikal liegt. Die Ex-
stirpation ist aber nicht moglich, wenn er tief im Marke sitzt, wie es
oft bei sehr ausgedehnten Stirn- und Hinteihauptslappentumoren der
Fall ist, an deren groBe, basole Flache man nicht herankommen kann.
Meistens wird diese Frage wohl erst bei der Operation geklart werden,
wenn man auch beobachtet haben will, daB z. B. die subkortikalen
Tumoren der Zentralwindungen unregelmiiBiger einsetzende und ver-
laufende Jacksonsche Anfalle machen als die kortikalen.
NaturgemaB waren es zuerst die Tumoren der motorischen Zone,
die sicher diagnostiziert und mit verhaltnismaBig guter Prognose
mittels osteoplastischer Schadelresektion enukleiert werden konnten.
Dann aber gelang es, auch Tumoren aus dem Stirn-, Scheitel-, Sclilafen-
und Hinterhauptslappen zu entfernen. An dieser Stelle mogen Oppen-
heims Hinweise angefiihrt sein, daB die Zeichen einer reinen und gut
ausgepragten Form der Aphasie neben Allgemeinsymptomen vom ersten
Beginn an bestehend und fortentwickelt, berechtigen, den Schadel in
tier Gegend der dritten linken Stirn- bzw. ersten Schlafenwindungen zu
erdffnen. In einem anderen Falle fand er Witzelsucht als eines der Zei¬
chen fiir Sitz des Tumors im rechten Stirnlappen oder seiner Umgebung.
Ein besonderes Interesse haben die Tumoren der hinteren Schadel-
hohle gefunden, seitdem infolge der Erkenntnis des meist harmlosen
Charakters des Neurofibroma acustici Monakow diese als Indikation
fiir die Operation eingeschlossen hat. Oberhaupt bieten die Kleinhirn-
bruckenwinkeltumoren, zu denen ja das Neurofibroma acustici gehort,
ein klares Symptomenbild und eine verhaltnismaBig gute Prognose.
Die Chirurgie der hinteren Schiklelgrube hat in den letzten 15—20
Jafncn gute Fortschritte gemacht, wenngleich die Prognose besonders
wegen der Gcfahr einer schweren Hirnstammlasion nicht so gut ist.
Oppenheim berichtet als giinstiges Resultat von 12 Heilungen bei
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
*
24
K. Jakoby:
Digitized by
68 Fallen, davon 7 vollstandigen. Demgegeniiber beschreibt er aber
eine Reihe von Todesfallen und eine schwere dauernde Bulbailahmung
trotz exstirpierten Tumors.
Weiter entfernt man mit Erfolg Tumoren aus dem Wurm und Dach
des 4. Ventrikels, aus dem Thalamus sowie retrobulbare, resp. in die
Orbita gewucherte Geschwulste. In der mittleren Schadelgrube wurden
Tumoren, die vom Ganglion Gasseri ausgingen, und mehr und mehr
Hypophysentumoren angegriffen. Sind diese letzteren schon dadurch
ausgezeichnet, daB sie dutch ihre Einwirkung auf die Hormonbildung
(Akromegalie) und die lokalen Druckwirkungen (Hemianopsia bitem-
poralis, Augenmuskellahmung, Exophthalmus, Anosmie) einen beson-
ders klaren Symptomenkomplex haben, so sind sie noch dadurch inter-
essant, dab bei ihrer Diagnose ini Gegensatz zu den anderen Hirn-
tumoren die Rontgenphotographie eine groBe Rolle spielen kami. Das
Rontgenbild kann hierbei den Weg der Operation entscheidend be-
stimmen, indem z. B. nach Schepelmann beim Waehstum des Tumors
nach oben dem GroBhirn zu die schwierigere intrakranielle Methode,
dagegen bei intrazellarem Waehstum und namentlich bei Zystenbildung
der transphenoidale Weg geboten sein soil. Fiir die Indikation zur
Operation ist hierbei zu beachten, daB das Leiden zunachst langsam
verlaufen kann und die subjektiven Beschwerden, besonders die Kopf-
schmerzen, gering sein konnen. Gewohnlich sind es die Augensymptome,
die selbst mehr als die Wachstums- und Stoffwechselstorungen zur Ope¬
ration zwingen. Der Eingriff wirkt dann oft nicht nur lebensrettend,
sondern kann auch die Abnahme des Sehvermogens vollkommen riick-
gangig machen und die Symptome der Akromegalie beseitigen. Zu be-
raerken sei schlieBlich noch, daB wegen der Bedeutung der Hypophyse
nur eine partielle Exstirpation in Frage komrat.
Die nachste Forderung, daB die Geschwulst keinen diffusen Charak-
ter haben soil, fiihrt uns zu den in Frage kommenden Tumoren selber.
Zwar kommen sie vielfach sowohl abgekapselt als auch diffus vor,
doch hat die Erfahrung gezeigt, daB immerhin bestimmte Formen fin-
die einzelnen Geschwulste charakteristisch zu sein pflegen. So bietet im
allgemeinen das Gliom wegen seines infiltrierenden Wachstums eine sehr
ungiinstige Prognose. Demgegeniiber ist das Sarkom, mag es vom Kno-
chen, Periost, den Meningen oder dem Hirn selbst ausgehen, zumeist
abgekapselt und ausschalbar. Abgekapselt pflegen ferner die von den
Epithelien der Bindegewebsspalten, den Lymph- und BlutgefaBen der
Meningen ausgehenden Epitheliome zu sein, desgleichen Tuberkel,
Gummata, die meist in den Meningen und der Gland, pinealis vorkom-
men, Psammome, Cholesteatome und die meist in der Hypophyse auf-
tretenden Adenome. Das Karzinom hat man allerdings sowohl abge¬
kapselt als auch diffus angetroffen, ohne daB man eine bestimmte Re-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Gber die Indikationen zu hirndruckentlastenden Operationen.
25
gel aufzustellen vermochte. Angiomata fand man teils als Ang. arteriale
racemosum diffus, teils als Ang. cavernosum abgekapselt wachsend.
Die Zysten, z. T. parasitaren (Zysticerken und Echinococcus), z. T.
traumatischen Ursprungs, oder entartete Neubildungen sitzen meist
abgekapselt imMantel desGroBhirns undZerebellums und haben daher —
besonders die letzteren — eine verhaltnismaBig gute Prognose.
Es sind aber auch vereinzelte Falle beschrieben worden, bei denen
wegen des diffusen Charakters die Geschwulst nur teilweise entfernt,
und doch ein guter Erfolg gezeitigt wurde. Ja, Horsley will sogar schon
von der bloBen Eroffnung des Schadels und Freilegung des Tumors
eine Ruckbildung von Gliomen beobachtet haben, und Oppenheim
fiihrt raehrere Falle an, in denen anscheinend eine vollige Heilung ein
trat, obschon nicht einmal die Grenzen der Geschwulst festgestellt
werden konnten. Kleist besprach, urn nur diesen Fall noch zu er-
wahnen, auf der Sitzung des Rostocker Arztevereins am 4. VII. 18 die
teilweise Exstirpation einesGlioms des linkenSchlafenlappens und konnto
in den neun Monaten, die seit der Operation verstrichen waren, ein
Schwinden der Allgemeinsymptome und eine Besserung der Herdsym-
ptome (Leitungsaphasie und apraktische Storungen) beobachten. Wie
unklar aber unser Wissen vom Wesen der Hirntumoren noch ist, zeigt
eine Bemerkung Oppenheims, es sei ihm einigemal so vorgekommen,
als sei gerade durch den Versuch der partiellen Exstirpation eines
diffusen Glioms das Wachstum desselben rapider geworden. Es ist auch
verschiedentlich versucht worden, zuriickgebliebene Tumorreste durch
Rontgen- und Radiumstrahlen zu beseitigen. Biihrke berichtet dar-
iiber: Er habe nach Exstirpation eines iiberknabenfaustgroBen Tumors
das zuriickgebliebene Geschwulstgewebe mit Rontgenstrahlen behan-
delt, und die Patienten seien nach zwei Jahren Beobachtungszeit rezidiv-
frei und abgesehen von gelegentlichen Rindenkrampfen gesund und
arbeitsfahig geblieben. Auch Kleist empfiehlt die Nachbehandlung
bzw. Behandlung inoperabler, aber lokalisierbarer Tumoren mit Rontgen¬
strahlen oder Radiumrohrchen, die nach vorausgegangener Trepanation
in die Hirnwunde eingelegt werden.
Dann darf es sich naturgemiiB nicht um multiple Herde handeln.
Es ist selbstverstandlich, daB sie von vornherein eine Kontraindikation
fur die Exstirpation bilden miissen, wenn sie nicht alle entfernt werden
konnen. Oppenheim fiihrt einen solchen Fall an, in dem v. Berg-
mann statt eines fiinf Tumoren fand und in der ersten Sitzung gleich
entfernte.
Dasselbe gilt auch fiir metastatische Tumoren, wo nicht gleichzeitig
auch der primare Herd entfernt werden kann. Die Feststellung, ob os
sich um einen Solitartumor oder um multiple Herde handelt, ist aber
sehr schwer, wenn nicht ganz unmoglich. Zwar kommen einzelne Ge-
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
26
K. Jakoby:
Digitized by
schwulstarten haufiger multipel vor, doch hat die Erfahrung gezeigt,
daB dem nicht immer so ist. So hat man z. B. Tuberkelherde trotz der
Gefahr des vielfachen Vorkommens und sogar trotz in anderen Organen
bestehender Tuberkulose als Solitartuberkel mit dauemdem Erfolg ex-
stirpiert, zumal sie in der Rinde saBen und leicht lokalisiert und ent-
fernt werden konnten. Anders liegt die Sache bei dem doch fast immer
multipel vorkommenden Karzinom oder Melanosarkom. „Da lasse man
den Patienten ruhig sterben“ (Bruns). Metastatische Sarkome sind im
Gehirn selten. Kann das primare Sarkom entfernt werden oder konnen
es bei multiplem Auftreten die an anderen Stellen noch vorhandenen
Sarkome ebenfalls, dann ist die Exstirpation des metastatischen Him-
sarkoms durchaus indiziert, vorausgesetzt, daB es an giinstiger Stelle
liegt.
Eine besondere Rolle spielen die Gummata oder syphilitischen Nar-
ben, die sowohl vereinzelt als auch multipel vorkommen. In vielen
Fallen sind sie, wo die innere Kur versagte oder Fehldiagnose zur Ope¬
ration fiihrte, mit gutem Erfolg exstirpiert worden. Ja, Horsley
machte sogar als erster die Erfahrung — und ihm schlossen sich auch
bald andere Forscher, z. B. Bruns an, — daB Gummata in der Rinde
oft der internen Thcrapie trotzen oder nach derselben schwielige, Tumor-
symptome v r erursachcnde Narben zurucklassen. Darum halt er auch
das Gumma fur eine Indikation zur Operation, wenn in hochstens
6 Wochen spezifischer Behandlung nicht ein deutlicher Riickgang der
Symptouie beobachtet werden kann. Es ist natiirlich liberhaupt nicht
erst Zeit mit intemer Behandlung zu verlieren, wenn drohende Allge-
meinsymptome, z. B. zunehmende Abnahme der Sehscharfe, zur so-
fortigen Operation zwingen. SchlieBlich ist aber auch noch zu bedenken,
daB bei bestehender Lues der Tumor kein Gumma zu sein braucht.
Die iibrigen Tumoren pflegen meist solitar vorzukommen.
Rezidivoperationen sind haufig mit Erfolg ausgefiihrt worden. So
operierte Balance fiinfmal und Borchardt noch haufiger (Oppen-
heim). Meist handelte es sich aber um Zysten, zystische Tumoren oder
multiple Horde, die erst nach und nach gefunden und dann entfernt
wurden.
SchlieBlich darf ein Tumor, um exstirpiert werden zu konnen, nicht
zu groB sein. Man hat allerdings auch groBe Tumoren enukleiert; z. B.
erwahnt Oppenheim die beiden von Bramann und Poirier mit Er¬
folg aus dem Stirnhirn cxstirpierten Tumoren von 280 g Gewioht,
und es berichtet Haberer (Innsbruck) liber erfolgreiche Exstirpationen
eines 178 g schweren Fibroms mit den MaBen 10:8:5 aus dem
Gvr. supramarg., eines Rundzellensarkoms aus dem Gyr. angularis mit
den MaBen 9 l / 2 : 0V 2 : 4. Doch ist die Gefahr der plotzlichen Drucksehwan-
kung und des Choks zu groB, und es ist darum empfehlenswert, sich in
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
t)ber die Indikationen zu hirndruckentlastenden Operationen.
27
solchen Fallen je nach dem Zustande des Patienten mit einer partiellen
Abtragung zu begniigen oder die Operation nach einiger Zeit zu wieder-
holen. AufschluB iiber die GroBe des Tumors wird wohl immer erst die
Operation geben, denn man muB in Betracht ziehen, daB kleine Tumoren
durch ihre Lage ein Hindernis fiir den LiquorabfluB bilden konnen und
dadurch sehr schwere Allgemeinsymptome hervorzurufen vermogen,
wahrend groBe Tumoren, die an einer giinstigeren Stelle, z. B. im rechten
Stirn- und Schlafenlappen, sitzen, weit geringere Erscheinungen machen
konnen.
Was dann die Bewertung des AUgemeinbefindens fiir die Operation
anbetrifft, so gelten fiir sie naturgemaB die auch sonst in der Chirurgie
iiblichenGesichtspunkte. Das Allgemeinbefinden muB befriedigend sein,
der Patient darf sich nicht in Extremis oder im Zustande der Benommen-
heit befinden, darf keine Stoning der Atmungs- und Herztatigkeit
haben. Bei Tuberkeln des Gehirns darf keine tuberkulose Meningitis
oder Miliartuberkulose bestehen.
1st die radikale Operation, die ideale Therapie, nicht mbglich,
weil oben behandelte wichtige Forderungen nicht erfiillt sind, dann kbn-
nen eine Reihe anderer druckentlastender Eingriffe in Frage
kommen. Fiir diese alle besteht zunachst das Gemeinsame, daB bei der
Stellung der Indikation die Allgemeinsymptome den Ausschlag geben,
im Gegensatz zur Radikaloperation, bei der zunachst die Herdsymptome
bestimmend sind. AuBerdem ist ihnen alien auch das gemeinsam, daB
sie anstreben, die qualenden Allgemeinsymptome zu beseitigen, dadurch
evtl. die Herdsymptome hervortreten lassen und damit schlieBlich doch
noch die Lokalisation und Entfernung des Tumors ermoglichen konnen.
Der weitgehendste Eingriff dieser Art ist die Palliativtrepana¬
tion. Sie kann bei multiplen, metastatischen oder iiberhaupt nicht
festgestellten Tumoren eine einfache Druckentlastung und Zuriickgehen
der Drucksymptome bewirken, in anderen Fallen, in denen der Tumor
selbst freigelegt wird, eine teilweise Abtragung oder Rontgen- und Ra-
diurabehandlung ermoglichen. In einzelnen gliicklichen Fallen hat man
sogar den Erfolg gehabt, an der fiir die Palliativtrepanation gewahlten
Stelle den Tumor finden und entfernen zu konnen.
Die Indikation zur Palliativtrepanation wird, wie bereits oben ge-
sagt, durch die Allgemeinsymptome gegeben, wenn sie das Befinden
des Patienten in bedrohender Weise gefahrden. Das Wichtigsto dieser
Symptome ist die Stauungspapille bzw. die beginnende Neuritis optica.
Die Untersuchungen vor allem Hippels zeigten, daB die Patienten
beim Beginn der Neuritis optica oder auch schon der Stauungspapille
durch eine Palliativtrepanation das voile Augenlicht wieder erhalten
konnten, wenn die Sehscharfe noch nicht alizuviel gelitten hatte. Das
war aber nicht mehr mbglich, wenn die Stauungspapille bereits langere
Digitized by Got >gle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
28
K. Jakoby:
Digitized by
Zeit bestand, oder gar die Atrophie des Sehnerven eingetreten war.
Weitore Beobachtungen zeigten, daB diese durch Hirndruck erblindeten
Menschen noch 5 —17 Jahre in diesem traurigen Zustand leben konn-
ten. So ist es begreiflich, daB eine Reihe von Autoren — beyonders
war es Horsley —unbedingt beim Auftreten der Stauungspapille zur
sofortigen Trepanation raten. Nach Oppenheim u. a. aber ist erst
zu operieren, wenn bei nicht moglicher Lokalisation des Tumors die Be-
schwerden des Patienten sehr erheblich sind und nicht anders beseitigt
werden kdnnen, oder wenn die Sehstorung rasch fortschreitet und in
Erblindung iiberzugehen droht. In der Diskussion zu Horsleys Vor-
trag: ,,Die ehimrgische Behandlung der intrakraniellen Geschwiilste im
Gegensatz zu der abwartenden Therapie“ auf der 4. Versammlung der
Gesellschaft deutscher Nervenarzte am 6. X. 1910 warnt er nicht
nur vor der Operation bei anscheinend durch Syphilis hervorgerufenen
Tumorsymptomen, sondern weist auch auf die den Tumoren ahnlichen
Bilder der Meningitis serosa, der nicht eitrigen Enzephalitis, die interner
Behandlung durchaus zuganglich seien, hin. Die Palliativtrepanation
ware durchaus kein harmloser Eingriff, und es seien auch schwere Fol-
gen danach beobachtet worden: Verlust des Augenlichts, der Sprache,
Hemiplegien usw. Ahnlich lauten die Erfahrungen der Konigsberger
Nervenklinik nach Trepanationen, wo besonders noch schwere Folge-
zustande in Begleitung und im AnschluB an Prolapsbildung beobachtet
wurden (vgl. z. B. Fall I am SchluB der Arbeit).
So laBt sich denn wohl im allgemeinen folgendes zur Indikations-
stellung sagen: Man soli mit der Palliativtrepanation bei nicht ge-
sicheiter Lokaldiagnose wenn irgend moglich so lange warten, bis das
Hervortreten von Herdsymptomen unwahrscheinlich wird und eins der
Allgemeinsymptorae zur Palliatioperation zwingt. Vorteile der Palliativ¬
trepanation gegeniiber den noch zu besprechenden anderen Eingriffen
sind vor allem weitergehende und raschere Wirkung, die gerade bei
der Stauungspapille eine so wichtige Rolle spielt.
Steht die Indikation zur Palliativtrepanation fest, dann erhebt sich
die Frage, an welcher Stelle sie vorgenommen werden soli. Es bleibt
dabei immer zu beachten, daB die Palliativtrepanation unter dem Druck
vonSymptomen vorgenommen wird, daB aber immer nach Moglichkeit
der ursachliche Faktor anzugreifen ist. So wird man an der Stelle tre-
panieren, an der irgendwelche Symptome auf den Sitz eines Tumors
schlieBen lassen. Hat man gar keine Anhaltspunkte fiir den Sitz der Ge-
schwulst, dann operiert man Tiber den ,,stummen Hirnpartien“, d. h.
an den Stellen, an denen der etwa eintretende Prolaps Hirnteile von
relativ geringer physiologischer Wichtigkeit betrifft (Oppenheim,
Sanger, Horsley). Nach Oppenheim ist die Gegend des rechten
Teraporallappens am geeignetsten, und der Meinung sind auch die mei-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
t)ber die Indikationen zu hirndruckentlastenden Operationen. 29
sten andercn Autoren. Cushing schlagt. dabei vor, den M. temporalis
zur Deckung des Defektes zu benutzen, um durch ihn dem vordrangen-
den Gehirn einen Halt zu geben.
Die hervorragende Bedeutung der Stauungspapille hat auch dazu
gefiihrt, daB man vom Auge selbst operativ vorgeht. Der erste Bericht
hieriiber liegt noch aus der Zeit vor der chirurgischen Behandlung von
Hirntumoren vor, und zwar von De Wecker: ,,Chinirgische Behand¬
lung der Neurits optica“, Lancet 1872. Die Indikation zum Eingriff
gaben Erblindung und schwere Kopfschmerzen, die wahrscheinlich
durch Hirntumoren bedingt waren. Die Operation ist jetzt von Leo¬
pold Muller abgeandert worden, und es iibersteigen nach ihm die Er-
folge der verhaltnismaBig leichten Operation die der Palliativtrepana-
tion. Nach ihm ware sie bei alien Druck erzeugenden Hirnprozessen,
also auch Tumor und Pseudotumor, selbstverstandlich unter Berucksich-
tigung der mechanischen, hydrostatischen und biologischen Folgen in-
diziert.
Nun ist aber schlieBlich die Drucksteigerung nicht immer bloB durch
Wachsen des Tumors bedingt, sondern es komrat nach Frazier die. Ent-
stehung der Allgemeinsymptome mehr durch Storung des Gleichge-
wichtes zwischen Sekretion und Absorption des Liquors zustande als
durch Art und GroBe des Tumors. Anton sagt dariiber: „Es ist zu
beachten, daB die erhohte Spannung der in den Hirnhohlen abgesperr-
ten Fliissigkeit als Quelle des erhohten Druckes vielfach anzusehen ist. 14
Gelingt es also, diese teils nur abgeschlossene, teils auch durch den Reiz
oder toxische Einwirkung im ObermaBe sezernierte Fliissigkeit aus dem
Schadel herauszuziehen, dann miissen die Allgemeinsymptome beseitigt
werden und kimnen unter Umstanden die Herdsymptome deutlicher
hervortreten. Diese Oberlegungen fiihrten zu einer Reihe von Vor-
sehlagen fiir druckentlastende Operationen, die nicht die Gefahren der
AlJgemeinnarkose, der langen Dauer des Eingriffes, der plotzlichen
Druckschwankung und des Prolapses haben und doch ihren Zweck voll
erfiillen sollen.
So berichtet Beriel iiber eine Punktion von der Orbita her, die
dann spater von Gebb und Weichbrodt nachgepriift wurde. Die
Methode soil sehr einfach sein, auftretende Blutungen unter die Binde-
haut und ins Ober- und Unterlid sollen sich auf feuchtwarme Umschlage
hin schnell resorbieren. Ebenso soli der sich bildende Exophthalmus
bald verschwinden. Trotzdem aber sind nach Ansicht der Autoren
diese Nebenumstande schuld daran, daB sich die Punktion nicht ein-
biirgern kann.
Im Jahre 1904 traten dann Neis3er und Pollack mit einer von
ihnen vervollkommneten Methode der Hirnpunktion an die Offent-
lichkeit. Die Vorteile der Punktion gegeniiberder Trepanation sind, wie
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
30
K. Jakoby:
Digitized by
oben gesagt, die, daB dem Patienten die Narkose erspart wird, daB der
Eingriff kiirzere Zeit dauert, daB die sekundaren Trepanationsgefahren
(Blutung, Hirnprolaps, plotzliche Druckentlastung, Meningitis) weg-
fallen, daB er haufiger wiederholt werden kann. Max Michael zitiert
Hesse, nach welchem 4—8 Punktionen kein so groBes Risiko haben
wie eine zweite Trepanation. Doch liegt die Bedeutung der Hirnpunk-
tion nicht auf therapeutischem Gebiet, wenn auch einzelne Autoren Er-
folge bei der Zystenbehandlunggesehen haben wollen, sondern wohl aus-
schlieBlich auf diagnostischem. Es gelang haufiger durch aspirierte Ge-
hirnpartikelchen AufschluB iiber den Sitz und die Art des Tumors zu
erhalten und danach die Prognose und das Handeln zu richten. Mehr-
mals wurden so Tumoren richtig bestimmt und erfolgreich exstirpiert.
Die Grenzen und die Tiefe der Geschwulst zu bestimmen, gelang aller-
dings nie. Den Erfolgen stehen jedoch auch eine groBere Zahl MiBer-
folge gegeniiber. Man machte vielfach die Erfahrung, daB man durch
die Punktion um so weniger Aufklarung erhielt, je unsicherer die kli-
nische Diagnose war. Ja, in 4 Fallen war das Resultat der klinischen
Diagnose sogar sicherer als das der Hirnpunktion. Therapeutisch
kommt sie wohl bei Tumoren hochstens noch als Voroperation der Tre¬
panation in Frage, um eine zu plotzliche Druckanderung zu verhiiten.
Hippel besonders berichtet iiber Erfolge einer solchen Kombination.
Es ist aber schlieBlich noch zu bemerken, daB auch dieser Eingriff nicht
absolut gefahrlos ist. Zwar ist die von Krau se so gefurchtete Infektions-
gefahr vom Bohrloch oder von einem durchstoBenen AbszeB aus nicht
sehr groB. Doch ist die Moglichkeit der Blutung vorhanden, und es
sind 5 Todesfalle durch Verblutung bekannt geworden, trotzdem die
von Neisser-Pollack angegebenen Punkte in verhaltnismaBig ge-
faBarmen Gegenden liegen. Das Gebiet ist eben an und fiir sich gefaB-
reich, die Pialvenen verlaufen unregelmaBig und auch die Vv. diploeticae
und die A. mening. media verlaufen zu variabel, als daB nicht Ver-
letzungen leicht vorkommen konnten. SchlieBlich kann es sich ja auch
um ein Angiom handeln, das angestochen zur todlichen Blutung fiihren
kann, wenn nicht sofort die Trepanation angeschlossen wird. Es wurde
darum empfohlen, vorher eine Rontgenaufnahme zu machen, und zwar
besonders bei Punktionen des Kleinhirns, um den Sinus transv. festzu-
stellen. Zu warnen ist jedenfalls nach Oppenheim u. a. vor dem
wahllosen Herumbohren in den verschiedensten Hirnabschnitten, denn
neben den oben beschriebenen Gefahren ist das an verschiedenen Stel-
len punktierte Gehirn eben doch ein geschadigtes und in seiner Wider-
standskraft herabgesetztes Organ.
Was die Ventrikelpunktion anbetrifft, so ist auch sie zu diagno-
stischen Zwecken und zur Linderung der Allgemeinbeschwerden heran-
gezogen worden, ohne daB sie bei Tumoren besonders giinstige Resul-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
t)ber die Indikationen zu hirndruckentlastenden Operationen.
31
tate gezeitigt hatte. Die Indikation fiir sie aus therapeutischen Griin-
den ist naturgemaB ein sekundarer Hydrocephalus. AuBerdem wurde
sie ebenfalls nach den v r orher behandelten Gesichtspunkten als Voropera-
tion mit der Palliativtrepanation verbunden.
Eine weitere Ersetzung der Palliativtrepanation sollte dann der von
Anton und Bramann ausgearbeitete Balkenstich darstellen, mit
dessen Hilfe man auch in geeigneten Fallen in der Medianlinie mit der
Sonde nach hinten gehend den dritten Ventrikel offnen konnen soli.
Aus einem Referat Antons auf der 5. Jahresversammlung der Gesell-
schaft deutscher Nervenarzte iiber 50 mit Balkenstich behandelte Falle
(24 Tumoren, 17 Hydrocephalus, 4 Zysticerken, 2 Epilepsie, je 1 luet.
und einfache Meningitis, 1 Turmschadel) sollen sich auBer den oben
behandelten noch die folgenden Vorteile gegeniiber der Trepanation er-
geben: 1. der Eingriff kann in Lokalanasthesie gemacht werden, 2. schont
er Rinde und Leitungsbahnen, 3. schafft er eine Kommunikation zwi-
schen Ventrikel und Subduralraum und damit eine groBere Resorptions-
flache, 4. soil durch ihn auch der 3. Ventrikel zur Kommunikation mit
den anderen Hirnhohlen gebracht werden konnen, was sehr wichtig ist,
weil dieser sich mitunter gesondert erweitert und seine diinnen Wande
dann einen Druck auf die Basis speziell das Chiasma opt. w'eiterleiten,
5. kann er eine Voroperation fiir die Entfernung von Zysten im 4. Ven¬
trikel darstellen. So blieb das Sehvermogen in zwei Fallen von Zysten
im 4. Ventrikel erhalten, bei denen durch die nachtragliche Eroffnung
des Kleinhirns und des 4. Ventrikels auch die Stauungspapille zum Ver-
schwinden gebracht wurde (Boumann).
Dagegen kommt der Balkenstich nicht in Frage bei Tumoren der
Hemispharen mit Kompression der Ventrikel, Balkentumoren, Tumoren
des 3. Ventrikels oder der Lamina quadrigemina, der Dura oder Schadel-
knochen. Die Hauptgefahren bestehen nach Boumann in einer Ver-
letzung der Stammganglien und Capsula interna. Er fiihrt unter zehn
Fallen zwei mit nachgebliebener Hemiplegie und Erscheinungen eines
Herdes im Thalamus an.
Nach Polisch hat der Eingriff neben den oben behandelten Vorteilen
gegeniiber der Trepanation aber doch eine Reihe von groBen Nachteilen
gegeniiber der Trepanation und Punktion. So sah Hippel zwar sieben-
mal, daB sich nach Anwendung des Balkenstichs die Stauungspapille
zuriickbildete, jedoch langsamer als es bei der Trepanation der Fall zu
sein pflegt. Das kann natiirlich in dringenden Fallen, wie bereits oben
gesagt, verhangnisvoll werden. Polisch machte dieselbe Beobachtung
und warnt deshalb davor, bei hochgradiger Stauungspapille mit der
Trepanation zu warten. Des weiteren seien von ihm selber viermal
unter zehn Fallen Blutungen und Kollaps infolge einer plotzlichen
Druckentlastung beobachtet worden. Auch Entgleisungen der Kaniilen
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
32
K. Jakoby:
Digitized by
seien besonders bei Lageveranderungen vorgekommen. Schlic(31 ich be-
richtet er von einem Fall, bei dem zweimal der Balkenstich erfolglos
versucht worden sei «nd die Operation wegen Kollaps hatte abgebrochen
werden mtissen. Fur die Diagnose sei es wohl moglich gewesen, Hohe
des Drucks und Menge des Inhalts festzustellen, so daB sich eine Vor-
stellung von der GrbBe des Hohlenhydrops hatte ergeben konnen,
doch kame die Austastung praktisch kaum in Frage. Erfahrungen dar-
iiber seien eigentlich nur von Anton mitgeteilt worden. lin allgemeinen
handele es sich wohl um Zufallstreffer. Diagnostisch sei die Hirn- bzw.
die Ventrikelpunktion iiberlegen, die auch bei nicht operablen Tumoren
in der Kombination mit der Trepanation zu therapeutischen Zweeken
vorzuziehen ware.
Von Anton und Schmieden wurde dann noch eine andere Punk-
tion auf Gnind der folgenden Uberlegung ausgearbeitet, die teils eine
besondere Operation darstellt, teils den Balkenstich erganzen soli:
Bei Zunahme des Hirndrucks oder auch des Hirngewichtes wird der
Druck motorisch bis zum Kleinhirn und der Medulla oblong, hin weiter-
geleitet. Dadurch wird die Kommunikation zwischen dem Subdural-
raum des Gehirns und der Wirbelsaule gestort. ,,Es war also notig,
auch das subtentorielle Kreislaufgebiet in Betracht zu ziehen. Dieses
hat ja in bezug auf die GefaBe und Lymphspalten seinen eigenen Mecha-
nismus und seine eigenen Gesetze.“ So ist bekannt, daB sich bei Dmck-
steigerung die Membrana occip. atlant. vorwolbt und dehnen laBt.
Sie wurde auch bereits von Physiologen mehrfach eroffnet (Dencher
und Druif), und Druif zeigte, daB Tiere auch durch hohen Druck
nicht getdtet wurden, wenn die Membran offen blieb. Horsely und
F. Krause erzielten dann durch eine Offnung in der Dura bei Ober-
druck und Hypersekretion im Subduralraum des Riickgrats eine be-
trachtliche Erleichterung. Sie zeigten auch, daB diese Offnung behufs
des Abflusses des Liquors bei Vernahung der Hautwunde offen gelassen
werden konnte. Payr hatte bereits mittels Trepanation die Cysterna
cerebell. eroffnet, und Westernhoffer hatte schon 1906 Einsclinitt
und dauernde Drainage der Membrana occip. atlant. empfohlen (bei
epidemischer Meningitis), evtl. mit Eroffnung und Punktion des Unter-
horns, um eine Durchspiilung des Ventrikels vorzunehmen. Von Payr,
Mikulicz, Krause, Cushing u. a. Autoren war dann versucht wor¬
den, durch Drainage mittels Metallrohren oder einer Kalbsarterie einen
AbfluB des Liquors ins Subkutangewebe oder den Subduralraum des
Riickenmarks zu schaffen, ohne daB diese Methoden jedoch schon wegen
ihrer schwierigen Technik praktische Bedeutung erlangt hatten.
Nach Anton sind die Vorteile dieses Verfahrens, des Su boccipit al-
stiches, gegeniiber der Trepanation zietnlich dieselben wie beim Bal¬
kenstich. Zum erstenmal haben Anton und Schmieden in dieser
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
t)ber die Indikationen zu liimdruckentlastenden Oporationen.
33
Weise bei einem verzweifelten Fall von Hypophysentumor eingegriffen,
bei dem durch Suboccipitalstich zwar die Sehnervenatrophie auch nicht
beseitigt werden konnte, die Kopfschmerzen aber und das Erbrechen,
some die Benommenheit fur langere Zeit zum Verschwinden gebracht
wurden, als es vorher durch Balkenstich moglich gewesen war. Anton
berichtet u. a. von einem Falle, in dem die Stauungspapille bis auf eine
kleine Andeutung auf einer Seite gebessert wurde, dab der Liquor an
der Genickstelle zeitweilig eine Anschwellung verursachte. Diese
Schwellung wurde allmonatlich punktiert und etwa 20 ccm klare Ge-
hirafliissigkeit entleert. Auf diese Weise wurde ein 5. extrakranieller
Reserveventrikel geschaffen. Als spezielle Indikation fur den Subocci¬
pitalstich kommt jede AbfluBbehinderung in der Gegend der Vierhiigel
des Aquaeductus Sylvii, im 4. Ventrikel und in der hinteren Schadel-
grube in Frage.
Der Suboccipitalstich ist aber durchaus nicht ungefahrlich und
kommt auch nach Anton und Schmieden selber hauptsachlich fiir
desolate Falle in Frage.
SchlieBlich bleibt noch die Lumbalpunktion zu besprechen, die
von einer Reihe von Autoren, z. B. Curschmann und Schlesinger,
auch mit Erfolg zur Beseitigung der Allgemeinsymptome bei Tumoren
ausgefuhrt wurde. Das Prinzip der Druckentlastung ist dem der eben
besprochenen Methoden ahnlich, und dabei ist es ein groBer Vorzug
diesen gegeniiber, daB die Gehirnsubstanz selbst nicht angegriffen wird.
Wenn aber auch von verschiedenen Autoren Ruckgang der Stauungs¬
papille und der sonstigen Allgemeinsymptome beobachtet wurde, so
stehen doch eine Reihe von Beobachtungen dem gegeniiber, nach denen
im AnschluB an den Eingriff eher noch eine Verstarkung der Beschwer-
den, namentlich der Kopfschmerzen, auftrat, so daB Oppenheim vor
ihrer Anwendung bei Tumoren warnt.
Die Gefahren der Lumbalpunktion beruhen in der plotzlichen Druck-
erniedrigung, die sekundar zu verschiedenen unheilvollen Folgen, wie
Blutung ex vacuo und Verlegung der Kommunikation, fiihren kann.
Deswegen inuB sie vor alien Dingen bei Tumoren der hinteren Schadel-
grube und besonders des 4. Ventrikels sehr vorsichtig gemacht, und darf
der Liquor nur tropfenweise abgelassen werden. Dies ist eigentlich die
einzige wirkhch klare Kontraindikation, wahrend man sonst irgend-
welche bestimmte Indikationen nicht aufstellen kann.
Will man bei gefahrlichen raumbeschrankenden Prozessen deimoch
lumbalpunktieren, so haben sich folgende VorsichtsmaBregeln als niitz-
lich erwiesen:
1. 24stiindige Bettruhe vor dem Eingriff.
2. Der Kopf muB bei dem Eingriff tief liegen, der Pat. muB sich in
Seitenlage befinden.
Archiv fiir Psychlatrie. Bd. 07. 3
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Digitized by
34 K. Jakoby:
3. Der Druck muB dauernd bzw. nach Ablauf von je 2 ccm gemessen
werden.
4. Nach dem Eingriff muB der Pat. 2—3 Tage oder mehr, je nach
der Starke der Beschwerden, zu Bett liegen, die ersten 24 Stunden
mit tiefliegendem Kopfe.
5. Alkohol und geistige Aufregungen miissen vermieden werden.
6. Der t)bergang in die aufrechte Korperhaltung muB allmahlich
vorgenommen werden.
Vollig zu verwerfen sind Aspiration oder ambulante Vornahme des
Eingriffs.
Ein dem Hirntumor ahnliches Bild bietet oftmals der HirnabszeB.
Auch er kann dieselben Allgemein- und Herdsymptome verursachen,
die zuerst Reizung, dann Lahmung bewirken, doch kommen meist zu
den klinischen Erscheinungen, wie wir sie bei den Tumoren fanden,
Fieber, Schiittelfrost, Abmagerung, septisches Aussehen hinzu. Hin-
gegen ist die Neuritis optica bzw. Stauungspapille seltener. Die Herd¬
symptome sprechen naturgemaB wieder fur eine entsprechende Er-
krankung der GroBhirnhemisphare und des Kleinhirns, sind fur die
Lokaldiagnose das wichtigste Zeichen und geben somit die Indikation
zur Radikaloperation.
In der von Neisser-Pollack beschriebenen Hirnpunktion haben
wir ein gutes diagnostisches Hilfsmittel, das sich gleichzeitig auch als
Voroperation gut bewahrt hat. Die Gefahr, daB infolge DurchstoBung
des Abszesses eine Verschleppung des Eiters in tiefere Hirnschichten
stattfinden kann, wird dadurch vermieden, daB man gleich im AnschluB
an die Punktion breit eroffnet und AbfluB schafft.
Ist die Lokalisation unmoglich, dann kommen wie beim Tumor
nach denselben Gesichtspunkten die PalJiativtrepanation bzw. die iibri-
gen druckentlastenden Operationen in Frage, zumal die Differential-
diagnose zwischen Tumor und AbszeB ja durchaus nicht immer klar
ist. Die spezielle Indikation zum Eingriff beim AbszeB laBt sich nach
v. Bergmann folgendermaBen zusammenfassen: ,,Es kommen fast alle
traumatischen Abszesse oder solche im AnschluB an Knocheneiterungen
namentlich des Ohres entstehende in Frage, wahrend metastatische
Abszesse wegen ihrer Multiplizitat und als Zeichen von Septiko-
pyamie besser unberiihrt gelassen werden. Man suche die Lokaldiagnose
so sicher wie moglich zu stellen und gehe erst daim nach erfolgter Er-
offnung des Schadels mit dem Messer vor. Ist an der Oberflache des Ge-
hirns kein Eiter sichtbar, dann punktiere man das Gehirn und passe
auf, ob sich aus der Tiefe Eiter entleert. 1st dies der Fall, dann schneide
man mit dem Messer in die Tiefe des Hirns ein.“ Eine allgemeine Me¬
ningitis braucht nach Oppenheim keine Kontraindikation zu sein, da
Symptome derselben in dem Vorstadium bzw. den Vorstufen desselben
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
t)ber die Indikationen zu hirndruckentlastenden Oporationen. 35
auftreten konnen. Man hat auch wie bei den Tunioren die Operation
mitunter erfolgreich wiederholt, so in einem von Oppenheim zitierten
Falle von Gluck, der nach elfjahriger Heilung eine Patientin wegen auf-
tretender Kopfschmerzen und Epilepsie zum zweitenmal operierte,
eine Zyste fand, mit deren Entleenmg und Exzision von neuem Hei¬
lung erfolgte. Im allgemeinen aber sind auch .die Erfolge der chirurgi-
schen Therapie, die immerhin noch die beste ist, nicht allzu giinstig.
Oppenheim zitiert eine Statistik von Korner, der bei 23 GroBhirn-
abszessen 11 Heilungenund 12 Todesfalle und bei 15 Kleinhirnabszessen
gar nur 4 Heilungen und 11 Todesfalle beobachtete. Eine verhaltnis-
maBig giinstige Chance bieten die Schlafenabszesse, eine besonders
ungiinstige die des Kleinhirns. Rechnet man gar die Falle mit, in denen
der AbszeB nicht gefunden wurde, dann kann nach der von Oppenheim
zitierten Statistik Schmegelows und Korners auf acht Heilungen
bei 30 Abszessen, gleich 26,6% gerechnet werden.
Ebenfalls nach denselben Gesichtspunkten der Tumorbehandlung
richtet sich vielfach die chirurgische Therapie des Zysticerkus und
Echinococcus, deren Prognose im allgemeinen durch ihr multiples
Auftreten ungiinstig ist. Auch hier leistet die Lumbalpunktion und die
Hirnpunktion wieder besonders gute diagnostische Dienste. Durch die
letztere ist es auch moglich gewesen, Echinococcusblasen zu aspirieren.
Wegen der durch die Parasiten bewirkten enormen Hypersekretion hat
man auch bei Balken- und Suboccipitalstich Erfolge durch Beseitigung
der Allgemeinsyraptome erzielt.
Es mag jetzt die Besprechung des Hydrocephalus angeschlossen
werden, der entweder als angeborener und dann meist interner oder als
erworbener und dann meist externer auftritt. Danach ergibt sich die
Indikation fiir den entsprechenden Eingriff. Die Unterscheidung ist
jedoch nach den klinischen Symptomen so gut wie unmoglich. Die ge-
gebene Therapie ist die Ventrikelpunktion, die bereits von Hippokrates
gekannt und empfohlen wurde und die heute besonders dami angewandt
wird, wenn die Spinalpunktion ein negatives Resultat hatte. So sah
Beck in einem Falle Wiederkehr des Sehvermogens, Schwinden des
Koma und Sheyne-Stockeschen Atmens nach der Punktion. Die Erfolge
sind jedoch im allgemeinen nicht iibermaBig groB. Nach einer Statistik
iiber 30 Falle von Henschen (zitiert nach Oppenheim) waren 15 Hei¬
lungen, 12 Besserungen, 12 ohne Resultat und 24 Todesfalle. Im all¬
gemeinen laBt man 50 — 80 ccm Fliissigkeit ab, in schweren auch zum
erstenmal 100 ccm. Doch darf der Druck nicht unter 50 sinken. Erst
das nachste Mai darf er evtl. auf Null herabgehen. Die Punktion kann
selbst taglich vorgenommen werden, doch muB man bei Kindern um
so vorsichtiger sein, je weiter der SchluB des Schadels gekommen ist.
Bei ganz geschlossencm Schadel muB man sich vor dem Entstehen eines
3*
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
36
K. Jakoby:
negativen Druckes kuten. Man wird dann iiberhaupt gut tun, moglichst
wenig Fliissigkeit abzulassen. Nach Pinkus waren die Erfolge bei
fortdauerndem Hydrocephalus gleich Null, bei sistiertera dagegen gut.
Es konnnt eben darauf an, ob der Hydrocephalus auf toxischer Basis
durch Eitervorgange im Gehirn resp. seiner Umgebung oder auf direkter
bakteriologischer Infektion der Tela chorioidea beruht.
Mikulicz und Henle versuchten, die Fliissigkeit durch ein Glas-
wolldrain oder Goldrohrchen aus dem Seitenventrikel in den Subarach-
noidealraum bzw. unter die Galea des Schadels zu leiten, doch starben
ihre sieben Patienten.
Quincke schlitzte subkutan den Duralsack. Kausch empfiehlt
Larainektomie von 1—2 Lendenwirbeln, breite Eroffnung der Dura
und Arachnoidea sowie die Vernahung derselben mit der Haut. Payr
fiihrte die Ventrikeldrainage aus, indem er erst einen Troikart in den
Seitenventrikel emfuhrte und dann an dessen Stelle ein frei transplan-
tiertes GefaBstiick zum Sinus legte. So berichtet er iiber einen elfjah-
rigen Dauererfolg mittels einer in Formalin geharteten und paraffin-
getrankten Kalbsarterie bei einem mit hochgradiger Stauungspapille
einhergehenden Hydrocephalus. Henle leitet auch durch frei transplan -
tierte BlutgefaBc die Fliissigkeit in die V. jugularis. Der Balkenstich
ist ebenfalls bei Hydrocephalus internus mit Erfolg angewandt worden,
doch hat Oppenheim Bedenken gegen ihn, nachdem einer seiner Pa¬
tienten aus ungeklarter Ursache nach dem Eingriff starb. Der Sub-
occipitalstich soli sich bei Behinderung des Abflusses durch basale Hin-
dernisse bewahrt haben. Durch ihn soli man auf diese Weise noch in
der Kindheit die Druckatrophie der Kleinhirnhemispharen durch recht-
zeitiges Ablassen von Fliissigkeit haben verhindern konnen.
Auch die Trepanation ist vielfach gemacht worden. So mit gutem
Erfolge in einem Falle von Krause unter der Annahme eines Kleinhirn-
tumors. So erzielte nach Oppenheim auch Axhausen nach mehr-
facher Trepanation durch wiederholte operative Entleerung Heilung,
ebenso Bruce und Cotteril durch Trepanation und Eroffnung des
4. Ventrikels.
Beim Hydrocephalus acquisitus hat sich die Lumbalpunktion
gut bewahrt, und man hat nach ihr vielfach Riickgang der Stauungs¬
papille und anderer Allgemeinsymptome beobachten konnen. Quincke
entleert in der Minute etwa 1—2 ccm und geht bei hohem Anfangs-
drack nicht unter 300 ccm. Besonders gute Erfolge bei der Behandlung
des Hydrocephalus im Kindesalter hatte Bockay. Er wendet die Lum¬
balpunktion in Intervallen von 4—8 Wochen in einem Zeitrailm von
4—12 Monaten oder mehr an und entfernt jedesmal 30—40 ccm.
Nach seiner Beobachtung war iibrigens die Kommunikation zwischen
Schadel und Riickenmark immer erhalten.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Cber die Indikationen zu himdruckentlastenden Operationen.
37
Trotz vielfaeh beobachteter Erfolge sind die Meinungen iiber die
Indikation fiir die einzelnen Eingriffe sehr auseinandergehend, und bei
alien Methoden sind die MiBerfolge schlieBlich doch weit groBer als die
Erfolge. Wahrend sie einige Autoren nur als Indicatio vitalis betrach-
ten, schlieBen andere wieder die schwersten und leichtesten F&lle aus
und halten in den iibrigen den operativen Eingriff, sei es als Palliativ-
oder als Heilmittel, fiir indiziert. Als Kontraindikation wurde es von
einigen Autoren angesehen, wenn bei einem Kinde von 6 — 8 Monaten
der groBte Sehadelumfang iiber 60 cm betragt. Nach Henschen ist iru
allgemeinen die Operation bei progressiv sich steigerndem Hirndruck
indiziert, wenn entweder das Leben oder wichtige Sinne bedroht sind,
dagegen kontraindiziert bei stationiirem Hydrocephalus und knochernem
VerschluB der Sehadelnahte.
Ebensowenig feststehend sind die Indikationen zum chirurgischen
Eingriff bei einer Reihe anderer hirndruckerzeugender Erkrankungen,
wie der Hirnblutung, Encephalomalacie, Encephalitis, der
cerebralen Kinderlahmung. Man wird naturgemaB bei trauma-
tischen Blutungen von der Wunde aus vorgehen und versuchen, das
zerrissene GefaB zu unterbinden so wie die Blutgerinnsel wegzuschaffen.
Man kann auch vielleicht die von Horsley 1890 schon empfohlene
Unterbindung der Carotis auf der Seite der Hamorrhagie vornehmen.
Besser jedoch als dieser letzte nur ganz selten angewandte Versuch hat
sich in vielen Fallen die Gehirnpunktion bewahrt. So wurde in einem
von Levandowski und Stadelmann beschriebenen Fall, in dem man
durch die Hirnpunktion 60 ccm Blut aus dem Lobus occipitalis ent-
fernte, dadurch die Heilung angebahnt. Franke forderte die Punktion
oder Trepanation bei Apoplexie in den ersten 12 St unden, doch sind
bisher keine nennenswerten Erfolge damit erzielt worden.
Bei Kindern mit spastischer Hemi- oder Paraplegie, bei denen An-
zeichen eines erhohten Himdrucks bestanden (Augenhintergrundsver-
anderungen und Druck der Spinalflussigkeit), wurde von Sharpe und
Farre in 201 Fallen die dekompressive Schadeltrepanation am Schlafen-
bein gemacht und in 65 Fallen erhebliche Besserung erzielt, wie sich aus
der Intelligenzzunahme der Kinder kundtat. Ein abschlieBendes Urteil
vermogen sie jedoch wegen der Kiirze der Beobachtungszeit nicht zu
fallen. F. Krause wartet bei cerebraler Kinderlahmung, ob nach Ab-
lauf der Encephalitis und der Genesung Epilepsie auftritt. Solange die
Verstandeskrafte noch nicht gelitten haben und das Chel noch nicht
eingewurzelt ist, ist die Prognose nach ihm immerhin noch verhaltnis-
maBig giinstig.
Bei der Epilepsie stiitzte sich die Indikation zur druckentlasten-
den Operation zun&chst auf die Anschauung, daB sie cine Folge ge-
steigerten Himdrucks ware (Kocher). Weitere Beobachtungen ergaben
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
38
K. Jakoby:
Digitized by
jedoch, daB die Drucksteigerung erst wahrend des Anfalles auftritt,
indent Krampfe der Atemmuskeln, die den Thoraxinnendruck erhohen,
eine Stauung des venosen Blutabflusses aus dent Gehirn bedingen und
dadurch Hirndruck erzeugen. Die Indikation fiir den Eingriff bei der
genuinen Epilepsie, iiber deren Wesen wir noch zu wenig wissen, ist ab-
solut ungeklart und hat nach Oppenheint keine Berechtigung. Fiir
die Forrnen der Epilepsie, die auf einent MiBverhaltnis zwischen deni
Schadel und seinem Inhalt beruhen (Turntschadel, Pubertatsepilepsie),
bei denen die Rontgenaufnahme gute diagnostische Dienste leistet,
haben Anton und Schmieden mit Erfolg den Balken- und Suboccipi-
talstich angewandt. Auch die Lumbalpunktion hat Erfolg gezeitigt.
Bei der traumatischen Epilepsie komnit hauptsachlich die Trepana¬
tion in Frage. Man wird sie ausfiihren:
1. Wenn die Anfalle den Charakter der Rindenepilepsie zeigen.
2. Wenn die Narbe iiber der motorischen Zone oder ihrer Nahe
liegt. Liegt sie weit ab von dent Rolandoschen Bezirk, dann word
man die Rindenzone wahlen, auf die das Bild des Anfalles himveist.
Liegt eine allgemeine Epilepsie traumatischen Ursprungs vor, dann
wird man operieren:
1. Wenn die Narbe am Schadel eine epileptogene Zone bildet, oder
Anzeichen dafiir sprechen, daB es sich um eine Reflexepilepsie
handelt. Dann sind zuniichst die Weichteile vom Schadel zu
trennen und ist der Erfolg abzuwarten. Ist er ungeniigend, dann
wird man evtl. die endokranielle Narbe angreifen.
2. Wenn Knochendepression vorhanden ist und meningeale Reiz-
erscheinungen (Kopfschmcrzen, perkutorische Empfindlichkeit der
Narbe usw.) auftreten und
3. wenn schlieBlich die Krampfe den Typus der genuinen Epilepsie
haben, aber die Aura bestimmten Charakters ist, oder post-
paroxysmale Ausfallerscheinungen die Lasion eines untschriebe-
nen Rindenzentrums wahrscheinlich macht.
Bei der Migrane, die in mancher Beziehung Verwandtschaft mit
der Epilepsie aufweist, empfehlen Schmieden und Anton in besonders
schweren Fallen, die der medikamentosen Therapie trotzten, den Sub-
occipitalstich. Es fiihrte dazu die Beobachtung des peripheren Odems
(Quincke), die auch eine Hypexsekretion der Gehirnfliissigkeit an-
nehmen laBt. Diese Hypersekretion ist nur dann gefahrlich, wenn eine
AbfluBbehinderung besteht. Wiirde sie beseitigt, dann miiBten auch
die Kopfschmcrzen und sonstigen Symptome verschwinden. Es komrnt
dabei wohl die Spannung der Dura, des ,,Kopfschmerzorgans“ nach
Meynert, in Frage. Die abgeleitete Fliissigkeit darf natiirhch keine
Entziindung erregenden Elemente in sich bergen. Dieser Vorschlag hat
aber nach Polisch bisher nur theoretische Bedeutung gehabt.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
t)ber die Indikationen zu hirndruckentlastenden Operationen.
39
YVir hatten nun noch die Hirndruck erzeugenden Affektionen der
Meningen zu betrachten. Bei der Pachymeningitis haemorrh.
interna ist die Indikation zum chirurgischen Eingriff nur bei den schwer-
sten Formen gegeben. Es ist dann durch Hirnpunktion zuniichst der
Versuch zu machen, moglichst viel Blut zu entleeren. Gehen die Er&chei-
nungen der Punktion nicht zuriick, dann ist die Trepanation und Aus-
raumung des Hamatoms notwendig. Auch die Lumbalpunktion soli ver-
schiedentlich zum Erfolg gefiihrt haben.
Bei der eitrigen Form der Meningitis, besonders der vom Ohre
ausgehenden, ist die Spaltung der Dura mater mit Evakuation des in
den Meningen enthaltenen Exsudats bei den ersten Anzeichen auszu-
fiihren. Auch hier spielt in atiologisch unklaren Fiillen die Lumbal¬
punktion eine groBe Rolle.
Bei der Meningitis serosa externa cystica, die oft differential-
diagnostisch kaum von einem Hirntumor zu unterscheiden ist und zu
der wohl auch viele Falle der von Nonne beschriebenen Pseudotumoren
gehdren, ist ebenfalls die Punktion bzw. Trepanation angezeigt.
Bei den iibrigen Formen der Meningitis: der Men. epidemica tuber¬
culosa u. a. hat man sowohl die Hirnpunktion als auch ganz besonders
die Lumbalpunktion mit mehr oder weniger Erfolg angewandt. Beson-
dere Erfolge und sichere Indikationen zum Eingriff sind jedoch bei alien
Arten der Meningitis noch nicht feststellbar.
Zur Erlauterung obiger theoretischer Ausfuhrungen sollen drei Falle
von Hirntumor bzw. -verdacht mit Himdrucksymptomen aus der Ko-
nigsberger Nervenklinik mitgeteilt werden:
Fall I.
In den ersten Tagen des Januar 1916 kommt Frau F. ohne Begleitung in die
Poliklinik der Konigsberger Psychiatrischen und Nervenklinik. Familienanain-
nese o. B. Elgene Krankheiten: Sie sei nur blutarm, sonst nie ernstlich krank
gewesen. Mehrere normale Geburten, keine Fehlgeburt. Im Herbst 1915 habe sie
beim Kartoffelgraben zum erstenmal gemerkt, dab ihr schwindlig wurde und ihr
„das Lieht verschwand' 4 . Sie habe auch Kopfschmerzen und Druckgefiihl im
Kopf vom Nacken her beginnend und liber den Kopf sich verbreitend, bekommen.
Seit etwa einem Jahre habe sie alle vier Wochen galliges Erbrechen gehabt. In
letzter Zeit etwa einmal wochentlich, zuletzt am 28. XII. 15. Sie sei darauf zu
einem Arzt gegangen, der sic naeh mehreren Untersuchungen der medizinisehen
Poliklinik iiberwiesen habe, von wo sie dann zur Nervenklinik geschickt worden
sei. Jetzige Beschwerden: Sie sehe immer wie durch einen Nebel, zeitweise schwinde
das Licht fur Sekunden ganz, oft sehe sie die Dinge nur halb, etwa die untere
oder obere Halfte oder ein halbes Gesicht. Zeitweise habe sie auf dem linken, dann
wieder auf dem rechten Auge nichts sehen konnen, jetzt seien l>eide gleich schlecht.
Sie hore besonders ira Liegen Glocken lauten, Klingen und Sausen in den Ohren.
Pberhaupt habe sie beim Liegen mehr Kopfschmerzen. dann fange der Schmerz
an zu ,,wiihlen“. Das Denken gehe sclnverer. sie zerbreche sich oft den Kopf,
wohin sie Gegenstande gelegt habe. Die Erinnerung an friihere Geschehnisse sei
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
40
K. Jakoby:
Digitized by
schlechter geworden. In den Feiertagen babe sie sich so schlecht gefuhlt, dab sie
die einzelnen Familieninitglieder nicht habe erkennen konnen. Vor Schmerzen
babe sie nichts oder nichts Passendes sprechen konnen.
Dr. P. schreibt in einem Briefe, er habe die Patientin seit dem 8. XI. 15 be-
obachtet. Sie habe damals iiber Kopfschmerzen und zeitweise iiber Verdunkelung
vor den Augen geklagt. Sehscharfe 4 / 7 . Bds. Neuritis optica. Nach mehrwochigem
Ausbleiben sei sie am 31. XII. 15 wiedergekommen, habe iiber starke Kopfschmer¬
zen geklagt, angeblich ofter Erbreohen gehabt und sei viel bettlagerig gewesen.
S. re. 4 / 24 bis 4 /i 8 , li. 4 / 24 . Glaser besserten nicht. Bds. besonders links starker.
Neuritis optica. Links auch ofter auftretende Verdunkelungen. Wegen Verdacht
auf Tumor habe er sie der medizinischen Poliklinik zugeschickt, wo sie bereitsEnde
November untersucht worden ware.
Schreiben der mediz. Polikl. vom 3. I. 16: Frau F. kam vor ca. drei Wochen
in Behandlung, bot damals auBer einer maBigen Neuritis optica bds. keinen wei-
teren Befund. Visus bds. 4 / 7 . Seit ca. 8 Tagen hat sich nun eine Stauungspa-
pille besonders links entwickelt. Der Visus betragt jetzt nur noch re. 4 / 18 , li. 4 / 24 -
Die inneren Organe zeigen keinen wesentlichen pathologischen Befund. Es wird
Tumor cerebri angenommen.
Status somaticus. GroBe, kraftig gebaute 34jahrige Frau in gutem Er-
nahrungszustande. Haut imd sichtbare Schleimhaute leicht blaB. Keine Narben,
keine Driisen.
Kopf o. B. Innere Organe o. B. Puls: weich, klein, 46 in der halben Minute.
Urin: frei.
Nervensystem. Augen geringer Exophthalmus, Pupillen mittelweit, leicht
entrundet. L. R. +, C. R. + , Augenbewegungen frei. Augenhintergrund bds.
altere Stauungspapille; re. drei D., li. 2—2*/ 2 D. Conj. R. Lidspalten: weit.
Facialis: re. minimale Schwache des Mundfac.
Trigeminus: o. B. Sprache: o. B.
Reflexe: Kn./Ph.: ++, Achtdr./Ph. : + , Plantarreflex: + + , Babinski—,
Abdom. Refl.: + + , Patellar-FuBklonus-Oppenheim: —, Crem. Refl. —.
Vasomotorisches Nachroten: + . Mechanische Muskelerregbarkeit: —.
Motilitat: Arme: kein Tremor, keine Ataxie, Beine: grobe Kraft o. B.,
keine Ataxie, Gang: leichtes Abweichen nach rechts mit geschlossenen Augen.
Romberg: leichtes Schwanken nach hintenund vorn oder nach links, Fallneigung.
Sensibilitat: intakt.
Druckempfindlichkeit der Muskeln und Nerven: —.
Hysterisches Stigmata: Ovarie: + + , Mastodynie: + .
Liquor cerebrospinalis und Blut: Wa. R. —.
Rechnen: 5x6 = —, 5x3 = 12, 8+5 = +.
Die Merkzahl 7538 wird nach drei Zwischenfragen als 7593 wiederholt. Kriegs-
beginn? „Sommer, so schone Tage, Schwiegereltern hatten gerade Korn, das kann
ich mir noch erinnem. Das wird gewesen sein: Juli, August so was.“ Spontan:
„Das ist ja das Schlimme, daB der Vcrstand nicht will. Ich bin nicht dumm,
aber der Druck. Wenn ich die Briefe von raeinem Mann lese, weiB ich nachher
nicht, was ich gelesen habe.“ Sie sei leicht aufgeregt, aber kampfe, um sich zu
beherrschen. Gute Orientierung in Zeit und Ort.
9. I. 16. Starke Schmerzen im Nacken, Brechreiz, Kalte in den FiiBen und
in dem Korper. Sie miisse wieder so sehr „kampfen“.
7. II. 16. Dauemd wechselndes Befinden. Jeden zweiten bis dritten Tag
Schiibe von heftigen Kopfschmerzen, tllx'lkeit, Schwindel, Erbrechen. Linke Seite
des Kopfes und Nackens besonders empfindlich. In den letzten Tagen KLlagen uber
die rechte Kopfseite und Spicken in den FiiBen.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Uber die Indikationen zu hirndruckentlastenden Operationen.
41
Untersuchung der Ohrenklinik 5. I. 16: Von seiten der Ohren nichts
Krankhaftes.
Untersuchung der Augenklinik 26. I. 16: re. Stauungspapille ca. 2 D.;
li. etwas weniger, mit betrachtlicher Ablassung der Sehnervenscheibe. Visus
auBerordentlich wechselnd. Rechts nur Handbewegungen bis zu voriibergehendem
Erkennen von Fingem; li. Fingerzahlen in Vj —1 m Entfernung.
Gesichtsfeld: re. innen oben stiirkste, innen unten mittlere, auBen geringere
Verdunkelung. Li. innen oben Verdunkelung; zentrales Skotom.
Re. gibt Pat. an, Handbewegungen temporal ain deutlichsten, nasal oben am
schlechtesten, nasal unten etwas deutlicher sehen zu konnen.
Von seiten der Augen scheint, um vollige Erblindung moglichst zu verhiiten,
baldige Operation indiziert. Die Gesichtsfeldverschleierungen sind wohl zu wech¬
selnd, um lokalisierende Schliisse ziehen zu konnen.
. Nachuntersuchung am 8. II. 16: Stauungspapille re. 2—3 D.; li. etwas
weniger.
7. II. 16. Adiadoehokinesis bds. Rechte Hand sinkt bei Gleichstellung beider
Hande. Rechtes Bein deutlich schwacher, wackelt beim Heben. Starke Druck-
empfindlichkeit der hintern Schadelgrube und der linken Scheitelbeingegend, etwa
unterhalb der Mittellinie.
8. II. 16. Verlegung in die chirurgische Klinik zur Operation.
Bericht der chirurgischen Klinik. Aufnahme der Pat. F. am 8. II. 16.
VVegen starken Himdrucks mit sehr starker Stauungspapille und rechtsseitiger
Parese wird Trepanation uber der linken Prazentralgegend von Prof. Kir sc hner
vorgenommen. Nach Eroffnung des Schadels zeigt sich enorm gespannte Dura
mit starker Stauung in den PialgefaBen. Geringe Pulsation. Die Dura wird als
Lappen umschnitten und zuriickgeklappt. Darauf wird die Pulsation deutlicher
und kraftiger, Him wolbt sich stark in die Schadeloffnung vor, aus dem Sub-
duralraum quillt miiCig Liquor hervor. Punktion des linken Seitenventrikels er-
gibt keinen vermehrten Liquor, keinen Hydrocephalus intemus. Die Trepanations-
platte wird als Ventil angelegt. Nach der Operation starke motorische Aphasie,
die sich im Verlauf der weiteren Beobachtung etwas bessert.
5. IV. Von der chirurgischen Klinik zuriickverlegt.
6. IV. Patientin liegt still da, die Augen meist geschlossen, auBert keine
Schmerzen. Vollige motorische und auch sensorische Aphasie. Pat. greift von verschie-
denen, ihr vorgehaltenen Gegenstanden nicht den, den man ihr nennt. Oft Er-
brechen. Weint heftig bei Beriihrung des rechten Armes und Beines.
17. V. Nervensystem: Pupillen mittelweit, leicht entmndet, L. R. und
C. R. rechts —, links +; Lidspalten rechts > links.
Facialis: rechts hangt der Mundwinkel herab, das rechte Auge wird nicht ge¬
schlossen. Sprache: nur unverstandliche Laute: „Zewechze“.
Motilitat: Bei der Untersuchung weint die Kranke bei der leichtesten Be-
riihrung des rechten Armes und Beines. Rechter Arm und rechtes Bein liegen un-
beweglich. Mit dem linken Arm dauernd koordinierte, aber auch zuckende Be-
wegungen.
15. VII. Langere Zeit iiber weinte sie jeweils bei Annaherung von Bckannten.
Jetzt erkennt sie anscheinend nur noch bei groBer Nahe, tastet nach Handen und
Kleidem; lacht, wenn sie erkennt. Zuweilen auch wieder deprimiert. Sie liegt
im allgemeinen ruhig und friedlich da, meldet sich durch Zeichen, wenn sie Bediirf-
nisse hat; iBt selbst, wenn man ihr den Loffel in die Hand gibt und verstandigt
sich einigermaBen.
1. X. Seit einiger Zeit noch ein paar Buchstaben zugelernt. Sie singt richtige
Melodien. Im allgemeinen scheint sie auch zu verstehen, was man ihr sagt.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
42
K. Jakoby:
Digitized by
15. XII. Oft Erbrechen, Ubelkeit, manchmal ist der Puls schlechter, so daB
Kampfer gegeben werden muB. Von Zeit zu Zeit Anfalle.
9. I. 17. Auf die Aufforderong hin, die Hand zu geben. die Zunge zu zeigen,
die Augen zu schlieBen, will sich Pat. aufrichten. Auf die Frage: „Was ist das?‘
(Uhr), antwortet sie „ja“. — „Geben Sie das Tascbentueb“: sie tut es.
Nervensystem: Nystagmus bei Blick nach links. Sonst im groBen ganzen
unveriindert.
Facialis: Rechter, unterer Ast schwacher. Trigeminus: Auf Nadelstiche im
Gesicht reagiert sie schnell, Zunge liegt gerade im Munde.
Reflexe: Kn./Ph.: + , re. > li., Babinski: bds. —, Abdom. Refl. re.: +, li.?
Motilit&t: Linker Arm wird gut bewegt, etwas Zittem und Zucken in dem-
selben. Im rechten Arm spastische Lahmung. Linkes Bein wird kraftlos gehoben,
bewegt sich etwas in alien Gelenken. Itechtes Bein wird bei Schmerzreizen in Knie
und Hiifte etwas angezogen.
Sensibilitat: Ohne groBere Storung.
28. II. 17. Die Anfalle werden von der Pflegerin folgendermaBen beschrieben:
Pat. schreit laut auf, bekommt im linken Arm und Bein Zuckungen, verdreht die
Augen. Dauer des Anfalles etwa 2 Minuten.
25. IV. Keine Anfalle mehr beobachtet. Pat. liegt ruhig da, klagt liber Schmer-
zen im Kopf und rechten Bein, sagt einige Worte wie „Morgen“, „Mahlzeit“ und
einige Eigennamen.
18. V. Pat. klagt liber heftige Kopfschmerzen, hin und wieder auch liber
Schmerzen im rechten Ann. Haufig sieht sie sehr angstlich nach links, weint dabei
und umklammert die Hand des Arztes. Sie deutet mit den Augen nach links
und bringt zum Ausdruck, es sei ihr, als stiinde dort jemand. Am 15. war wieder
ein Anfall, am 16. Erbrechen.
11. VI. Klagen iibcr Gertiusche und Sausen in den Ohrcn, besonders rechts
in letzter Zeit. Klage iiber unangenehmes Gefiihl in den Fingern.
18. VI. Wahrend der letzten Woche haufig Zuckungen in der ganzen linken
Seite. Die Zuckungen treten sehr haufig, ca. jede halbe Stunde, auf und dauem
ca. 2 Minuten. Am 17. VI. waren die Zuckungen auf der rechten Seite. Der Pro¬
laps senkt sich auf das Ohr, wird zusehends groBer. Pat. klagt dauernd iiber
Schmerzen im Hinterkopf, sowie Sausen im Ohr, besonders rechts, fiihlt sich sehr elend.
29. IX. Vormittags waren drei Anfalle. Bericht der Pflegerin: Zuckungen der
linken Seite, Schaum vorm Munde. Dauer jeden Anfalles ca. 10 Minuten.
30. IX. Befinden wechselnd. Schmerzen in der rechten Seite und im Kopf,
besonders in der Gegend des Prolapses. Angstgefiihle. Pat. sieht mit angstlichem
Blick nach links, meint, dort einen Schatten zu sehen.
15. X. Von Zeit zu Zeit treten in der oben beschriebenen Weise Anfalle auf.
Pat. klagt haufig iiber Schmerzen im Kopf und Nacken, sowie liber Ohrensausen.
Tin iibrigen Zustand wenig geiindert. Pat. lernt einige neue Worte, verstandigt
sich mit den wenigen Worten, die sie kann, auffallend gut. Singt mit richtiger
Melodie verschiedene Lieder. Stimmung einigermaBen.
10. XII. Zuckungen wiederholen sich ca. alle 3 Wochen. Zustand wechselnd.
Pat. klagt viel iiber Ohrensausen, Kopfschmerzen und Schmerzen im rechten Arm.
27. II. 18. Pat. hat eigentlimliche Reizerscheinungen im rechten Bein und
linken Arm. Krampf im rechten Bein, wobei es im Hiift- und Kniegelenk stark
flektiert wird. Zugleich werden unwillkiirliche, ausfahrende Bewegungen mit dem
linken Arm gemacht. Die Finger der linken Hand sind dabei eingeschlagen. Dauer
des Anfalles mehrere Minuten. Nach Intervallen von wenigen Minuten kehren
die Anfalle wieder. Pat. verzieht dabei das Gesicht schmerzlich und gibt an, in
den betreffenden Gliedern Schmerzen zu haben.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Cber die Indikationen zu hirndruckentlastenden Operationen.
43
6. IV. Anfalle seltener.
26. VIII. Klagen iiber heftige Kopfschmerzen in der Gegend des Scheitels
und des Prolapses.
22. XI. Pat. klagt plotzlich iiber Schmerzen ini linken Arm; objektiv nichts
nachweisbar.
3. II. 19. Status somaticus: In der linken Schlafengegend ca. ganseeigroBer,
prallelastischer Tumor (Hirnprolaps), auf dessen Oberflache die Haut stellenweise
arrodiert ist.
Xervensystem: Pupillen etwas iiber mittelweit, li. > re., bds. etwas ent-
rundet, L. R. + , C. R. nicht zu priifen. Rechtes Auge vollkommen amaurotisch;
links werden Finger in ca. 'im gezahlt. Conj. Refl.: + , Corn. Refl.: +, Lid-
spalten: Exophthalmus bds. li. > re. Strabismus div. rechts. Kein Nystagmus.
Facialis und Trigeminus: o. B.
Zunge: weicht etwas nach links ab. Rachenreflex herabgesetzt.
Sprache: motorise he Aphasie; sensorische Aphasie??
Reflexe: O. E. O. E.: + , re. > li. Kn./Ph.: li. +, re. gesteigert. Ach./Ph.:
li. + , re. + , sehr lebhaft.
Plantarreflex: li. +, re. + + . Babinski: —, Abdom. Refl.: li. —, re. herab¬
gesetzt. Patellarklonus: —, FuBklonus: re. + , li. —. Oppenheim: —.
Vasomotorisches Nachroten: + + +. Mechanische Muskelerreg-
barkeit: —.
Motilitat: Anne: Li.: kein Tremor, keine Ataxie, kein Spasmus. Re.:
schlaffe Lahmung, leichte Kontraktur der Fingergelenke; Finger sind in die Hand
eingeschlagen. Hand-, Ellenbogen-, Schultergelenke passiv beweglich.
Beine: Li.: alle Bewegungen moglich, aber etwas ausfahrend, keine Spasmen.
Rechtes Bein liegt dauemd nach auBen rotiert, Knie- und Hiiftgelenk passiv
beweglich, FuBgelenk nicht beweglich. Unterschenkel kann einige Grade von der
Unterlage abgehoben, das Bein im Kniegelenk aktiv bewegt werden. Pat. kann
nicht gehen.
Romberg: Nicht zu priifen.
Sensibilitat: Auf der ganzen linken Korperhalfte gesteigert.
Hysterisohe Stigmata: Ovarie + , Mastodvnie —.
15. III. Stimmung im allgemeinen besser, Pat. freut sich kindlich iiber die
kleinen Fortschritte im Sprechen, sie verstandigt sich gut mit der Umgebung.
15. V. Pat. klagt wieder iiber Kopfschmerzen und Abnahme der Sehfahigkeit,
gelegentlich auch iiber Schmerzen im rechten Bein, weint viel, auBert hiiufig den
Wunsch, daB sie gern sterben mochte, iibt fleiBig neue Worte und gerat in zitternde
Bewegung, wenn sie 2—3 Worte im Zusammenhang aussprechen kann.
25. VI. Klagen iiber kolossale Kopfschmerzen (der Kopf miisse ihr platzen),
angeblich im Prolaps. Sie weint den ganzen Tag.
27. VI. Zustand wieder besser.
14. X. Pat. klagt in letzter Zeit, daB sie wieder schlechter sehen konne. Sie
erkennt jetzt nicht unmittelbar vor das linke Auge gehaltene Finger.
30. V. Seit einigen Tagen wieder Kopfschmerzen. Gestern abend gegen 10 Uhr
wurde Pat. plotzlich sehr unruhig, schlug mit den Armen um sich und reagierte
nicht auf Anruf. Lange sah sie starr vor sich hin. Nach einer Spritze Mo. (1 ccm)
schlief sie. Heute morgen war sie wieder klar, konnte sich auf die Vorgange in der
Nacht nicht besinnen.
4. VI. Heute friih wieder ein Anfall: Zuckende Bewegungen im linken Arm
und rechten Bein. Bauer ca. i/ 4 Stunde. Klagen liber heftige Schmerzen.
29. XII. Status somaticus: TaubeneigroBer Tumor (Hirnprolaps) an der
linken Schlafe.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
44
K. Jakoby:
Digitized by
Xervensystem: Auf dem rechten Auge Amaurose. Auf dem linken Auge
Fingerzahlen in 20 cm.
Conj. Rcfl.: + herabgesetzt. Com. Refl.: +.
Sprache: langsam, scliwerfallig, verwaschen; mitunter Schwierigkeiten bei der
Wortfindung. Pat. sagt fiir „j“ oft „s“. Beim iiben wird es besser. Fiir „sch“
sagt sic immer „s“. Sie bezeichnet einzelne Gegenstande, die sie in die Hand
nimmt, richtig.
Reflexe: 0. E. O. E.: + re. ]> li. Kn. Ph.: + , li.: herabgesetzt, re. ge-
steigert. Ach. Ph.: li. +, re. + +, einige Nachzuckungen.
Plantarreflex: li. + , re. + -f. Babinski: —. Abdom. Refl.: li. -f schwach,
re. —. Patellar-, FuBklonus, Oppenheim: —.
Vasomotorisches Nachroten: + -f + . Mechanische Muskelerreg-
barkeit: —.
Motilitat: Arme: Li. o. B. Re.: Tonus herabgesetzt. Alle passiven Bewe-
gungen sind ausfiihrbar. Aktive Beuge- und Streckbewegungen mittleren Grades
sind in Schulter, Ellenbogen- und Handgelenk unter sichtbarer Anstrengung mog-
lich. Die Finger sind eingeschlagen, aktiv nicht beweglich.
Beine: Li. o. B. Re.: Hiift- und Kniegelenk passiv beweglich. Im FuBgelenk
nur geringe passive und aktive Beweglichkeit. Das Bein kann im Hiift- und Knie¬
gelenk aktiv gebeugt und gestreckt werden. Exkursionen im Umkreis von ca.
30° moglich. Rechter FuB steht in KlumpfuBstellung. Leichte Beuge- und Streck-
bewegung aktiv moglich.
Romberg: Nicht zu priifen.
Sensibilitat: Li. normal, re. herabgesetzt.
15. I. 21. Vor einigen Tagen hatte Pat. im AnschluB an eine Kopfwasche
einen Anfall: Keine eigentlichen Zuckungen, sondem unregelmaBig ausfahrende
Bcwegungen mit beiden Armen, besonders rechts. Pat. h6rt nicht auf Anruf, ist
danach sehr matt. Starke Kopfschmerzen.
26. III. Fingerzahlen links nur noch in 10 cm Entfernung.
Mot ilit at: Spasmus rechts? Rechter Arm liegt im Ellenbogen gebeugt, die
Hand dorsal flektiert. Die Finger sind eingeschlagen. Im Schultergclenk geringe
aktive Beweglichkeit. Ellenbogen: Streckung gleich 0, Beugung etwas moglich
(schnellt zuriick), wenn passiv gestreckt. Beugung und Streckung im Handgelenk
besehriinkt, Streckung und Beugung der Finger beschrankt.
Beine: Rechts Spasmen? Das rechte Bein liegt in starker auswarts rotierter
Stellung. der innere FuBrand ist stark gelioben. Sie kann das rechte Bein ca. 25 cm
von der Unterlage abheben und das Kniegelenk beugen. Beugung und Streckung
im FuBgelenk beschrankt. Rotation und Beugung im Hiiftgelenk unmoglich.
Gehen unmoglich.
Romberg: Nicht zu priifen.
Sensibilitat: Gefiihl fiir Beriihrung und Sclimerz im rechten Arm und Bein
stark herabgesetzt. Temperatursinn auf der ganzen rechten KQrperhalfte ge-
stort. Li. o. B. Tiefensensibilitat: im rechten Bein anscheinend aufgehoben.
Sonstiger Befund: Gegen friiher nicht verandert.
15. IV. Pat. wird von Zeit zu Zeit aufgesetzt, versucht auch auBer Bett zu
stehen, kann jedoch das rechte Bein wegen der Kontraktur im FuBgelenk nicht
aufsetzen.
25. VIII. Seit einigen Tagen wieder vermehrtes Spicken in der linken Kopf-
seite. Punktion des Prolapses, es werden ca. 10 ccm einer triiben Fliissigkeit ent-
leert. Danach fiihlt sich Pat. besser.
28. XII. Zustand und Stimmung sehr wechselnd. Pat. hat sich kindlich iiber
die Weihnachtsgeschenke gefreut.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Gber die Indikationen zu hiradruckentlastenden Operationen.
45
16. I. 22. Pat. hat gestem erfahren, daB der Vater gestorben ist. Darauf Auf-
schrei und Zuckungen im rechten Arm und Bein. Sie ftihlt sich heute noch sehr
matt. Der Kopf aei ihr zum platzen. Sie bittet, man solle sie wieder punktieren.
18. I. Punktion des Prolapses: Es werden 20 ccm einer wasserklaren Fliissig-
keit entleert. Pat. fiihlt sich darauf viel wohler.
25. I. Pat. erhalt 3g Kochsalz per os in 20%igerLosung, hat danach denganzen
Tag Schnupfen. Fiihlt sich aber danach etwas freier im Kopf.
31. I. Pat. klagte noch einen Tag nach der Kochsalzmedikation iiber Nasen-
laufen. Sie fiihlt sich recht matt und klagt iiber die alten Beschwerden.
3. II. 3 g Kochsalz in 20% iger LoBung. Kein Effekt.
15. II. Pat. fiihlt sich in letzter Zeit matter, liegt rneist miide mit geschlossenen
Augen zu Bett. Oft auffallende Rotung des Gesichtes.
I. III. Wieder Wohlbefinden.
II. V. Pat. fiihlt sich seit gestem wieder nicht wohl, hat starke Kopfschmerzen,
Ubelkeit und Erbrechen. Der Himprolaps ist starker gespannt als sonst. Bei
einer Punktion an der weichsten Stelle entleert sich unter maBigem Dmck eine
wasserklare Fliissigkeit. Es werden ca. 20 ccm abgelassen.
13. V. Pat. fiihlt sich wieder bedeutend besser.
6. VI. Zustand wechselnd, momentan keine besonderen Klagen. Pat. ist etwas
gedriickt und matt nach dem Besuch ihrer Schwester und ihres Sohnes.
Die hier vorliegenden Symptomo sprachen fiir einen Hirntumor,
desseii Lokalisation schwicrig war. Am ehesten war noch an einen Sitz
iiber der motorischen Region zu denken, und da die bedrohlichen Sym-
ptome zu einer Operation zwangen, wurde eine Trepanation dement-
sprechend iiber der linken Zentralregion vorgenommen. Ein Tumor
wurde hier nicht gefunden. Im AnschluB an die Operation traten
schwere korperliche Erscheinungen (Aphasie, Hemiplegie und mehr-
fache epileptiforme Anfalle) auf, die als Schadigungen der Operation
anzusehen sind (vgl. die entsprechenden theoretischen Ausfiihrungen).
Ob es sich bei dem Krankheitsbilde noch um eine Neubildung in einem
anderen Tcile des Gehirns oder um pseudotumorartige Erscheinungen,
woran bei der langen Dauer des Leidens und der leichten Tendenz zur
Besserung sehr zu denken ist, handelt, kami natiirlich erst die Sektion
entscheiden. Interessant und wichtig ist es jedenfalls, daB die mehrfach
vorgenommenen Punktionen des Prolapses allein imstande waren, den
Zustand der Pat. immer wieder fiir einige Zeit zu bessern.
Fall II.
Poliklinischer Befund vom 16. I. 18. Die 23jahrige Pat. K. sucht wegen
Kopfschmerzen die Klinik auf. Familienanamnese: Eine Schwester starb an
Tbk. Niemand in der Familie habe an Kopfschmerzen gelitten. Pat. will von Kind-
heit auf an Kopfschmerzen gelitten haben, die friiher anfallsweise gekommen seien
und an der Austrittsstelle des rechten Trigeminus (R. supraorbitalis) gesessen
hatten. Seit April 17 andauernd Kopfschmerzen an den Austrittsstellen beider
Rr. supraorb., und zwar so heftiger Natur, daB Pat. nachts nicht habe schlafen
kdnnen. Wahrend des Kopfschmerzes 6fter tlbelkeit und Schwindel. Pat. will
auch umgefallen sein und das BewuBtsein verloren haben. Eine Nasenoperation
brachte keine Besserung.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
46
K. Jakoby:
Digitized by
Pat. macht einen sehwerfalligen Eindruck, spricht mit starkem nasalen Bei-
klang. Starke vasomotorische Erregbarkeit (sie bekommt einen ganz roten Kopf).
Zunehmende Hemmung, fast stuporoser Zustand. Alle Fragen miissen mehrmals
wiederholt werden. Sie beriihrt, dazu aufgefordert, statt mit dem Zeigefinger mit
der ganzen Hand die Nase. Sie soil den Zeigefinger zeigen, statt dessen zeigt sie
abwechselnd verschiedene Finger. Als sie sie benennen soil, kommt sie nur mit
Miihe bis zum Mittelfinger, Ring- und kleinen Finger kann sie nicht benennen.
Rechnen mit Zahlen unter 20 geht langsam und fehlerhaft. Fragen werden schwer
aufgefaBt und mangelhaft beantwortet. Pat. bleibt oft die Antwort schuldig.
Leichter Exophthalmus bds., li. > re. Pupillen gleich und mittelweit. L. R.
und K. R. + , aber nicht sehr lebhaft. Conj. R., Corn. R. -f. Augenbewegung
frei. Rachen- und Gaumenrefl. + . Zunge kommt gerade, ohne Tremor. Haut-
und Sehnenrefl. normal. Keine Ataxie. Starkes Lidflattern. Psychogener Rom¬
berg. Der ganze Supra- und Infraorbitalrand ist sehr druckempfindlich. Die Aus-
tritts8telle des R. supraorb. ist nicht empfindlicher. Ovarie und Mastodynie + .
Kopfschmerzen wurden auf Druck in der Ovarialgegend und Brust starker. Sen-
sibilitat intakt.
Pat. kommt Anfang Marz 1918 zur Aufnahme.
Anamnese: Hereditat angeblich o. B. Pat. selbst hatte Diphtherie. Rachen-
mandel-, Nasen-, Ohrenoperation. Sie habe damals auf beiden Ohren nicht horen
konnen und sei durch die Behandlung gebessert worden. Von klein an habe sie
anfallsweise an Kopfschmerzen gelitten, die alle paar Tage ca. 3 Stunden anhielten.
Dabei zeigt sie auf die Austrittsstellen der Rr. supraorb. Menstruation seit dem
16. Jahre, unregelmaBig, schwach und mit profuser Blutung. Sie sei von klein auf
nervos gewesen, in der Schule schlecht vorwartsgekommen, mehrmals sitzengeblie-
ben, habe aber schlieBlich doch die erste Klasse erreicht. Besonders sc hwergef alien
sei ihr das Rechnen. Im Oktober 17 seien groBe Schmerzen in der linken Seite
aufgetreten, und die Kopfschmerzen seien schlimmer geworden. Nach ca. y 2 Jahre
seien die Brustschmerzen vergangen, wahrend die Kopfschmerzen seitdem kon-
stant geblieben waren. Damals mitunter Temperaturerhohung bis 37,7°. Wegen
der Kopfschmerzen habe sie sich im Januar 18 einer Nasenoperation unterzogen,
ohne daB Besserung eingetreten sei. Als Sitz der Kopfschmerzen bezeichnet sie
besonders den rechten Supraorbitalrand. Wenn sie viel gehen miisse, stellten sich
Schwindelanfalle ein. In letzter Woche sei sie auf der StraBe mehrmals umgefallen.
wobei sie fur ca. \' 2 Stunde das BewuBtsein verloren habe. Dabei habe sie sich
das Knie zerschlagen. Keine Krampfe; kein Einnassen; kein ZungenbiB. In den
letzten Wochen sei ihr dauemd iibel gewesen. Kein Erbrechen. Miidigkeit und
Unsicherheit im Gehen, die sich im Dunkeln steigerten. Keine Unsicherheit in
den Handen. Der Schlaf sei wegen der heftigcn Kopfschmerzen schlecht gewesen.
Die tlbelkeit nahme zu, wenn Schmerzen unterhalb des rechten Rippenbogens
auftraten, was von Zeit zu Zeit geschahe. Das Denken falle ihr in der letzten Zeit
schwerer. Das Gedachtnis habe nachgelassen. Seit Oktober 17 bestehe eine Ab-
nahme des Gehors auf der rechten Seite. Seit derselben Zeit habe auch das Gewicht
abgenommen. Sie sehe seitdem auch in der Feme sehlechter; in der Nahe zwar
besser, aber unscharf. Augenbewegungen nach links fielen ihr schwer. Die Stimme
sei unverandert. Schon von jeher sei sie heiser gewesen, habe friiher schon mit dem
Kehlkopf zu tun gehabt. Sie fiihle, daB ihre Krafte im allgemeinen nachgelassen
hatten.
Pat. gibt im Gegensatz zur poliklin. Untersuchung klare Auskunft; sie macht
einen etwas miiden, aber nicht benommenen Eindruck, spricht eintonig mit heiserer
Stimme, aber ohne besondere Veranderung. 4 + 6=+; 24 — 5 — 19;
9+7=+; 17 + 18 = 35; 12:3 ... denn 3 x 4 ist 12. 4% von 200 . .. Die
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
t)ber die Indikationen zu hirndruckentlastenden Operationen.
47
Merkzahl hat sie nach mehreren Zwischenfragen vergessen. Pat. ist durch das
Rechnen ermiidet.
Fenster: Spiegel, da kann man besser sehen.
Kaiser? + ; Kronprinz? —; Hauptstadt Deutschlanils? -f, an welchem FluC
gelegen? An der Havel.
Mit wem ist Krieg? Russen .. . Frankreich ... — Schlacht? — Letzter Krieg
vor diesem? 30jahriger. Wann? 1907 bis? ... Es macht sich zunehmende Er-
miidung bemerkbar. Pat. macht jetzt einen sehr benommenen Eindruck, klagt
iiber Schwindelgefuhle und Schwanken nach links beim Aufstehen. Beim Vereuch
zu gehen und zu stehen schwankt sie nach rechts und sagt, das seitliche Schwanken
trete abwechselnd bald nach links, bald nach rechts auf. Deutliche Adiadocho-
kinesis rechts.
13. III. 18. Befund von Dr. Stein, Spezialarzt fiir Nasen- und Ohrenkrank-
heiten: „Linkes Ohr: Trommelfell spiegelnd, reizlos, zentrale Narbe um den Ham-
mergriff herum. Horscharfe 11 m fiir Fliistersprache, hohe Tone (c 4 , c 5 ) werden
schon bei leisestem Anhauch vollkommen normal gehort. Knochenleitung mit c 1
gepriift nicht verkiirzt.
Rechtes Ohr: groBe, fast das ganze Trommelfell einnehmende Narbe. Eben-
falls keine Anzeichen einer Entziindung. Horscharfe y 2 m fiir Fliistersprache.
Hohe Tone deutlich herabgesetzt (c 4 , c 5 ) werden erst bei Fingemagelanschlag ge-
h6rt. Knochenleitung (c 1 ) deutlich verkiirzt, aber nicht aufgehoben. Weberecher
Versuch deutlich und konstant nach der gesunden linken Seite.
Rechte Stimhohle (wegen der in der rechten Stimhohlengegend geklagten
Schmerzen bereits Dezember 1917 untereucht und behandelt): Vor dem Eingang
zur Stimhohle wurden am 3. I. 18 einige Siebbeinzellen entfernt. Daselbst etwas
polypdse Granulationen. Ausblasen und Ausspiilen der Stimhohle ergibt, daB in
ihr nur ein geringfiigiger Katarrh besteht, der in keinem Fall die von ihr geklagten
Stimkopfschmerzen verursachen kann.“
16. III. Zunehmende Ataxie und Abnahme der Sehkraft. Pat. ist apathisch,
klagt iiber standige Kopfschmerzen und viel Schwindel. Eine sichere Lokalisation
des Tumors ist unmoglich, doch diirfte das Cerebellum als der Sitz anzusehen sein.
Trigeminus- und Acusticnsstorungen lassen an Kleinhimbriickenwinkel denken.
Eretere sind jedoch inkonstant, letztere auf ein altes Ohrleiden zuriickzufiihren.
Haufiges Erbrechen.
18. III. Fast samtliche Speisen werden erbrochen. Mo.-Tropfen, Umschlage
bewirken wenig Bessemng. Pat. sieht schlectiter; Doppelbilder. Ist sehr apathisch.
Objektiv sonst unverandert.
20. III. Erbrechen geringer, abends 39,6° T. Leibschmerzen, besondere in der
linken Seite. Abdomen aufgetrieben. In der linken Oberbauchgegend 3 Finger breit
unterhalb des Rippenbogens ist deutliche Resistenz und Dmckempfindlichkeit
nachweisbar. Hin und wieder Dmckpuls. Pat. ist unruhig, nach Mo.-Spritze etwas
Schlaf.
Status somaticus. Nervensystem: Augen: leichter Exophthalmus,
li. i> re. Pupillen: re. > li., rechts entrundet.
L. R. sehr gering, re. deutlicher als li. C. R. + beim Blick nach li. auBen wird
die Endstellung nicht vollkommen erreicht. Blick nach oben und unten frei. Bei-
derecits Stauungspapillc. Atrophic des N. opticus. Conj. R.: + , links etwas schwa-
cher. Com. R.: +. Lidspalten: li. > re., geringe Differenz.
Facialis: o. B.
Trigeminus: Austrittsstelle des R. supraorb. dmckempfindlich, re. li. Druck
auf dem ganzen Gesichtsschadcl schmerzhaft empfunden.
Zunge kommt gerade, ohne Tremor. Rachenreflex: +.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
48
K. Jakobj r :
Digitized by
Sprache: heiser, etwas schwerfallig, ohne eigentliche Sprachstorung.
Reflexe: O. E. 0. E.: +, li. vielleicht etwas > re. Kn. Ph.: gesteigert,
li. > re. Ach. Ph.: li. +, re. —. Plantarr.: +. Babinski: —. Abdom. R.: +,
sehr lebhaft. Patellarklonus: —. FuBklonus: —. Oppenheim: —.
Vasomotorisches Nachrdten: + ; Mechanische Muskelerregbar-
keit nicht gesteigert.
Motilitat: Arme: Li.: vorbeizeigen? (von oben her nach rechts, von unten
her nach links). Beim Zeigefinger-Nasenversucli Unsicherheit; li. > re.
Beine o. B. Gang: beim Gehen mit geschlossenen Augen Abweichen nach
rechts. Romberg: +, Neigung, nach rechts zu fallen.
Sensibilitat: Beriihrung und Schmerz intakt. Zeitweise Hyperalgesie der
rechten Wangenmuskulatur.
Druckempfindlichkeit der Muskeln und Nerven: Druck unterhalb
des rechten Rippenbogens und der ganzen linken Abdominalseite wird schmerz-
haft empfunden.
Hysterische Stigmata: Ovarie: re. +. Mastodynie: li. +.
21. III. Fieber fallt in den Vormittagsstunden etwas ab, sonst Zustand un-
verandert. Pat. fiihlt sich etwas freier und nimmt raehr Anted an der Umgebung
und den Krankheitserscheinungen. Zur Vomahme eines Suboccipitalstiches wird
Pat. nach der chirurgischen Klinik verlegt.
3. IV. 18. Zuriickiiberweisung von der chirurgischen Klinik: Indikation zur
druckentlastenden Operation nicht gegeben, da der Druck der Cerebrospinal-
fltissigkeit im Sitzen 240 mm, im Liegen 140 mm betrug. Ventrikelpunktion des
Gehims ergab bds. 100 mm. Eine Trepanation kommt bei dem so ungenau lokali-
sierten Tumor nicht in Frage.
Pat. klagt viel iiber Kopfschmerzen und ist sehr matt.
2. V. Fehlen des Com. R. li. —; in der Umgebung des linken Os cygomat.
groBe Hypalgesie. Reflexe bds. + und gleich. Seit einigen Monaten besteht
Amenorrhoe; weiter besteht die Neigung, nach rechts zu fallen.
15. VI. Pat. wird auf eigenen Wunsch hin und wieder lumbalpunktiert (ca.
20—30 ccm, wodurch Nacldassen der Kopfschmerzen bewirkt wird und Pat. sich
erleichtert fiihlt). Im allgemeinen ist Pat. apathisch und weinerlich.
13. VII. Menstruation tritt wieder auf.
3. VIII. Starkerer Schwindel. Aufstehen unmoglich. Sonst Zustand unver-
andert.
20. VIII. Pat. liegt jetzt immer zu Bett, da sie sehr schlecht gehen kann.
Sie laBt unter sich, woriiber sie sehr erregt ist.
15. X. Pat. ist apathisch, spricht langsam urid undeutlich, kommt der Auf-
forderung, mit den Augen dem bewegten Finger zu folgen, nicht nach, versteht
jedoch alles. Abnahme der Sehkraft. Incontinentia vesicae. Klagen iiber Schmerzen
in der Brust, Durchfall. Pat. kann allein nicht gehen und stehen. Sie macht einen
hypochondrischen Eindruck, wird aber lebhafter, wenn sie ihre Schmerzen schil-
dert. Ihr Rechnen ist fehlerhaft: 7 + 8 = 12; 9 — 6 =3; 3 x 8... — Datum? —
Wie lange in der Klinik? — Wie lange Krieg? 3Jahre. Wie alt? 23Jahre.
29. XI. 18. Pat. laBt unter sich und weint dariiber. Klagen iiber Schmerzen
in der ganzen Unterbauchgegend, die oft zu krampfartiger H6he gesteigert sind.
Rechtsseitiges Stechen und Schmerzen im Kopf. Sprache auffallend verwaschen,
leise, so daB sie oft nicht zu verstehen ist. Pat. muB beim Gehen sehr untefstiitzt
werden, fallt dabei nach rechts. Sie wird weiter auf ihren Wunsch hin alle 3—4
Wochen lumbalpunktiert. Bei der Untersuchung ist Pat. recht schwerfallig, folgt
den Aufforderungen nur nach Zureden und macht sehr langsame Bewegungen.
Status somaticus: Allgemeines: GroBe: unter mittel. Knochenbau, Mus-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
t)ber die Indikationen zu hirndruckentlastenden Operationen.
49
kulatur, Fettpolster o. B. Haut und Schleimhaute gut durchblutet. Innere Organe
o. B. bis auf starke Druckempfindlichkeit in der ganzen Unterbauchgegend nnd
geringe Druckempfindlicbkeit in der Magengegend.
Nervensystem: Augen: L. R. + , C. R. nicht zu priifen. Re. Pupille > li.,
bds. etwas entrundet. Der Blick ist standig nach rechts oben gerichtet. Nystag¬
mus angedeutet? Einstellung nach links und unten nicht zu erzielen, nach oben
und unten frei.
Facialis und Trigeminus unverandert. Rachenreflex herabgesetzt. Geruch an-
geblich schlecht; Geschmack angeblich gut; Gehor wechselnd; Sprache lieiser, ver-
waschen.
Motilitat: Adiadochokinesis bds.
Im Ubrigen Befund unverandert.
16. XII. Seit 3 Tagen klagt Pat. iiber stechende Schmerzen in beiden Ohren,
besonders rechts.
22. XII. Augenbefund (spez. Untersuchung): abgelaufene neuritische Atro-
phie, rechts werden Handbewegungen wahrgenommen.
27. XII. Ohrenbefund (spez. Untersuchung): rechts narbig verandertes
Trommelfell mit Verkalkung; links atrophisches Trommelfell. Es besteht eine
Mittelohrschwerhorigkeit rechts, die durch die Trommelfellveranderung erklart
wird. Die Lateralisation wird dauemd nach rechts angegeben. Eine genauere
Gehdrprufung ist bei dem Zustande der Pat. unmoglich, doch wird die Schwerhorig-
keit durch die Trommelfellbeschaffenheit geniigend erklart. Eine Erkrankung des
Innenohrs liegt nicht vor. Vestibularapparat bds. erregbar.
20. I. 19. Zeitweise verweigert Pat. die Nahrungsaufnahme und muB ge-
fiittert werden.
16. II. Stimmung und Zustand sind sehr wechselnd.
27. V. Zustand wesentlich besser. Pat. steht auf, geht ohne Stiitze leidlich
sicher, halt sich gelegentlich nur an der Wand oder an Gegenstanden fest. Stimmung
besser.
26. VI. Pat. liegt wieder dauernd zu Bett, laOt Urin unter sich und ist sehr
miBmutig. Die Sprache ist heiser und undeutlich.
5. VII. Augenbefund: Stauungspapille bds. minimale Prominenz.
16. VII. Wieder Klagen iiber Leibschmerzen; vaginale Untersuchung o. B.
6. VIII. Pat. schreibt und spricht ab und zu davon, sich das Leben nehmen zu
wollen.
25. VIII. Augenbefund: bds. leicht neuritische Atrophic. Schlangelung der
UefaBe; keine Prominenz; unscharfe Papillen.
30. VIII. Das Gehen fallt ihr sehr schwer, sie fallt nach rechts. Appetit und
Schlaf gut.
30. X. Zustand und Stimmung sehr wechselnd. Augenbefund: Fingerzahlen
vie friiher in y 2 — 3 / 4 m Entfernung. Keine Gesichtsfeldeinengung.
8. XI. Pat. ist wieder im ganzen teilnahms- und affektlos. Sie ist nur selten
weinerlich und meist leicht zu beruhigcn. Oft bleibt sie mehrere Tage hinterein-
ander im Bett.
28. XI. Zustand im groBen ganzen unverandert.
18. XII. Status somaticus: Leichter Strabismus divergens links. Blick ist
meist nach rechts gerichtet. Pat. ist schwer zum Fixieren zu bringen, Augenbe-
wegungen frei, kein Nystagmus Re. Pupille > li., bds. entrundet. L. R. re. + li.,
sehr unausgiebig. K. R. +, Conj. R. stark herabgesetzt, li. < re.. Corn. R. +.
Druckempfindlichkeit der beiden oberen Aste des Trigeminus re.> li. Facialis:
Der rechte Mundwinkel hangt infolge Gesichtsasymmetrie etwas herab. Innervation
bds. gleich. Die Mundpartie ist auffallend schwach innerviert, die Zunge koramt
Archiv tur Psychiatric. Bd. 07. 4
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Digitized by
50 K. Jakoby:
gerade, keiii Zittem, freie Beweglichkeit. Gaumen-Rachenreflex herabgesetzt.
Sprache nasal, tonlos.
Romberg: Lidflattem, Schwanken, beides wird bei Ablenkung geringer. Gang:
Langsam, steif, schwankend, aber kein Fallen. Spas men in beiden Beinen.
Hypasthesie am ganzen Korper. Nadelstiche werden in der rechten Gesichts-
seite und Rumpfseite starker empfunden. Ovarie: re. + +. Mastodynie: re. -f +.
Im iibrigen Befund gegen friiher nicht verandert. Blutdr. R. R. 135. Pat. wird
auf eigenen Wunsch lumbalpunktiert. Keine Druckerhohung.
28. XII. Pat. ist lebhafter, unterhalt sich mit anderen Kranken. Starke Be-
tonung des Kindlichen. Sie spielt mit einer Puppe und weint heftig, als dieser ein
Bein ausgerissen wird.
8. I. 20. Pat. ist kindlich affektiert. Die Puppe gefallt ihr nicht mehr. Sie
wartet offensichtlich darauf, ein Scherzwort zu horen, um beleidigt zu tun.
14. I. Pat. laBt nachts wieder einige Male unter sich.
10. IV. Pat. fiihlt sich w'ohler, will es aber nicht zugeben, sie ist bei der Visite
immer klagselig, dagegen oft recht vergniigt, wenn sie sich unbeobachtet glaubt.
30. VII. Pat. ist jetzt standig auBer Bett, geht bedeutend sicherer und besorgt
kleine Gange auf den Stationen.
24. X. Psychisches Verhalten ist sehr wechselnd. Pat. ist sehr empfindlich
und leicht gekrankt; im groBen ganzen aber vergniigter und zuganglicher als
friiher.
Augenhintergrund: Bds. neuritische Atrophie, starke Schlangelung der Ge-
faBe, keine Einseheidung der GefaBe; keine Prominenz, sonst Zustand unverandcrt.
31. III. 21. Pat. klagt, daB sie immer ein bedriicktes Gefiihl im Kopfe ha be,
dazu Schmerzen in der linken Stirnseite und auf dem Scheitel sowie Schmerzen in
der linken Seite verspiire, die sich immer noch nicht gebessert hatten. In alien Be-
wegungen, im Sprechen und in der Auffassung ist sie sehr langsam und schwer-
fallig. Das Gesicht ist ohne Mienenspiel.
Objekt. Befund: Motilitat: Arme keine Spasmen, keine Ataxie. Deut-
liche Adiadochokinesis bds. Bewegungen sehr verlangsaint, rohe Kraft bds. stark
herabgesetzt. Vorbeizeigen nicht deutlich.
Beine: deutliche Spasmen bds., li. vielleicht >■ re. Rohe Kraft stark herab¬
gesetzt. Keine deutliche Ataxie. Gang langsam, breitbeinig, etwas unsicher.
Gesichtsmuskulatur: starr, wenig Mienenspiel.
Romberg: leichtes Schwanken.
Sensibilitiit: Empfindung fiir Beriihrung an der rechten Stirnseite angeb-
lich herabgesetzt, desgleichen am ganzen Korper, besonders in den Beinen. Schmerz-
empfindung fiir spitz und stumpf nicht sicher unterschieden.
21. V. Zustand im ganzen unverandcrt. Pat. ist sehr still, steht viel auf,
fiihlt sich leidlich wohl. Zeitweise Klagcn iiber Kopfschmerzen.
8. VIII. Pat. ist wieder sehr deprimiert, weint oft, ist sehr rniide und bleibt
mitunter tagelang im Bett. Emeut Klagen iiber Kopfschmerzen und Mattigkeit.
17. VIII. Zustand besser. Pat. wird nacli Hause beurlaubt.
15. IX. Pat. kommt ziemlieh unbefriedigt voin Urlaub zuriick. Der Vater
sei krank gewesen, sie sei gar nicht zur Ruhe gekommen und freue sich, w'ieder
hier zu sein.
30. IX. Pat. bewegt und beschaftigt sich mehr wie friiher, ist fast den ganzen
Tag iiber auf, sitzt bald im Saal, bald im Tagesraum und unterhalt sich mit den
Xachbarpatientinnen.
15. X. Pat. klagt in den letzten Tagen iiber ReiBen in den Beinen.
15. XI. Gelegcntlich immer wieder die alten Klagen. Sie fiihlt sich oft nicht
geniigend beachtet, ist sehr empfindlich und leicht gekrankt.
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
tjbcr die Indikationen zu hirndruckentlastenden Operationen.
51
1. I. 22. Kindliche Freude iiber die Weihnachtsgeschenke; sie ist von ihren
Klagen abgelenkt und fiihlt sich jetzt recht wohl.
5. I. Pat. hat Grippe bekoramen, allgemeine Abgeschlagenheit, Kopf- und
Gliederechmerzen, Temperatur bis 39,8°. Bronchitis. Isolierung.
16. I. Seit einem Tage ist Pat. fieberfrei, wird zuriickverlegt.
20. I. Pat. fiihlt sich noch sehr matt, liegt den ganzen Tag zu Bett.
1. V. Pat. hat sich allmahlich wieder ganz erholt, steht auf, geht auf den Bal-
kon, unterhalt sich mit den anderen Patientinnen und auBert auBer iiber gelegent-
liche Kopfschmerzen keine Klagen.
19. V. Starke Zahnschmerzen.
30. V. Die Behandlung in der Zahnklinik hat sie sehr angegriffen. Erneute
Klagen iiber starke Kopfschmerzen.
Auch in diesem Falle handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach
um eine Neubildung im Gehim. Doch sind die Symptome trotz relativer
Dauer der Erkrankung so diffus und wenig ausgepragt, dazu noch
durch psychogene Ziige z. T. iiberlagert, daB irgendeine Lokalisaticn
der evtl. bestehenden Neubildung unmoglich war. Es wurde daher von
einer Trepanation abgesehen. Als dann auch hier wegen bedrohlicher
Allgemeinsymptome eine Druckentlastung notwendig schien, nahra man
zunachst eine Ventrikelpunktion vor. Dieselbe ergab keine wesentliche
Druckerhohung, und es wurde deshalb von weiteren operativen Ein-
griffen abgesehen. Die eine Zeitlang hindurch in regelmaBigen Abstan-
den vorgenommenen Lumbalpunktionen haben wohl nur einen psychi-
schen EinfluB auf die Pat. auszuiiben vermocht, ohne daB sie auf die
objektiven Symptome einzuwirken vermocht hatten. Auch diese Pat.
lebt seit Jahren mit einer leichten Besserungstendenz fort. Neue Sym¬
ptome, die zu einer Prazisierung oder Anderung der Diagnose gefiihrt
hatten, sind bisher nicht aufgetreten. Auch hier karne deswegen wie
im 1. Falle die Frage einer differentialdiagnostischen Abgrenzunggegen-
iiber Pseudotumoren in Betracht, doch kann auch hier erst dieSektion
Klarheit geben.
Fall III.
Am 23. II. 21 kommt Fraulein W. in Begleitung der Mutter in die Klinik.
Familienanamnese: Keine Nerven- oder Geisteskrankheiten, Vater starb vor 2 Jah¬
ren an einem Blasen- und Herzleiden, war in den letzten Jahren etwas nervos.
Mutter und eine Schwester sind gesund, ein Bruder fiel im Felde. Pat. selbst habe
als Kind Masem und mit 11 Jahren einen Anfall von Gehirnentziindung ohne
Krampfe gehabt. Sie erinnere sich aber kaum noch daran. Niemals Bettnassen.
Sie habe in Konigsberg eine Biirgerschule besucht, schwer, aber gut gelernt und sei
sehr gewissenhaft gewesen. Spater habe sie Buchfiihrung gelernt, aber das Sitzen
nicht vertragen. Auch sei es ihr fur ihren Kopf zu anstrengend gewesen. Sie sei
dann zuerst Verkauferin, spater Lageristin und Einkauferin bei einem hiesigen
groBen Kaufhaus gewesen. Schon seit ihrem 18. Jahre habe sie mit ihren Nerven
zu tun gehabt. Es habe sich zuerst auf den Magen gelegt, so daB sie zeitweise gar
nichts habe essen konnen und viel Schmerzen gehabt habe. l -> Jahr z. B. habe sie
nur Suppen gegessen; l / 2 Jahr habe sie dann ganz ausspannen und aufs Land gehen
miissen, wo sie sich gut crjiolt habe. Etwa 2 Jahre spater im Alter von 22 Jahren
4*
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
K. Jakobv:
Digitized by
babe es sich auf die Brust gelegt. Sie habe auch stechende Schmerzen und Neur-
algien gehabt, so dab sie oft vor Schnierzen nicht habe schlafen konnen. Durch
Hitze hiitten sich die Schmerzen wieder gelindert. Schon seit Jahren habe sic
iiber Kopfschmerzen an verschiodenen Stellen geklagt, die oft langere Zeit anhiel-
ten. Im Frtihjahr 1920 habe sie sich bei der Rothensteiner Explosion sehr erschreckt.
tla 14 Fensterscheiben um sie herum geplatzt waren. 8 Tage spater habe sie sich
wieder erschreckt, als Glas von der Decke gefallen sei, durch die ein Maurer durch-
getreten ware. Damals sei sie auf die Knie und Ellbogen zur Erde gestiirzt. 2—3
Wochen darauf habe sie eines Morgens Kribbeln und Kaltegefiihl im rechten Arm
bekominen, der eingeschafen ware und sich wie steif angefiihlt habe. Nach ca.
15—20 Minuten habe sich das wieder gelegt. Ungefahr 2 Stunden danach ITbel-
keit und Erbrechen. Nach kurzer Bettrulie sei dann der Zustand wieder besser
geworden. Ob sie damals auch Kopfschmerzen gehabt habe, weib sie nicht mehr.
Diese „Anfalle im Arm“ wiederholten sich ohne Erbrechen ca. alle 3 Wochen.
Zur gleichen Zeit habe sie wieder ihre alten Schmerzen in der Brust mit leichtem
Angstgefiihl gehabt. Damals (Juli 1920) sei sie in spezialarztliche Behandlung ge-
gangen. Allmahlich habe sich ihr Zustand gebessert, auch die Beschwerden im
Arm seien ausgeblieben. November 20 Grippe; 3 Wochen danach starker Kopf-
krampf, so dab sie den Kopf nicht habe bewegen konnen. Die Schmerzen hatten
hinten und oben gesessen, stundenlang angehalten und seien zuerst nur alle paar
Wochen, spater alle 3—4 Tage wiedergekommen. Manchmal, aber nicht immer
Erbrechen. In der letzten Zeit habe sich ihr Zustand infolgo vollkommener Ruhe
gebessert. Seit ca. 3 Wochen aber habe sie anfallsweise Gefiihl von Steifigkeit
im Gesicht, das iiber der Nase beginne, sich dann nach den Schlafen hinziehe und
lids, zum Halso herunter erstrecke. Gelegentlich habe sie auch Stechen in der
Kehlkopfgegend, Gefiihl der Steifigkeit im Nasenriicken mit Kribbeln in der
Nasenspitzc. Oft habe sie auch Zahnereiben und Klappen in den Ohren, als ob
ein Fliigel darin ware. Seit Juli etwa bestiinden auch noth Schmerzen im rechten
Bein, die sich von der Htifte nach unten zogen und in letzter Zeit so stark ge¬
worden waren, dab sie oft im Bett nicht ordentlich habe sitzen konnen. Seit
einigen Monaten (ca. Oktober) schleife das Bein beim Geheu etwas nach. Pat.
fiihle sich in den Gelenken, besonders in den rechten, etwas schwach, kippe oft
in den Fubgelenken um, habe baufig beim Treppensteigen Zittern in den Fiiben
und Knien. Ein eigentlicher Schwindel bestehe nicht. Nur als sie im Januar
einige Tage gelegen habe, sei ihr nach dem Aufstehen schwindlig geworden; das
habe sich jedoch bald wieder gelegt.
Jetzt wird Pat. von dem behandelndcn Arzt mit folgendem Schreiben vom
22. II. 21 der psychiatrischen Universitatsklinik uberwiesen: „Frl. W. wird wegen
Tumor Cerebri der Nervcnklinik uberwiesen. Beginn des Lindens Sommer 20 mit
Nystagmus und Ataxie im rechten Arm bei normalem Augenhintergrund. Jetzt
bds. Stauungspapille, Erbrechen. Schwindel, Spasmen im rechten Bein, Babinski
und Fubklonus rechts.“
1. III. 21. Augenuntersuchung (spez. Untersuchung): Sehvermogen 1 / s .
Korrektion mit +1,5 ermoglicht Druckschrift re. in 12 cm, li. 10 cm Entfernung
zu lesen. Gesichtsfeld bds. o. B. Pupillen gleichweit, reagieren prompt auf Licht,
bei Blick seit warts Augenzittem. Muskelgleichgewicht. Bds. Papille odematos.
wahrscheinlich beginnende Stauungspapille.
5. III. Ohrenuntersuchung (spez. Untersuchung): von seiten der Ohren
nichts Pathologisches. Rontgendurchleuchtung o. B.
7. III. Augenuntersuchung: Papillen verwaschen, zirkumpapillares Odem;
zahlreiche feine Hamorrhagien. Venen stark gefiillt. Bds. Stauungspapille, re. 2 D.,
li. 3 D.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
tjber die Indikationen zu hirndruckentlastenden Operationen.
53
5. re. 3 /e .. • durch Glaser nickt gebessert; li. 5 / 16 . . . durch vorgehaltenesGlas
(+ 3 Is) bis fi /9 gebessert.
18. III. Augenuntersuchung (spez. Untersuchung): Stauungspapille re. 4
D., li. 3—4 D. Bds. kleine Hamorrhagien. Nachuntersuchung in 8 Tagen erwiinscht.
Entlastende Operation zurzeit noch nicht notwendig. Visus wie am 7. IV.
19. III. In den letzten Tagen klagt Pat. wieder iiber Schmerzen in der linken
Hinterkopfseite, die nach dem linken Ohre hinstrahlen. Beim Aufrichten zieht.
sich der Schmerz bis nach vorn zur Stirn und hinunter bis zur Xasenspitze. Dann
kdnne sie auch oft nicht die Ziihne auseinander bringen. Unlangst sei ihr fiir etwa
10 Minuten der rechte Arm eingeschlafen. In der letzten Zeit sei das rochte Bein
bedeutend schwacher geworden. Sie koime schlechter gehen und habe oft reiBende
Schmerzen. Einmal habe sie das Gefiihl des Eingeschlafenseins von den Zehen
aufwarts bis zu den Knien gehabt. Oft tritt, ohne daB sich die Pat. erschreckt
oder eine sonstige Veranlassung zu erkennen ist, ein Zucken iin ganzen Korper
auf. Sie klagt auch iiber Schmerzen in beiden Augapfeln, besonders bei Bewe-
gungen. Neigung zum Weinen.
Objektiver Befund: Conj. R.: li.—, re. +; Com. R.: li.—, re. +; Ny¬
stagmus beim Blick nach re. ?
Trigeminus: Angeblich Druckempfindlichkeit der unteren Aste. Facialis o. B.
Zunge o. B. Gaumenrefl.: +. Rachenrefl.: +.
Reflexe: O. E. O. E.: + +; Kn. Ph.:+ + +; Ach. Ph.: + + +, re. li.
Babinski: re. + , li. —; Opjjenheim: —: FuBklonus: li. —, re. + ; Patellklonus: —;
Abdom. R.: + , re. - li.
Motilitat: Anne: Keine deutlichen Spasmen. Rechts Ataxic angedeutet. Rohe
Kraft stark herabgesetzt. Adiadochokincsis rechts angedeutet. Kein Vorbeizeigcn.
Beine: Deutliche Spasmen rechts (deutlicher als friiher). Rohe Kraft rechts
stark herabgesetzt. Rechtes Hiiftgelenk ist beschrankt beweglich. Her FuB steht
in leichter SpitzfuBstellung. Ataxie rechts? Adiadochokincsis rechts.
Romberg: leichtes Schwanken. Gang: rechtes Bein schliirft am Boden.
Sensibilitat: Gegen Befund vom 23. II. unverandert.
21. III. Das Befindcn ist sehr wechselnd. An manchen Tagen schlccht,
Klagen iiber Kopfschmerzen, besonders morgens. Pat. liegt dann oft den ganzen
Tag apathisch und teilnahmslos zu Bett, klagt iiber Gefiihl von Kalte und Steifig-
keit in der ganzen Oberlippe. li. re., und der linken Gesichtsseite. Sie kann auch
die Zahne nicht ganz ordentlich ausemanderbringen und nicht gut kauen, dabei hat
sie Schmerzen in beiden Kiefergelenken, die sich bis zu den Ohren hinziehen, die
jetzt auch dauernd weh tun. Im linken Ohr sind die Schmerzen etwas starker und
haufiger. Kaltcgeftihl im Zahnfleisch des ganzen Oberkiefers.
30. III. Augenuntersuchung ispez. Untersuchung): Befund wie friiher,
re. 3D., li. 4 D. Prominenz. Sehvermbgen unverandert. Operation noch nicht
notwendig. Voretellung in 10 Tagen erwiinscht.
6. IV. Die Schmerzen hinter dem linken Ohr haben eineZeitlang nachgelassen.
Heute sind sie wieder ganz bedeutend. Arme und Beine ziemlich unverftndert.
Objektiver Befund: Klopfcmpfindiichkeit des ganzen Schadels, links viel-
leicht etwas starker. Augen: Pupillen o. B.; Conj. R.: +, bds. schwach. li. ie.;
Com. R.: +, herabgesetzt. li. re.
Trigeminus: Angeblich Druckempfindlichkeit beider unterer Aste, li. ■ re.
Facialis o. B. Gaumenrefl.: Rachenrefl.: -f; Geschmack: rechte Zungcn-
seite o. B., links unsicher, fast null. Sprache o. B.
Reflexe: O. E. O. E.: re.?, li. +; Kn. Ph. + +; Ach. Ph. + +. re. li.;
Plantarrefl.: + ; Babinski: re.?, li.?: Abdom. R.: +, li. deutlich re.: FuBklonus:
re. -f, li. —; Patellarklonus: —.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
54
K. Jakoby:
Digitized by
Motilitat: Arme: keine Spasmen, keine Ataxie, rohe Kraft rechts gut.
Adiadochokinesis rechts vielleicht angcdeutet; Vorbeizeigen mit der rechten Hand
nach links unten.
Beine: Spasmen im rechten Bein eben angedeutet. Keine deutliche Ataxie.
Rohe Kraft deutlich und stark herabgesetzt. Beweglichkeit des rechten FuBgelenks
beschrankt, die der rechten Zehen sehr verlangsamt. Gang: rechts deutliches
Hinken. Romberg: leichtes Schwanken.
Sensibilitat: Gefiihl ftir Beriihrung, Temperatur und Tiefensensibilitat o. B.
Sehmerz: deutliche Hypersensibilitat auf der linken Stirnseite. Fragliche Hyper¬
sensibilitat auf der linken Kinnseite.
16. IV. Pat. gibt an, sie habe Beit einigen Tagen das Gefiihl, als ob ihr im linken
Ohr etwas vorlage; auch habe sie wieder Klingen darin und waren die Schmerzen
hinter dem Ohr wieder groBer geworden. Befund ist sehr wechselnd. Oft ist Pat.
vollkommen apathisch, erbricht, klagt liber starke Kopfschmerzen, so daB sie sich
kaum riihren k6nne. Dann wieder Besserung.
11. V. Augenuntersuchung (spez. Untersuchung): Stauungspapille bds. ca.
3 D. Prominenz. S. re. korrigiert mit + 2,0 = «/«, li- korrigiert mit + 2,5 = 8 / 6 .
Geringe Abducensparese li. (maximale Doppelbilderdistanz: primarer Winkel = 30°.
sekundarer Winkel = 5°).
25. V. Blut: Wa. R. —.
28. V. Augenuntersuchung: Stauungspapille unverandert. Doppelsehen
gebessert.
8. VI. Augenuntersuchung (spez. Untersuchung): Stauungspapille bds.
Prominenz 3 D., blinder Fleck nicht vergroBert. S. re. mit -f 2,0 korrigiert = 5 / 6 ,
li. korrigiert mit + 2,5 = 5 / s . Der Schleier vor den Augen ist durch die bisher
unkorrigierte Hyperopie bedingt.
10. VI. Pat. klagt iiber Schmerzen oberhalb beider Augen, besonders li nks ,
die iiber die Stirn nach der Schlafe ziehen, und Ohrensausen links, selten rechts.
Der Gaumen, besonders links, ist „diek“, hat sich aber in letzter Zeit etwas ge¬
bessert. Pat. sagt, es kame ihr so vor, als waren Blasen auf der Zunge. Schlucken
macht wenig Beschwerden. Ubelkeit selten, nur bei Kopfschmerzen. Seit 6—8
Wochen kein Erbrechen mehr; im rechten Arm Schmerzen und Schwache; sie
klagt iiber unsicheres Tastvermogen; Schreiben geht jetzt wegen der Schmerzen
und Unsicherheit gar nicht mehr. Schmerzen in den Beinen beim Gehen, besonders
rechts. Schmerzen besonders iiber den Knien, die sich bis zur Hiifte hinziehen.
Das Gehen fallt ihr jetzt schwerer.
11. VI. Objektiver Befund: Pupillen o. B.; Conj. R.: +; Corn. R.: +,
gering. Gaumen-und Rachenrefl.: + ; Kn. Ph.: +; Plantarrefl.: + ;Ach. Ph.: + ;
Babinski: re. ?, li. +; Abdom. R.: li. + +, re. +; FuBklonus: re. +, li. ? Gang:
unsicher; Romberg: auf der rechten Seite Stoning der Tiefensensibilitat.
Pat. klagt iiber das Gefiihl, als ware das linke Augenlid dick und schwer. Pat.
wird fur 4—6 Wochen nach Hause entlassen.
29. VI. Pat. komint wieder zur Aufnahme und gibt an, schon in der letzten
Zeit ilires damaligen Aufenthalts in der Klinik seien ihre Beschwerden starker ge¬
worden. Die Kopfschmerzen in der Stirn seien starker, dazu kamen zunehmendes
Miidigkeitsgefiihl, Schmerzen im rechten FuB und Bein. Bald nach der Entlassung
hatte sich wieder zunehmende Schwache im rechten Arm eingestellt, so daB sie
mit den Fingem der rechten Hand nichts habe ordentlich fiihlen konnen. Sie habe
jeden zweitcn Tag gleieh morgens beim Aufwachen Erbrechen gehabt, das sich bis
achtmal am Tage wiederholt habe. Auch die Unsicherheit im Gehen habe zuge-
nommen. Schwindelgefiihl, wenn sie sich morgens im Bett aufrichtete. Das Seh-
vermogen sei in den letzten 8 Tagen schlechter geworden. Sie habe das Gefiihl,
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
t)ber die Indikationen zu hirndruckentlastenden Operationen.
55
als ob die Augen steif waren. Ebenso seien die Schmerzen in der linken Gesichts-
seite wieder aufgetreten.
Objektiver Befund: Pupillen o. B.; kein Nystagmus; Conj. R.: + und
Corn. R.: + , li. < re.; Convergensschwache links. Facialis: o. B.; Trigeminus:
Austrittspunkt druckschmerzhaft, li. > re. Die Uvula zeigt nach links. Rachen-
refl.: -f; Gaumenrefl.: +. Die Zunge kommt gerade, ist gut beweglich. Auf der
linken Zungenhalfte und der Spitze sind kleine Erosionen und Blaschen. Beweg-
lichkeit der Arme frei. Grobe Kraft rechts wesentlich schwacher als links. Spas-
men im rechten Arm. Sehnenreflexe lebhaft, re. > li. Ataxie nicht deutlich. Vor-
beizeigen mit der rechten Hand.
Beine: Spasmen im rechten Bein. Kraft im rechten Bein erheblich schwacher
als im linken. Der rechte FuB steht in SpitzfuBstellung. Er ist aktiv nicht be¬
weglich. Passive Beweglichkeit frei. Auch links entspricht die grobe Kraft nicht
der Muskelentwicklung. Sehnenreflexe bds. lebhaft. Kein Klonus. Babinski: re. +.
Romberg: +. Gang: unsicher, re. spastisch-paretisch. Abdom. R.: mit Sicherheit
nicht auslCsbar. Linke Stimgegend klopfempfindlich. Ischiadicusdruckpunkte
rechts empfindlich.
4. VII. Hirnpunktion: Am oberen und unteren«Stirnpunkt, Kleinhirnpunkt
der linken Seite.
6. VII. Pat. klagt iiber Zunahme der Kopfschmerzen, der Schwache im rechten
Arm und Bein; morgens mehrfach Erbrechen. Pat. iBt sehr wenig; nimmt nur
fliissige Nahrung auf. Klagen iiber taubes Gefiihl im Halse, sie konne schlecht
schlucken.
7. VII. Pat. hat starke Kopfschmerzen, ist benommen, erbricht. Bds. Babinski:
+ , starke Spasmen im rechten Arm und Bein; starkes Schwindelgefiihl beim Auf-
setzen; Appetitlosigkeit.
10. VII. Zustand unverandert bis auf geringe Temperaturerhohung. Die
Untersuchung der durch die Punktion gewonnenen Himsubstanz ergibt normale
Himsubstanz.
20. VII. Zustand sehr wechselnd. In Intervallen von mehreren Tagen treten
anfallsweise verstarkte Hirndruckerscheinungen auf. Pat. ist dann tief benommen,
erbricht, laBt unter sich. Die Pulsfrequenz ist etwas verlangsamt. Pat. erholt
sich im Laufe der nachsten Tage wieder etwas, klagt viel iiber Kopfschmerzen.
4. VHI. Pat. erbricht zeitweiso, besonders nachts, ist leicht benommen, apa-
thisch, Pulsfrequenz verlangsamt.
6. VIII. Zunehmende Benommenheit. Pat. niuB deshalb nach der Frauen-
aufnahmeabteilung verlegt werden.
8. VIII. Zustand wechselnd. Pat. ist mitunter ganz benommen, dann wieder
klarer, schlaft viel. Sie wird zur Ausfuhrung des Suboccipitalstiches nach der
ehirurgischen Klinik verlegt.
10. VIII. Operation (Prof. Dr. Kirschner). Es wird zwischen Atlas und Os
occipitale eingegangen. Man kommt auf einen Hohlraum, der aber keine Fliissig-
keit, sondem vorgefallene Hirnmasse enthiilt. VerschluB der Wimde. Beim Ver-
schluB der auBeren Haut reflektorischer Atmungsstillstand mit Zyanose. Kiinst-
liche Atmung — Dauer 5 Minuten — hat Erfolg.
6 Uhr abends: Plotzliche Veranderung der Atmung. Es wechselt tiefes Atem-
holen mit folgendem Atemstillstand. 6}'., Uhr abends Exitus.
Sektionsbefund.
Klin. Bemerkung: TumorCerebri. Suboccipitalstich. 6Stunden spaterExitus.
H auptkrankheit: Glioma Cerebri. Bronchialpneumonie im rechten Unter-
lappen.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
56
K. Jakoby:
Digitized by
Anatomische Diagnose: Rasierter Hinterkopf. 10 cm langc Operations-
wunde in der Nackenlinie bis zur Protuberantia occipt. ext. heraufreichend. Drai¬
nage des Subduralraumes durch eine bleifederdicke Offnung in der Dura zwischen
Atlas und Occiput nach der Muskulatur des Nackens. Hirnodem. Etwa faust-
groBes Glioin im linken Scheitellappen dicht hinter der Zentralfurche.
Kopfhohle: Das Gewebe unter der Operationswunde ist geschwollen und
triibe. Von der Wunde fiihrt ein 3 cm langer Kanal durch die Membrana at Ian t.
occipit. in den Subduralraum, so dafl eine Verbindung zwischen Liquor und Nacken-
muskulatur hergestellt ist. Der obere Langsblutleiter ist leer. Die Sinus trans-
versi Sigmoidei sind mit dunkelrotem Blut angefiillt. Die Dura ist im allgemeinen
glatt und feucht. Im Bereiche der linken A. meningea med. finden sich einzelne
stecknadelkopfgroBe grauweiBe Knbtchen. Es stellt sich heraus, daB hier Gehirn-
substanz durch die Dura hindurchgewachsen ist. Die Dura ist am linken Scheitel¬
lappen dicht hinter der Zentralfurche adharent. Sonst laBt sie sich leicht abziehen.
Die Hirnwindungen sind vollig abgeflacht. Die Venen sind nur wenig mit Blut
gefiillt. Ira linken Scheitellappen befindet sich ein etwa faustgroBer, grauweiBer,
strahliger Tumor.
16. X. 21. Der Tumor, ist ein von der Dura ausgehendes Endothelioma
psammosum.
Auch hier waren die Symptome so unsicher, dali eine sichere Diagnose
unmoglich war. Die vorgenomraenen Hirnpunktionen ergaben gleich-
falls keinen Anhaltspunkt. Als darum wegen bedrohlicher Allgeiuein-
symptome eine druckentlastende Operation notwendig wnrde, entschloli
man sich zum Suboccipitalstich.
Literaturverzeichnis.
Anton-Halle: t)ber neuere Methoden operativer Druckentlastung des Ge-
hirns. Jahresbcr. iiber Leist. u. Fortschr. a. d. Geb. d. Neurol, u. Psychiatr. Ber.
iiber Jahr 1916, 20. — Dersclbe: Der Suboccipitalstich als druckentlastende
Gehirnoperation. N. C. 1917. Versamml. Mitteld. Psychiatr. u. Neurol, in Dresden.
6. I. 1917. — Derselbe u. Schmieden: Suboccipitalstich, eine neue druckent¬
lastende Hirnoperationsmethode. Arch. f. Psychiatr. u. Nervenkrankh. 58. —
Beriel: Meine Himpunktion u. d. Untersuch. d. Treponema b. Dem. paralyt.
N. C. 1914, Nr.l. — Boumann: Die Behandlung der Hirngeschwulste. Nach der
Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr., Ref. u. Erg. 12, S. 487. — Bruns,
Die Geschwiilste des Nervensystems. 1897. — Eichhorst: Handb. d. spez. Path
u. Therap. 8, 6. Aufl. — Epstein-Schwalbe: Handb. d. prakt. Med. 8, 2. Aufl.
(Krankheiten des Gehirns einschl. des Riickenmarks). — Biihrke: Ein Fall von
operativ geheiltem Hirntumor. Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. 66. — Frazier,
Charles: The Cerebrospinal Fluid and its Relation to Brain-Tumors. Referat
von Walther Misch im Jahresber. iiber die Leist. u. Fortsch. a. d. Geb. d. Neurol,
u. Psychiatr. — Gebb u. Weichbrodt: Die B6rielsche Himpunktion. N. C.
1919, Nr. 3. — Haberer, von: Beitrag zur Operation von iibergr. Himtumoren.
Arch. f. Psychiatr. u. Nervenkrankh. 59. — Hippel, von: ttber die Palliativ-
trepanation bei Stauungspapille. Graefes Arch. f. Opht. 69, 1909. — Derselbe u.
Goldblatt: Weitere Mitteilungen iiber die Palliativtrepanation, spez. den Balken-
stich, bei Stauungspapille. Graefes Arch. f. Opht. 86, 1913. — Horsley: Die
ohir. Behandlung d. intracran. Geschwiilste im Gegensatz zu der abwartenden
Therapie. 4. Vers. d. Gesellsch. deutsch. Nervenarzte. N. C. Nr. 21, 1910. —Dis-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Uber die Indikationen zu hirndruckentlastenden Operationen. 57
kussion zu Horsleys Vortrag. Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. 41. —Kleist, K.:
Diagnose u. therap. Erfahrungen an Hirntumoren. Sitzungsber. d. Bostocker
Arztevereins 4. Juli 18. N. C. 1919, Nr. 6. — Knapp: Echinococcus des linken
Schlafenlappens durch Schadelpunktion diagnostiziert. Dtsch. Zeitschr. f. Ner¬
venheilk. 60. — Krause, F.: Chir. d. Gehims u. Riickenmarks. 1908. — Michael:
Kritische Zusammenfassung der Ergebnisse der Neisserschen Hiinpunktion fiir die
Diagnose und Behandlung der Himkrankheiten. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u.
Psychiatr., Ref. u. Erg. 11. — Muller: Trepanation der Opticusscheibe. Eine
neue Operation der Stauungspapille. Wien. klin. Wochenschr. 29 (32), S. 100. —
Oppenheim: Lehrbuch der Nervenkrankheiten. 6. Aufl. — Derselbe: Beitr. z.
Diagnostik u. Therapie der Geschwiilste im Bereiche des zentralen Nervensystems.
1907. — Pinkus: Diagnostische u. therapeutische Ergebnisse der Hirnpunktion
nach dem Ref. in der Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr., Rrl. u. Erg. 12,
S. 224. — Polisch: Ergebnisse der Balkenstichoperation. Monatsschr. f. Psychiatr.
u. Neurol. 5, Nov. 1921. — Quincke: tlber die therap. Leist. der Lumbalpunktion.
Therap. Monatsh. 1914. — Reinicke: Die Behandlung der Epilepsie mit Balken-
stich. Arch. f. Psychiatr. u. Nervenkrankh. 62. Schepelmann: Hypophysen-
tumoren. Dtsch. Zeitschr. f. Chirurg. 188. H. 4, S. 390. — Scharpe u. Farvel:
A new operative Treatment for Selected Cases of Cerebral Spastic Paralysis, zitiert
nach Jahresber. iiber die Leist. u. Fortschr. a. d. Geb. d. Neurol, u. Psychiatr. 19,
1915. — Tilmann: Uber prahistorische Chirurg. Langenbecks Arch. 28. — Der¬
selbe: Chirurg. Behandlung der Epilepsie. Schmidts Jahrb. 324 (4) 205. —
Wernicke: Gehimkrankheiten. 1881.
Digitized by Goo
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
ftber die katatonische Demenz und deren klinische Forraen.
Digitized by
Von
Dr. N. Skliar.
(Ord. Arzt der Irrenanstalt Tambow-IluBland.)
(Eingegangen am 10. August 1922.)
T)bor die Frage der Dem. praecox oder, wie wir diese Krankheit
nennen, der katatonischen Demenz ist die letzten 30—35 Jahre viel
geschrieben worden. Es wurde heftig und erbittert dariiber gestritten,
ob die katatonische Demenz wirklich als besondere Krankheitsform
exist iere oder zu anderen bereits bestehenden Krankheiten gerechnet
werden muB? Trotz der langjahrigen Debatten ist diese Frage bis
jetzt noch nicht vollstandig gelost worden. Viele Gegner Krape-
lins konnen die Dem. praecox als besondere Krankheit aus dem Grunde
nicht ansehen, weil eine sichere pathologisch-anatomische oder phy-
siologisch-chemische Grundlage nicht gefunden wurde. Freilich steht
die Dem. praecox in dieser Beziehung gegen die anderen Geisteskrank-
heiten nicht zuriick, wo meistens organischo Veranderungon fehlen.
Und da die positiven Wissenschaften fiir die Ergriindung des Wesens
der verschiedenen Geisteskrankheiten und deren Abgrenzung von-
tinander wenigstens fiir die nachste Zukunft wenig Aussicht auf Erfolg
zu geben versprechen, so meinen wir eher zum Ziele zu kommen, wenn
wir mehr auf die klinische Seite unser Augenmerk richten, indem wir
auf ein groBes klinisches Material von langerer Beobachtungszeit uns
stutzen.
Ferner kann der Krapelinschen Schule der Einwand gemacht
werden, ob denn die Dem. praecox als eine einheitliche Krankheits¬
form wirklich angesehen werden kann und nicht vielmehr aus ver¬
schiedenen Krankheitsformen bosteht? Bekanntlich basiert die Dem.
praecox auf 3 Hauptwurzeln: der Heckerschen Hebephrenie, der
Kahlbaumschen Katatonie und der Krapelinschen Dem. para¬
noides. Dazu kam spater die Bleuler-Diemsche Dem. simplex
liinzu. Nebenbei wurden nachher Bezeichnungen fiir Falle gebraucht,
die zur allgemeinen Benennung der Krankheit (als Dem. praecox) gar
nicht paBten, wie die Dem. praecocissima im friihen Kindesalter und
besonders die Spiitkatatonie im hoheren Lebensaltcr, die bei der allge¬
meinen Klassifizierung der Krankheit nicht genannt, aber stillschwei-
gend als selbstverstandlich dazu gerechnet wurden. — Die beiden
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
X. Skliar: tjber die katatonische Demenz und deren klinische Formen. 59
ersten Gruppen sind im Jahre 1897 von Aschaffenburg auf Grand
der gleichen Symptome, des gleichen klinischen Verlaufes und der
gleichen psychologisch-pathogenetischen Merkmale zu einer Krank-
heitsform, die Dem. praecox genannt wurde, vereinigt worden. Diese
Ansicht fand mit der Zeit die Zustimmung der meisten Forscher und
stoCt gegenwartig auf keinen Widerspruch. Nicht so verhalt sich
die Sache mit der Dem. paranoides. Urspriinglich hielt sie Krapelin
fur eine besondere Krankheitsform. Im Jahre 1899 fiigte er die Dem.
paranoides als besondere Untergruppe der Dem. praecox aus dem
Grunde hinzu, weil sie in eine katatonische Verblodung libergehe und
im Verfaufe derselben eigenartige katatonische Erscheinungen be-
obachtet werden. Die letzteZeit kam aber Krapelin zur Ansicht, daB
die paranoid3 Demenz durch viele Kennzeichen sich von der Dem.
praecox unterscheide, weswegen er im Jahre 1912 einen Teil der Falle
der Dem. paranoides von der Dem. praecox trennte und dieselben
zu einer besonderen von ihm geschaffenen Krankheitsgruppe der sog.
Paraphrenien zahlte; der iibrige Teil aber der Falle blieb bei der Dem.
praecox, wenn nicht in einer, so doch in 2 Untergruppen als Dem.
paranoides mitis und Dem. paranoides gravis bestehen.
Es wird weiter von vielen Forschern — und nicht mit Unrecht —
gegen die zu woiten Grenzen der Krankbeit eingewendet. Tatsachlich
schwoll die Dem. praecox mehr und mehr an, und einige Anhanger
Krapelins, wie z. B. Bleuler, Urstein u. and. hielten nicht nur
die Amentia, die Paranoia u. dgl., sondern auch alle moglichen Psy¬
chosen, z. B. das Querulantentum, den Alkoholismus, Idiotismus.
fur Dem. praecox; sie rechneten sogar die Psychopatien, die Degene-
rat ionen zu den latenten Formen dieser Krankheit. Diese so stark er-
weiterte Psychose stieB auf einen groBen Widerstand seitens vieler
Forscher, wie Fiirstner, Wernicke, Schiile u. and., die die Dem.
praecox fur einen Sammeltopf hielten, wo alle moglichen Krankheiten
zusammengeworfen wurden. Aber nicht nur die Gegner, sondern auch
Krapelin selber kam mit der Zeit zur Uberzeugung, daB seine An¬
sicht liber die Dimensionen der Krankheit sehr iibertrieben war, da
viele Falle, die er fur Dem. praecox hielt, sich nachher als manisch-
depressives Irresein herausstellten. So entstand in der Krapelin -
schen Schule die Lehre von einer anderen wichtigen Krankheit, dem
manisch-depressiven Irresein, die bei einigen seiner Anhanger die
Dem. praecox in den Hintergrund driingte: jedenfalls sind die Falle
der Dem. praecox zugunsten der manisch-depressiven Psychose
bedeutend verringert worden. — Hier gilt es, diese bciden Krankheiten
sicher voneinander abzugrenzen und nachzusehen, was fiir die eine
und was fiir die andere Krankheit charakteristisch ist und womit sie
sich voneinander unterscheiden.
Digitized by Got >gle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
60
N. Skliar:
Viele Autoren sprechen sich ferner mit Recht gegen die Richtig-
keit der Bezeichnung der Krankheit als Dem. praecox aus. — Endlich
kann die Gruppierung der Krankheit in die Unterforraen nicht als gelun-
gen bezeichnet werden. Wir glauben deswegen, es miisse der Krank¬
heit eine andere, dem Wesen derselben entsprechendere Bezeichnung
gegeben und eine andere zweckmaBigere Gruppierung in Unterformen
gemacht werden.
Um alle diese Streitfragen zu klaren, sammelten wir 200 typische
Krankengeschichten von Fallen (121 Frauen und 79 Manner), die in
die Tambowsche Irrenanstalt vom Beginn bis zum Ende der Krank¬
heit im Laufe von vielen Jahron, zuweilen auch Jahrzehnten (von
1 / 2 Jahre bis 40 Jahren) in Behandlung und Verpflegung waren; viele
Falle sind von mir selber beobachtet worden.
Wir teilen das Material in 2 groBe Gruppen ein: 1. die katatoni-
sche Gruppe im engeren Sinne des Wortes oder die stupordse und
2. die affektive Gruppe.
Wir beginnen mit der katatonischen (resp. stuporosen) Gruppe.
I. Die katatonische Gruppe im engeren Sinne, resp. stupordse.
(Dem. katatonica stuporosa.)
(104 Falle; unter ihnen 47 Manner und 57 Frauen.)
Charakteristisch fiir diese Gruppe im ganzen erscheinen die katato¬
nischen Symptome, wo sie in der typischsten Weise auftreten. In diesen
Fallen kommen im ganzen Verlauf der Krankheit Stuporerscheinuugen
in stark ausgesprochener oder in abgeschwachter Weise als Apathie vor.
oder die Erscheinungen des Stupors resp. der Apathie wechseln mit
besonderen, eigenartigen, heftigen und pldtzliohen Erregungszustanden
ab, die einen impulsiven, automatischen Charakter tragen. Ubrigens
muB gesagt werden, daB auch bei der ersten Form ahnliche Erregungs-
zustande nicht ausbleiben, nur kommen sie in nicht so starkem Grade
vor, dauern nicht so lang und treten viel seltener auf. Ferner erscheint
fiir diese Krankheit eine eigenartige Demenz katatonischen Ursprungs
charakteristisch, die oft sehr bald, im Laufe von 2, 3 Monaten auf-
tritt.
Wir teilen deswegen diese Gruppe in folgende Untergruppen mit
ihren Spielarten:
A. Stupordse Untergruppe
mit o) einer stuporosen Spielart im eigentlichen Sinne
und fi) einer stuporos-agitierten Spielart.
B. Apathische Untergruppe
mit a) der apathisehen Spielart im engeren Sinne
und /i) der apathiseh-agitierten S])ielart.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
liber die katatonische Demenz und deren klinische Fornien.
61
A. Die stuporose Untergruppe.
a) Die stuporose Spielart.
(29 Falle, von denen 14 Manner und 15 Frauen.)
Die Krankheit fangt in 12 Fallen mit Halluzinationen und Wahn-
ideen der Verfolgung an, infolge deren sie unruhig und aggressiv werden.
In einigen Fallen sind die Kranken stark angstlich, haben Selbstmord-
ideen, sprechen absurde Wahnvorstellungen aus. Im Laufe von 2,
3 Monaten werden die Kranken apathisch, negativistisch, wortkarg, und
bald tritt ein vollstandiger Stupor ein (Erstarrung in irgendeiner Stel-
lung, Bewegungslosigkeit, Mutazisruus, Nahrungsverweigemng, Schnauz-
krampf, starrer Gesichtsausdruck mit offenem Munde und SpeichelfluB).
— In 4 Fallen begann die Krankheit mit Angst, Ideen der Versiindigung,
<les Selbstmordes, auch der Besessenheit. Nach 3, 4 Monaten Stupor,
Verblodung, GefraBigkeit. — In 5 Fallen fangt die Krankheit langsam,
sehleichend, unmerklich, ohne akute Symptome an. Allm&hlich werden
die Kranken finster, schweigsam, apathisch, wenig beweglich, horen
auf zu arbeiten, essen nur nach Ermahnung. Nach eim'gen Monaten
werden die Kranken vollstandig stuporos. Zuweilen werden sie fur ganz
kurze Zeit aufgeregt, gehen hinund her, drohender Umgebung. Nachher
verfalien sie in ihren friiheren stark ausgesprochenen Stuporzustand.
Zuweilen kommen im Laufe der Krankheit Remissionen vor, wahrend
deren die Patienten beweglicher, arbeitslustiger und mitteilsamer
werden. Solche Remissionen dauern einige Stunden, einen Tag, einige
Tage, eine Woche bis zu 1 / 2 oder ganzen Jahr oder noch langer.
Das Endstadium: In einigen Fallen, hauptsachlich bei Kran¬
ken, die im Pubertatsalter erkranken, tritt eine tiefe Demenz und
ein stark ausgesprochener Stupor rasch, 2 oder 3 Monate nach dem
Beginn der Krankheit ein, in welchem Zustand sie bald an Erschopfung
infolge Nahrungsverweigerung und Bewegungslosigkeit zugrunde
gehen. In anderen Fallen kann dor Stuporzustand mit einigen Unter-
brechungen, Remissionen sich jahrelang liinziehen (in 7 Fallen weniger
als 1 Jahr, in 9 Fallen 1—3 Jahre, in 4 Fallen gegen 5 Jahre, in 3 Fallen
10 Jahre, in 2 Fallen 15 Jahre, in 1 Falle 25 Jahre, in 2 Fallen 35 Jahre).
/?) Stuporos agitierte Spielart.
(22 Falle, von denen 6 Manner und 16 Frauen.)
Fur den Verlauf und Ausgang der Krankheit erscheint der Wechsel
des Stupors mit impulsiven Erregungszustanden charakteristisch.
In 5 Fallen beginnt die Krankheit mit Angst; in 7 Fallen kamen
zur Angst Halluzinationen, Wahnideen (der Beeinflussung und Vergif-
tung) und Unruhe hinzu; in 1 Falle setzt die Krankheit plotzlich mit
Verwirrtheit, katatonischen Erscheinungen und Unruhe ein; in 1
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
62
X. Skliar:
Digitized by
Falle war im Anfang ein Zustand der Ratlosigkeit, die Kranke grimas-
sierte, war manieriert, sprach singend, achzte, lachelte. Nach diesem
Anfangsstadium vetfielen die Kranken bald in einen tiefen stupo-
rosen Zustand, der mit heftigen und plotzlichen Aufregungszustanden
abwechselte, wahrend deren sie schirapften, monoton schrien, gewalt-
tatig wurden. — In 1 Falle begann die Krankheit gleich mit einem
Stupor. In 1 Falle fiel die Patientin im Anfange der Krankheit durch
ein absonderliches Benehmen auf. Spater ist die Kranke bald apa-
thisch, starr, negativistisch, bald ist sie unruhig, schreit und weint,
ist stark angstlich. Diese Schreianfalle hauften sich nachher mehr-
mals im Tag und wurden stereotyp. — In 1 Falle ein allmahlicher
und unmerklicher Beginn, ohne akute Symptome; nach i/ 8 Jahre ver-
fiel die Kranke in einen Stupor, der zeitweise durch starke Aufregungen
u literbrochen wurde.
Der Endzustand: Stupor, Unzuganglichkeit, Unsauberkeit, Un-
reinlichkeit, Verblodung; zeitweise plotzliche Aufregungen, sinnlose
Schreianfalle.
B. Die apathische Untergruppe.
Bei der apathischen Form sehen wir die gleichen Symptome, den glei-
chen Verlauf und Ausgang, wie bei der stuporosen Form, nur mit dem Un-
terschied, daB die Erscheinungen hier weniger stark ausgesprochen sind.
a) Die apathische Spielart im engeren Sinne.
(23 Falle, von denen 15 Manner und 7 Frauen.)
In 9 Fallen sind die Kranken im Anfang angstlich, griibeln nach.
Bald werden sie finster, apathisch, sprechen wenig und einsilbig, flii-
sternd, manieriert, gekiinstelt, eintonig, auBern hypochonclrische, zu-
weilen auch absurde Wahnideen.
In 6 Fallen Beginn mit Angst, zu der bald Halluzinationen,
zuweilen auch Wahnideen hinzutreten. Nach einigen Monaten werden
die Kranken apathisch, gegen alles gleichgiiltig, untatig, wortkarg,
grimassieren, liegen immer im Bett oder nehmen tagelang die gleiche
sitzende oder stehende Lage ein, ohne auf die Umgebung zu achten.
Zeitweise kurzdauernde leichte Erregungszustande sinnloser Natur.
In 2 Fallen allmahlicher und unmerklicher Beginn der Krank-
heit, ohne akute Symptome; die Kranken zeigen ein absonderliches
Benehmen, sprechen sinnlos, grimassieren, werden apathisch.
/?) Die apathisch-agitierte Spielart.
In 2 Fallen begann die Krankheit mit Angst, Versiindigungsideen,
Zweifelsucht. Bald wurden die Kranken apathisch, kataleptisch, schweig-
sam; zeitweise traten plotzliche Aufregungszustande auf. —In 17 Fallen
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Cber die katatonische Demenz und deren klinische Formen.
63
beginnt die Krankheit sehr akut mit Angst, heftigen Halluzinationen,
Wahnideen, meistens der Verfolgung, und starker Unruhe. Dann
werden sie sehr apathisch, unbeweglich, mutazistisch. Zeitweise starke
Erregungs zustande: larmen, schreien, werden gewalttatig.
Endstadium: Nach vielen Jahren werden die Rranken dement:
bald ruhig, apathisch, unzuganglich, schweigsam, bald kommen plotz-
liche Aufregungszustande vor. In einigen Fallen treten zuweilen
Angstanfalle auf (die Kranken beiflen, kratzen sich u. dgl.), die nachher
schwacher werden.
In 7 Fallen spielten die Halluzinationen nicht nur im Beginn, son-
dern auch im ganzen weiteren Verlauf der Krankheit eine dominie-
rende Rolle. Die Halluzinationen, meistens des Gehors, sind dauer-
haft, bestandig und monotoh (,,Streikbrecher, Streikbrecher“. . .
,,Schurke, Schurke... Unter dem EinfluB der Halluzinationen
kommen die Kranken in einen stark aufgeregten Zustand. In einigen
Fallen werden, besonders im Anfange der Krankheit, Stuporzustande
beobachtet. Im Laufe der Zeit werden die Kranken apathisch, wenig
zuganglich, teilnahmlos, negativistisch, sprechen manieriert, gekiin-
stelt, bleiben in einformiger Haltung. Zeitweise Aufregungszustande.
II. Die affektive Gmppe.
(96 Falle, von denen 64 Frauen und 32 Manner.)
Die affektive Gruppe hat insofern Ahnlichkeit mit der katato-
nischen (stupoiosen), alsauch bei der ersteren katatonische Symptome
vorhanden sind und dieselbe zu einer ahnlichen Demenz mit den
gleichen katatonischen Ziigen fiihrt, wie die letztere. Der Unterschied
besteht darin, daB bei der affektiven Gruppe die katatonischen Sym¬
ptome nicht so zahlreich und weniger stark ausgepragt sind, als bei der
stuporosen (katatonischen). Ferner werden bei der affektiven Gruppe
affektive, d. h. depressive und manische Symptome, mit periodischem
oder cyclischem Verlauf,; wie beim manisch-depressiven Irresein, be¬
obachtet, die bei der stuporosen Gruppe fehlen. — Beziiglich des Ver-
laufesund Ausganges finden wir den Unterschied, daB die Krankheit bei
der affektiven Gruppe viel langer dauert und die Demenz nicht so tief und
nicht so schnell eintritt, wie bei der katatonischen (stuporosen) Gruppe.
Wir teilen die affektive Gruppe in eine depressive, hypomanische
und agitierte Untergruppe ein.
A. Die depressive Form.
(13 Falle, von denen 3 Manner und 10 Frauen.)
In 6 Fallen befinden sich die Kranken in einem angstlichen Zu¬
stand; sie weinen, stohnen, sprechen alle moglichen Bofiirchtungen
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
B4
N. Skliar:
Digitized by
aus. Die Angst nimmt nachher zu; die Kranken knien oft, bitten
um Verzeihung, verweigern die Nahrung. In vielen Fallen kommen
Halluzinationen hinzu. Es kann spater eine Remission eintreten (in
1 Falle dauerte dieselbe V 2 Jahr, in einem anderen Falle gegen 20 Jahre).
Dann tritt wieder ein angstlicher Zustand und Verwirrtheit auf; dabei
leisten die Kranken allem Widerstand. Spater liegen sie tagelang im
Bett, antworten nicht auf Fragen, essen nicht, oder sie sind unruhig,
singen, tanzen, schimpfen, schmieren, grimassieren, nehmen Zwangs-
stellungen ein. Nach einigen Jahren konnen sie sich beruhigen, werden
klarer, besonnener, orientieren sich gut in allem, konnen gut arbeiten,
haben aber keine eigene Initiative, sind apathisch, still, in sich gekehrt.
Einige sind erregbarer, drangen immer nach Hause, sprechen'monoton,
singend, grimassierend; der Gesichtsausdruck gedriickt, weinerlich. —
In anderen Fallen schreitet die Krankheit ohne Remissionen fort.
Die Kranken schreien fast unaufhorlich, weinen, drangen zur Tiir,
nach Hause in einformiger Weise, klammern sich an alle an. Zeitweise
sind die Angstzustande so heftig, daB die Patienten mit dem Kopf an
die Wand schlagen und ernste Selbstmordversuche machen. Spater
wird das Benehmen der Kranken stereotyp, einformig; sie murmeln
bestandig Gebete, bekreuzigen sich, stohnen in stereotyper Weise
Tag und Nacht; bei einigen wird Echolalie beobachtet.
In 5 Fallen beginnt die Krankheit mit einem starken angstlichen
Zustand; die Kranken stohnen unaufhorlich, jammem, schreien, spre¬
chen absurde hypochondrische und Verfolgungsideen aus: sie haben
keinen Magen, keine Darme, keinen Schlund; ihre Kinder wolle man
zorstiickeln, man gebe ihnen eine vergiftete Speise, weshalb sie die Nah-
rungsaufnahme verweigern. Nach l / 2 Jahre sitzen die Kranken noch
in der gleichen Lage u. dgl. oder liegen bestandig knauelformig,
weshalb bei ihnen Contracturen an den Beinen auftreten; essen
viel und schreien, daB man ihnen nichts zu essen gebe, sprechen ver-
schiedene Unzufriedenheiten aus, klagen bestandig, regen sich schnell
auf. — Andere schauen sinn- und ratios herum, wiederholen immer,
wo seien sie hingeraten, was sei mit ihnen geworden, was sollen sie
tun? Leisten allem Widerstand, geben auf Fragen keine Antwort.
Zeitweise werden sie sehr unruhig, verwirrt, ratios. Dieser unruhige
Zustand kann manchmal sogar jahrelang dauern. Einige Kranke
beruhigen sich nachher, stehen tagelang in einer Haltung an der glei¬
chen Stelle, machen gleiche oinformige Bewegungen mit den Armen
oder dem Rumpf, sind apathisch, gleichgultig.
In 2 Fallen Beginn der Krankheit mit einer Depression und Zwangs-
vorstellungen (in der Form der Beruhrungsfurclit, der Griibel- und
Zweifelsucht, des Zwangslachens, verschiedener Zwangsbewegungen),
die spater sich fixieron und stereotyp werden; die Kranken werden
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Dber die katatonische Demenz und deren klinische Formen.
65
apathisch, teilnahmlos, bleiben dabei besonnen, und die Verblodung
tritt erst nach langerer Zeit und nur in maBigem Grade ein.
Der Ausgang ist in einigen Fallen (3) eine erregte Demenz mit
katatonischen Symptomen: die Kranken beten unaufhorlich, bekreu-
zigen sich, stohnen, stoBen einformige Laute aus, auBern Unzufrieden-
heit, rasonieren etc.; dabei werden Negativismus, Echolalie, ein¬
formige Stellungen etc. beobachtet. — In anderen Fallen sehen wir
den Ausgang in eine apathische Demenz mit Stuporsymptomen. —
In noch anderen Fallen tritt eine Demenz maBigen Grades mit weniger
stark ausgesprochenen katatonischen Symptomen ein, wobei die Kran¬
ken bei klarem BewuBtsein sind und sich mehr oder weniger
geordnet benehmen; die Stimmung ist gedriickt bei bestandiger leich-
ter motorischer Agitation.
Betrachten wir alle Falle der depressiven Form im ganzen, so sehen
wir einerseits Symptome der Depression nicht nur im Beginn, sondern
auch im weiteren Verlauf der Krankheit. Aber diese angstlichen Zu-
stande tragen einen besonderen Charakter. Die Kranken sprechen
die angstlichen Ideen mit Grimassen und Geberden aus; trotz des
bestandigen Stohnens ist am Gesicht kein angstlicher Ausdruck zu
merken; iiberhaupt tragt die Angst bereits im Beginn der Krankheit
den Keim der Stereotypie: die Kranken bekreuzigen sich, beten, stohnen,
schreien immerwahrend, monoton und ausdruckslos. Zu diesen De-
pressionszustanden kommen zuweilen bereits seit dem Beginn, zuweilen
aber im weiteren Verlauf der Krankheit manische Symptome hinzu:
Reizbarkeit, Unzufriedenheit mit allem, Streit- und Raufsucht etc.
Diese Symptome tragen in den meisten Fallen auch einen stereotypen
Charakter. Andererseits werden hier katatonische Symptome, wie
Negativismus, Stupor, Stereotypien und Zwangsstellungen, oder
stark ausgesprochene Apathie beobachtet. Diese depressiven Zustande
katatonischen Ursprungs unterscheiden sich von solchen beim manisch-
depressiven Irresein noch durch den Ausgang in eine charakteristische
Demenz.
B. Hypoinanische Form.
(2o Falle, von denen 10 Manner und 15 Frauen.)
Die Krankheit beginnt meistens mit Halluzinationen, Angst und
Wahnideen. Nachher tritt eine Apathie ein, die sich bis zum Stupor
steigert, welchem ein hypomanischer Zustand leichten oder hohen
Grades mit Schwatzhaftigkeit, Beweglichkeit, gehobener Stimmung,
einer Neigung zum Scherzen folgt; die Kranken sind orientiert, beson¬
nen, rasonieren, schreiben Erzahlungen, Romane, Gedichte, machen
medizinische und andere Entdeckungen, ersinnen verschiedene Pro-
jekte und Plane, allcrdings absurder Natur. Dabei zeigen sie groBe
Archlv ftir Psychiatric. 1U1. 07. 5
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
66
N. Skliar:
Defekte in sittlicher Beziehung, machen Versuche Frauen zu not-
ziichtigen, entbloBen die Genitalien u. dgl., benehmen sich wie aus-
gelassene Kinder. Aber alle diese manischen Ziige entbehren der ech-
ten Lebhaftigkeit, die Bewogungen sind unfrei; der Mirnik fehlt die
Ausdrucksfahigkeit; die Ideen und Plane sind stereotyp, werden imrner
einformig ausgedriickt, es fehlt eigentlich die echt manische Produk-
tivit&t und Erfindsamkeit, ferner ze’gen sie mehr oder weniger
tiefe Herabsetzung des Intellektes; die Urteile der Kranken sind
nicht nur oberflachlich, sondern auch kritiklos, absurd, deni
normalen Menschenverstand ganz fremdartig. Die Spraclie ist bei
den Kranken monoton, weitschweifig; sie sprechen mit kindlicher
Stimme, grimassieren, machen verschiedene Geberden, kokettieren,
ziehen mit den Schultern, dem Hals, wiederholen oft die gehorten
Worte. Dabei merkt man an ihnen eine Gebundenheit, Manieri9rtheit,
einen Negativismus. Zuweilen sind sie freundlich, hoflich, aber docli
wenig zuganglich. Stark ausgesprochene, voriibergehende Stuporzu-
stande wurden im Laufe der Krankheit in 16 Fallen beobachtet, die
in 2 Fallen mit Erregungszustanden wechselten. — Meistens (in
22 Fallen von 25) tritt, nachdem die Krankheit viele Jahre gedauert
hatte, ein terminaler euphorischer Schwachsinn ein (Demenz mit
hypomanisch-katatonischen Ziigen), in dem die Kranken jahre-, zu¬
weilen jahrzehntelangverbleiben; sie sind gut mutig, heiter gestimmt,spre¬
chen und benehmen sich w r ie 3 und 5-jahrige Kinder, lispeln, schnarren,
nahen Puppen, sind apathisch, manieriert, in Zeit, Ort undUmgebung
unorientiert. — In 3 Fallen war der Ausgang eine apathische Verblodung.
In betreff des Alters mull konstatiert werden, dad alle Falle im
jugendlichen Alter, hauptsachlich zwischen dem 15. und 30. Jahr,
erkranken. Am meisten charakteristisch fur diese Form ist, dad die
Erkrankung haufig im Pubertatsalter auftritt, und zwar haufiger
als andere For men der katatonischen Demenz, wahrend wir in unserem
Material das Auftreten im Pubertatsalter der hypomanischen Form
in 8 Fallen auf 25, d. h. in 32% finden, macht das Auftreten in dem
gleichen Alter der katatonischen Demenz, im ganzen genommen.
17,5% aller Falle aus (35 Falle auf 200). — Diese Erscheinung diente
fur Hecker und andere, wie bekannt, als Hauptgrund, die hypoma-
nische Form fur eine besondere, selbstandige Krankheit zu halten
und derselben den Namen ,,Hebephrenie“, als fiir die Periode der Ge-
schlechtsentwicklung charakteristisch, zu geben. Die Autoren fanden
ferner bei dieser Form fiir dieses Alter charakteristische Symptome,
wie kindliches Benehmen, hochtrabende, gekiinstelte Ausdrucksweise
in der Rede und Schrift, kindliche Ausgelassenheit, kindlich-naive
Urteile usw\ — Nun kommt aber diese Form nicht nur im Pubertats¬
alter, sondern auch, und zwar noch haufiger, im Alter von 20 bis 30
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Ober die katatonische Demenz und deren klinische Formen. 67
Jahren (10 Fall© auf 25, d. h. in 40% vor; ©s werden aber auch Fall©
dieser Form nicht selt©n im Alter von 30 bis 40 Jahren in 20% (5
Fall© auf 25) und auch in dem kindlichen Alter von 10 bis 15 Jahren
in 8% (2 Fiille auf 25) beobachtet. — Was aber die angegebenen Sym¬
ptom© betrifft, die der Pubertatszeit eigentumlich sein sollen, wie kind-
liches Benehmen etc., so werden sie bei der gleichen Form auch im an-
deren Alter und sogar bei anderen Formen der katatonischen Demenz
angetroffen, und zwar in Fallen, wo die Verblodung nicht so stark
ausgesprochen, sondern maBigen Grades, und von Erscheinungen
der Besonnenheit und hypomanischen Ziigen begleitet ist, die zusam-
raen das Wesen der sog. ,,hebephrenen“ Symptome ausmachen.
Die letzteren stellen somit eine Mischung von hypomanischen Ziigen
katatonischen Ursprungs mit Urteilsschwache dar und sind in keinem
Fall© mit einem bestimmten Alter (der Entwicklungsjahre) verbunden.
— Es konnte noch der Verlauf und Ausgang als Grund dafiir ange-
fiihrt werden, die Falle der hypomanischen Form fur eine selbstandige
Krankheit zu halten. So sahen wir, daB man sogar im Endstadium
in den meisten Fallen katatonisch-hypomanische Ziige finden kann.
Es sind aber keine kardinalen Abweichungen von der Hauptkrank-
heit (der katatonischen Demenz im ganzen genommen), sondern nur
nebensjichliche, die sie eben nur als eine besondere Untergruppe der-
selben charakterisieren. DaB die hypomanische Form keine selbstan¬
dige Krankheit ist, kann als Beweis ferner der Umstand dienen, daB
das hypomanische Bild oft auftritt, nachdem die Krankheit mit ganz
anderen Erscheinungen, z. B. einem typischen stuporosen Bild, be-
gonnen hat. Wir sehen endlich, daB auch der Ausgang zuweilen das
gleiche Bild der apathischen Verblodung, wie bei der stuporosen (kata¬
tonischen) Gruppe, aufweist.
Es ist also die hypomanische Form (die friihere sog. ,,Hebe-
phrenie“) keine besondere, selbstandige Krankheit, sondern sie gehort
als eine besondere Unterart der affektiven Gruppe zur katatonischen
Demenz und kommt zuweilen als episodischer Zustand bei alien Grup-
pen und Untergruppen dieser Krankheit vor.
(’. Agitierte Form.
Die agitierte Form teilen wir zunachst in 2 groBe Unterarten ein:
a) die eigentlich agitierte resp. manische und b) die paranoiiforme.
a) Die eigentlich agitierte Unterart.
(37 Falle, von denen 12 Manner und 25 Frauen, so daB die letzteren
in uberwiegender Anzahl vorhanden sind.)
Dem Alter nach herrscht das jugendliche vor (in erster Linie die
Periode von 20 bis 30 Jahren mit 24 Fallen, in 2. Linie das Alter von
5*
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
68
N. Skliar:
Digitized by
15 bis 20 Jahren und von 30 bis 40 Jaliren mit je 6 Fallen); im Alter
von 40 bis 45 Jahren haben wir nur 1 Fall; iiber 40 Jahre sind keine
Falle vorhanden.
Es zerfallt die agitierte resp. manische Unterart in 2 Spielarten:
a) mit mehr chronischem Verlauf (13 Falle), b) mit mehr periodischem
resp. circularem Verlauf (24 Falle).
a) Die chronische Spielart.
In 5 Fallen Beginn mit Halluzinationen, Angst und Verwirrtheit.
Spater sind die Kranken meistens unruhig, lachen, laufen hin und
her, schimpfen, larmen, schluchzen unaufhorlich, knien. Zuweilen
sind sie stuporos.
In 8 Fallen beginnt die Krankheit mit motorischer und sprach-
licher Erregung, sinnlosen, monotonen Charakters. Spater wird meistens
eine lustige Stimmung, Beweglichkeit, Schwatzhaftigkeit beobachtet:
die Kranken larmen, schimpfen, grimassieren dabei, schneiden Ge-
sichter; zuweilen sind sie ruhiger, aber apathisch, teilnahmlos. In
anderen Fallen sprechen die Kranken unaufhorlich mit sich selber,
verbigerieren, sind sehr ablenkbar, zerreiBen die Kleider, YVasche,
stellen das Mobel immer von einer Stelle auf die andere etc. Dabei
werden Schwachsinn, Unzuganglichkeit, starker Kegativismus be¬
obachtet.
Im Endstadium kommen meistens gleiche Zustande manieahn-
lichen Charakters vor, begleitet von katatonischen Symptomen (Nega-
tivismus, Teilnahmlosigkeit, Manieren, Gesichterschneiden, Echo lalie,
einformige Posen). In anderen Fallen werden die Kranken sehr de¬
ment, sind in sich gekehrt, unzuganglich, negativistisch, sprechen
unaufhorlich etwas Sinnloses, lacheln oft, laufen uberall herum, sind
stereotyp, unsauber, beschaftigen sich mit nichts. Einige sitzen an
einer und derselben Stelle und machen immer die gleichen Bewegungen
oder wiederholen die gleichen Phrasen.
/?) Die periodische Spielart.
Die Krankheit beginnt in 13 Fallen mit Angst, Halluzinationen,
Wahnideen und Verwirrtheit. Im weiteren Verlauf kommen bald
stuporose oder apathische, zuweilen depressive Zustande vor, wahrend
deren die Kranken Befurchtungen oder Versundigungsideen mit gloich-
giiltigem Ton oder mit einer lachelnden Miene aussprechen; bald treten
inanieahnliche Aufregungszustande auf. Oder die Kranken gehen
nach einem gedriickten gleich in einen crregten Zustand iiber, wahrend
deren sie hin und her laufen, unsinnig fortdrangen, mit Tranen im Gesicht
lachen, mit einer lachelnden Miene weinen, die Zunge nach verschie-
denen Seiten ausstrecken, sich immer an der gleichen Stelle drehen,
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Cber die katatonische Demenz und deren klinische Formen.
69
auf einem Bein hiipfen, sich vor- und riickwarts in sitzender
Lage wiegen, sich rait den Handen die Stirn reiben, auf einem Beine
Purzelbaume schlagen, von sich tierische Laute geben, grimassieren,
Gesichter schneiden, theatralische Posen zeigen. Oft findet ein Bede-
drang statt; sie sprechen unaufhorlich undsinnlos, lispelnd und schnar-
rend in neugebildeten unverstandlichen Sprachen. Die Stimmung
ist gehoben, lustig oder zornig; sie machen Scherze und Witze dementen
clownartigen Charakters. Solche Zustande komraen mehrmals im Jahr
periodisch, allerdings unregelmaBig, einige Tage oder Wochen lang
dauemd vor. In den Zwischenzeiten sind die Rranken ruhig, apa-
thisch, iiegen immer im Bett, grimassieren- — Nach mehreren Jahren
werden sie ganz dement, zeigen keine Interessen, au Bern keine Wiinsche,
beschaftigen sich mit nichts, schneiden Gesichter, grimassieren, lacheln,
sind unzuganglich, negativistisch; zeitweise sind sieagitiert, wiederholen
manieriert den gleichen Satz, schnalzen mit der Zunge, lachen. — In sehr
seltenen Fallen gibt es einen Ausgang in eine apathische Demenz.
In 9 Fallen beginnt die Krankheit mit Angst, die mit der Zeit zu-
nimmt, es treten Zustande anfallsweise auf, als die Kranken unauf-
haltsam laut weinen, schreien, am Boden sich walzen, ohne erklaren
zu konnen, warum sie dies tun; klagen oft, daB die Umgebung sie
reize; sie regen sich aber um Kleinigkeiten auf, weinen z. B., daB man
ihnen eine zu voile Tasse Suppe gebe; bald weinen sie, weil sie
den Tod oder eine Strafe erwarten; bald haben sie Angst, daB ,,alios
Hirse und die Leute Kohlen seien“, oder sie lachen und geben an, Angst
zu haben, oder sagen mit Tranen in den Augen, daB sie sich gut fiihlen;
dabei machen sie Gebarden, blinzeln mit den Augen, drehen mit
dem Kopf, wiederholen oft mehrmals die angefangene Phrase,
antworten aber ungern. Vom Weinen gehen sie rasch zum
Lachen iiber, das auch einen impulsiven, automatischen Charakter
tragt. Die Wein- resp. Lachanfalle nehmen dann zu und werden hau-
figer. Die Kranken werden unruhiger; es treten katatonische Erre-
gungen manieahnlichen Charakters auf; sie laufen, hiipfen, schiittebi
mit dem Kopf, Armen und Beinen, stellen sich mit dem Kopf herunter,
mit den Beinen hinauf, schlagen Purzelbaume, treiben Possen, gri¬
massieren; oder sie lachen monoton unaufhorlich oder briillen tierisch,
schreien immerfort sinnlose Worte aus. Werden dement, horen auf
zu arbeiten, sich fur die Umgebung zu interessieren, sprechen iiber
sich in der 3. Person. — Nach einigen Jahren sind die Kranken sehr
dement, unorientiert, beschaftigen sich mit nichts, interessieren sich
fur nichts, sind negativistisch, verkriechen sich in die Ecken und sitzen
dort, indem sie das Kleid auf den Kopf her iiber ziehen, geben auf Fragen
keine Antwort, ziirnen, schimpfen, gestikulieren, sprechen oft unauf¬
horlich mit sich selber sinn- und zusammenhanglos; bald lachen sie,
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
70
X. Skliar:
Digitized by
treibon Possen, zeigen die Zunge; bald schimpfen und schreien sie
auf die ganze Abteilung. Zeitweise sind sie aggressiv, bei Ben, spucken,
sind sehr unreinlich und tinsauber. — In einigen Fallen entwickelt
sich ein apathischer Schwachsinn.
In 2 Fallen begann die Kranklieit mit Angst. Nachher waren
bald Verwirrtheit und starke Angstzustande, wahrend deren die Kran-
ken an sich die Haare rissen, sich an dem Hals kratzten, Selbstmord-
versuche machten. Zeitweise wurden bei den Kranken manische Zu-
stande mit Lustigkeit, Beweglichkeit, Schwatzhaftigkeit etc. beobach-
tet. Nach 3, 4 Jaliren dement, apathisch, interessieren sich fiir nichts,
gehen im Zimmer zerzaust bin und her, lachen laut fiir sich, grimas-
sieren, sind negativistiscli.
Wir sehen also in den 2 angegebenen Spielarten der agitierten Form
zunachst stark ausgesprochene manische Ziige mit Reizbarkeit, geho-
bener Stimmung, Ideenflucht, Ablonkbarkeit, Rededrang u. dgl.,
ebenfalls auch melancholisehe Ziige, aber beide Zustande tragen einen
katatonen (automatischen, monotonen, sinnlosen, gezwungenen) Cha-
rakter. Bei den melancholischen Zustiinden zeigt sich dies darin, daB
dio Kranken keine Auskunft dariiber, was mit ihnen vorgeho, geben
konnen; weinen monoton sowolil dariiber, daB ihnen der Tod oder
eine Strafe bevorstehe, als auch dariiber, daB ,,alles Hirse und die Leute
Kohlen“ seien; oder weinen sowohl dariiber, daB sie ein Tier im Leibe
haben, als auch dariiber, daB man ihnen keinen Tabak gebe u. dgl.
Bei den manischen Zustanden drehen sich die Kranken oder trampeln
einformig an einer und derselben Stelle, hiipfen immer auf einem Bein,
schnalzen mit der Zunge, schlagen fortwiihrcnd Purzelbaume, lachen
fiirchterlich monoton u. dgl. Der Rededrang auBert sich darin, daB
die Kranken unaufhorlich die gleichen Ausdriicke, Worte, Silben oder
Buchstaben wiederholen oder unaufhorlich in unverstandlichen neu-
gebildeten Sprachen sprechen. Das gleiche driickt sich auch in der
Schrift aus. Die Scherze und Witze, die die Kranken machen, ent-
behren der echten Lebendigkeit, sind oberflachlich, sinnlos und tragen
einen clownmaBigen Charakter. — Andererseits beobachten wir bei
den Kranken katatonische Symptome: sie nehmen Posen ein, sind
negativistisch, zeigen wachserne Biegsamkeit u. dgl. — Der Verlauf
scheint der gleiche zu sein, wie beim manisch deprossiven Irresoin;
die meistcn Falle verlaufen periodisch; wenn man aber naher zusieht,
so treten dio Perioden ganz unregelmaBig auf, und es kommen bald
Remissionen, bald Exacerbationen, Aufregungen auf dem Boden
eines mehr oder weniger lang dauernden apathischen oder melan¬
cholischen Zustandes. — Der Endzustand ist in den meisten Fallen
eine agitierte Demenz in der Art manieahnlicher Erregung katato-
nischer Natur mit daneben verlaufonden katatonischen Sympto-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
tjber die katatonische Demenz und deren klinische Formen.
71
men. Es gibt aber auch einen Ausgang in eine tiefe apathische
Demenz.
Die manisch-depressiven Symptome eigenartiger, katatonischer
Farbung, der ganz unregelmaBige Verlauf und der Ausgang der Krank-
heit in eine zuweilen tiefe Verblodung, die in den meisten Fallen von
den angegebenen eigenartigen manisch-depressiven Ziigen katatoner
Natur begleitet wird, in anderen Fallen sogar einen apathischen Cha-
rakter tragt, berechtigen uns, diese Falle trotz ihrer scheinbaren Ahn-
lichkeit mit dem manisch-depressiven lrresein zur katatonischen De¬
menz zu zahlen.
b) Paranoiifonne Unterart.
(21 Falle, von denen 7 Manner und 14 Frauen.)
Dem Alter nach herrscht das Mannesalter vor; das jiingere und
das Greisenalter fehlen.
In 9 Fallen wechseln ruhige und agitierte Zustande. Wahrend
der Erregungszustande treten Wahnideen der Verfolgung und der
GroBe, Vorstellungen der korperlichen Beeinflussung, auch Halluzi-
nationen auf. Die Kranken sprechen Ideen aus, im Brote sei Faulnis;
die Mitkranken und Waiter wirken auf sie mit ihrem Blicke in beson-
derer Weise: die Speise sei vergiftet, man wolle sie umbringen, ihnen
denKopf abhauen, die Finger verdrehen; man impfe ihnen denDurch-
fall ein, elektrisiere sie etc. Es werden auch GroBenideen geauBert:
der Vater sei Baron, Kapitan und Dichter, Admiral. Eine Kranke
hielt sich fiir eine Himmelsbewohnerin, die zusammen mit Gott geschaf-
fen, mit der Arche Noahs auf die Erde gefallen, dann wieder in den
Himmel gehoben sei etc. Infolge der Wahnideen kommen die Kran¬
ken in groBe Erregung. Die Aufregungszustande wechseln mit apa¬
thischen oder stuporosen; oder es kommen Zustande vor, wahrend
deren sie besonnen, hypomanisch, lustig, schwatzhaft, beweglich oder
reizbar, unzufrieden sind. Dabei werden auch katatonische Erschei-
nungen, wie Negativismus, verwirrte, manierierte, schnarrende Rede,
gebundenes, unfreies Benehmen und Stellungen, beobachtet. Im
Endstadium sind die Kranken dement, halten sich fiir ganz jung,
orientieren sich schlecht in der Umgebung, sprechen mit sich selber,
sind unzuganglich, negativistisch. Zeitweise werden sie aufgeregt,
sprechen Verfolgungsideen aus: man schlage, beleidige, beraube sie,
trage sie nachts fort, wolle sie ermorden.
Weiter folgen 12 Falle, wo der Verlauf den circularen Formen des
manisch-depressiven Irreseins mehr ahnelt und wo die Stereotypien
eine groBe Rolle spielen. Die Krankheit beginnt mit einer Angst;
die Kranken sprechen hypochondrische Ideen aus, sind besonnen,
sprechen aber in einer gekiinstelten Sprache, grimassieren; zuweilen
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
72
N. Skliar:
Digitized by
werden sie etwas aufgeregt, machen eine Menge von Z wangs bewegungen:
ziehen die Lippcn aus, bewegen mit den Kopfhaaren, strecken die Zunge
vor und verstecken sie, heben und senken das Bein. Spater treten
zeitweise starkere Aufregungen auf; die Kranken ze^schlagen Schei-
ben, sind manieriert, sprechen Verfolgungs- und Beeinflussungsideen
aus, die immer komplizierter werden. Die Aufregungen nehmen immer
zu: die Kranken werden beweglich, sprechen viel, schirapfen liber
die Umgebung, aufiern, man onaniere sie, sauge ihnen das Blut aus,
sende ihnen Madchen zur Unzucht, breche ihnen die Hande, den Hals,
die Brust, den Riicken, das Geschlechtsglied, den After. Zuweilen
treten Depressions-, zeitweise umgekehrt hyporaanische Zustande
auf, als die Kranken aufdringlich, handelsuchtig werden, rasonieren,
denunzieren, sehr unternehmungslustig sind und GroBenwahnideen
aussprechen. In anderen Fallen zeigen sich Stcreotypien in Rede
und Schrift. Einige Kranke teilen monoton und einfbrmig mit und
schreiben taglich die gleichen Zettel mit einem gleichformigen und
unsinnigen Inhalt (,,die Finsternis verbietet zu essen und zu trinken,
der Warter verbietet zu essen und zu trinken, die Biene verbietet zu essen
und zu trinken etc. etc.* . Oder sie wiederholen in der Schrift nicht
nur einzelne Worte oder Satze, sondern noch hiiufiger einzelne Silben
und Buchstaben. — Nach vielen Jahren sitzen oder liegen die Kran¬
ken an einem und demselben Ort in der gleichen Haltung, antworten
nicht auf Fragen, interessieren sich wenig fiir die Umgebung; zuweilen
machen sie einformige Bewegungen. Sehr selten werden sie aufgeregt,
sprechen abrupte Wahnideen aus, grimassieren; die Sprache ist ver-
wirrt.
Wenn bisher die Wahnideen mit einem manieahnlichen Sym-
ptomenkomplex zusammenhingen und aus demselben entsprangen,
so haben wir noch 2 Falle von Wahnideen auf dem Boden eines melan-
cholischen Symptomenkomplexes, dessen Inhalt hypochondrische,
nihilistische und phantastische, auch Besessenheitsideen absurden
Charakters ausmachen. Ini Endstadium Apathie, vollige Gleich-
giiltigkeit, Unbeweglichkeit, Deiuenz; zeitweise Aufregung.
Wir sehen also bei den Fallen der paranoiiformen Unterart sehr
viele manische Symptome (gehobeue, zornige Stimmung, ein Rasonie¬
ren, Querulieren, eine Aufdringlichkeit, Neigung zur Handelsucht,
ein Rededrang, dessen katatonische Natur sich allerdings in unauf-
horlichen, einformigen Wiederholungen der gleichen Worte, Satze,
Ausdriicke stereotyp auBert), zuweilen auch depressive, wie wir sie
in der gleichen Weise bei den Fallen der agitierten Unterart antrafen.
Im Verlauf haben diese Falle auch Ahnlichkeit mit der agitierten Unter¬
art (sie verlaufen auch bald periodisch, bald circular); die Verblodung
schreitet hier ebenso langsam fort und die Kranken sind hierebenso
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
t)ber die katatonische Demenz und deren klinische Formen.
73
besonnen, es komraen .hier daneben katatonische Symptom?, insbe-
sondere stark ausgesprochene Stereotypien, ebenso wie bei der agi-
tierten Unterart. Was sie aber von der letzteren unterscheidet, ist
das Vorhandensein von vielen Walmideen, die sich noch im End-
stadium, allerdings in ganz abrupter, sinnloser Art, zeigen, weshalb
\vir sie als besondere paranoiiforme Unterart der agitierten Form
der affektiven Gruppe zurechneten.
Wir wollen jetzt versuchen, auf Grund des angefiihrten Materials
in betreff der im Anfange der Arbeit angegebenen Streitfragen SchluB-
folgerungen zu ziehen.
Wir beginnen mit der Frage der Benennung der Krankheit.
Der Name ,,Dem. praecox“ oder ,,Demence precoce“ wurde zuerst
von Morel (1860) der Geistesstorung im jugendlichen Alter gegeben.
Hecker benannte diese Krankheit ,,Hebephrenie“. Hebephrenie,
Katatonie und Dem. paranoides wurden im Jahre 1899 von Aschaf-
fenburg und Krapelin zu einer Krankheit untcr dem Namen der
Dem. praecox vereinigt. Einige Autoren nannten diese Krankheit
,,Dem. primaria", und Wolff gab ihr den nichtssagenden Namen der
Dysphrenie. Am meisten hat sich die Benennung ,,Dem. praecox' 4
eingebiirgert, aber es wurden gegen die Richtigkeit dieser Benennungen
Stimmen erhoben nicht nur seitens der Gegner der Krapelinschen
Schule, sondern auch Krapelin selber hat von Anfang an diese Be-
zeichnung nur als eine provisorische aufgostellt. Die Benennung -ward
als nicht zutreffend gehalten, weil die Krankheit, wie viele Autoren
hervorheben, nicht immer zum Schwachsinn fuhre, also keine ,,De¬
mentia" sei; auch trete sie oft nicht im jugendlichen Alter auf, sei
also auch keine ,,praecose“. Freilich sind wir mit der ersten Behaup-
tung gar nicht einverstanden; eine Demenz auf dem Gebiete der Ge-
fuhle wird bei dieser Krankheit noch in ihrem ganz friihen Stadium
beobachtet. Wenn eine solche fehlt, besonders in den spateren Stadien
der Psychose, muB man an eine falsch gestellte Diagnose denken. Wir
mussen aber den Autoren ganz recht geben, wenn sie die Bezeich-
nung der Krankheit als ,,praecox“ fur falsch annehmen. Zwar wird
hier das friihzeitige Alter in dem Sinne gedeutet, daB dasselbe nicht
nur die Zeit der Geschlechtsentwicklung, sondern auch die Periode
bis zum Stillstand des Korperwachstums, d. h. bis zum 25.—30. Jahre
umfaBt, worauf Aschaffenburg und Scholz hingewiesen haben.
Nun mussen aber die Altersgrenzen noch viel weiter ausgedehnt werden,
da es sich herausgestellt hat, daB diese Krankheit auch im kindlichen
und im spaten, sogar Greisenalter vorkommt, fiir die diese Benennung
gar nicht paBt. Und da sah man sich gezwungen, neben einer Dem.
praecox noch eine Dem. praecocissima, neben einer gewohnlichen
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
74
N. Skliar:
Digitized by
Katatonia (juvenilis) noch eine Katatonia tarda aufzustellen. Wir
raiissen noch hinzufiigen, daB diese Krankheit haufig auch noch im
Manne8alter vorkommt, so daB die Bezeichnung der Psychose als Dem.
praecox als unzutreffend gehalten werden mu B. Wir meinen, der Fehler
sei vor allem bei Aschaffenburg dadurch entstanden, daB er
bei der Vereinigung der Hebephrenie und Katatonie in eine Krank¬
heit mehr auf das Vorhandensein des jugendlichen Alters, als der kata-
tonischen Symptome achtete, was aber falsch ist, denn was diese beiden
Gruppen vereinigt, ist nicht das Alter, das verschieden sein kann,
sondern die katatonischen Symptome, die in beiden Gruppen gleich
vorhanden sind. — Das Richtigste ware, die Benennung der Krank¬
heit nach dem Wesen derselben zu geben. Das Wesen der Krankheit
ist aber nicht ganz klar. Zwar weisen alle Merkmale auf eine organische
Grundlage dieser Psychose hin, aber ein ganz klares pathologisch-
anatomisches Bild ist noch nicht gefunden worden. Noch ratselhafter
sind die chemischen Theorien iiber die Wirkung der Vergiftung, iiber
die Stoffwechselstorung (seitens der Geschlechtsorgane, der Schild-
driise etc., der inneren Sekretion). Einige Autoren geben eine psycho-
logische Begriindung des Wesens der Krankheit. Stransky sail in
der Dem. praecox eine Inkongruenz, Ataxie in der Verbindung der
Vorstellungen mit den Gefiihlen (der Noo- und Thymopsyche). Otto
Gross salt in ilir einen Zerfall des BewuBtseins, weshalb er sie Dem.
sejunctiva nannte. Auch Zweig nahm an, der Krankheit liege ein Per-
sbnlichkeitszerfall zugrunde, und gab ihr den Namen ,,Dem. disse-
cans“. Aus dem gleichen Grund nannte sie Bleuler ,,Schizophrenie“.
— Nun kann der BewuBtseinszerfall, Personlichkeitszerfall u. dgl.
durchaus nicht fur unsere Krankheit als spezifisch gelten, da diese
Erscheinung auch bei der Hysteric sehr oft beobachtet wird und von
Janet, Freud und zahlreichen anderen Autoren als charakteristisch
fiir das Wesen der Hysterie gohalten wird. Was speziell die Stran-
skysche Theorie iiber die Inkongruenz der Gefiihle und Vorstellungen
bei der Dem. praecox anlangt, so trifft sie fiir mehrere Falle zu; es gibt
aber viele andere Falle, wo wir eine vollstandige Apathie und Demenz
beobachtcn, die gar keinen Gefiihlsausdruck im Gesicht, keine Be-
wegungen hervorrufen, wo also eine vollstandige Kongruenz, Koordi-
iiation in der Vereinigung der verschiedenen psychischen Elemente
stattfindet. — Von einigen Autoren wird die Apathie als Grundlage
<ler Krankheit angesehen. Die Apathie kann, wie wir spater ausfiihr-
licher erortern werden, bei der Dem. katatonica in doppelter Weise
auftreten: 1. in dem Sinne abgeschwachten Stupors, und dann stellt
sie ein katatonisches Symptom dar; 2. als Herabsetzung bis Fehlen
der Gefiihle. Diese Apathie im letzteren Sinne kann wirklich die Ent-
stehung vieler Symptome bei dieser Krankheit, wie den Stupor, Nega-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
t)ber die katatonische Demenz und deren klinische Formen. 75
tivismus, Nahrungsverweigerung etc., erklaren; andere Erscheinungen
aber, wie die Stereotypien, die Impulsivitat, die Erregungszustande,
der Wechsel der Erregung rait Depression oder Gleichgiiltigkeit etc.,
konnen durch diese Gefiihlsstorung nicht erklart werden. — Also
konnen alle diese Theorien iiber das Wesen der Krankheit, so geist-
reich sie auch sein mogen, nicht als vollstandig zutreffend bezeichnet
werden, so da(3 es nicht statthaft ist, eine Benennung der Krankheit
nach dem problematischen Wesen derselben zu geben. Aber gesetzt,
es ware die wahre Unterlage der Krankheit sicher bekannt, so wird
die Benennung oft nicht nach der Pathogenese, sondem nach
irgendwelchen klaren, konkreten, am meisten charakteristischen
Merkmalen bezeichnet, zu denen hauptsachlich scharf in die Augen
springende Svmptome gehoren. So wird z. B. die Benennung der Dem.
paralytica, einer echt organischen Krankheit, nicht nach dem anato-
mischen Bild, sondern nach den wichtigsten Symptomen: der De-
menz und den Lahmungen, die nach der anderen Benennung (pro¬
gressive Paralyse) einen progressiven Charakter haben, gegeben. Ebenso
miissen w'ir auch unserer Krankheit eine Bezeichnung nach ihren
charakteristischsten Symptomen oder anderen wichtigen Merkmalen
geben. — Als krassestes, typisches Symptom resp. Symptomenkom-
plex, das in alien unseren Fallen beobachtet wird und somit als cha-
rakteristisches Zeichen der Krankheit dienen kann, miissen die kata-
tonischen Erscheinungen genannt werden. Ein weiteres wichtiges Merk-
mal dieser Krankheit ist der Ausgang in eine Demenz mit besonderen ka-
tatonischen Ziigen oder Residuen derselben. Auf Grund dieser beiden
hervorstechenden Merkmale halten wir es am passendsten, diese Krank¬
heit als katatonische Demenz (Dem. katatonica) zu benennen. —
Wir kehren somit zur urspriinglichen Bezeichnung zurtick, die Kahl-
baum dieser Krankheit gegeben hat, mit dem Unterschied, 1. daB
Kahlbaum sie moistens fur eine transitorische, in Genesung iiber-
gehende Krankheit rechnete, wahrend wir fiir sie als eine der charak¬
teristischsten Erscheinungen den Ausgang in eine Demenz, und zwar
eine eigenartigo halten, 2. daB Kahlbaum nur die orstere, eigentlich
katatonische (stuporose) Gruppe im Auge hatte, wahrend wir die Krank¬
heit im erweiterten Sinne auffassen und auch die affektive Gruppe
dazu rechnen, wohin die friihere sog. Hebephrenie, ein Teil der frii-
heren Dem. paranoides, die Dem. simplex, die Dem. praecocissima
und die Katatonia tarda der Autoren gehoren.
Wie ist die Dem. katatonica zu gruppieren?
Die gebrauchlichste Einteilung ist in 4 Gruppen: 1. die Dem. hebe-
phrenica, bei der akute Symptome der Erregung in maBigem oder star-
kem Grade vorhanden sind mit dem Ausgang in eine Demenz eigon-
artiger katatonischer Form gleichfalls maBigen (Heckersche Form)
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
76
N. Skliar:
Digitized by
oder starken Grades (Daraskewiczsche Form), 2. die Dem. katato-
nica mit stark ausgesprochenen katatonischen Symptomen, 3. die
Dem. paranoides mit Wahnideen, moistens der Verfolgung und 4. die
Dem. simplex, bei der die psychischen Funktionen unmerklich ver-
oden, wobei akute Symptome nicht beobachtet werden. — In der letzten
(8.) Auflage seines Lehrbuches (1913) gibt Krapelin 10 Gruppen
der Dem. praecox an. — Diese letzte Krapelinsche Gruppierung
ist eigentlich die gleiche, wie die friihere; nur ist sie ausfiihrlicher,
detaillierter, und das ist eher ein Nachteil als ein Vorzug. Nun konnen
wir aber auch die friihere Krapelinsche Gruppierung nicht fur zweck-
mafJig erachten, vor allem und hauptsachlich deswegen, weil derselben
kein einziges einheitliches Prinzip, sondern 2 ganz verschiedene Prin-
zipien, wie z. B. das Alter der Heckerschen Hebephrenie einerseits.
und die Symptome, wie der katatonische Symptomenkomplex, der
Kahlbaumschen Katatonie andererseits zugrunde liegen. Diese
Gruppierung ist ferner noch deswegen unzweckmaBig, weil sie einer¬
seits zahlreiche Falle enthalt, die gar nicht zu dieser Krankheit gehoren,
wie z. B. die Dem. paranoides im friiheren Sinne, andererseits aber alle
diejenigon Falle nicht umfaCt, die sie enthalten sollte: in betreff des
Alters besagt sie nichts fiber die Spatkatatonien oder die kindlichen
Katatonien; in betreff der Symptome besagt sie nichts fiber die depres-
siven oder manischen Formen. ZweckmaBiger ware es, der Gruppierung
ein einheitliches Prinzip (entweder des Alters oder der Symptome)
zugrunde zu legen. Dem Alter nach die Gruppierung durchzufuhren,
erscheint ganz unmoglich, daim gleichen Alter,z. B. von 20—30 Jahren,
in dem diese Krankheit am haufigsten vorkommt, verschiedene For¬
men derselben beobachtet werden, nicht nur nach unserer, sondern
auch nach der friiheren K rapelin-Bleulerschen Gruppierung:
so tritt die gleiche Katatonie sowohl im jungen, im Mannes-, als auch
im hoheren Alter (die Spatkatatonie). Wir halten deswegen fiir richtig,
die Falle nach den Symptomen zu gruppieren, und wir legten auch dieses
Prinzip unserer Einteilung der Krankheit in besondere Formen zu¬
grunde. Allerdings stiitzten wir uns dabei nicht nur auf die Sym-
ptome, sondern auch auf einen besonderen Verlauf und Ausgang, den
wir bei jeder Gruppe, Untergruppe und Spielart beobachten konnten.
Als das wichtigste Symptom, das fiir die ganze Krankheit cha-
rakteristisch ist, nannten wir die katatonischen Erscheinungen. In
einer Gruppe findet man dieselben in typischer, reinster Form, ohne
Beimischung anderer Symptome. Das ist die stuporose oder kata¬
tonische Gruppe im engeren Sinne. In einer anderen Gruppe (affek-
tiven) kommen zu den katatonischen Erscheinungen viele affektive
Symptome (manische, depressive oder beide zugleich) hinzu (die Dem.
katatonica affectiva). Die 1. (stuporose resp. katatonische) Gruppe
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
tlber die katatonische Demenz und deren klinische Formen. 77
zeichnet sich durch den Ausgang in eine apathische, die 2. (affektive)
Gruppe durch den Ausgang in eine erregte manieahnliche Verblo-
dung aus.
Die katatonische resp. stupordse Gruppe zerfallt a) in die stuporose
Untergruppo, wo der Stupor in reinster Form auftritt, und b) in die
apathische Untergruppe, wo der Stupor in abgeschwachter, weniger
intensiver Form vorhanden ist. Jede dieser Untergruppen teilt sich
in je 2 Spielarten: in eine einfache, wo es einen bestandig vorhandenen
stuporosen resp. apathischen Zustand gibt (die stupordse resp. apa¬
thische Form), und in eine kompliziertere, wechselnde Spielart, wo
ein stuporoser resp. apathischer mit einem erregten Zustand abwechselt
(stupords-agitierte resp. apathisch-agitierte Form).
Die affektive Gruppe wird in 2 groBe Untergruppen eingeteilt:
die agitierte resp. manische und die paranoiiforme. Die agitierte Unter¬
gruppe zeichnet sich durch manisch-depressive Symptome aus und
zerfallt in 3 Spielarten: a) eine depressive (mit melancholieartigen
Symptomen, (i) eine hypomanische (mit hypomanischen Symptomen),
y) eine agitierte im engeren Sinne mit einer chronischen und perio-
dischen Unterform. — Die paranoiiforme Untergruppe wird auBer
den manisch-depressiven Symptomen hauptsachlich durch Wahn-
ideen und durch stark ausgepragte Stereotypien charakterisiert.
Aus dieser Gnippierung sehen wir, daB die Hebephrenie, die zu
Zeiten Heckers und Kahlbaums als eine besondere, selbstandige
Krankheitsform gait, und spater zu Zeiten Krapelins zu einer beson-
deren Gnippe der Dem. praecox wurde (als Dem. praecox hebephre-
nica), bei uns noch mehr eingeengt wird, indem sie zur Spielart (hypo¬
manischen) einer Untergruppe (agitierten) der affektiven Gruppe der
Kranklieit wird.
Der leidenschaftliche Streit daruber, ob gewisse Falle, wo neben
katatonischen noch manisch-depressive Symptome vorhanden sind,
zur Dem. praecox oder zum manisch-depressiven Irresein zu rechnen
sind, muB nach unseren Ausfiihrungen als ganz iiberfliissig betrachtet
werden, da es sich erweist, daB es sehr viele Falle, ja eine ganz groBe
Hauptgruppe der Dem. katatonica gibt, die wir als affektive bezeich-
nen und die eben durch das Vorhandensein von vielen manisch-depres¬
siven Symptomen (neben katatonischen, die allerdings die gnmdlegenden
sind und ihren Stempel auch auf die ersteren aufdriicken) sich aus-
zeichnet.
Die Falle, die Krapelin friiher zur paranoiden Demenz, als beson-
<lerer Hauptgruppe der Dem. praecox rechnete, wenigstens ein Teil
derselben, stellen sich nach unserem Material als solche nicht lieraus,
da sie in die affektive Gruppe, mit der sie so viele Punkte gemein haben,
als besondere Unterart einer Untergruppe (agitierten) derselben ein-
Digitized by Got >gle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
78
N. Skliar:
Digitized by
gehen. Freilich gibt es noch andere Fall© von Kranken, die systema-
tisiertere Wahnideen haben, bosonnener sind, geordneter sich benehmen,
weniger katatonische Symptom© aufweisen, nicht so dement sind.
Dio Fall© dieser Art zahlte Krapelin die letzte Zeit zu den sog.
Paraphrenien, die aber mit der Dem. paranoides nicht identisch sind,
so daB man die Dem. paranoides als besondere Hauptgruppe der Dem.
praecox fallen lassen muB').
Die sog. Dem. simplex, die fruher als eine der 4 Hauptgruppen
der Dem. praecox gait, hat sich nach unserem Material am allermin-
desten als solch© herausgestellt und kann durchaus nicht als einheit-
liche Form gerechnet werden. Die allermeisten Falle erweisen sich
als eine besondere, allmahlich und unmerklich sich entwickelnde Spiel-
art der stuporosen (katatonischen) Gruppe; ein anderer Teil der Falle
der Dem. simplex stellt sich als leichteste, einfachste Form der hypo-
manisch-affektiven Untergruppe (der fruheren sog. Hebephrcnie)
heraus.
Die sog. ,,Spatkatatonie“ fallt bei uns aus, da sie sich in nichts von
anderen Fallen der Katatonie unterscheidet. Es ist sogar keine ein-
heitliclie Form, da ein Teil der Falle zur stuporosen Spielart der 1.
(katatonischen) Gruppe gehort; ein anderer Teil der Fall© im hoheren
Alter erhalt eine depressive Farbung und gehort zur depressiv-affek-
tiven Untergruppe.
Ebenso unterscheiden sich nicht die Falle im kindlichen Alter
(die sog. Dem. praecocissima) von anderen Fallen der stuporosen
(katatonischen) Gruppe.
Wir komrnen jetzt zur Frage, ob die katatonische Demenz (die
Dem. praecox anderer Autoren) als eine einhoitliche, besondere, gut
abgegrenzte Krankheitsform angesehen werden kaxni? — Viele Autoren
meinten fruher und einige meinen noch jetzt, besonders in RuBland,
es liege hier keine besondere Krankheitsform vor, und die katatonischen
Erscheinungen seien hier nur ein bloBer Symptomenkomplex, der
bei den verschiedensten Krankheitsformen vorkomme, was wir aber
fur ganz unrichtig halten. Die bei unseren Fallen vorkomraenden
typischen, klassisch ausgesprochenen katatonischen Symptom© sind
kein bloBer Symptomenkomplex, sondern liegen im Wesen der Krank-
heit und sind fur dieselbe ebenso charakteristisch, wie z. B. der Exoph-
thalmus, die Struma und die Tachykardie fur die Basedowsche Krank-
heit charakteristisch sind. Wenn wir durchaus nicht der Ansicht sind.
daB man nach einzelnen Symptomen Krankheiten abgrenzen kann,
so darf doch andererseits die Bedeutung der fur eine Krankheit bezeich-
1 ) Unserer Ansicht nach gehoren diese Falle einer besonderen Spielart der
chronisch-manischen Form des manisch-depressiven Irreseins an.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
t)ber die katatonische Demenz und deren kliuiscke Formen. 79
nenden, pathognomonischen und aus dem Wesen derselben entsprin-
genden Grundsymptome durchaus nicht unterschatzt warden. Das
Wesen aber der Dein. katatonica, als besondere Krankheitsform,
erblicken wir — was hier nur kurz gestreift werden soil — darin, daB
das zentrale Nervensystem sich bei der katatonischon Demenz in
einem mehr oder weniger dauernden gesteigerten Spannungszustand
befindet, der sich eben in der Form von katatonen Symptomen auBert
und daB dasselbe dann zeitweise plotzlich in einen Entspannungs-
zustand verfallt, sich in der Form einer anderen fur die Dem. katato¬
nica wichtigen Erscheinung, der katatonischen Erregung, entladend,
die auch einen automatischen Charakter tragt. Und dadurch erklart
sich der fur die katatonische Demenz besonders charaktoristische
klinische Verlauf, der sich durch den Wechsel von Stupor- resp. apa-
thischen (auf Spannungserscheinungen beruhend) mit plotzlichen,
automatischen Erregungszustanden (auf plotzlicher Entspannung,
Entladung der lange aufgespeicherten Energie basierend) auszeichnet.
Es ist eine Ansicht, worin wir mit Kahlbaum ganz uberdnstimmen,
der bei seiner Aufstellung dieser Krankheit sogleich sehr treffend
auf den Spannungszustand des Muskel- resp. Nervensystems hinwies
und sie deswegon nach dem von ihm vermuteten Wesen derselben
als Katatonie resp. Spannungsirresein bezeichnete. Worauf dieser
Spannungszustand beruht, wissen wir allerdings nicht. Es muB diesem
Zustande eine organische Unterlage zugrunde liegen, woriiber nur
Vermutungen angestellt werden konnen.
Also muB die Dem. katatonica als eine besondere Krankheits¬
form angesehen werden nach dem charakteristischen Symptomen-
bild und nach dem klinischcn Verlauf, der sich durch den Wechsel
von apathischen resp. stuporosen mit automatischen Erregungszu¬
standen auszeichnet, was auch meistens noch im Endstadium der
Krankheit beobachtet wird. Der Endzustand ist bei dieser Krank¬
heit noch insofern charakteristisch, als er eine von katatonischen Sym-
ptomen oder Residuen derselben begleitete Verblodung aufweist.
Alle diese Erscheinungen sehen wir am ausgepragtesten bei der
stuporosen (katatonischon) Gruppe, die eben Kahlbaum im Auge
hatte, als er seine Katatonie in diesem eng begrenzten Sinne, und zwar
unrichtigerweise in heilbarer Form, aufstellte. Wir sehen aber, daB
unsere affektive Gruppe, die die friihere sog. Hebephrenie und viele
katatonische agitierte Formen umfaBt, trotz der Beimischung von
fur diese Krankheit fremdartigen Symptomen, wie die manisch-melan-
cholischen, auch die gleichen typischen katatonischen Symptome,
den gleichen Wechsel von apathisch-depressiven und manieahnlichen
impulsiven Erregungszustanden und besonders den gleichen Ausgang
in eine charakteristische Verblodung katatoner Art, allerdings mit
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
80
N. Skliar:
Digitized by
einigen nebensachlichen, fiir diose Falle als eine besondere Gruppe
charakteristisierenden Abweichungen, zeigt. Was die Dem. paranoides
betrifft, haben wir sie als nicht zur katatonischen Deraenz gehorig
von unserer Betrachtung ausgeschlossen.
Wir sehen somit in der Dem. katatonica eine charakteristische,
in sich geschlossene Krankheitsform. Es fragt sich nun weiter, wie
weit die Grenzen der Krankheit nach auBen gezogen werden konnen?
Wir haben bereits im Beginn unserer Arbeit erwahnt, daB die Dem.
katatonica von einigen zu eng, von anderen zu weit gefaBt wird.
Btsonders schwierig ist die Abgrenzung der Krankheit von dem manisch-
depressiven Irresein, da bei beiden Krankheiten die Symptome die
gloichen sein konnen, indem bei der Dem. katatonica haufig manisch-
depressive 1 ) und beim manisch-depressiven Irresein nicht selten
katatonische Symptome vorkommen. In solchen Fallen meinen
einige Autoren, wie z. B. Bleuler, Urstein, daB man bei Vor-
handensein von katatonischen und manisch-depressiven Symptomen
bei der Diagnosenstellung dan katatonischen den Vorzug geben
und die Falle zur katatonischen Demenz rechnen miisse. Andere
Autoren, wie DreyfuB, Willmanns u. a., denken im Gegen-
teil, es handle sich hier um manisch-depressives Irresein. Die einen
Autoren legen also mehr Gewicht auf die einen (z. B. katatonischen),
die anderen Forscher halten fiir wichtiger die anderen (z. B. manisch-
depressiven) Symptome. Nun erweist es sich aber bei naherem Zusehen,
daB die Symptome bei beiden Krankheiten trotz ihrer iiuBeren Ahn-
lichkeit in Wirklichkeit gar nicht identisch und je nach dem Charakter
der Krankheit, wo sie entstehen, ganz verschiedener Natur sind. So
sind die katatonischen Symptome bei der katatonischen Demenz
echt katatonisch, namlieh affektlos, automatisch, sinnlos, monoton,
einformig. Beim manisch-depressiven Irresein aber sieht man, daB
elie katatonischen Symptome einen Zweck haben, einen Wunsch, Ab-
sicht der Kranken ausdriicken, von gewissen Motiven geleitet werden.
So sieht man in dem Negativismus einen Wunsch der Kranken aus
irgendwelchen Griinden Widerstand zu leisten, das Gegenteil zu tun;
ihr Mutismus boruht auf einem Zorn- oder irgendeinem anderen Affekt,
infolgedessen sie nicht sprechen wollen; in der Zuriickhaltung des
Harns und der Exkremente im Klosett einerseits und in der Unrein-
lichkeit und der Unsauberkeit im Bett andererseits sieht man den
Wunsch bei den Kranken, andere zu argern, zu reizen, Unfug anzu-
richten usw. — Ebenso sind auch die manisch-depressiven Symptome
*) Wir sahen, daB auch in unseren Fallen viele manisch-depressive Symptome
vorkommen, und daB es sogar besondere Formen gibt, wo es solcher Symptome
besonders viele hat und wo der Verlauf sogar ein ahnlicher ist wie beim manisch-
depressiven Irresein (wir rechneten diese Falle zur affektiven Gruppe).
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Cber die katatonische Demenz and deren klinische Formen.
81
beim manisch-depressiven Irresein nicht die gleichen wie bei der Dem.
katatonica. Bei der ersten Krankheit sind die manischen Symptome
mit einer echten Lebhaftigkeit, einer Beschleunigung im Ablauf aller
psychischen Prozesse verbunden; sie haben einen Sinn, sind zweck-
maBig, verlaufen frei ohne jede Hemmung, ohne jede Gebundenhoit,
hangen ausschlieBlich ab vom Grad der gehobenen, lustigen oder zornigen
Stimmung, aus der sie entspringen. Die raelancholischen Symptome
tragen beim manisch-depressiven Irresein den Stempel einer Verlang-
samung aller psychischen Funktionen, die auch ausschlieBlich durch
den Charakter des depressiven Affektes, aus dem sie entspringen,
erklarbar sind. Bei der Dem. katatonica aber sahen wir, daB die mani¬
schen resp. melancholischen Symptome einen gebundenen, unfreien,
gezwungenen, monotonen, einformigen Charakter haben und der echten
Affektivitat entbehren; der Ausdruck der Gesichtsziige, der Charakter
der Handlungen der Kranken scheinen den Gefiihlon, den Worten
derselben gar nicht zu entsprechen, oder sind zweideutig, karikiert.
— Aber nicht nur symptomatologisch bestehen Ahnlichkeiten unter
diesen beiden Krankheiten. Auch der Verlauf kann analog sein.
So sahen wir, daB die affektive Gruppe der katatonischen Demenz
den gleichen periodischen, circularen Verlauf haben kann, wie das
manisch-depressive Irresein. Nichtsdestoweniger besteht ein Unter-
schied unter diesen beiden Krankheiten auch in dioser Beziehung.
Die Anfalle des manisch-depressiven Irreseins treten in vielen Fallen,
hauptsachlich in der ersten Zeit der Krankheit, mit einer bestimmten
RegelmaBigkeit nicht nur in der Zeit, sondern auch im Charakter
derselben (depressiv oder manisch, oder circular, oder gemischt) auf.
Zwar nehmen die Perioden nachher zu, die Intervalle werden kiirzer,
tier Charakter der Anfalle kann sich amlern, aber auch darin zeigt
«ich eine gewisse GesetzmaBigke.it, die durch don Fortschritt der Krank-
hait sich erklaren laBt. Bei der Dem. katatonica aber sind die Anfalle
sowohl im Beginn, als auch im weiteren Verlauf der Krankheit ganz
unregelmaBig und ungeordnet. Was die Intervalle betrifft, so sind
die manisch-dopressiven Kranken wahrend derselben ganz besonnen,
benehmen sich normal und zeigen auBer einer gesteigerten Nervo-
sitat und einigen psychopathischen Eigentiimlichkeiten keino psy-
chotischen Defekte. In den Remissionen aber der Dem. katatonica
wird bei den Kranken trotz ihres ruhigen und besonnenen Zustandes
eine Abnahme der Affektivitat (Apathie), der Willenstnergie, eine
Gebundenheit in allem, ein intellektueller Defekt in irgendwelcher Be¬
ziehung, in manchen Fallen Residuen von katatonischen Symptomen
beobachtet. — Das gleiche muB auch in betreff des Ausganges der
Krankheit gesagt werden. Beim manisch-depressiven Irresein ist
der Ausgang jedes Anfalles im einzelnen in den mciston Fallen, wenig-
Archlv ftlr Pa.vchlatrle. Bil. 67 6
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
82
X. 8kliar:
Digitized by
stens im Anfange dor Krankheit, ein giinstiger, zieht nach sich koine
Verblodung, weder in intellektueller nock in affektiver Hinsicht. Wemi
os auch Ftillo gibt, besonders in veralteten Formen, die einen protra-
hiorton Verlauf annehraen und in denen einige Deraenz zu merken ist,
so ist sie doch nicht so tiefer Natur und entbehrt ganz der katatoni-
schen Ziige. Bei der Dem. katatonica abor ist der Ausgang immer
eine starkere oder goringere Deraenz, und Defekte in der Form von
Apathie, Willenlosigkeit, Gebundenheit und anderen katatonischen
Erscheinungen werden sogar im Endstadium der Krankheit, als die
akuten Syraptorae langst abgelaufen sind, beobachtet.
Litcratur.
Aschaffenburg: Die Katatonie. Allg. Zeitschr. f. Psyehiatr. u. psych. -
gerichtl. Med. 55, 1898. — Aschaffenburg: Die Katatoniefrage. Allg.
Zeitschr. f. Psyehiatr. u. psych.-gerichtl. Med. 54, 1897. — Binswanger
und Siemerling: Lehrhuch der Psychiatric. 2. Aufl. Jena 1907. — Bleuler,
E.: Dementia praecox. Handb. d. Psyehiatr., herausgegeben von Aschaffenburg.
Leipzig und Wien 1911. — Bonhoffer: Cher ein eigenartiges, ojK'rativ besei-
tigtes katatonisches Zustandsbild. Zentralbl. f. Xervenheilk. u. Psyehiatr. 1903.
— Brosius: Die Katatonie. Allg. Zeitschr. f. Psyehiatr. u. psych.-gerichtl. Med.
1876. —Daraszkiewicz: tlber Hebephrenic, insbesondere deren schwere Form.
Dorpat 1892. — Diem: Die einfach demente Form der Dem. praecox. Arch. f.
Psyehiatr. u. Nervenkrankh. 37, 1903. — Gaupp: Zur prognostischen Be-
deutung der katatonischen Erscheinungen. Zentralbl. f. Xervenheilk. u. Psyehiatr.
1903. — Gross, O.: Zur Xomenklatur „Dem. sejunctiva“. Xeurol. Zentralbl.
1904. — Gross, O.: Ober BewuBtseinszerfall. Monatsschr. f. Psyehiatr. u.
Xeurol. 15, 1904. — H ecker: Die Hebephrenie. Virchows Arch. f. pat hoi. Anat.
u. Physiol. 52. — Jahrmarker: Zur Frage der Dem. praecox. Halle 1903. —
Jung: l)ber die Psychologic der Dem. praecox. Halle: Marhold 1907. —Kahl-
baum: Die Katatonie oder das Spannungsirresein. Berlin: Hirschwald 1874. —
Kahlbaum: Cher Heboidophrenie. Allg. Zeitschr. f. Psyehiatr. u. psych.-ge¬
richtl. Med. 46, 1890. — Krapelin: Lehrbuch der Psychiatric. 8. Aufl. 3.
Leipzig: Barth 1913. — Krapelin: Zur Diagnose und Prognose der Dem. prae¬
cox. Allg. Zeitschr. f. Psyehiatr. u. psych.-gerichtl. Med. 56, 1899. — Xeisser:
Katatonie. Stuttgart: Enke 1897. — Xeisser: Zur Dem. praecox-Frage. Psy-
chiatr.-neurol. Wochenschr. 1909/1910. — Xissl: Hysterische Symptome bei
einfachen Seelenstorungen. Xeurolog. Zentralbl. 1902. — Ossipow: Kahlbaums
Katatonie. Kasan 1907 (russ.). — Riicke: Katatonie im Kindesalter. Arch. f.
Psyehiatr. u. Xervenkrankh. 1909. — Schroder: Die Katatonie im hoheren
Lebensalter. Xeurolog. Zentralbl. 1902. — Schiile: Zur Katatoniefrage. Allg.
Zeitschr. f. Psyehiatr. u. psych.-gerichtl. Med. 1898. — Schiile: Klinische Bei-
trage zur Katatonie. Allg. Zeitschr. f. Psyehiatr. u. psych.-gerichtl. Med. 1901.
— Serbsky: Formen psychischer Storung, die unter dem Xainen der Katatonie
beschriebcn sind. Moskau 1890 (russ.). — Siemerling: Diskussion im Vorein
der deutschen Irrenarzte. Allg. Zeitschr. f. Psyehiatr. u. psych.-gerichtl. Med.
56, S. 260, 1899. — Sommer: Klinische Psychiatrie. Halle 1906. — Stransky:
Zur Kenntnis gewisser erworbener Blodsinnsformen, spez. der Dem. praecox.
Jahrb. d. Psyehiatr. u. Xeurol. 24. 1904. — Stransky: Zur Auffassung gewisser
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Ober die katatonische Demenz und deren klinische Formen.
NS
Symptom© der Dem. praecox. Neurolog. Zentralbl. 1904. — Stransky: Dem.
tardiva. Ein Beitrag zur Klinik der Verblodungspsychosen. Monatsscbr. f.
Psychiatr u. Neurol. 18, 1905. — Trbmner: Das Jugendirresein. Halle: Mar-
hold 1900. — Urstein, M.: Die Dem. praecox und ihre Stellung zum manisch-
depressiven Irresein. Berlin u. Wien 1909. — Wernicke: GrundriB der Psy¬
chiatric. Leipzig 1900. — Wernicke: Diskussion im Verein der dcutschen Irren-
arzte. Allg. Zeitschr. f. Psychiatr. u. psych.-gerichtl. Med. 58, S. 642, 1899. —
Weygandt: Alte Dem. praecox. Zentralbl. f. Nervenheilk. u. Psychiatr. 27, 1904.
— Wolff: Zur Frage der Benennung der Dem. praecox. Zentralbl. f. Nerven¬
heilk. u. Psychiatr. 1908. — Zablocka: Prognosestellung bei der Dem. praecox.
Berlin: Reimer 1908. — Ziehen: Psychiatric. 2. Aufl. Leipzig 1902.
6 *
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(Aus der Universitats-Oliren- und Kehlkopfklinik [Direktor: Geh. Med.-Rat
Prof. 0. Korner] und der Psvchiatrischen und Nervenklinik [Direktor: Prof.
M. Rosenfeld] an dor Universitat Rostock.)
Digitized by
PberuiigewohnlichlokalisierteEncephalitisformen nachGrippe.
Mit einem Beilrag fiber das Symptom der Adiadnchokinese.
Von
Kurt Marquard, Volont&rarzt
der Psychiatrischen und Nervenklinik.
(Eingegangen am 31. 8. 1922.)
Unter den Folgezustanden der Grippe, die sieh am Zentral-Nerven-
system abspielen, rangieren Kleinhirnstdrungen und striare Symptome
hinter den Affektionen des zentralen Hohlengraues im dritten und
vierten Ventrikel und am Aquaedukt sowie der Pons etwa an dritter
Stelle (Grunewald 1 ) u. a.).
In einer Zusammenstellung von selteneren Formen der akuten, nicht
eitrigen Encephalitis bespricht G. Henning 2 ) die besonders geartete
Symptomatologie einiger Verlaufsarten dieser Erkrankung, die z. T.
durch eine ungewohnliche Lokalisation hervorgerufen waren, z. T.nur
cine besondere individuelle Reaktion zum Ausdruck bracktcn.
Von den dort angefiihrten Fallen sei einiger hier kurz Erwahnung
getan: *
Ein 59jahriger Fabrikarbeiter (von Spielraeyer beobachtet), fruher
stets gesund, erkrankte mit Krampfanfallen und kloni.-chen Zuckungen,
die im linken Arm begannen und in die unteren Extremitatcm iiber-
gingen. Das Betvulitsein war bei dic.sen Anfallen nicht aufgehoben.
Es enttvickelte sich eine rasch zunehmende Sprachstorung, Benommen-
heit, Unruhe, Facialisparese rechts, ohnc Pyramidenbahnreflexe. Der
Totl erfolgte in dcliranter Benommenheit 14 Tage nach Auftreten der
ersten Symptome. Bei der Hirnscktion fanden sich die aulleren Par-
tien der weiCen Subatanz von einer groBen Zahl runder grauer Einla-
gerungen durchsetzt, die in den pcripheren Partien des Zentrum Vieus-
senii am zahlreichsten waren, weniger in der Rinde. Auch das Mark-
1) Zeitschi'. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 2', 4. 1921.
2 ) Arch. f. Psychiatr. u. Nervenkrankh. .‘>3. Hierin auch weitere Literatur-
augabo zum vorliegendcn Thema.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
K. Marquard: t)ber ungewohnlich lokalisierte Encephalitisformen nach Grippe. 85
lager der Kleinhirnhemispharen war stark betroffen. Hirnstamm und
Riickenmark ganz frei von solchen Einlagerungen.
Bei einem anderen Fall Spielmeyers, der klinisch als Tumor
cerebri aufgefaBt war, ergab erst die Sektion das Vorliegen einer akuten
Encephalitis. Ein junger Mann erkrankte aus voller Gcsundheit heraus
ganz plotzlich an schweren Gehirnerscheinungen. Heftige Rindenan-
f&lle mit Bewu Btseinsverlust und ansehlieBenden Erregungszustanden
traten auf. In wenigen Tagen erfuhren die Symptome eine enorme
Steigerung, die Krampfe waren fast kontinuierlich, das BewuBtsein
getriibt. Bald stellten sich in den von den Krampfen befallenen Muskel-
gebieten (Gesicht, Zunge) Lahmungen ein. Nach mehrtagigem, ticfem
Koma todlicher Ausgang. Auffallend ist, daB sich in der Anamnese
fiir eine vorausgegangene infektiose Erkrankung kein Anhaltspunkt
findet; doch vermag dies anscheinende Fehlen ebensowenig wie die
anfangs normale Temperatur die Diagnose zu erschiittern. Jedenfalls
konnte nur an eine durchaus atypischc Verlaufsform des Tumors ge-
dacht werden, da die fiir Hirndruck charakteristischen klinischen Er-
scheinungen fehlten. Die Sektion ergab keine makroskopischen Befunde;
mikroskopisch fanden sich Rundzellenfiltrate der GefaBwande, ins-
besondere im unteren Drittel der rechten motorischen Region.
Eine rezidivierende Encephalitis lag vor in einem Fall von Laache:
Bei einer 34jahrigen Frau, die vor neun Jahren an rechtsseitiger Hemi-
parese und Aphasie erkrankte, welch letztere sich allmahlich voll-
standig wieder behoben hatten, stelltc sich wiederum rechtsseitige
Parese ein, die rasch zunahm. Unter BewuBtseinstriibung, klonischen
Krampfen, Kontraktur des gelahmten Armes trat nach wenigen Tagen
der Tod ein. Die Sektion ergab hinter der linken Zentralfurche zwei
subkortikal gelegene Herde mit Detritus. In der Umgebung diffuse
encephalitische Veranderungen. —
DaB dem Bilde des sog. ,,Pseudotumor cerebri“ auch gelegentlich
eine Encephalitis zugrunde liegen kann, dafiir spricht eine Beobach-
tung M. Rosenfelds. Die Kranke zeigte Symptome, die fiir eine Hirn-
geschwulst zu sprechen schienen. Insbesondere lieB sich das Auftreten
einer Stauungspapille in diesern Sinne verwerten. Die Erkrankung ging
aber in Heilung liber; nach einigen Jahren erlag Patientin einem Unter-
leibsleiden entziindlicher Natur, und die Untersuchung des Gehirns
ergab nun die Zeichen einer abgelaufenen Encephalitis, vornehmlich
im Bereich.des Tractus opticus, bisgegen das Pulvinar und Corpus
geniculatum hin. Die iibrigen Teile des Gehirnes — Nucleus lentiformis,
Pons und Medulla — waren normal.
Rosenfelds Beobachtung zeigt eine unverkennbare Ahnlichkeit
mit mehreren der als Pseudotumor cerebri beschriebenen Falle und
ist wohl geeignet, einige gegen die Annahme einer Encephalitis gemach-
Digitized by Goe)gle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
8G K. Marquard: t T ber ungewohnlich lokalisierte Encephalitisformen nach Grippe.
Digitized by
ten Bedenken zu zerstreuen. Sie zeigt insbesondere, daB das Vorhanden-
sein einer Stauungspapille, das bisher gegen die Annahme einer Ence¬
phalitis angefiihrt wurde, auch bei Encephalitis vorkommen kann.
Drei Falle von Henning seien noch kurz angefiihrt: Bei einem
Manne ira mittleren Lebensalter trat im Zusammenhang mit einer
fieberhaften Erkrankung ziemlich plotzlich Kopfschmerz mit Nacken-
steifigkeit, Erbrechen, Pulsverlangsamung, Miidigkeitsgefiihl in den
Beinen und Gefiihl von allgemeiner Hinfalligkeit auf. Dazu gesellten
sich Augensymptome, Facialisparese, spastische Parese der linkssei-
tigen Extremitaten und Sensibilitatsstorungen. Sensorium war getriibt;
Fieber bestand nicht. Im linken Arm und Bein traten Zuckungen auf.
Die Benommenheit ging wieder zuriick; Augenstbrungen und Parese
des Armes, schlieBlich auch des Beines begannen sich zuriickzubilden,
nachdem schon vorhcr die motorischen Reizerscheinungen fortge-
blieben waren.
Bei dem zweiten Fall, einer Patientin Stallmanns, berichtet die
Yorgeschichte der in mittlerem Lebensalter stehenden Frau von erb-
licher Belastung: Vater starb an Gehirnerweichung, Mutter an Hirn-
schlag. Eine Schwester war geisteskrank, Patientin selbst litt in friiheren
•Tahren dreimal an Anfallen leichtcr geistiger Stoning. Die Erkrankung
der Frau setzte ohne nachweisbare Ursache plotzlich mit hochgradiger
Aufregung, wirren Reden und starkem Bewegungsdrang ein. Patientin
schlief nicht, nahm keine Nahmng zu sich. Sie wurde gewalttatig,
zerriB erreichbare Gegenstandc. Nach mehreren Tagen ruhiger, apa-
thisch. Die Untersuchung ergab Temperaturerhohung, Steigerung der
Sehnenreflexe: die rechten Extremitaten spannte Patientin im Gegen-
satz zu den linksseitigen beim Aufhcben nicht an. Im linken Arm klo-
nLsche Zuckungen, spater heftige Krampfanfalle in der linken Korper-
halfte. BewuBtsein aufgehoben. Puls beschleunigt. Unter liinzutre-
tenden Lungen- und Herzerscheinungen trat der Tod ein, im unmittel-
baren AnschluB an einen letzten Anfall mit klonischen Zuckungen,
diesmal im rechten Facialis und Arm. Die Autopsie ergab eine Ence¬
phalitis acuta haemorrhagica, die liauptsachlich die Rinde des rechten
Stirnlappens und der Zentralwindung betroffcn hatte. Das Herz wies
Anzeichen einer beginnenden Endocarditis auf, und es gelang hier der
Nachweis von Influenzabazillen.
SchlieBlich waren nebcn dem GroBhirn liauptsachlich Hirnstamm
und besonders die Kleinhirnhemispharen als Sitz eines entziindlichen
Prozesses bei folgendem Fall anzunehmen, mit dem Henning seine
Arbeit beschlieBt: Bei einer 35jahrigen Frau, die plotzlich mit influenza-
artigen Svmptomen erkrankte, entwickelte sich ein Zustand hochgra¬
diger Erregtheit mit depressiven Ideen und Suizidversuch. Bei der
Aufnahme in die Klinik bestanden die Symptome einer organischen
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Mil einem Beitrag liber das Symptom der Adiadochokinese.
87
Hirnerkrankung: Neben der Beteiligung des Sensoriums und den schon
genannten Allgemeinerscheinungen wurden Nystagmus, Tremor der
rechten Hand bei intendierten Bewegungen, starke Steigerung der Seh-
nenreflexe, Babinski und Romberg positiv festgestellt. In den nachsten
Tagen traten weitere Herdsymptome, u. a. Schwache der linken Hand
und des linken Beines, Verschlechterung des Allgemeinbefindens auf,
schlieBlich Nackensteifigkeit, Anfalle von Hirndruck. Temperatuy war
fortdauernd erhoht, Puls meist deutlich verlangsamt. In kurzer Zeit
bildeten sich die Erscheinungen wieder zuriick; es bestand nur noch
ein geringes Schwindelgefiihl beim Gehen und. Steigerung der Sehnen-
reflexe. Die Krankheit ging schlieBlich in Heilung iiber.
Aus der Epidemic 1918 teilte von Economo 1 ) die Krankengeschichte
und den mikroskopischen Befund eines chronisch schubweise verlau-
fenden Fa lies von Encephalitis lethargica mit. Es handelte sich dabei
um choreatisch-athetotische Bewegungsstorungen bei einem Patienten,
der erst nach zweijahrigem, von periodisch auftretender choreatisch-
athetotischer Unruhe begleitetem Siechtum verstarb. — Es fanden
sich ausgedehnte Reste einer abgelaufenen Polioencephalitis des Hirn-
stammes und der Oblongata, daneben aber in auffallendem Durch-
einander vereinzelte frische Herde mit alien Merkmalen der akuten
Verlaufsform.
Uber Encephalitis pontis et cerebelli berichtet Redlich 2 ) in einer
zusammenfassenden Arbeit, in der er nach eingehender Besprechung
von einschlagigen Fallen der Literatur eine ausfiihrliche klinische Schil-
derung von sechs Fallen eigener Beobachtung gibt. Nach Abgrenzung
gegeniiber anderweitigen encephalitischen Prozessen stellt Redlich
das klinische Bild einer quasi reinen Encephalitis pontis et cerebelli
auf, erortert die Atiologie und Differentialdiagnose des Krankheits-
bildes gegenuber der multiplen Sklerose und hebt den meist akuten
Verlauf hervor, der bald zum Tode, bald in stationare Zustande, bald
wieder zur Genesung hinfuhrt. — In einer Mitteilung zur Kasuistik der
Encephalitis cerebelli berichtet 0. Gotz 3 ) iiber einen 33jahrigen Patien¬
ten, der plotzlich mit Schiittelfrost, Erbrechen und heftigen Schmerzen
ira Hinterkopf erkrankte. Die auf eine Kleinhirnerkrankung gestellte
Diagnose stutzte sich auf die Symptome der cerebellaren Ataxie, der
Asynergie cerebelleuse, Adiadochokinese usw., wahrend auch hier Sto-
rungen der Sensibilitat fehlten. In wenigen Wochen verschwand mit
dem Abklingen einer geringen, nicht charakteristischen Temperatur-
steigerung die Affektion vbllig. Nach eingehender Diskussion aller
!) Miinch. med. Wochenschr. 1919. H. 46.
2 ) Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 87. (1/2) 1.
3 ) Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. .'>4. H. 2/3.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Digitized by
88 K. Marquard: fiber ungewohnlich lokalisierte Enceplialitisformen nach Grippe
fur die Atiologie in Betracht kommenden Faktoren und der vorliegenden
Literatur kommt Verfasser zu dem SchluB, daB bei seinem Falle ahnliche
Entziindungserscheinungen am Kleinhirn stattgefunden haben, wie sie
bei Fallen von Encephalitis nach Infektionskrankheiten und auf rein
toxischer Grundlage zustande kommen.
Bei unserem im nachfolgenden naher beschriebenen Falle ist es
bemerkenswert, daB sich unmittelbar an die Grippe zunachst eine
Mittelohreiterung anschloB und daB erst im AnschluB an diese nervose
Symptome des Kleinhirns auftraten, welche auf eine Erkrankung der
hinteren Schadelgrube hindeuteten.
Der Landmann O. aus Plau, 36 J. alt, erkrankte am 22. 1. 21 an Grippe mit
Fieber, trocknem Husten, Kopf- und Muskelschmerzen. Am 25. 1. gesellten sich
dazu heftige Schmerzen im rechten Ohre, die auch nicht nachlieBen, nachdem sich
am 26. 1. reichlich blutig-eitriger AusfluQ aus dem Ohre eingestellt hatte. In den
nachsten Tagen vermehrte sich bei Temperaturen iiber 39° der OhrenfluB, und
der Warzenfortsatz wurde druckempfindlich, besonders an der Spitze. — Am 1. 2.
Aufnahme in die Ohrenklinik. Behind: Mittlerer Ernahrungszustand, groBe Blasse
und Mattigkeit, starker Zungenbelag, im rechten Gehorgang viel Eiter, groBe
Trommelfellperforation hinten unten, Warzenfortsatz an der Spitze druckempfind¬
lich. Die Horpriifung ergab eine reine Mittelohrschwerhorigkeit. Spontaner Nystag¬
mus bestand nicht. Der kalorische Nystagmus war gut auslosbar. Temperatur
37°. Klagen iiber heftige Kopfschmerzen, die vom rechten Ohr aus nach hinten
und oben ausstrahlen, und iiber groBe Mattigkeit. — Bei Temperaturen unter
37° nahmen in den nachsten Tagen die Mattigkeit, die Ohreiterung und die Schmer¬
zen hinter dem Ohre trotz des ungehinderten Eiterabflusses so zu, daB man sich
am 4. 2. zur AufmeiBelung des Antrum verpflichtet fiihlte, obwohl die Otitis erst
seit 11 Tagen bestanden hatte. Der Knochen zeigte bei der Operation auBerlich
keine Besonderheiten. Beim MeiBeln kam man sogleich in pneumatische Hohl-
raume, die wohl eine leichte Hyperamie ihrer Auskleidung, aber keine Eiterung
zeigten. Auch im Antrum fand man keinen Eiter.
In der ersten Woche nach der Operation kam es infolge einer Pyocyaneus-
infektion zu einer schnell voriibergehenden Temperatursteigerung. Sonst waren
die Temperaturen abends 37,0° — 37,3°, morgens 36,3° — 36,6°. Die Mattigkeit
und die heftigen rechtsseitigen Hinterkopf- und Scheitelschmerzen bestanden unver-
andert weiter, lieBen sich weder durch Phenatecin noch durch Pyramidon, auch
nicht durch die Eisblase mindern. Hierzu gesellte sich am 10. 3. eine rechts-
seitige Trochlearislahmung und beiderseits eine beginnende Stauungspapille. Die
PaukenhShleneiterung war noch immer stark, und die Operationswunde zeigte
iibermaBig reichliche, schlaffe Granulationen. — Wegen Verdachts auf eine intra-
kranielle Komplikation wurden am 14. 3. in Morphium-Athemarkose die Wund-
granulationen ausgesc.habt und der Sinus transversus sowie die Dura der mitt-
leren Schadelgrube aufgedeckt. Durawand und Sinuswand waren leicht gerotet,
zeigten aber sonst nichts Besonderes. Eine starke Emissariumblutung stand bald
auf leichte Tamponade. An den beiden nachsten Tagen stieg die Temperatur
bis zu 37,6° an. dann war sie wieder normal. Am 16. 3. stellte sich auch eine
rechtsseitige Abducenslahmung ein. Die Kopfschmerzen lieBen nicht nach. Die
darauf angestellte neurologische Untersuchung ergab folgendes Resultat: Puls
56—60 auch nach zahlreichen starken Bewegungen in und auBerhalb des Bettes.
Keine Brechneigung. BewuBtsein ganz frei. Keine agnostischen, aphasischen
und apraktischen Storungen. Keine allgemeine Bewegungsverlangsamung oder
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Mit einem Beitrag iiber das Symptom der Adiadochokinese. 8!)
Bewegimgsarmut. Wohl aber ausgeaprochene Bewegungsverlangsamung im rech-
ten Bein, in der rechten Hand, im rechten Arm und im rechten Facialisgebiet
(Adiadochokinese) ohne Ataxie. Das Platysma war von dieaer Bewegungsverlang¬
samung nicht betroffen. Pyramidenbahnenreflexe fehlten. Eine Herabsetzung
der groben Kraft links war nicht vorhanden; kein deutlicher Tremor im rechten
Arm, wohl aber im rechten Bein beim Kniehackenvereuch. Lagegeftihlsstorungen
fehlten. Beim Gehen und Stehen fanden sich keine Gleichgewichtsstorungen.
Rechts bestand Trochlearis- und Abducenslahmung; sonst waren die Augen-
muskeln normal; kein Spontannystagmus; auffalliges Zittem der Lippenmusku-
latur. Keine Sensibilitatsstorungen. Diagnose: Verdacht auf Encephalitis der
rechten Kleinhimhemisphare.
Weiterer Verlauf: 20. 3. Der Kranke klagt weniger iiber Kopfschmerzen und
ist in besserer Stimmung als zuvor. Der Puls schlug, wie auch schon vorher, beim
Liegen 60—66mal und beim Stehen 70—84mal in der Minute.
28. 3. Die linke Papilla nervi optici zeigt noch undeutliche Grenzen und
leichte Hyperamie. Die rechte ist wieder normal.
30. 3. Die Trochlearis- und Abducenslahmung sind geringer geworden, die
Kopfschmerzen nahezu verschwunden. Die Eiterung aus der Paukenhdhle ist
erloschen, und die Operationswunde in gut fortschreitender Heilung begriffen.
31. 3. Keine Adiadochokinese in den ehedem betroffenen Muskelpartien mehr
nachweisbar.
Ende April wurde der Kranke vollig geheilt entlassen.
Von den im Anfange der Erkrankung aufgetretenen Symptomen
sprachen fur die Moglichkeit eines KleinhirnabsceB die Otitis media
und die zuerst in die Erscheinung getretenen Allgemeinsymptome,
und zwar die groBe Blasse, der starke Zungenbelag, Mattigkeit und
subnormale Temperaturen; ferner die allgemeinen Hirndrucksymptome,
und zwar: Kopf. ehmerzen, Pulsverlang-arming und Stauung.-papille
beiderseits. SchlieBlich erregten die lokalen Hirnsymptome, der homo-
laterale Kopf chmerz, der — besonders heftig — vom rechten Ohr aus
nach hinten und oben ausstrahlte, der leichte Tremor des rechten Beines
beim Kniehackenversuch und im besonderen die Adiadochokinese der
beiden rechten Extremitaten und des rechten Facialis den Verdacht
auf eine ab.>cedierende Kleinhirnaffektion. Auch die Beteiligung der
Hirnnerven, die an der Basis liegen, so des rechten Trochlearis und
des rechten Abducens, wiesen unterstiitzend auf diese Annahme hin
und machten eine beginnende ab.^cedierende Entziindung in der rechten
hinteren Schadelgrube, und zwar an der rechten Kleinhimhemisphare,
wahrscheinlich.
E, muBte aber auch mit der Moglichkeit gerechnet werden, daB die
krankhaften Er^cheinungen durch eine Encephalitis des Kleinhirns
hervorgerufen wurden, die sich mit meningealen Veranderungen ver-
binden kann. Als Ursache hierftir kam die Grippeinfektion in Betracht.
Bei der operativen Freilegung der hinteren Schadelgrube waren keine
meningealen Veranderungen nachweisbar. Die Dura erwies sich nur
leicht gerotet und zeigte keine Belcge. (Punktion wurde nicht gemacht.)
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
90 K. Marquard: t)ber ungewohnlich lokalisierte Encephalitisformen nach Grippe.
Digitized by
Aber auch im klinischen Bilde traten die echten meningealen Sym-
ptome zuriick. Nackensteifigkeit und Nackenschmerzen fehlten dauernd.
Anderererseits waren die Stauungserscheinungen am Augenhinter-
grund und das Auftreten einer Abducenslahmung sehr wohl auf eine
meningeale Reizung zu beziehen. Dagegen lieBen die gleich naher zu
beschreibenden Koordinationsstorungen der homolateralen Extremitat
auf den Sitz der Erkrankung in der rechten Kleinhirnhcmisphare schlie-
Ben, da im allgemeinen ein mehr halbseitig lokalisierter meningealer
ProzeB in der hinteren Schadelgrube noch nicht zu ausgesprochenen
halbseitigen Kleinhirnsymptomen Veranlassung zu geben pflegt. Das
Fehlen des spontanen Nystagmus bei normaler kalorischer Erregbar-
keit des Vestibularapparates sprach gegen das Bestehen einer absce-
dierenden Entziindung in der rechten Kleinhirnhemisphare, da im all¬
gemeinen der spontane Nystagmus bei raumbeengenden Affektionen
des Kleinhirns oder der hinteren Schadelgrube sehr bald durch Fern-
wirkung zustande zu kommen und gesteigert zu sein pflegt. Da nun
der fernere Verlauf zeigte, daB ohne weiteren Eingriff eine spontane
Heilung erfolgte, wird man die Diagnose eines Kleinhirnabscesses ab-
lehnen konnen.
Somit scheint fur den beschriebenen Fall der Annahme einer nicht
eitrigen Encephalitis des rechten Kleinhirns nichts mehr im Wege zu
stehen, wenn auch zugegeben werden muB, daB eine Kombination mit
leichten meningealen Veranderungen moglich ist und ein Teil der Sym-
ptome vielleicht aufdiese zuriickzufuhren war; so namentlich die Stau-
ungspapille und die Abducenslahmung.
Besondere Beachtung verdient nun in diesem Falle das gleichzeitige
Auftreten einer Adiadochokinese, die auch auf das Facialisgebiet sich
erstreckte; ferner bestand ein auffalliges Zittern der Lippenmuskulatur.
Diese Symptome bediirfen deswegen einer besonderen Beachtung, weil
in diesem Falle die sonstigen Zeichen cerebellarer Erkrankungen fehlten,
und zwar das Rombergsche Phanomen, die Hemiataxie, die Hemi-
hypotonie und die cerebellaren Gangstorungen. —
Zwei Fragen sind nun zu stellen: Spricht das isolierte Auftreten der
Adiadochokinese fur Sitz der Erkrankung im Cerebellum, oder kommt
es auch bei anders lokalisierter Erkrankung vor, z. B. bei Sitz der Er¬
krankung im GroBhirn, speziell im Corpus striatum; und wenn das der
Fall ist, lassen sich die bei extracerebellaren Erkrankungen zu beobach-
tende Bewegungsverlangsamung von der echten bei Kleinhirnerkrankun-
gen vorkommenden Adiadochokinese unterscheiden?
Bekanntlich finden sich unter den striaren Symptomen neben
den Erscheinungen des Rigors und Tremors auch Verlangsamungen
der Innervationsleitung, d. h. erschwertes Ingangkommen des mus-
kularenApparatesund verlangsamtes Nachlassender Muskelkontraktion,
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Mit einem Beitrag iiber das Symptom der Adiadochokinese.
91
also eine Adiadochokinese. Auch Stertz hat bei Encephalitis epidemica
solche Bewegungsverlangsamungen nach Art der Adiadochokinese
zusammen mit cerebral bedingten Schmerzen in der paretischen Ex-
tremitat beschrieben 1 ).
Es kommt nun also darauf an, zu untersuchen, ob in unserem Falle
die beobachtete Bewegungsverlangsamung als eine Kleinhirn-Adia¬
dochokinese aufzufassen ist oder als eine Bewegungsverlangsamung
nach Art der Adiadochokinese bei striarer Erkrankung, fiir die jedoch
bier sonst keine Symptome weiter vorhanden gewesen sind.
Die Stoning, um die es sich handelt, gehort in die Gruppe der von
Luciani als Dysmetrie bezeichneten Bewegungsstorungen bei Er¬
krankung des GroBhirns oder Kleinhirns 2 ). Babinski bezeichnete als
Diadochokinese die Fahigkeit zu einer raschen Aufeinanderfolge von
antagonistischen Bewegungen und sprach von Adiadochokinese (alpha-
privativum; diadochos — aufeinander-, nachfolgend; kinesis=Bewegung),
wenn eine Verlangsamung in der Aufeinanderfolge der antagonistischen
Bewegungen in der erkrankten Extremitat gegeniiber der gesunden
zu beobachten war. Babinski stellte als erster fest 3 ), dab bei Erkran-
kungen des Kleinhirns eine Stoning der Diadochokinese derart zustande
komme, daB bei vollig erhaltener Kraft nur die Schnelligkeit der Auf¬
einanderfolge der Bewegungen beeintrachtigt ist. Der Wert dieses
Symptoms 1st auch nach Oppenheims Erfahrungen 4 ) nicht gering
anzuschlagen, aber es miiBte mit geniigender Kritik beurteilt werden.
So ist die linke Hand hiiufig schon in der Norm weniger geschickt als
die rechte. Ferner gibt es Individuen, bei denen von Haus aus die Bewe-
gutigsfolge eine ungewohnlich langsame ist. Mehrfach fiel dem eben
erwahnten Autor eine ,,physiologische Adiadochokinese*' bei Kin-
dern auf.
Es gibt nun aber, wie gesagt, auch anders lokalisierte Krankheiten,
die mit einer Verlangsamung der Bewegungen, besonders an den dista-
len Gliedabschnitten, einhergehen konnen, wie z. B. die Paralysis agitans.
Wir haben noch kein Recht, meint Oppenheim an jener Stelle, dieses
Symptom hier ohne weiteres auch auf das Kleinhirn zu beziehen, da
eine Kleinhirnaffektion bei der Paralysis agitans ja nicht erwiesen ist.
Es ist aber doch moglich, daB trotzdem eine Bceintrachtigung cerebel-
1) Der extrapyramidale Symptomenkomplex und seine Bedeutung in der
Neurologie. Abhandlungen aus der Neurol., Psychiatr., Psychol, und ihren Grenz-
gebieten. H. 11. 1921.
2 ) Luciani hebt hervor, daB jene Storung beim Affen viel klarer in die Er-
scheinung tritt als beim Hunde, und daB namentlich die vorderen Extremitaten
die Dysmetrie hier viel deutlicher zeigen.
3 ) Rev. neurol. 1902, u. Rev. mens, de m6d. 1909.
4 ) Lehrbuch der Nervenkrankheiten. Berlin. S. Karger. 1913.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
92 K. Marquard: t)ber ungewbhnlich lokaliaierle Encephalitisforraen nach Grippe.
Digitized by
larer Funktionen, speziell der reflektorischen, automatischen Inner-
vationsbereitschaft in den Muskelgruppen bei kombinierten Bewegungs-
akten eine Rolle spielt.
Bei der Besprechung der von Babinski beschriebenen Asynergie
cerebelleuse betont Oppenheim beziiglich des diagnostischen Wertes
der Adiadochokinese (,,d. h. Verlangsamung der Bewegungsfolge z. B.
der Pro- und Supination in nicht paretischen GliedmaBen 11 ) nochmals,
es lieBe sich etwas GesetzmaBiges nicht aussagen, wenn auch zuzugeben
ware, daB die Erscheinung bei Cerebellarerkrankungen haufig vor-
kommt und in der Regel der Seite der Erkrankung entspricht. Am
ausgesprochensten fand er dies Zeichen nach operativen Eingriffen am
Kleinhirn.
Die Adiadochokinese kommt haufig zusammen mit cerebellarer
Ataxie vor, welche die oberen GliedmaBen in viel geringerem Grade
zu befallen pflegt als die unteren 1 ); zuweilen scheint die Ataxie die
oberen GliedmaBen sogar vollstandig zu verschonen. Man muB anneh-
men, daB beim Menschen die Arme dem koordinierenden Einflusse des
Kleinhirns nur in beschranktem MaBe unterworfen sind, infolge ihrer
gering'ren Bedeutung fur die Gleichgswichtierhaltung.
Es gibt aber auch Falle, in denen die Adiadochokinese ziemlich
isoliert beobachtet wird, ohne daB einseitige ataktischeS torn ngen gleich-
zeitig vorht nden sind.
Zum Verstandnis der Symptome einer halbseitigen Kleinhirnbe-
schadigung mochte ich noch von dem, was in der Literatur tiber die
Adiadochokinese niedergelegt ist, weitere Mitteilung machen.
In einer Arbeit iiber die Lokali.-ation der Kleinhirnerkrankungen 2 )
fiihrt Bing aus, daB die cerebellare Ataxie sich khnisch wesentlich von
der Inkoordination infolge Lasion hinterer Riickenmarkswurzeln unter-
scheide. Sie bekunde eine deutliche Pradilektion fiir die sog. Gemein-
schaftsbewegungen, d. h. diejenigen Bewegungen, welche das Zusammen-
arbeiten au. g.dehntcr Muskelgruppen erfordern. (Cerebellare Asynergie
Bab inskis). Am ausgesprochensten sei die Storung an den unteren
Extremitaten, wahrend sie an den Armen meist scliwer nachzuweisen
sei. Unter acht Fallen herdformiger Kleinhirnerkrankungen ergab die
Priifung auf ,,Adiadochokinesis“ dem Verfasser sechsmal ein posi¬
tives Resultat.
Nach Schmidt und Liithje 3 ) besteht neben dieser Schwierigkeit,
entgegenges etzte Muskelbewegungen schnell hintereinander auszu-
ftihren, oft auch Nystagmus und fast immer Drehschwindel; nicht
i) Bing, Lehrb. d. Nervenkrankh. Berlin u. Wien. 1913.
z ) Dtsch. med. Wochenschr. 38, 881. 1912.
3 ) Klin. Diagnostik. F. C. W. Vogel. Leipzig 1915.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Mit einem Beitrag liber das Symptom der Achiadochokinese.
93
selten auch Zwangsbewegungen (Reitbahnbewegungen); letztere spre-
chen fiir die Affektion der Bruekenarme auf der gleichen Seite. Mit
der Ataxie verbindet sich auch haufig eine auffallende Hypotonie,
speziell der unteren Extremitaten ohne Aufhebung der Sehnenreflexe.
Lewandowski stellte diese nicht ungewohnliche Atonie leichten
Grades immer auf derselben Seite des betreffenden Herdes im Klein-
hirn fest 1 ); grobe Sensibilitat$storungen fand er dabei nicht. Auch
Rothmann 2 ) bestatigt, daB die Ataxie bei einseitigen Herden auf die
gleichseitigen Extremitaten beschrankt sein kann. Sie ist nach seinen
Erfahrungen fast immer mit einer cerebellarcn Hypotonie verbunden,
wahrend die Sehnenreflexe bald fehlen, bald sogar gesteigert sind.
E. Pesch 3 ) beschrieb zwei Falle von Kleinhirntumoren (mit volliger
Heilung durch Operation), bei denen die Ataxie, bzw. die Adiadocho-
kinese, sich nur in einer Ungeschicklichkeit der Rumpfbewegungen kund-
getan hatte.
Und in einem Beitrag zu den klinischen Symptomen von Klein-
hirnaffektionen glaubt G. Roncoroni die Kleinhirnasynergien und
die Adiadochokinese 4 ) ebenfads mit der unvollkommenen Funktion der
koordinatorischen Zentren der Zerebrospinalaxe, die ganzlich oder zum
Teil einer entiprechenden Verstarkungswirkung beraubt sind, in Be-
ziehung bringen zu konnen, wahrend die Asthenie mit der fehlenden
Verstarkung-swirkung des Kleinhirns auf das ganzc neuromuskulare
System in Zusammenhang steht.
Obwohl auch bei Affektionen anderer Hirnteilc diese Bewegungs-
storung, die Adiadochokinese, beobachtet wurde, hat Mingazzini —
und er befindet sich dabei, wie er angibt, in Obereinstimmung mit
anderen Klinikern, deren Ansicht hieriiber er fiir die richtigc halt —
trotzdem die Meinung, daB es sich urn ein echtes Kleinliirnsvmptom
handele. Bruns hatte die Gelegenheit, dies Symptom im rechten Arme
eines Individuums, welches von einem Tumor im Lobulus parietalis
sinister befallen war, wahrzunehmen. Mingazzini hat es in einem
Falle von Pachymeningitis basilaris cerebralis chronica (fibrosa) von
wahrscheinlisch luetischer Natur, die sich von den Pes pedunculi bis
zum distalen Ende der Briicke erstreckte, beobachtet.
Eine zuweilen beobachtete Dysarthrie (verlangsamte scandierende
Sprache) konnte — nach Liepmann — wenn sie nicht einer Druck-
wirkung auf die bulbaren Sprachkerne entspringt, von dem Fortfall regu-
latorischer Kleinhirneinfliisse (analog der Adiadochokinese) herriihren 5 ).
i) Im Lehrbuch d. Nervenkrankli., hcrausgeg. v. H. Curschmann. 1909.
-) Mohr u. Staehelin, Handb. d. inneren Krankli. Bd. 5.
:J ) Inaug. Dise. Kiel 1919. Ref. im Zentralbl. f. Neurol. 40. S. 218. Erg.-Bd.
*) Ital. Riv. di patol. nerv. e raent. XX. 1915. Fasc. 6. Ref. wie 3 ).
3 ) In H. CurBchmanns Lehrbuch. 1909. S. 431.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
1)4 K. Marquard: t)ber ungewohnlich lokalisierte Encephaliti.sformen nach Grippe.
Digitized by
Hierzu beschreibt Fischer einige interessante Falle mit typischeu
Kleinhirnataxien, bei denen irgendwelche Zeichen fiir eine Las ion der
Pyramidenbahnen vollends fehlten. Die auf eine Kleinhirnstorung zu
beziehenden Symptome waren: Schwindel, ausgesprochene Astasie und
Ab&sie und eine typische Adiadochokinese. Dabei waren auch die
feineren Bewegungen, namentlich der Hande, erschwert, ohne daB —
was nochmals zu bctonen ist — auch ein einziges Symptom fur eine
Mitbeteiligung der Pyramidenbahn oder eine Erkrankung des GroB-
hirns gesprochen hatte. Bei einem in Genesung iibergegangenen Fall
der von Fischer mitgeteilten Polioencephalitis-Erkrankungen von unbe-
kannter Atiologie glaubt der Verfasser, daB auBer kleinen hamorrhagi-
schen Herden in der Okulomotoriuskern-Gegend noch andere in den
Bindearmen sich befunden hatten, welche doppelseitig ergriffen waren,
doch muB diese Erkrankung auf der einen Seite intensiver gewesen
sein, da die Motilitatsstorung der linken Extremitaten fruher versohwand.
Dabei ist noch eines besonderen Symptoms zu gedenken: In einem
Stadium der Rekonvaleszenz, in welchem die linke Seite bereits eine
normale Motilitat erlangt hatte, bemerkte der Kranke (was auch objek-
tiv nachweisbar war), daB nicht nur die rechten Extremitaten, sondern
auch die rechte Gesiehtshalfte langsamer der willkurlichen Innervation
folgten. Die genauere Beschreibung lautet:
„Die linke Nasolabialfalte ist etwas in die Hohe gezogen, die rechte steiler
und seichter; bei jeglicher willkiirlicher Innervation — auch von der geringsten
Intensitat — gleicht sich die Differenz sofort aus; die Zunge weicht eine Spur
nach rechts ab. Beim Bcobachten des Kranken hat man den Eindruck, daB ihm
beim Sprechen gerade der schnelle Gbergang einer Mundstellung in die andere
Schwierigkeiten verursacht. — Cber die Adiadochokinese an den Fingern: Patient
merkt diese Ntorung selbst und sagt, er babe das Gefiihl, wie wenn er gegen einen
elastischen Widerstand ank&mpfen miiBte, so steif seien seine Extremitaten.
Dabei besteht aber keine Spur einer Verminderung der Kraft der Muskeln. auch
keine Spur von Hypertonie oder Hypotouie. Die Schrift ist hochgradig gestort:
er kann kaum die einzelnen Schriftzeichen zusammenbringen, kleinere Schrift -
zeichen iiberliaupt nicht, groBere sehr ungeschickt, wobei er langsam, wie malend.
die Linien zieht. Auch hat er dabei das Gefiihl des elastischen Widerstandes. Das
Nachzeichnen geht ebenfalls schlecht; gerade Linien bringt er ganz gut zustande.
bei welligen tritt die Storung sehr deutlich und prompt hervor. — Das Lesen
von Druck und Schrift ist ungestort, die Sprachstonmg dabei etwas weniger
stockend als beim Spontansprechen.
Nach etwa einem Monat bemerkte Patient auch bei willkurlichen Verziehungen
der Geeichtsmuskulatur, daB die linke Gesiehtshalfte viel besser und prompter
folgt als die rechte. Schnelles sich wiederholendes Heben und Senken des Mund-
winkels gelingt rechts viel sc.hlechter als links. Die seitliche Beweglichkeit der
Zunge zeigt keine Differenz.
Nach einem weiteren Monat, als die Motilitatsstdrungen in den iibrigen Ge-
bieten schon fast vollkommen geschwunden waren, auch das Schreiben wesentlich
besser, die Sprache sogar ganz ungestort geworden war, hatte Pat. — rein sub-
jektiv — noch das Gefiihl einer Erschwerung der Aussprache.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Mit einem Beitrag liber das Symptom der Adiadochokinese.
95
Eret ein halbes Jahr spater war die Schrift beinahe wie vor der Erkrankung,
die Ausspraclie ganz normal; Pat. hatte auch nicht mehr das Gefiihl des Wider-
standes beim Sprechen; aber eine Differenz gegeniiber friiher besteht dennoch:
„Vor der Erkrankung konnte er von selbst sprechen, jetzt muB er darauf aclit
geben; ein ahnliches Gefiihl habe er auch noch beim Schreiben und Gehen“.
Eine derartige Abhangigkeit der Gesichtsmuskulatur von der Klein-
hirntatigkeit, bemerkt Fischer weiter, ganz im Sinne der Adiadocho¬
kinese, ist in der Literatur bisher nicht erwahnt.
AuBer den genannten Motiliatsstorungen war in seinem Falle auch
eine ganz eigentiimliche Y T eranderung der Sprache vorhanden, die sich
von den gewohnlichen Sprachstorungen wesentlich unterschied.
Beinahe in alien Fallen von Polioencephalitis haemorrhagica wird
von einer Stoning der Sprache, die als lallend und schwer verstandlich
bezeichnet wird, gesprochen, ohne daB aber die Frage nach der Patho-
genese derselben beriihrt wurde. Man ware geneigt, die Sprachstorung
bei diesen Fallen, bei denen multiple Blutungen in der Nahe der die
Sprachmuskeln innervierenden Zellgrappen anzunehmen sind, mit einer
Affektion dieser Zellgruppen zu erklaren. Der Verfasser hatte nun in
seinem Falle Gelegenheit, die Sprachstorung durch die lange Zeit der
Rekonvaleszenz zu beobachten, und es zeigte sich hierbei, daB das
Charakteristische dieser Stoning darin bestand, daB die schnelle und
abwechselnde Bewegung der einzehien Sprachmuskeln und das geord-
nete Zusammenwirken (die Diadochokinese) in ihrem Ablauf gehemmt
waren. Eine ahnliche Stoning zeigt sich aber auch in der gesamten
Korpermuskulatur in der Form der Adiadochokinese Babinskis. Diese
ist ein ausgesprochenes Kleinhirnsymptom, und deshalb miiBten wir
auch die Sprachstorung als eine Folge der Stoning der Kleinhirnfunk-
tion ansehen. fiber Storungen der Sprache infolge von Kleinhirn-
erkrankungen finden sich aber in der Literatur recht wenige Angaben.
Wiederholt wird von Affektionen dieses Organes, besonders atrophi-
scher Art, berichtet, in deren Verlauf es zu einer Verlangsamung und
Verschlechterung der Sprache kam, von manchen wurde auch die Sprach-
storung als eine Art von Kleinhirnataxie erklart (Menzel 1 ), StrauB-
ler 2 ) u. a.). Mit besonderem Nachdruck hat erst Bonhoeffer 3 ) auf
die cerebellare Sprachstorung hingewiesen, zu deren Studium ihm ein
Fall mit einem postoperativen Kieinhirndefekt Gelegenheit geboten
hat. Die Sprache war verlangsamt und besonders ungeschickt, wenn
es zu schnellerem Sprechen kam, es war, wie sich Bonhoeffer aus-
driickt, ,,die Sprachgeschwindigkeit herabgesetzt, und zwar liegt das
offenbar daran, daB der tlbergang von einer Mundstellung zur anderen.
1) Arch. f. Psychiatr. u. Xervenkrankh. 22.
2 ) .lahrb. f. Psychiatr. u. Xeurol. 27.
3 ) Monatsschr. f. Psychiatr. u. Neurol. 24.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
K. Marquard: Ober ungewohnlich lokalisierte Encephalitisformen nach Grippe.
Digitized by
wie ihn das fortfahrende Sprechen erfordert, dem Kranken Miihe
macht“. Auch Bonhoeffer faBt diese Stoning als eine Art Adiadocho-
kinese auf, die aber in seinem Falle selbst im iibrigen gefehlt hatte.
Weiter beschrieb Liebscher 1 ) einen Fall von Kleinhirntumor, bei
dem auch eine alinliche Storung der Sprache beobachtet wurde.
Bei einer Motilitatsstorung von der Art der Kleinhirnataxie sollte
man nun auch von vornherein eine Beeintrachtigung der Schrift erwar-
ten, da doch die Schrift das Resultat feinst-koordinierter und genau
modulierter Bewegungen ist. In der Literatur wird nirgends etwas
davon erwahnt, auch in der neuesten Bearbeitung der Kleinhirnerkran-
kungen von Mingazzini 2 ) wird nur von einer Storung der Schrift
als Folge eines bei Kleinhirngeschwiilsten vorkommenden groben
Tremors gesprochen. In Fischers Fall fehlte aber der Tremor, und
die Schreibotorung hatte einen ganz besonderen Charakter: GroBe Buch-
staben konnte der Patient recht gut schreiben, bei kleinen Buchstaben
und Schriftzeichen, besonders aber, wenn er schnell schreiben sollte,
wurde die Schrift unleserlich, beinahe wie die eines vollkommen Agra-
phischen.
Ein absolut zwingender Beweis fiir die Richtigkeit der hier gege-
benen Auffassung von der Pathogenese der genannten Storungen kann,
da es zur Sektion nicht kam, natiirlich im Falle Fischers auch nicht
gegeben werden. Als ein wesentliches und nicht zu unterschatzendes
Beweismoment aber sei noch erwahnt, daB sich hier die Kleinhirn¬
ataxie und die Sprach- und Schrift->torung in ziemlich gleichem Tempo
zuriickgebildet haben.
Bei einem Madchen mit Kleinliirntumor 3 ), der bei der Operation
gefunden, aber nicht entfernt werden konnte, bestand Gesichts-Adia-
dochokinese. Die Autopsie wurde verweigert, so daB auch hier der anato-
mischen Grundlage nicht weiter nachgegangen werden konnte. Wah-
rend der letzten Wochen zeigte die Kranke eine starke Adiadocho-
kinese, die zwar im linken Arm am deutlichsten war, aber auch im
linken Bein bestand, jedoch nicht in dem MaBe wie im Arm; es bestand
auBerdem noch eine deutliche Hemiataxie. Im Gesicht erwiesen sich
die oberen Facialisaste weniger stark von der Adiadochokinese befallen
als die unteren. Auch das Platysraa nahm etwas an der Bewegungs-
verlangsamung teil.
Cber das Vorkommen von Adiadochokinese bei einem Sjahrigen
choreatischen Madchen 4 ) berichteten H. G re net und P. Lou bet.
Neben den Symptomen einer Affektion der Pyramidenbahnen: Herab-
1) Wien. med. Wochenschr. 1910. Nr. 8.
2 ) Siehe Literaturverzeichnis am Schlusse dieser Arbeit.
3 ) Beobachtet in der Univ.-Poliklin. f. Nervenkranke, Rostock.
4 ) Bull, de la hoc. de pM. de Paris v. 25. 4. 1912. »S. 162—165.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Mit einera Beitrag iiber das Symptom der Adiadochokinese.
97
setzung dergroben Muskelkraft undassoziierten Mitbewegungen, fanden
sich auch solche, die auf einen cerebellaren Sitz der Erkrankung hin-
wiesen: Inkoordination und Adiadochokinesis. Auf diese ware jedoch
kein besonderer Wertzu legen: Witzinger, der dariiberreferiert, meint,
daB die Symptome von Bewegu ngsbehinderu ng auch durch die chorea-
tischen Mitbewegungen vorgetauscht werden konnten 1 ).
In einem Bericht iiber Storungen der Diadochokinese im Verlauf
der Chorea glaubt jedoch auch Marfan feststellen zu diirfen, daB die
Adiadochokinese eines der ersten Symptome fur den Beginn der Erkran¬
kung ist. Sie fande sich auch noch lange nach der scheinbaren Abheilung
<lieser Krankheit als ein Zeichen, daB sie noch nicht ganz erloschen sei.
Auch bei der progressiven Paralyse wurden Beziehungen zu der
in Rede stehenden Bewegungsstbrung gefunden. Nach W. Spiel-
ineyer sind von hoheren motorischen Storungen, die sich als Partial-
defekte der geistigen Schwache auffassen lieBen, die apraktischen und
dyspraktischen Symptome und die Adiadochokinese (Babinski) zu
nennen 2 ). Let/tere zeige sich in der Unfahigkeit der mit Paralyse Behaf-
teten, schwierigere Bewegungen, wie etwa AugenschlieBen, Zunge-
zeigen, Handeherausstrecken und Ahnliches korrekt, u. U. mehrmals
hintereinander auszufiihren.
Ferner fand Striimpell Gelegenheit, eingehende Beobachtungen
-an einem Manne anzustellen, bei dem infolge einer Stichverletzung des
Halsmarkes eine totale Aniisthesie der Haut und ein Verlust des Muskel-
sinnes am rechten Arme bis hinauf zur Schultergegend eingetreten
war 3 ). Dabei war keinerlei Lahmung vorhanden. Die Bewegungen im
anasthetischen Arme w r aren in hohem Grad ataktisch. Gewisse koor-
dinierte Bewegungen, insbesondere der Finger konnte der Patient nur
ausfiihren, wenn er auf die Hand hinsah, nicht aber bei geschlossenen
Augen 4 ).
Es bleiben noch zwei Arbeiten zu erwahnen, die sich ausfiihrlicher
mit unserem Phanomen beschaftigt haben. Stertz glaubt (in der schon
oben erwahnten Abhandlung iiber den extrapyramidalen Symptomen-
komplex) die Verlangsamung des Innervationsvorganges, die nach ihm
eine gewisse Selb.standigkeit gegeniiber der Hypcrtonie behauptet, als
ein Primarsymptom des akinetisch-hypertonischen Syndroms ansehen
zu konnen. Er sagt dort folgendes:
!) Zentralbl. f. inn. Med. 1912. Bd. III., S. 475.
2 ) In Lewandowskis Handbuch d. Neurol. Bd. III. 1912.
3 ) Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. 23, S. Iff.
4 ) Zit. nach Bunge, Lehrb. d. Physiol, d. Menschen. 1905. — Dort finden
sich auch interessante Beobachtungen iiber die Unterschiede der sonsorischen
und motorischen Ataxie und iiber die verschiedene Bedeutung des Muskelsinnes
nnd des Tastsinnes fiir das Zustandekommen der Bewegungen.
Archiv fUr Psyclilatrie. Bd. 07. 7
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
08 K. Marquard: t v ber ungewbhnlich lokalisierte Encephalitisformen nach Grippe.
Digitized by
„.. . Und es liegt der Gedanke nicht ganz fern, hierin eine Stoning der rezi-
proken Innervation Sherringtons zu erblicken. Sherrington hat gezeigt, daB
gesetzmaBig der Innervation eines Muskels die Erachlaffung seines Antagonisteu
vorausgeht. Eine Stoning in diesem Mechanismus konnte wohl zu der hier in
Rede stehenden Anderung des Innervationsablaufes fiihren. Denn der Muske!
muB dann die Kontraktion gegen den Widerstand seines (nicht erschlafften) Anta-
gonisten Ieisten, und seine Erachlaffung, deren Voraussetzung wieder die Inner¬
vation des Antagonisten ist, hat nun unter dem gleichen fehlerhaften Mechanis-
mus zu leiden. Vielleicht lieBe sich eine Bestiitigung dieser Annahme auf experi-
mentellem Wege erbringen.
In naher Beziehung dazu steht nun eine sehr auger.fallige Beeintrachtigung
rascher Bewegungsfolgen ganz besondera agonistisch-antagonistischer Art, auf die
bereits Kleist. Zingerle fiir die Paralysis agitans, fur unsere Falle v. Striiin-
pell, Rausch und Schilder u. a. aufmerksam gemaciit haben. Wir sehen,
daB diese Bewegungsfolgen — sofern sie iiberhaupt geleistet werden kbnnen,
was nianohmal nur noch andeutungsweise oder selbst gar nicht der Fall ist —
nach kurzer Zeit unvollkommener werden und schlieBlich — oft schon nach einigen
wenigen Einzelphasen — unregelmaBig werden untl ganz erloschen. Da es bei
diesen Bewegungsfolgen (Diadochokinesis) ganz besondera auf promptes An- und
Abklingen der Innervation ankommt, so ergibt sich diese Form der Adiadocho-
kinesis als eine notwendige Folge aus der vorerwahnten Grundstorung. Der erste
Eindruck bei derartigen Verauchen ist der einer raschen Ermildbarkeit, die sich
nach der Art der myasthenischen ReaktionsweLse bis zur temporaren Lahmung
steigert. Es fehlen aber — auch elektrisch —- alle Kennzeichen der Myasthenic,
und die unmittelbar nach dem Erlahmen der Bewegungsfolge ausgefiihrte Unter-
suchung der Einzelbewegung ergibt, daB ein paretischer Zustand nicht die Ursache
der Eracheinung sein kann. Erechbpft ist nur das Vermogen der Umschaltung
der agonistischen in die antagonistischen Innervationen. Die erste ist noch nicht
abgelaufen, wenn die zweite beginnt, die letztere kann daher nur gegen einen
Widerstand zur Geltung kommen, und die Summierung dieser Fehler muB uin so
rascher zum Erliegen der Leistung fiihren, je ausgepragter die Storung der Einzel-
innervation ist und je geringer die Reservekrafte zum t)berwinden der sich stei-
gernden Wideretande sind. Daher finden wir, daB auch die Adiadochokinese dio
scliwacheren Muskelgebiete am ehesten und starksten befallt, die gleichen Gebiete,
die sich auch bei der Grundstorung, mit der sie Hand in Hand geht, als vorwiegend
betroffen erweisen: So die abwechselnden Adduktions- und Spreizbewegungen
der Finger, dann die Pro- und Supination, das Zehenspiel usw. Aber auch die
proximalen Muskelgruppen vertragen schlieBlich schnellere Bewegungsfolgen nicht
iiber eine beschrankte Zahl hinaus, dann erlahmen sie. Bestehende Hypertonie
bedeutet auch hier einen Zuwachs der Storung, aber keine unablassige Bedingung
dereelben. Was die Sprache anbetrifft, so ist ihr jeweilig vdlliges Erloschen nach
kurzer Zeit wohl sicher auf diese adiadochokinetische Innervationsstorung zuriick-
zufiihren, und darin ist das zweite Moment der Sprachstorung unserer Kranken
zu sehen. Dasselbe gilt fur den Schluck- und Kauakt, je rascher er funktionieren
soil. In der manuellen Hilflosigkeit der Kranken, die schon das vorhypertonische
Stadium kennzeichnet, der Unfahigkeit, etwa eine Trillerbewegung zu machen
oder einen Knopf zuzuknbpfen oder auch eine Anzahl tiefer Atemzuge schnell
hintereinander zu machen, erkennen wir die gleichen Behinderungen wieder...“
Lot mar hat im Jahre 1913 das Wesen der Adiadochokinese naher
z.u erortern versucht. In dieser Arlieit wendet er sich gegen die Aus-
fiihrungen von Gregor und Schilder, welche in der Abnahme der
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Mit einem Beitrag iiber das Symptom der Adiadochokinese.
99
Kontraktion — entgegen der Definition Babin skis — das wesentliche
Merkmal jener Erscheinung sehen und dabei auch spastische (anstatt
nur hypotonische) Zustande miteinbeziehen. Die von diesen Autoren
in einem Falle von Paralysis agitans beobachtete Bewegungsstomng
sei als ,,pseudomyasthenische“ zu bezeichnen, sie stelle aber nicht
das wesentliche Merkmal der Babinskischen Adiadochokinese dar. Auch
denjenigen Autoren, welche das Wesen der Adiadochokinese in einer
Nachdauer der willkiirlichen Muskelkontraktionen sehen wollen (Kleist
und Lewandowski), die auf Steigerung des ,,proprioceptiven“ oder
Eigenreflexes des jeweiligen Agonisten (im Sinne der ,,Dehnungsreflexe“
Sherringtons) beruhe, stimrat Verfasser nicht bei. Gegen eine solche
Deutung sprache vor allem der Umstand, daB die maximalen Geschwin-
digkeitsleistungen der Diadochokinesis gerade bei moglichst kleinen
Exkursionen, also bei minimalster passiver Dehnung der jeweiligen
Antagonisten, erreicht werden: sodann ware die Reflexzeit fur diese
mit Trillergeschwindigkeit ablaufende Bewegungsfolge viel zu kurz. —
Diese Nachdauer sei wohl bei Kleinhirnaffektionen zu beobachten,
ohne daB sie aber einen ausreichenden Grund fur die Adiadochokinese
bilde. Zur Mitwirkung konnte sie allerdings beitragen. Lotmar gelangt
auf Grund weiterer hier nicht im einzelnen wiedemugebender Eror-
teningen zu der Annahme, daB die Adiadochokinese mindestens zum
Teil auf einer Stoning der fur die Bindung rascher willkiirlicher Pendel-
bewegungen notwendigen succesiven Induktion oder eines verwandten
zentralen Mechanismus beruht, und daB Lasion des Kleinhirns oder
der Kleinhirnsysteme eben diese Stoning im Gefolge haben konne.
Die Stoning der successiven Induktion (Sherrington) hat ein Fehlen
des normalen RiickstoBes, des unwiUkiirlichen Kontraktionsvorganges
in den Antagonisten zur Folge, indem die mit der Agonistenkontrak-
tion verbundene Hemmung des Antagonistenzentrums zu einer t)ber-
erregbarkeit eben dieses Zentrums und zu einer nachfolgenden spontanen
Entladung desselben fiihren kann. Eine Ausschaltung des RiickstoBes
i8t aber nach Lotmar von grundlegender Bedeutung fiir das Zustande-
kommen der Adiadochokinese. Lotmar leugnet auch, daB die Dys-
metrie eine betrachtliche und sogar vorwiegende Rolle in der Erzeu-
gung der Adiadochokinese spiele, wie Thomas meint. Der Dysmetrie
und der Adiadochokinese liege vielmehr als ein beiden Zustanden gemein-
sames Moment eine Stoning der Antagonisteninnervation zugrunde.
Der Fortfall der proprioceptiven Dehnungsreflexe der jeweiligen
Antagonisten soli keine besondere Bedeutung fiir das Zustandekommen
der Adiadochokinese haben, indem der RiickstoB nicht einfach als
proprioceptiver Reflex der durch die Bewegung passiv beanspruchten
Antagonisten aufgefaBt werden kann (M. Isserlin).
Die Zuriickfiihrung diadochokinetischer Bewegungen ausschlieB-
7*
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
100 K.Marquard: Uber ungewohnlich lokalisierteEncephalitisformen nacli Grippe.
Digitized by
lich auf reflektorischc Mechanismen .soli also nieht durchfuhrbar sein.
Der Anteil ties Kleinhirns an dein Problem der eigenartigen successively
Koordinationsleistungen kann durch den Hinweis auf die ,,antago-
nistischen Dehnungsreflexe 11 nieht erschbpft sein: die successive In-
duktion eroffnet dagegen ein Verstandnis fiir die Aneinanderkettung
einer groflen Reihe antagonistischer Pendelbewegungen in einem ein-
zigen Willkiirakt durch zentrale, von Reflexen weithin unabhangige
Yorgange, wobei Lot mar es dahingestellt sein laBt, ob das Zentrum
dieser successiven Induktion im Kleinhirn selbst gelegen ist, oder ob
dieses Organ die entsprechenden kortikalen und subkortikalen motori-
schen Zentren indirekt beeinfluDt. Bruns hangt hieran die Frage,
ob denn dazu keine Reflexzeit notwendig ware und welche Reize iiber-
haupt diesen Vorgang veranlaBten — ohne seinerseits auf eine Eror-
terung dieses Problems einzugehen.
Ist schon die Erklarung des physiologischen Ablaufes der normalen
Diadochokinese auf Schwierigkeiten gestoBen, um so mehr noch ist
die Adiadochokinese, im besonderen deren anatomisch-pathologische
Grundlagen bis jetzt einer einwandfreicn Erklarung und anatomischen
Lokalisation verschlossen gebheben.
Fickler beriolitet iiber erworbene Cerebellar-Ataxie, speziell ence-
phalitisehe, die durch Infektionskrankheiten und Insolation hervor-
gerufen wurden. Als anatomischer Befund crgab sich im akuten Sta¬
dium: Multiple encephalitische Horde, toxische Degeneration der
Ganglienzellen. Bei Defektheilung: herdformige Degeneration mit
sekundarer Sklerose und GefaBveranderungen; Meningitis. Non ne
beschreibt mehrere Falle 1 ) zu den im obigen angefiihrten Symptomen-
komplexen aus einem groBeren Material (das er besonders auch inner-
halb des Krankenhauses beobachten konnte), bei welchen Patienten
es nach Influenzaerscheinungen zu einer Kleinhirnstorung gekommen
ist. Er glaubt, daB es noch dahinstehen miisse, welche Teile des Klein¬
hirns im speziellen die zu inculpierenden sind, da wir die Differential-
diagnose zwischen der Lokalisation in den verschiedenen Teilen des
Kleinhirns selbst und den von ihm durch die Bindearme ins GroBhirn
fiihrendcn Bahnen zu stellen heute noch kaum in der Lage waren.
Nur das ginge aus den vielfachen klinischen und experiraentellen Er-
fahrungen hervor, daB in den Fallen, die die wesentlichen Ziige des
oben besprochenen Symptomenbildes zeigttm, sich palpable Anomalien
an mehr oder weniger ausgedehnten Partien jener groBen Bahn zeigten,
welche von den Kleinhirnseitenstrangen des Riickenmarks durch die
Oliven, das gekreuzte Corpus restiforme ins Kleinhirn und von dort
weiter durch die Bindearme ins GroBhirn fiihrt. Die Unversehrtheit
l ) In der Festschrift fiir Erb — 1900; siehe d. Literaturverz. am Schlusse.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Mit einem Beitrag liber das Symptom der Adiadochokinese.
101
dieser Bahn miis.se man fur die Erhaltung des Kdrpergleichgewichts
und der Koordination verantwortlich machen.
In einem pathologisch-anatomischen Beitrag znr Funktion des
Kleinhirns fa!3t Sander die Ergebnisse zusammen: Einmal zeigten
gerade die Untersuchungcn der letzten Zeit, welche groBe Bedeutung
den grauen Kernen im Innern der Kleinhirnhemisphare, besonders
dem Nucleus dentatus, fiir die Funktion dieses Organs zukommt, und
daB selbst groBe Krankheitsherde im Kleinhirn ohne wesentliche
Symptome verlaufen konnen, wofern der Nucleus dentatus und seine
Verbindungen mit der Briicke und dem verlangerten Mark erhalten
bleiben. Fernerhin sei aber auch wohl klar, daB Storungen in der Funk¬
tion des Kleinhirns nur dann deutlich in die Erscheinung treten werden,
wenn die Pyramidenbahnen, deren Tatigkeit ja besonders durch das
Kleinhirn beeinfluBt wird, relativ intakt sind. Dies trifft aber gerade
fiir die haufig.vten Erkrankungen des Cerebellum: die Tumoren, nur
selten zu; diese schadigen hiiufig die motorischen Bahnen schon an
und fiir sich derart, daB hierdurch ein Ausfall der Kleinhirntatigkeit
vollig verdeckt werden kann. Jedenfalls sei bisher nur jene eineSeite
der Kleinhirnfunktion, die Erhaltung des Kdrpergleichgewichts, beim
Menschen beobachtet und deren Ausfall unter dem Nimen der cere-
bellaren Ataxie klinisch festgelegt worden. Andere Formen der Ataxie
dagegen, die man zuweilen bei Kleinhirnerkrankungen sail, hat man
durch Mitbeteiligung der Briicke an dem KrankheitsprozeB zu erklaren
versucht, und sie sind im wesentlichen auf Lasion der sensibeln Bahnen
in der Haube zuriickgefiihrt worden.
DaB aber in der Tat auBer der cerebellaren Ataxie noch andere
sehr erhebliche Storungen in der Koordination der Bewegungen bei
Kleinhirnerkrankung zu beobachten sind, bewiese ein von Sander
angefiihrter Fall mit schweren Motilitatsstdrungen, besonders der Bewe-
gungsfolge, die offenbar hervorgemfen ware durch die Degeneration
des Bindearmes (auch Erkrankungen der im Verlauf der Bindearm-
bahn eingestreuten Gangliensysteme, besonders des Corpus dentatum
und der auBeren Kerne des Thalamus, werden offenbar Storungen
iihnlicher Natur hervorrufen miissen) und durch den hierdurch beding-
ten Ausfall einer bestimmten Einwirkung des Kleinhirns auf die Tatig¬
keit der motorischen Zentren. Der Effekt dieses Ausfalles ist der, daB
der Kranke die Fahigkeit verliert, die motorischen Impulse in rich-
tiger Abstufung und Starke auf die einzelnen Muskelgruppen zu ver-
teilen und so eine koordinierte Bewegung zustande zu bringen. Die
Muskeln, auf welche der lmpuls vorwiegend gerichtet ist, werden viel
zu stark, andere wieder zu gering innerviert, die Starke des Impulses
>teht in keinem Verhaltnis zu der beabsichtigten Bewegung, es konimt
geradezu zu einer Vergeudung motorischer Kraft, und als Effekt sehen
Digitized by Got >gle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Digitized by
102 K.Marquard: t)ber ungewohnlich lokalisierte Encephalitisformen nach Grippe.
wir jene eigentiiralich briisken, maBlosen Schleuderbewegungen, die
Avir als choreatisch bezeichnen.
Zum SchluB fiihre ich noch eine Arbeit Jelgersmas iiber die System-
erkrankungen des Kleinhirns an. Seine klinische Beobachtung bezieht
sich auf einen alten Mann, bei dem im Laufe von 8 Jahren schwere
Koordinationsstorungen sich entwickelten, und zwar auch an den Ex-
tremitaten, mit tremorartigen Bewegungen des Korpers und der Arme
und mit Gleichgewichtsstorungen. — Mikroskopisch war der Befund
hierbei: Purkinjesche Zellen der Kleinhirnrinde schwer verandert
und zu einem sehr betrachtlichen Teile ganz verschwunden.
Aus dem Vergleich der klinischen und anatomischen Befunde glaubt
Jelgersma den SchluB ziehen zu diirfen, daB die ganze Funktion des
Kleinhirns aufgehoben werde, wenn eine einzige Art seiner parenchy-
matosen Elemente verschwinde. Die ganze Funktion des Kleinhirns
sei in den Purkinjeschen Zellen konzentriert; wenn diese nicht funk-
tionieren, sei die ganze Kleinhirnfunktion ausgeschaltet. Dasselbe
sei auch der Fall, wenn ein anderes wesentliches Element fehle, z. B.
die Korper. Das Kleinhirn sei der Trager einer einheitlichen Funktion,
und seine einzelnen Elemente bilden jedes fiir sich eine Etappe inner-
halb derselben. Diese Funktion sei die Koordination der Willkiir-
bewegungen. Jede diffuse Erkrankung des Kleinhirns offenbart sich
in der gleichen Weise als Koordinationsstdrung, unabhangig von den
Elementen, welche affiziert sind.
M. Bielschowski, der iiber diese Arbeit in einem Referat be rich-
tet 1 ), fiigt hinzu, daB er schon vor Jahren auf den systematischen
Charakter der degenerativen Veranderungen bei den diffusen Klein-
hirnatrophien hingewiesen und den hier von Jelgersma beschrie-
benen Befund als zentrifugalen Degenerationstypus bezeichnet hat.
Cber die Adiadochokinese erfahren wir auch bei ihm nichts Naheres.
In einer fthnlichen Arbeit iiber das gleiche Thema ergeben seine Beobach-
tungen weiter, daB die Koordination der Bewegungen vom GroBhirn
ausgeht, wo die Muskelbewegungen in alien Einzelheiten als Bewegungs-
bilder deponiert sind. Das Kleinhirn reguliere also nur insoweit die
koordinierten Bewegungen, als es in das Koordinationssystem einge-
schaltet ist.
Am haufigsten findet sich das in Frage stehende Symptom wohl bei
gleichseitigen Kleinhirnaffektionen, dann meist kombiniert und oft iiber-
lagert mit Hemiataxie. Es findet sich aber auch bei Sitz der Er¬
krankung im GroBhirn und in den Stammganglien und kann der Aus-
druck einer beginnenden pyramidalen Hemiparese sein. Diesen SchluB
rechtfertigt z. B. folgende Beobachtung der hiesigen Klinik: Eine Frau
i) Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 20, Heft 4/5. 1920.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Mit einem Beitrag iiber das Symptom der Adiadochokinese. 103
von 38 Jahren erkrankte plotzlich mit Kopfschmerzen und einer Serie
von epileptischen Anfallen, an welche sich ein Zustand von Ratlosig-
keit und leichter Desorientierung anschloB. Au Ber einer leichten zen-
tralen Facialisparese rechts zeigte Patientin keine weiteren Halbseiten-
symptome. Die Pyramidenbahnreflexe waron nieht sicher nachweisbar.
Nach einigen Wochen klagte die Frau aber iiber eine gewisse Bewegungs-
behinderung im linken Arm und im linken Bein, welche sich bei der
Untersuchung im wesentlichen als eine Bewegungsverlangsamung dar-
stellte, die namentlich bei der Priifung auf Adiadochokinese zutage
trat. Die grobe Kraft war noch nicht herabgesetzt. — Bei der Sektion
ergab sich ein Tumor im Mark der rechten GroBhirnhemisphare, welcher
sich nach den rechten Stammganglien und der inneren Kapsel zu ent-
wickelte. Die Adiadochokinese links war in diesem Falle so deutlich,
daB man auch einen linksseitigen Kleinhirntumor in Erwagung gezogen
hatte. Ataktische Bewegungsstorungen fehlten. —
Man wird also zu unterscheiden versuchen zwischen cerebraler,
striarer und cerebellarer Adiadochokinese.
Die cerebellare Form wird wohl meist durch das gleichzeitige Auf-
t reten einer mehr oder weniger star ken, homolateralen Hemiataxie
uiul Hypotonie charakterisiert sein. Bei Sitz der Erkrankung im Stria¬
tum werden Rigor und Tremor sich hinzugesellen, wahrend bei Er-
krankungen mit Schadigung des py r a midale n Systems neben der Bewe¬
gungsverlangsamung nur noch die Zeichen der kontralateralen eventuell
spastischen Hemiparese zu bestelien brauchen.
Die Erkennung dieser letzten Form der Adiadochokinese, bei der
es sich um eine beginnende Pyramidenbahnschadigung handelt, kann
vielleicht durch den Scopolaminversuch erleichtert werden, in wel-
chem bekanntlich bei schon leicht beschadigtem Pyramidenbahn-
systera die Dorsalflexion der groBen Zehe halbseitig sich hervorrufen
liiBt, wahrend bei Kleinhirnaffektionen und striarer Erkrankung dies
nicht der Fall zu sein pflegt 1 ).
In dem Falle, welcher der Ausgangspunkt unserer Betrachtungen
iiber Adiadochokinese gewesen ist, fand sich nur die Bewegungsver¬
langsamung im rechten Arm, Bein und Facialisgebiet, aber keine Hemi¬
ataxie von einer gewissen Erheblichkeit, sondern nur ein Hemitremor
im rechten Bein und in der Gesichtsmuskulatur.
Man muB also bez.iiglich der speziellen Lokalisation der encepha-
litischen Stoning in unserem Falle wieder schwankend werden und
wird die Moglichkeit- einer Encephalitis des Striatums nicht ganz von
der Hand weisen diirfen, obwohl, wie oben genauer ausgefiihrt wurde,
manches fiir eine Lokalisation im rechten Kleinhirn sprach.
x ) Vgl. hierzu: M. Rosenfeld, Uber Scojiolaminwirkungen am Nerven-
svstem. Miinch. med. Wochensehr. 1921. Nr. 31, S. 971—973.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
104 K. Marquard: Uber ungewohnlich lokalisierteEncephalitisformen nach Grippe
Digitized by
Weitere Literatur:
Rothmann, M.: Zur Funktion des Kleinhirns. Dtsch. Zeitschr. f. Nerven¬
heilk. 41, S. 105ff. — Lewandowski, M. : Experimentelle Physiologie des Klein-
hirns. Im Handbuch der Xeurologie Bd. I. Julius Springer. Berlin 1910. —Von
demselben: Die cerebellare Ataxie. Ebendort. Bd. II. — Cassirer, R.r
Die chronischen diffusen Kleinhim-Erkrankungen. Bd. III. Desgl. — Bing.
R.: Die Lokalisation der Kleinhirn-Erkrankungen. Dtsch. med. Wochen-
schr. 38, 881. — Barany, R-: Lokalisation in der Rinde der Kleinhim-
Hemisphare. Wien. klin. Wochenschr. 25, 2033. — Abrikossow, A.: Zur patho-
logischen Anatomie der primaren atrophischen Prozesse der Kleinhim-Rinde.
Korsakoff’sches Joum. f. Neuropathol. u. Psychiatr. 10, 679 (Ref. i. d.
Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 3, 564). — Fickler, A.: Klinische
und pathologisch-anatomische Beitrage zu den Erkrankungen des Kleinhirns.
Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. 41. — Mingazzini, G.: Pathogenese und
Syinptomatologie der Kleinhirn-Erkrankungen. Ergebn. d. Neurol, u. Psych. 1.
— Striimpell, A.: Bemerkungen zur Lehre von der Koordination und Ataxie.
Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. 23, S. 1—38. — Lotmar, F.: Bemerkungen
zur Adiadochokinese und zu den Funktionen des Kleinhirns. Corresp.-Blatt f.
Schweizer Arzte. 1913. Nr. 45/47. — Auerbach, S.: Zur physiologischen Ana¬
tomie und lokaldiagnostischen Bedeutung der Hemiataxie. VII. Jahresvers. d.
Gesellschaft deutsch. Nervenarzte, Breslau 1913. Und: Journ. f. Psychol, u.
Neurol. 20, 219. — Edinger, L. : Uber das Kleinhirn und den Statotonus.
Dtsch. Ztschr. f. Nervenheilk. 45. — Striimpell, A.: Uber primare akute
Encephalitis. Dtsch. Arch. f. klin. Med. 47. 1891. — Oppenheim, H. u.
Cassirer, R.: Die Encephalitis. Monographic. 2. Aufl. Wien 1907. — Nonne, M.:
Zur Pathologie der nichteitrigen Encephalitis. Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk.
18. 1900. — Siebert, H.: Die Affektionen des Xervensystems duieli akute
Infektionskrankheiten, speziell die Grippe. Monatsschr. f. Psychiatr. u. Neurol.
48, S. 149. — Bregmann, L. E., Krukowski. G. : Beitrage zur Meningitis
serosa. Monatsschr. f. Psychiatr. u. Neurol. 83, 238. — Seliilder, P.: Zur
Frage herdgleichseitiger Hemiparesen bei Erkrankungen der hinteren Schiidel-
grube. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr., Orig. 9, 35. — Wagener, O.:
Beitrage zur Kenntnis der intrakraniellen Komplikationen im AnschluB an Mittel-
ohrerkrankungen. Charite - Annalen. 86, 485. Ref. in Zeitschr. f. d. ges.
Neurol, u. Psychiatr. 6, 408. — Foerster, 0.: Uber den meningo-cere-
bellaren Symptomenkomplex bei fiebcrhaften Krankheiten. VII. Jahresvers. d.
Gesellsch. deutsch. Nervenarzte. Breslau 1913. — Popper, E.: Striare Syndrome
bei Encephalitis. Zentralbl. f. Neurol. Jan. 1921. Ergiinzungsbd. — Marfan. A.B.:
Storungcn der Diadochokinese im Verlauf der Chorea. Bull, de la soc. de pediatric
de Paris. 1911. S. 124. Ref. von Boas in: Zentralbl. f. Neurol. 1912, S. 22. —Gold¬
stein. K.: Uber Storungcn der Schwerempfindung bei gleichseitiger Klein¬
hirn-Affektion. Zentralbl. f. Neurol. 82, 1082. — Maas, O.: Storung der Schwer¬
empfindung bei Kleinhirn-Erkrankungen. Zentralbl. f. Neurol. 7, 405. —
Sander, M.: Ein pathol.-anatom. Beitrag zur Funktion des Kleinhirns. Dtsch.
Zeitschr. f. Nervenheilk. 18, 364. —Jacobsohn, L. u. Jamane, B.: Zur Patho¬
logic der Tumoren der hinteren Schiidelgrube. Arch. f. Psychiatr. u. Nerven-
krankh. 29. — Fischer, O.: Zur Symptomatology- der Polioencephalitis,
haemorrhagica superior. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 8, 481. —
Vogt, C. u. O.: Erster Versuch einer pathologisch-anatomischen Einteilung
striarer Motilitatsstorungen nebst Bemerkungen iiber seine allgemeine wissen-
schaftliche Bedeutung. Journ. f. Psychol, u. Neurol. 24, H. 7. —Jelgersma.
Zur Theorie der cerebellaren Koordination. Journ. f. Psychol, u. Neurol. 24, H. 3.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
47. Wanderversaminliing der siidwestdeutschen Neurologen
und Irrcnarzte am 27. und 28. Mai 1922 in Baden-Baden.
(Einyegangen am 4. Juli 1922.)
Anwesend die Herren:
Allendorf-Baden-Baden, S. Auerbach-Frankfurt a. M., v. Baever-
Heidelberg, Balluff-Frankfurt a. M., Bauer-Biih), Baumann-Essen, Bayer-
Baden-Baden, Beisinger-Baden-Baden, G. v. Bergmann-Frankfurt a. JVL,
Beyer- Roderbirken, Binswanger- Kreuzlingen. Blankenstein- Heidelberg,
Brauns-Karlsruhe, Bumke-Leipzig, Burger-Baden-Baden, Buttersack-
Heilbronn. Clauss-SchloB Hornegg, Dorf f-Rastatt, G. L. Dreyfus-Frank-
furt a. M., Dreyfu 13-Mannheim, Drill-Frankfurt a. M., Eberhart-Baden-
Baden, Erlenmeyer-Bendorf, Faller-Zweibriicken, Fischer-Baden-Baden,
Frederking-Heidelberg, Freund-Frankfurt a. M., Friedemann-Konig-
stein i. T., Fuchs - Baden - Baden, Georgi - Heidelberg, Giese - Baden-
Baden, Graf-Heidelberg, Gross-Konstanz, G ruble-Heidelberg, Griiner-
Baden-Baden, Griinewald-Freiburg i. B., Haardt-Emmendingen, Hack-
Rohrbach, Hassmann-Bretten, Hauptmann-Freiburg i. B., Hayashi-Ham-
burg, Haj f mann-Badenweiler, Hedinger-Baden-Baden, v. Hecker-Frank-
furt a. M., Hezel-Wiesbaden, Hoche-Freiburg i. B., Hiibner-Baden-Baden,
Huttenbach-Miinchen, Jaeger-Konstanz, Jaensch-Frankfurt a. M., Kauf-
mann-Ludwigshafen, Kirschbaum-Koln, Kuhne-Emmendingen, Kiippers-
Freiburg i. B., Landauer-Goppingen, Laudenheimer-Miinchen, Lehmann-
Baden-Baden, Leva-Ludwigshafen, Levi-Stuttgart, Leyser-GieBen, Lieber-
meister-Diiren, Mann-Mannheim, Mayer-GroB-Heidelberg, E. Meyer-Saar-
briicken, O. B. Meyer-Wiirzburg. Mohr-Coblenz, Morchen-Wiesbaden, Mor-
statt-Winnental, Leo Muller-Baden-Baden, Nakamura-Hamburg, van
Oordt-Biihlerhohe, Osborne-Baden-Baden, Oster-Baden-Baden, Pelzer-Bre-
men, Pf under-Ulenau, Pletzer-Baden-Baden, Poensgen-Nassau (Lahn),
Rae eke-Frankfurt a. M., Reck-Emmendingen, Romer-Hirsau, Roemheld-
Homegg, Riippel-Herrenalb, Sack-Baden-Baden, Scheven-Frankfurt a. M.,
Schmelcher-Illenau, Schmidt-Mainz, Schneider-Illenau, Schottelius-Frei-
burg i. B., Schultze-Bonn, Sick-Stuttgart, Simmonds-Frankfurta. M., Steiner-
Heidelberg, Steinfeld-Heidelberg, Stock-Tubingen, Stolzenberg-Gottingen.
Thoma-Illenau, Wartenberg-Freiburg i. B., Wassermeyer-Alsbach, Weich-
brodt-Frankfurt a. M., Weil-Stuttgart, Weinland-Weinsberg, v. Weizs&cker-
Heidelberg, Werner-Winnental, Weygandt-Hamburg, Wilhelmy-Bonn. Wol-
lenberg-Breslau, Wuth-Munchen.
1. Sitzung, 27. Mai 1922, nachmittags 2 Uhr.
Weygandt-Hamburg begriillt als Geschkftsfiihrer die Versammlung. Er
gedenkt zunachst der im vergangenen Jahre verstorbenen Kollegen Erb, Sfinger,
Quincke, Gerhardt, zu deren Ehren sich die Versammlung von ihren Platzen
erhebt.
Sein Erb gewidmeter Xachruf hatte folgenden Wortlaut:
Unser Altmeister Erb ist am 29. Oktober 1921, fast 81 jahrig, dahingeschieden.
Hoche hielt fur unsere Versammlung eine Rede bei der Trauerfeier, unter Nieder-
Digitizea by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
106
47. Wanderversammlung tier siidwestdeutschen Neurologen
Digitized by
legung eines Kranzes. Auf ein Kondolenzschreiben erwiderte mir die Wit we
dankend, daB gerade die Badener Versammlung ihrern Gatten jeweils aufs innigste
am Herzen gelegen habe.
Des konnte jeder Besucher der Versainmlung gewahr werden, und darurn
sind wir unserem Erb ullezeit treuen Dank schuldig. Wir brauchen uns heute nieht
eingehend zu vergegenwiirtigen, welche arbeits- und siegesreiche Laufbahn Erb
geschritten ist, in einer wissenschaft lichen Tatigkeit, deren Zeugnis in Form von
hunderten Arbeiten, ebenso bedeutsamen Einzelentdeckungen wie imposanten
Zusammenfassungen, vor uns liegen. Er war der rechte Mann, der die Gelegenheit
seines Zeitalters, das Nervensystem mit Hilfe von Anatomie und Elektrophysiologie
klarer zu erkennen, durch beispiellosen FleiB und Scharfblick wahrnahm und so
die Grundlagen der keutigen Neuropathologie schuf. Treueste Analyse des Einzel-
falles und klarste Synthese zu Krankheitsbildern bot seine rastlose Wirksamkeit.
Heute mutet es uns wie ein Besitz aus uralten Zeiten an, was er uns erstritten hat.
Wafarend auf wissenschaftlichem Gebiete unzahlige Neupragungen binnen Men-
schenaltersfrist schon reichlich Patina ansetzen und vieles schon dahingerostet
ist, strahlen die meisten seiner Schopfungen noch „herrlich wie am ersten Tage“,
seine Lehre von den Atrophien und Dystrophien, die Erbsche Lahmung, seine
Entwickelung der Entartungsreaktion u. a. — Genugtuend muB es uns beriihren,
daB er kurz vor Kriegsbeginn noch die SchluBsteinlegung seiner Luestabestheorie
erleben durfte, die er jahrzehntelang, so beispielsweise auch auf dem Moskauer
KongreB 1897, gegeniiber der Berliner Schule mit Lowenmut verteidigt hat.
Gedenken wir heute seiner vor allem als des Mitgliedes oder vielmehr Hauptes
unserer Versammlung. Schon deren Vorlauferin, die Versammlung des Siid-
westdeutschen psychiatrischen Vereins in Heppenheim, hat er durch seine For-
schungen bereichert. 1874 trug er iiber die partielle Entartungsreaktion und
1875 iiber die spastische Spinalparalyse vor. Als am 20./21. Mai 1876 durch Ludwigs
Initiative die erste Badener Versainmlung zustande kam, war unter den 50 Teil-
nehmem schon der Name Erb einer der strahlenreichsten; er sprach liber die Lateral-
sklerose und ihre Beziehungen zur Tabes dorsalis. Er wurde der eifrigste Besucher
und bald der Mittelpunkt unserer W 7 anderversammlung, die sich friih in Baden-
Baden festsetzte. W 7 ohl nur durch seine Leipziger Episode und einige Altersjahre
abgehalten, konnte er 36 Versammlungen besuchen, auf denen er 17 Vortrage
und zahlreiche Diskussionsbemerkungen bot. Geme erorterte er die Beziehungen
zwischen Syphilis und Riickenmarksleiden, therapeutische und atiologische Pro-
bleme brachte er vor, besonderer Nachdruck lag auf seinen Forschungen iiber
das intermittierende Hinken infolge Arterienverkalkung.
Auf der Jubilftumsversainmlung 1900 begriiBte er als erster Geschaftsfiihrer die
mit Damen erschienenen Kollegen und sprach iiber die neurologischen Leistungen
der 25 Versammlungen, freudig wies er auf die Fiille neuer W 7 ahrheiten hin, die
in Baden-Baden das Licht der Welt erblickten, nicht weniger als 348 Vortrage
neurologischen Inhalts hatte das erste Vierteljahrhundert imserer Versainmlung
gezeitigt. Selbst steuerte er einen Vortrag zur Friihdiagnose der Tabes bei. 1908
gab er uns, dazu berufen wie kein zweiter, einen „Riickblick und Ausblick auf die
Entwickelung der deutschen Nervenpathologie im letzten halben Jahrhundert",
wobei er die Schaffung besonderer Nervenkliniken forderte, und 1913 besprach
er „neue Wendungen und Umwertungen der Tabeslehre“.
Im Badener Kreise war er nicht der unerbittliche, peinlich exakte Lehrer
aus der Klinik, der gefiirchtete Examinator, der mit scheuer Ehrfurcht geschatzte
Chef und Ordinarius. Wohl ging es uns alien, die wir uns seine Schuler nennen
durften, beim Vortrage wissenschaftlicher Versuche noch durch die Glieder, wie
Nonne es ausdriickte: Was wird wohl Erb dazu sagen? Mit ewig frischem Interesse
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
und Irrenarzte am 27. und 28. Mai 1922 in Baden-Baden.
107
und WohlwoDen nahm er freudig die neuen Emmgenschaften der Forschung
eines Edinger, Nissl, Bethe und mancher anderer entgegen, die gerade die
-Badener Versamndung gerne als Geburtsstfitte ihrer Geisteskinder aufsuchten.
Cber den Lehrer und Kritiker hinaua war Erb auf dieser Versannnlung auch der
empfilngliche, wohlmeinende Kollege, der freundschaftlich mitempfindende Mit-
arbeiter am groBen Bau unserer Wissenschaft.
GewiB mochte seiner klaren, objektiven, alles mit MaB und Gesetz anfassenden
Denkweise manche andere Richtung fremd bleiben. Das rein Psychiatrische
war ihm nicht gelaufig, und die psychologisierende Auffassung lag ihm wenig,
ja auf die heutige Neopsychologie hatte er wohl in jener knorrigen Weise reagiert,
die an seine waldumrauschte Pf&lzer Heimat erinnem mochte. Selbst seine be-
kannteste Schrift aus psycho-neurotischem Gebiet, die beriihmte Rektoratsrede
„Cber die wachsende Nervosit&t unserer Zeit“ 1893 suchte die Erkliirung vor-
wiegend auf exogenem Wege, und in der Frage der metaluischen Auslese wollte
er sich mit der immanenten Qualit&t der Spirochatenstamme iinmer noch eher
anfreunden als mit der individuellen Disposition, die er einen vagen und undefinier-
baren Begriff nannte.
Trotz alledem konnte auch von psychiatrischer Seite seine Denk- und Arbeits-
weise als stete Mahnung zur unerbittlichen Exaktheit nur wohltuend empfunden
werden. Vollends im engeren Verkehr zu Baden-Baden entfaltete sich seine Per-
soidichkeit zu einer unendlich anregenden, fordemden und geradezu begliickenden
Wirkung. Auch als Mann der Arbeit war er der geborene Lebenskiinstler, offencn
Siunes fur die Gaben der Kunst und die Schonheit der Natur. Darurn konnte er
hier in dem Schwarzwaldelysium nicht nur die wissenschaftliche Atmosphare der
aufstrebenden Forschergenerationen Ant»ius-gleich empfinden, sondern die kost-
liche Gelegenheit, von einer Stiitte vornehmer Kultur aus den kraftvollen Hauch
deutscher Berg- und Waldschonheit zu genieBen, lieB ihn hier sorgentlastet vollig
auftauen im Gefiihl des: Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.
Dem Anffinger wie dem vorgeschrittenen Fachkollegen wog hier im Vor-
tragsreigen ein billigendes Kopfnicken Erbs inehr als lange Rezensionen, und
eine Stunde in vertraulicher Abendrunde bei den Klangen des Kurorchesters gab
den Teilnehmem das weihevolle BewuBtsein der Zugehbrigkeit zu einer lebendigen.
geradezu familiaren Denk- und Arbeitsgemeinschaft.
Fur ihn bedeutete die Badener Versammlung wirklich eine Herzensangelegen-
heit, in dem Jahreskreise einen Hohepunkt. Fiir uns bietet sein Andenken ein
immerwfthrendee belebendes Vorbild. Wahrlich, es sollte jedem, der neu in diesem
Kreise auftritt, die Frage vorgelegt werden, die Hoc he im Hinblick auf einen
noch groBeren Richter gepragt hat: Wie wolltet Ihr vor seinem Blick be-
stehen!
Wie eine Art Sinnbild des alten, wirklichkeitsfrohen und geistig strebenden
Deutschlands steht seine Forschergestalt vor unserem geistigen Auge, aus jenem
Zeitalter selbstbewuBter, wertschaffender, von keiner anderen Seite zu iiber-
treffender Kulturforderung, dem auch er blutige Opfer brachte und dessen Diim-
mernng er niminer vcrwinden konnte. Zu einer Art faustischcn Allgemeingiiltig-
keit hatte sich seine Person entwickelt, nicht im Sinne des Griiblers, sondern des
gereiften Schaffers im zweiten Teil:
Er stehe fest und sehe hier sich um,
Dem Tiichtigen ist diese Welt nicht stumm.
Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen?
Was er erkennt, liiBt sich ergreifen!
VVenn Geister spuken, geh' er seinen Gang,
im Weiterschreiten find" er Qual und Gliick!
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
108
47. Wanderversammlung der siidwestdeutschen Neurologen
Digitized by
Seine prachtvolle Erscheinung, die mit Fug einen Ehrensitz unter den Charakter-
kopfen in der Tafelrunde von Leonardos Abendniahl hatte einnehmen diirfen,
jener lebendige Mittelpunkt unseres Badener Kreises, ist uns entschwunden.
>Sein Auge, dem ziindendes Feuer entstrahlte, ist uns erloschen. Sein Geist moge
walten unter Deutschlands Nervenfirzten, zumal auch jeweils auf unserer schonen
ihm stets so teueren Badener Versammlung!
Die Versammlung schriftbch begriiBt baben: Aschaffenburg-Koln, Fried-
lander-Freiburg i. B., Gierlich-Wiesbaden, Landauer-Frankfurt, Maver-
Ulm, Neumann-Karlsruhe, Schultze-Gottingen.
Zum Vorsitzenden der 1. Sitzung wird Wollen berg-Breslau, der 2. Hoche-
Freiburg gewfihlt, zu Schriftfuhrern, wie bisher, Hauptmann-Freiburg und
Steiner-Heidelberg.
Es halten Vortrage:
1. Herr Schultze-Bonn: Huntington'sche Chorea und fortschreitende
Mvoklonus-Epilepsie nebst Mitteilungan liber rhythmische Myoklonie
bcim Menschen und beim Hunde.
In bezug auf den Streit dariiber, ob die beiden in der Uberschrift genannten
Krankheitsformen gleichartiger Natur sind oder nicht, legt der Vortragende dar.
dafl die Gleichartigkeit bei weitem iiberwiegt. Sowohl der fortschreitenden Chorea
Huntingtons als der fortschreitenden sogenannten Myoklonus-Epilepsie von
Unverricht und Lundborg sind gemeinsam die haufige Vererbbarkeit,
das Fortschreiten bis zum Tode, die gewohnliche Verbindung mit zunehmender
Verblodung und das Auftreten unfreiwilliger Muskelzuckungen.
Ein Unterschied besteht in dem Vorwiegen klonischer Zuckungen bei der
von Unverricht-Lundborg beschriebenen Form, sowie in der viel groBeren
Hiiufigkeit von epileptischen Anfallen bei ihr.
Auch die bisher erhobenen anatomischen Befunde ergeben Gleichartiges, be-
sonders in den Fallen von Myoklonus-Epilepsie von Paviot-Josserand. Verga
und Gonzales, Clark-Pront, welch letzterer allerdings nur die Hirnrinde
inikroskopisch untersuchte. Sehr bemerkenswert sind auch die neuen Befunde
von A. Westphal und Sioli, die ganz besonders im Thalamus und im Nucleus
dentatus ungeheure Mengen von Corpora amylacea-Einschliissen in den Ganglien-
zellen vorfanden, Einschliissen, die auch in der Rinde nicht fehlten.
Wie weit vielleicht eine Verschiedenheit in der Lokalisation der Entartungs-
lierde im Gehim bei der Huntingtonsehen und der Unverrichtschen Krank-
heitsform eine gewisse Verschiedenheit in den klinischen Erscheinungen bewirkt.
ruuB noch dahingestellt bleiben. —
Im Anschlusse an diese Erorterungen berichtet der Vortragende iiber einen —
bei Menschen sehr seltenen — Fall von rhytlnnischem Nickklonus bei einem Tumor
im Corpus striatum. Diese Zuckungen traten gleichzeitig mit der Karotispulsation
auf. Endlich geht er des naheren auf die gleiehfalls rhythmischen Muskelzuckungen
bei dem Staupetick der Hunde ein. ausgehend von einem von ihm selbst be<ib-
achteten Falle.
2. Herr Wollenberg-Breslau: Cber sj’stematische Orientierungsstorungen.
Es handelt sich uin Storungen der „egozentrischen Lokalisation 11 , d. h. der
rtiumlichen Beziehungen zu unserer eigenen Person, die wir als rechts und links,
vorn und hinten, oben und unten, nah und fern auseinanderhalten. Wir liaben es
also nicht mit organischen, exakt meBbaren Stoningen zu tun, wie sie Weiz-
sacker kiirzlieh in den optischen und haptischen Komponenten der Raumwahr-
nehmung bei einem Fall von Vestibularerkrankung erkannt und beschrieben hat.
Der Sachverhalt wird am klarsten durch kurze Mitteilung meiner Beobaclitungen:
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
und Irrenarzte am 27. und 28. Mai 1922 in Baden-Baden.
109
1. Fall P. Feingebildete Dame, im Anfang der fiinfziger Jahre, etwas nervos
im Sinne leichter Erschopfbarkeit, mit Zeichen von Vagotonie, sonst gesund.
Leidet in neuerer Zeit, wie schon gelegentlich in jiingeren Jahren, anfallsweise
an einer Empfindung, als sei die bekannte Umgebnng um 180° gedreht, und als
bewege sie sich auf der StraBe in einer dem Ziel entgegengesetzten Richtung. Die
bekannten Gebiiude scheinen ihr in bezug auf rechts und links vertauscht. Die
Storung verschwindet ebenso plotzlich, wie sie gekommen ist, wird zuweilen ab-
gekiirzt durch Fixieren einer Auslage im Schaufenster oder dergl. Peinbches
Gefiihl der Ratlosigkeit, aber keine Gleichgewichts- oder BewuBtseinsstoning.
2. Fall N., 19jfthriges Madchen, Zwillingskind, etwas skrupulos veranlagt,
mit religiosen Zwangsvorstellungen. Seit dem 11. Jahre ofters plotzliche Emp-
findung, als sei die Umgebung um 180° gedreht, rechts und links vertauscht.
WiUkiirliches Drehen um die eigene Achse und energisches Wollen beseitigt den
Zustand zuweilen, ruft ihn aber unter Umst&nden auch hervor. Auch nachts
beim Erwachen zuweilen fihnliehe Storungen. Bei der Zwillingsschwester das
gleiche in geringerem Grade.
Neben der „automatischen“ Orientierung, welche eine Art innerer Richtungs-
tafel darstellt, besitzen wir noch eine, die man „logische“ nennen kann, weil sie
auf einer bewuBten vemunftmiiBigen Einpragung von Orientierungsmerkmalen
beruht. wie sie sich uns beim Durchwandem einer fremden Stadt oder Gegend
darbieten. Diese beiden Orientierungsmechanismen sind alien gesunden Mensehen
gegeben, stehen aber in einem sehr verschiedenen Verhiiltnis zueinander. Gegen-
liber den bevorzugten automatisch Orientierten, welche einen dem absoluten Ge-
hor vergleichbaren untriiglichen Ortssinn besitzen, befinden sich diejenigen im
Xachteil, welche iiberwiegend oder ausschlieBlich auf die viel umstandlichere und
unsicherere logische Orientierung angewiesen sind.
Meine Falle lassen nun erkennen, daB unter gewissen Umstanden anfallsweise
Zustfinde auftreten, in denen diese beiden, sich sonst in verschiedenem MaBe er-
ganzenden und sich jedenfalls nicht stbrenden Orientierungsmechanismen ge-
wissermaBen in Widerstreit miteinander geraten, und die zwingende Empfindung
auftritt, als bewege man sich dem logisch richtig erkannten Ziel nicht entgegen,
sondem von ihm fort, oder als habe sich die Umgebung um 180° umgelagert.
Meine Beobachtungsperson P. sagte beim plotzlichen Einsetzen einer solchen
Storung: „Jetzt bin ich gedreht 11 und bei dem meist ebenso plotzlichen Schwinden
der Stbrung: ..Jetzt bin ich wieder richtig“; sie fand sich in bekannten Gegenden
nur logisch zurecht, weil ihr alles links zu liegen schien, was sie rechts erwartete,
und umgekehrt. Die Beobachtungsperson N. hatte ahnliche Tauschungen, auch
mit Bezug auf Platze und Briicken, bei denen ihr zeitweise das Vom und Hinten
vertauscht schien.
Storungen dieser Art sind nun bisher selten beschrieben wortlen. Insbesondere
liat A. Pick (Deutsche Med. Wochenschr. 1908) dariiber zusammenfassend
berichtet und den Versuch gemacht, die Storung im Gehim zu lokalisieren. Wable
hat daran kritische Bemerkungen gekniipft (Deutsche Med. Wochenschr. 1909)
and die rein funktionelle Xatur der von ihm in 2 Gruppen geteilten Falle darzu-
legen gesucht. Diese Gruppen umfassen einmal die Falle, in denen nur normale
..Intiimer des topographischen Kalkiils“ vorliegen , und solche, in denen eigent-
liche Wahrnehmungsstbnmgen, wohl wesentlich als Folge von Ermiidung, ein-
treten.
Falle nach Art der meinigen scheinen hiermit allerdings nicht geniigend er-
klart zu sein. Fur die weitere Erorterung ist wichtig die bekannte Beobachtung
von P. Janet, welche diesen Autor veranlaBt hat, fiir derartige Falle eine Ver-
tauschung von Rechts und Links an den visuellen Erinnerungsbildern anzu-
Digitizea by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Digitized by
110 47. Wanderversammlung der siidwestdeutschen Neiirologen
nehmen. With rend aber in Janets Fall eine dauernde Stbrung vorlag. trat
sie in meinen Fallen nur anfallsweise auf, was der Deutung weitere Schwierig-
keiten bereitet. Im ubrigen bestand bei diesen eine besondere „neurasthenisclie“
Anlage, die Zust&nde traten vorzugsweise bei besteliender Ermiidung ein und
wurden ausgelost durch die Notwendigkeit der Anpassung an eine neue raum-
liche Situation, die allerdings sonst kaum einen solohen Eindruck hervorzurufen
vermocht hatte. Vielleicht war auch eine gewisse, in beiden Fallen dauernd be'-
stehende partielle Unsicherheit der Rechts- und Linksorientierung von Bedeutung.
Ein gewisser Mangel an Aufmerksamkeit schien femer bei beiden Personeu eine
Rolle zu spielen. Dem eigentlichen Verstandnis fur das Zustandekommen der
Stoning, die ohne Frage eine rein funktionelle ist, werden wir erst nach genauerer
Durchforschung geeigneter Falle naherkommen.
Diskussionsbemerkung:
Herr Hoche: Ich kann mich Ilmen auch vorstellen als Jemand, der aus
eigenem Erleben die vonExner beobachteten Orientierungsstbrungen im Raume
zeigt. Wenn ich im Dunkeln im Bett liege, kann ich mich durch einen bewuBten
Willensakt um 180° in eine andere Achse des Zimmers versetzen, so daB ich eine
vollige Umkehr von rechts und links nicht nur in der Vorstellung zu erleben glaube,
sondem mit solcher Bestimmtheit erlebe, daB ich z. B. beim Greifen nach dem
Nachttisch die uberraschende Tauschung erfahre, ihn nicht an seiner Stelle zu
finden. Dieser Akt des Achsenwechsels vollzieht sicli sozusagen mit einem fiihl-
baren Ruck, ebenso die Ruckkehr in das normale BewuBtsein der richtigen Lage,
wenn ich durch Offnen der Augen die Korrektur durch die Lage des Fenster-
scheines gewinne. Der innere Zustand dabei zeigt eine nicht eigentlich unan-
genehme leichte Spannung, die in ihrer Farbung etwas an den Zustand erinnert,
den man beim „deja vu“ empfindet. Es handelt sich dabei sicherlich nicht um
irgendwelche peripherische Vorgange, sondem um zentralste Dinge. Es dauert
in der Regel, nachdem man den EntschluB zum experimentellen inneren Lage-
wechsel gefaBt hat, bis die entsprechende Mechanik einschnappt, einige Sekunden.
evtl. auch Minuten, und bei Ermiidung kann der angestrebte Erfolg iiberhaupt
ausbleiben.
3. Herr Hoclie-Freiburg i. B.: Haben misere Traumbilder halluzinatorischen
Charakter?
Unter Traumbildem verstehen wir hier alle diejenigen Traumvorgange, die
einen sinnesmaBigen Inhalt haben mit AusschluB von GefUhlen, Stimmungen,
Impulsen imd Denkvorgangen. Die Frage des Themas ist bisher im allgemeinen
bejaht worden; es wurde gelegentlich, um Verstandnis fiir das Wesen der Hallu-
zinationen zu vermitteln, darauf hingewiesen, daB wir alle im Traume halluzinieren.
Mir ist im Laufe jahrzehntelanger Besclmftigung mit dem Traumproblem die Be-
antwortung weniger sicher geworden.
Es wird notwendig sein, eine scliarfe Umgrenzung dessen, was wir unter
Halluzinationen verstehen, vorauszuschicken. Dies ist um so notwendiger, als
neuerdings die Tendenz besteht, die grundsatzlichen Unterscliiede zwisohen Wahr-
nehmung und Vorstellung und somit von Erinnerungsbild und Halluzination
zu verwischen. Wir wollen unter Halluzinationen verstehen: Wahmehmungen
von sinnlicher Bestimmtheit ohne ein dazu gehoriges auBeres Objekt, die, unab-
hangig vom Willen, gleichwertig mit realen Wahmehmungen ins BewuBtsein ein-
ziehen und denen gegeniiber wir Realitatsgefiihl besitzen. Zur Definition gehort
nicht, daB eine Falschung des BewuBtseinsinhaltes in bezug auf das auBere Welt-
bild entsteht; diese Wirkung tritt nur bei Geisteskranken ein. Bei wachen Geistes-
gesunden werden Tmgwahmehmungen schlieBlich immer als solche erkannt.
Wahrend die Illusionen die Verfalschung eines auf auBeren oder inneren Reizen
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
und Irrenarzte am 27. und 28. Mai 1922 in Baden-Baden. Ill
beruhenden Sinnesvorganges darstellen, bedeuten Halluzinationen eine Xeu-
schaffung.
Die Beteiligung der einzelnen Sinnesgebiete an der Haufigkeit der Traum-
bilder ist sehr verschieden. Bei alien Menschen iiberwiegen bei weitem optische
Traumbilder, und zwar so sehr, daB die Mehrzahl (abgesehen von Sensationen
der Tastsphare) nichts Anderes kennt. Es ist dies nicht wunderbar, wenn man
erwagt, daB wir auch im wachen Zustande, sobald wir iiberhaupt nur die Augen
often haben, dauemd Seheindriicke und im Vergleich damit verh<nismaBig
selten andersartige Sinneseindriicke empfangen. Dem Gesichtssinne am nachsten
steht in der Traumhaufigkeit die Tastsphare. Ein wirkliches Horen im Traum
ist nicht haufig, nur 6—7°/o kennen es. Meist bleibt im Traum der zu irgend-
welchen Vorgangen gehorende akustische Eindruck aus (losgehender SchuB ohne
Knall usw.). Ich selbst hore sehr haufig im Traume Musik in einer sinnlichen
Lebhaftigkeit, wie sie mir im wachen Zustande die Reproduktion nie liefert.
Die Reden Anderer, die man im Traume hort, kommen fiir die Halluzinationsfrage
nicht in Betracht; dabei handelt es sich nur um lebhafte Vorstellungen. Riech-
traumbilder finden sich in 6°/ 0 , das Schmecken noch dreimal seltener; jedenfalls
ist die altere Lehre, daB man im Traum nicht schmeckt, dahin einzuschranken,
daB man nur sehr selten schmeckt. Dubois-Reymond erzahlte uns Studenten
von einem Physiologen, der in der Zeit, als man die chemischen Zuckerproben
noch nicht kannte, im Traume seinen Urin kostete und mit Schreck erwachte,
als er ihm suB schmeckte.
Ein groBer Teil aller dieser Traumbilder ist sicher illusionaren Charakters,
Verfalschungen, Umwandlungen, Multiplikationen wirklicher Eindriicke, die ja
im Schlafe von der Tastsphare immer, von seiten der Zunge, der Nase und des
Ohres sich haufig darbieten, wahrend fiir die optischen Traumbilder auBere An-
stoBe die Ausnahme bilden. (Illusionare Verwertung entoptischer Lichterschei-
nungen im Traume ist, wenn sie auch vorkommt, so doch selten.)
Wenn wir an der Hand der oben gegebenen Umgrenzung unseres Halluzi-
nationsbegriffes die einzelnen Bestandteile an den optischen Traumbildem auf-
suchen, so haben sie zunachst das Gemeinsame, daB sie unabhangig von unserem
Willen kommen und gehen, daB sie einen sinnlich bestimmten Charakter haben
und von dem Traumenden als Realitaten genommen werden. Die Gleichwertig-
keit mit wirklichen Wahmehmungen ist infolge des BewuBtseinszustandes des
Traumenden nicht zu priifen. Wenn beim Einbrechen der Wirklichkeit in das
TraumbewuBtsein die Traumbilder einen Moment mit realen Wahmehmungen
konfrontiert werden, so werden sie sofort als Trugbilder erkannt. Sie sind insofem
keine Halluzinationen, als der eine charakteristische Zug, das Realitatsgefiihl,
nicht dem Phanomen als solchem, sondem dem BewuBtseinszustande des Traumes
zuzuschreiben ist.
Andererseits sind die Traumbilder nicht bloB Eriimerungsbilder. Es ist nicht
moglich, durch gewollte passive Hingabe an die eigenen Vorstellungen oder durch
noch so energischen Willen im wachen Zustande die farbige Lebhaftigkeit und
Bestimmtheit von Traumbildem zu erzeugen. Die Selbstbeobachtungen derjenigen,
die im wachen Zustande keiner Reproduktion farbiger Erinnerungsbilder fahig
waren (Fechner, Mobius), und die dennoch farbig traumten, beweisen, daB
der Traum ein neues, sinnesmaBiges Moment zu mobilisieren vermag. Die Traum¬
bilder besitzen auch bei vielen Menschen ein dem wachen Phantasiespiel versagtes
MaB von Selbstandigkeit in Formung und Kombination imd eine Fahigkeit zu
kiinstlerischer Neuschaffung. Sie stehen auch nicht im subjektiven Raum wie
die Erinnerungsbilder, sondem fiir den Traumenden im objektiven Raum.
Es ist in ihnen also doch ein sinnlicher Bestandteil vorhanden, der nicht
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Digitized by
112 47. Wanderversammlung der siidwestdeutsclien Neurologen
allein auf der BewuBtseinsveranderang des Traumes beruht, sondern einen selb-
st&ndigen Erregungsvorgang irgendwelcher sinnesphysiologischer Felder oder
Bahnen — gleichviel welcher Lokalisation — bedeutet.
Die Energie der sinnlichen Bestimmtheit bei den optischen Traumbildern
ist von Mensch zu Mensch und im Einzelnen von Traura zu Traum sehr verachieden.
Die Reihe reicht von matten, verschwommenen, konturschwachen Bildern bis
zur sch&rfsten Pragnanz imd einer bis zur Blendung gehenden Lichtfiille. Dies
allein aber wiirde nicht unter alien Umstanden ausreichen, um diesen Bildern
den Charakter der Halluzination zuzusprechen. Es ergeben sich vielmehr fiir die
optischen Trau mbilder zwei Gruppen, von denen die eine der Starke nach den
Erinnerungsbildem, die andere der Art nach den Halluzinationen nahe steht.
Zur Entscheidung der Frage raeines Themas ware — was zunachst paradox
klingt — eine unmittelbare Vergleichung der Traumbilder im traumenden und
im wachen Zustande nicht nur erwiinscht, sondern notwendig. Den moisten
Traumenden ist eine solche Moglichkeit versagt. Wer infolge systematischer
Selbstschulung im Traumbeobacliten gewissermaBen dauemd auf dem Anstand
sitzt, kann nicht so selten ein Hineinreichen von sinnlichen Traumbestandteilen
in den wachen Zustand beobachten, und zwar in einer Dauer, die geniigt, um
die Kritik des wachen Zustandes auf die Erscheinung zu richten, die allerdings
nach langstens wenigen Sekunden wegschwindet, von der man somit nur noch
sozusagen ein Stiickchen Schwanz erwischt.
Ich selbst habe das Hiniiberreichen von sinnlichen Traumbestandteilen in
den wachen Zustand hfiufig beobachtet, und zwar fiir alle Sinne, mit AusschluB
der optischen Erscheinungen. Es ist im hochsten Grade frappierend, am eigenen
Leibe mit wachem BewuBtsein eine zwcifellos halluzinatorische Wahmehmung
von vollem Realitatscharakter zu erleben, wobei man Zeit und Ruhe hat, um
festzustellen, daB keine illusioniire Verfalschung eines zufiilligen realen Sinnes-
reizes vorliegt. Fiir Haut- und Organgefiihl, Geruch und Geschmack liegt der
Beweis im Momente auf der Hand. Fur Gehorseindriicke bleibt zunachst der
Einwand offen, daB doch ein Gehorsreiz eingewirkt haben konnte. Fiir bestimmte
Gehorstiiuschimgen des Traumes liiBt sich aber auch das widerlegen. Ich erwache
nicht selten von einem halluzinierten Klingeln des Telephons, welches mit solcher
Bestimmtheit in den wachen Zustand hineinreicht, daB ich iiber keinerlei Kri-
terium verfiige, um es als subjektiv zu erkennen. Die Entscheidung, ob subjektiv
oder objektiv, wird nun durch eine experimental wirkende Neureglung unseres
Frei burger telephonischen Signalsystems gebracht, vermoge deren das Klingelsignal
automatisch sich alle 10 Sekunden wiederholt, bis der Horer abgelmngt wird.
Ich kann mit Bestimmtheit feststellen, daB die durch Ausbleiben der Wieder-
holung als subjektiv gekennzeichneten Traumklingelsignale, die in den wachen
Zustand hineinreichen, sich durch kein faBbares Merkmal von echten unter-
scheiden.
Ich kann auf Grand dieser Selbstbeobachtung iiber Halluzinationen bei ge-
nauster Priifung der Erscheinung nur sagen, daB das sie begleitende Realitats-
gefiihl etwas Primiires, Selbstandiges, der Erscheinung unmittelbar Eigenes be¬
deutet, und daB der intellektuelle Vorgang des Urteilens etwas Sekundares
darstellt.
Aus meinen Beobachtungen geht jedenfalls das mit Sicherheit hervor: Wenn
auch das meiste an unseren Traumbildern keinen halluzinatorischen Charakter
hat, so gibt es doch zweifellos auch im Traume echte Halluzinationen bei Geistes-
gesunden, und zwar, wie es scheint, um so hiiufiger, je primitiver die Sinne sind,
d. h. bei Geruch und Geschmack. Die Einzelheiten mochte ich zunachst nur als
fiir mich giiltig bezeichnen; als allgemein giiltig ist aber wohl das gewaltige liber-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
und Irrenarzte am 27. und 28. Mai 1922 in Baden-Baden.
113
wiegen der optischen Traumbilder von nichfc halluzinatorischem Cliarakter zu
bezeiclmen. Die Melirzahl der Menschen kcnnt iiberhaupt nichts Anderes.
4. Herr Mohr-Coblenz. Willenstlierapie und Psychoanalyse.
In vielen Fallen schwerer Neurosen ist, wie Vortragender schon seit Jahren
behauptet hat und wie nun auch Anhanger der strengen Schule Freuds zu-
geben, ohne ein aktives Vorgehen in der Analyse nichts zu erreichen. Die strikte Be-
folgung der sog. „psychoanalytischen Grundregel“ muB fiir diese Falle abnorm
starker innerer Widerstftnde aufgegeben werden. Anderseits findet man bei den
verschiedenen Formen der Willenstlierapie ebenfalls h&ufig so starke Widerstande
daB man trotz oder gerade wegen der Beeinflussungsversuche der Willenssph&re
nicht weiterkommt. Beide Beobachtungen zwingen, zu fragen: Was sind die
Quellen des inneren Widerstandes, kann man ihnen beikommen,
lassen sie sich aufheben, auch wenn man aktiv vorgeht? Eine Haupt-
•quelle sind moralische, soziale, konventionelle Vorstellungen und Gefuhle. Sofem
sie bewuBt vom erwachaenen Menschen aufgenommen worden sind, lassen sie
sich durch entsprechende Aufklamng beseitigen; sofem sie aber in der friihesten
Kinderzeit auf rein assoziativera, nicht logischem W T ege in uns hineingelangt
sind, kann man ihre krankmachende Wirkung nur durch Wiedererlebenlassen
der alten Situationen und darauffolgender Gegeniibung beseitigen. Hat man die
bei strenger Befolgung der „Grundregel“ notige lange Zeit nicht zur Verfiigung,
so muB man sich daran erinnem, daB das streng analytische Vorgehen seine Wirkung
eben der langen Zeitdauer imd der dadurch ermoglichten, unendlich haufigen
Wiederholung aller derjenigen Erkenntnisse verdankt, die die Lockerung der
Kindheitsassoziationen auf dem Wege allmahlicher Umgewohnung in die Wege
leiten. Wollen wir also Zeit sparen, so miissen wir diese Umgewohnung durch
nidglichste Intensitfit, rasche Folge und Anschaulichkeit der Wiederholung zu
erreichen versuchen. Daneben miiBte aber auch dem Patienten die fiir die Fest-
haltung sowie fiir die t'berwindung des Widerstandes so wichtige Obertragung
und Verechiebung der Affekte auf den Arzt moglichst erleichtert werden. Damit
kommt man zugleich auch am raschesten einer weiteren Quelle des Widerstandes,
namlich dem aus der Krankheit oft resultierenden auBeren und inneren Krank-
heitsgewinn, bei. Als letzter Grand des Widerstandes ist dann noch die rein
physiologisclie Tatsaclie anzusehen, daB unser Gehirn sich schwer von alt<jn Ge-
wohnungen abbringen laBt. Da kann natiirlich nur eine intensive Gegeniibung
helfen. Es zeigt sich dann, daB bei Befolgung dieses aktiven Vorgehens auch
weit jenseits des 4. Jahrzehnts liegende Falle (im Gegensatz zu der bisherigen
Annahme der strengen Analytiker) recht gute Erfolge aufweisen.
Man kann also sagen, daB eine Verbindung von Willenstlierapie und Psycho¬
analyse beide Methoden in ihrer Wirksamkeit fbrdert und die Behandlung ganz
wesentlich abkiirzt.
Vortragender geht dann weiter auf die Einzelheiten der Technik einer solchen
analytisch-synthetischen Ubungsbehandlung ein, die es uns ermoglicht, trotz
der Schwierigkeiten der Zeit auch gerade den jetzt meist weniger bemittelten
Kreisen der lntelligenz die Wohltaten der Analyse zugute kommen zu lassen.
■ 5 . Herr Prinzhorn-Heidelberg: Der Psychiater und die Psychoanalyse.
Ankniipfend an den von Hoclie 1910 in Baden-Baden gemachten Versuch,
die Psychoanalyse als voriibergehende „Seucke, arztliche Taumelbewegung" u. a. m.
darzustellen, wird gezeigt, inwiefem die inzwischen verstrichenen 12 Jahre
das Gegenteil erwiesen ha ben. Nicht nur hat der engere Anhiingerkreis sich stetig
ausgebreitet, sondern in der inneren Medizin und auch in der Gynakologie und
Chirargie steht man den Haupterkenntnissen der Psychoanalyse viel offener
gegeniiber. Dazu kommt, daB in der ganzen Medizin ein stfirkeres Verlangen zu
Arehiv fiir Psychlatrie. lid. 67. g
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
114
47. Wanderversammlung der siidwestdeutschen Neurologen
spuren ist, sich der seelischen Zusammenhiinge im Kranken anzunehmen, den
ganzen Menschen zu behandeln statt der Einzelsymptome. Auf die Fragen, die
sich bei solcher Einstellung aufdrangen, antwortet nicht die psychiatrische Klinik,
wohl aber die Analyse, die demnach in der gegenwartigen Entwicklung der Heil-
kunde eine bestimmte Mission zu erfiillen hat.
Dariiber hinaus aber sind die psychoanalytischen Grundanschauungen nicht nur
in der Schweiz, sondem neuerdings auch bei uns inLaienkreise gedrungen. Vor allem
fiihlen Lehrer und Theologen sich in zunehmendem Made von einigen analytischen
Erkenntnissen angezogen, die sich weiterbin in der Dichtung (bei Hesse, Ganz,
llg, Meyrink, Kokoschka, Schaeffer u. a.) spiegeln. In der ,Religions- und
Mythenforschung haben sie bereits imter Billigung von seiten namhafter Gelehrter
zu wissenschaftlichen Resultaten gefiihrt. Kurzum, die Psychoanalyse ist heute
eine offentliche Angelegenheit geworden. Unmoglich, ihr mit formaler Kritik
gerecht zu werden. Sie ist der erste wissenschaftliche Versuch, eine Psychologie
der Person aufzubauen, die auf deni Wahrhaftigkeitsniveau der groBen intuitiven
Dichter-Psychologen (besonders Nietzsches und Dostojewskis) ruht. Ihre dog-
niatischen Einseitigkeiten sind z. T. dadurch zu erklaren, daB sie auf naturwissen-
schaftlich-realistischen Grundbegriffen aufbaut und infolgedessen fur uns theo-
retisch einer durchgreifenden Umorientierung bedarf. Man kann jeden E in wand,
der gegen die Analyse erhoben wird, vollkomnien anerkennen und iiberall Unzu -
langlichkeiten sehen — aber man darf sich heute nicht inehr erlauben, die produk-
tiven Seiten zu iibersehen, sondern inuBden praktisch-therapeutischen wieden allge-
mein psychologischen Gewinn ehrlich den psychoanalytischen Forschungen als Yer-
dienst anrechnen. Wirstehen nicht am Ende, sondern am Anfangdieser Forschungen.
Die Stellung der deutschen Psychiater zur Psychoanalyse wird nach fiinf
typischen Verhaltungsweisen glossiert: 1. Ignorieren bei den in eigene Probleme
vergrabenen Forschem. 2. Offenes Bekampfen mit mehr oder weniger sachlichen
GriindeD, wobei nur Kronfeld sich dem Niveau der wirklich eingehenden Kritik
des Philosophen Mittenzwey angenahert hat, wahrend sonst durchaus person-
liche, meist weltanschauliche, oft Selbstschutz-Griinde stark mitspielten. 3. Dop-
pelorientierung: scheinbar Methodenpriifung mit dem Resultat ,,ganz interessant,
nicht neu, terminologisch undiskutierbar“, was vielfach als Eintreten fiir die
Analyse angegeben wird und stiindiges Verspotten nicht ausschlieBt (schlimmste
Spielart Breslers alberne Tiraden). 4. Diplomatisch-opportunistisches Ver-
halten, durchaus vorherrschend bei uns: Ablelmung, solange man nicht der Zu-
stimmung der Autoritaten sicher ist, Aufnahme mancher Begriffe hintenlierum.
iiuBerliches Anerkennen ohne innere Beziehung, wenn die Zeiten sich geiindert
haben. 5. Offenes Eintreten fiir die Analyse, bei uns noch seiten (manche Thera-
peuten gerade im Siidwesten stehen de facto auf analytischem Boden!). Frucht-
bare Auseinandersetzung mit den Prinzipien findet man fast nur bei J.H. Schultz.
Schneider, neuerdings bei Kretzschmer, wahrend an den Kliniken in Wien
und Zurich eine offene Verarbeitung der analytischen Anregungen langst er-
folgt ist. Am wichtigsten sind heute die Bemiihungen von Psychiatern, die auf
beiden Gebieten anerkannt sind (wie Schilder, Ludw. Binswanger). Es
bedeutet nicht nur einen Prestige-Verlust, sondem das Versagen vor den tiefst-
ergreifenden psychopathologischen Problemen, wenn die Psychiater in dieser Sache
dauemd die Fuhrung verloren und sich mit der Rolle des Polizisten begniigten.
(Der Vortrag wird in extenso veroffentlicht.)
6. Herr War ten berg-Freiburg i. B.: Demonstration eines Falles von
T o rsi o n s d y s t o n i e.
Bei einem nun 32ja hrigen Mann, der aus gesunder Familie in einer Klein-
stadt Badens stammt, entwickelte sich mit 12 Jahren allmahlich eine Verkiirzung:
Digitized by Goeigle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
und Irreniirzte am 27. und 28. Mai 1922 in Baden-Baden.
115
des linkcn Beines. Mit 22 Jahren stellten sich rechtsseitige Halsmuskelkrampfe
ein. Die Sprache wnrde undeutlich. Spiiter kamen „Krainpfe“ der Gesichts-
muskulatur und Spannungen in den Handen hinzu. Sein Zustand hat sich fort-
w&hrend verschlimmert. Seit 2 Jahren hat er Schluckbeschwerden. Auch ver-
sagte die Sprache fast ganz. Er wurde in mehreren Kliniken wegen Hysterie,
Torticollis, Accessoriustic, Maladie des tics behandelt, doch blieb jegliche Be-
handlung, auch die Durchsehneidung des r. Sternocleido und Omohyoideus ohne
Erfolg. Der Befund, den er jetzt bietet, besteht aus Erscheinungen von Torsions-
dystonie und von Athetosis duplex. Psychisch ist er vollig intakt und zeigt nicht
eine Spur von hysterischer Reaktion. Pyramidenzeichen fehlen ganz. Die grobe
motorische Kraft ist iiberall sehr gut. Der Torticollis besteht nun seit 10 Jahren,
die drehenden Kopfbewegungen sind durch nichts zu beeinflussen und horen nur
im Schlafe auf. Er kann den Kopf nicht ruhig und gerade halten. Er hat aber
einen geschickten Griff, um mit der linken Hand den Kopf gerade zu stellen;
doch auch so bleibt der Kopf nicht ruhig. Der Fall liefert den ganz eindeutigen
Beweis, dab der Torticollis ein extrapyramidales Symptom sein kann. Die Musku-
latur um den Mund herum befindet sich in stand iger athetotischer Bewegung,
besonders beim Essen und beim Spreehen. Dadurch und durch die athetotischen
Bewegungen der Zunge ist das Spreehen sehr erschwert. Je mehr Miihe er sich
beim Spreehen gibt, desto schlechter geht es. Am verstandlichsten spricht er,
wenn er dabei lacht. Es bestehen Spann ungszust&nde in verschiedenen Muskel-
gruppen. Der linke Arm zieht nach vorne und schwebt in der Luft. Links werden
die Finger gebeugt gehalten, rechts die Hand. Der rechte Unterschenkel neigt
zur Beuge- und Abduktionsstellung, der linke Full wird plantar flektiert, die
GroBzehen dorsal flektiert. Rontgenologisch wurde eine linksseitige Coxa
vara und deformiertes Hiiftgelenk festgestellt. Es besteht eine mobile Spannung
der Riickenstrecker, besonders links, und dadurch eine Beckensenkung und eine
Skoliose. Es ist anzunehmen, dali diese Spannung der linksseitigen Riicken-
muskulatur schon im 12. Lebensjahr eingesetzt hat, zur Beckenverschiebung,
zur starkeren Belastung des linken Beines gefiihrt hat, wodurch die linksseitige
Coxa vara entstanden ist. Chirurgischerseits wurde diese Ansicht bestatigt. Durch
diese Spannungen ist sein bizarrer Gang zu erklaren, der ihn sehr stark ermiidet.
Der Fall ist wegen eigenartiger Bewegungsphiinomene bemerkenswert. Die Finger
der linken Hand befinden sich stets in einer leicht zu iiberwindenden Beuge-
stellimg. Wird er aufgefordert, die Finger zu strecken, so macht er zwar Ansiitze
dazu, beugt aber statt dessen mit aller Kraft die Hand. Man sieht eine typische
Innervationsentgleisung, eine „falsche Weichenstellung“, um mit Kalischer zu
spreehen. Trotz der groBten Miihe gelingt es ihm nie, die Finger zu strecken. Da¬
bei ist die grobe Kraft der Fingerstrecker sehr gut. t)bt man aber auf die Finger
einen Gegendruck aus, dann gelingt die Bewegung mit groBter Leichtigkeit. Ebenso
gelingt die Fingerstreckung, wenn er zu gleicher Zeit die Hand gegen Widerstand
beugt oder streckt oder Widerstandsbewegungen mit dem Unterarm ausfiihrt.
Je naher der Hand die Muskelgruppe liegt, die gegen Widerstand angestrengt
wird, desto leichter gelingt die Fingerstreckung. Anspannung der Schultermusku-
latur z. B. ist wirkungslos. Auch muB es eine kraftige Widerstandsbewegung
sein. Dasselbe bei der Streckung der rechteu Hand. Obwolil die Handstrecker
sehr kraftig sind, vermag er die Hand wegen Innervationsentgleisungen nicht
vollig zu strecken, wohl aber bei Gegendruck oder wenn er zugleich kraftige Wider¬
standsbewegungen mit dem rechten Unterarm ausfiihrt. Er kann nur mit Miihe
den in der Luft schwebenden linken Arm nach hinten bringen, leicht aber, wenn
man einen Gegendruck ausiibt oder wenn man zu gleicher Zeit ihn z. B. die linke
Schulter gegen Widerstand heben liiBt. Auch der Halsmuskelkrampf wird durch
8 *
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
116
47. Wanderversammlung der siidwestdeutschen Neurologen
Widerstandsbewegungen, besonders benachbarter Muskulatur, beruhigt, z. B.
durch Druck gegen die Stime, durch Schulterheben, Bewegungen der Arme. Auch
die Anstrengung der Sprachmuskulatur wirkt gewissermaBen ableitend auf den
Torticollis. Ein je schwierigeres Wort er ausspricht, desto gerader richtet sich
der Kopf. Auch die Athetose der Gesichtsmuskulatur beruhigt sich bei der An-
spannung benachbarter Muskelgruppen. Dadurch ist zu erkliircn, daB die Sprache
deutlicher wird, wenn er z. B. den Kopf gegen Widerstand senkt. Die Spannungen
lassen sich auch durch elektrische Reize leicht losen. Z. B. geniigt die Faradisation
des Hypothenars, die Faradisation einer Hautfalte am Unterarm, selbst die Fara¬
disation des falsch innervierten Flexor carpi radialis, um links die Spannung
der Fingerbeuger zu losen und die Fingerstreckung zu ermoglichen. Kommt
eine breite Elektrode auf die rechte Schulter und halt er die andere in der linken
Hand, so kann er die Riickwartsfiihrung des linken Armes mit Leichtigkeit aus-
fiihren, sobald der faradische Strom geschlossen wird. Der Torticollis laBt sich
dadurch beruhigen, daB man mittels zweier breiter Elektroden die Schulter-
muskulatur faradisiert. Bei Einwirkung des elektrisohen Reizes richtet sich der
Kopf wie bei Widerstandsbewegungen automatisch gerade. Auch starke dia-
thermische Reize oder schmerzhafte Druckreize auf die benachbarten Knochen
oder Muskeln wirken krampflosend. Das Wesen der Phanomene besteht darin,
daB hier extrapyramidale Spannungen und Torsionskrampfe auf verschiedene
Weise reflektorisch gelost oder gemildert werden konnen. Die Nachpriifung
dieser Phanomene an dem Fall von striarem Halsmuskelkrampf von Prof. Cas¬
sirer (vgl. Zentralblatt f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. Bd, 28, S. 513) ergab, daB
sie hier, wie Prof. Cassirer bestatigen konnte, stark angedeutet waren. Anderer-
seits fanden sich diese Phanomene bei einem Fall von psychogenem Torticollis
nicht; vielleicht sind sie von differentialdiagnostischem Wert.
7. Herr Steiner-Heidelberg: fiber die Entmarkungsflecken bei pro-
gressiver Paralyse.
Ausgehend von dem histoputhologischen Bild der Ent markungsflecken im
Zentralnervensystem der Paralvtiker erortert Vortragender die Schwierigkeiten,
die der Erkennung der Beziehungen zwischen Spirochiiten und den von ihnen
hervorgerufenen Gewebsveranderungen entgegenstehen. Vor allem war es bisher
nicht gelungen, in aufeinanderfolgenden Gewebsschnitten das eine Mai die Ge-
websbestandteile, das andere Mai die Spirochiiten zur Darstellung zu bringen.
Eine neue, vom Vortragenden nusgearbeitete Gefrierschnittversilberungs-
methode ermoglicht dieses Vorgehen an Gehimmaterial, das in Formol fixiert
worden ist. Auch laBt sich ein mit der Gefrierschnittspirochatenfarbung be-
handelter Schnitt noch mit verschiedenen Methoden nachbehandeln (Scharlach-
rotffirbung, Markscheidenfarbung, Zellfarbung mit polychromem Methylenblau).
Die Gefrierschnittmethode hat iiberdies den Vorzug der feineren Versilberung
und der Abstufungsmoglichkeit im Tinktionsgrad der Spirochaten, so daB es mit
Sicherheit gelingt, Spirochatenabbaustoffe und Spirochfttentriimmer als solche
zu bezeichnen, da sie nicht geschwarzt zur Darstellung gebracht zu werden brauchen,
sondern in braunlicher Farbung nachgewiesen werden konnen. Auf diese Weise
ist eine Verwechslung mit Silberniederschlagen, die, wenn sie vorkommen, tiefes
Schwarz zeigen, auszuschlieBen.
Wenn wir nun Markzerfallsherde untersuchen, so finden wir in ihnen gewohnlich
keine Spirochaten. Andererseits liiBt sich in herdformigen SpirochStenanord-
nimgen kein Markzerfall nachweisen. Der SchluB liegt somit nahe, daB die Spiro-
chate unmittelbar mit dem herdformigen MarkfraB nichts zu tun hat. Doch
ware dieser SchluB unrichtig. In kleineren und offenbar jiingeren Entmarkungs-
herden finden sich gelegentlich Gebilde, die als Spirochatenuntergangsformen,
Digitized by Gor)gle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
und Irrenarzto am 27. und 28. Mai 1922 in Baden-Baden.
117
als Verklebungsformen angesehen werden miissen. Es handelt sich dabei um die
fast alien Spirochatenarten zukommende biologische Eigentiimbchkeit der Agglo¬
meration; so daB man wohl annehmen darf, daB der herdformige MarkfraB in
vielen Fallen ein iibrigbleibendes Zeichen fur den Untergang der Spirochaten in
Form der Spontonagglomeration ist, ein Anzeichen fiir die Reinigung des Gewebes
von den Spirochaten.
Bekanntbch sind bisher drei Arten der Spirochiitenverteilung im Gehirn des
Paralytikers beschrieben, die diffuse, die herdformige und die vaskulfire (Jahnel).
Es ist die Frage, ob diese drei Typen prinzipiell voneinander zu scheiden sind
oder ob sie nur zeitlich verschiedene Phasen der LebensauBerungen der Spiro-
ehftten darstellen. Dieses ist wohl das wahrscheinlichere ; denn klinisch kennen
wir ja keinen Unterschied zwischen den einzelnen Spiroch&tenverteilungstypen, und
in Anbetraeht der vergleichenden Biologie der S pi roc hii tenarten miissen wir die
Agglomeration als eine zeitliche Phase der Vermehrungs- bzw. Untergangsperiode
der Spirochaten betrachten. Die Agglomeration kann im Einzelexemplar statt-
finden. Es kommt dann zu den bekannteu Einrollungs- und Verklebungsformen
der einzelnen Exemplare, oder aber die Agglomeration kann groBe Mengen von
Spirochaten in ihrem Verh<nis zueinander ergreifen. Es kommt dann zu groben
Spirochatenagglomerationen in Form der herdformigen Verteilung und, wenn
diese Agglomerationen vornehmlich an den GefiiBwanden stattfinden, zum vasku-
liiren Verteilungstypus.
Bei der obenerwahnten Verklebungsform der Spirochaten, wie sie sich in
manchen Entmarkungsherden findet, zeigt sich gelegentlicli eine gewisse An-
haufung an den GefiiBwanden und um die GefaBe herum, so daB damit der h&ufige
Refund der Anordnung eines Entmarkungsherdes zentral um ein Gef&B seine
Erklarung finden konnte.
Die biologische Reihe: diffuse Spirochatenanordnung — Spiroch&tenagglo-
meration — Spirochiitenuntergang — herdformige Entmarkung erklart das Fehlen
der Entmarkunsgherde in einem gewissen Prozentsatz der Paralysef&lle. De¬
monstration mikroskopischer Praparate und Diapositive.
8. Herr Wuth-Miinchen: Neuere Untersuchungen iibcr Epilepsie und
.Krampfanfalle (mit Demonstrationen).
Vortragender berichtete iiber Blutuntersuchungen an Epileptikern im Inter-
vall und zur Zeit der Anfalle, sowie iiber Vergleichsuntersuchungen, vorgenommen
;in anderen Anfallskranken. Die Untersuchungen erstreckien sich auf Serum-
eiweiBgehalt, SerumeiweiBquotient, Gerinnungszeit, antitryptischen Titer, Senkungs-
geschwindigkeit, Morphologie des Blutes und Chemismus des Blutes (Blutzucker,
Rest-N, Kreatinin, Harnsaure). Veriinderungen im Intervall fand Vortragender
hinsichtlich des SerumeiweiBgehaltes, der Leukozyten und eosinophilen Zellen
und der Harnsaurewerte im Serum. Im Anfall konstatierte er hiiufig hohe Serum-
eiweiBwerte, meist Vermehrung der Leukozyten, mitunter mit relativer Lympho-
zytose, Tendenz zu niederen Werten fiir die eosinophilen Zellen; Rest-N und
Kreatinin, haufiger jedoch die Hamsaurewerte, zeigten leichte Erhohungen, die,
wie andere Untersuchungen ergaben, auf vermehrte Bildung von Harnsaure zu-
ruckzufiihren sind (Demonstration von Anfallskurven von 2 Epileptikern, 1 Fall
von Himtrauma, 1 Fall von Paralyse). Eine strenge GesetzmaBigkeit dieser
Veranderungen konnte Vortragender nicht konstatieren. Aber auch bei Anfallen
anderer Genese (Schwangerschaftseklampsie. Paralyse. Hysterie) fand er dieselben
Blutveranderungen. Aus diesem Grunde und aus der Erwagung heraus, daB
diese Veranderungen (vgl. Briihl, Mayer-Koppern) nicht einmal gesetz-
mftBig zum Bilde des genuinepileptischen Anfalls gehoren, folgerte er, daB sie nicht
als Ausdruck des der genuinen Epilepsie zugrundc hegenden Krankheitsprozessea
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
118
47. Wanderversanunlung der siidwestdeutsclien Keurologen
angesprochen werden konnten und sornit aueh die auf diesen Veranderungen
konstraierten Hypothesen iiber das Wesen der genuinen Epilepsie nicht fiir er-
wiesen angesehen werden konnten (Gastrointestinale Autointoxikation, ana-
phylaktische oder endokrine Storungen, Retention von EiweiBspaltprodukten).
Vortragender betonte sodann die Gleichartigkeit der Veranderungen beim Krampf-
anfall und bei den im Intervall beim Epilektiker zu beobachtenden Schwankungen
und war geneigt, einen Zusammenhang der Instability im Intervall mit dem
Krampfmechani8mus anzunehmen, hielt es jedoch fiir verfriiht, die Frage defi-
nitiv entscheiden zu wollen, ehe wir hohere Kenntnis iiber Wesen und Zustande-
kommen der Krampfverfinderungen besaBen. In Verfolgung dieser Frage wurden
Untersuohungen bei erregten Kranken vorgenommen, deren vorlaufige Resultate
sich mit den von Sclirottenbach an erregten Paralytikern und von Pfortner
an motorisch erregten Dem.-praecox-Kranken gewonnenen decken und auch im
wesentlichen mit den bei KrampfanfaUen zu beobachtenden Verftnderungen im
Blut. Nachdem Vortragender nocb die Resultate von Rakestraw erwahnt
hatte, der nach Muskelarbeit beim Gesunden Vermehrung des Rest-N, der Ham-
sfiure imd des Kreatinins fand, folgerte er, daB die Identit&t der Blut-
verknderungen bei Krampfanfallen verschiedener Genese, bei Er-
regungszustanden Geisteskranker und bei korperlicher Arbeits-
leistung Gesunder wohl dafiir spreche, daB diese Veranderungen
ihren Ursprung in der gesteigerten Motorik haben. Vortragender
besprach sodann die aus diesen Resultaten unmittelbar sich ergebenden weiteren
Fragestellungen und gab der Ansicht Ausdruck, daB weitere Untersuchungen in
dieser Richtung heute mehr Angriffspunkte als solche iiber das Wesen des Grund-
prozesses der Epilepsie bieten und auch letzten Endes durch Bereichenmg unserer
Kenntnisse iiber Krampfmechanismen der Epilepsieforschung zugute kommen
wurden.
9. Herr Hauptmann-Freiburg i. B.: Der „Mangel an Antrieb“ — von
innen gesehcn.
Unsere Beschreibungen des Seelenlebens und der Bewegungsstorungen der
psychomotorisch „gesperrten“ Katatoniker sind Deutungen, da noch kein der-
artiger Kranker uns eine tatsachliche Bestatigung unserer Ajischauungen geben
konnte. AUe Versuche, durch Befragen von Katatonikern, selbst nach Abklingen
des akuten Zustandes, Einblick zu erhalten, scheitern daran, daB den Patienten
der Zugang zu ihrer Psychose nicht offen steht. Das Encephalitis-Material
(Vortr. beschrankt sich auf das Parkinson-Syndrom) schien geeignet, dem Problem
nahorzukommen, wobei keineswegs die Unterschiede zwischen den psychomoto-
rischen bzw. motorischen Storungen der Encephalitiker und Katatoniker ver-
kannt wurden.
Die bisherige Literatur geht meist an dem Kempunkt der Frage vorbei. Aus
der Regungslosigkeit wird ohne nahere Untersuchung auf einen Mangel an An-
trieb geschlossen oder gar auf ,,Stumpfsinn“, auf ,,Apathie“, auf ,,Affektlosig-
keit“, wobei das Fehlen der AffektauBerungen mit Fehlen des affektiven Lebens
selbst verwechselt wird; es wird sogar von „WiUensstdrung“ gesprochen. Wir
begegnen hier den gleichen Deutungen, wie bei den Katatonikern.
Der einzig brauchbare W 7 eg zur Erkenntnis ist der, die Patienten selbst Aus-
kunft geben zu lassen, sich den „Mangel an Antrieb“ von innen anzusehen. Viel
Zeit und Geduld ist notig, dann aber erhalt man brauchbares Material, da die
Patienten im Gegensatz zu den Katatonikern eben imstande sind, zu ihren Sto-
rungen SteUung zu nehmen.
Die Akinese verrfit uns nichts iiber den Sitz bzw. iiber den Grand der Stoning.
Geschadigt konnen sein: 1. der sensibel-sensorische Teil des psychomotorischen
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
und Irrenarzte am 27. und 28. Mai 1922 in Baden-Baden. 119
Reflexbogens (das ware wirklich eine Antriebsstorung), oder 2. der motorische
Teil, oder 3. der Ubertragungsteil.
Man kann nach den Resultaten 2 Gruppen unterscheiden, von welchen die
erste die weit umfangreichere ist:
1. Gruppe: Es besteht kein Antriebsmangel, das Bedurfnis zu Be-
wegungen ist durchaus vorhanden, die Patienten fiihlen das Treibende, die Wahr-
nehmungen und Organempfindungen sind normal affektbegleitet, Lust-Unlust-
Gefiihle erfiillen sie, von einer Willensstorung, einer EntschluBunfahigkeit ist keine
Rede, die Kranken leiden unter der Ausfiihrungsunmoglichkeit. — Im moto-
rischen Teil des Reflexbogens kann die Stoning auch nicht sitzen, da die Be-
wegung ja schlieBlich doch zustande kommen kann. Es bleibt also der Uber-
tragungsteil. l)er Sitz an dieser Stelle wird nahegelegt auch durch andere gleich-
artige Symptome, wie den Mangel an Einstellbewegungen oder miinischen AuBe-
rungen. Die Akinese kann durchbrochen werden durch Steigerung des An-
triebs iiber das normale MaB hinaus auf dem Wege des Affektzuwachses.
Die Patienten setzen sich entweder selbst in „Begeisterung“, oder wir steigern den
Affekt durch Aufmunterung oder auch dadurch, daB wir den Patienten (etwa
durch Entgegenstrecken der Hand) neue Wahrnehmungen, assoziative Anregungen
und damit einen Affektzuwachs geben. Es besteht also kein primarer Mangel
an Antrieb, man konnte hochstens von einem relativen Mangel an Antrieb
sprechen, MmUch zu gering im Verhaltnis zu den im t)bertragungsteil des Reflex¬
bogens sitzenden Hindemissen. Als Komplikation kommt hinzu, daB das Wissen
um die Ausfiihrungsschwierigkeiten den Antrieb sekund&r vermindert,
wie wir das vom normalen Seelenleben her auch kennen. Eine zweite sekundare
Beeintrachtigung des Antriebs riihrt von dem Mangel an Einstellbewegungen
her: es fallen Sinneswahmehmungen aus, die ihrerseits oder durch weitere as-
soziative Bahnung zu Quellen des Affektes werden. Das Fehlen primiirer An-
triebstorungen wird schlieBlich auch durch die Intaktheit einer anderen psyclio-
motorischen Eunktion, des Denkens, bewiesen: sowohl das automatische Kommen
von Vorstellungen, wie das Ausw&hlen, Verfolgen, Kombinieren ist ungestort.
(Hochstens bedingt bisweilen der Mangel an Einstellbewegungen ein geringes
Minus an selbsttiitig auftauchenden Vorstellungen.)
2. Gruppe: Hier kommt zu der eben beschriebenen Stcirung nooh eine wirk-
liche Antriebsstorung: die Patienten berichten iiber eine Gleichgiiltigkeit;
den Wahrnehmungen und Organempfindungen fehlt die affektive Begleitung.
Der Sitz der Storung im Antriebsteil des Reflexbogens wird hier auch durch das
Vorhandensein primarer Denkstorungen bewiesen: schon das automatische
Kommen von Vorstellungen ist eingeschrankt (die Patienten einpfinden die
gedankliche Leere), dann aber auch der eigentlich aktive DenkprozeB. (Sekundar
wird hierdurch, namlich durch den Ausfall an assoziativ-affektiver Anregung
auch die Muskelmotilitat beeintrachtigt.)
Die Untersuchungen zeigen, daB man selir wohl in der Lage ist, das seelische
Geschehen hinter der erstarrten Fassade zu ergriinden, daB Akinese durchaus nicht
immer auf Antriebsmangel beruht. Das schwierige Problem des Willens kann
e.us solcher Forschung Gewinn schopfeu.
(Erscheint als Originalartikel dieier Zeitschrift.)
2. Sitzung am 28. 5. 22 vormittags 9 Uhr.
Als Versammlungsort wird nach Debatte, an der sich die Herren Hoche,
.Zaoher, Schultze, Wilmanns, Mann, Wollenberg beteiligen, wieder
Baden-Baden festgesetzt.
Zu Geschaftsfiihrern werden Wilmanns-Heidelberg und Zacher-Baden-
Baden gewiihlt.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
120
47. Wanderversammlung der siidwestdeutschen Neurologen
10. Herr Laudenheimer-Miinchen-Thalkirchen: Innersekretorische Sto-
rungen in Beziehung zu Migrane, Epilepsie und angiospastischen
Neurosen.
An der Hand kurzer geschichtlicher Entwicklung wird gezeigt, daO es sioh
in der Migrane- und Epilepsieforschung heute um Konstitutionsprobleme handelt.
Die Partialkonstitutionen des vasomotorischen und des endokrinen Systems stehen
im Vordergrund. Wahrend die vasomotorische Theorie in letzter Zeit physiologisoh
und anatomisch (0. Muller, Kapillarstudien) gut fundiert ist, bedarf die endo-
krine Hypothese trotz vieler Einzelbeobachtungen noch der Klaning. Ein seifc
2 Jahrzehnten beobachteter Fall L.s, wo nach Thyreoidektomie Migr&neanfiille
auftraten, nach Schilddriisendarreichung verschwanden, gab die Sicherheit eines
physiologischen Experiments und wurde Ausgangspunkt systematiseher inner-
sekretorischer Versuche.
L. sondert seine Falle in solclie, deren Migranekonstitution ausgelost wurde
1. durch Kriegsstrapazen auf Grund asthenischer Anlage („Kriegsvago-
toniker“),
2. im Klimakterium durch seelische und nutritive Schadigung,
3. angeborene migranose Konstitution mit asthenisch-vasolabiler Konstitution
verbunden.
Er gelangt auf Grund seines Materials zu folgenden Schliissen:
1. In den letzten Jahren (etwa seit Kriegsbeginn) werden anscheinend die
Falle hriufiger, in denen sich MigrSneattacken mit asthenischem Habitus und
sog. vagotonischem Sjmptomenkomplex kombinieren.
2. Dieses Syndrom war in einem Fall sicher als Folge des Ausfalls der Schild-
driisenfunktion (nach Thyreoidektomie) nachzuweisen, in anderen Fallen — meist
klimakteri8cher Frauen — machte das gleichzeitige Bestehen leichterer Symptome
von Schilddruseninsuffizienz diesen Zusammenhang selir wahrscheinlich. Durch
die giinstige Einwirkung der Schilddriisentherapie auf Allgemeinbefinden und
speziell auf die Migraneattacken wurde dieser Zusammenhang bestatigt.
3. Da auch diejenigen Formen von Migrane, die — ohne nachweisbare
SchilddrusenausfaUserscheinungen — aber mit vagotonisch-asthenischer Ver-
fassung einhergehen, auf Schilddriisendarreichung giinstig reagieren, haben auch
diese — (nicht etwa alle Migranefallc uberhaupt) — wahrscheinlich mit Stoning
der Schilddriise, gelegentlich vielleicht auch der Hypophysensekretion, zu tun.
4. Diese Vermutung mochte ich ausdehnen auf die auf gleicher konstitutioneller
Basis erwachsenen Falle, wo neben Migrane echte epileptische Anfalle vor-
kommen. Wie weit auch diese Gegenstand innersekretorischer Behandlung sind,
dariiber sind noch Beobachtungen im Gauge.
11. Herr Weichbrodt-Frankfurt a. M.: Blutforschung und Geistes-
krankheiten.
Eine Maus vertragt 1 ccm Menschenserum intraperitoneal beigebracht iin
allgemeinen gut. Es zeigte sich nun, da B das Serum von endogenen Psychosen
toxisch war. In manchen Fallen konnte die Toxizitat 2—3 Woe hen, mitunter
einige Monate, in seltenen Fallen auch dariiber hinaus nachgewiesen werden.
Auch bei genuiner Epilepsie war das Serum, worauf schon Krainski hingewiesen
hat, vor und im Anfalle toxisch, wahrend im Intervall keine Toxizitat nachge¬
wiesen werden konnte. Die Injektionen miissen intraperitoneal und nicht sub-
kutan gemacht werden. Die Toxizitat verschwindet, wenn man das Serum auf
.'>6° erwftrmt. Bevor diese Befunde irgendwie gewertet werden konnten, muBte
festgestcllt werden, wann iiberhaupt das Serum des Menschen primar toxisch
ist. Die bisherigen Untersuchungen haben dabei u. a. ergeben, dad das Serum
der Frau einen Tag vor der Periode und am ersten Tag der Periode toxisch ist.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
und lrrenarzte am 27. und 28. Mai 1922 in Baden-Baden.
121
Auch bei nianchen Infektionskrankheiten fand sich ein toxisches Serum. Es
zeigte sich auch, dad nichttoxisches Blut durch Injektionen von arteignem und
artfremdem Serum, durch Milchinjektionen toxisch wurde. Ebenso wurde das
Blut nach Quecksilberinjektionen und Quecksilberschmierkuren toxisch. Auch
das Kaninchenserum war, nachdem das Kaninchen zur Heilung eines Schankers
auf ungefahr 42° Korpertemperatur gebracht war, toxisch geworden. Ob es sich
um physikalische Veranderung des Blutes oder urn Abbauvorgange handelt, mud
weiteren Untersuchungen iiberlassen bleiben. Cber die Bewertung dieser Be-
funde fiir die Syphilis- und Paralysetherapie soil an anderer Stelle berichtet werden.
Weitere Untersuchungen werden festzustellen haben, ob diese Befunde uns in
der Atiologie der endogenen Psychose weiterbringen konnen.
12. Herr E. Kiippers-Freiburg i. B.: l T ber die Funktioncn des Thalamus.
Vortragender stellt die These auf, daB die Willensbahn nicht, wie jetzt an-
genommen, aus einein pyramidalen und einem extrapjTamidalen Anteile be-
steht, von denen der letztgenannte von der Rinde iiber den Thalamus und das
Pallidum zum Nucleus ruber und weiter lauft, sondern aus einem thalamo-cortico-
medulfiren und einem thalamo-pallido-rubro-medullaren Abschnitte, so daB der
Thalamus zum obersten (psychischen) Reflexzentrum wiirde, von dem alle Impulse
ausgehen, die die Willenshandlung zusammensetzen. Der Thalamus erscheint
zu dieser Rolle dadurch priidestiniert, daB in seiner unmittelbaren Nachbarschaft,
namlich im Hohlengmu des 3. Yentrikels, die obersten vegetativen Regulations-
zentren liegen, von denen man annehmen darf, daB sie auf die grundlegenden
korperlichen Bedurfnisse abgestimmt sind, die zu befriedigen der Zweck aller
primitiven Handlungen ist. (Die Rinde enthalt anscheinend solche Zentren nicht,
sondern kann nur indirekt durch Vermittlung der thalamischen Zentren auf das
vegetative Geschehen einwirken.) Der Thalamus ist anatomiscli auch insofem be-
vorzugt, als er sowohl mit der Rinde wie mit dem Pallidum durch eine doppel-
liiufige Bahn verbunden ist. Infolgedessen konnen von ihm aus nicht nur beide
Instanzen gleichzeitig und koordiniert in Tatigkeit gesetzt werden, sondern es
kann auch wahrend der Ausfiihrung einer Handlung immer schon die folgende
vorbereitet werden. wobei dann der Thalamus auf dem Wege iiber die riieklaufigen
cortico- und pallido-thalamischen Bahnen fortlaufend iiber den Stand dieser
Vorbereitungen unterrichtet wiirde. Zu diesen anatomischen Hinweisen auf die
zentrale Stellung des Thalamus kommt als weiteres Moment die Tatsache, daB
wir im Thalamus nicht nur eine Unterbrechungsstelle fiir die gesamte Sensibilitat,
sondern auch ein selbstandiges Reflexzentrum fiir den Affektausdruck zu sehen
haben. Und zwar miissen wir annehmen, daB die dem Affektausdruck zugrunde
liegenden Impulse, soweit sie motorischer Art sind, vom Thalamus aus unter
Umgehung der Rinde direkt iiber die subkortikalen Ganglien in die Peripherie
laufen, wahrend die begleitenden Ausstrahlungen ins Vegetative, wie etwa beim
Weinen oder beim Erroten und Erblassen, vom Hohlengrau aus direkte Wege
benutzen wiirden. Mit unseren Kenntnissen von den Funktionen der Hirnrinde
lassen sich diese Annahmen durchaus vereinigen. Man muB sich nur klar machen,
daB wir zur Erklarung der intellektuellen Funktionen zwei Instanzen brauchen,
die immer Hand in Hand arbeiten: eine, in der sich das sinnliche Material erst
einmal in ungeordneter Form sainmelt, und eine zweite, die die Formeln fiir
die auffaasenden Bewegungen in sich enthalt, durch die wir uns die Gegenst&nde
der Umwelt geistig zu eigen machen. Die erste Instanz, das „Sensorium com¬
mune", wfire der Thalamus, die zweite die Rinde. Tatsachlich lehren die Ent-
rindungsexperimente, daB schon in den subkortikalen Zentren eine summarische
Perception zustande kommt. Femer laBt sich nur so erklaren, warum die Sen-
si bilitatsdefekte bei zentralen Lasionen einen ganz anderen Charakter annehmen.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
122
47. Wanderversammlung der siidwestdeutschen Meurologen
Digitized by
je nachdom ob die Unterbrechung unterhalb oder oberhalb des Thalamus liegt.
Im era ten Falle l&Bt Bich n&mlich zeigen, daB diese Defekte aul einem Ausfall
von sinnlichem Material beruhen, im zweiten, daB der Fehler in der Verarbeitung
dieses Materials liegt.
13. Herr E. A. Griinewald-Freiburg i. B.: Ober die Pathogenese der
„Landryschen Paralyse**.
Trotz der Pragnanz des klinischen Krankheitsbildes der Landryschen Paralyse
ist es bisher nicht moglich gewesen, diese auf eine pathologisch-anatomische
Normalform und auf einen iitiologischen Generalnenner zu bringen. Es ist zwar
eine ganze Reihe von atiologischen Faktoren beschrieben worden, aber keine von
ihnen kann als essentielle Ursache angesprochen werden. Der friiher geradezu
pathognomonische ..negative Sektionsbefund" ist zwar durch ein Plus von pa-
thologisch-anatomisclien Beftmden uberkompensiert worden, aber mit der rein
morphologischen Klassifizierung der Strukturveriinderungen unter die verechie-
denen „-itis-“Formen der Neuropathologie ist das Gegenteil von einer einheit-
lichen Begriffssubstition erreicht. Die L. P. wird zum Symptomenkomplex de-
gradiert, der eine Phase im Verlauf von verschiedenen histo-pathologischen fest-
liegenden Krankheitsbildem darstellt. Gegen diese Tendenz, die L. P. als Krank-
heitsbild sui generis preiszugeben, spricht ihr markanter klinischer Charakter.
AuBerdem sind die verschiedenen Entziindungsbefunde nicht conditio sine qua
non fur das Entstehen der L. P., denn der breite Strom der aufsteigenden pro-
gressiven L&hmungen verlauft unter rein degenerativen Prozessen, die allerdings
neben den histologischen Enblemen der „-itiden“ haufig auftreten. Der ihnen
eigene Eindruck der Passivitat der Gewebe, des Fehlens der regulatorischen Me-
chanismen und damit der unaufhaltsamen Progression weist auf einen Paralle-
lismus zur Eigenart des klinischen Krankheitsbildes hin. Da sie sich weiterhin
in der Hauptsache jenseits der ektomesodermalen Barriere unmittelbar am funk-
tionstragenden Parenchym abspielen, legen sie eine pathophysiologische Be-
trachtungsweise nahe. Es handelt sich bei ihnen um Entmischungen des Proto¬
plasmas, das nach der Komplextheorie als eine Dispersion von chemisch hetero-
genen Stoffen aufzufassen ist. Der fiir die Lebensprozesse optimale Dispersions-
grad ist der kolloide Zustand, in dem die einzelnen Stoffe histochemisch nicht
faBbar sind. Verschiebt sich der auBerst labile Gleichgewichtszustand, werden
die einzelnen Lipoide mikrochemisch differenzierbar. Da sie infolge ihres
hohen Sauerstoffspeicherungsvermogens einen auBerordenthchen EinfluB auf die
energetischen Aufgaben der Zelle haben, liaben Storungen des Lipoidstoffwechsels
unmittelbar Dysfunktionen der Zelle als nutritives und innervierendes Zentrum
zur Folge. Verlaufen die Storungen nach Tempo und Ausdehnung im prestissimo
oder werden friihzeitig lebenswichtige Zentren befallen, so kann es zu einer starken
Diskrepanz zwischen nachweisbaren degenerativen Strukturver&nderungen und
Funktionsausfall kommen, die bei den Fallen mit negativem Sektionsbefund
im Superlativ impliziert ist. Als auslosende Ursachen fiir das Entstehen solcher
regressiven Metamorphosen kommen in erster Linie Toxine in Frage. Die von
Landry fiir seine ersten F&lle stipulierte allgemeine Vergiftung des Organismus
erscheint in nichts prajudiziert. Es bedarf dazu natiirlich keineswegs immer
nachweisbarer Ektotoxine; Autointoxikationen spielen eine groBe Rolle. VVie
Oppenheim die Bedeutung der neuropathischen Diathese unterstrich fiir das
Zustandekommen von spontanen Polyneuritiden, so erscheint auch fiir die L. P.
die Forderung eines in besonderer Krankheitsbereitschaft befindlichen pramorbiden
Organismus notwendig. Diese ToxiniiberempfindUchkeit kanu dadurch zustande
kommen, daB wiederholt im Organismus Gifte z. B. aus dem Darmkanal kreisen,
die ihn in den Zustand der Allergie im Sinne einer Cberempfindlichkeit versetzen.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
und Irrenarzte am 27. und 28. Mai 1922 in Baden-Baden.
123
oder daB ein immun-schwacher Organismus ungeniigend lokal auf eine bakterielle
Invasion und mehr allgemein gegen die Bazillen als korperfremde EiweiBsubstanzen
reagiert, wodurch wiederum ein Zuatand der Uberempfindlichkeit erzeugt wird.
Bei der besonderen Affinitat der Anaphylatoxine zum Nervensystem und der
Aviditat zwischen Toxinen und Lipoiden sind intensive kolloidoklastische Reak-
tionen die Folge, die zu den Funktionsbeeintrfichtigungen im Furioso der L. P.
fiiliren konnen. Als Stiitzpunkt fiir diese Theorie lassen sich histochemische
Untersuchungen anfiihren, die zu ahnlichen Resultaten fiihren wie sie verschie-
dentlich bei der progressiven Paralyse gefunden werden, bei der zur Erklarung
des Nebeneinanders von Gewebsverfinderungen verschiedener histologischer
JJignitat auch anaphylaktische Vorg&nge herangezogen werden; ferner bewahrte
sich die Theorie als heuristisches Prinzip zur Klarung einer Reihe klinischer Er-
scheinungen.
14. Herr F. Morchen-Wiesbaden: Wie stellen wir uns zu dem wissen-
schaftlichen Okkultismus?
Die groBe und vielfach ungesunde Ausdehnung okkulter und spiritistischer
Bewegungen in weitesten Volkskreisen bis in die Schulen hinein notigt uns zur
Stellungnahme. Diese muB eine emsthaft kritisch-wissenschaftliche sein, weil neuer-
dings mehr als je eine Anzahl von Gelehrten den Anspruch auf naturwissen-
schaftlich-experimentelle Beweisbarkeit „okkulter“ Phfinomene erhebt.
Wir miissen unterscheiden zwischen dem eigentlichen Okkultismus, der im Rahmen
natiirlichen Geschehens die von ihm konstatierten „supernormalen“ Erschei-
nungen auf iibersinnliche F&higkeiten „medial“ veranlagter Personlichkeiten
zuruckfiihrt, und dem Spiritismus, der in jenen Erscheinungen das Wirken von
Geistem aus dem Jenseits erbhckt.
Gegeniiber der modemen Okkultismusforschung miissen wir zunachst be-
anstanden, daB sie die Auto ri tat einer beschrftnkten Anzahl von Gelehrten in
dogmatischer Weise ins Feld fiihrt. Wenn auch manche dieser zum Teil lange
verstorbenen wissenschaftlichen Okkultismuszeugen in ihrem Fach als Physiker,
Zoologe usw. Weltruf hatten, so kann das andere nicht verpflichten, ihre okkulten
Forschungsergebnisse glftubig hinzunehmen. MaBgebend fiir die Neigung zur
okkultistischen Betatigung und fiir die meist festzustellende kritische Insuf-
fizienz der literarisch-wissenschaftlichen Produktion der Okkultismusforscher
exscheint uns eine besondere Anlage zur Beschaftigung mit mystischen und iiber-
sinnlichen Dingen zu sein, die kiinstlerisch phantasievoller Anlage vergleichbar
ist. Diese Anlagen sind in ihrer Auswirkung hinsichtlich Affektivitat, Auto-
und Heterosuggestibilitat bei der okkultistischen Betatigung unabhangig vom
sonstigen geistigen Niveau und Bildungsgrad. Sie bedingen eine gewisse seelische
^'erwandtschaft mit den als „Medien“ arbeitenden Personen, eine fast iiberall
zu beobachtende Mangelhaftigkeit der Versuchsanordnung, groBe Willkurlicli-
keit in der Deutung der medialen Ergebnisse, VemachlAssigung vieler Feliler-
quellen usw. Das Milieu okkultistischer Experimente (Kabinette, Vorhange,
Halbdunkel) ist ungeeignet fiir exakte Beobachtungen. — Soweit die medialen
Lemtungen (meist im Trancezustand vollbracht) rein psychische sind, rnogen
sie ein interessantes Objekt psychologischer Forschung sein. Nach unserer Auf-
fassung handelt es sich dabei im wesentlichen nur um graduelle Steigerungen
der Sensibilitat, der Sinneswahmehmung, der Gedachtnisfunktion.
Die psychophysischen Leistungen der Medien (Telekinese, Teleplastik,
Materiahsation psychischer Krafte) mochten wir als rein technisch zu beur-
teilende Kunststticke vergleichbar denen gewisser „Zauberer“ betrachten, mit
denen sie die Eigenschaft des „Unerklarlichen“ und Verbliiffenden teilen. — Be-
denklich erscheint die Tatsache, daB die groBe Masse der Psychopathen und
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
124
47. Wanderversammlung der stidwestdeutschen Neurologen
Digitized by
Neurotiker, der seelisch schwacher Veranlagten, von der okkulten und spiriti-
stischen Bewegung am intensivsten ergriffen wird. Das gilt teilweise auch fiir
die auf okkulter Grundlage beruhende Anthroposophie.
15. Herr W. Mayer-GroB-Heidelberg: tlber das oneiroide Zustandsbild.
Es ist seit langem bekannt, dab gewisse Zust&nde trau mar tiger Verwirrt-
heit bei den beiden groflen Gmppen der funktionellen Psychosen, Schizophrenic
und manisch-depressives Irresein, vorkommen. Eine ganze Anzahl der bekannten
Selbstschilderungen der Literatur enthalten Darstellungen einer wohlcliarak-
terisierten Erlebnisform, die bei groDer Verschiedenheit des auBeren Verhaltens
der Kranken, das aber in der Hauptsache als „katatonisch“ imponiert, fiir die
phanomenologische Analyse eine Anzahl durchgangiger Merkmale aufweist. So
erscheint die Aufstellung eines Zustandsbildes berechtigt, das von deliriosen,
amentiellen und Dammerzustandsformen wohl abgrenzbar ist und wegen seiner
Verwandtschaft zum Traum, die im einzelnen aufzeigbar ist, die Bezeichnung
oneiroid traumahnlich verdient. Eine Nachuntersuchung der alten Ealle der
Literatur und von Fallen eigner Beobachtung, die iiber viele Jahre verfolgt sind,
ergibt, daB das Zustandsbild bei beiden diagnostischen Einheiten gefunden wird
und dariiber hinaus bei einzelnen Fallen, die sich bisher jeder diagnostischen
Einreihung widersetzen. Die Frage nacli der Entstehung des Zustandsbildes
wurde sowohl unter Heranziehung der pramorbiden Personlichkeit, wie der Here-
ditat zu klftren versuclit. Die Ergebnisse dieser Bemiihungen werden demnachst
in einer ausfiihrlichen Mitteilung veroffentlicht.
16. Herr S. Auer bach-Frankfurt a. M.: a) Ein Versuch zur Erklarung des
epidemischen Auftretens der Encephalitis in den letzten Jahren.
DaB die Encephalitis epidemics in ursachlichem Zusammenhange mit den
Grippeepidemien der letzten Jahre steht, wird jetzt von den meisten Autoren
augenommen. Auch in und nach den friiheren Influenzaepidemien sind Hirn-
entziindungen beobaehtet worden. Aber sie traten nur sporadisch auf und be-
trafen meist die Hirarinde; ihre Prognose war eine relativ gunstige. Die Ence¬
phalitis der letzten Jahre befiel eine groBe Anzahl Individuen, sie war in erster
Linie im Strcifenhiigcl lokalisiert, und ihr Ausgang war in vielen Fallen todlicli
und in nicht wenigen Fallen ungiinstig beziiglich volliger Wiederherstellung.
Diese Unterschiede mochte A. durch das Zusammenwirken zweier ur-
sachlicher Momente erklaren:
1. In den letzten Kriegsjahren und in den darauffolgenden Jahren hat die
ganze Menschheit, namentlich aber Mitteleuropa, nicht nur korperlich, sondern
auch psychisch ganz auBerordentlich gelitten, wie vielleicht niemals zuvor. Xun
ist es eine unbestrittene Tataache, daB jedes tierische Organ eine um so groBere
Blutmenge erhiilt, je mehr es sich bettitigen muB, und zwar infolge von aktiver
Erweiterung seiner Blutgef&Be. Wir werden also wohl in der Annahme nicht
fehlgehen, daB die Gehirne in jenen Zeiten auBerordentlich hyperSmisch
waren. Mit dem groBeren Affluxus sanguinis nach dem Gehirn wurde dieses
Organ natiirlich auch von einer groBeren Menge von Krankheitserregern iiberflutet.
2. wissen wir, daB die den Streifenhiigel versorgenden Aste der Art.
fossae Sylvii zum Unterschiede von den die meisten anderen Himpartien
ernahrenden Gef&Ben Endarterien sind, zwischen denen Anastomosen nicht
bestehen. Da auch die Venen hier wenig zalilreich sind, stagniert das Blut
in den einzelnen Emahrungsbezirken auBerordentlich leicht. Es leuchtet ein.
daB die Krankheitserreger bzw r . deren Toxine bei solchen mechanischen Verhalt-
nissen diese Gewebeteile in hohem Grade schftdigen miissen, weil sie mangels
einer kollateralen Blutversorgung viel langer mit ihnen in Beriihrung bleiben
und nur ganz langsam zur Ausscheidung gelangen werden.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
und Irrenarzte am 27. und 28. Mai 1922 in Baden-Baden.
125
DaB die Zahl der Erkrankungen nicht noch viel groBer war, ist vermutlich
auf die sehr erheblichen individuellen Variationen in der Geffi Bversorgung des
Streifenhiigels zuriickzufuhren.
b) Eine Anregung zur Verhiitung der metaluetischen Erkrankungen
des Zentralnervensystems.
Bei der Trostlosigkeit der bisherigen Therapie der Tabes und Paralyse erhebt
sieh die bedeutsame Frage, ob man — abgeselien von der idealen koupierenden
Beseitigung des prim&ren Infektionsherdes im seronegativen Stadium — nichts
tun kann, um den spiiteren Ausbruch der metaluetischen Erkrankungen zu ver-
hiiten.
Es wird immer sicherer, daB diejenigen Luetiker, die im Sekundarstadium
nur schwache oder gar keine Hautsyphilide durchgemacht haben, eine erheblich
grdBere Anwartschaft auf eine Tabes und Paralyse besitzen, als ihre Leidens-
genossen, bei denen die Hautlues deutlich in die Erscheinung getreten ist. Sehr
wahrscheinlich ist diese Erfahrung auf eine kongenitale Immunschwitche
des Hautorgans gegeniiber demLuesgift zuriickzufuhren. Ob die Abwehrfunk-
tion der auBeren Bedeckungen auf einer innersekretorischen Tatigkeit der Epi-
dermiszellen beruht, oder ob das Bindegewebe der Subcutis als ein Antikorper-
Reservoir anzusehen ist, miissen weitere Forschungen ergeben. Es konnte sich auch
um eine kongenitale, auf Vererbung beruhende Unterwertigkeit des gesamten
Ektoderms gegenuber eingedrungenen Krankheitserregem bzw. deren Giften
handeln; dann wiirde diese Schwache nicht nur den auBeren Integuinenten, sondern
auch dem Gehim- und Riickenmarksgewebe selbst eigentiimlich sein.
Wie dem nun auch sei, jedenfalls sollten wir mit alien Mitteln versuchen, bei
luetisch Infizierten, die nach Ablauf der ersten Periode der Krankheit, also durch-
schnittlich 9 Wochen nach der Infektion, keine oder nur schwache Erscheinungen
auf der Haut zeigen, die Abwehrfunktion dieses Organs auf das ener-
gischste anzuregen und, soweit wie moglich, zu steigern. Diese wich-
tige Aufgabe miiBten die syphilidologischen Kliniken iibemehmen und in syste-
matischer Weise ausfiihren. Alle Anwendungen, die geeignet seien, eine kraftige
Hyperamie der Haut zu erzeugen, miiBten in Anwendung kommen: die
Heliotherapie in ihren verschiedenen Modifikationen, Abreibungen mit Sole,
Salz, Warmeapplikationen jeder Art, femer der Baunscheidtismus imd die Frei-
luftliegekur bei Tag und bei Nacht. Mit diesen Reizen miisse ofters gewechselt
werden, da sich der Organismus auch an stiirkere Einwirkungen allmahlich ge-
wohne.
17. Herr Raecke-Frankfurt a. M.: Traumatische Neurose und arztliches
Schiedsgericht.
Vortragender berichtet iiber das von der Eisenbahndirektion Frankfurt an-
genommene neue Vergleichs- und Abfindungsverfahren. Grundsatzlich werden
alle Anspriiche durcli das einmalige Urteil einer Arztekommission erledigt, die
also auch die endgiiltige Hohe der Abfindimgssumme festsetzt. Berufung gibt
es nicht. Massenhafte neurotische Beschwerden verschwinden nach solch rascher
Entscheidung wie mit einem Schlage. Die Erfolge dieser Methode sind so gunstig,
daB man ihr die weiteste Verbreitung wiinschen darf.
18. Herr v. Weizsiicker-Heidelberg: t^ber Bewegungsstorungen, beson-
ders bei Encephalitis (experimentellc Untersuchungen).
Dber die jetzt gewohnlich als strio-pallidar oder thalamo-strio-pallidar an-
gesehenen Bewegungsstorungen ist in den letzten Jahren eine betrachtliche de-
skriptive Arbeit geleistet worden. Dagegen hat die physiologische Analyse der
wichtigsten Phttnomene, die nur durch eine experirnentelle Untersuchung erfolgen
kann, die Tatigkeit der Neurologen weniger beschiiftigt. Ich denke da bei wenigcr
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
126
47. Wanderversammlung der siidwestdeutschen Neurologen
Digitized by
an die lokalisatorische Frage, als an die richtige physiologische Definition der
Erscheinungen. Meine Darlegung muB sich hier im wesentlichen auf die als Rigor
oder Hypertonie bei den Kranken bekannten Zust&nde der Muskulatur beschranken.
Schon hier beginnen Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Frage, ob wir
es mit einem rein innervatorischen oder iiberdies mit einem muskularen Problem
zu tun haben. Eine kleine aber sehr beachtete Anzahl von Forschem sprach ja
die Meinung aus, daB bei jenen Zustanden eine besondere Substanz im Muskel
sich geltend mache: diese Tonussubstanz vermoge bei jeder Lange des Muskels
gleichsam zu erstarren und sei so ohne wesentlichen Stoffverbrauch, ohne oszil-
lierende Aktionstrome geeignet, Rigorzustiinde, aber iiberhaupt Halteleistungen
zu erzeugen. Angesichts der schon weitverbreiteten Meinung, es handle sich hier
um eine gesicherte Anschauung, mochte ich wiederholt 1 ) hervorheben, daB der
bisherige Gang der Forschung ihr nicht gunstig war. Die Vermutung, daB die von
Boeke gefundene sympathische Innervation des Muskels an einer Tonuswirkuug
erkennbar sei, hat sich nicht bestatigt: die Sympathikusdurchschneidungen iiben
keinen greifbaren EinfluB auf den Tonus. Auch die Hoffnung, man besitze in der
Kreatinbildung ein Anzeichen der Funktion des zweiten Substanz, hat sich nicht
erfiillt. Und wahrend die Stoffwechseluntersuchungen in ihrer Deutimg zweifel-
haft blieben, wurde durch die Aufnahme der Aktionstrome positiv gezeigt. daB
diese bei den hypertonischen Zustfinden niemals fehlen. Ich erinnere Sie an die
Mitteilung Rehns im vorigen Jahre, an Versuche von VVeigeldt und an eine
systematische Bearbeitung aus der Heidelberger Klinik 1 ), die kiirzlicli erschien.
Ich mochte hier nun einen weiteren Beitrag liefern. Wenn im Muskel zwei Sub-
stanzen von so grundverschiedenen physikalischen Eigenschaften funktionierten,
wie die Tonushypothese es will, dann ware zu erwarten, daB sie sich auch hin¬
sichtlich ihrer elastischen Eigenschaften unterscheiden. Ich habe deshalb Unter-
suchungen iiber die physikahsche Dehnbarkeit der Muskeln am Lebenden an-
gestellt, bzw. ihren reziproken Wert, den Blast izitatsmodul, bestimmt. Ich be-
nutzte dabei nicht die hier ungeeignete Methode Gildemeisters, sondeni ein
von P. Hoffmann in Wurzburg ausgearbeitetes Verfahren 2 ), welches auf der
Registrierung der in einem Muskel durch Detuning erzeugbaren elastischen Schwin -
gungen beruht. Aus der Schwingungszahl laBt sich unter Anwendung des Pendel-
gesetzes der Blast izitatsmodul berechnen. Der Vergleich zwischen Gesunden
und Encephalitischen mit z. T. erheblichen Rigor zeigt, daB die Blastizitats-
moduln bei beiden vollkommen ubereinstimmend gefunden werden. Auch hier
weist nichts darauf hin, daB ein physikalisch oder physiologisch abweichendes
Substrat die Eigenschaften des im Rigor befindlichen Muskels bestimme; es ist
in elastischer Hinsicht identisch mit de m normalen.
Hieraus folgt aber, daB die Elastizitat iiberhaupt nicht die Eigenschaft ist,
mit welcher man den ,.Tonus' 1 nfllier bestimmen konnte. Worin aber besteht
dieser alsdann? Hier ist auszugehen von der Art, wie wir am Krankenbett den
Tonus priifen. Wir times, indem wir die Kraftschatzen, die wir aufwenden nnisseu,
um sog. passive Bewegungen in einem bestiminten Gelenk zu bewirken, also die
in der Physiologie sogenannten gefiihrten Bewegungen bei innervierter Musku¬
latur. Durch fiuBere Kraft also werden bestimmte Insertionen angenahert oder
entfemt. Muskeln gedehnt oder entlastet. Durch diese auBere Kraft werden,
wie Klinik und Physiologie zeigen, zunachst in den Muskeln propriozeptive Reflexe
ausgelost. Durch rasche Dehnung entstehen Sehnen- oder Eigenreflexe (P. Hoff-
111 a n n), also eine der Dehnung entgegenwirkende, eine kompensierende Innervation-
Durch langsamere und anhaltende Dehnung dagegen u. U. das, was Sherring-
>) Vgl. Hansen, Hoffmann u. v. Wefisicker, Ztschr. f. Biol. 19 l’ 2.
2 ) Zeitschr. f. Biol. 1922.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
und Irrenarzte am 27. und 28. Mai 1922 in Baden-Baden.
127
ton als Yerlfingerungsreaktion bezeichnete, also eine der Dehnung nachgebende
Erschlaffung, eine adaptierende Denervation. Auf ahnliche, jedesmal im Sinne
der Dehnung wirkende Reize konnen also in ihrem Vorzeichen genau entgegen-
gesetzte Reflexe eintreten: kompensierende Innervation oder adaptierende De¬
nervation. Soli nun eine passiv gefiihrte Bewegung leicht erfolgen, so ist es notigr
dafi ein Reguliervorgang die kompensierenden Eigenreflexe unterdriicke, die adap-
tierenden Reflexe (oder Reaktionen) dagegen in Gang setze. Geschieht das Gegen-
teil, so ist eine gefiihrte Bewegung unmoglich, die Rigiditat ist maximal.
Indem ich so von dem klinisch iiblichen Modus der Tonusuntersuchung aus-
ging, habe ich mir nun Apparate geschaffen, die gestatten, die Kraft zu messen,
die notig ist, um ein Glied in einem Gelenk passiv zu bewegen unter gleichzeitiger
Registrierung dieser Bewegung. Wie kann man hier einen quantitativen Aus-
druck des Tonus finden, welches ist sein M a 13? Die Untersuchung am Normalen
zeigte zun&chst: Sieht man von der Tragheit der bewegten Massen ab, dann braucht
man um so groBere Kr&fte, je rascher die gefiihrte Bewegung ist. Damit ergibt
sich also, daB die scheinbare Dehnbarkeit um so groBer ist, je langsamer die
Bewegung erfolgt. Diese Abhangigkeit der Dehnbarkeit von der Zeit ist aber ein
Phanomen, das der physikalischen ElastizitAt gar nicht zukommt: der Befund
ist ein Beweis, daB der Tonus keine physikalische GroBe, sondern ein physio-
logisch funktioneller Zustand ist. Suchen wir aber nun fur diese ein MaB
zu finden, so ist es danach zu definieren als die Kraft, die hinreicht, um eine ge¬
fiihrte Bewegung bestimmter Geschwindigkeit zu bewirken. ZoblenmaBig und rein
1C r&ff t k
empirisch definiere ich also: der Tonusindex Jistgleich der
Geschwmdigkeit c ’
und ich finde ihn beispielsweise bei einem Encephalitis-Rigor ca. 30mal groBer
als beim Gesunden.
Hiemach ist also Hypertonie oder Rigor als die Stoning in der Regulierung
bestimmter Reflexe bei gefiihrter Bewegung erfaBt. Ich behaupte nicht, daB
damit erschopfend iiber die verschiedenen Rigorformen beim Menschen gesprochen
sei. Doch liegt darin vielleicht doch eine Klftrung, daB die Storung wesentlich
als eine die Sensomo tilit&t betreffende erfaBt wird, und wenn wir klinisch
gelaufige Begriffe anwenden wollen, dann miissen wir Rigor und Hypertonie de¬
finieren als eine sensomotorische Ataxie im Zusammenspiel der kompensierenden
und adaptierenden Reflexe.
Dies ist nun auch einer der Griinde, warum wie ich glaube gegen die physio-
logische Bewertung des Begriffes Myastasie oder amyostatisches Syndrom Be-
denkei bestehen. Statik und Kinetik sind nicht nur unzertrennlich verbunden,
sondern in ihren physiologischen Mechanismen identisch. Eine statische Leistung
ist eine kinetische mit dem Bewegungseffekt = 0. Eine solche unitarische Auf-
fassung gilt ebensosehr in bezug auf die Muskelsubstanz wie auch hinsichtlich
der Zentrenfunktion. In den bei den Fragen sind nach meiner Uberzeugung fiir
den Menschen und den Warmbliiter bisher keine Beweise beigebracht, die uns
notigen, von dieser einheitlichen Auffassung abzugehen. Auch ist es nicht wahr-
scheinlich, daB das angenommene besondere Tonussubstrat, wenn vorhanden,
eine quantitativ ins Gewicht fallende Rolle in den uns bekannten und bisher
untersuchten Zust&nden des Gesunden oder Kranken spielt.
19. Herr Weygandt-Hamburg: Gber aktive Paralysebehandlung.
Nicht die Anwendung unspezifischer Reizmethoden oder etwa endolumbaler
oder endokarotidialer Salvarsanisation oder Lufteinblasung in das Zentralnerven-
system, sondern Impfung mit Infektionskrankheiten kommt im folgenden in Be-
tracht. Eine Obersicht hat, nachdem im Prinzip eine remissionagiinstige Wirkung
feststeht, vor allem dann Bedeutung, wenn sie sich auf ein groBeres Material er-
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
128
47. Wanderversammlung tier slidwestdeutschen Xeurologen
Digitized by
streckt, das die Gefahr der Fehldiagnosen zuriickdrangt, und gewinnt an Wert,
je langer die Beobachtungsdauer ist.
Wir haben in Friedrichsberg-Hamburg seit 3 Jakren 156 Falle von Paralyse
mit Malaria oder Recurrens geimpft. Die 38 im letzten Halbjahr geimpften werden
liier nicht mitverwertet. Der Begriff Besserung stiitzt sich nicht auf serologische
oder somatische Symptome, sondem ist allgemeiner, doch vorwiegend psycho-
logisch-praktisch zu verstehen, maBgebend ist die Ann&herung an die Berufs-
tatigkeit, wobei Wegfall der schwereren Kbrpersymptome selbstverstAndlich ist.
Gruppe A entkalt die Falle, die voile Berufsf&higkeit wiedererlangt haben
und ihren Lebensunterhalt verdienen.
Gruppe B enthftlt auch solche, die wieder berufstatig sind, doch unter leichter,
khnisch nachweisbarer Schwachung, die aber am Verdienen des Lebensunterhaltes
nicht hindert.
Gruppe C sind Arbeitsfahige, die aber doch noch derart geschwacht sind, daB
besondere Riicksicht erforderlich ist.
Gruppe D sind die Unveranderten und moist noch Anstaltsbediirftigen. Gruppe
E sind die Verstorbenen. Es sei erwahnt, daB auch bei der letzteren Gruppe
nur in einem Falle eine ungunstige Kurwirkung auf die Herztatigkeit als
Todesursache erwiesen ist.
Gruppe A umfaBt
37
Patienten = 31,37°/ 0
>» B „
32
„ = 27,1 o/ 0
„ c „
13
„ = 11,0 o/ 0
» D
24
„ = 20,34°/o
„ E „
12
„ = 10,17%
Demnach sind 58,5°/ 0 der Falle als eine gute Remission zu bezeichnen, w&hrend
bei der Gruppe C Besserung unter Annakerung an die Berufst&tigkeit vorliegt,
aber doch gewisse Riicksichten erforderlich sind. Mit dieser letzteren Remissions-
gruppe, die an Intensitat den meisten Remissionen fruherer Jahre iiberlegen
scheint, waren es 69,5°/ 0 aller Falle, die eine Remission bekamen.
Um die lediglich durch die Behandlung erzielte Besserung festzustellen, muB
zunachst eine Reihe von Fallen abgezogen werden, bei denen den bisherigen Er-
fahrungen entsprechend Spontanremissionen zu erwarten gewesen w8ren. Nach
Kirschbaums Untersuchungen finden sich bei 962 Hamburger Patienten ll,4°/ 0
Spontanremissionen. Zieht man noch als Quote dafiir, daB unsere Falle doch
klinisch auf Frische usw. ausgesucht werden, 8°/ 0 ab, so kommen wir noch auf
gut 50°/ 0 , bei denen die aktive Behandlung tatsachlich Remissionen erwirkt hat.
Unter den 37 Fallen der Gruppe A stehen 13 im 3. Jahre seit Behandlungs-
beginn. 14 im 2. Jahre. Unter den Berufen finden sich ein Arzt, ein Zollbetriebs-
sekretar, Kaufleute, Geschaftsreisende, Ewerfiihrer usw. Viele fiihlen sich sub-
jektiv besser als friiher, besonders loben sie den guten Schlaf. Mehrere Falle
befinden sich auf anstrengenden Geschaftsreisen im Auslande.
Die korperlichen Symptome sind meist deutlich zuriickgegangen; hartnackig
bleiben die Pupillenstorungen.
Soweit serologisch Nachprufung moghch, findet sich auch bei guten Re¬
missionen nicht imrner eine Besserung der Reaktionen, manchmal freilich komint
es zu normaler Zellzahl, Wassermann 1,0—, Globulinreaktion Spur Opaleszenz.
Hartnackig ist vielfach Wassermann im Serum. Gelegentlich geht serologische
Besserung der Klinisch-Somatischen voraus. Ein Fall, der 42° Fieber iiberstand,
hatte glanzende Besserung, doch zunachst Wassermann-Blut und Liquor je -j—[—
!/ 2 Jahr nach Impfung zeigte Liquor 0,5—und 1,0 —j—. EinigeWochen nach 13Neo-
salvarsandosen, meist von 0,6, war Wassermann-Blut negativ geworden. Am
besten reagieren klassische, erregte, expansive Falle, doch kommen auch demente
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
und Irrenarzte am 27. und 28. Mai 1922 in Baden-Baden.
129
zur Besserung. Korperliche Rvistigkeit hebt die Aussichten. Immerhin hat auch
ein 65jahriger Mann sich trotz Aortenaneurysma impfen lassen und erhielt so
intensive Remission, daB er jetzt schwierige Geschaftsreisen im Auslande aus-
fiihrt.
Zur Ergiinzung der Impfung warden bei uns in Betracht gezogen intravenose
und endolumbale, auch endokartidiale Salvarsanisation, sowie unspezifische
Temperatursteigerung mit chemischen Mitteln wie Aolan, Yatren-Casein usw.,
oder Bakterienderivaten. Femer schritten wir zur Wiederimpfung, gelegentlich
zur dritten.
Parasitologisch ist Tertiana am verwendbarsten gegenviber Quartana und
Tropica. Recurrens zeigte keine besonderen Voraiige, die erwartete sehr hohe
Temperatur blieb aus, und seine Eigenart als Spirillose brachte keine weiteren
Vorteile.
Restlos geniigen konnen unsere Methoden nicht, weil noch zahlreiche Ver-
sager vorkommen und in der Regel noch einzelne klinische Zeicheu wie Pupillen-
storung sowie Serunircaktionen zuriiokbleiben. Das Wesen der Impfbeeinflussung
beruht auf der nichtspezifischen Abwehrstofferzeugung, wodurch vor allem die
Spirochaten mehr als die eiweiBtoxischen Prozesse gestort werden. Erweitenmgen
der Methodik sind zu erhoffen, vielleicht nach allgemeiner Herstellung von Kul-
turen.
Die polemisch vorgebrachte Ansicht von Plaut und Steiner, daB ihre
Recurrensbehandlung mit Wagners Fiebertherapie nur sehr lose zu tun hfttte,
aber die Versuche von Miihlens, Kirschbaum und mir ledighch ihre „Ver-
suche nachgepriift“ batten, ist unzutreffend, da uns tatsiichlich vor allem Wagners
auf friihere Versuche gestiitztes Vorgelxen init Malariaimpfung seit 1917 angeregt
hatte, ebenso wie die historische Obersicht Weichbrodts, wahrend wir erst
Monate nach unseren Recurrensimpfungen Kenntnis von den Munchener Impfungen
erhielten.
Die Entwickelung der theoretischen Seite des Paralyseproblems muB Hand
in Hand mit klinischen Versuchen gehen, sonst wiirde den Krankeu ein schlechter
Dienst erwiesen. Trotz aller Mangel ist die Erzieluug von 50°/ 0 tiefen, langdauernden
Remissionen lediglich durch die Impfmethoden ein betr&chtlicher Fortschritt
gegeniiber dem friiher iiblichen Nihilismus und Fatalismus hinsichtlich der Paralyse-
behandlung.
20. Herr W. Hellpach-Karlsruhe: Wiedererwachen und wissenschaftliche
Bedeutung der physiognomischen Forschung.
Praktische Antlitzkunde treibt der Mensch seit je, wissenschaftliche plan-
mafiigen Charakters gibt es erst seit 150 Jahren. Die erste physiognomische Epoche
wird bezeichnet durch die Gipfelnamen Lavater und Gall. Ihre Forschung
ist semiotisch gerichtet: sie will sichere Einzelzeichen fiir Talent- und Charakter-
diagnose finden. Als Dilettantismus geachtet, schwindet sie wieder dahin und
wird vergessen. Die zweite groBe physiognomische Interessenwelle gipfelt ein
halbes Jahrhundert danach in Darwin und Duchenne; gemiiB dem Geist ihrer
Epoche stehen genetische und experimentelle Gesichtspimkte, jedenfalls aber
wesentlich theoretische, im V T ordergrunde. Auch diese Welle ebbte wieder ohne
nachhaltige Wirkung ab. Seit etwa 5 Jahren sind die physiognomischen Be-
miihungen aufs neue ins Dasein getreten. Die Rassenanthropologie hat sich
von der vorherigen kraniometrischen Einseitigkeit stark der physiognomischen
Deskription zugewendet; ein heimatlicher Pionier dieser Wendung ist Prof. Eugen
Fischer in Freiburg, der in seinem Versueh, die badische Bevolkerung aus ras-
sischen Grundtypen abzuleiten, das physiognomische Merkmal als sehr wesent¬
lich verwendet. GroBe Aufmerksamkeit erregte sodann Kretschmers Studie
Archiv fUr Psychiatric. Bd. 67. 9
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
130
47. Wanderversaminlung der siidwestdeutschen Neurologen
Digitized by
liber Korperbau und Charakter. Der Vortragende erinnert an ihre Haupt-
ergebnisse, meint auch, daB K. sicherlieh etwas Richtiges und Wichtiges aufgedeckt
babe, dessen bleibender Kern aber noch niclit fixierbar sei, bedauert die unzweck-
m&Bige Terminologio (asthenisch und pyknisch) und den Mangel an Selbstkritik,
der K. verfiihre, seine interessanten Studien und Hypothesen neuestens als ge-
sicherte Tatbestande in einern Leitfaden fiir Studierende darzustellen. Dennoch
bleiben K.s Versuche als Ansatz zu einer physiognomischen Konstitutionsphy-
siognomik wertvoll und wiirden hoffentlich weiter ausgebaut. Einen ihrer sacli-
licben Hauptmiingel, die enge provinzielle Materialbegrenzung (K. hat nach
eigenem GestSndnis fast nur schwabische Menschen untersucht) beleuchten in
seiner Tragweite die eigonen Studien des Vortragenden, deren erster Extrakt
in den Sitzungsberichten der Heidelberger Akademie der Wissenschnften 1921
Nr. 2 vorgelegt ist; fiir die reicli zu illustrierende Publikation des ausfiihrlichen
Werkes sei die Besckaffung der entsprechenden notigen Mittel eingeleitet. Vor-
tragender nimmt zum Objekt den deutschen physiognomischen Stammestypus,
aus dem er ein „fr&nkisches“ und ein „schwiibisches“ Gesicht als erste sicher-
stellbare Resultate ausgesondert hat; gegenwftrtig gehen die Forschungen im
Bereich des nordischen Gesichts weiter. Die frankische Gesichtsform ist drei-
spitzig, mit spitzem Kinn und sehr breiter Jochquerlinie, so daB die Jochbeine
stark herausspringen und zwischen ihnen und dem Kinn die sogen. Jochschatten
entstehen; im Profil findet sich auffallend oft das Kretschmersche Winkel-
profil. Das schwabische Gesicht ist eher viereckig, die Jochbeine springen nicht
heraus, statt ihrer aber die Unterkieferwinkel, das Kimi zwischen ihnen ist flach,
manchmal fast geradlinig, die Mundwinkel sind seitwSrts gelagert und oft so
vertieft, daB als Stigma die Mundwinkelschatten entstehen. Konzentrationszone
des frankischen Gesichts ist die Linie von Wunsiedel bis Saarbriicken, des schwa-
bischen der Kreis des wiirttembergischen Oberlandes und der nahen badischen
und schweizerischen Landschaften; im librigen wird das Vorkommen des physio¬
gnomischen Typs genau durch die Mundartgrenzen bezeichnet. Hieraus leitet
Vortragender seinen Erklarungsversuch her. Derselbe ist in der Hauptsache
ein „sozialpsychologischer“: die Physiognomic, d. h. ihr „Phanotypus“, formt
sich durch dio mimischen Wirkungen der Lautbildung und des „Konventions-
temperament“ — beiden M&chten werden die neu Zuwandemden in einem Stam-
mesgebiet immer wieder erfolgreich unterworfen. Die frfinldsche Sprechart be-
vorzugt dentolabiale Lautungen unter starker Benutzung der Lippenstiilpung
(lautliche und mimische „t)berschuBbewegungen“, wie der Vortragende sie nennt),
die Gewohnheitsmimik der frankischen Stamme ist lebhaft, sprudelnd, viel sprach-
lachend; die schwabisch-alemannische Sprechweise ist viel starker palato-guttural,
die Lippengegend kommt mit „Grenz-lnnervation“ aus, die Gesamtmimik ist
gebundener und verhaltener. Von Kindesbeinen an infinitesimal einwirkend
formen diese Gewohnheiten entscheidende Tatbestande im Gesicht, wie wir z. B.
auch aus der Gesichter-Anglisierung junger Menschen bei laugem jugendlichen
Aufenthalt in angelsachsischen Liindem wissen. Einzuriiumen aber selbstver-
standlich ist, daB cs „Erbgesichter“ (Genotypen) gibt, die sich der Formung des
einen oder des andem „Ausdrucksgesichts" (Phiinotypus) bequem anschmiegen
und andere, die sich ihm widersetzen. Die plastischo Kraft der Gewohnheits¬
mimik ist aber gerade an den letzteren, also den urspriinglich runden Gesichtern
in Franken, den urspriinglich langlich-spitzen in Schwabeu-Alemannien, be-
sonders instruktiv wahrzunehmen. Besouders fesselnd sind liierzu auch die Be-
obaohtungen in den stammischen Obergangsgiirteln, die in physiognomischer
Jlinsicht „Umschmelzungsstatten“ sind: friinkisch-alemannische, z. B. Mittel-
baden, namentlich Karlsruhe, friinkisch-niedersachsiche das Bergische lamd usw.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
und Irrenarzte am 27. und 28. Mai 1922 in Baden-Baden.
131
Vortragender gibt noch einige Gesichtspunkte iiber den weiteren Ausbau seiner
Untersuchungen, bittet dafiir um teilnehmende und tatige Mitarbeit weiterer
Kreise und schlieBt mit dem Ausblick, daB als letzte Folgerung sich aus seinen
Studien das Problem des Volkstums und Volkstypus iiberhaupt ergebe: das „Volk‘‘
ist hiernach auch in seiner auBeren, namentlich auch in seiner gesiohtlichen Er-
scheinungsform nur teilweise eine anthropologisehe, rassische Tatsache, zur andern
und in vielem entscheidenden Hiilfte aber eine „geistige“, durch Sitte, Erleben,
Umwelt, Assimilation geschaffene und wandelbare; gerade daraus erklfire sicli
dann, so paradox das scheme, die unerhorte Bestandigkeit der deutschen Stammes-
tvpen und vielleicht der meisten „Volker“ iiberhaupt.
21. Herr Beyer-Roderbirken bei Leichlingen: Die Encephalitis epidemica
in der Invalidenversicherung.
Wenn auch unsere Kenntnisse iiber den Endausgang dieser „neuen Krank-
heit“ und ihrer Folgezustande nocli nicht vollstandig feststehen, so ist es dock
notwendig, der Begutachtung fiir die Zwecke der Invalidenversicherung (wie
auch fiir die Angestelltenversicherung und fiir Behbrden bei der Pensionierung
von Beam ten) baldmoglichst klare Grundlagen zu schaffen. Dies erscheint um
so notiger, veil die Kranklieitserscheinungen noch nicht geniigend allgemein be-
kannt sind und bei der heutigen Xeigung der Arzte zur Beurteilung im Sinne
der Hysterie oder Psychogenie leicht verkannt werden.
Die Encephalitis fiihrb zur Invalidity in vielen Fallen durch schwere psyehisehe
Storungen, hebephrenie- oder katatonieahnliche Zustande, .auch schwere De-
pressionen mit Wahnideen. In ander i Fallen haben die Hemmungen der Auf-
fassung, der Aufmerksamkeit, des Willens, der Initiative, auch des Ged&chtnisses
und Urteils trotz erhaltener Intelligenz die Leistungsfahigkeit aufgehoben. Ebenso
schwer behindert sind Kranke von neurastlienischem Typ, mit erhohter Reizbar-
keit, verminderter Leistungsfahigkeit und rascher Ermiidbarkeit. Bei einzelneu
kann die eigenartige Schlafstorung (oft Sclilafverschiebung), bei andern der starke
Kopfschmerz die Ursache der Erwerbsverminderung sein, auch wohl hartniickige
Neuralgien.
Auf korperlichem Gebiet ist die wichtigste Stbrung die Muskelsteifigkeit des
sogenannten Parkinsonismus. die nicht bloB den Handarbeiter zum lnvaliden
macht, sondern auch den geistigen Arbeiter, weil dieser in seinem Verkehr mit
der Umwelt und seinen Mitteilungsmoglichkeiten (Sprechen, Schreiben) schwer
behindert wird. Storungen der Augenmuskeln beemtriichtigen das I^esen, Xahen
und ahnliche feinere Arbeiten bis zur volligen Hemmung. Propulsion und Retro-
pulsion machen viele Arbeiten unmoglich, ebenso Liihmungen und Muskelatrophien,
endlich die hyperkinetischen Bewegungsstbrungen, auch wenn sie fiir kurze Zeit
durch gewollte Bewegungen unterdriickt werden konnen.
Die weitere Frage, ob dauemde oder voriibergehende Invaliditiit vorhegt,
kann nacli dem heutigen Stande unserer Kenntnisse oft nicht bestimmt beant-
wortet werden, weil der Fall zum Zeitpunkte der Begutachtung (meist 6 Monate
nach Beginn, wegen Ablauf der Krankenkassenzeit) noch nicht geniigend gekliirt
ist. Praktisch ist das aber weniger wichtig. Im allgemeinen ist die giinstigere
Annahme anzuraten, sclion wegen des Eindrucks auf den Kranken selbst. Aus-
gesprochene Striatumsjmptome (Parkinsonismus usw.) bieten eine ungiinstige
Prognose, auch die neurasthenisehen Ersclieinungen sind sehr liartnackig, wiihrend
■Storungen im pyramidalen System bessere Aussichten bieten.
Ein Heilverfahren kann in schweren Fallen nicht in Betracht kommen, bei
mittelschweren erst dann, wenn Aussicht besteht, daB der Kranke in 2—3 Monaten
wieder erwerbsfahig wird. Durch die hiiufig vorkommende Euphorie des Kranken
darf sich der Gutachter nicht zu hoffnungsvoll stimmen lassen. Um so mehr
9*
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Digitized by
.132 47. Wanderversammlung der siidwestdeutechen Xeurologen u. Irrenarzte usw.
ist bei leicliteren Fallen zu erreiehen. Hydrotherapie, VVarme, Licht, Massage,
i v bungen und dergleichen in Verbindung mit kraftiger Ernahrung sind von wesent-
lichem Xutzen, sowohl zur Beseitigung der besonderen Krankheitserscheinungen
als aucli zur Hebung des Allgemeinbefindens, entsprechend der Rekonvaleszenz
nach anderen Inlektionskrankheiten. So gelingt es mit bestein Erfolg, die Kranken,
die in den hauslichen V'erlialtnissen gar nicht in die Hohe kommen konnen, dem
l.eben und der Erwerbsfahigkeit zuriickzugeben.
Freiburg i. B. und Heidelberg, Juni 1922.
Hauptmann. Steiner.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Bucherbesprechungen.
G. Mingazz.ini, Der Balken. Eine anatomische, physiopathologische und kli-
iiische Studio. Mit 84 Textabbildungen. Monographien a. d. Gesamtgebiet
der Neurol, u. Psychiatrie. Heft 28. Berlin, Julius Springer, 1922.
Verfasser, dem wir eine Reihe wichtiger Beitrage zur Lehre von den Er-
krankungen und der Funktion des Balkcns verdanken, bringt in dieser, dem
Andenken Bernhardt von Ouddene gewidmeten Monographic iiber den Balken
ein ausgezeichnetes Werk. Anatomie, Physiologie, Pathologie und Klinik des
Balkens werden in besonderen Abechnitten besprochen. Die normale makro-
skopische und mikroskopische Anatomie wird eingehend behandelt, der Vergasche
Ventrikel in einem besonderen Kapitel. Der Balkenagenesie ist ein besonderer
Abschnitt gewidmet. Es folgen dann die den Balken befallenden Krankheits-
prozesse: Blutungen, Erweichungen, Traumen, Geschwiilste (mit einem Anhang
iiber den Balkenstich), Degeneration. Die Blutzirkulation des Balkens erfahrt
eine eingehende Darstellung. Die Lektiire des Abschnittes iil)er Physiologie und
Physiopathologie des Balkens bereitet durch die klarc umfassende Darstellung
einen besonderen GcnuB. Aus der Fiille des Gebotenen seien unter den SchluB-
folgerungen nur einige wesentliche hervorgehoben: im vordcren Drittel des Bal¬
kens (Portio verbalis et praxica) verlaufen Fasem, die die Gebiete der moto-
rischen Aphasie verbinden und zur Erganzung der Sprachfunktion beitragen.
Das mittlere (die bevorzugte Portio praxica) und teilweise das vordere Drittel
enthalten Fasern, die dazu bestimmt sind, die Taxie und Eupraxie der zur guten
und vollstandigen Ausfiihrung einer Handlung notwendigen Gliederbewegungen
aufrechtzuerhalten. Die im hinteren Drittel (Portio sensorialis) verlaufenden
Fasern verstarken durch die Vereinigung der Seh- und Gehorzone die Brauch-
barkeit des Materials der betreffenden Eindriicke fiir die entsprechenden En-
granune, sie tragen zur besseren Fixierung des hoheren Perzepte, zur euprak-
tischen und eutaktischen Ausfiihrung der Mimik und der Handlungen, zur Be-
schleunigung des Sprachmechanismus bei.
AuBer Zweifel ist die Bildung des Balkens die wichtigste der GroBhirnheini-
spharenkommissuren, eine unbedingte Voraussetzung fiir die normale Fixation
der fiir die hoheren psychischen Funktionen der Gattungen und des Individuums
so notigen Engramme.
Die vorziigliche Wiedergabe der Abbildungen entspricht der Tradition des
Verlages. Das Werk wird fiir alle weiteren Untersuchungen grundlegend sein.
S.
Gaston Roffenstein, Zur Psychologie und Psychopathologie der Gegenwarts-
geschichte. Arbeiten zur angcwandten Psychiatrie. Bd. IV. Leipzig, Ernst
Bircher, 1921.
Diese Arbeit des Verfassers (Dr. phil.) soli den Versuch einer psyehologischen
Orientierung in einem Ausschnitte der Gegenwartsgeschichte vorstellen, speziell
in der politischen und sozialen Bewegung nach dem Ende des Weltkrieges. Er
forscht nach den Triebfedern, die im allgemeinen in geschichtlichen Bewegungen
wirksam werden, hebt ganz besonders in dem Geschehen der Gegenwart den nicht
hoch genug zu veranschlagenden psychopathologischen Faktor hervor, wie er
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
134
Bucher besprechungen.
Digitized by
sick in clem Vordrangen von ausgesprochen psychopathischen Naturen als Fiihrer
der extremen Parteien wahrend der Revolution geltend macht. S.
Havelock Ellis, Gesohlechtstrieb und Schaingefiihl. Autorisierte Ubersetzung
nach der 3. englischen Original-Auflage, mit Unterstiitzung von Dr. med.
M. Kotscher, besorgt von J. C. Kotscher. 4. erganzte u. erweiterte Auflage.
Leipzig, Curt Kabitzsch, 1922.
Dieser 1. Band der sexual-psychologischen Studien bringt eine gute Ein-
fiihrung in die AuBerungen des Geschlechtstriebes und seiner Entwicklung. In
drei Abschnitten werden die Entwicklung des Schamgefiihls, das Phanomen der
Sexualperiodizitat und die spontanen AuBerungen des Geschlechtstriebes (Auto-
Erotismus) abgehandelt. Gestutzt auf eigene ausgedehnte Erfahrung mid auf
griindliche Kenntnis der einschlagigen Literatur gibt Verfasser eine sehr ein-
gehende Darstellung von den Erscheinungen des Geschlechtstriebes, besonders
auch in historischer und ethnographischer Hinsicht. Energisch vertritt er den
Standpunkt der Aufklarung iiber die primaren und wichtigsten Fragen der Ge-
schlechtspsychologie. Strittige Fragen, z. B. die nach den Folgen der Masturbation,
werden in eingekender sachlicher Kritik erortert.
Drei Anhiinge enthalten Abhandlungen iiber den EinfluB der Menstruation
auf die Stellung der Frau, die Sexual-Periodizitat beim Mannc und iiber den auto-
erotischen Faktor in der Religion. S.
Jakob Klfisi, IJber die Bedeutung und Entstehung der Stereotypien. Abh.
a. d. Neurol., Psych. H. 15. Berlin, S. Karger, 1922.
In dieser eingehenden Arbeit hat es sich Verf. zur Aufgabe gemacht, der
Entstehung und ursachlichen Bedeutung der scheinbar sinnlosen, vom Zusam-
menhang mit der VVirkliclikeit vollstandig losgelosten gedanklichen, sprachliehen
und motorischen AuBerungen, die Stereotypien genannt werden, nachzuforschen.
Die Untersuchungen fuBen auf der Beobachtung und Analyse von 31 Fallen
mit Stereotypien.
Er unterscheidet Stereotypien als Abwehrbewegungen gegen Korperliallu-
zinationen, als autistisehe Zweckhandlungen, als Zeremonien und als Relikte
oder Restleistungen und endlich die Stereotypien der Spraehe. Nach der vor-
getragenen Auffassung gehoren automatisch gewordene Abwehrbewegungen gegen
Stimmen und ahnliche Handlungen, die sich aus der Stellungnahme gegen Sinnes-
tauschungen und Wahnideen ergeben. zu den Stereotypien, die jammernden, ein-
formigen Gesten der Melancholiker, das Wiegen und Wackeln der Idioten, die
Berufsbewegungen der Organiseh-Dementen aber nicht. Diese werden als „Mono-
typien‘‘ abgegrenzt.
Interessant ist, daB von 21 Bewegungsstereotypien nicht weniger als 9 gegen
Halluzinationen der Korperempfindung gerichtet waren. In 4 Fallen handelte
es sich um Zeremonien zur Beschworung von Sinnestauschungen oder zur Be-
kraftigung oder Versinnbildlichung einer Weihe oder BuBe, in zweien um autisti-
sche Zweckhandlungen. Den Rest bildeten tlberbleibsel (Relikte) friiherer Be¬
rufsbewegungen oder anderer Handlungen, die urspriinglich auf die Wirklichkeit
abzielten, auf diese Bezug nahmen und also einmal einen Sinn hatten.
Die Abhangigkeit der Dauerhaftigkeit der Stereotypien von Zustanden der
Aufmerksarakeitsspaltung oder Versunkenheit, des Mangels an Zufuhr neuer
Assoziationen, der Vc;rodung der Willensvorgange usw., und ilu-e teils mittelbare,
teils unmittelbare verwandtschaftliche Beziehung zu Komplexen, erlauben wert-
volle prognostische und therapeutische Anhaltspunkte. Die Relikte zeichnen
sich von den iibrigen Stereotypien sowie von den Monotypien der Imbezillen
und Organiseh-Dementen durch ihre hochgradige experimentelle BeeinfluBbarkeit
und Wandelbarkeit, sowie durch ihre Vergesellschaftung mit Stereotypien ver-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Biicherbesprechungen.
135
schiedensten Ursprungs und Charakters aus. Wird eine stereotype Leistung alien
Beeinflu8snngen von aulien (Zeit, Veranderung des Ortes) zum Trotz immer in
tier gleichen Form ausgefiihrt, so handelt es sich mit groBter Wahrscheinlichkeit
uni eine Abwehrhandlung gegen Sinnestauschungen, eine Zeremonie, autistische
Zweckhandlung oder um eine Monotypie. Stellt sie eine Berufsbewegung oder
eine andere, urspriinglich sinnvolle Handlung dar, so ist der Verdacht begriindet,
daB die Krankheit nicht die Schizophrenie, sondem eine organische Demenz oder
Imbezillitat oder eine Vergesellschaftung einer dieser beiden Krankheiten mit
Schizophrenie sei. Mit der Entzifferung der Stereotypie setzt oft eine Besserung
ein, die siqh als Befreiung, AufschlieBung und Ablenkung auf reale Ziele kundgibt.
S.
Otto Seeling, Hypnose, Suggestion und Erziehung. Eine Handreichung fiir
jeden Gebildeten. Leipzig, Dr. Max Gehlen.
Der Verfasser, ein Berliner Rektor, beklagt in der Einleitung das noch be-
stehende Verbot hypnotischer Schaustellungen. Er verspricht sich von der Ab-
haltung solcher offentlichen Vorfiihrungen hypnotischer Experiinente eine Auf-
klarung der „Laien“ und eine anschauliche Einfiihrung in die fiir jedes mensch-
liche Leben so wirksamen „Nachtseiten“ der Seele.
Er ist der Meinung, „daB der Mensch im Psychologischen und Mystischen das
wietler gewinnen wird, was die naturwissenschaftliche Kritik seinem Glauben im
Weltall drauBen entrissen hat.“
DaB bei einer solchen Auffassung die Gefahrlichkeit der hypnotischen De-
nionstrationen nicht richtig eingeschatzt wird, geht aus der ganzen Daretellung
hervor. S.
Sign). Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualthcorie. 5. unveranderte Auflage.
Leipzig u. Wien, Franz Deuticke, 1922.
Die bekannten Abhandlungen Freuds iiber die sexuellen Abirrungen, die
infantile Sexualitat und die Umgestaltungen der Pubertat liegen in 5. unveran-
derter Auflage vor
Es ist begreiflich, daB Freud mit Nachdruck hervorhebt, was die Lehre von
der Sexualitat und den sexuellen Abirrungen der Psychoanalyse verdankt. Etwas
mehr kritische Wiirdigung wiirde geradc auf dem sexuellen Gebiet sehr von Nutzen
sein. Auffassungen wie die, daB die Anlage zu den Perversionen die urspriing-
liche allgemeine Anlage des menschlichen Geschlechtstriebes sei, aus der das
normale Sexualverhalten infolge organischcr Veranderungen und psychischer
Hemmungen im Laufe der Reife entwickelt werde. diirften wohl nicht auf all-
gemcine Zustimmung rechnen. S.
Georg Schlomcr, Leitfaden der klinischcn Psychiatrie. 3. durchgesehene
Auflage. Miinchen, Rudolph Muller & Steinieke, 1921.
Der Leitfaden bringt in gedrangter Kiirze eine Einfiihrung in die klinisehe
Psychiatric. Die Darstellung stiitzt sich ganz auf Kraepelins Ansichten. S.
Julius Mahler, Kurzes Repctitorium der Physiologie. Breitensteins Repe-
titorien Nr. 21. 5. neubearbeitete und vermehrte Auflage. Mit 5 Abbildungen.
Leipzig: Ambrosius Barth.
Der 1. vorliegende Teil, die Physiologie der vegetativen Prozesse enthaltend,
kann als ein sehr brauchbares Repctitorium, das durch klare und einfache Dar¬
stellung erfreut, empfohlen werden. S.
Paul Schildcr, tlber das Wesen der Hypnose. Berlin, Julius Springer, 1922.
Diese fiir weitere Kreise bestimmte Abhandlung bemiiht sich, in das Wesen
der Hypnose einzudringen imd diese den Grundanschauungen der Psychologic
und Biologie einzuordnen. Die korperliche Wirkungsmoglichkcit der Hypnose soil
darin bestehen, daB die Hypnose auf die in der Umgebung des 3. Ventrikels ge-
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
136
Biicherbesprechungen.
Digitized by
egenen Zentralstellen der Hympathisch-parasympathischen Innervation wirkt.
Wirkungen, die sonst durch das Affektleben hervorgerufen werden, werden in
der Hypnose durch eine besondere Triebeinstellung ausgelost. S.
August Laqueur, Otto Miiller und Wilhelm Nlxdorf, Leltfaden der Elektro-
medizln liir Arzte und Elektroteehniker. Mit 133 Abbildungen im Text.
Halle a. S., Carl Marhold.
Das vorliegende Werk verdankt seine Entstehung dem engen Zusammen-
wirken cines Arztes und zweier Elektroteehniker. Gerade in dieser Vereinigung
der Medizin und Technik liegt ein groBer Vorzug des Buches vor ahnlichen. Wir
erhalten so eine sehr ubersichtliche und erachopfende Einfiihrung in das Gebiet
der Elektrotherapie unter besonderer Beriicksichtigung der bei den elektromedizi-
nischen Apparaten zu beriicksichtigenden elektrotechnischen Gesichtspunkte und
der Elektroteehniker lemt beurteilen, welche Anforderungen der Arzt an die
Apparate stcllen muB. Zahlreiche gute Abbildungen illustrieren den Text. S.
Neumann, Die seellsehe Behandlung von Krankheiten. Die okkulte Welt.
Nr. 54/55. Pfullingen (Wiirtt.), Johannes Baum.
Verfasser will den Nutzen der seelischen Behandlung von Krankheiten zeigeu.
Seine Abhandlungen sind fur Arzte und Nichtarzte geschrieben.
Mit groBer tlberzeugung setzt er sich fur die seelische Behandlung ein in
den dazu geeigneten Fallen. S.
Ernst Wittermann, Der nerviise Mensch in den geistigen N8ten der Gegen-
wart. Stuttgart, Strecker & Schroder.
Richtiges Verstandnis und warmes Empfinden fiir die geistigen Note unserer
Zeit haben dem Verfasser die Feder gefiihrt. Es werden die Wege gezeigt, die
auch dem haltlosen Nervosen Richtung geben und zur geistigen Harmonie fiikren
sollen. S.
W. Weygandt, Forensisehc Psychiatrie, II. Tell: Saehversfandigkeit. Samm-
lung Goschen 411. Berlin u. Leipzig, Vereinigung wissensehaftlicher Verleger
Walter de Gruyter & Co.
In diesem 2. Teil erortert Verfasser in sehr geschickter Darlegung Aufstellung
und Aufgaben der Sachverstandigen, die Technik des Gutachtens, Fragen der
Simulation imd die Grenzen des Irreseins. In 15 Abschnitten werden die ein-
zelnen Formen der geistigen Storungen abgehandelt. Das sehr wichtige Gebiet
der Psychopathie erfahrt eine sehr eingehende Darstellung, ganz besondere aueh
unter Hinweis der verminderten Zurechnungsfahigkeit. S.
Th. Erismann, Psychologie. III. Die Hauptlormen des psychisehen Ge-
schehens. Sammlung Goschen 333. Berlin u. Leipzig, Vereinigung wissen-
schaftlicher Verleger Walter de Gruyter & Co. 1921.
Auch dieser 3. Band der Psychologie sei jedem, der sich iiber die Grund-
formen des psychisehen Geschehens orientieren will, empfohlen. Sinnesempfin-
dungen, Wahrnehmungen, Denken, Gefiihle und Affekte, Wille werden in den
einzelnen Kapiteln besprochen unter Beriicksichtigung der Ergebnisse der mo-
demen empirischen Psychologie. S.
Kurt Schneider, Der Diehter und der Psychopathologe. Koln, Rheinland-
Verlag, 1922.
Der vor Medizinem der Univereitat Koln gehaltene Vortrag bringt in sehr
anziehender Form eine Darstellung der Beziehungen zwischen Diehter imd Psycho-
pathologen, iiber den Diehter als GegCnstand des Psychopathologen und sein Werk
vom psychopathologLschcn Standpunkt aus. Ein wertvoller Literaturnachweis
ist beigefiigt. S.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Otto Binswanger zuni 70. Geburtstag.
Von
Prof. H. Berger.
(Eingegangen am 18. Dezember 1022.)
Am 14. Oktober 1922 hat Otto Binswanger seinen 70. Geburtstag
gefeiert. Nachdem er nach 37jahriger Tatigkeit als akademischer Lehrer
und Direktor der Psychiatrischen Klinik zu Jena sich am 1. Oktober
1919 in seine Schweizer Heimat nach Kreuzlingen bei Konstanz zuriick-
gezogen hat, genieBt er dort seine wohlverdiente Ruhe und kann mit
Befriedigung auf eine reiche und von Segen gekronte Lebensarbeit
zuriickschauen.
Einer Arztefamilie entsprossen, wandte sich Otto Binswanger , dem
Vorbilde seines Vaters folgend, der Psychiatric zu. Zwar interessierte
ihn nach Beendigung seines Studiums vor allem zunachst die patho-
logische Anatomie, und fand er erst nach einer kurzen Assistentenzeit,
bei Ponfik in Breslau, unter Ludwig Meyer in Gottingen sein wahres
Arbeitsfeld. Nach einer weiteren Assistentenzeit bei Westphal habili-
tierte er sich ira Jahre 1882 in Berlin fur Neurologie und Psychiatric
und kam schon in dem gleichen Jahre als Direktor der Landesirrenheil-
anstalt und auBerordentlicher Professor der Psychiatric nach Jena, wo
er dann fast vier Jahrzehnte lang ununterbrochen wirkte. Seine patho-
logisch-anatomische Neigung kam in seiner Arbeit ,,t)ber die patho-
logische Histologic der GroBhirnerkrankungen bei der allgemeinen pro-
gressiven Paralyse 1 ' noch deuthch zum Ausdruck, und auch spater ist
Binswanger immer wieder zu dieser seiner Lieblingsbeschaftigung mit
der pathologischen Anatomie zuriickgekehrt. Er hat noch wahrend
des Krieges eine ausgezeichnete anatomische Arbeit mit Herrn Schaxel
gemeinsam fiber die Arteriosklerose des Gehirns veroffentlicht. Das
Problem der Dementia paralytica beschaftigte ihn aber nicht nur von
der pathologisch-anatomischen Seite her, die ihm nur die Waffe in die
Hand geben sollte zur Abgrenzung dieses Krankheitsbildes von anderen
psychischen Erkrankungen. Der Aufgabe der klinischen Scheidung der
Dementia paralytica von anderen, mit ihr zusammengeworfenen Er-
krankungsformen hat er sich in der erfolgreichsten Weise unterzogen,
und es ist vor alien Dingen seinen Bemuhungen zu verdanken, daB wir
schon vor der Ara der Wassermannuntersuchung und der Spinalpunktion
Falle von arterisklerotischer Erkrankung von der Gehirnerweichung
Archlv ftlr Psyclilatrle. Bd. 67.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Otto Binswanger zum 70. Gehurtatag.
Digitized by
abzugrenzen lernten. Diese Bemuhungen haben auch das schone Er-
gebnis der Aufstellung der Encephalitis subcorticalis chronica Bins-
wangem gezeitigt. Mit groBem Eifer nahra Binswanger spater die durch
die Serologic und Spinalpunktion gegebenen Hilfsraittel fiir die feinere
Ausgestaltung der psychiatrischen Diagnostik auf, ebenso wie er sofort
die weittragende Bedeutung der Abderhalden&ehen Feststellung von
Abwehrfermenten im Blute fur die psychiatrische Forschung in ihrer
ganzen Grdlie durchschaute. Leider haben sich ja die auf diese letztere
Forschungsinethode gesetzten Hoffnungen in der Folgezeit nicht er-
fiillen lassen. Der Schwerpunkt der wissenschaftlichen Tatigkeit Bins-
wangers ist nicht in den zahlreichen Veroffentlichungen, die wir auf
fast alien Gebieten der Neurologic und Psychiatrie seinem regen Geiste
verdanken und die in jeder Beziehung anregend und befruchtend ge-
wirkt haben, zu suchen, sondern in seinen drei grollen Werken: der
,,Neurasthenie“, der ,,Epilepsie“ und der ,,Hysteric". Sie legen ein
beredtes Zeugnis ab von der ernsten Forschertatigkeit und der klinischen
Begabung Binswanger s. Die Epilepsie wird wohl immer eines der bahn-
brechenden Werke auf diesem Forschungsgebiet bleiben.
Binswanger hat es immer in ausgezeichneter Weise verstanden, die
Fragen der Praxis mit seiner wissenschaftlichen Forschung zu verbin-
den, und ist daher immer einer der beliebtesten klinischen Lehrer
der Jenenser Hochschule gewesen. Trotz ehrenvoller Berufungen nach
Bonn und Halle ist er der Jenenser Hochschule treu geblieben und hat
aus der von ihm seit 1882 geleiteten Landesirrenheilanstalt eine aus-
gezeichnete Psychiatrische Klinik gemacht, die er durch den Bau einer
Nervenabteilung im Jahre 1905 in gliicklichster Weise ausgestaltete.
Diese groBe, aus privaten Mitteln erbaute Abteilung ermoglichte es
Binswanger, neurologische Falle in ausgiebigster Weise fiir seine For¬
schung und den Unterricht heranzuziehen. Die vortreffliche Dar-
stellung der allgemeinen Psychiatrie in dera von ihm gemeinsam mit
Siemerling herausgegebenen Lehrbuch, das standig neue Auflagen
erlebt, ist in aller Hande.
Als Binswanger es an der Zeit fand, abzugehen, fiihrte er diesen
EntschluB in folgerichtiger Weise durch und widmet sich in seiner
selbstgewahlten Mu Be unausgesetzt der wissenschaftlichen Arbeit . Vor-
trage und Abhandlungen iiber den striaren Symptomenkomplex, iiber
die Epilepsie, iiber die Hysterie im Kriege, die samtlich in Kreuzlingen
entstanden sind, beweisen, daB er mit der Zeit fortschreitet und mit
Erfolg weiterbaut an der Wissenschaft, der er sein ganzes Lt*ben ge-
widmet hat. Mogen ihm noch viele Jahre geistiger Frische und Arbeits-
fahigkeit beschert sein, in denen er uns mit den reichen Friichten seiner
klinischen Erfahrung und seiner Forschertatigkeit beschenkt!
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Emil Sioli f.
Von
Prof. Raecke, Frankfurt a. M.
(Eingegangen am 17. August 1922.)
Am 16. Juni verstarb der emeritierte Ordinarius fiir Psychiatric
Geh. Med. Rat Prof. Dr. Emil Sioli, friiher Direktor der Frank¬
furter Psychiatrischen Universitatsklinik. Er gehorte noch zu jener
Generation von Bahnbrechern, welche ausgehend von breitester all-
gemein-medizinischer und naturkundlicher Betrachtungsweise zu-
gleich die wissenschaftliche Entwicklung der Psychiatrie und den
praktischen Ausbau der deutschen Irrenpflege machtig gefordert haben.
Unsere heutige strenge Arbeitsteilung mit ihrer tibertriebenen Be-
schrankung auf imraer kleinere und kleinste Gebietsabschnitte eines
Faches hatte in seiner Jugend noch kaum begonnen. So ward an sich
sein Interessenkreis ein weiterer, und dazu trat bei ihm zufallige Be¬
ll inderung durch iiuBere Verhaltnisse, welche ihn zu Abstechern auf
praktische Gebiete zwang, die dann seiner Lebensarbeit zugute kamen.
Seine gesamte Einstellung zu den ihn beschaftigenden Tagesfragen
blieb aber konsequent eine wissenschaftliche, und ehe er an eine neue
Aufgabe heranging, suchte er sich sorgsam eine theoretische, mit zuver-
lassigen statistischen l)aten gestiitzte Grundlage zu sichern, darauf
erst folgte die praktische Ausfiihrung mit der sturmischen Energie
seines siidlanclischen Temperaments.
Die Siolis staramten urspriinglich aus .Solare im zeitweilig osterreichischen
Oberitalien. Von dort war der 1744 geborene Antonio S. 1764 nacli Halle a. S.
iibergesiedelt, um ein Handelsgeschiift zur Einfuhr von Siidweinen und -friichten
naeh Deutschland und zur Ausfuhr von Pelzen naeh Italien zu begriinden. Da
er aueh im Auftrage der Universitat Halle tatig war. erhielt er den Titel „Uni-
versitatskramermeister‘\ 1789 trat auch sein A’effe Paolo Angelo S. in das auf-
bliihende Geschaft, ein lebhafter, vielseitig interessierter Mensch mit kiinst-
lerischen A'eigungen, der dann eine Deutsche heiratete. Wahrend dessen iilterer
Sohn Karl naeh Italien zuriickkehrte, wurde der 1806 geborene 2. Sohti Franz
Maria Eberhard S. preuBLseher Offizier und spater Gutsbesitzer. Er war ein
hochintelligenter. aber unruhiger Brausekopf voller Plane, die teils iiberhaupt
zu phantastisch waren, teils nur seiner Zeit zu sehr voraufeilten, als daB seine
zahlreichen Untemehmungen den erhofften Erfolg hatten bruigen konnen. So
beschaftigte er sich z. B. eifrig mit chemischen Fragen und suchte die Bierbrauerei
auf eine streng wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Er schrieb dariiber nicht
nur ein Bueh, sondem errichtete auch eine Versuchsbrauerei, die zwar noch
Arclilv fiir Psychiatric. Bd. 67. 10
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
138
Raecke:
Digitized by
heute besteht, aber von ihm nicht lange gehalten werden konnte. Ferner kaufte
er zu seinem Landgut Lieskau einen eignen Stadthof in Halle hinzu, urn die Milch-
vereorgung der Stadt zu verbessem, und erganzte den Kuhbeatand in seiner
stadtischen Milchwirtschaft fortlaufend nach selbst ausgearbeiteten hygienischen
Gesichtspunkten. Allein die Ausfiihrung dieser und vieler gleichzeitiger Ideen
scheint unter der Zersplitterung seiner Krafte und seiner leidenschaftlichen Be-
teiligung an den politischen Kampfen gelitten zu haben. Nach 1848 muGte er
voriibergehend nach Amerika fliichten. Spater begab er sich nach Italien zu
seinem Bruder und begann hier eine groBziigige Propaganda fur die Verpflanzung
italienischer Bauern saint ihren geniigsamen Eseln nach Amerika. Schon hatte
er Teilnehmer gewonnen und in Bergamo Esel aufgekauft, da bokam er die ganze
Sache satt und kehrte nach Deutschland zurlick. Hier muGte er nach allmah-
lichem Verlust eines ansehnlichen Vermogens sein Gut verkaufen und als kleiner
Rentner nach Halle ziehen. wo er eine stadtbekannte Figur war, besonders beliebt
bei der Jugend, die er auf der StraBe mit Johannisbrot zu fiittem pflegte. Die
Schilderung dieser impulsiven Personlichkeit schien notwendig, weil sie einen
Schlussel zum Veretandnis des Sohnes gibt.
Emil Sioli wurde am 29. Juli 1852 auf dem Gute Lieskau geboren,
ein spater Nachkommling in einem Abstande von 8 Jahren nach dem
Nachstaltesten seiner Geschwister. Seine Jugend fiel in die Zeit des
finanziellen Zusammenbruchs der Eltern, und er muBte wahrend
seiner Schul- und Studienzeit durch Stundengeben die notigsten Mittel
zu verdienen helfen. Dennoch fand er Zeit fiir seine mannigfachen
Interessen: namentlich liebte er naturwissenschaftliche Exkursionen und
legte sich eine groBe Steinsammlung an, die er bis in sein Alter hinein
vermehrte. Er besuchte die Latina der Frankeschen Stiftungen, bestand
1870 das Notabitur und machte als Kriegsfreiwilliger im Infanterie-
Reg. 27 den Feldzug mit. Nach seiner Riickkehr studierte er in Halle,
wo ihn zunachst Mineralogie und Anatomie am meisten anzogen, wurde
auch Assistent am Mineralogischen Institut unter dem alten Girard,
dem er die Sammlung ordnete. 1875 erlangte er den medizinischen
Doktor, 1876 die Approbation und hatte sich nun am liebsten der Ana¬
tomie zugewandt. Um sich die notigen Mittel zu beschaffen, ging
er in die Praxis und ubernahm Vertretungen. Mit den Ersparnissen
eines halben Jahres mcldete er sich in StraBburg beiWaldeyer als
Assistent. Doch bald iiberzeugte er sich von der Aussichtslosigkeit
dieser Laufbahn, brach ab und suchte im Osten neue Vertretungen.
Zwischendurch horte er in Berlin Kurse und lernte bei solcher Gele-
gcnheit C. Westphal kenncn, von dessen bedeutender Personlich-
keit er den nachhaltigsten Eindnick empfing. April 1877 wurde er
in Nietleben Assistent, und schon am 1. Oktober des gleichen Jahres
gliickte es ihm, zu ('.Westphal an diePsychiatrische Klinik derCharite
zu kommen, wo damals auch Wernicke war. Oft hat Sioli betont,
jene arbeitsfreudigo Charitc-Zeit sei wohl die schonste seines Lebens
gewesen! Die damals genossenen Anregungen blieben maBgebend
Gotigle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Emil Sioli f-
139
fur seine ganze spatere Denkweise; unloslieh war ihm die psychia-
trische Forschung mit der anatoraischen verquickt, und er ward bis
in die letzten Jahre seiner direktorialen Tatigkeit nicht mtide, den
Sektionen beizuwohnen und eigenhandig die Gehirne nach Meynert
zu zerlegen. Noch am Tage, ehe er in den Ruhestand trat, fiihrte er
selbst eine Obduktion vollstiindig durch, ja litt nicht einmal, daB ihm
der Diener das Aufsagen des Schadels abnahm.
Schon unter C. Westphal fesselten ihn, den durchaus anatomiseh Einge-
stellten, die verheiBungsvollen Fortsehritte der Paralyse-Forschung. Seine erste
\'er6ffentlichung in den Charitd-Annalen tragt den Titel: „Uber die im Jahre
1877 an allgemeiner Paralyse leidenden weiblichen Irren“. (Bd. IV, S. 455.) Es
ist kein Zufall, daB spater gerade im Laboratorium seiner Anstalt von Nissl
und Alzheimer die grundlegenden Arbeiten iiber die Histologie der Paralyse
in Angriff genommen wurden, und daB unter ihm Jahnel seine sehonen Spi-
rochatenuntersuchungen begonnen hat. Immer wieder hat Sioli in seinen Frank¬
furter Jahresberichten sich mit der Pathogenese der Paralyse beschaftigt, die
Hiiufigkeit syphilitischer Infektion in den Anamnesen hervorgehoben und seine
Schuler zur Bearbeitung des von ihm gesammelten Materials angeregt. Auch
als Schreiber dieser Zeilen 1898 bei ihm Assistent wurde, erhielt er sogleich die
Aufforderung, die vorhandenen Falle von conjugaler Paralyse zusammenzustellen.
Auf Grund statistischer Erfahrungen hat Sioli weiterhin eine Abnahme der
Paralyse infolge Verbesserung der Luesbehandlung festzustellen gesucht. Noch
in seiner Abschiedsvorlesung 1919 hat er seinen Zuhorern einen fesselnden tlber-
blick geboten uber die Entwicklung der Paralj’se-Forschung seit jenen Tagen.
da er selbst bei Westphal lernte, bis zum AbschluB der eigenen Lehrtatigkeit.
Seine strong anatomische Denkweise erhellt noch aus einer anderen Ver-
offentlichung aus seiner Charit6-Zeit im Archiv f. Psychiatr. u. Nervenkrankli.
( 10 , S. 261): ,,Ein Fall von ulceroser Endocarditis mit psychischen Erschei-
nungen“. Hier suchte er die Symptome psychischer Erregung auf die durch
Embolie und Hamorrhagien bedingten Reizzustande der Pia und Rinde zuriick-
zufiihren, weil die seelischen Storungen den korperlichen parallel zunahmen, und
erklarte es fiir verwirrend, wenn derartig bedingte Delirien mit Fallen von Para¬
lyse zusammengeworfen wiirden. Seine Beobachtung habe mit einer friiheren
von C. Westphal das Gemeinsame, daB durch Einwirkung der Infektion aufs
Gehirn bei besondeis disponierten Personen Psychosen verursacht wurden. Gegen-
iiber Mendel, der in der Bcrl. Gesellsch. f. Psychiatr. u. Nervenkrankli. solchen
Zusammenhang bezweifelte, betonte Sioli, er halte sich fiir berechtigt, den Fall
mit anderen durch korperliche Krankheiten bedingten ahnlichen zusammen-
zufassen. (Ibid. 11, S. 816.) Femer veroffentlichte er einige Falle von Zwangs-
vorstellungen. Eine weitere in Berlin begonnene anatomische Arbeit hat er erst
in Leubus fertiggestellt: „Ein Fall von combinierter Erkrankung der Riicken-
marksstrange mit Erkrankung der grauen Substanz“. Arch. f. Psychiatr. u.
Nervenkrankh. 11, S. 693.
So sehr ihn schon in seiner Charite-Zeit mit ihrer FuJle von An-
regungen die akademische Laufbahn gelockt haben mag, so sah er
sich doch durch pekuniare Riicksichten wieder gezwungen, Entsagung
zu tiben. Er hatte sich verlobt und konnte ohne einen wirtschaftlichen
Riickhalt keine Farailie grunden. Dahergab er seine Erste-Assistenten-
stelle an der Klinik auf und wandte sich dem Provinzialdienst zu.
10 *
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
140
Raecke:
Digitized by
wurdo 1880 in Leu bus 2. Arzt und 1882 in Bunzlau Direktor, bestand
jetzt auch sein Kreisarztexaraen. Mit Feuereifer hatte er sich auf die
Bearbeitung nun sich bietenderpraktischerFragengeworfen unddadureh
bald die Aufmerksamkeit seiner vorgesetzten Behorde auf sich gelenkt. '
Yor allem war es eine Besserung der Ernahrungsbedingungen seiner
Kranken, welche er anstrebte, ferner die Einfiihrung der in Deutsch¬
land noch wenig geubten Familienpflege, welche er denn auch in Loos-
witz bei Bunzlau mit Erfolg ins Leben rief.
t)ber diesen ini wesentlichen deni Wahrendorffschen Unternehmen in
11 ten nachgebildeten Versuch hat Sioli, als er sehon Bunzlau verlassen hatte,
ausfiihrlich auf einer Jahrcsversammlung des Vereins deutscher Irrenarzte be-
richtet. Unumwunden raumt er ein, daU die Prozentzahl der wirklich geeigneten
Kranken sehr liinter seinen Erwartungen zuriickgeblieben sei. Eine wesentliche
Entlastung der Anstalt habe sich nicht erzielen lassen. Dennoch habe das Ex¬
periment seinen Wert, indeni es die arzt lichen Anschauungen iiber den nioglichen
Grad freier Behandlung erweitere und den Geist des Vertrauens des Arztes zu
seinen Patienten und der Patienten zu ihrem Arzte starke.
Eine Arbeit aus Leubus beschaftigte sich mit ,,Emahrungsanomalien im
Rekonvaleszenzstadium der Manie" (Neurol. Zentralbl. 1882, Nr. 2), eine ana-
tomischo aus Bunzlau behandelte die „Fasersysteme im FuB des GroBhimschenkels
und Degeneration derselben“ (Zentralbl. f. Nervenheilk. 1888, Nr. 15) in offen-
sichtlicher Anlehnung an die Forschungen Wernickes. Noch spater liegt die
„Demonstration von Gehimschnitten bei einer Erkrankung des Hinterhauptlap-
pens“. Vers. d. siidwestdeutsch. Psych. Vereins, 1892.
Von weiteren Veroffentlichungcn aus der schlesischen Zeit ist neben einem
interessanten Bericht iiber die Verwaltung der Anstalt Bunzlau 1883 (Neurol.
Zentralbl. 1885, S. 19) vor allem die grolie Arbeit „t)ber direkte Vererbung von
Geisteskrankheiten" zu nennen, die zu dem wichtigen Ergebnis fiihrte, „daB
aus einer beim Ascendenten beobachteten Verriicktheit nie eine einfache Manie
oder Melancholie, und umgekehrt aus diesen beiden Formen nie eine Verriicktheit
beim Descendenten hervorgeht, daB diese beiden Gruppen von Formen sich
vielmehr vollig ausschlieBen. Dagegen neigen . . . Melancholie, Manie und Cy¬
clothymic zum gegenseitigen beliebigen Ersatz." So wurde bereits 1885 von
Sioli die innere Verwandtschaft der letzteren 3 Krankheitsbilder bemerkt.
Ferner stellte er fest, ,.daB in der groBen Mehrzahl der Falle die Vererbung die
Geisteskrankheit erzeugt und deren Form bestimmt, wahrend in der kleineren
Zahl der Falle auBere Umstande die Geisteskrankheit erzeugen und dann einen
ivesentlichen EinfluB auf die Form derselben gewinnen." (Arch. f. Psychiatr.
u. Nervenkrankh. 16, S. 113, 353 u. 599.)
Es war ein auBerordentlich gliicklicher Griff, als die 8tadt Frank¬
furt a. M. 1888 Sioli zum lebenslanglichen Direktor ihrer Anstalt fur
Irre und Epileptische berief und damit zum eigentlichen Leiter des
gesamten Frankfurter Irrenwesens bestellte. Jetzt hatte er ein Feld
gefunden, wo er seine groBe Arbeitskraft voll botatigen und die ihn
beschaftigenden Plane weitgehend verwirklichen durfte. Am 1. No¬
vember siedelte er mit Weib und Kind iiber und ging sogleich mit seiner
temperamentvollen Energie an eine vollige Umgestaltung des Vor-
gefundenen nach seinen Grundsatzen.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Emil Sioli f.
141
lm Alter hat sich Sioli mit der festen Absicht getragen, eine ausfiihrliche
Geschichte des Irrenwescns der Stadt Frankfurt zu schreiben. Alancherlei Vor-
arbeiten waren bereits beendet, viel Material zusammengetragen, ja der Anfang
der interessanten Arbeit begonnen; leider ist er nicht mehr zu ihrer Vollendung
gelangt. Xur gelegentliche kurze Ruckblicke finden sich in verschiedenen seiner
Y r eroffentlichungen, so in seiner Beschreibung der Frankfurter Anstalt in Breslers
..Deutsche Heil- u. Pflegeanstalten fiir Psychisch-Kranke in Wort und Bild“,
femer in Siolis ..Nekrolog auf Heinrich Hoffmann“, in seiner Beschreibung
der Kopperner Nervenheilstatte. Den Verdiensten seines Amtsvorgangers, des
bekannten Struwelpeter-Hoffmanns, hat er voile Anerkennung gezollt. Obgleieh
dieser nicht eigentlieh Psychiater gewescn war, sondem praktischer Arzt und
Anatom, hatte er es doch, als er einmal zum Leiter des alten Hospitals fiir Geistes-
kranke gewahlt worden war, durch seine Riihrigkeit fertig gebracht, die bis-
herige Gleichgiiltigkeit der Biirgerschaft zu iiberwinden und mit zielbewuBter
Agitation die Mittel fiir die Errichtung einer eigenen Frankfurter Heil- und Pflege-
anstalt zusammenzubringen. 1864 ward dieselbe bezogen, ein schmucker Bau
in gotischem Stil mit 124 Einzelziinmern und 20 kleineren Aufenthalts- bzw.
Schlafraumen. Veraltet, wde ein solcher Bauplan sich heute darstellt, war auch
die Behandlungsweise des damaligen Loiters, so wohlwollend er sich seiner Pa-
tienten annahm, und so sehr es ihm gelang, den „Affenstein“ popular zu machen.
Aber seine humorvolle Giite erlaubte den Insassen weitestgehendes Ausleben
ihrer krankhaften Eigenart, so daB sie sich je nach Wahnsystem und Geschmack
kleiden, Zepter und Krone tragen, sich mit Majestat anreden lassen durften.
Methodische Bettbehandlung Unruhiger, regelmaBige Beschaftigung, Erziehung
zu sozialem Verhalten gab es dagegen nicht. Jeder Patient trieb so ziemlich.
was er wollte, und die „Bosartigen“ wurdcn durch Zwangsmittel (Jaeke, Stiihle.
Zellen) unschadlich gemacht. Es ist klar, wohin solche Methode, zumal beim
Altem des Loiters, fiihren muBte: Ruhige Patienten hatten es gut, aber die Er-
regten kamen nicht zu ihrem Recht. Die arztliche Tatigkeit stand im Hinter-
grunde, das Personal blieb ubermaBig selbstandig. Der Oberwiirter ging z. B.
abends mit einer Flasche Ghloralhydrat durch die Anstalt, teilte nach Gutdiinken
Schlafmittel aus und meldete dann dem Direktor: „Ronde gemacht!“
In diese raorsch gewordenen Zustande fuhr Sioli wie ein Wirbel-
wind und fegte alles hinaus, was sich nicht mit seinen Anschauungen
vertrug. Kein geringerer als Alzheimer, der daraals als Assistenz-
arzt bei Sioli eintrat, und staunender Zeuge des jiihen Umschwungs
wurde, hat seines Lehrers Wirken mit unnachahmlicher Anschaulichkeit
im Aufsatzo ,,2oJahre Psychiatrie“geschildeit (Arch. f. Psych, u. Nerven-
krankh. 52, S. 853). Auf Drangen Siolis gewahrte die Stadt die Mittel
zu einem volligen Umbau nach modernen Gesiehtspunkten: Die zu
vielen Einzelzimmer wurden beseitigt und an ihrer Stelle groBe, helle,
luftige Wachsale errichtet. Die bisher nur ebenerdigen Hauser wurden
mit einem I. Stockwerk versehen, in alien diesen Raumen Zontral-
dampfheizi^ng eingefiihrt und alien Wachsalen Badezimmer ange-
schlossen. Die Wachsale erhielten verglaste Veranden. Werkstatten,
Unterhaltungsraume, Laboratorien und arztliche Bibliothek wurden
nicht vergessen. Mit Ausnahme der Station fiir Unruhige, die nicht
nach Si ol is Wiinschcn ausfiel, darf der gesamte Umbau noeh heute
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
142
Raecke:
Digitized by
als mustergultig gelten. Von deni Wachsaal fur Unruhige hat er selbst
offers geauBert, er hatte ihn lieber ganz gegen Siiden stellen und auch
dort mit den Einzelzimmern griindlicher aufraumen sollen. Wieder-
holte spatere Verbesserungsversuclie durch Anbau eines 2. Schlaf-
saals und Anbringung einer gedeckten Veranda haben jene Fehler der
Anlage nicht raehr aufzuwiegen vermocht. Dazu kam, daB ihm trotz
seines Einspruchs durch die Feuerwehr eiserne AbschluBturen auf-
genotigt wurden, die den Gesamteindruck ungiinstig beeinflussen.
Dennoch sollte man es heute der KJinik kaum ansehen, daB sie seit
Anfahg der 90er Jahre keinen durchgreifenden Umbau erfahren hat.
DieGrundsatze SiolischerBehandlungsmethode finden sich nament-
lich niedergelegt in seiner sehr beachtenswerten Schrift ,,Einige psy-
chiatrische Zeitfragen“, die 1895 in der ,,Zeitschr. f. arztl. Land-
praxis'' erschien und heute noch durchaus modern anmutet. Neben
interessanten wissenschaftlichen Beobachtungen enthalt sie wert-
volle Ausfiihrungen fur den Anstaltsarzt, wie das ,,zarte Pflanzchen
des KrankheitsbewuBtseins" durch freie Behandlung gekraftigt, durch
Zwang aber erdriickt werde, von der ZweckmaBigkeit fruher Ent-
lassung und den Gefahren iibereilter Aufnahme. Solange keine nahe-
liegende Gefahr durch das Verhalten eines Kranken entstehe, solle
man lieber durch freundschaftlichen Rat und unmerkliche Lcitung
wirken. Aber keine Erschwerung der notwendigen Aufnahmen! Nach
diesen Grundsatzen hat Sioli in Frankfurt iiber 30 Jahre die Direktion
gefiihrt.
In der erwahnten Schrift von Alzheimer ist treffend ausgeftihrt worden,
wie Sioli es in kiirzester Zeit verstanden hat, die ganze Anstalt mit seinem Geiste
zu durchdringen, Arzte und Personal zu seinen Anschauungen zu erziehen, die
Verwaltung bis ins einzelne personlich zu leiten und doch durch Vermeidung
alles Kleinlichen jedem die zur Arbeitsfreudigkeit erforderliche Selbstandigkeit
zu gewahren. Fast taglich machte er mehrmals V r isite, kannte personlich genau
jeden Kranken, war immer fur Patienten und Angehorige zu sprechen. Alle
ein- und ausgehenden Schreiben, auch die Briefe der Kranken, gingen durch
seine Hand. Jahrelang lieB er sich sogar zu jeder Aufnahme rufen. Mit alien
Gutachtenfallen beschaftigte er sich eingehend, auch wenn er nicht das Gut-
achten persdnlich erstattcn wollte. So konnte er bei seiner starken Verantwor-
tungsfreudigkeit manches in der von ihm erstrebten freien Behandlung wagen.
was ohne seine genaue Kenntnis der einzelnen Kranken bedenklich gewesen
ware.
Es geht die, freilich nicht sicher bcglaubigtc, Erzahlung, Sioli habc
in Bunzlau eine haBliche Mauer, doren Bcseitigung er durch wieder-
holte Eingaben nicht erreichte, kurzerhand selbst abreiBtpi und mit
den Steinen eine StraBe pflastern lasscn. Jedenfalls hat er gelegent-
lich in ahnlicher Weise bei ihm argerlichen Schwierigkeiten den Gor-
dischen Knoten zerhauen. Seiner impulsiven Initiative gelang oft
spielend, was vorher unmoglich schien. Aber traf er auf ernstere Hin-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Emil Sioli f
143
dernisse, war er allerdings vorsichtig genug, rechtzeitig abzubrechen.
Die Kuhnheit, rait der er Gewalttatige und Selbstmordverdachtige
gerade durch Verzicht auf alle VorsichtsmaBregeln umzustimmen
trachtete, auf seinen Wachsalen Messer ausgab und das VerschlieBen
der Tiiren verbot, Kriminelle und Fiirsorgezoglinge beurlaubte oder
im Freien beschaftigte, hatte etwas Verbliiffendes. Dennoch hat er
kaum je table Erfahrungen gemacht, da er stets genau unterrichtet
war und eine groBe Menschenkenntnis besaB. Individuelle Behand-
lung ging ihm iiber alles, Schablonen kaimte er nicht. Verwilderte Kranke
fiihrte er personlich in Garten und Park spazieren, um sie an soziales
Yerhalten zu gewohnen. Widerstrebende zwang er durch Beharr-
lichkeit zur Arbeit, wobei er nie um neue Wege verlegen war. Es reizte
ihn formlich, an gewalttatig Erregte personlich heranzutreten und
sie durch Blick und Wort zu besanftigen, sie nach seinem Willen zu
lenken, wie er auch bei erregten Aufnahmen gem selber zugriff und
sie ei enhandig zur Abteilung fiihrte oder trug.
Oft hatten seine Auskunftsmittel direkt einen humorvollen Anstrich, wenn
er z. B. einen gesperrten Katatoniker mit einem vielgeschaftigen Maniacus an
die gleiche Sage stellte, so dad der eine die Arbeit in Gang brachte, der andere
sie stereotyp im Gange erhielt; oder wenn er auf Klagen der Oberpflegerin
iiber die gemeinsam veriibten Streiche zweier degenerativer Hysterischer diese
nicht etwa trennte, sondern zusammen in ein Zimmer schlod mit dem prompten
Erfolge, dad sich beide nach Ablauf einer Stunde nicht mehr sehen konnten.
Durch seine grodziigige Behandlung mit Versprechungen und Vergunstigungen
wudte er aus alien arbeitenden Kranken erstaunliche Leistungen herauszuholen
und auch Angehorige der Stadtbevolkerung an landwirtschaftliche Tatigkeit
zu gewohnen. Sein grodter Erfolg in dieser Hinsicht bleibt die Durchfiihrung
umfassender Urbarmachungsarbeiten im Taunus an der Stelle, wo spater die
Kopperner Nervenheilstatte errichtet wurde.
UnerschSpflich war Sioli im Erfinden und Vorbereiten von Unterhaltungen,
die er stets gleichzeitig therapeutisch zu verwerten verstand. Seine in Baracken
untergebrachten Kopperner Arbeiter, meist Trinker, beschaftigte er Sonntags
auder mit Karten- und Kegelspiel noch mit Scheibenschieden, Verlosungen und
ahnlichen Abwechselungen. Die Insassen der Hauptanstalt durften im Sommer
auf haufige Ausfliige, im Winter auf regelmadige Tanzstunden mit abschlieden-
dem Balle rechnen. Grode Gartenfestc mit Feuerwerk, Ausfahrten und Masken-
balle hielten schon wochenlang vorher die Kranken in angenehmer Erwartung.
ob sie teilnehmen durften. Zerreiden, Zerschlagen, selbst Einnassen lieden dann
erheblich nach; Schlafmittel und Bader konnten eingeschrankt werden; die Ar-
beitsleistungen wurden sehr viel bessere. Dafiir wurde auch in der Zulassung
zu den Vergniigungen weitherzigste Milde geiibt. Die Unreinen saden. bei Aus-
flugen der Anstalt in die Umgegend, zusammen im letzten Wagen, der von Zeit
zu Zeit an einem Graben, einem Busche anhielt, damit die Fahrgaste schnell
abgefiihrt werden konnten. Fastnacht zog die ganze Anstalt maskiert und unter
Vorantritt von Musik nach einer nahe gelegenen Wirtschaft zu Kaffee, Kuchen
und Tanz. Manische und Hebcphrene tummelten sich als Hanswurste. und manche
Stuporo8e und Depressive zeigten an solchem Tage zuerst wieder Initiative und
Lebenslust. Ausbrechende Erregungen, Dammerzustande, Krampfanfalle stdrten
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
144
Raecke:
Digitized by
nicht das Fest. Der Betreffende verschwand rasch im Seitenzimmer, erhielt eine
Spritze und wurde, falls notig, unauffallig zur Anstalt zuriicktransportiert. Alles
hatte Sioli selbst bis ins kleinste zuvor eingeteilt und vorausbedacht, wie er
auch dauemd Mittelpunkt des Festes blieb, dennoch aber mit Interesse das
Oebaren dor einzelnen beobachtete, seine Arzte darauf hinwics und dia-
gnostische und prognostisehe Schlussc zog odor neue thcrapeutische Gesichts-
punkte ableitete.
Fruh trat Sioli fiir eine moglichst weitgehende Differenzierung
der Wachsale ein. Bei einem Bestande von nur 300 Kranken wiinschte
er doch je 4 Wachsale fiir jede Geschlechtsseite: Fur Ruhige, Halb-
ruhige, Unruliige und Sieche. Jeder Wachsaal sollte seine besonderen
Baderaume und eigenen Garten haben, in welchem Liegeeinrichtungen
geschaffeti wurden. Im Sommer bei gutem Wetter siedelten die Wach¬
sale vollstandig in die Garten iiber, zum Schutz gegen Regen waren
Liegehallen gedacht. Der Ausbau moderner Dauerbader wurde zwar
erst in den Jahren 1904—1908 zusamraen mit der Hcrrichtung schoner
Untersuchungs- und Operationsraume durchgefiihrt, aber schon Ende
der 90er Jaltre wurden die protrahierten warraen Bader in ausgedehn-
tem MaBe von Sioli angewandt. Sonne, Luft und Wasser galten ihm
als Hauptheilfaktoren, und er wurde nicht miide, darauf hinzuweisen,
welche Erfolge man hieriuit ohne alle Medikamente bei ausreichender
Kost gegemiber geschwachten Nervosen crziele. Allmahlich wandelte
er seine offizielle Epileptikerabteilung in eine Nervenabteilung um,
indem er den Austlruck ,,krampfkrank‘‘ im allerweitesten Sinne faBte.
Hand in Hand damit ging das zielbewuBte Bestreben, alle die Auf-
nahmen erschwerenden Bestiinmungen iiberhaupt abzuschiitteln und
aus seiner Heil- und Pflegeanstalt. ein richtiges Stadtasyl zu machen,
das den Zugangen ebenso offen stande, als irgendein anderes Kran-
kenhaus. Grundsatzlich sollte das Attest eines praktischen Arztes
gcniigen. Der Direktor ubernahm Ix-reitwillig die Verantwortung
und schickte deni Polizeiprasidenten zusammen mit der Aufnahme-
anzeige eine kurze gutachtliche AuBerung, warum die Aufnahme not-
wendig war. Anfangs veranlaBte wohl die Polizei eine gelegentliche
Nachkontrolle solcher Aufnahmen durch den Kreisarzt, jedoch mit
den Jahren schlief auch diese behordliche VorsichtsmaBregel, da sie
sich iiberflussig erwies, allmahlich ein. Die Aufnahmen erfolgten ohne
jede Anraeldung und ohne alle Papiere zu beliebigen Tag- und Nacht-
stunden. Ja, der Direktor verpflichtete sich der neugeschaffenen stadti-
schen Rettungswache gegeniiber, ihr jeden von ihr eingelieferten Kran¬
ken zunachst abzunehmen und dann sich auf Grund sofortiger eigener
Untersuchung dariiber klar zu werden, ob er ihn behalten oder fort-
schicken wollto. Nur durch solche Verantwortungsfreudigkeit lieB
sich reibungslos der groBe Fortschritt erzielen, daB ausnahmslos samt-
liche auf der StraBe bewuBtlos Aufgefundenen, einschlieBlieh der Be-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Emil Sioli f.
145
trunkenen, statt nach tier Polizeiwache in die Psychiatrische Klinik
verbracht warden.
Vorher war es immer wieder geschehen, daO an ter der Annahme bloBer
Trankenheit Apoplexien, Uramien a. dgl. in polizeiliehen Gewahrsam genommen
and am nachsten Morgen tot aafgefanden warden. Heate ist die Bcrechtigang
von .Siolis Vorgehen wohl allgemein anerkannt and hat weitgehende Nach-
ahmang gefanden. Damals bestand es erst an wenigen Kliniken and wardo z. B.
von keinem Geringeren als Schiile noch Ende der 90er Jahre in einer Aus-
spraehe iiber Stadtasylo als za gewagt zariickgewiesen; er war entsetzt, als ihm
Sioli aaf die Frage nach den Einzelbestimmangen eines derartigen Reglements
antwortete, er braaehe kein Reglement, sondern verlasse sich aaf scin eigenes
Urteil.
Rasch stieg unter Siolis Leitung die Zahl der Aufnahmen: Im
Jahre 1887 waren es noch 109 im Jahre gewesen, 1892/93 schon 295.
1897/98 468, dann 1900/01 ward die Ziffer 622 erreicht, 1902/03 1018.
endlich 1906/07 1486, und auf dieser Hohe liielten sich die Zugange
seitdem mit geringen Schwankungen bis zum Kriege. Diese Vermehrung
kam weniger auf Rechnung der eigentlichen Psychosen, als vor allem
einer Haufung der in die Anstalt voriibergehend verbrachten Grenz-
zustande, psychopat hischer Erregungen, epileptischer Dammerzu-
stande, Trunkenheitsfalle und BewuBtseinstrubungen bei organischen
Gehirnerkrankungen verschiedenster Art.
Hierzu kamen seit 1900 in immer wachsender Zahl die jugend-
lichen Abnormen, bei denen im Verlaufe des Fiirsorgeerziehungsver-
fahrens Zweifel betreffs der geistigen Beschaffenheit sich erhoben hat-
ten, oder die wegen schwerer moralischer Verirrungen derart gefahr-
lich fiir ihre Umgebung zu werden drohten, daB sofortige Einwcisung
in die Anstalt erfolgen muBte. Um auch sie zweckmaBig unter-
bringen und versorgen zu konnen, begrxindete Sioli rasch ent-
schlossen eine besondere Jugendabteilung, wohl die erste an einer
Irrenanstalt, trennte die Halbwiichsigen von den Kindern und
beschaftigte die ersteren in den Werkstatten, wahrend er zum Unter-
richt fur die letzteren die Anstellung eines stadtischen Lehrers, fur
ihre Erziehung die einer Kindergartnerin erreichte. Um die jugend-
lichen Individuen ganz von den Erwachsenen zu sondern, lieB er 1909
auf jeder Geschlechtsseite ein barackenartiges Landhauschen mit
Schlaf-, Wohnraum und Bad im Park errichten.
Gerade den hier behandelten psychopathischen und Schwachsinnszustanden
hatte er von jeher ein groBes Interesse entgegengebracht und eigene Fragebogen
fiir ihre Untersuchung ausgearbeitet. Bekannt ist sein Referat liber Imbezillitiit
1899 (Zeitschr. f. Psych. 1900, S. 101). Ferner veroffentlichte er: „Die Beobach-
tungsabteilung f. Jugendl. in d. Frankft. Stadt. Irrenanstalt 4 ' (Psychiatr.-neurol.
VVochenschr. 9, S. 123), „Denkschrift betr. d. Jugendabteilg." 1909, „t)ber
d. Aufgabe d. Irrenarzte bei d. Beurteilung u. Behandlg. abnormer Jugendlicher"
(Neurol. Zentralbl. 1908). Endlich ist hinzuweisen auf die von ilim herausge-
gebenen recht inhaltreichen Jahresberichte seiner Anstalt, die eine Fiille feiner
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Raecke:
Digitized by
146
Bemerkungen iiber seine an den jugendlichen Psychopathen gesammelten Er-
fahrungen enthalten.
Das Gebiet der sexuellen Verirrungen behandeln seine Aufsatze ,,Beitrage
zur Genesc der kontraren Sexualempfindung 11 (Neurol. Zentralbl. 1893, S. 423)
und ,,t)ber perverse Sexualempfindung 1 * (Zeitschr. f. Psych. 50). Praktische
Fragen werden erdrtert in dem Referat „Uber t)berwachungsabteilungen“ (Neurol.
Zentralbl. 1894, S. 89), in dem Vortrag ,,Fursorge fur Geisteskranke 11 (Zeitschr.
f. Psych. 1898, S. 826), sodann in „Warum bediirfen die groBen Stadte einer in-
tensiveren Fiirsorge, als das flache Land? 11 (Zeitschr. f. Psych. 1900, S. 800),
„Erweiterte Aufgaben der groBstadt, Irrenfiirsorge 11 (Zeitschr. f. Psych. 1903,
S. 971), .Jst das heutige System villenartiger Pavilions fur alle Irrenanstalten
das allein richtige? 11 (Zeitschr. f. Psych. 1906, S. 157), „Entwicklung der Trinker-
fiirsorge in Verbindung mit der stadt. Irrenanstalt in Frankfurt a. M.“ (Psychiatr.-
neurol. Wochenschr. 9, S. 25), „Die Geschlechtskrankheiten in ihren Beziehungen
zu den Psychosen in der Irrenanstalt 11 (Festschr. zum 1. KongreB z. Bekampfg.
d. Geschlechtskrankh. in Frankfurt 1902), „Begutachtung eines Falles von perio-
discher Geistesstorung in Invalidenrontensachen‘ 1 (Arztl. Sachverstand.-Zeit, 1,
II, 1905).
Siolis Bestreben war von Anfang an darauf gerichtet gewescn,
daB die Stadt Frankfurt alle ihre Geisteskranken selbst verpflegen
sollte. Er hoffte auf den Bau einer zweiten landlichen Anstalt fur
Chronische, etwa so wie Hamburg neben Friedrichsberg ein Langen-
horn geschaffen hat. Eine solche Pflegeanstalt ware bald zu fiillen
gewesen, man brauchte nur die vielen nach auswarts, z. T. in Ordens-
anstalten abgegebenen stadtischen Patienten zuruckzuholen. In den
langwierigen Kampfen um Durchfiihrung dieser Lieblingsidee ist
er nicht erfolgreich gewesen, weil er da auf zu zahlreiche Hindernisse
stieB. Gerade der sonst groBzugige Oberburgermeister Adickes scheint
hier mehr den fiskalischen Standpunkt vertreten zu haben, daB die
Stadt sich nicht in der Irrenpflege Lasten aufbiirden diirfe, zu denen
sie nicht gesetzlich verpflichtet sei. So kam es schlieBlich zu dem von
Sioli spater beklagten KompromiB, daB sich die Stadt nur mit Geld-
beitragen an der Erbauung einer neuen Provinzialanstalt beteiligte,
wofiir sie das Recht erhalten sollte, dorthin ihre chronischen Falle
abzuschieben. 1897 wmrde die neue Nassauische Bezirksanstalt Weil-
miinster eroffnet, brachte aber durchaus nicht sogleich die erw r artete
Entlastung, weil der bureaukratische Apparat zunachst zu schwerfallig
arbeitete, und die Gberfuhrungsantrage zu langsam erledigt wurden.
So ward es notwendig, noch nach anderen Entlastungsmoglichkeiten
fiir die immer starker uberfiillte sthdtische Anstalt auszuspahen.
Mit Einfiihrung einer Familienpflege nach Bunzlauer Muster hatte Sioli
in Frankfurt sehr bald begonnen, muBte sich jedoch nach jahrelangen Bemiihungen
iiberzeugen, daB der GroBstadtboden dafiir nicht giinstig war. Vielleicht mag
auch gerade die hiesige Bevolkerung mit ihrer Lebhaftigkeit und Mangel an
Geduld sich besonders schlecht zu solcher Pflege eignen. Jedenfalls war auf die-
sem Wege trotz mannigfacher Versuche kein durchgreifender Erfolg zu erzielen.
' Besser bewahrte sich die Schaffung einer Filiale fiir Sieche und ruhige Ver-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Emil Hioli t-
147
blodete: In der Stadt selbst wurden ein Wohnhaus und ein Fabrikschuppen in
groBem Garten entsprechend eingerichtet und hier mit verhaltnismaBig geringen
Kosten jahrelang der Betrieb durchgefiihrt. Frl. Niasl, Schwester des beriihmten
Histologen, hatte die wirtschaftliehe Leitung ala Oberin von „Prachtershof“
und trug durch tatkraftige und verstandnisvolle Arbeit nicht wenig zum Ge-
Jingen des Planes bei. Gestiitzt auf die hier gesammelten Erfahrungen hat Sioli
inimer wieder schon lange vor dem Kriege betont, daB die Methode der iiber-
groBen Anstalten unzweckmaBig sei, weil Mangel personlicher Ubersicht das
Sparen behindere, und daB mit zahlreicheren kleinen psychiatrischen Bezirks-
krankenhausem viel billiger gewirtschaftet werden konne. Die von ihm dariiber
vorgelegten Anschlage haben moines Wissens keine weitere Beachtung ge-
funden.
Viel Kopfzerbrechen maehte ihm die Trinkerfiirsorge. Die Haufung der
Wiederaufnahmen wegen Trunkenheit lieB ihn nach tauglichen Mitteln suchen,
die in der Anstaltsbehandlung Gebesserten vor Riickfallen zu schiitzen. Nicht
in Moralpredigten und Drohungen mit Bezirksanstalt und Arbeitshaus, auch
nicht nur mit den Methoden Entmiindigung und Abstinenzversprechen glaubte
er Abhilfe linden zu sollen, sondeni von vomherein stellte er den Gesichtspunkt
der sozialen Fiirsorge in den Vordergrund und miihte sich, den Entlassenen den
Weg in die Freiheit zu ebnen. Er verschaffte ihnen Schlafstellen und Arbeit,
legte ihr verdientes Geld auf die Sparkasse und nahm die Bticher in Verwahrung.
Geduldig verhandelte er mit ihnen, wenn sie von ihm Geld erhoben, und mahnte,
sie sollten es doch nicht wieder vertrinken, erfreut, wenn er nur erreichte, daB
sie wenigstens einen Teil des Geldes stehen lieBen. Trotz aller Enttauschungen
gerade bei diesen Bestrebungen hat er doch nie Mut und Humor verloren. Er
gait den Frankfurter Alkoholisten, fur die er warmes Mitgefuhl besaB, als der
,,Papa“, zu dem sie sich hilfesuchend wendeten, von dem sie sich aber auch viel
sagen lieBen, und fur den sie geme arbeiteten, wenn sie einmal wieder zur Auf-
nahme gelangten. Oft hat Sioli es als erstrebenswertes Ideal bezeichnet, daB
solche Alkoholkranke, soweit sie keine Familie hatten, in einer alkoholfreien
Herberge Wohnung erhalten konnten, deren Hausvater den Lohn in Verwah¬
rung zu nehmen und im Interesse der einzelnen zu verwalten hatte. Bei richtiger
Behandlung dieses reizbaren, aber meist willensschwachen Menschenmaterials
werde sich doch allerlei erreichen lassen.
Biol is Wunsch, ein landliches Trinkerasyl zu gewinnen, vereinigte
sich mit seinem Bestreben nach Entlastung der Anstalt durch Griin-
dung von Filialen und ward befruchtet von seinem Interesse fur die
neue Nervenheilstatten-Bewegung. Alle diese Motive wirkten zusam-
inen, bei ihm ein groBziigiges Projekt reifen zu lassen: Wieder trat
er an die Btadt heran mit dem Vorschlage, eine zweite psychiatrische
Anstalt fur chronische Geisteskranke zu erbauen, aber dieses Mai
in enger Verbindung mit einer Volksnervenheilstatte und zugleich
gedaeht zur Durchfiihrung von Alkoholentziehungskuren. Das schone
Koppemer Tal im Taunus schien ihm besonders geeignet, und jetzt
gelang es seiner Gberredungskunst, den Ankauf von ausgedehntem
Gelande durchzusetzen. Freilich mit dem Beginn der eigentlichen
Bauperiode hatte es noch Zeit; erst muBte nach Wasser gesucht
und Brunnen gegraben werden, erst gait es auch, das unfruchtbare
Heideland urbar zu machen. 1901 war die Hiittenmuhle gekauft wor-
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
148
Raecke:
Digitized by
den und der dazu gehorige Bodenbesitz in Neuefeld durch Ankaufe
von Gemeinde und Privaten allmahlich hinzugetvonnen, und alsbald
siedelte Sioli 12 arbeitsfahige Patienten mit dem notigen Personal in
den alten Baulichkeiten an, damit sie rait den Vorbereitungen beginnen
sollten. Nach Errichtung von 2 Baracken wurden die Kranken auf
40 vermehrt, raeist Alkoholisten, und nun erhob sich ein eifriges Schaf-
fen, den Gebirgsbach einzudammen, StraBen anzulegen und aus dem
mit Ginster bestandenen, steinreichen Gebirgsboden fruchtbare Felder
herauszuholen. Erst 1911 folgte die Auffuhrung der 6 Landhauser
und des Wirtschaftsgebaudes, welche heute die Doppelanstalt fiir
psychische und nervose Kranke darstellen. Bis zum Krieg hat Sioli
die Leitung dieser vorbildlichen Volksnervenheilstatte neben derjenigen
seines Stadtasyls in Handen gehabt. DaB sie gebaut wurde, und daB
sio sich so entwickelte, ist in erster Linie sein Verdienst. Sehr lesens-
wert ist seine eigene Schilderung der Baugeschichte, ,,Die neuen Heil-
anstalten Neuefeld und Hiittenmuhle fiir psychisch Kranke und Ner-
v6se“, 1913.
Trotz aller solcher praktischen Betatigung, zu der noch eine aus-
gedehnte Gutachter- und Konsiliarius-Tatigkeit kam, lieB Sioli doch
keinen Augenblick die Pflege wissenschaftlichen Geistes in seiner Anstalt
aus den Augen. Nach seiner Oberzeugung konnte nur der wissenschaft-
lich Tiichtige ein guter Arzt sein, und daruni war er eifrig bestrebt,
die jiingeren Assistenten zu wissenschaftlichen Arbeiten anzuregen,
den alteren aber freie Hand zu lassen und ihnen nur durch Bereit-
stellen von Arbeitsmitteln und Zeit zu Hilfe zu komruen. Jeder, der
es beantragte, erhielt ohne weiteres 4 Woehen Arbeitsurlaub im Jahr,
d. h. er wurde wahrend dieser Zeit durch den Direktor vom Abteilungs-
dienste dispensiert. Fortbildungsvorlesungen wurden lange vor Er-
offnung der Universitat regelinaBig abgehalten. Referatabende waren
eingerichtet. Dio Arzte wurden dazu angeregt, auf Kongressen vor-
zutragen. So erbliihte unter Siolis Leitung ein reiches wissenschaft-
liches Leben an seiner Anstalt. Es geniigt, auf seine, verstorbenen
Schuler hinzuweisen: Knoblauch, Nissl, Alzheimer, Brodmann
haben unter Sioli gearbeitet.
Er selb8t war nicht nur reges Mitglied des Frankfurter arztlichen Vereins,
der ihn 1903 zu seinem Vorsitzenden wahlte, sondern namentlich auch in der
Anthropologisehen Gesellschaft eifrig als Vortragender tatig. Erwahnt seien
vor allem sein Beitrag zur Festschrift der 39. Versamnilung der Gesellschaft 1908
iiber „Geisteskrankheiten bei Angehorigen verschiedener Vblker“, sein Aufsatz
„Die Entartung des Menschengeschlechts' 1 , Umschau 1903, und sein Vortrag
iiber „Geisteskranke Dichter 11 , ein Thema, mit dem er sich jahrelang beschaftigte
und iiber das er vielbesuchte Vorlesungen hielt. Sioli war zudem ein gewandter
Diskussionsredner, dor anregende Bemerkungen aus seiner reichen Erfahrung
heraus zu machen wuOte.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Emil Sioli f-
149
In seinem Hause liebte er frohe Geselligkeit und wurdc in der Ausiibung
herzlichcr Gastfreundschaft durch seine interessenreiche und musikalische Gattin
verstandnisvoll unterstiitzt. Er hatte die Freude, daB sein altester Sohn sich
ebenfalls der Psychiatrie zuwandte und die akademische Laufbahn einsehlug.
Seine Tochter heiratete einen Nervenarzt und bescherte ihm 4 Enkel. Der 2. Sohn
wurde Architekt, der dritte Jurist. Dazu kam ein groBer Kreis gleichgestiminter
Freunde und Bekannten, und auBerdem hielt er als Direktor nach alter patriar-
chalischer Sitte noch in der GroBstadt daiauf, daB sich bei ihm die Familien
<ler Angestellten gelegentlich versammelten. Fiir sie alle zeigte er lebhaften
Anteil. Seine weitgehende Sorge um das Wohlergehen des Pflegepersonals erhellt
schon aus den vielfachen eingehenden Erorterungen in seinen Jahresberichten
iiber die Frage, wie es am besten gehoben und zur Arbeitsfreudigkeit erzogen
werden konne. Er hatte ihm allmahlich eine Vorzugsbehandlung gegeniiber
den anderen stadtischen Angestellten erkampft.
Mit dem Ausbruch des Weltkrieges erfuhr die auf Sioli ruhende
Arbeitslast eine bedenkliche Vermehrung: Seine alteren Arzte und
Pfleger wurden plotzlich eingezogen, in der Anstalt ein Vereinslazarett
eroffnet, und gleichzeitig fielen ihm mit der Eroffnung der Univer-
sitfit und seiner Ernennung zum Ordinarius neue Aufgaben und Pflich-
ten zu. Mit gewohnter Arbeitsfreudigkeit unterzog sich Sioli auch
jetzt wieder alien an ihn herantretendcn Anforderungen, iibernahm
sogar das Dekanat. Allein damals wurden allmahlich an ihm, den gleich¬
zeitig schwere seolische Erschiitterungen trafen (Verlust von Gattin
und drittem Sohn, Verwundung der beiden alteren Sohne), die ersten
Spuren zeitweiligen Nachlassens seiner Elastizititt beobachtet.
Er erschien bisweilen reizbar und launisch, kiimmerte sich nicht mehr um
Einzelheiten. lieB manches, dessen Ausbau ihm friiher am Herzen gelegen hatte,
gleichgiiltig seiner Hand entgleiten. Vollends nach dem Zusainmenbruch und
deni politischen Umschwung, als die erbitterten Tarifkiimpfe einsetzten, und die
Diensteinteilung eine vollig andere wurde, verlor er zeitweise das Vertrauen zu
seinem Personal, das ihm nicht mehr seine jahrelangen Bemxihungen um Er-
hohung der Gehiilter und Vermehrung des Urlaubs zu danken schien, sondern
fortgerissen von der allgemeinen Bewegung ganz neue Forderungen aufstellte.
Gerade Sioli, der imnxer ein Vorkampfer fiir die Rechte der Unterdriickten und
Minderbegiinstigten gewesen war, fiihlte sich durch diese schmerzliche Erfahrung
gekrankt, und alles das wirkte zusammen, ihm seinen Abgang mit erreichter
Altersgrenze zu erleichtern.
Dann freilich, als der Schritt getan war, und er sich entschlossen
hatte, Herbst 1919 in den Ruhestand zu treten und auf sein Land-
gut nach Dillingen im Taunus tiberzusiedeln, da erwachte wieder bei
ihm die alte Energie und Lebenslust. Bei seiner Abschiedsfeier betonte
er ausdriicklicb, er denke nicht daran, sich zur Ruhe zu setzen. Fiir
ihn beginne jetzt ein neuer Lebensabschnitt!
Und in der Tat ist in Dillingen wahrend des immer von ihm schon
ersehnten Landlebens Sioli noch einmal jung geworden und hat Plane
zu einem neuen Aufbau seines Lebens gefalit. Er heiratete eine Nichte,
die es ausgezeichnet verstand, ihm seine letztcn Jahre zu verschonern,
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
150
Raecke: Emil Sioli t-
Digitized by
nahm geisteskranke Pensionare zu sich und ging mit dera Gedanken
um, nach Errichtung von Baracken auf seinem Gelande auch Kom-
munalkranke zu verpflegen. Die ersten Schritte dazu sind tatsachlich
unternommen worden, die Plane lagen fertig da. Als Konsiliarius
und Gutachter am Gericht blieb Sioli in Frankfurt tatig, wollte vveiter
Vorlesungen halten. Da warf ihn uberraschend die Arteriosklerose
nieder.
Als er am Himmelfahrtstag dieses Jahres seine alten Assistenten
bei sich sah, da klagte er bereits uber „grippeahnliche“ Beschwerden,
wollte sich aber nicht untersuchen lassen und best and darauf, seine
Gaste selber in seinem Garten herumzufiihren. Am folgenden Tage
legte er sich mit thrombotischen Erscheinungen am Beine. Die in der
Frankfurter Chirurgischen Klinik ausgefiihrte Amputation brachte
nur voriibergehende Erleichterung. Das Herz versagte infolge vor-
geschrittener Koronarsklerose, und am 16. Juni 1922, 3 Wochen nach
eingetretener Bettlagerigkeit, entschlief der noch nicht ganz 70jahrige.
Die um ihn versammelten Angehorigen hatte er noch erkannt und
ihnen mit dem schonen Abschiedsworte gedankt: ,,Ich habe ein gliick-
liches Leben gehabt!“ — Wenn nach den Wortendes Psalmisten Miihe
und Arbeit das Gluck des menschlichen Lebens ausmachen, dann
darf Sioli fiir sich inAnspruch nehmen, daB rastlos schaffende Arbeits-
freude bis zuletzt sein Leben erfullte. Diese Erinnerung und dieses.
Vorbild hinterlaBt er seinen Schiilern.
Raecke.
Gougle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(Aus der P6ychiatrischen und Nervenklinik zu Kdnigsberg Pr.
[Direktor: Geheimrat E. Meyer].)
Znr Psvchopatholo^ie der Konigsberger Mucker.
Von
Dr. phil. et med. Hugo Daffner.
(Eingegangen am 2. August 1922.)
LaBt sich schon wahrend des vergangenen Jahrhunderts eine wieder
stand ig zunehmende Neigung zur Beach aft igung mit mystisehen Ge-
danken und Gefiihlen nachw-eisen, so tritt diese Bewegung, wie es scheint,
in den letzten Jahrzehnten mit alien ihren typischen Begleiterschei-
nungen besonders stark hervor. Man hat angefangen, die Schriften der
alten Mystiker in wertvollen Neuausgaben vorzulegen. Mehr noch als
dieses beweisen die zahlreichen Anhanger, welche spiritistische, theo-
sophische, okkultistische und ahnlich gerichtete Gemeinschaften fan-
den, beweisen auch die Zirkel, die sich um schongeistige Philosophen, uin
mystisch angehauchte Dichter bildeten, dali in unserer Zeit das so-
gcnannte Sektenwesen mit allem, was zu ihm gehort, keineswegs aus-
gestorben ist. Deutschland ist langst als das Land anerkannt, in dem
das Sektenwesen besonders iippige Bliiten treibt. Und der Norden
scheint hierbei reichere Friichte abzuwerfen als der Siiden. Unter den
zahlreichen Sektenbildungen, die wir in protestantischen Landern ken-
nen, ist die der sogenannten Konigsberger Mucker im ersten Drittel
des vorigen Jahrhunderts eine der bekanntesten geworden. War es doch
hierbei bis zum offentlichen Skandal gekommen, der nur durch einen
weit ausholenden Prozeftvon Staats wegen mit Verurteilung der Haupter
der Sekte aus der Welt geschafft werden konnte.
Dicser Konigsberger Muckeiprozefi hat in der Literatur schon mehr-
fach Widerhall gefunden. Aus der Zeit des Prozesses selber stammt eine
anonyme, wertlose Schrift ,,Der Mucker in der Einsamkeit' 1
(Leipzig 1837), die allerhand Mucker-Aphorismen, d. h. vor allem Zi-
tate aus pietistischen Schriften, enthalt. Eine, wenn freilich etwas ein-
seitig gefarbte ,,Aufklarung nach Aktenquellen“ hat der in den
Prozefl verwickelte und auch nachher noch treu zu dem Haupte der
Sekte stehende und von ihm vollig abhangige Ernst Graf Kanitz
(Basel 1862) herausgegeben. Weit fiber Deutschlands Grenzen hinaus
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Digitized by
152 • Hugo Daffner:
sind die Vorgange bekannt geworden durch Dixons ,,Spiritual
wives (London 1886)“, deutsch unter deni Titel ,,Seelenbraute“.
In neuester Zeit haben Stoll 5 ), Birnbaum 2 ), Kretschmer 3 ) von den
Vorgangen wissenschaftlieh Notiz genommen. Die drei Letztgenannten
fuBen in der Hauptsache auf der anonymen Schrift und auf Dixons
,,Seelenbrauten“, die beide allerdings keine ganz ungetriibte Quelle fiir
die Schilderung der wirkliehen Vorgange bieten. GewiB bringen sie
allerhand Tatsaehliehes; daneben ist freilieh unverkennbar, daB die Auf-
rollung pikanten Klatsches den Verfassern Hauptsache war, um damit
sich ein sensationsliisternes Publikum zu sichern. Immerhin stiitzen
sich die Auslassungen Dixons auf eine ansehnliche Grundlage, auf ein
sehr ausfiihrliches Schreiben des Konigsberger Universitatsprofessors
und Arztes Sachs, der dem Kreise urspriinglich angehort, sich spater
aber von ihm getrennt hatte. Sachs war in seiner Jugend einmal in eine
kleine Strafe genommen worden, weil er die Lustspiele Kotzebues wegen
ihrer inneren Unwahrhaftigkeit heruntergemacht hatte. Auch die langen
Ausfiihrungen Sachs’ iiber Tun und Treiben der Mucker, die Dixon
als Anhang abdruckt, zeichnen sich durch einen ganz ungewohnlichen
psychologischen Scharfblick, hervorragende Beobachtungsgabe und
klugesUrteil aus. Sachs trennte sich 1824 von dem Mucker-Kreis, so daB
wohl moglich ist, daB der vom 15. Juli 1836 datierte Brief von gelegent-
lichen Erinnerungstauschungen nicht ganz frei ist. Jedenfalls aber
finden die fiir den Psychiater wichtigen Mitteilungen in der spateren
Hauptverhandlung ihre Bestatigung.
Eine ernsthafte, wissenschaftlieh einwantlfreie Darstcllung der Vor¬
gange ist erst in den letzten Jahren moglich geworden, naehdem von
den Akten die Siegel gefallen waren, die sie laut Allerhochsten Befehls
gleich nach Beendigung des Prozesses bis in die neunziger Jahre des
vorigen Jahrhunderts verschlossen hielten. Nun konnte man daran
gehen, an hand der gerichtlichen Feststeliungen die Wahrheit vom
Klatsch, das Tatsachliche vom phantastischen Beiwerk zu sondern, und
der Offentlichkeit eine sachlic-he Schilderung des beriihmten und be-
riichtigten Prozesses vorlegen. Der Pfarrer Paul Konschel 4 ) hat auf
Grund des vollstandigen Aktenmaterials eine erste Darstellung des Pro¬
zesses gegeben, die, wenn auch von dem Bestreben geleitet, die Ver-
fehlungen der Amtsbriider in ein moglichst sanftes Licht zu riicken,
doch in fleiBiger Verarbeitung des gesamten Materials das Tatsachliche
und Wesentliche gibt, so daB man sich seinen Ausfiihrungen ohne Be-
’) Stoll: Suggestion und Hvpnotismus in der Volkerpsvchologie, II. Auflage
1904.
2 ) Birnbaum: Psychopathologische Dokumente. 1920.
3 ) Kretschmer: Medizinische Psychologie. 1922.
4 ) Konschel: Der KonigsbergerReligionsprozeB gegen Ebel und Diestel. 1909.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Zur Psychopathologie der Konigsberger Mucker.
153
<lc-nken anvertrauen kann. Fitr die nachfolgende, einem bestimmten
Zweck dienende Darstellung war es freilich notwendig, die Akten selber
gelegentlich zur Ergiinzung heranzuziehen. da der Kirchenhistorikcr
naturgemiiB iiber nianches hinwegliest, was fiir den Psychiater wesent-
lich ist 1 ).
Die Ideenwelt der Konigsberger Muckerkreises 2 ) ging aus von deni Theosophen
Johann Heinrich Schonherr, der 1770 in Memel als Sohn eines Unteroffiziers
geboren war. Schonherr hatte nie etwasRichtigesgelernt, Er riihinte sichgerade-
zu. nie ein Buch zu Ende gelesen zu haben. „Als Schuler, so erzahlt er selber,
forschte ich mehr als ich lemte. Schon beinahe zwei Jahre vor rneiner Entlassung
von der Schule zur Univereitat hubcn meine Zweifel an einer gottlichen Offen-
barung sich so zu mchren, daB ich selbst Griinde, sie zu vertcidigen, fand.“ Er laBt
sich in Konigsberg als Jurist immatrikulieren und gelangt im Herbst 1792 auf einer
Heise zu seinem ,,System' 1 . Er sclireibt dariiber selber: „Stoff der Korper. Wesen
des Geistes. Zusammenhang zwischcn beiden waren die ersten Wahrheiten, welche
ich der Untersuchung zugrunde icgen muBte . .. Nur einer hoheren gottlichen
Fiigung darf ich cs danken — denn wie viele mbgcn dassclbe und vergeblich ge-
sucht haben —, wcnn ich bci bfteren einsamen Gangen in die Natur im Sommer
des Jahres 1802 3 ), als ich, die Pflanzen betrachtend, meinen Gedanken nachging.
woraus sie doch werden mochten, durch die in rneiner Seele nachtonende Ant-
wort iiberrascht ward: Wasser ist’s . . . Die Pflanze hatte also ihren Zuwachs
bloB aus dem Wasser gezogen — was, fragte ich, nun ist dasEtwas. das das Wasser
in den zarten Keim der Pflanzen treibt . . . ? Da wandelte und lag ich dann nun
wieder oft einsam unter den Wohlgeriichen der Gewachse, diesen Gedanken nach-
hiingend . . . Der Geruch der mit Tau getrankten Pflanzen, eines Morgens mir
frischer denn sonst entgegenduftend, gab mir die erste MutmaBung. Ich fragte
namlich: Was treibt diesen Geruch aus den Pflanzen aus? Mein Blick erhob sich
zur Sonne: Die Antwort war: „Nur Warme, Feuer, Licht, Sonnenstrahl!“ Warme
entbindet sich aus dem Feuer oder Licht. Licht muB bildendes Prinzip in der
Sehopfung sein. Je mehr ich forschte, je mehr bestatigte es sich. Ein Stoff fiir die
Korper, ein Etwas ftir den Geist war gefunden.“ Das Jahr darauf kehrt Schonherr
von Rinteln, wo er seine Entdeckung gemaeht hatte, iiber Leipzig, wo er wegen
seines eigenartigen Auftretens als Geisteskranker interniert wird, nach Konigs-
l»erg zuriick. Hier lebt er bescheiden als Privatmann von den milden Gaben
seiner Freunde, eifrig fiir seine Lehre und deren Ausbreitung wirkend. Er hatte
stets einen oft groBeren, oft kleineren Kreis von Anhiingem um sich. Ein Stu¬
dent, der religiose Zweifel hatte, wird an Schonherr gewiesen und macht dariiber
folgende Aufzeichnungen: ,,Sein AuBeres frappierte mich; denn er geht mit einem
Barte und unverschorenem Haupthaar. welches er seiner Gesundheit wegen tut,
rla das Beschneiden der Haare ihm Pbelbefinden verursacht. Xoch mehr frap-
pierten mich seine Reden. welche mir ganz neu waren. Denn er sprach von Gott
*) Die Akten befinden sich im Staatsarchiv zu Konigsberg. Bei ihrer Ent-
siegelung fehlten bereits sehr wesentliche Stiicke. wie die Urteile der beiden Instan-
zen. die zweite Verteidigungsschrift; auch aus den sehr umfangreichen Zeugenaus-
sagen sind mitunter namhafte Teile entfernt.
2 ) Mucker, vom germanischem muk (heimlich tun), bedeutet ungefahr heim-
tiickische Frommler; zuerst fiir die Anhanger des .Jenenser Theologen Buddeus
(1663—1729), dann vor allem fiir die Anhanger der hier behandelten Sekte
gebraucht.
3 ) Diese Jahreszahl ist irrtumlich.
Archiv fiir Psychiatrie. Bd. 67. II
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
154
Hugo Daffner:
Digitized by
in tier Art, daB das Licht Gott sei, alle Eigenschaften, welche wir Gott beilegten,
dem Lichte beizulegen seien . . . Ich bat um die Erlaubnis, an den Sonntagszu-
sammenkiinften teilnehmen zu konnen . . . Wir bilden keine formelle Gesellsehaft,
es gibt keine forinliche Rezeption noch besondere Kleidung noch dergleichen.
Auch geben wir keine bestimmten Beitriige. Wer etwas iibrig hat, gibt es, doch
weiBich nicht, ob an Schonherr, oder an andere. Schonherr hat iibrigens von auBen
her Unterstutzungen. Ich weiB aber nicht von wem. Wir stehen freundschaftlich
zusammen und duzen uns, insofern wir uns genau kennen, welches auch zwischen
Mannspersonen und Frauenzimmern geschieht .. . Ebenso nennen wir uns zu-
weilen auch beim Vornamen .. . tlbrigens muB ich noch bemerken, daB in den
Zusammenkiinften fur den, welcher hungrig ist. Milch und Semmel zu haben
sind . . . Von auswartigen, welche Schonherrs Lehre angenommen haben, sind mir
nur der Pfarrer Ebel in Herrasdorf nebst dessen Mutter und Geschwister ... be-
kannt.“ Nach anderen Berichten bei den Akten kamen an den Sonn- und Feier-
tagsbesuchen bei Schonherr auch die Frauen und Braute der zum Schonherrschen
Kreise gehorenden Manner. „Hin und wieder koramt auch wohl noch eine fremde
Dame aus Neugierde mit. So z. B. erechien die Tochter des verstorbenen Erz-
bischofs von Borowski einnial in Mannskleidern in der Gesellsehaft. “ Schonherrs
Anhang wuchs nach jeder Richtung hin. Ein bis auf die Brust reichender Bart,
lang hinunterwallendes Haar scheinen seiner hohen, imponierenden Gestalt etwas
Auffallendes gegeben zu haben. Mit dem Wachsen seines Einflusses stieg natiir-
lich das SelbstbewuBtsein Schbnherrs mit unabweislicher Not wend igkeit. Einer
seiner Anhanger schreibt: „Ich habe ihn iiber die Ansicht, welche er von Beiner
speziellen Bestimmung hatte, niemals befragt; nur konnte ich aus einzelnen seiner
Andeutungen folgem, daB er sich fiir den Paraklet 1 ) hielt.“ Allmahlich erhielt
Schonherr in seinem Kreise unbedingte Autoritat, und seine „Entdeckung“ wuchs
sich nach und nach zu einem System aus, in dem der Hoffnung auf die Geburt eines
neuen Messias eine bedeutsame Stelle eingeraumt wurde. Ein Zeuge im ProzeB
auBertc sich, Schonherr war der Meinung, „daB ein solches Wesen, wie es die Offen-
barung annimmt, nur durch Vermittlung eines Mannes von einem Weibe, das in
Erkenntnis der Wahrheit, unter welcher er sein System verstand, bei volliger
Korperreinheit geboren werden konne; zu einem solchen Weibe gehore die hochste
Ausbildung in der Erkenntnis der Wahrheit und die hochste jungfrauliche Un-
schuld und Reinheit. Er halt sich fiir denjenigen, der als Mann, und die Marianne
Schm. als diejenige, die als Jungfrau sich dazu ausbilden wiirden und konnten."
Von anderer Seite wird aus dieser Zeit berichtet: „In der Kirche in Schonwalde.
vor dem Altar in der einsamen Kirche, bedrohte er einst den Geistlichen, der Frei-
inaurer war, falls er nicht hinginge zu seinen Briidem und ihnen gebdte, die Logen
zu offnen und ihre Geheimnisse der Welt kundzutun, mit den gottlichen Strafge-
richten. 1 ' Bereits 1806 fiel den Konigsberger Behbrden das Konventikelhalten
Schonherrs, das sogar Unfrieden in mehrere Familien gebracht hatte, unangenehm
auf. Schonherr erhalt eine Warnung, und seinen Anhangem wird untersagt, zu
predigen oder Religionsunterricht zu geben. Gleichwohl wird der Unfehlbarkeits-
dunkel Schonherrs immer groBer. Einen Widerspruch oder eine abweichende
Ansicht vertragt er nicht mehr. Schnell beruft sich Schonherr in solchen Fallen
auf den Heiligen Geist und erklart, der andere spreche „in unrichtigem Geiste ’.
Auf diese Weise kommt es allmahlich zu Konflikten in dem Schonherrschen Kreise:
namentlich bei Besprechung eines neuen Vollendungsmittels, das allem Zwist ein
Ende maehen sollte. Beide Geschlechter sollten, unbekleidet bis aufs Hemd, ihren
Leib gegenseitig an der Stelle der Hiiften (nach der Auslegung in Psalm 84, 2—4)
1 ) D. i. der Heilige Geist.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Zur Psychopathologie der Konigsberger Mucker.
155
init Ruten streichen bis zu brennecdem Schmerze (1. Kor. 13, 3) und bis zu Blut-
vergieBen (nach der Deutung von Hebraer 12, 4) geiBeln. Schonherr nannte das
ein Opfer, lebendig, heilig und Gott wohlgefiillig, da bei jedem Opfer Blut zu flieBen
und dasselbe verbrannt zu werden pflegte. Aber die Zwistigkeiten lieBen sich
air# aofehem Wege nicht beheben. Schbnherr halt sich nach wie vor fiir unantast-
bar, und Ebef stdlt fiir den weiteren Verkehr folgende 9ehr bezeichnenden For-
derungen: 1. Keiner darf den anderen iiberschreien. 2. Keiner den andem Liigner
schelten. 3. Jeder muB Zurechtweisung annehmen und Unrecht eingestehen.
4. Wenn jeiuand behauptet, im richtigen Geiste zu stehen, so muB man ihm das
zugestehen. Der Bruch war gleichwohl unausbleiblich. Schonherr vereinsamte dar-
aufhin immermehr. Einer seiner letzten Anhanger erz&hlt noch von ihm: „Ichderke
hier an den sonderbaren, ihn seiner wahren Bestimrnung zum Teil entfremden-
den, durch fehlgeschlagene Plane herbeigefiihrten Bau der Schiffsmiihle und des
Schwans, von welchen ich erst Kunde erhielt durch die vor Schonherrs Hause
liegenden Eichen, die er in groBer Eile hatte auffahren lassen. Ich auBerte auf
der Stelle mein sehr groBes Bedenken gegen ein solches Unternehmen, wurde aber
an die Zukunft gewiesen. Wie oft habe ich ihn gebeten, seine angebliche Erfin-
dung, namlich die Kraft der Dampfe durch einen Mechanismus zu ersetzen, die
mir auch damals gleich sehr problematisch vorkam, im Modell erst zu versuchen.
Endlich mr^chte er zwar einen Anfang damit, aber bald wurde das kaum begonnene
Modell beiseite geschoben und ohne weiteres erklart: ein solches Verfahren sei
wider den Glauben. Er iniisse mit seinem Bauunternehmen gleich im groBen vor-
gehen. Nachdem endlich die ganze Unternehmung iniBgliickt war, wurde die
Schuld natiirlich nicht vom Baumeister im Baumeister gesucht und gefunden.
sondem nur in kleinlichen. nichtigen Nobendingen; ja, diejenigen. welche das
Unternehmen von Beginn an mit groBer Besorgnis erfullt, sollten nun die Ursache
des MiBIingens sein . . . Selbst da konnte er sich nicht dazu entschlieBen, als Griinde
und Tatsachen mit einer alldurchdringenden Klarheit, wie die Sonne am Himmel,
gegen ihn zeugten.“ Ganz verlassen ist Schonherr dann in Spittelhof bei Juditten
1826 gestorben.
Bereits in dieser kurzen Skizzierung von Schonherrs Leben ist uns der Name
Ebel wiederholt aufgestoBen. Ebel war als Enkel eines wegen religibser Irrlehre
vom Amte entfemten Pastors, als Sohn eines Pfarrers, 1784 in Passenheim geboren.
studierte trotz der vaterlichen Abmahnung wegen seiner allzu angstlichen Ge-
wissenhaftigkeit Theologie, scheint sich aber, wie Schonherr, ebenfalls keine sehr
griindlichen Kenntnisse angeeignet zu haben, konnte weder Griechisch noch He-
braisch. In Konigsberg kntipfen sich die Beziehungen zu Schonherr. Ebel auBert
sich dariiber selber: „Es war im achtzehnten Jahr meines Lebens, als ein Freund
meines elterlichen Hauses einst erzahlte, er habe einen Mann kennen gelemt,
dem es moglich geworden, die Ausspriiche der Bibel und ihren ganzen Inhalt
wortlich mit Vemunftsbeweisen iiberzeugend in Einklang zu bringen und untiber-
windlich gegen die Spotter zu verteidigen. Wie ein Licht vom Himmel herab
leuchtete diese Botschaft mit unaussprechlicher Wonne in mein Herz, und eine
namenlose Freude bemachtigte sich meines ganzen Wesens. Alle Fragen meines
Innem schienen mir gelost, alle Dunkelheit schien hiermit verscheucht, und ich
hatte in diesem Augenblick das Vorgefiihl der Erfiillung meiner tiefsten Sehnsucht.
Von Kindheit auf in heiliger Ehrfucht gegen das Bibelbuch erwachsen. muBten
namlich die Zweifel und Widerspruche dagegen, die damals sehr laut von Lehrern
und Mitschulem in mein Ohr drangen, mein Herz hart beunruhigen und in banger
Verlegenheit beklommen halten, wenn ich, denselben zu widerstehen versuchend.
oft mit bitteren Tranen nach vergeblichem Kampfe mit den Gegenern in den Winkel
meiner Dachkammer geschlichen war, mich vor Gott auszuklagen, weil ich das Wort
11 *
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Hugo Daffner:
Digitized by
156
gottlicher Predigt nicht vor Verunglimpfung hatte retten, noch die Ausspriiehe des-
selben gegeniiber den Ausstellungen der Verniinftler rechtfertigen konnen.“ Bei
Gelegenheit des Einschreitens der Bchorden gegen Schonherr urteilt ein vorgc-
setzter Superintendent iiber Ebel: ,.Bei seinem Streben nach Kenntnissen. bei
seiner Gewissenhaftigkeit ist seine Einbildungskraft iiuBerst lebhaft und feurig.
fiir welche er auch Nahrung sucht, wozu die Materialien desto mehr gefallen, je
weniger sie den Gesetzen der Vernunft entsprechen. Mit dieser feurigen Einbil¬
dungskraft geriet er vor einigen Jahren an Schonherr, mit welchem er regellos nicht
nur in dem Gebiete des Moglichen, sondern der Unvernunft. wohin er ohne zu
merken gefiihrt wurde, herumschwarmt.“
Ebel war inzwischen Pfarrer in Hermsdorf geworden. fand aber bald wieder
eine Stelle in Konigsberg und iibte dank seiner gewinnenden Umgangsformen und
Personlichkeit eine ungewohnlich starke Anziehungskraft, namcntlich auf das
weibliche Geschleeht, aus. Bald hatte sich eine Art Leibgarde urn Ebel gebildet.
Die Kirchenbehorde sah den immer groller werdenden EinfluB der „unverstandigen
mvstischen Ideen" mit Besorgnis und fordcrte 1812 von Ebel eine Erklarung iiber
seine Religions void rage ein. Ebel antwortetc erst nach zwei Jahren und mehr-
facher Mahnung. Der Antrag der Behorde beim Ministerium. Ebel in eine ent-
fernte Provinz zu versetzen, wird, allerdings nachKanitz’Mitteilung 1 ) auf Schleier-
machers Referat, abgelehnt. Dadurch gewann Ebels Stellung nach jeder Richtung
hin. Die von ihm ausgehcnde Bewegung griff immer weiter um sich. Merkwiirdiger-
weise nicht unter die Kreise des Ressentiments, sondern unter die durch die Ge-
burt, Reichtum und Stellung ausgezeichncten Familien. Graf Kanitz wurde von
nun an einer der treuesten Anhanger Ebels bis an sein Lebensende und von
ihm bis zur Horigkcit abhangig. Eine andere Personlichkeit, die durch ungeziigel-
ten Fanatismus, beschrankte Urteilslosigkeit, einseitige Ungerechtigkeit dasSelbst-
bewuBtsein Ebels auBerordentlich starkte. war die Grafin Ida von Groeben. die
ebenfalls Ebel bis zu seinem Lebensende treu zur Seite stand.
Der Zwist und die Trennimg in dem Schonherrschen Konventikel konnten fiir
Ebel nur von Vorteil sein. Er hatte sich allmahlich zum iiberragenden Mittelpunkt
einer eigenen Gemeinde aufgeschwungen. Peraonen, so sagt er selber, teils durch
friihere, teils durch spatere Verhaltnisse und Umstande nahegcstellt. schlossen
sich einander freundschaftlich an. Der Sinn fiir Veredelung hatte sie zueinander
gefiihrt, ,,das Trachten nach dem Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit uns
geistlich verbunden“. Unter den Geistlichen der Stadt fand Ebel nur in dem
Prediger der Haberbcrger Kirchc, Heinrich Diestel. einen Anhanger. der es
aber in dem Kreise zukeiner tonangebendcn Stellung brachte. Bei den regelmiiBigen
Zusammenkiinften unterhielt man sich hauptsfichlich iiber religiose Dinge. Der
oder jener wurde ,,zu christlichem Leben erwcckt"; geheimnisvolle Andeutungen
von dem Besitz einer noch hciheren besonderen AVcisheit fehlten in Ebels Reden
nicht. In dem Kreise bildete sich allmahlich ein richtiges Unterordnungssystem
heraus. Jeder Xeuling wurde an ein iilteres Mitglied gewiesen. dem er auch die
geheimsten Fallen seines Herzens offnen sollte. JedeSiinde sollte zum Bekenntnis
gebracht werden. Daraus entwickelte sich ganz von selbst eine ausgesprochene
Machtstellung des Ubergeordneten. Fanny Lewald schildert in ihrer Selbst-
biographie 2 ) ihren Religionslehrer Elx-1: „Er war ein ziemlich groBer, schlanker
Mann mit einem sehr edlen, ernsten Gesicht. Seine groBen, dunklen Augen, seine
bleiche Far be und sein gliinzendes schwarzes Haar, das er gescheitelt und langer
als sonst iiblich trug, gaben ihm einen besonderen Ausdruck. Er hatte feine Hande.
*) Die Akten dariiber sind nicht zu ermitteln.
2 ) Meine Lebensgeschichte. 1871.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Zur Psychopat hologie der Konigsberger Mucker.
157
und wenn er diesc gcfaltet hatte und seine Augen zum Gebet erhob, sah er wirk-
lich wie ein Apostel aus. Seine Stimme war ergreifend, sein Vortrag von groBer
Kraft!“ Ein Arzt hat spater beim ProzeB bei Ebel nervbse Hvpochondrie und
Hamorrhoidalleiden festgestellt.
Auch die Anhanger Ebels zeichnet die Lew aid in ihrer plastischen. lebcns-
vollen Art: „Jedermann kannte Ebel und kannte Diestel, der rauh und riistig aus-
sah, w'ie ein verkleideter Husarenftihrer, und jedermann konnte einen Mucker
oder eine Muckerin auf den ersten Blick von jedem anderen Manne oder jeder
anderen Frau unterscheiden. Es waren nicht bloB die langstreckigen. altmodischen
Rocke und Fracks und die schmalen, weiBen, kandidatenhaften Halstiicher der
Manner, es war auch nicht das gescheitelte Haar und die geflissentliche Unschein-
barkeit in der Kleidung der Frauen, es war eine ganz besondere, alien gemeinsatne
Physiognomic und Haltung, welches sie kennzeichnete. Ihr Blick schien die Dinge
dieser Welt, wenn diese ihnen nicht angehorten, gar nicht zu sehen; sie konnten sich
in der Masse bewegen, als ware diese nicht vorhanden: sie konnten in einer nicht
zu ihnen gehorenden Gesellschaft dasitzen. als horten sie nicht oder als vemahmen
sie Himmelsstimmen, die fiir andere Ohren nicht vorhanden waren. Traf man
eine solche Personlichkeit in einer fremden Umgebung. so wurde der Eindruck der-
selben leicht komisch.“
Je enger sich der Kreis um Ebel zusammen- und gegen die Au Ben welt hoch-
miitig abschloB, desto mehr wuchs einerseits die Yergot toning Ebels von seinen
Anhangern, andererseits die Abneigung der iibrigen Geistlichen Konigsbergs und
der HaB der Bevolkerung gegen ihn. Wie schon bei Schonherr blieben jetzt noch
weniger tiefgreifende Familienzwiste aus. Allmahlich kam es auch in der Ebel-
schen Sekte zu Verstimmungen und Streitigkeiten. Wiederum wird das Ministe-
rium auf die Treibereien aufmerksam und laBt ein Schreiben an das Konigsberger
Konsistorium ergehen, in dcm von dent „Wahn eines unmittelbaren Verhaltnisses
zu Gott oder einer bevorzugten Erwahlung, cben damit aber sowohl von Unduld-
samkeit, lieblosem Urteil und Splitterriehten, als geistliehcm Dilnkel. Stolz und
Selbstgenugsamkeit sowie von separatistischen Abirrungen” ausdriicklich die
Rede ist. Zahlreichc Abschwenkungen hatte daraufhin der Kreis um Ebel zu
verzeichnen. U. a. scheidet der Gesandtschaftsprediger v. Tippelskirch aus, der
sich dariiber spater iiuBert: ..Ebel wuBte mit dent bestiindigen Ankniipfen an
seine Person die volligste Isolierung jedes einzelnen in seinem Verhaltnis zu den
anderen Mitgliedern zu finden . . . Das Gewissen wurde auf eine furchtbare Weise
geangstigt und gefoltert, indem gerade die Handlungen, zu welchen man sich
durch dasselbe verpflichtet glaubte, von denen, in welchen man Gottes Stimme
zu erkennen und zu ehren sich hatte gewohnen iniissen. als verbrecherisch dar-
gestellt wurden ... Es ging tins mit iimner groBerer Klarheit iiber das verkehrte
hierarchische Streben Ebels, tiber seine falsehen Heiligungstheorien durch ge-
schlechtliche Reinigung ein immer helleres Licht auf.“ Es bildeten sich nunmehr
neben dent Ebelschen zwei kleinere Konventikel, in denen es aber auch bald zu
Reibereien zwischen den einzelnen Mitgliedern kam. Diese Streitigkeiten wurden
auf literarisehem Gebietc fortgesetzt. Schriften und Gegenschriften folgten sich
in lebhaftcm W'echsel. Auch Ebel griff zur Feder und verfaBte eine Schrift ..Die
apostolische Predigt ist zeitgemaB“*)- Eine Stichprobe daraus: „Seitdein ist es
anders geworden. Gott hat vom Himmcl geredct mit Zeichen und Wundern.
die Menschheit hat seinen Arm empfunden. das Rauschen seiner FuBtritte gemerkt:
mochte sie auch aufmerksam auf seine Stimme sein und aufsehauen nach sein«‘m
Herzen . . . Noch ist es so weit nicht — leider! . . ." Der literarische Streit kommt
*) Hamburg 1835.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
158
Hugo Daffner:
Digitized by
mit dem Fortzug eines der Hauptkampfer zur Ruhe. Gleichwohl aber verecharft
sich die Stimmung zwischen den einzelnen Mitgliedern des Ebelschen Konventikels
zusehends. Bezeichnend hierfiir sind Stellen aus einem Schreiben des Grafen F.,
wo es u. a. heiBt: „Der alte bose Feind verleitete mit seiner alten Schlangenlist
am Ende des vergangenen Jahrhunderts einen hochbegabten Mann, J. Schonherr,
die ewigcn Wahrheiten des Glaubens in der Heiligen Schrift auf die auBere, zu
schwache und zerbrechliche Stiitze des mathematisch-menschlichen Verstandes
stiitzen zu wollen. Er kam deshalb auf die Einbildung, daB der ewige Gott eine
im groBen leeren Raum herumschwebende Feuerkugel gewesen ware, die im Laufe
der Zeiten eine ahnliche Wasserkugel gefunden hatte, in die sie hineingefahren
sei und nun sei aus der Mischung ihrer beiden Krafte die Welt geschaffen . . . Mit
dieser Einbildung beineisterte sich Schonherrs, auch seiner Schuler, zu deren vor-
ziiglichsten Ebel gehorte, zugleich der hochmiitige Wahn, daB, weil sie eine solche
Erkenntnis der Wahrheit, einen Schlussel, der in alle Wahrheit leitet, aufgefunden
hatten, sie vor alien Menschen begnadet waren, an der Spitze der Menschheit
standen, Trager des Lichtes waren, durch welche erst die iibrigen Menschen Licht
erhieltcn . . . Aus der Schonherrschen Erkenntnis wurde ferner abgeleitet, daB
die eigentliche Aufgabe fiir uns Christen hier ein Reich Gottes in irdischen Woll-
liisten herbeizufiihren und dies nur dadurch geschehen konne, daB wir dem zweiten
Urwesen zum BcwuBtsein und dadurch zu williger Unterwerfung unter das erste
I’rwesen oder Gott verhclfen. Dies geschehe nun besonders durch sogenannte
Reinigung des Verhiiltnisses der Geschlechter zueinander.“ In dem Brief ist weiter-
hin u. a. von den intimen Beziehungen Ebels zu drei Frauen seines Kreises die
Rede. Diestel erhalt Einblick in das Schreiben und antwortete in einem Brief
voller Beleidigungen, worauf der Graf Klage stellt. In dem Vcrfahren verw'eigert
u. a. Ebel die Aussage, weil es nicht rechtmaBig gegen ihn eroffnet sei. So kam
es, daB die Behorde, in diesem Fall das Konsistorium, gegen Ebel und Diestel.
der sich mit ihm identifizierte, das gerichtliche Verfahren einleitete. Wie schon
erwahnt, war die Stimmung fiir die beiden Angeklagten in der Stadt nicht sehr
giinstig. Man munkelte allerhand von groben, geschlechtlichen Ausschreitungen
innerhalb des Konventikels; ja, es war so weit gekommen, daB Polizisten in die
Kirche geschickt werden muBten, um Storungen beim Gottesdienste Diestels
hintanzuhalten. Jedenfalls war nun die breiteste Offentlichkeit auf das Treiben
des Ebelschen Kreises aufmerksam geworden. Die Presse griff die ganze Sache
auf. In Zeitungen. Zeitschriften, Broschiiren, Abhandlungen bemachtigte man
sich vor allem der pikanten Seite des Stoffes. Es war zu einem Skandal ersten
Ranges gekommen. Die Aussagen in dem nun folgenden, mit aller Ausfiihrlich-
keit verhandelten ProzeB bringen nicht viel, was wesentlich neu ware, erganzen
in der Hauptsache die bisherigen Mitteilungen.
So sagte der schon erwahnte Tippelskirch weiterhin aus: „Erst um die Pfingst-
zeit des Jahres 1822 war es Ebel . . . gelungen, Pcrsonen derart zu begeistern,
daB sie sich selbst und untereinander fiir E? week to, und zwar durch die Vermitt-
lung Ebels Erweckte, ansahen und sich eines entschiedenen Gegensatzes mit ihrer
bisherigen Art zu sein und zu denken, mit der iibrigen Menschheit bewuBt wur-
den . . . Ich erinnere mich an Personen, die sich an Ebel ansehlossen . .. den sie
als das Mittel ansahen, wodurch Gott ihre Seele zu sich zog . . .
DaB Ebel sich jemals Haupt einer Sekte genannt, ist mir vollig unbekannt . ..
dagegen hatte er schon nach dem Schonherrschen System die Hauptstellung im
Kreise, sail sich faktisch als Reprasentant des Licht-Urwesens, als Quellpunkt
des gottlichen Geistes fiir den Kreis und durch ihn fiir die Menschheit an. Noch
niehr aber wurde diese theoretische Ansicht praktisch geltend gcmacht, indem das
System unbedingter Unterordnung aller Glieder des Kreises unter Ebel ihn deni
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Zur Psychopathologie der Konigsberger Mucker.
159
Wesen nach aufs klarste als das Haupt des ganzen Verbandes, als den bewuBtcn
linker dieser Maschine . .. erkennen laBt . .. Dagegen habe ich ahnliche Aus-
driicke als ,Zentralpunkt des Lichts 1 , Ebel bezeichnend, ofter gehort . . . Was die
Adoration betrifft, so ist mir . . . nichts bekannt . . . wohl aber wurden ihm sehr
haufig von alien Gliedem des Kreises die Hande gekiiBt; und iiberhaupt mochte
ieh die Art und Weise der Verehrung, die man ihm bezeugte, dem Geiste nach.
entschieden als eine abgottische bezeichnen.“ Auf Einwande bezuglich des Auf-
gebens der eigenen Meinung erwiderte Ebel: „Wenn du noch nicht davon iiberzeugt
bist. daB dir aus mir reines und unvermischtes gottliches Licht entgegentritt,
so ist mit dir freilich weiter nicht zu reden. “ DaB aus diesen wie aus vielen ahn-
lichen AuBerungen von ihm selbst und noch mehr von seinen nachsten Freunden
die Annahme der Unfehlbarkeit konsequenterweise hervorgeht, leuchtet ein . . .
Ebensowenig hat sich jemals Ebel schlechthin Heiligen Geist genannt, obwohl
die Ansicht, daB Schonherr eine Personifikation des Heiligen Geistes und in ihm
der verheiBene Paraklet erschienen sei und nachdem dieser durch Untreue aus
.seiner Berufung entfallen, Ebel an seine Stelle getreten sei, dem Kreise nicht fremd
war ... DaB Ebel von seiner geistigen Wirkung nicht nur auf freie bewuBte Wesen.
.sondern auch auf die bewuBtlose Xatur vieles abhangig machte, habe ich ofter teils
von ihm, teils im Kreise gehort .. .
Davon, daB Ebel die Bewegung in der politischen Welt mit den Ereignissen
des Kreises in genaue Verbindung setzte, sind mir mehrere Beispiele bekannt.
Ieh erinnere mich, daB dies namentlich mit der griechischen und spanischen Re¬
volution und mit dem Tode des Kaisers Alexander der Fall war . . . DaB Ebel sich
der apokalypti8chen Zeitrechnung Bengels, welche das Jahr 1836 als Anfangsjahr
des tausendjahrigen Reiches Christi auf Erden festgestellt, angeschlossen habe
und daB er dieses Jahr fur den spatesten Termin der Wiederkunft Christi gehalten
habe, ist mir bekannt. Jedoch wurde es seinem ungeduldigen Geiste oft schon zu
lange, die Erfiillung seiner Hoffnungen so weit hinauszuschieben, und durch aller-
lei Kombinationen wuiBte er es anschaulich zu machen, wie die Freiheit des Menschen
auch diese Wartezeit abkiirzen und den Anbruch des Reiches Gottes zu beschleu-
nigen vermoge ... Er erwartete allerdings noch groBe Begebenheiten als Vorbe-
reitungen fiir diese Zeit, wie z. B. die . . . Offenbarung des Antichrists ... So er¬
innere ich mich, daB er glaubte, daB die Tiirken noch einmal ganz Deutschland
iiberechwemmen werden. Alle diese Vorstellungen standen ziemlich lose, er muBte
sie immer wieder nach dem gegen wart igen Stand der Dinge modifizieren.
Eine AusgieBung des Heiligen Geistes in reichem und vollem MaBe wurde
allerdings durch Ebel und den bewuBteren Gliedem des Kreises erwartet; und es
lag ganz im Kreise von Ebels Bestrebungen, uns dafiir gehorig vorzubereiten . . .
In ihrer urwesentlichen Stellung gehorte Minna von D. sowie ihr Gatte und
ihre beiden Freundinnen zu Zentralnaturen des Finstemis-Urwesens, wenn ich
es recht verstanden habe . . . Von dem mit Kanitz, wie man meinte. in geschlecht-
licher Reinheit erzeugten Kinde versprach man sich viel fiir das Reich Gottes.
Leider gab man diese Ideen nicht auf, sondern wuBte sie nur nach den Umstanden
zu modifizieren, als der Herr ein ernstes Wort dreinredete und wenigc Wochen
hintereinander Mutter und Kind nahm . . .
Wo aber jemand oft nur einen leisen und bescheidenen Tadel. besonders gegen
Ebel aussprach, wurde er alsba'd als ,drauBenstehend‘, ,dem Reiche Gottes wider-
strebend’ bezeichnet . . . Am hiirtesten war das Urteil iiber diejenigen. welche zum
Kreise gehorten und sich von demselben lossagten. Sie wurden ausdrucklich als
Abgefallene bezeichnet, und man wandte oft harte MaBregeln gegen dieselben an . . .
Ein Mitglied, die Grafin, meinte einmal nach eincr Versammlung: ,Sie korme
den Gedanken nicht loswerden, sie sei der Antichrist, der kommen solle! 1
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Digitized by
160 Hugo Daffner:
Auf die Frage, ob die Luge als erlaubt gelehrt . . . worden. erwidere ich, daB
ich mir bewuBt bin, haufig Eindriicke mehr oder minder direkter Unwahrheit
in Ebels Betragen und AuBerungen gehabt zu haben.' 4
Ein weiterer Zeuge, der Universitatsrichter von Derschau sagte aus: ..Ich
erkannte, dali in dem Kreise ein Geisteszwang stattfand, acharfer, wie er im Papst-
tum geherrscht hat. Man durfte nach meiner Auffassung keine Gedanken hegen,
geschweige denn etwas tun oder lassen. ohne dies seinem nachstgestellten Freund©
mitzuteilen, es horte in dem Kreise jede Selbstandigkeit auf.“ —
Die Anschuldigungen auf sexuellem Gebiet bedeuten einen Abschnitt fiir
sieh. Es ist festgestellt, dali Ebel eine Betatigung der geschleehtlichen Lust und
deren Regelung unter der Herrschaft des BewuBtseins anstrebte. Den Eheleuten
hat Ebel eine Stufenleiter im ehelichen Umgang empfohlen. Sie sollten sieh all-
mahlich nahern. erst Anblick. dann Betastung usw. und dabei in jedem Augenblick
sieh priifen, ob das BcwuBtsein auch Herr liber die tierisehen Triebe sei . . .
,,Denen. die naeh Heiligung traehten, wurde angeraten. zuerst viel Enthaltsam-
keit mit Fasten zu iil)en. alsdann sieh nach und nach mit Selbstbeherrschung an
den Anblick nackter Korperteile zu gewohnen . . Ebel gibt selber zu, das Be-
schauen einzelner Teile des enthiillten Korpers habe er fiir ein Mittel gehalten. den
Sinnenrausch zu d&mpfen. Weiterhin ergibt sieh aus denAkten, daB weitschweifige
Erorterungen sexueller Angelegenheitcn in diesem Kreise zur Tagesordnung ge-
horten. ..Marie C., so erzahlte Ebel nach der Aussage eines Zeugen. sei in einen
verwirrten, wahnsinnahnlichen Zustand geraten. weil Ebel ihr einen Anblick
gestattet hatte, um sie zum vollen BewuBtscin der Unschuld und Reinheit zu
fiihren ... So viel muB ich versichern, daB ich den Sinn seiner Rede ohne minde-
sten Zweifel an ihrer Verstandlichkeit so auffaBte, daB er ihr seine Geschleehts-
teile gezeigt habe. Sie habe, so fuhr Ebel fort, in diesem verwirrten Zustand
Dinge ausgesagt. aus denen sieh ergeben habe, daB sie mit H. Unzucht getrieben
und auch mit mehreren von uns in einem unreinen Verhaltnis gestanden habe.“
Ein dreizehnjahriges Made hen sagte weiterhin aus: „Ganz auBerordentlich
widerlich war es mir und meiner elfjahrigen Schwester Marie, daB damals von der-
selben verlangt wurde. sie soil sieh in Gegenwart des Lehrers Ebel (des jiingeren
Bruders des Angeklagten) des Abends entkleiden und schlafen gehen." —
Das Gutachten des Magdeburger Konsistoriums liber Ebels Religionslehren
wollte der Untersuchungsrichter mit Ebel eingehend durchsprechen. Ebel er-
kliirte aber. eine inquisitorische Vemehmung abzulehnen und schlieBt mit den
Worten: ..So lange ein Gott im Himmel lebt, so lange zivilisierte und preuBische
Rechtspflege waltet, so lange die Augen Friedrich Wilhelms III. offenstehen, wird
es als eine Gewalttat erseheinen, liber philosophische Privatiiberzeugung inquiriert
zu werden. Bei aller Hochaehtung vor dem Inquirenten mtisse er ihn doch durchaus
fiir unfiihig halten. liber wisscnschaftlich theologische Gegenstande zu verhandeln. "
Auch das Konigsberger Gericht war von dem Angeklagten als befangen abgelehnt
worden, weshalb auf Befehl des Konigs ein Kriminalsenat des Berliner Kaminer-
gerichtes das Urteil, das bei den Akten fehlt, sprach. Es verkiindet, nach einer
Abschrift, daB beide angeschuldigte Geistliche wegen vorsatzlieher Pflichtverletzung
ihrer Amter zu entsetzen und zu alien offentlichen Amtern fiir unfahig zu erkliiren
sind.unddaBauBerdem Diak. Ebel wegen Sektenstiftung in eine offentliche Anstalt zu
bringen und nicht eher aus derselben zu entlassen sei, bis man von seiner Besserung
iiberzeugt sein konnte. Der intimste Anhiinger Ebels. Graf Kanitz. schreibt dazu:
„Der Ausfall der Erkenntnis erster Tnstanz hatte von neuern die historische Er-
fahrung bestfitigt, daB bei Christenverfolgungen von irdischen Autoritaten Gerech-
tigkeit selten geiibt zu werden pflegt. Obgleich Ebel unter diesen Umstanden
lieber in die Hand des Herrn fallen, als sieh noeh einmal in die Hiinde der Menschen
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Zur Psychopathologie der Konigsberger Mucker.
161
begeben wollte, so durfte er docli eben, weil es nicht seine, sondern Gottes Sache
war, die er vertrat, die in den Verhaltnissen liegenden Mittel, der YVahrheit wo-
moglich zum Durehbruch zu verhelfen, nicht unbenutzt lassen. DemgemaB wurde,
da Diestel seine Ansicht tcilte, das Rechtsmittel der weiteren Verteidigung ange-
wendet . .
Aber auch die zweite Instanz. der Oberappellationsscnat des Kammergerichts,
verurteilte die beiden Angeschuldigten zu Amtsentsetzung. DaB damit die Sache
nicht aus der Welt geschafft war, zeigten die eingangs erwahnten Schriften, die
sich, da die Akten sogleich versiegelt wurden, in ihrer Darstellung der einzclnen
Vorgange vielfach an boswilligen Klatsch anlehntcn.
Ebel ging nach seiner Verurteilung nach Ludwigsburg, begleitet von seinen
Getreuesten, der Griifin Ida von Groeben. der Marie C., dcnen sich dann spater
noch der Graf Kanitz zugesellte, so daB sich auch dort wieder ein kleiner Kreis
um Ebel scharte. Hier starb cr 1861, nachdem er noch cin paar Schriften verfaBt
hatte, die ein paar willkiirlich herausgcgriffcne Stichproben kurz charkterisieren
mogen:
„Wenn daher ,der Mensch Josua' nach dem Geiste der Weissagung ,der Sonne
stille zu stehen befahl', so hat er weder gelogen, noch mit Phantasie gegaukelt.
sondern die Wahrheit bezeuget: daB die Sonne von der Stimme eines Mannes in
ihrem Laufe aufgehalten. vorher nicht stille gestanden 1 ). — Stellt es sich nun
biblisch deutlich genug heraus, daB die Gestirnwelt als die hohere Geisterwelt an-
zusehen ist. wie denn Sterne in der Schrift fur selbstandige Wescn gelten (Dan. 4.
.‘12, Hiob25,5), und werdcnHiob 15,15, nach dem Parallelismus 38, 7,Engel Gottes
und Morgensterne als gleich betrachtet; so sind die vermeintlich wiasenschaftLichen
Annahmen vor dem Urteil wahrer Verchrer der Heiligen Schrift und vor den Ver-
ehrern wahrer Wissenschaft unhalt bar und gerichtet 2 ). — Indem die Eindriicke
und Wirkungen der unsichtbarcn Welt uns von AuBen — durch die sinnliche An-
schauung — mittelst reflektierender Urteile des Verstandes (des geistigcn
Auges) oder von Innen durch Erfahrung mittels der Vernunft (des geistigen
Ohres) zum BewuBtsein gefiihrt werden und wir die Verhaltnisse des Ubersinnlichen
teils aus dem Zeugnis einer inneren Stimme (1. .Toh. 5, 6) vernehmen, teils aus
den VVerken ersehen (Rom. 1, 19—20): ist es dasselbe Licht einer hoheren Welt-
ordnung, welches durch den Glauben unser Auge erhellet und als Wort unsercm
inneren Ohre zuspricht 3 )."
Schon dieser kurze, mit Riicksicht auf unsere besonderen Zwecke
gefertigte Auszug zeigt, daB wir bei den Konigsberger Muckern den voll
ausgebildeten Typus einer Sektenbildung mit allem, was dazu gehort.
vorfinden. Wir konnen in den Hauptern der Sekte und manchen Mit-
gliedern auBer einer religiosen Disposition von Haus aus einen
krankhaften Gesarntzustand als Voraussetzung fiir die Entste-
hung und Festsetzung der einzelnen Ideen feststellen. Wir haben diese
Wah nideen mit den fiir ihre religiose Abart besonders bezeichnenden
Komponenten voll ausgepragt; wir konnen die Vorgeschichte dieser
Wahnideen, ihre enge Beziehung zum Ichkomplex, ihren primitiven
t'harakter, ihre starke Affektbetonung sowie vielfach die geistige Schwa-
1 ) Die Philosophie der heiligen Urkunde des Christentums. Stuttgart 1854—55
S. 76.
*) S. 77.
3) S. 19.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
162
Hugo Daffner:
Digitized by
che ihrer fuhrenden Trager unschwer feststellen. Das Sektenwescn
tritt uns in dieser Bewegung ebenfalls in ganzer Ausbildung entgegen,
und zwar nicht nur in einem, sondern in mehreren Fallen. Den Tat-
sachen der psychischen Infektion begegnen wir auf Schritt und
Tritt. Selbst der bei intensiven und ausgebreiteten religiosen Wahn-
ideen fast stets anwesende starke sexuelle Einschlag fehlt nicht.
So konnen wir die Sekte der Konigsberger Mucker mit gutem Recht
als ein Schulbeispiel, als einen richtigen Typus ihrer Art ansprechen.
Die religiose Disposition, vor allem der Fiihrer, tritt uns schon
in den Berichten iiber Schonherrs und Ebels Jugend entgegen. Schon-
herr erzahlt selber, dad er als Schuler sich mit der gottlichen Offenbarung
abzufinden gesucht habe; Ebel wendet sich trotz der vaterlichen Ab-
mahnung zum theologischen Studium. Ungemein bezeichnend fiir Schon-
herr und dessen paranoischen geistigen Zustand ist auch seine iiber-
stiirzte Betatigung als Erfinder, nachdem ihm die Moglichkeit religioser
Wirksamkeit genommen war. Den Bericht eines seiner letzten Freunde
iiber die Zeit vor seinem Lebensende konnte man unmittelbar als Illu¬
stration fiir den Erfinderwahn in ein psychiatrisches Lehrbuch heriiber-
nehmen.
Schon Meyer 1 ) hat auf die Schwierigkeit der Abgrenzung religioser
Wahnideen vom allgemeinen Glaubensinhalt hingewiesen, da die so-
genannten Glaubenswahrheiten sich auch nicht beweisen lassen und
eben geglaubt werden miissen. Meyer betont daher mit gutem Recht,
daB in crster Linie bei der Beurteilung, ob religiose Wahnideen vorliegen,
der geistige Gesamtzustand von ausschlaggebender Bedeutung sei. Viel-
leicht darf man erganzend hinzufiigen, dad auderdem auch die Art
der Abstrusitat religioser Ideen, wenn sie sich in schreienden Wider-
spruch zu den allgemein giiltigen Ansichten der auch geistig nicht be-
sonders gebildeten Umgebung stellt, bei der Festsetzung dieser Grenze
mit in die Wagschale fallen konnte. Wenn hcute jemand behauptet,
dad das Wort ernes Menschen die Sonne in ihrem Lauf aufha.lt, die Ge-
stirne als hohere Geisterwelt, sich selber alsdenZentralpunktdesLichtes
auffadt, so diirfte man schon daraus, selbst ohne Riicksicht auf den
psychischen Gesamtzustand, auf eine paranoische krankhafte Gesamt-
verfassung schlieden. Es ist aber im vorliegenden Fall gar nicht not-
wendig, die Diagnose nur auf einige Punkte zu stiitzen. Die fiir reli¬
giose Wahnideen typischen Einzelheiten finden sich in der ganzen Be¬
wegung in voller Ausbildung.
Da haben wir die iibliche Vorgeschichte, bei der sich in Schon-
herr eine Offenbarung infolge hoherer gottlicher Fiigung einstellt, wah-
rend aus Ebel ebenfalls schon friih die Erleuchtung durch denGeist spricht.
1 ) Religiose Wahnideen. Arch. f. Religionswiss. Bd. XVI, H. 1. 1913.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Zur Psychopathologie der Konigsberger Mucker.
163
Zahlreich finden sich Stellen, in denen das eigene Ich unterden
Sektierern eine groBe Rolle spielt. Die Grtinder stehen in Selbstherr-
liehkeit iiber den anderen Mitgliedern, die alteren Mitglieder sehen auf
die jiingeren herab, die ganze Sekte diinkt sich hoch iiber ihre Umwelt
erhaben. Bei Schonherr wie bei Ebel wird das auBerordentlich ge-
steigerte SelbstbewuBtsein, ein hochmiitiger Wahn, als Trager des Lichts
an der Spitze der Menschheit zu stehen usw., mehrfach hervorgehoben.
Schonherr wird als Personifikation des Heiligen Geistes angesehen. Aus
Ebel spricht reines und unvermischtes gottliches Licht, jene Gottahn-
lichkeit, von der auch Peretti 1 ) bei seinem Kranken berichtet. Schon¬
herr braucht fiir sich keine BuBe oder Besserung, er ist unfehlbar. Sein
System ist fiir Ebel iiber jeden Zweifel erhaben. Von Ebel selber wird
ausdriicklich berichtet, daB das bestandige Ankniipfen an seine eigene
Person geradezu das Verhaltnis der Mitglieder des ganzen Kreises be-
stimmte. Daraus ergab sich das bekannte Unterordnungssystem mit
der abgottischen Verehrung und dem allgemeinen HandkuB. Die haupt-
sachlichste Geliebte Ebels wird als Lichtnatur angesehen. Auch der ge-
ringste Tadel an Ebel fordert dessen scharfstes Anathema heraus.
Nachst dem starken Betonen der Ichkomplexe fallt in dem Kreise
vor allem die von Meyer mit Recht so nachdriickhch hervorgehobene
Primitivitat der religiosen Wahnideen auf, die durchaus nicht
dem Geist der Zeit entsprungen sind, sondern vielmehr merkwiirdige
Parallelen mit der Eigenart des friihesten Christentums zeigen. Schon
die auBere Erscheinung von Schonherr und Ebel erinnert an die Bilder,
die man sich von Aposteln, Wanderpredigern usw. macht. Langes,
wallendes Haupt- und Barthaar gibt der Erscheinung Schonherrs etwas
Auffallendes. Bei Ebel wird ausdriicklich von seiner Neigung zur
Kopftracht des Heilands, von seinem Aussehen und Auftreten wie ein
Apostel berichtet. Schonherr hat keinen Beruf, lebt von milden Gaben
seiner Freunde. Ein offizieller Beitrag wird in seinem Kreise nicht er-
hoben. Bei den Versammlungen in seinem Hause wird Milch und Semmel
gereicht. Auch die theologischen und philosophischen Gedanken-
kreise bewegen sich auf der Ebene einer primitiven Denkungsart. Die
Feuerkugel und Wasserkugel, Wasser als Stoff der Korper, Licht als
der des Geistes, sind solchen einfaltigen Vorstellungskreisen entnommen.
Das Trachten nach dem Reich Gottes, die Hoffnung auf den baldigst
kommenden neuen Messias gehoren ebenfalls in diese christlichen Vor-
steHungskreise, wie auch die so gern geiibte Berufung auf den Heiligen
Geist und dessen erwartete AusgieBung. In Ebel wird Gottes Stimme
erkannt; er selber schreibt, daB Gott mit Zeichen und Wundern vom
*) „Von der Cbertragung religios-iiberspannter und theosophischer Ideen“
und von einer Gruppe „wahrer Menschen“. Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 74,
H. 1, 1918.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
164
Hugo Daffner:
Digitized by
Himmel geredet, die Menschheit seinen Arm empfunden, das Rauschen
seiner FuBtritte gemerkt habe. Zahlreiche Mitglieder des Kreises sehen
in Ebel das Mittel, wodurch „Gott ihre Seele zu sich zog‘\ Auch die
Dreizahl der weiblichen Naturen um Ebel kann mit diesen primitiven
Vorstellungskreisen in Verbindung gebracht werden, wie auch die Idee
der einen, daB sie der Antichrist sei. Ebenfalls aus der Gedankenwelt
des Urchristentums geboren sind die AuBerungen Kanitz' von Christen-
verfolgungen bei der ersten Verurteilung Ebels, wie auch die Bedrohung
mit gottlichen Strafgerichten, die wir z. B. bei Schonherr des ofteren
finden.
Das Sektenwesen finden wir in der ganzen Bewegung mehrfach
bis ins kleinste ausgebildet. Schon um Schonherr als Mittelpunkt
schart sich gleich zu Anfang ein kleiner Zirkel, dem er seine Ideen vor-
tragt. Ebel weiB spitterhin die durch Geburt und Stellung fiihrenden
Kreise um sich zu sammeln. Die Mitglieder fangen allmahlich an. sich
auf besondere Weise zu tragen, sich von der Umgebung, die nicht mit
ihnen geht, hochmiitig abzusondern; der gegenseitige AnschluB wire!
immer enger; sie betrachten sich selbst untereinander als Erweckte,
Auserwahlte. Die Vergotterung Ebels macht dabei weitere Fort-
schritte, wie auch der Geisteszwang auf die einzelnen Mitglieder und die
Unduldsamkeit gegen Andersdenkende. Als es innerhalb des Ebelschen
Kreises zu Verstimmungen kommt, treten mehrere Mitglieder aus und
bilden wieder neue Konventikel. Und wie die ganze Bewegung bei
Schonherr mit einer kleinenSektebegann, so lauft sie auch in eine kleine
Sekte aus, die Ebel in sein Exil folgte und bei ihm dort treu bis ana
Ende ausharrte.
Von einer Bedrohung durch Schonherr war eben schon die Rede.
Der Widerstand gegen die Staatsgewait, der bei solchen Sekten-
bildungen hiiufig nachzuweisen ist, fehlt auch hier nicht. Schon bei
den ersten Zwisten mit seiner Behorde bringt Ebel die geforderte Er-
klarung erst nach zwei Jahren und nach mehrfachem Mahnen bei.
Beim BeleidigungsprozeB gegen Diestel verweigert Ebel die Aussage,
was nachher die Eroffnung des gerichtlichen Verfahrens gegen ihn
selber zur Folge hatte. Eine Vernehmung durch den Untersuchungs-
richter lehnt Ebel hochmiitig ab, wie auch das Konigsberger Gericht
zu seiner Urteilssprechung.
Den Tatsachen der psychischen Infektion begegnen wir im gan¬
zen Kreise auf Schritt und Tritt. Sie beginnt bei Schonherr und endet
bei den Ietzten Anhangern Ebels, am handgreiflichsten bei Kanitz,
von dem ausdriicklich versichert wird, daB er zeitlebens von Ebel
vollig abhangig war, ja geradezu in einem Verhaltnis von Hbrigkeit
gestanden haben muB.
Der starke sexuelle Einschlag, dem wir in solchen Konventikeln
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Zur Psycho pat hologie der Konigsberger Mucker.
165
fast regelmaBig begegnen, kann uns nach den Ausfiihningen von Freud
und von anderen, wie Sehn, Schroder, Peretti u. a., nicht iiber-
raschen. In den besprochenen Zusararaenkiinften klang von Anfang
an ein leiser erotischer Unterton mit. Der Erorterung sexueller Fragen
wurde bald ein breiter Raum gegonnt. Schon in dem Schonherrschen
Konventikel duzen sich Mannlein und Fraulein und nennen sich beim
Vornamen. Eine besondere Rolle scheinen in dem Kreise die sogenann-
ten Seraphinenkiisse gespielt zu haben, die dann auch vom Klatsch mit
Wohlbehagen aufgegriffen wurden. Es handelte sich dabei um Kiisse,
bei denen sich die Zungenspitzen beriihrten. t)bcr Ebels enge Bezie-
hungen zu den drei auserwahlten Frauen, von denen eine seine Gattin
war, ist eigentlich nur als merkwiirdig zu erwahnen, daB die drei Frauen
mit dieser eigentiimlichen Gestaltung der Verhaltnisse einverstanden
waren und mit froher Miene mitspielten. Zu den geschlechtlichen Rei-
nigungen und Ubungen als Heilungstheorien gesellte sich die Stufen-
leiter im sexuellen Verkehr, iiber den sogar merkwiirdigerweise unver-
heiratete altere Mitglieder verheirateten jiingeren Ratschlage erteilten.
Von sexuellen Anomalien, wenn man schon die iiberreiche Beschafti-
gung mit geschlechtlichen Angelegenheiten nicht dazu rechnen will, ist
zunachst die Erscheinung einer Frau in Mannerkleidung im Schonherr¬
schen Konventikel zu erwahnen; dann die beabsichtigte, aber nicht aus-
gefiihrte GeiBelung als sadistisch-masochistischer Einschlag in dem
Nchonherr-Ebelschen Kreise; weiterhin vor allem die Reinigungs- und
Heiligungstheorie Ebels, die in einem Exhibitionismus bestand. Der
Anblick der enthiillten Geschlechtsteile sollte mit Selbstbeherrschung
ertragen werden. Es steht fest, daB Ebel selber vor einem weiblichen
.Mitglied des Kreises exhibitioniert hat; es steht fest, daB ein kleines
Madchen gezwungen wurde, sich in Gegenwart fremder Manner zu ent-
kleiden. Man hat in solchen Vorfallen teils einen Auftakt zu sexueller
Betatigung, teils einen Ersatz hierfiir, also eigentlichen Exhibitionis¬
mus, zu sehen. Eine merkwiirdige Parallele gibt hierzu Peretti 1 ), bei
dessen Kranken auch das Kiissen sowie das Nacktgehen als Totalexhi-
bitionismus eine nicht unwesentliche Rolle spielte. —
So haben wir in dem Kreise der Konigsberger Mucker eine, wie schon
erwahnt, typische Erscheinung religioser Sektenbildung, die,
von zwei Paranoikern ausgehend, auf psychische Schwachlinge, hyste-
risch veranlagtc und andere Psychopathen eine starke psychische In-
fektion ausiibte und sie im Lauf eines Menschenalters in Konflikt mit
Staat und Gesellschaft brachte. Das Urteil der Gcrichte kann man da-
her nur als gerecht bezeichnen. Bot der damalige Stand der Psychiatrie
kcine Moglichkeit, den Hebei anzusetzen, so war es Aufgabe der ordent-
!) a. a. 0.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
166 Hugo Daffner: Zur Psychopathologie der Konigsberger Mucker.
Digitized by
lichen Gerichte, die Mitbiirger vor solchem krankmachenden EinfluB
und seinen Folgen zu schutzen. Freilich gehorte eben, um dieser schwe-
ren psychischen Infektion ganzlich zu verfallen, neben einer religidsen
Disposition vor allem eine ausgesprochene degenerative Anlage im
Seelenleben des Einzelnen dazu. DaB es jedoch auch danials genug klare
Kopfe gab, die imstande waren, sich ein richtiges Urteil uber die Ebel-
schen Umtriebe zu bilden, mogen zum SchluB drei kurze Zitate aus den
Akten belegen.
Der untersuchende Kriminalrat Richter sagt in einem Bericht an
seine Behorde iiber sich selber: „Alles, was ich . . . gesagt habe, ist,
daB Ebels Personlichkeit wohl geeignet gewesen ware, mein gesundes
Urteil gefangen zu nehmen, in verba magistri zu schworen und statt
eines klaren, niichternen Christentums Satzungen zu adoptieren, die
dem Pietismus und Mystizismus aus dem V. Jahrhundert ihren Ursprung
verdanken.“
Der bekannte Philosoph Rosenkranz sagte in seinem Gutachten u. a .:
,,Wahrend also die Ebelsche Lehre sich fur das Maximum von Erkennt-
nis und sitthcher Reinheit halt, ist sie in Wahrheit, wenn man ihre
Fundamente und Konsequenzen beleuchtet, ein Verrucken der Intelli-
genz, ein Entziinden der Phantasie zur Wollust, ein Zerstoren der
Moralitat durch parteiischen geistigen Hochmut.“
Der Physiker Neumann auBert sich: „Eine sehr maBige Phantasie
treibt ihr wenig scharfsinniges Spiel mit einer ziemlichen Anzahl halb-
erlernter Tatsachen . . . Wo sich diese Vorlesungen Eingang verschaffen,
muB eine groBe Beschranktheit stattfinden, und dies konnte wohl
schaden.“
DaB die ganze Bewegung wirklich allerhand Schaden gestiftet hat,
ergeben die Akten. Abgesehen von mehreren Beleidigungsklagen, von
notwendigen Eingriffen des Vormundschaftsgerichtes in Erziehungs-
angelegenheiten war in den vorhergehenden Ausfiihrungen schon wieder-
holt auf die vielfachen schweren Familienzwiste hinzuweisen, die sich
aus der Anhangerschaft zu dem Ebelschen Kreise ergeben und in einem
Fall selbst zu einer Ehescheidung gefiihrt haben.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(Ans der Psychiatrischen und Nervenklinik Kiel
[Direktor: Geheimrat Prof. Dr. Siemerling].)
Beobaclitungeii beim akinetiseh-hypertonischen Symptoinen-
komplex. L 1 )
Von
Prof. Dr. W. Runge,
Oberarzt der Klinik.
Mit 3 Textabbildungen.
(Eingegangen am 8. September.)
In den letzten Jahren hatte ich Gelegenheit, an der hiesigen Klinik
25 Falle von akinetisch-hypertonischem Symptomenkomplex 2 ) zu beob-
achten. Bei 23 dieser Falle handelte es sich urn ein symptoms tisches
Auftreten dieses Syndroms, namlich um Folgezustande der Encepha¬
litis epidemica, in 2 Fallen blieb es zweifelhaft, ob eben dieses sympto-
matische Krankheitsbild oder eine Krankheit sui generis (Paralysis
agitans sine agitatione) vorlag.
Es soli hier nicht naher auf die nach vielen Richtungen hin interes-
-ante Genese dieser Falle eingegangen und auch die Symptomatologie
nur mit einer gewissen Einschrankung erortert werden, zumal sie ja
neuerdings mehrfach in den Arbeiten und Referaten von Stertz,
Bostrom, Jakob, Foerster u. a. eine eingehende Besprechung
und Darstellung erfahren haben, mit denen sich meine Beobachtungen
in vieler Hinsicht decken. Dagegen sollen einige neue FeststeUungen
einer etwas eingehenderen Erorterung unterzogen werden. — Die in
jenen Arbeiten erw&hnten
Hauptsymptome
desSyndroms waren auch in meinenFallen durchweg vorhanden. Letztere
!) Zum Teil nach einem Vortrag auf d. 18. Jahresvers. norddtsch. Psychiater
u. Neurologen zu Bremen am 5. XI. 21.
2 ) Diese von Stertz eingefiihrte Bezeichnung charakterisiert das Krank¬
heitsbild wohl am besten, ist aber insofem nicht ganz sachgemaB, als es sich bei
der Rigiditat dieser Falle nicht um eine reine Tonussteigerung, sondern auch um
„tetanische“ Vorgange handelt. Besser ware daher die Bezeichnung „akinetisch-
rigides Syndrom", die aber wegen ihrer sprachlichen Unschdnheit vermieden
wurde, wie auch der von den Franzosen vielfach verwandte Ausdruck „Parkin-
sonismus". In Ermangelung von etwas Besserem wurde daher die Stertzsche
Xomenklatur beibehalten.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
168
W. Runge:
Digitized by
unterscheiden sich untereinander durch die mehr oder minder starke Aus-
pragung, durch die verschiedene Ausbreitung dieser Symptome, vor allem
derRigiditat derSkelettmuskulatur. Diese schien selbst gewissen quali-
tativen, nicht nur durch die verschieden starke Intensitat bedingten
Variationen unterworfen zu sein. Sie stellte sich zuweilen, aber durch-
aus nicht immer, als wachserner Widerstand bei passiven Bewegungen
dar, wie vielfach sonst erwahnt, lie6 aber ihren wachsernen Charakter
in vielen Fallen deshalb vermissen, weil bei passiver Dehnung der Mus-
keln ein ruckweises, zitterndes Nachlassen der Spannung zu bemerken
war. Dieser bei der Dehnung auftretende Klonus wird auch von
Foerster erwahnt, der seine Geringfiigigkeit als differentialdiagno-
stisch wichtig gegeniiber den Pyramidenspasmen hervorhebt. Hierauf,
wie auf die sonstigen Unterschiede der Rigiditat gegeniiber den Pvra-
rnidenspasmen, sei hier nicht weiter eingegangen. Meine Beobachtungen
decken sich im allgemeinen mit denen der iibrigen Autoren. Nur waren
die Rigiditat und der Dehnungswiderstand in nieinen Fallen nicht in
alien Muskeln gleichmaBig und in gleichem Grade vorhanden, wie
Foerster beobachtete, sondern oft in der Beugemuskulatur der Beine
und Arme starker, als in der Streckmuskulatur. —Die proximalen Ex-
tremitatenenden waren von der Rigiditat starker getroffen, als die
distalen (Stertz), jedoch lieB sich oft feststellen, daB die Rigiditat bei
passiven Bewegungen im Knie- und Ellenbogengelenk starker war,
als bei Bewegungen im Hiift- und Schultergelenk. — Die Rigiditat
zeigte cine durchaus verschiedene Verteilung: Fast die gesamte
Willkurmuskulatur war in 9 Fallen befallen, jedoch war die Rigiditat
in einigen Fallen in der einen Korperhalfte starker, als in der andern
entwickelt. In 4 Fallen war ausschlieBlich die Hals- und Armmuskula-
tur, in einem Fall nur die Muskulatur des einen Arms, in einem andern
die des Nackens, des einen Arms und beider Beine, in 2 Fallen die der
einen Korperhalfte, in einem Fall nur die der Beine und in einem Fall
schlieBlich die des einen Beins befallen, dabei waren die sonstigen Sym¬
ptome mehrfach auch in den andern Korperabschnitten ohne nachweis-
bar rigide Muskulatur ausgesprochen. Eine derartige Verteilung der
Rigiditat spricht sehr fur die somatotopische Gliederung des striaren
Systems, wie sie von Mingazzini, Vogt, Foerster, Jakob be-
schrieben wird. In einem Fall fehlte iiberhaupt jede objektiv nachweis-
bare Rigiditat, trotzdem zahlreiche andere Symptome des akinetisch-
hypertonischen Syndroms vorhanden waren, insbesondere eine allge-
meine Haltungsstarre. Hinzugefugt muB noch werden, daB die bei
diesen Fallen immer wieder beschriebene maskenartige Starre
des Gesichts — und zwar in verschieden starker Auspragung — in
alien bis auf 3 Fallen vorhanden war, in denen sie hauptsachlich wohl
infolge der abortiven Entwicklung des Gesamtkrankheitsbildes fehlte.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Beobachtungen beim akinetisch-hypertonischen Symptomenkomplex. 169
Sie cliirfte iiberwiegend durch einen reinon Ausfall an Bewegungen,
weniger durch die Rigiditat bedingt sein. Die vielfach beschriebene
Nachdauer einer Kontraktion der Gesichtsmuskeln (Lachcn, Stirn-
runzeln u. a.) zeigte sich oft.
Die Falle mit Rigiditat der gesamten Korpermuskulatur glichen
am meisten der Paralysis agitans sine agitatione, wahrend jene mit
geringer, beschrankter oder ohne naehweisbare Rigiditat und nicht
selten aufrechter gerader Kbrperhaltung eher stuporosen Katatonikern
iihnelten, so daB sich sogar vereinzelt differentialdiagnostische Sehwierig-
keiten in dieser Hinsicht ergaben. Am meisten \vurde der Eindruck
<les katatonischen Stupors durch die oft hochgradige Bewegungs-
arraut erweckt. Diese war der Starke der Rigiditat durchaus nicht
immer proportional, sondern auch in Fallen mit geringer oder ohne
Rigiditat sehr ausgesproehen. In 8 von 9 Fallen mit allgemeiner Rigi¬
ditat war sie allerdings ebenfalls recht ausgepragt, wahrend sie im 9.
mehr voriibergehend in Erscheinung trat, spater einer motorischen
Unruhe Platz machte, in der die betreffendeKranke zeitweilig viel herum-
lief (was iibrigens spater noch ein weiterer Fall zeigte). In 3 abortiven
Fallen, mit zum Teil nur halbseitiger Rigiditat bzw. Tremor, fehlte die
Bewegungsarmut, aber hauptsachlich wohl deshalb, weil alleSymptome
nur gering oder gar nicht entwickelt waren, und es sich eben um abor¬
tive Falle handelte, nicht etwa wegen des Fehlens der Rigiditat. Das
zeigten besonders 6 weitere Falle, in denen die Una bhiingigkeit der
Bewegungsarmut von der Rigiditat deutlich zutage trat.
In einem dieser Falle, einem l 3 / 4 jahrigen Knaben, war die Rigiditat
gering, die Bewegungsarmut auffallend hochgradig. In einem abor¬
tiven Fall fehlte die Rigiditat ganz, war aber doch eine gewisse Be¬
wegungsarmut vorhanden, ebenso in einem weiteren Fall, bei dem alle
sonstigen Krankheitserscheinungen sehr ausgesproehen waren, die Rigi¬
ditat aber fehlte. In 3 weiteren Fallen war die Rigiditat auf den reehten
Arm, das linke Bein bzw. auf beide Arme beschrankt, wahrend die
Bewegungsarmut in alien 3 Fallen, besonders im letzteren, allgemein
und stark ausgesproehen war. Der Ausfall an Bewegungen betraf vor
allem die Ausdrucksbewegungen, die Mitbewegungen, die unbewuBt-
automatisch-reflektorischen Bewegungen und Reaktionsbewegungen,
aber auch, wenn auch weniger, die Willkiirbewegungen. Das Vorkommen
der Bewegungsarmut und der durch sie bedingten allgemeinen Starre
der Haltung ohne Rigiditat, was einer meiner Falle zeigte, wurde
l>ereits von Rausch und Schilder, A. Westphal, Kramer, aller¬
dings bei Fallen anderer Atiologie, beobachtet; auch Stertz hebt her-
vor, daB die Starre der Haltung nicht immer der nachweisbaren Rigi¬
ditat entspricht, und Foerster betont, daB der Mangel an Reaktions-
und Ausdrucksbewegungen ein selbstandiges Symptom ist und ohne
Arehlv (ilr Psychiatrie. Bd. 07 . 12
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
170
W. Runge:
Digitized by
Rigor und Fixationsspannung vorkommen kann, was dutch nteine
Falle bestatigt wird. Franzosische Autoren bestritten allerdings die Zu-
gehorigkeit derartiger Falle zu dent hier behandelten Syndrom, aber der
Nachw’eis der ubrigen Symptome und gewisse Tremorerscheinungen, die
spater erortert werden, berechtigen dazu, diese Falle hierher zu zahlen.
Die von Stertz und Foerster eingehend geschilderte Bewegungs-
verlangsamung (Verlangsamung des Ablaufs der Bewegungskurve:
Stertz) war weniger haufig nachzuweisen, alter doch in 12 Fallen vor-
handen. Auch sie war, wenn auch dfter mit einer allgemeinen Rigiditat
verkniipft, so doch nicht iramer an ihr Vorhandensein gebunden. Stertz
versuchte sie durch eine Innervationustorung, durch die mangelnde
Innervationsbereitschaft, durch eine Storung der reziproken Inner¬
vation Sherringtons zu erklaren, und zwar — so fiihrt er aus — er-
folge bei Innervation eines Muskels nicht mehr die Erschlaffung des
Antagonisten (Fehlen der Riicksteueru ng der Sperrung — Lewy). In der
Tat ist diese Erklarung sehr einleuchtend. Aber bei Beginn der Be-
wegung aus der Ruhelage scheint doch noch etwas anderes die Ursache
zu sein. Bei passiven Bewegungen laBt sich namlich, wenigstens
mit unserer gewohnlichen groben Untersuchungsmethode, nicht selten
konstatieren, daB in den vorher anscheinend schlaffen Antagonisten,
sftbald sie gedehnt werden, eine Kontraktion und Spannung einsetzt
(z. B. bei Beugung des Vorderarms im Triceps), eine Beobachtung, die
auch von Mayer und John gemacht wurde, die fiir die rcflektorische
BeeinfluBbarkeit der Rigiditat spricht und ebenfalls die Bewegungs-
verlangsamung erklart. Bei der Dehnung des Antagonisten treten
auch, wie sich mit dem Saitengalvanometer zeigen laBt, vorher
nicht vorhandene Aktionsstrome in diesem auf, nicht nur im Ago-
nisten. Da sie sich in gewissem Grade, wie Lewy zeigte, auch in nor-
malen Fallen nachweisen lassen, diirfte die Dehnungsrigiditat vielleicht
die Steigenmg eines normalen Vorgangs darstellen. DaB schon vor der
Bewegung in Ruhelage ein erhdhter Spannungszustand des Muskels
besteht, laBt sich mit unsern gewohnlichen Untersuchungsmethoden
nicht nachweisen, auch Aktionsstrome finden sich in dieser nicht. Es
ist nun denkbar, daB auch bei der aktiven Bewegung die Antagonisten-
spannung erst bei Beginn der Bewegung einsetzt und so die Langsam-
keit des Bewegungsablaufs bedingt. Objektiv ist das allerdings mit
unsern gewohnlichen Untersuchungsmethoden nicht festzustcllen. t'lier
den ganzen Mechanismus wird man erst ins klare kommen, wenn es,
ahnlich wie das Lewy begonnen hat, gelingt, die Aktionsstrome in
diesen Fallen sowohl im Agonisten, wie gleichzeitig im Antagonisten
mit einer einwandfreien Methodik zu beobachten.
Das gleiche gilt fur die Adiadochokinesis, die fast in alien meinen
Fallen, auch in denen ohne Rigiditat, nachzuweisen war und in ahor-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Beobachtungen beim akinetisch-hj'pertoniachen Symptonienkomplex. 171
tiven Fallen zuweilen ein diagnostisch wertvolles Hilfsmittel darstellt.
Auch bei dem Zustandekommen dieser diirfte, wie Stertz und Foerster
ausfiihrlich schildern, eine Innervationsstorung, die Nachdauer und
der nicht rechtzeitige NachlaB der Antagonistenspannung mitwirken.
Das ebenfalls in vielen meiner Falle zu beobachtende schlieliliche
vollige Aufhoren der Bewegungsfolgen bei der Adiadochokinesispriifurg
weist entweder auf eine allmahliche Zunahme der erwahnten Erschi i-
nungen wahrend dieser Bewegungen hin, vielleicht auch auf eine infolgc-
dessen einsetzende vorzeitige vollige Ermiidung der Muskeln.
Eine Erhohung des plastischen formgebenden Muskel-
tonus (Foerster) war nicht immer vorhanden und hauptsachlich
in den mehr oder weniger dauernd im Dehnungszustand befindlichen
und hauptsachlich rigiden Beugemuskeln der Extremitaten festzu-
stellen.
Die von Stertz gegeniiber den echt katatonischen Anomalien als
,,pseudokataleptisch“ bezeichneten Erscheinungen waren
hier und da, aber nicht besonders hiiufig nachzuweisen und durch das
Verharren in der Endstellung einer Bewegung oder Erstarren einer
Bewegung und Verharren in der grade erreichten Stellung charakteri-
siert, nur ausnahmsweise aber durch das Verharren in einer passiv ge-
gebenen Stellung. Dieses Erstarren einer Bewegung kani deutlich durch
Ablenkung der Aufmerksamkeit von der willkiirlichen Bewegung oder
Erschlaffen und NachlaB des im Anfang der Bewegung intensiv wirken-
den Willensiinpulses mit. gleichzeitiger Fixation der gerade erlangten
Haltung und Stellung zustande. VVenn es sich auch hier nicht uni die
l>ei der Katatonie in Frage kominenden Willensstdningcn handelt. >o
scheinen doch auch gewisse primare Erschwerungen der Willensan-
spannung eine Rolle zu spielen, wenigstens schilderte ein Kranker sehr
anschaulich, daB die Bewegung nicht nur bei NachlaB der Willens-
anspannung aufhdre, sondern daB diese Willensanspannung an si<h
auffallend erschwert sei, eine auffallige Neigung zum willenlosen und
tat^nlosen Dasitzen und Vor-sich-hin-Dosen bestehe. Foerster spricht
von dem Willensgefiihl (Lipps), dessen Umsetzung ins Motorium er¬
schwert sei und das vielleicht als ein affektiver Vorgang aufzufassen
sei: die Stdrung ware dann der bei der Pallidumerkrankung ganz all-
gemein vorhandenen Erschwening und Verlangsamung der AffektiiuBe¬
rn ngen gleichwertig. — Die BeeinfluBbarkeit durch fremden Willen,
der beschleunigte Eintritt und erleichtcrte Ablauf einer Bewegung unter
EinfluB des fremden Widens tritt in diesen Fallen oft deutlich zutage.
und es ist von besonderem Interesse, daB Foerster den Mangel an
Initiativbewegungen in der Hypnose bessern konnte. Die pseudokata-
leptischen Erscheinu ngen allein durch die sog. Fixationsspannu ng
zu erklaren, scheint unbefriedigend. Letztere war zweifellos in meinen
12 *
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
172
W. R ungc:
Digitized by
Fallen bei genauerer Priifung haufiger vorhanclen, als zunachst schicn.
Aber sie, wie die nach Foerster bei Annaherung der Insertionspunkte
eines Muskels auftretende Adaptationsspannung waren auch mit
deni von ihm angegebenen Kunstgriff (schnelle maximale Annaherung
der Insertionspunkte und kurze Zeit passives Halten in dieser Stellung)
nicht immer zu erzielen, z. B. nicht in den Streckern des Vorderarms.
Auch blieben in einem Fall bei Untersuchung mit dem Saitengalvano-
meter bei starkster Beugestellung des Vorderarms die Aktionsstrome
im Biceps aus, die sonst in den Muskeln, die sich in rigidem Zustand
befanden, nachzuweisen waren.
Leichte Paresen traten nicht gcrade haufig und dann besonders
bei kinetischer Innervation (Griinewald) hervor. In einem Fall war
das amyostatische Syndrom im Beginn einer Encephalitis unter Kramp-
fen apoplektiform entstanden, und zwar war hier zuerst eine Halbseiten-
lahinung aufgetreten (ob schlaffe, lieB sich anamnestisch nicht mehr
feststellen), wie es auch Foerster sah. Pyramidensymptome fehlten
fast stets, nur ganz vereinzelt und voriibergehend wurde dasBabinskische
Phanomen beobachtet.
Das Fehlen physiologischer Mitbewegungen, besonders
Fehlen des Pendelns der Arme beim Gehen, evtl. auch einseitig, war
haufig. Auf mehrere der von Foerster geschilderten zweckmaBigen
Mitbewegungen (normale Bewegungssynergien) wurde nicht speziell
untersucht. Dagcgen wurden in 2 Fallen hochst eigenartige a b nor me
Mitbewegungen beobachtet, die denen von Stertz beschriebenen
ahnelten. Die Fade seien ausfiihrlicher mitgeteilt.
1. 28jahr. Matrose. Vorgeschichte o. B. Herbst 1917 einigo Wochen nach einer
Appendektomie unwillkiirliche Bewegungen im rechtcn Bein und Unfahigkeit
zu feineren Bewegungen in denHanden, waswieder schwand. Friihjahrl918erneute
unwillkiirliche Bewegungen in den Handen und Unterkiefer. Am 11. IV. 1918 fanden
sich rhythmisch-tonische Anspannungen der r. Mundwinkel- und Baekenmuskulatur.
ilea r. Platysnm. der Muskulatur der r. Hand und des Unterarms. des r. Zeigefingers.
der rechtwinklig gebeugt wurde, sowie der Quadrieepsgruppe mit rhythmischer
Hebung und Senkung der Kniescheibe. In der 1. Hand regellosere Bewegungen.
die den Eindruck von Mitbewegungen machten. Bewegungen sistierten im Schlaf,
konnten kurze Zeit willkiirlich unterdriickt werden. Spiiter zeitweiliges Zittern
des ganzen Kor{x>rs. Im Juni 1918 voriibergehend apathisch-stuporoser Zustand bei
Fortbestehen der Bewegungen, die im September 1918 schwacher wurden. Der
r. Arm nahm eigenartige Beugehaltung an, das Gesicht war starr, ohne Mimik.
So blieb der Zustand. ImJanuar 1922 ausgesprochene Bewegungsarmut und Be-
wegungsverlangsamung, untere Gesichtsmuskeln rechts leieht kontrakturiert.
mimische Starre, starkes Zittern der Zunge, leieht gebeugte Haltung, Kopf nach
vorn gestreckt. r. Oberarm leieht abduziert, Vorderarm bis fast 90° gebeugt.
Hand gebeugt. Finger in leichter Pfotchenstellung. Zeitweilig mehrere aufeinander
folgende, leieht abduzierende und rotierende Bewegungen des Oberarms. Zeit¬
weiliges Hoehziehen der Oberlippe. Linker Arm in leichterer Beugehaltung. Aus¬
gesprochene Rigiditiit im rechten. weniger im linken Arm, desgl. in der Halsmusku-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Beobachtungen beim akinetisch-hypertonisehen Symptomenkomplex. 173
latur, weniger in der Bein- und Bauchmuskulatur. Pseudokatalcpsic besondere in
den Beinen. Leichte Retropulsion, Pendelbewegungen der Arme beim Gehen fehlen.
Zeitweilig, besonders beim Gehen. wird der rechte Arm starker
abduziert, der Y T orderarm starker gebeugt. Pat. gibt an, daB das ein-
trete, sobald die Aufmerksamkeit vom rechten Arm abgelenkt sei. t'bt er mit
der linken Hand einen kraftigen Handedruek aus oder werden die
Beine kraftig innerviert, so wird ebenfalls der r. Arm gehoben.
abduziert und gebeugt.
Die Atiologie des vorliegenden Falles ist unklar. Wahrseheinlich
handelt es sich aber wegen der Mannigfaltigkeit der im Verlauf der
Krankheit zutage getretenen Erscheinungen und dem schlieBlichen
StationiLrbleiben fles Zustandes, nachdem sich das akinetisch-hyper-
tonische Krankheitsbild voll entwickelt hatte, um cine Form der En¬
cephalitis epidemica. Ahnliche Fiille von Mitbewegung sind von Stertz
beobachtet worden. (In einem Fall Ausstrahlung des Impulses bei In-
nervation irgendwelcher Muskelgruppen in den r. Quadriceps, oft
auch in die linken Kniebeuger, in einem andern Fall Ausbildung einer
krampfhaften Stellung dcr rechten Hand und Finger). Das Besondere
in meinem Fall liegt darin, daB die abnorme Stellung gelegentlich ohne
l>esonders starke Innervation anderer Muskelgebiete bei abgelenkter
Aufmerksamkeit eintrat. Offenbar besteht eine abnorme Kontrak-
tionsneigung im rechten Deltoideus und den Vorderarmbeugern (Inner -
vationskomplex mit dauernder Dbererregbarkeit — Stertz), die mit
geringer Willensanspannung unterdriickt werden kann. Bei NachlaB
dieser auf das betreffende Muskelgebiet gerichteten Willensspannung
und der Aufmerksamkeit durch Innervation anderer Muskelgebiete
tritt die Kontraktion ein. Stertz glaubt dagegen, daB diese Muskel-
])artien durch geringfiigige Impulsirradiation innerviert wvirden.
2. 36jahr. Mann. Y'orgesch. o. B. Marz 1916 ini FeldeSchwindelgefiihl.Schwache.
Steifigkeit und Zittern im rechten Arm. Ende 1916 Entwieklung einer allgemeinen
Steifigkeit und eigenartigen Gangstorung. Liquor o. B. Befund im Januar 1921:
Gesicht etwas starr. Mund leicht geoffnet, Gesichtshaut meist heiB. Leicliter
SpeichelfluB. Pupillendifferenz. Pupillenreflexe o. B. Sehnenreflexe lebhaft.
zeitweilig rechts Oppenheim und Babinski angedeutet. Spraehe etwas monoton.
MaBige Rigiditat der o. E. und u. E., geringes Zittern der ausgestreckten Hiinde
rechts mehr wie links. Ceringe Parese des r. Arms. Im Stehen aufiechte Korper-
haltung. Beim Gehversuch sinkt der Oberkorper nach vorn, Knie- und Hiiftgelenke
nehmen Beugestellung an, so daB eine Art Hoekstellung entsteht (Abb. 1 bis 3). So
geht Pat. weiter. Dabei starke Pro- und Retropulsion. Mit 2 groBen Stangen in den
Handen sich aufstiitzend, vermag er sich einigermaBen aufrecht zu halten. Bis
zu einem gewissen Grade ist der Gang suggestiv beeinfluBbar, wird bei Beobach-
tung des Pat. muhsamer und schlechter. Tageweise weehselt die Intensitat der
Gangstorung. Bei Dynamometer- oder Adiadochokinesispriifung der
rechten Hand, also kraftiger Innervation bestimmter Muskel¬
gruppen, neigt sich der Oberkorper ebenfalls nach vorn iiber. Der
Befund blieb wahrend der Tmonatlichen Beobachtung vollig der gleiche, nur
Babinski und Oppenheimsches Phiinomen waren spater nicht mehr nachzu-
weisen.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
174
W. Range:
Digitized by
Die Atiologie des Falles ist unklar. Er hat rait dem vorigen Fall
gemeinsam, da(3 er vor der eigentlichen Encephalitisara begann. Eine
epidemische Encephalitis als Ursache der Krank-
heit laBt sich nicht nachweisen, ohwohl die Mdg-
lichkeit einer solchen imHinblick auf den jetzt seit
Jahren stationaren Zustand nicht auszuschlieBen
ist. Sichere Anzeichen fiir eine Krankheit vom
Typ der Pseudosklerose fehlten. Am ahnlichsten
ist das Krankheitsbild einer Paralysis agitans
sine agitatione. Durch die eigenartige, erst beim
Gehen auftretende gebiickteHaltung wurde der
Schwerpunkt des Korpers nach unten und vom
verlegt. lnfolgedessen kam der Pat., zumal auch
jede Reaktionsbewegung fehlte, beim Gehen in ein
unaufhaltsames Vorwartsschieflen. DaB es sich bei
dieser eigenartigen Haltung um die Fo'ge einer Art
absonderlichen Mitbewegung handelt und nicht
etwa um die einer Art Gleichgewichtsstorung oder
einer Parese der Beine, die sonst gar nicht nach-
zuweisen war, glaube ich daraus schlieBen zu
konnen, daB diesel be Beugehaltung des Rumpfes
wie beim Gehen auch bei kraftigcr Innervation der
rechtsseitigen Fingerbeuger eintrat. r f'rotz der aller-
dings auffallenden psychogenen Bee influ Bbarkeit
der Gehstoning ist
eine funktionell-hy-
sterische Natur der-
selben keinesfalls
anzunehmen da die
Gangstorung trotz
langer Behandlung
und psychothera-
peutischer MaBnah-
men hier und an-
derncrts vbllig \m-
verandert blieb, nur
wie von jeher tage-
weise in ihrer In-
tensitat schwankte,
und die sonstigen
Anzeicheneinerstri-
Abb. 2. aren Erkrankung
Fall 2. gehend. einwandfrei vor- Abb. 3. tall 2, gehend.
Abb. 1.
Fall 2. stehend.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Beobachtungen beim akinetiseh-hypertonischen Symptomenkomplex. 175
handen waren. Es ist denkbar, daB die zur Unterdriickung und Ober-
windung der betreffenden Muskelkontrakturen aufgewandte Willens-
anspannung bei EiTegung des Patienten infolge der Beobachtung von
fremder Seite nachlieB und die Gangstorung infolgedessen jedesmal
starker wurde.
Die Erscheinung der Pro-, Latero-, besonders aber der Retropul-
sion, war auch in meinen Fallen haufig vorhanden, fehlte aber regel-
maBig in den Fallen mit geringer oder gar keiner Rigiditat. Die Retro-
pulsion war ini ganzen haufiger wie die Propulsion. Besonders oft
lieB sich das eigenartige Phanomen feststellen, daB die Kranken, wenn sie
kurze Zeit stillgestanden hatten, plotzlich spontan anfingen, einige
Schritte riickwarts zu machen und dann zuweilen auch ins SchieBen
kanien. Dieselbe Erscheinung konnte durch einen ganz leichten StoB
vor die Bmst hervorgerufen werden, wahrend in solchen Fallen ein
StoB gegen den Riicken keine Vor warts be wegung veranlaBte. Die
gleiche Erscheinung ist auch in der jiingst erschienenen Arbeit von
v. Sarbo erwahnt.
Tremor.
Der Tremor stellte sich in meinen Fallen meist als fein- bis ruittel-
schlagiger Tremor der distalen Extremitatenabschnitte dar, der erst
bei starkerer Ausbildung auch auf die hoheren Extremitatenabschnitte
iiberging, in seiner Intensitat ausgesprochenen, oft tageweisen Schwan-
kungen unterworfen, in den meisten Fallen nicht immer vorhanden war,
selten ganz, meist nur in der Ridiehaltung fehlte und nur bei statischer
Intention, nicht bei intendierten Bewegungen auftrat, sich in wenigen
Fallen zu einem fast standig vorhandenen grob- und schnellschlagigen
Ruhetremor steigerte und nur ausnahmsweise den langsamen und
stetigen Rhvthmus des echten Paralysis-agitans-Tremors hatte, viel-
melir, solange er feinschlagig blieb, oft recht unregelmaBige Amplituden
seiner Schwingungen zeigte, ferner dureh gewisse MaBnahmen gesteigert
und verallgemeinert werden konnte oder iiberhaupt erst hervorgerufen
wirde. Dabei zeigte sich ein steigernder EinfluB psychogener
Momente im all gem einen we nig, aber in schwereren Fallen doch
deutlich. In 10 Fallen fehlte der Tremor in der Ruhehaltung ganz oder
meistens und trat nur bei intendierter Haltung der Extremitaten oder
unter den oben erwahnten MaBnahmen auf. Zuweilen waren, wenn kein
eigentlieher Tremor bestand, einzelne amorphe, zuckende, arhythmische
Bewegungen der Finger zu bemerken. Bei andern Fallen war in der
Ruhehaltung ganz leichter Tremor der Hande, evtl. auch des Kopfes
vorhanden, der sich bei statischer Intention steigerte. Nur in 3 Fallen
bestand auch in der Ruhehaltung in einem Arm, beiden Armen oder
beiden Beinen starker grobschlagiger Tremor, der einmal den pillen-
drehenden Bewegungen der Finger bei der Paralysis agitans iihnelte,
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
176
W. Runge:
Digitized by
die von franzosischen Autoren (Souques, Sicard) beim postencepha-
litisch-amyostatischen Syndrom fur prognostisch ungiinstig gehalten
werden. Auch der hier erwahnte Fall verlief sehr schwer, womit aber
fur die prognostische Bedeutung des erwallnten Symptoms nichts ge-
sagt ist. In einem der Fiille mit Ruhetremor trat dieser erst wahrend
der Beobachtung auf, in einem weiteren schwand er unter der Behand-
lung mit intravenoser lnjektion hoher Dosen von Natr. kakodylicum
und trat dann nur ala statischer lntentionstremor, aber erheblieh vveni-
ger ala vorher in Erscheinung. Nur in einem Fall H., der una noch mehr-
fach beschaftigen \vird, mit Rigiditat der Armmuskulatur, Fehlen der
Mimik und Augenmuskellahmungen, Pseudokatalepsie, Bewegungs-
armut und Bewegungsverlangsamung fehlte der Tremor in der Rulie-
haltung und bei intendierter Haltung dauernd, konnte auch durch
keinerlei MaBnahmen, die in den iibrigen Fallen Tremor in Erscheinung
treten lie Ben, zur Auslosung gebracht werden. Nur beatand hier zeit-
weilig ein geringer Unterkiefertremor und ein leichtes Vibrieren der
Oberlippenmuskulatur rechts, ferner eine hbchst eigenartige, an Stot-
tern erinnernde und vielleicht auf eine Art lntentionstremor der Sprach-
muskulatur zuriiekzufiihrende Sprachstorung, die aber keinerlei Ahnlich-
keit mit dem Skandieren bei der multiplen Sklerose hatte. Naheres
iiber den Fall weiter unten. Er fallt erheblieh aus dem Rahmen der
iibrigen heraus.
Das Fehlen des Tremors in der Rulie und sein Auftreten als statischer
lntentionstremor wurde sowohl bei Fallen mit allgemeiner mehr <xler
weniger starker Rigiditat (4 Fallen), sowie bei geringer Rigiditat, in
2 Fallen auch an Gliedern ohne jede mit der gewohnlichen Methode
festzustellende Rigiditat beobachtet. Der Tremor war also im allge-
meinen unabhangig von der Starke der Rigiditat. Immerhin
war er in 2 Fallen mit sehr ausgesprochener Rigiditat auch besonders
stark und in der Ruhe vorhanden. In einem dritten solchen Fall fehlte er
aber in der Ruhehaltung, Mendel kommt beziiglich des Zitterns bei
der Paralysis agitans zu dem gleichen Resultat. der allgemeinen Unab-
hangigkeit des Zitterns von der Rigiditat, Wilson dagegen meint, daB
es bei der echten Paralysis agitans in umgekehrtem Verhaltnis zum
Grade der Rigiditat stehe, was bei dem akinetisch-hypertonischen
Symptomenkomplex sicher nicht der Fall ist. Bei der Pseudosklerose
und Wilsonschen Krankheit ist das starke Wackeln, das wie in einem
hier beobachteten Fall (Siemerling und Oloff) speziell die proximalen
Extremitatenabschnitte befallt, zuweilen auch mit einer Hypotonic
verbunden. Ob der Tremor aber in den akinetisch-hypertonischen
Fallen tatsachlich bei volligem Fehlen einer Rigiditat bzw. Spannungs-
anderung in der Muskulatur vorkommt, ob in den Fallen meines Mate¬
rials, bei denen sich eine Rigiditat mit den gewohnlichen Untersuchungs-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Beobachtungen l>eiin akinetisch-hypertonischen Symptonienkoinplex. 177
raethoden nicht feststellen liefl, nicht doch cine gewisse Spannungs-
anderung in der Muskulatur besteht, laBt sich nicht mit Sicherheit
sagen. Die Verteilung des Tremors war ebenso verschieden wie
<lie der Rigiditat: 3 mal zeigte er sich halbseitig gleichzeitig neben einer
geringen Rigiditat, in den iibrigen Fallen entweder in alien 4 Extremi¬
taten und im Kopf oder in den untern oder obern Extremitaten allein
oder schlieBlich nur in einer Extremitat allein.
Durch die Schnellschlagigkeit, das Fehlen einer gewissen Gleich-
maBigkeit und Bestandigkeit, das Starkerwerden bei statischer Inten¬
tion unterscheidet sich der Tremor der akinetisch-hypertonischen Falle
von dem der Paralysis agitans, bei der er (Lewandowsky) bei statischer
Intention geringer wird oder aufhort. Nur in einem meiner Falle ge-
schah dies ebenfalls, und zwar bei einem jugendlichen Patienten mit
leichtem Halbseitentremor, SpeichelfluB, leichter mimischer Starre.
(lessen Genese nicht ganz klar ist. Moglicherweise handelt es sich um
cine beginnende Pseudosklerose; dann wtirde der Fall aus dem Rahmen
der hier besprochenen herausfallen. Es sind also zweifellos gewisse
l nterschiede zwischen dem Tremor bei den akinetisch-hypertonischen
Fallen und dem der Paralysis agitans vorhanden. Sie scheinen mir
aber nicht schwerwiegend genug, um zu behaupten, daB es sich bei
beiden Tremorformen um etwas grundsatzlich Verschiedenes handle,
zumal in den wenigen Fallen mit paralysis-agitans-ahnlichem Tremor
dieser aus dem sonst vorhandenen Tremor hervorzugehen schien. Merk-
wurdig ist allerdings ein Fall, bei dem langsam, zunachst nur zeitweise,
dann aber dauernd ein eigentiimliches, rhythmisches, schnelles Schlagen
mit der rechten Hand und dem Vorderarm auftrat, das von vornherein
stark grobschlagig war und entfernt an den Schiitteltrcmor Paralysis-
agitans-Kranker erinnerte, aber immer grobschlagiger als dieser blieb,
wahrend der sonst vorhandene gewohnliche feinschlagigere Tremor
in den iibrigen Extremitaten weiter bestand und sich auch in der rechten
Hand wahrend der anfanglich zwischen die Sehiittelphasen eingescho-
benen Ruhepausen zeigte. Aber es handelte sich hier um einen Aus-
nahmefall, bei dem vor Entwicklung des akinetisch-hypertonischen
Svmptomenkomplexes lange Zeit myoklonische Zuckungen im 1. Arm.
1. Hals- und Gesichtsseite bestanden hatten, wie in geringerem Mall
auch in dem oben mitgeteilten Fall 1, wo diese Zuckungen auch noch
nach voller Entwicklung des akinetisch-hypertonischen Syndroms weiter
l)C8tanden. In den iibrigen Fallen, in denen es zu einem starkeren Zit-
tem kam, entwickelte sich dieses aus dem feinschlagigen Zittein heraus.
GewiB besteht auch in dem haufigen temporaren Fehlen und der Gering-
fiigigkeit des Tremors in den akinetisch-hypertonischen Fallen und
dem steten Vorhandensein und der Starke desselben bei der Paralysis
agitans ein Unterschied; daB dieser nicht zu hoch bewertet werden darf.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
178
W. Bunge:
Digitized by
zeigt aber die Tatsache, da 13 in den akinetischen Fallen fast stets cine
Tremorbereitschaft
nachzuweisen ist, auch da, wo der Tremor unter gewohnlichen
Umstanden fast immer fehlt. Pragt sich diese schon in deni
haufigen Auftreten von Tremor bei statischer Intention aus,
so laBt sie sich auch an einer Reihe von anderweitigen Erschei-
nungen erkennen. In der Mehrzahl meiner Falle lie(3 sich namlich
ein auffallend starker Tremor, oft beinahe eine Art
Klonus der Augenlider bei AugenschluB 1 ), also gewissermaBen
bei statischer Intention der Lidmuskeln, und zwarnicht nurbeim Rom¬
berg-Versuch, sondern vielfach auch bei bloliem AugenschluB im Stehen,
Sitzen oder Liegen, vor allem auch bei der Cornealreflexpriifung fest-
stellen, was um so auffallender ist, als sonst. der unwillkiirliehe reflek-
torische Lidschlag in diesen Fallen fast aufgehoben ist oder jedenfalls
selten eintritt. Bei 16 unter 18 darauf untersuchten Fallen lieB sich
unter den erwahnten Umstanden das starke Lidzittern feststellen. In
2 Fallen war es nur gering. Bekanntlich komrat ein Lidtremor auch bei
andcrsartigen Kranken sowie bei Gesunden gelegentlich vor, aber bei
weitem nicht in dieser RegelmaBigkeit und selten in der Starke wie
bei den amvostatischen Fallen. Er ist offenbar dem bei intendierter
Haltung der Extremitaten auftretenden Tremor gleichzustellen und
fehlt in der Ruhelage und bei Erschlaffung des Orbicularis oculi. — Be-
raerkenswert ist es weiter, daB man bei der willkxirlichen Kontrak-
tion rigider Muskeln mit der aufgelegten Hand zuweilen nicht eine
stetige, ununterbrochene Zunahme der Zusammenziehung feststellen
kann, .wie bei Gesunden, sondern, daB diese von einzelnen diskontinuier-
lichen, klonusartigen Zuckungen und Rucken unterbrochen ist, die
Kontraktionsimpulse also offenbar diskontinuierlich, unregelmaBig und
ungleichmaBig einwirken. DaB das gleiche noch hiiufiger und viel aus-
gesprochener auch bei der Dehnung rigider Muskeln festzustellen
ist, wurde oben erwiihnt und auch von Foerster, Mayer und John
beobaehtet. Es fragt sich, ob in dieser Neigung zu diskontinuierlicher
Kontraktion und Erschlaffung nicht auch etwas Ahnliches wie die Tre¬
morbereitschaft zu sehen ist. Der Mangel an Fahigkeit, die Muskeln
gleichmaBig und stetig zu innervieren oder erschlaffen zu lassen, scheint
in beiden Fallen eine Rolle zu spielen, nur daB im ersteren Fall die Kon¬
traktion des Agonisten und Erschlaffung des Antagonisten nicht gleich-
zeitig, gleichmaBig und kontinuierlich, im zweiten, beim statischen Tre¬
mor die Kontraktion der Agonisten und Antagonisten nicht gleich-
zeitig, gleichmaBig und kontinuierlich mdglich ist. Beim letzteren
kommt allerdings noch das rhythmische Moment hinzu. — Weiter scheint
J ) Kiirzlich auch von v. Sarbo erwahnt.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
lieobuchtuiigen beim akinetisch-hypertoni.schen Symptomenkomplex. 179
rnir der Nachweis kleiner und groBer Oscillationen des Aktions-
stromes in rigiden Muskeln, die deni Aktionsstrom beim Tremor ent-
sprechen, in einem akinetisch-hypertonischen Fall, bei dem auBerlich
ein Tremor nicht festzustellen war, durch Rehn auf eine Tremorbereit-
schaft hinzuweisen, ferner auch die Beobachtung Foersters, daB der
Tremor durch besonders starke gemutliche Erregungen erst zu-
tage tritt, obwohl er vorher garnicht vorhanden war.
Es konnte nun festgestellt werden, daB es gelingt, noch durch eine
Reihe anderer Mittel die Tremorbereitschaft deutlich in Erscheinung
treten zu lassen, auch wenn ein Tremor sonst vollig oder in Ruhehaltung
fehlte. In einem Teil der P’alle gelang das schon durch eine verhaltnis-
maBig geringe Abkuhlung. Zunachst fiel auf, daB sich bei einem
Rranken schon wahrend des Auskleidens in einem Zimmer mit einer
Temperatur von 20 ° C ein heftiger allgemeiner Schutteltremor,
der vorher fehlte, entwickelte, wahrend andere, nicht amyostatische
Falle bei 10 Minuten langem Nacktstehen im gleichen Raum bei der
gleichen Lufttemperatur keinen Tremor bekamen. Diese Erscheinung
konnte bei der groben Versuchsanordnung allerdings nur in wenigen
amyostatischen Fallen festgestellt werden. Entweder wurde hier der
bereits vorhandene Tremor verstarkt, was auch Foerster u. a. beobach-
teten, oder der Tremor trat iiberhaupt erst auf. Er unterschied sich
hauptsachlich durch seine Intensitat von dem sonst in diesen Fallen
zu beobachtenden Tremor und glich genau dem sonstigen Kaltetremor
Gesunder, nur daB er unverhaltnismaBig stark war. — Die Tremor¬
bereitschaft zeigtesich ferner darin, daB ein Tremor durch gewisse
Gifte, die bei Gesunden kein oder nur ein geringes Zittern
erzeugen, hervorgerufen werden kann. Plin bereits vor-
handener Tremor wird durch diese Mittel schr erheblich
gesteigert .*
Kokainwirku ng.
Subcutane Injektionen von Kokainum hydrochloricum in Dosen
von 0,03—0,06 g zeigten diese tremorerzeugende YVirkung. Zur An-
wendung dieses Mittels bei den amyostatischen Fallen wurde ich durch
die Mitteilung Bergers angeregt, der bei katatonischen Stuporen durch
subcutane Injektion von 0,025—0,05 gKokain, hydrochl. eine Anderung
des psychischen Verhaltens, ein Regsamerwerden, eine Durchbrechung
der Sperrung beobachtete. Die bis dahin vollig mutistischen Kranken
sprachen wahrend der einige Stunden anhaltenden Kokainwirkung
wieder. Es lag nahe, diese Wirkung bei den ebenfalls psychisch sehr
wenig regsamen, affektii' schwer gestorten, bewegungsarmen und zu-
weilen an katatonische Stuporkranke erinnernden amyostatischen
Fallen festzustellen. Das Kokainum hydrochloricum wurde 8 Amyosta¬
tischen subcutan gegeben, in 2 Fallen wurden die Versuche 1- bzw. 2 mal
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
W. Runge:
Digitized by
180
tviederholt. Eine weitre Ausdehnung de r Versuche schien wegen der Ge-
fahren des Mittels, das vereinzelt leichten Kollaps verursachte, nicht
angebracht.
Nr.
Art der Falle
Kokain-
menge
Art der Wirkung
1 .
B. Allgemeine starke Ri-
gidit&t, geringer Tre¬
mor bei stat. Intention;
hochgrad. Bewegungs-
armut.
0,03
Pulsbeschleunigung v. 100 auf 116:
Atmung tief, 20; Augen glanzend,
Pupillen weit; nach 10 Min. allgein.
Tremor. Gang geht jetzt. flott, kann
sich gerade aufrichten ohne zu tau-
meln, sich gut umdrelien.
Subj. Empfindung, daB das Gehen
leichter sei. Sprache unverandert.
Anhalten der Wirkung etwa 20—30
Min.
2.
B. nochmals
0,03
Atmung beschleunigt. Puls v. 96 auf
116. Spricht lauter. Gang leichter.
Ivetztere Wirkung hort bald auf, klagt.
dann liber Obelbefinden. Rigiditat
vielleicht etwas geringer, was Pat.
auch subjektiv empfindet. Starker
Tremor. Bei einem 3. Versuch ebenso.
3.
H. Rigiditat in den Ar¬
men. Kein Tremor.
Stark stottemde Spra
che, iiuBerst bewegungs-
arm, pseudokatalep-
tisch.
0.03
Sprache etwas besser; spricht Worte.
die vorher nicht ausgesprochen wer-
den konnten. Sonst keine Wirkung.
kein Tremor.
4.
H. nochmals
0,05
Macht viel lebhafteren Eindruck, l^e-
wegt sich energischer, Adiadocho-
kinesis geschwunden. Sprache objek-
tiv unverandert. will aber subjektiv
eine Besserung verspiiren; lebhaftes
Flattem des r. Mundwinkels.
Schreibt 30 Min. sjjftter seinen Lebens-
lauf von 10 Reihen in 8 Min. Kein
Tremor.
5.
H. nochmals
0,06
Schreibt einen Text, zu dem er vorher
10 Min. brauchte, jetzt in o l / 2 Min.
mit undeutlicherer, aber nicht zittri-
ger Schrift, fiigt in dieser Zeit noch
6 Worte hinzu. Macht lebhafteren
Eindruck. bewegt sich lebhafter.
Sprache bleibt schlecht. Kein Tre¬
mor.
6.
G. Geringe Rigiditat im
r. Arm. Ausgespro-
chene Bewegungsarmut
nnd Verlangsarnung.
Kein Zittern. (Angeb.
Schwachsinn!)
0,04
Grobschliigiger Tremor des ganzen
Korpers. Puls steigt von 104 auf 116.
Atmung beschleunigt. Macht wenig
lebhafteren Eindruck.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Beobacbtungon beim akinetiscb-hvpertonischen Symptomenkomplex. 181
Xr.
Art der Falle
Kokain-
menge
Art der Wirkung
4 .
Sehl. Keine Rigiditat,
m&Bige Bewegungsar-
mut. Mangel an Ini¬
tiative, Unlustgefuhl.
Leichter Tremor bei
intendierter Haltung
der Hftnde.
0,03
Unlustgefuhl schwindet. Fiihle sich
lustiger. „Bin eigentlich vollkommen
frei von meiner Krankheit, von dem
niederdriickenden Gefiihl, von dem
Unruhegefiihl; ich ware imstande zu
singen, so lebhaft fiihle ich mich,
gerade das Gegenteil vom andern." —
Redet viel, groBtes Wohlbehagen.
Ware imstande, diegroBten Reden zu
halten. Es sei einfach groBartig.
Puls von 116 auf 140, Atmung tiefer.
30 Min. nach der Injektion starker
Tremor der Hftnde.
s.
Sehr. Rigiditat im 1. Arm,
allgemeine Bewegungs-
armut und Verlang-
samung. Tremor der
Hande gering l>ei In¬
tention.
0,03
Steigerung des Tremors. Zieht sich
schneller an. Berichtet das selbst
spontan. Pulsbeschleunigung.
9.
J. Allgemeine Rigiditat.
Gang nur mil gebeug-
ten Beinen. Bewe-
gungsarmut. Geringer
Tremor der Hande bei
intendierter Haltung.
0,04
Starker Tremor der Hftnde und Beine.
Die Spritze rege auf. Puls von 88 auf
136. — Gang unverftndert schlecht.
10.
Mo. Allgemeine starke
RigiditAt, 1. mehr wie
r. Bewegungsarmut.
Leichter Tremor der
Hftnde.
0,03
Pulssteigerung von 92 auf 132. At¬
mung steigt bis auf 28.—Subjektives
Wohlbehagen: „aufgeregter, Kopf-
sclimerzen gehen weg“. Gang flotter,
Rigiditftt in den Beinen etwas gerin¬
ger. Tremor im 1. Arm und Kopf
stark zugenommen. Spiiter Pbelkeit.
Puls etw'as weich.
11.
Mu. Allgemeine Bewe¬
gungsarmut mit sehr
geringer Rigiditat.
0,04
Puls steigt vorubergehend von 60
auf 80. sonst keine Wirkung.
In
7 Kontrollfallen (von
Hysterie, Schizophrenic, Psychopathic,
Alkoholismus) wurden Kokainmengen von 0,025—0,05 g injiziert.
Wie aus den Tabellen ersichtlich, entwickelte sich in 6 von den amyosta-
tischen Fallen neben den sonstigen Erscheinungen der Kokainwirkung,
wie Pupillenerweiterung, beschleunigte Atmung und Pulsbeschleu-
nigung, entweder als Verstarkung eines schon vorhandenen geringen
Tremors oder ohne diesen, ein lebhafter, oft allgemeiner Schiit-
teltremor, der im ganzen dem Kaltetremor glich. In einem Fall
trat iiberhaupt keine deutliche Kokainwirkung in Erscheinung. Es ist
anzunehmen, daB die Dosis von 0,04 g hier zu klein war. Der Versuch
konnte aber, da es sich um einen schwilchlichen Patienten handelte,
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
182
W. Runge:
Digitized by
nicht wiederholt werden. In cinem weiteren Fall H., der auch sonst
nie Tremor zeigte und bereits oben kurz geschildert wurde, entwickelte
sich bei 3 Versuchen, in denen die Kokaindosis auf 0,06 g gesteigert
wurde, kein Tremor, auch in den rigiden Armen nicht, obwohl die
Kokainwirkung hier sonst deutlich in Form von Pulsbeschleunigung,
Beschleunigung und Vertiefung der Atmung, Pupillenerweiterung und
gew'issen psychischen Erscheinungen zutage trat. Nur ein sonst auch
vorhandenes geringes Zucken am rechten Mundwinkel wurde starker.
Die eigenartige S})rache, die, wie erwfihnt, vielleicht auf einer Art In-
tentionstremor der Sprachmuskulatur beruht, wairde scheinbar im ersten
Versuch giinstig, in den weiteren Versuchen nicht beeinfluBt. Der
Fall nimrat in vielem, wie spater erortert ward, eine Sonderstellung ein.
— In den 7 Kontrollfallen trat trotz teilweise ausgesprochener Kokain-
wirkung kein Tremor auf. Bei den amyostatischen Fallen zeigte
nun das Kokain noch eine anderweitige Wirkung, welche an die-
jenige erinnert, die Berger und neuerdings Becker bei manchen kata-
tonischen Stuporen, Hinsen bei stuporosen Paralysen erzielten. Die
Kranken machten unter der Kokainwirkung einen erheblich lebhafteren,
energischeren, weniger schlaffen und willenlosen Eindruck, der ausge-
sprochene Mangel an Spontaneitat schien erheblich gemindert. Will-
kiirhandlungen und Bew'egungen gingen sichtlich flotter und schneller
vonstatten: Sprechen, Gehen, Anziehen, Schreiben gelang leichter und
schneller, wenn auch nicht in alien Fallen. Die Willensantriebe schienen
haufiger als vorher, die Aktivitat erheblich verstarkt, die Dberwindung
der Rigiditat, der motorischen Gebundenheit gelang leichter, die Be-
wegungsarmut schien geringer. Daneben zeigten sich ausgesprochene
Anderungen auf affektivem Gebiet: das zuweilen vorhandene intensive
Unlustgefiihl schwand und machte einem ausgesprochenen Wohlbe-
hagen Platz, wie der gebildete Kranke Nr. 6 (Student) besonders an-
schaulich schilderte. Es sind das Wirkungen ahnlich denen die das Ko¬
kain auch sonst beim Menschen zu entfalten pflegt (Anrep, Mosso),
die aber naturgemaB bei unsern starren, leblosen, bewegungsarmen
Kranken besonders auffallend waren und von einigen von ihnen mit
Freuden begri>Bt woirden. Bemerkenswert ist hier die Wirkung auf
die Willkiirbewegungen. Diese traten bei einigen Versuchen mit
Alkohol, der ja in psychischer Hinsicht anfangs eine ahnliche Wirkung
wie das Kokain zeigt, nicht hervor. — Die Erfahrungen, die Berger mit
dem Kokain an katatonisehen Stuporen machte, veranlaBte ihn, eine
Steigening der materiellen Rindenvorgjinge durch dieses anzunehmen,
withrend er die Erscheinungen des Stupors auf eine Herabsetzung der
Rindenfunktion zuriickfiihren wollte. Auch in meinen Fallen konnte
man die Wirkung des Kokains ahnlich wie Berger erklaren. Aber es
muB neben der Wirkung des Kokains auf die Rinde doch wohl auch an
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Beobachtungen beim ukinetisch-hypertonischen Syniptomenkomplex. 183
eine solche auf die tiefer gelegenen Hirnteile, die zentralen Ganglien
und ihre Umgebung, gedacht werden, zumal Kokain anch durch Er-
regung der Zentren der Warmeregulation im Hypothalamus im Tier-
versuch eine Temperatursteigerung bewirkt (Binz). Ferner kommt
als dritte Wirkungsart des Kokains diejenige auf die Willkiir-Muskulatur
selbst in Betracht. Alms hatte namlich bei Kaltbliitern eine Tonus-
herabsetzung der Muskulatur, Liljestrand und Magnus hatten
eine solche bei Warmblutern durch intramuskulare Injektion von
Kokain beobachtet, und Frank und Laqua haben neuerdings dieselbe
Wirkung durch subcutane Injektion erzielen konnen. Meyer und
Weil er konnten die Muskelstarre beim chronischen Tetanus durch
intramuskulare Injektion von 10—loccm einer 1 proz. Novokainlosung
beseitigen, ohne daB eine Lahmung eintrat. Frank sah l>ei der gleichen
MaBnahme die Rigiditat eines Muskels in einem Fall von Paralysis
agitans voriibergehend schwinden. Ebenso konnte ich durch Injektion
von 50 ccm einer 1 proz. Novokainlosung in den rigiden rechten Biceps
eines Amyostatikers die Rigiditat sehr erheblich herabsetzen, ohne daB
die Muskelfunktion sonst beeintrachtigt wurde. Frank und Katz
fiihren die nach allem zweifelsfrei feststehende tonuslosende Eigenschaft
des Kokains auf seine direkte Einwirkung auf die rezeptive Substanz
des Muskels zuriick, was H. H. Meyer nicht anerkennen will, der eine
Wirkung auf die motorischen Nervenendigungen im Muskel annimmt.
Nach allem ist es also moglich, daB die zuweilen zu bemerkende geringe
Herabsetzung der Rigiditat in meinen Fallen mit der direkten Wirkung
des Kokains auf den Muskel zusammenhangt. Keinesfalls glaube ich
aber, daB der Tremor durch die direkte Muskelwirkung und die tonus-
losende Eigenschaft des Kokains erzeugt wird. Man kann namlich
bei intramuskularer Injektion des Kokains feststellen, daB der Tonus
zunachst nachlaBt, sich dagegen kein Zittern in dem als Versuchsobjekt
benutzten Muskel einstellt, vielmehr erst nach einiger Zeit ein allgemeiner
Schutteltremor einsetzt, und zwar wohl dann erst, wenn das Kokain re-
sorbiert und in die Blutbahn gelangt ist. Wiirde das Kokain durch
direkte Muskelwirkung den Tremor erzeugen, so miiBte sich dieser oder
zum mindesten ein fibrillares Zucken zuerst in dem Muskel zeigen,
in den es injiziert ist, wie man das z. B. einwanclfrei bei dem bei intra¬
muskularer Injektion von Physostigmin eintretenden andersartigen
Zittern beobachten kann. Auch spricht gegen die direkte Wirkung
auf den Muskel bei der Tremorerzeugung die Tatsache, daB der Kokain-
tremor iiberall oder in den Teilen, die iiberhaupt von ihm befallen wer¬
den, gleichzeitig einsetzt. Alles deutet also darauf hin, daBder Tremor
durch eine Einwirkung auf das zentrale Nervensystem zustande kom-
men muB. Man wird nicht ohne weiteres entscheiden konnen, ob er
durch die Erregung der Hirnrinde oder durch Einwirkung auf die zen-
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
184
W. Runge:
Digitized by
tralen Gang lien oder andere subkortikale Regionen entsteht, da wir iiber-
haupt iiber das Zustandekommen des Tremors in den amyostatischen
Fallen noch nichts Sicheres wissen, obwohl verschiedene Theorien dar-
iiber aufgestellt sind (Foerster: Der Tremor ist der Ausdnick einer
infolge Pallidumausfalls gesteigerten Tatigkeit des cerebellaren Systems.
('. u. O. Vogt: Tremor substriare [pallidare] Hyperkinese, Wilson:
der die Rigiditat und den Tremor bedingende Apparat. ist aullerhalb des
Striatums zu suchen, Tremor kommt bei Herden im Kleinhirn und
Subthalamus vor, Jakob u. a. sahen Falle, wo Tremor ein Symptom
des roten Kerns war usw.). Hervorzuheben ist noch, wie auch die Kon-
trollfalle zeigen, daB Kokain sonst nicht Tremor erzeugt nur bei
den amyostatischen Fallen (bei Vergiftungen sind Krampfe be-
obachtet).
Es gibt nun noch ein weiteres Mittel, das bei den amyostatischen
Fallen starken Tremor erzeugt und das nur auf ein ganz bestimmtes
System ohne Erregbarkeitssteigerung des gesamten Zentralnerven-
systems wirkt: das Adrenalin.
Adrenal intremor.
Das Adrenalin entfaltet in gewisser Beziehung ahnliche Wirkungen
wie das Kokain (Wirkung auf die Sympathikusendigungen des Dila¬
tator iridis, auf die Accelerantes) und steht in einem sog. synergischen
Verhaltnis zu diesem, da manche Wirkung des Adrenalins durch sehr
kleine, an sich unwirksame Kokaingaben erheblich verstarkt werden
(Meyer und Gottlieb). In einer groBeren Anzahl von amyostatischen
Fallen wurde nun Suprareninum hydrochloric, syntheticum subcutan
injiziert. Die Wirkungen ergeben sich aus folgender Tabelle:
Nr.
Art der Falle
Adrenalin-
mongi?
Art der Wirkung
1.
M. Geringe Rigiditat in
den o. E., maBige in den
u. E. Starke Bewe-
gungsarmut. Tremor
der Hande bei inten-
dierter Haltung.
0.001
Blutdrucksteigerung v. llOauflSS 1 )-
Pulsbeschleunigung v. 84 auf 02.
Blasse, ca. 10 Min. anhaltender all-
gemeiner Schiitteltremor. Sehr ge¬
ringe Glykosurie nach Stunden.
2.
Sclir. Geringe Rigiditat
im 1. Bein. Ausge-
sprochene Bewegungs-
armut. Geringer Tre¬
mor der Hande bei in-
0,001
Blutdrucksteigerung v. 115 auf 138.
Pulssteigerung v. 80 auf 116. Blasse.
Starker Schiitteltremor der Hande,
etwasgeringer der Beine, auch in Ruhe-
haltung, ca. 40 Min. lang. Geringe
tendierter Haltung.
Glykosurie nach 1 l 2 Std.
l ) Es ist der systologische mit dem Riva-Roccischen Apparat gemessene
Blutdruck gemeint.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Beobachtungen beim akinetisch-hypertonischen Symptomenkomplex. 185
Nr.
Art der Falle
Adrenalin-
ro engc
Art der Wirkung
3.
J. MaBige Rigiditat der
Beine und des l. Arms.
Ausgesprochene Bewe-
gungsarmut. Geringer
Tremor bei intendier-
ter Haltung.
0,001
Blutdrucksteigerung v. 95 auf 125,
Pulsbeschleunigung v. 96 auf 120.
Starker allgemeiner Schiitteltremor.
inkl. desKopfes, auch inRuhestellung.
ca. 45 Min. anhaltend. Rigiditat un-
verandert. Geringe und kurz an-
haltende Glykosurie nach l x / 2 Std.
4.
Ho. Keine Rigiditat, hoch-
gradige Bewegungsar-
mut. Geringer Tremor
derHandebei intendier-
ter Haltung.
0,001
Keine Blutdrucksteigerung, keine Puls-
anderung; lebhafter Tremor. Aus¬
gesprochene Glykosurie in den ersten
3 Std. post Injection.
5.
Ho. nochmals.
0,001
Blutdrucksteigerung v. 110 auf 135,
Pulssteigerung v. 68 auf 92. Tremor
starker. Glykosurie.
6.
R. Starke Rigiditat der
u. E., geringe der o. E.
Bewegungsarmut. Tre¬
mor der u. ;E. auch in
Ruhehaltung.
0,001
Blutdrucksteigerung v. 130 auf 142.
Puls v. 108 auf 116. Starke, bald dar-
auf wieder nachlassende Steigerung
des Beintremors. Schwache Glyko¬
surie nach l*/ 2 u. 2 1, 2 Std.
/ .
M. Allgemeine starke Ri¬
giditat 1. mehr als r.,
leichter Ruhetremor
des 1. Arms.
0,0005
Blutdrucksteigerung v. 110 auf 127.
Puls v. 108 auf 116. Verstarkung des
vorhandenen Tremors. Geringe Gly¬
kosurie nach H/g Std.
8 .
Ha. Allgemeine Rigidi¬
tat; ausgesprochene
Bewegungsarmut; Tre¬
mor der Extremitaten
bei intendierter Hal¬
tung.
0,001
Blutdrucksteigerung v. 120 auf 130.
Puls v. 76 auf 96. Starker allgemeiner
Tremor, ca. 13 Min. lang, keine Ver-
stiirkung des Zungentremors. Nacli-
lassen der Rigiditat, nachdem Tre¬
mor geringer, Klavierspielbewegun-
gen der Finger wieder ca. 10 Min. lang
moglich. Geringe Glykosurie nach
2»/, Std.
9.
Jen. Geringe Rigiditat in
den Armen, r. me wie
1. Stereotype Haltung
des r. Armes. Tremor
der u. E. bei intendier¬
ter Haltung.
0,001
Blutdrucksteigerung v. 132 auf 150.
Pulsbeschleunigung v. 72 auf 120.
Ijebhafter Tremor der Extremitaten
u. des Rumpfes, der Zunge u. Eider.
Bei Nacldassen des Zittems Nach-
lassen der Rigiditat, im r. Arm, etwa
18 Min. anhaltend; Zwangshaltung
des r. Armes unverandert. Keine
Glykosurie.
10.
W. Nur geringer Tremor
im 1. Arm u. Bein.
0,001
Blutdrucksteigerung v. 110 auf 145,
Puls v. 88 auf 100. Ziemlich starker
Tremor der Hande und der Beine,
auch in Ruhe, ca. 30 Min. lang. Ge¬
ringe Glykosurie nach 5 Std.
Aichiv f Ur Psychiatrie. Bd. 67. 13
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
186
W. Runge:
Digitized by
Nr.
Art der Falle
Adrenailn-
mcngo
Art der Wirkung
11.
Bi. Nur geringer Tremor
im 1. Bein u. Arm.
0,001
Blutdrucksteigerung v. 123 auf 142.
Puls v. 72 auf 96. Starker Tremor
des 1. Armes u. Beines, r. sehr geringer
Tremor; ca. lOMin. lang in Intensitat
wechselnd. Gh r kosurie nicht unter-
sucht.
12.
B. Allgemeine Rigiditat
in den u. E. mehr als
o. E. Ausgesprochene
Bewegungsarmut. Tre¬
mor der Hande bei in-
tendierter Haltung.
0 001
Blfisse. Blutdrucksteigerung v. 9b
auf 128. Allgemeiner Tremor. Keine
Glykosurie, Untersuchung nur bis
'2 1 ! 2 Std. nach der Injektion moglich.
13.
Br. MaBige Rigiditftt der
o. E., 1. nienr wie r.,
stark im Nacken u. den
u. E. Nur geringer
Tremor im 1. Bein bei
intendierter Haltung.
0,00075
Blutdrucksteigerung v. 110 auf 130.
Pulssteigerung v. 68 auf 80. Starker
allgemeiner Schiitteltremor, auch in
der Ruhe. bes. im 1. Bein. Rigidit&t
unverandert. MiiBige Glykosurie nach
31/2 Std.
14.
H. Nur geringe Rigiditat
im r. Arm. Allgemeine
Bewegungsarmut. Ge¬
ringer Tremor des Kie¬
fers.
0,001
Blutdrucksteigerung v. 115 auf 130,
Pulssteigerung v. 88 auf 100. MaBiger
Tremor der Beine, kein Tremor der
Arme. Nach H/j Std. sehr schwache
u. kurz anhaltende Glykosurie.
15.
Paralysis agitans
0,001
Blutdrucksteigerung v. 125 auf 140,
Puls v. 72 auf 108. Starker allge-
meinerTremor, bes. 1., ca. 10 Min. lang.
Minimale Glykosurie,
Nicht amyostatische Falle.
Nr.
Art der Falle
Adnimlin-
mongp
Art der Wirkung
1 .
ImbecillitAt u. anfalls-
weiser hyster. Trenu r
0.001
Blutdrucksteigerung v. 125 auf 146.
Pulssteigerung v. 64 auf 72. Geringer
feinschliigiger Tremor der Extremi-
taten.
2.
Enuresis
0,0003
Keine Blutdrucksteigerung, Puls¬
steigerung v. 76 auf 88. Minimaler
feinschlagiger Tremor der Hande.
3 .
Katatonie
0,001
Blutdrucksteigerung v. 112 auf 120.
Kurzer, schnell voriibergehender Kol-
laps. Geringer feinschlagiger Tremor
der Hande.
4 .
Psychopathic -j- Gebilitat
0,0005
Blutdrucksteigerung v. 100 auf 120.
keine Pulssteigerung. Geringer fein¬
schlagiger Tremor der Extremitaten.
5.
Polyneuritis
0,0005
Blutdrucksenkung v. 107 auf 75, Puls-
senkung v. 80 auf 60, ziemlich lebhaf-
ter feinsehlagigerTremor derExtremi-
taten. (Kurz vorher Schwitzprozc-
dur!)
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Beobachtungen beim akinetisch-hypertonischen Symptomenkomplex. 187
Nr.
Art der Falle
Adrenalin-
menge
Art der Wirkung
0 .
Psyehopathie
0,001
Blutdrucksteigerung v. 112 auf 150.
zieml. lebhafter feinschlagiger Tremor.
7.
Katatonie
0,001
Blutdrucksteigerung v. 110 auf 184,
Pulssteigerung v. 72 auf 88. Geringer
feinschlagiger Tremor der Extremi¬
taten.
8 . .
Katatonie
0,001
Blutdrucksteigerung v. 125 auf 133.
Feinschlagiger Tremor der Hande und
FiiBe.
9.
Imbecillitat
0,001
Blutdrucksteigerung v. 125 auf 140.
Geringer feinschlagiger Tremor der
Extremitaten.
Es ergibt sich aus diesen Versuchen an 14 amyostatischen Fallen
(inkl. eines Falles von Paralysis agitans), daB jedesmal kurze Zeit nach
subcutaner Injektion von 3 / 4 —1 mg Suprareninum hydrochloric, neben
den iiblichen Erscheinungen der Adrenalimvirkung (Blutdrucksteigerung.
Vasokonstriktion, Glykosurie, Pulsbeschleunigung und Verstarkung des
Pulsschlages) ein meist starker Schiitteltremor auftrat, der sich
entweder auf die Extremitaten beschrankte oder allgemein wurde, und
daB sich ein bereits vorhandener, meist nur bei statischer Intention
deutlicher Tremor sehr lebhaft. verstarkte, so daB er jetzt auch in der
Ruhehaltung vorhanden war. Dieser Tremor war stets grobschlagig
und schw’ankte wahrend seines Vorhandenseins etwas in seiner Inten-
sitat. Er ahnelte dem K<etremor, dem Kokaintremor und dem sonst
in diesen Fallen vorhandenen Tremor durchaus, wenn er auch eine
Steigerung des letzteren darstellt und genau wie der Kalte- und Ko¬
kaintremor etwas schnellschlagiger als dieser erschien. DaB es sich oft
tatsachlich nur um eine Steigerung des vorhandenen Tremors han-
delte, zeigt die Tatsache, daB der Adrenalintremor in den Korperteilen
am starksten und grobschlagigsten war, die auch sonst allein Tremor
zeigten oder in denen auch sonst ein starkerer Tremor als in den xibrigen
Teilen vorhanden war. Das trat besonders in Fall 11 zutage, der sonst
einen leichten Tremor der linken Korperseite hatte und nach der
Injektion in dieser einen sehr starken Tremor, rechts
dagegen nur einen sehr geringen z?igte, wie man ihn auch bei
Normalen nach Adrenalin zu sehen bekommt. Bemerkenswert ist es, daB
das starke Zittern auch in Fall 4 auftrat, in dem scheinbar eine Rigiditat
fehlte, daB es in dem schon mehrfach envahnten Fall H. (13), bei dem
auch kein Kokaintremor zu erzielen war, auch nach Adrenalin in den
rigiden Armen fehlte, in den nicht rigiden Beinen in geringer Intensitat,
etwa so wie bei Gesunden, vorhanden war. Kontrollinjektionen in 9
13*
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
188
W. Runge:
Digitized by
anderen Fallen ergahen, dab hei diesen nur ein feinschlagiger Tremor
auftrat, der allerdings in den verschiedenen Fallen in seiner Intensitat
wechselte, aber doch erheblich geringer als in den amyostatischen Fal¬
len war. Auf die geringe Intensitat des ,,physiologischen“ Adrenalin-
tremors ist es wohl zuriickzufuhrcn. dab er vielfach gar nicht erwahnt
wird. Erst nachdem mir der Adrenalintremor infolge seiner starken
Intensitat bei amyostatischen Fallen aufgefallen war, fand ich, dab
Frank ihn unter dem Namen Adrenalintremor bei Gesunden besehriel)en
hat, dab er aueh von Biedl, ferner von Kastan in einem Vortrag kurz
erwahnt wird. Bei amyostatischen Fallen scheint er noch nicht beobach-
tet zu sein. Fa It a sah bei alteren Lenten mit Arteriosklerose nach
Adrenalin ,,Schuttelfroste“ (s. Biedl). Die Erklarung des Adrenalin-
tremors ist nicht einfach. Frank nimmt an, dab der physiologische
Adrenalintremor auf einer Reizung peripherer Sympathikusendigungen
im Muskel und einer sekundaren Steigerung der Erregbarkeit des Sarko-
plasmas beruhe, dab die Erregung des Sympathikus die Zustandsbe-
dingungen innerhalb der Muskelfasern so andere, dab rhythmische Fi¬
bril lenzuckungen die Folge sind. ,,Der Fibrillenapparat scheint (lurch
die (lurch Adrenalin gesetzte Sarkoplasmaalteration zu einem rhvth-
mischen Spiel von Tfitigkeit und Erschlaffung angetrieben.“ Der Fi¬
brillenapparat konne also auber vom motorischen Nerven auch durch
den Sympathikus in Tatigkeit gesetzt werden. Es handle sich aber uni
eine ,,tonogene‘‘ Fibrillenaktion. Den Adrenalintremor sah Frank
besonders ausgesprochen, etwa so, wie er in den amyostatischen Fallen
auftritt, bei starker Stigmatisierung im vegetativen System (z. B. dem
Stat. asthmaticus). Eine Sympathikusinnervation des Skelettmuskels
wird also von Frank vorausgesetzt. Sie wuTde bereits von Mosso,
Sherrington, Boeke, de Boer auf Grund von Tierversuchen und
anatomischen Untersuchungen am Muskel angenommen, ist aber mehr-
fach angezweifelt worden, so von Beritoff und neuerdings von Spie¬
gel, der darauf hinweist, dab die sympathisch-accessorischen Nerven-
fasern und Endplattchen, die Boeke im quergestreiften Muskel fand,
nach dessen eignen Beobachtungen und den alteren Brehmers mit
dem Nervenplexus, der die Blutgcfabe umspinnt, in Verbindung stehen,
so dab der anatomische Nachweis der sympathischen Innervation der
quergestreiften Muskelfaser selbst noch nicht einwandfrei erbracht
zu sein scheint. Auch L. R. Muller auberte sich 1920 beziiglich dieser
Innervation sehr skeptisch und wollte den Adrenalintremor durch Ein-
flub dieses Mittels auf die V’orderhornganglienzcllen erklaren, auf dessen
Tonus auch Stimmungen (Freude, Trauer), das Sekret der Schilddriise
(cf. Basedowdremor) und die Innervationen wirken konnten, die der
Warmeregulierung gelten. Die svmpathische Innervation der Skelett-
muskeln ist also nach wie vor noch strittig.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Beobochtungen beim akinetisch-hypertonischen Symptomenkomplex. 189
Die Gleichheit bzw. groBe Ahnlichkeit des Kaltetremors, des Kokain-
und Adrenalintremors und des amyostatLsehen Zitterns lassen daran
denken, daB alle diese Formen auf ahnliche Weise bzw. durch die glei-
chen zentralen Apparate zustande kommen. Die Annahme Franks,
daB der Adrenalintremor durch Wirkung des Mittels auf Sympathikus-
endigungen ira Muskel entstehe, scheint niir aus verschiedenen Griinden
nicht erwiesen. Wie beim Kokaintremor fallt es in unsern Fallen auf,
daB der Adrenalintremor bei subcutaner Injektion des Mittels in alien
den Teilen, in denen er sich iiberhaupt entwickelt, ziembch gleichzeitig
auftritt, daB er ebenfalls in den Teilen am starksten war, in denen schon
vorher ein leichter Tremor bestand, also z. B. halbseitig, daB, wie 4 Fiille
zeigten, bei Injektion des Adrenalins in einen rigiden Muskel an Ort und
Stelle kein Zucken oder Tremor auftritt, wahrend das doch bei einer
Physostigmininjektion ohne weiteres festzustellen ist, daB der Tremor
vielmehr nach einiger Zeit gleich allgemein auftritt, offenbar dann,
wenn das Adrenalin von der Injektionsstelle aus resorbiert ist. Es
wurde ferner folgender Versuch gemacht: in 4 Fallen (3 Katatoniker,
1 Amyostatiker) wurde die Blutzufuhr zu dem einen Arm durch Um-
rvchnurung der oberen Halfte des Obera^ms mit der Armmanschette des
Riva-Rocci-Apparates bis zur volligen Pulslosigkeit unterbroehen,
wahrend die Motilitat erhalten blieb, dann in den andern Arm 0,001
Adrenalin injiziert und nun die Entwicklung des Tremors beobachtet.
In alien 4 Fallen entwickelte sich dieser in beiden Armen gleichzeitig
und gleichmaBig, dabei schien es sich in dem abgebundenen Arm nicht
etwa uin einen von der Schultermuskulatur auf dem Arm mechanisch
iibertragenen Tremor zu handeln, sondern verschiedentlich konnte kon-
statiert werden, daB auch die Finger fur sich zitterten. Daraus wiirde
sich ergeben, daB der Tremor nicht durch periphere Wirkung des Adrena¬
lins auf die Sympathikusendigungen entstehen kann, da der Weg, auf
dem wohl sicher das Adrenalin zu diesen Endigungen gelangt, die Blut-
bahn in dem abgeschniirten Arm unterbroehen war und dieser Arm doch
genau wie der andere in Zittern geriet. Dieses Zittern kann also nur auf
dem Wege der peripherischen Nerven zustande kommen, deren Leitungs-
fahigkeit nicht unterbroehen war. Zuweilen schien allerdings der Tremor
im abgeschniirten Arm etwas geringer, nach Losung der Armmanschette
voriibergehend etwas starker als im andern zu werden, jedoch lieB sich
das nicht immer konstatieren. Es ist daher moglich, daB die Aktions-
fahigkeit der Muskelfasern in dem abgeschniirten Arm doch etwas durch
die sich entwickelnde Kohlensaureiiberladung des Blutes gestort und
nach Losung der Abschniirung besser wurde. Nach diesem Ergebnis
muB mit Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daB der Tremor
durch eine zentrale Wirkung entsteht. Die Gleichheit und Ahnlichkeit
dieses Tremors mit dem sonst in amyostatischen Fallen auftretenden
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
W. Runge:
Digitized by
190
Tremor laBt wie gesagt vielleicht vermuten, daB das Adrenalin an der
Stelle angreift, von der aus auch sonst der amyostatische Tremor er¬
zeugt wird. Da das Adrenalin eine spezifische Wirkung auf den Sym-
pathikus entfaltet, muB man an eine Wirkung auf die Zentren dieses
im Hypothalamus denken. DaB es etwa am Grenzstrang selbst angreift,
bzw. von dort aus den Tremor erzeugt, scheint mir wegen der Obereili¬
st i miming der Verbreitung dcs Adrenalintremors mit der des amyosta-
tischen Tremors, dem halbseitig starkeren Auftreten beider in gewissen
Fallen nicht wahrscheinlich. Derselbe Gnind scheint mir gegen die
Annahme L. R. Mullers, daB das Adrenalin auf den Tonus der Vorder-
hornganglienzellen im Riickenmark einwirkt, zu sprechen. — DaB der
Adrenalintremor etwa durch die erregende Wirkung auf die Endigungen
der Vasokonstriktoren in den MuskelgefaBen und eine dadurch bedingte
Anderung der Blutzirkulation im Muskel erzeugt. wird, erscheint mir
ebenfalls aus den genannten Griinden des gleichzeitigen Auftretens
des Tremors in alien Muskeln bei Injektion in einen Muskel, der Ver-
teilung desTremors sowie dcs Auftretens des Tremors trotzUnterbindung
der Blutzufuhr unwahrscheinlich, auch brachte eine wenigstens partielle
Anamisierung der Muskeln durch Umschniirung eines stark zitternden
Armes bei einem schweren Fall von encephalitisch-amyostatischem
Symptomenkomplex mit einer Gummibinde keine Anderung des Zitterns.
Ferner ist davon, daB in durch arterielle Ischamie (nach Thrombose oder
Esmarchscher Blutleere) geschadigten Muskeln Zittern auftritt, nichts
bekannt. — SchlieBlich k&me noch inFrage, ob etwa eine durch indirekte,
auf dem Wege des Sympathikus erfolgende Einwirkung des Adrenalins
erzeugte Tonusanderung in der Muskulatur, eine Zustandsanderung
in der Muskelfaser, wie es etwa Frank meint, das Zittern hervorruft
oder verstarkt, was dann evtl. auch fur das Kokain mit seiner tonus-
andernden WirkungGeltung haben konnte. Bei direkter Injektion in einen
rigiden Muskel entfaltet das Adrenalin zweifellos gewisse Wirkungen, und
zwar konnte ich in 2 Versuchen eine geringe Herabsetzung derRigiditat
sowie eine Herabsetzung der elektrischen Erregbarkeit feststellen. Auch
Foerster fand eine solche Herabsetzung ,,der Erregbarkeit des Sperr-
apparats“ der Muskeln. Aber es entsteht nach Adrenalin ein Tremor
in diesen Muskeln nicht unmittelbar, sondern erst, wenn er auch in
den iibrigen Muskeln auftritt, was dagegen spricht, daB die Tonusande¬
rung allein das Zittern erzeugt . Bei subcutaner Injektion von Adrenalin
konnte ebenfalls zuweilen ein geringer NachlaB der Rigiditat festgestellt
werden, aber erst dann, wenn der durch das Adrenalin erzeugte Tremor
wieder nachlieB. Letzteres scheint ebenfalls darauf hinzuweisen, daB
der Tremor nicht durch die offenbar erst spater einsetzende Tonus¬
anderung zustande komruen kann Es bleibt also schlieBlich nur die
Annahme iibrig, daB das Adrenalin bei der Tremorerzengung
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Beobachtungen beira akinetisch-liypertonischen Symptomenkomplex. 191
wahrscheinlich auf die Syrapathikuszentren im Hypothala¬
mus einwirkt. DaB die Driiseninkrete iiberhaupt neben ihrer peri-
pheren Wirkung Angriffspunkte in den vegetativen Zentren im Him
und Ruckenmark gewinnen, halt auch Schaeffer fiir wahrscheinlich.
Bemerkenswert ist es nun, daB das ebenfalls Tremor erzeugende Kokain
und das Adrenalin .(Eppinger, Falta und Rudinger) neben den
oben geschilderten gemeinsaraen Wirkungen auf gewisse Sympathikus-
endigungen eine Temperaturerhohung, und zwar wahrscheinlich durch
Erregung im Gebiet des sympathischen Nervensystems, erzeugen, dem
ja wahrscheinlich auch die thermogenetischen Zentren im Hypothalamus
angehoren (Meyer-Gottlieb). Ob diese Zentren direkt in Erregung
versetzt werden oder ob die Temperatursteigerung durch Reizung der
}>eripheren Endigungen des Sympathikus zustande kommt, ist noch nicht
geklart. Im Hinbhck aber auf die vorwiegend zentrale Wirkung des
Kokains und die elektive Wirkung des ebenfalls Fieber erzeugenden
Tetrahydronaphtylamins auf die Sympathikuszentren kann wohl eher
an eine direkte Erregung dieser Zentren gedacht werden, was wiederum
mit der vermuteten Reizung dieser beim Zustandekommen des Tremors
in gewissem Einklang stehen wiirde. — Es lagnahe, noch andere Mittel,
die sympathikuserregend und gleichzeitig temperaturerhohend wirken.
in den amyostatischen Fallen auf ihre Fahigkeit, Zittern zu erzeugen,
zu priifen. Zu diesen Mitteln gehort das Coffein (Binz u. a.). Mehrere
Versuche an einem Kranken mit subcutaner lnjektion von Dosen bis
zu 1,0 Coffein natr. benz. ergaben keine sicheren Resultate. Die Tem-
]X*ratur stieg auch danach nicht an, die Dosen schienen zu klein. Hohere
wagte ich mit Riicksicht auf den Kranken nicht anzuwenden. Voriiber-
gehend schien eine geringe Steigerung des Tremors einzusetzen, jedoch
schien sie mir zu klein, um Bestimmtes daraus zu schlieBen. Bemerkens¬
wert ist es aber, daB gelegentlich bei Coffeinvergiftungen heftiges Zit¬
tern der Extremitaten, krampfartige Empfindungen in manchen Muskel-
gebieten, sowie bei Tierversuchen am Kalt- und Warmbliiter Starre der
Muskeln und Verkiirzung, bei geringgradigen Vergiftungen erhohte
Fahigkeit des Muskels, sich auf einen Reiz zu kontrahieren, beobachtet
sind (Meyer-Gottlieb, Binz, Riesser), wobei allerdings zu be-
merken ist, daB die letzten genannten Wirkungen durch direkten Ein-
fluB auf den Muskel zustande kommen. Immerhin finden sich auch hier
beziiglich der Tremorerzeugung gewisse Analogien zu der Kokain- und
Adrenalinwirkung. Da das Coffein ebenso wie das Kokain nicht elektiv
auf das Warmezentrum, sondern auch auf das iibrige Zentralnerven-
svstem wirkt, laBt sich jedoch nicht sagen, ob gerade die letztere Wirkung
mit der Zittererzeugung in Zusammenhang steht. Immerhin ist es auf-
fallend, daB alle diese auch erregend auf das Warmezentrum wirken-
den Mittel teils beim Amyostatiker Zittern erzeugen, teils auch bei Ge-
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
192
W. Runge:
Digitized by
sunden, wenn auch hier zuweilen nur bei schweren Vergiftungen. Sehr
erwiinscht ware ein Versuch mit dem elektiv die Sympathikuszentren
angreifenden und ebenfalls tempera turerhohend wirkenden Tetra-
hydronaphtylamin bei den amyostatischen Fallen gewesen. Wegen der
Gefahrlichkeit des Mittels konnten aber solche Versuche nicht durch-
gefiihrt werden.
Ob nun das Adrenalin direkt cxler indirekt die Sympathikus-
zentren beeinfluBt, laBt sich aus den vorliegenden Versuchen nicht
schlieBen. Es ware aber moglich, daB die durch Adrenalin bedingte
Vasokonstriktion und Anderung der Blutversorgung die Zentren, die
beim Zustandekommcn des Tremors mitwirken, in einen Errcgungs-
zustand versetzen, was auch Biedl bei der Adrenalinwirkung fiir die
Vasomotorenzentren annimmt. Dann ware der Kokaintremor nur durch
eine allgemeine Erregung des Zentralnervensystems zu erklaren, da
eine Vasokonstriktion beim Kokain nicht erfolgt, aber in den amyosta¬
tischen Fallen doch Tremor entsteht. Auch wiirde dann die von E.
Frank angenommene Analogic des Adrenalintremors mit dem Basedow-
tremor hinfallig werden, denn bei der Basedowschen Kranklieit kommt
eine Vasokonstriktion kaum in Betracht. Da aber auch bei der Basedow¬
schen Krankheit eine Steigerung des Sympathikustonus vorliegt, ware
es gezwungen, den sowohl in diesen Fallen wie den als Folge der sym-
pathikuserregenden Adrenalinwirkung auftretenden Tremor verschie-
den zu erklaren. Am nachsten liegt daher immer noch die Annahme
einer direkten Erregung der Sympathikuszentren durch das Adrenalin,
die dann direkt oder indirekt den Tremor erzeugt bzw.ihn in den amyosta¬
tischen Fallen steigert. Man muB sich also damit begniigen, zu
sagen, daB eine Reihe von Giften, die neben verschieden-
artigen sonstigen Wirkungen auf das Nervensystem die
eine gemeinsam haben, daB sie vielleicht durch Erregung
der Sympathikuszentren im Zwischenhirn temperatur-
steigernd wirken, in den amyostatischen Fallen den schon
vorher vorhandenen Tremor stark steigern oder einen
Tremor erzeugen, der dem sonstigen amyostatischen Tre¬
mor und Kaltetremor gleicht, bzw. einen hoheren Grad
desselben darstcllt, und daB es nahe liegt, die beiden ge-
meinsamen Wirkungsarten dieser Gifte in Zusammenhang
zu bringen und zu vermuten, daB der Tremor bzw. die
Steigerung des vorhandenen Tremors ebenfalls direkt
oder indirekt mit einer Erregung der Sympathikuszentren
in irgendeincm Zusammenhang steht. 1st dieses richtig,
dann lage weiter auch die Vermutung nahe, daB vielleicht
der amyostatisehe Tremor direkt oder indirekt irgendwie
mit einer Erregbarkeitssteigerung der Sympathikuszen-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Beobachtungen l>eim akinetisch-hvpertonisehen Symptomenkomplex. 193
tren im Hypothalamus zusammenhangt. Dabei ist zu er-
wahnen, daB nach Isenschmid auch das Kaltezittern beirn Kaninchen
irgendwie von den vegetativen Zentren im Zwischenhirn abhangig sein
niuB, da es fehlt, wenn eine Verletzung des Zwischenhirns die Warme-
regulation aufhebt (auch wenn keine Lahmung vorhanden ist) und da
das Zittern l>ei unvollstandiger Verletzung des Zwischenhirns ohne
Aufhebung der Warmeregulation sehr haufig ist. Diese Beobachtungen
und jene bei den amyostatischen Fallen legen uns den Gedanken nahe,
daB das amyostatische Zittern vielleicht etwas Ahnliches ist wie das
Kaltezittern, bzw. (lurch Storungen in jenen Apparaten zustande
kommt, die das Kaltezittern erzeugen. NaturgemaB kann es sich
hierbei nur uni eine Vermutung, keine irgendwie fest begriindete An-
nahme handeln.
Die erwahnten Untcrsuchungsergebnisse stehen nun offenbar, wie
es zunachst scheint, mit von Frank geauBerten Anschauungen in ge-
wissem Widerspruch. Letzterer faBt die vasomotorisch-sekretorischen,
wie die motorischen Erscheinungen liei der Paralysis agitans als Sym¬
ptom einer Reizung im kranialautonomen parasympathi-
schen System auf. Er nimmt eine parasympathische Innervation
der Skelettmuskeln neben einer spinalen und sympathischen an und
stiitzt seine Auffassung von dem Wesen der Rigiditat und dem Zittern
der Paralysis agitans auf gewisse Analogien, die diese mit der den Para-
sympathikus erregenden Physostigminwirkung haben. Nach Tier-
versuchen von Harnack und Witkowski, Heubner, Schweder
wirkt das Physostigmin tonussteigernd auf die Skelettmuskulatur.
Frank und Nothmann fanden nach Injektion von Physostigmin bei
einem Kranken mit Paralysis agitans eine Steigerung der Rigiditat
der Kniestrecker. Sie stellten ferner fest, daB das die Rigiditat und den
Tremor der Paralysis agitans herabsetzende Skopolamin die ent-
sprechenden Erscheinungen der Physostigminwirkung zum Schwinden
bringt, indem es peripher angreifend ,,eine Blockierung nervoser para-
sympathischer Impulse im Endorgan” bewirke. Frank stiitzt sich
ferner darauf, daB Adrenalin den durch Physostigmin beim Hund her-
vorgerufenen unbeholfenen Gang sowie die ZitterstoBe beseitigt und zur
Losung der Physostigminkontraktur beim Menschen fiihrt, ebenso wie
es einen NachlaB der Rigiditat bei den amyostatischen Fallen veranlaBt.
Er verweist weiter darauf, daB Novokain in beiden Fallen intramuskular
gegeben in gleicher Weise wirkt. Wie oben erwiihnt, konnte ich die
gleiche Wirkung des Novokains bei intramuskularer Injektion in einem
meiner Falle feststellen. Alle diese Beobachtungen veranlassen Frank
zur Annahme, daB man es bei der Paralysis agitans in der Hauptsache
wahrscheinlich mit einer iibermaBigen Tatigkeit des Tonus,substrates,
des Sarkoplasmas zu tun habe, daB bei Wegfall des Linsenkerns, in
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
194
W. Runge:
Digitized by
dem die oberste Instant des Parasympathikus zu suchen sei, bzw. der
Ziigel, die vom Linsenkern durch die Ansa lenticularis zu den Einzel-
zentren des Hypothalamus fuhren, das Bild der Paralysis agitans, „ein
ins UbermaB verzerrtes Abbild des vitalen Tonus“ entstehe. Dieser
Auffassung widersprechen nun zum Teil die hier angefiihrten Beobach-
tungen. Ich konnte mich ferner durch eigene Versuche iiberzeugen, daB
das Zittern undZucken, das bei intramuskularer Physostigmininjektion.
also cinem parasympathisch-erregenden Mittel, auftritt, eigentlich dem
V>ei der Paralysis agitans und in meinen Fallen recht wenig ahnlich sieht.
Es wurden 2 amyostatischen Kranken 3 mg Physostigm. salicyl. in den
Biceps bzw. Brachioradialis injiziert. Darauf entwickelte sich in einem
Fall sehr stark, im andren schwach ein fibrillares Zucken und Vibrieren
in den betr. Muskeln, das nicht dem Zittern in den erwahnten Fallen
gleicht, sondern eher dem fibrillaren Zucken atrophischer Muskeln bei
spinalen Erkrankungen. Entfernt erimierte es auch vielleicht an das
fibrillare Zucken im Beginn des Frierens. Nach Frank sollen sich bei
Erhohung der Dosis unregelm&Bige ZitterstoBe ganzer Muskeln und
Muskelgruppen an dieses lokale fascikulare Zucken anschlieBen. Wenn
auch in meinen amyostatischen Fallen die Intensitat des Tremors
schwankte, so zeigte derselbe doch keineswegs die von Frank geschil- •
derte UnregelmaBigkeit des Phvsostigmintremors und noch weniger
zeigt sie der Tremor bei der Paralysis agitans. Es handelt sich hier
nicht um ZitterstoBe, sondern ein kontinuierliches Zittern, das weit
mehr starkerem Kaltetremor und Adrenalintremor trotz deren in nor-
nalen Fallen vorhandenen Schnellschlagigkeit und Feinschlagigkeit
gleicht und das wie gesagt auch durch das Adrenalin erheblich ver-
starkt wird, sogar bei der echten Paralysis agitans. Das scheint dafvir
zu sprechen, daB offenbar zum mindesten nicht der Parasympathikus
allein, sondern auch die Sympathikuscentren direkt oder indirekt bei
Entstehung des amyostatischen Tremors irgendwie beteiligt' ist. Aber
weitere Beobachtungen zeigen, daB auch auf den Parasympathikus
wirkende Gifte den Tremor beeinflussen. Zu erwahnen ist hier die Wir-
kung des parasympathikus-lahmenden Atropins in unsern Fallen,
rlie der bekannten Skopolaminwirkung nahesteht. Diesbeziigliche Ver¬
suche mit subcutanen Atropininjektionen ergaben zwar zunachst keine
einwandfreien Resultate. In einem Fall lieB der heftige Schiitteltremor
der Beine auf 1 / 2 mg Atropin. sulf. subcutan nach 14 Min. nach, um
nach 51 Min. wieder starker zu werden. Bei einem zweiten Versuch
blieb die doppelte Dosis 1 mg Atropin in gleichem Falle vollig unwirk-
sam. Es muB sich also beim ersten V T ersuch vielleicht um spontane
Intensitatsschwankungen des Tremors gehandelt haben. In einem 2.
Fall wurde der Tremor auf y., mg Atropin nach 20 Minuten geringer.
in einem 3. und 4. Fall auf 3 / 4 mg nicht, obwohl grade hier die sonstigen
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Beobachtungen beim akinetisch-hypertonischen Symptomenkomplex. 195
Atropinwirkungen (Pulsbeschleunigung, Sistieren der Speichelsekretion)
sehr ausgesprochen waren. Sicheres kann also aus diesen ersten Ver-
suchen nicht geschlossen werden. Dagegen lieB sich zuweilen bei innerer
Darreichung von 3—4 mg Atropin pro die neben der sehr wirksamen
Unterdriickung der oft sehr starken Speichelsekretion ein gewisser
XachlaB des Zitterns und der Rigiditat nachweisen. In einem Fall war
wahrend der Atropindarreichung kein Zittern festzustellen, trat aber
bei vorubergehendem Aussetzen des Mittels wieder auf. In einem an-
deren Fall hatte sich in den letzten Monaten, wie schon oben erwahnt,
ein heftiger, aber zunachst nur zeitweilig auftretender, dann dauernd
vorhandener Schiittel-Waokeltremor des rechten Arms entwickelt, der
auf innerliche Atropindarreichung (bis 4 mg pro die) mit dem sehr
starken SpeichelfluB und mit Besserung der Starre und Bewegungs-
armut vbllig schwand, um bei zweimaligem Aussetzen des Mit tels wieder-
zukehren. Nach langerer Darreichung gelang aber hier wie im ersten
Fall die Beseitigung des Zitterns nicht mehr vollig mit den gewohnlichen
Dosen, es war, als wenn eine gewisse Gew'bhnung an das Mittel eintrat
und dies dann unwirksamer wurde. Diese Beseitigung des Zitterns
durch Atropin, die friiher auch schon bei der Paralysis agitans beobachtet
wurde, scheint nun in einem gewissen Widerspruch mit der Erfahrung
zu stehen, daB der Tremor durch das sympathikuserregende Adrenalin
gesteigert wird. Im Hinblick auf die an anderen Organen zutage
tretende antagonistische Sympathikus- und Parasympathikuswirkung,
die Steigerung der Erregbarkeit des einen bei Hemmung der des anderen,
miiBte vorausgesetzt werden, daB das parasympathikuslahmende Atro¬
pin den Tremor eher steigert als herabsetzt, wenn sympathikuserregende
Mittel ihn ebenfalls steigern. Eine befriedigende Erklarung fur das ent-
gegengesetzte Verhalten ist nicht zu geben. Man konnte aber eine solche
nach zweierlei Richtungen hin versuchen: Einerseits konnte man an-
nehmen, daB die Verhaltnisse bei der vegetativen Innervation des Will-
kiirmuskels anders wie in den anderen sicher sympathisch-parasym-
pathisch innervierten Organen liegen, daB vielleicht eine strenge Diffe-
renzierung sympathischer und parasympathischer Nervenendigungen
im Muskel nicht vorliegt. Eine Erfahrung von Riesser und Neu-
schloB wiirde vielleicht zugunsten dieser Auffassung anzufuhren sein.
Diese konnten nitmlich bisher nicht feststellen, daB Adrenalin als sym-
pathisch erregendes Gift beim Tierversuch im Muskel selbst antagoni-
stisch zum parasympathikuserregenden Acetylcholin, das eine Muskel-
kontraktur erzeugt, tvirkt, was gefordert werden muBte, wenn tatsach-
lich eine antagonistisch wirkende Sympathikus-Parasympathikusinner-
vation des Willktirmuskels vorliegt. Verwiesen sei hier auch auf die
Auffassung H.H. Meyers, der eine solche Innervation fur den Muskel
ausschlieBen und stattdessen ein besonderes Tonussystem fur diesen
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
196
W. Runge:
Digitized by
annehmen will. Andererseits aber spree hen doch wieder andere Momente
gegen eine solche Auffassuug und eher dafiir, dali Sympathikus und
Parasympathikus bei der Entstehung der Spaimungsanomalien unserer
Falle irgendeine Rolle spielen. Abgesehen von den zahlreichen Ver-
suchen de Boers, von den allerdings von Spiegel in ihrerDeutung an-
gefoehtenen anatomischen Befunden Boekes, die fur eine sympathische
Innervation der Muskeln sprechen, ware fiir die Wirksamkeit der vege-
tativen Nerven bei der Entstehung der Spaimungsanomalien und zur
Erklarung olx*n genannter Widerspriiche noch folgendes anzufiihren:
Die sonst an den Erfolgsorganen zu beobachtende, sich kombinierende
Wirkung sympathikuserregender und parasympathikuslahmender Mit-
tel diirfte bei subcutaner Injektion am Muskel vielleicht deshalb nieht
zu erwarten sein, weil das Adrenalin, wie gezeigt, offenbar zunachst
zentral, das Atropin aber wahrscheinlich, besonders nach den Versuchen
von Riesser und Neuschloss und den Feststellungen Schaeffers
bei der sogenanntenTiegelschen Kontraktur, direkt am Muskel angreift.
Kommt es schlieBlich zu einer direkten Adrenalinwirkung auf den Mus¬
kel in unsern Fallen, so zeigt sich auch die erwartete, die Atropin wirkung
fordernde, tonusherabsetzende Wirkung des Adrenalins, wie von Frank
und Foerster beobachtet wurde und ich ebenfalls in den akinetisch-
hypertonischen Fallen sah. Die Versuche von Riesser und Neuschloss
machen es wahrscheinlich, daB das Atropin entweder an der rezeptiven
Substanz des Muskels oder am Sarkoplasma selbst angreift und dieses
kontraktionsunfahig macht. Bei der Atropinwirkung in unsern akine-
tisch-hypertonischen Fallen diirfte etwas Abnliches anzunehmen sein.
Dafiir, daB nun das Atropin auch wahrscheinlich im Muskel eine Wirkung
entfaltet, die einer Wirkung auf parasympathische Nervenendigungen
analog zu sein scheint, spricht die ebenfalls wieder von Riesser und
Neuschloss gefundene Tatsache, dab es ebenso wie auf die Rigiditat
in unseren Fallen auf die durch das parasympathikuserregende Acety-
cholinhervorgerufene Kontraktur losend wirkt und dafi es nach Schaef¬
fer auf die durch parasympathikuserregend wirkendeMittel zu steigernde
Tiegelsche Kontraktur auf gleiche Weise wirkt. Der Schlull liegt
also nahe.daft die Rigiditat mit einer Parasympathikuserregung in irgend-
einem ursachlichen Zusammenhang steht. Ein absolut sicherer Beweis
dafiir kann bisher nicht erbracht werden.
Wenn man nach den Untersuchungsergebnissen in unseren Fallen
eine Stbrung oder Erregbarkeitssteigerung der Sympathikuszent-ren
annehmen will, so weiB man noch nicht, ob diese durch direkte Wirkung
iiber den Sympathikus selbst oder auf Umwegen iiber andere zentrale
Apparate und die motorischen Haupt- oder Nebenbahnen und Nerven
bei Entstehung des Zitterns mitwirkt. Vielleicht kommt aber eher das
letztere in Betraeht, weil eine direkte Sympathikuswirkung auf den
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
JBeobachtungen beim akinetiseh-hvpertonischen Nymptoinenkomplex. 197
Muskel, wcnn es eine solche gabe, andere Erscheinungen hervor-
mfcn ruuBte, wie die intramuskularen Adrenalininjektionen zeigen,
und weil es sich offenbar bei dem Tremor urn eine Aktion der Fi-
brillen, nicht des Sarkoplasmas, des Tonussubstrates handelt, denn
jedes Zittern ist mit oscillatorischen Aktionsstromen von tetanischem
C'harakter verbunden, wie bereits Bornstein und Saenger u. a. nach-
gewiesen haben; auch zeigt das Auftreten des Zitterns in manchen Fal¬
len nur bei willkiirlicher Anspannung der Muskeln sowie die Moglich-
keit der temporaren willkiirlichen Unterdriickung und Herabminderung
des Zitterns in unsern Fallen, daB cortico-spinale Einfliisse auf Tremor
einwirken konnen, wenn auch nur bis zu einem gewissen Grade. Dali
beim Zustandekommen des also als Fibrillenaktion aufgefaBten Zitterns
eine Tonusanomalie des Sarkoplasmas begiinstigend wirkt, ist im Hin-
blick auf unsere Falle wohl denkbar, ohne dali man dabei anzunehmen
braucht, dali diese wieder dureh Sympathikuswirkung selbst zustande
kommt. Auf ihre wahrscheinlich parasympathische Entstehung wurde
oben hingewiesen. Das Schwinden des Zitterns auf Atropin konnte bei
diesen Voraussetzungen sehr wohl auf die Beseitigung bzw. Minderung
der Tonusanomalie im Sarkoplasma zuruckgefiihrt werden. Die trotz
der Atropinzufuhr deutlich vorhandene Neigung des Zitterns unter ge¬
wissen Umstanden, z.B. psychischen Erregungen, voriibergehend wieder
in Erscheinung zu treten, deutet aber vielleicht darauf hin, dali die
Tonusanomalie nicht die alleinige Ursache des Zitterns sein kann. Vor-
aussetzung ware fxir die Annahme der Begiinstigung des Zitterns dureh
die Tonusanomalie eine ja auch durchaus wahrscheinliche gegenseitige
enge Abhangigkeit und BeeinfluBbarkeit des Sarkoplasmus und der
Fibrillen voneinander und untereinander.
Wie dem auch sei: jedenfalls sprechen die Versuchsergebnisse fiir
eine Mitbeteiligung des vegetativen Nervensystems beim Zustande¬
kommen der Tonusanomalie und des Tremors in den akinetisch-
hypertonischen Fallen. DaB das nicht nur fiir diese, sondern auch
fiir die Paralysis agitans gilt, zeigt die Wirksamkeit des Adrenalins
und Atropins auch auf das Zittern und die Rigiditat bei dieser Krank-
heit.
Im Hinblick auf die vielleicht vorhandenen Beziehungen zwischen
Sympathikuszentren und Tremor ist nun der mehrfach bereits erwahnte
und in mancherlei Hinsicht aus dem Rahmen der iibrigen herausfallende
Fall H. bemerkenswert:
20 j. Landarbeiter. V’orgeschichte o. B. Juli 1918 Grippe. Mai 1920 Kopfschmer-
zen. angeblich Rotung und Schwellnng des Gesichts. Dann teilnahmslos, auffallend
lang8am, schlafsiichtig, Doppelsehen. Voriibergehend Zuckungen in d. Extremi-
taten und im Gesicht, iiber die nichts Naheres zu erfahren ist. August 1920 in der
med. Klinik Sehlafsueht, Akkomodationsparese. Flexibilitas cerea. ,,Befehlsauto-
Digitizea by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
198
W. Runge:
Digitized by
matie", Liquor o. B. Voriibergehend einige Tage Pulsverlangsamung und cerebrates
Erbrechen. Liquor-Druck bis 250 mru. Oktober 1920 leichte Facialis parese links.
Akkommodationsparese, Rect.-intern.-parese links. Verengerung der linken Lid-
spalte und Pupille, horizontaler Nystagmus, 7. IT. 1921 Linke Lidspalte und Pupille
enger als rechte. Rect.-intern.-parese rechts; auch links wegen ungenauer An-
gaben durch Doppelbilder nicht naher feststellbare sonstige paretische Erschei-
nungen im Oculomotoriusgebiet. Maskenartige Starre des Gesichts. Leichte Rigi¬
ditat der in Beugehaltung befindlichen Arme, bes. ira rechten. Pendelbewegungen
der Arme beim Gehen gering, links rnchr als r. Ausgesprochne Bewegungsarmut
und Bewegungsverlangsamung. Auffallende Sprachstorung: Fangt Satze an.
ohne sie zu Ende zu fiihren. Bleibt mitten drin stecken und brummt dann die letzte
Silbe weiter, ohne dariiber wegzukommen. Beine konnen schnell bewegt werden,
kann schnell laufen, springen, tanzen, geht aber im allgemeinen langsam, bedachtig,
zuweilen kataleptisches Stehenbleiben, keine Rigiditat der Beinmuskulatur. Pseudo-
katalepsie sehr ausgesprochen, bes. in Armen und Rumpfmuskulatur. Bleibt oft
lange in der gleichen Haltung. Im weitern Verlauf Zunahme aller Erscheinungen,
starke Beeintrachtigung der Lichtreaktion der Pupillen, besonders rechts. Kon-
vergenzreaktion infolge der Rect.-Lahmung nicht zu priifen. Voriibergehend
ganz leichte Zuckungen und Vibrieren der Kiefermuskulatur. Entwicklung einer
leichten Parese im rechten Arm; ausgesprochne Adiadochokinesis bds. Zunahme der
eigenartigen Sprachstorung, infolge deren Pat. beim Sprechversuch oft gar nichts
herausbringt oder an der ersten Silbe oder mitten im Wort hangen bleibt und
dann diese Silbe oder den letzten Konsonanten ahnlich wie ein Stotterer logo-
klonusartig wiederholt. Dabei Monotonie, Verloschen der Stimme. Aulierste Ver-
langsainung und Verspatung der sprachlichen Reaktionen. Links zeitweilig Op-
penheimsches Phiinomen. Haufig Schwitzen und starker Fettglanz im Gesicht.
Allmahliche Entwicklung eines starken Fettpolsters (hypophysar?). Lidtremor
der Augenmu8kulatur nur gering. Niemals Tremor der Arme und Hande,
auch durch Kokain und Adrenalin nicht zu erzeugen, bei letzterem nur Beintremor.
Rigiditat der Arme wie wachsern, keine Zuckungen bei Kontraktion und Dehnung.
Blutd ruck 105/85. MiiBig starker SpeichelfluB. Auf Pilocarpin starke Reaktion.
\ l / 2 Stunde nach 1 mg Adrenalin geringe Zuckerausscheidung. Zustand blieb
weiterhin der gleiche.
Es handelt sich also hier uni ein Krankheitsbild, das durch anfang-
liche Schlafsucht, Augenmuskellahniungen, sowie den amyostatischen
Symptomenkomplex mit hauptsachlichster Beteiligungder Armmuskula-
tur an der Rigiditat und besonderer Betonung der Bewegungsarmut
und Bewegungsverlangsamung sowie der Pseudokatalepsie und eine
eigenartige Sprachstorung ausgezeichnet ist. Man muB den Fall zweifel-
los der epidemischen Encephalitis zurechnen, obwohl ein fieberhafter
Beginn anamnestisch nicht mehr festzustellen und die Gripjie fast
2 Jahre vorausgegangen war. Pyramidensymptome traten nur ganz
fliichtig in Erscheinung. Bemerkenswert ist hier die ausgesprochen
wachserne Art der Armrigiditat und das Fehlen des Tremors in den
rigiden Armen, der auch nicht durch Adrenalin und Kokain auszulosen
war. Nach Adrenalin trat nur der sonst bei Gesunden festzustellende
feinschlagige ^physiologische' 1 Tremor in den nicht rigiden Beinen auf.
In Gemeinschaft mit Privatdoz. Dr. Burger in der rnediz. Klinik ofter
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Beobachtungen beim akinetisch-hypertonisclien Symptomenkomplex. 199
wiederholte Untersuchungen mit dem Edelmannschen Saitengalvano-
meter unter Anwendung von Nadelelektroden ergaben stets das Vorhan-
densein von Aktionsstromen in den rigiden Muskeln im Anschlub an eine
Dehnung oder wahrend einer kataleptischen Haltung, aber ohne Andeu-
tung rhythmischer Schwankungen, wie sie zuweilen in anderen Fallen be-
obachtet wurden und auf einen latenten Tremor hindeuten. Bemerkens-
werterweise ahnelte dieser Fall infolge des Fehlens des Zitterns sehr an
katatonische Zustande. Da in den andern Fallen der Tremor stets durch
Sympathikusreizmittel zu verstarken bzw. auszulosen ist, hier aber
nicht, ist man versucht, an eine starkere Schadigung des Sympathikus-
zentrums im Zwischenhirn im vorliegenden Fall zu denken. Gewisse
Symptome erwecken auch tatsachlich den Verdacht auf partielle Aus-
falle des Sympathikusgebietes. So waren die linke Lidspalte und Pupille
dauernd enger wie die rechte, so dab aueh von anderer Seite an eine
Sympathikuslasion gedacht wurde. Auf Kokain trat eine Erweiterung
der Pupille ein. Letzteres wiirde aber nicht unbedingt gegen das Vor-
handensein einer Sympathikuslahmung sprechen (Bumke). Eine
sichere Entscheidung dariiber war aber wegen des Vorhandenseins
anderweitiger Augenmuskellahmungen und Pupillenstorungen, beson-
ders links, und einer doppelseitigen leichten Ptosis nicht moglich. Bei
der Adrenalinprufung trat deutlich eine Vasokonstriktion ein, wie in
andern Fallen auch. Die sympathischen Gefabnerven waren also er-
regbar, ob allerdings auch im Gebiet der Arme, war nicht sicher festzu-
stellen. Sonstige Symptome einer Sympathikuslahmung oder -hypotonic
fehlten. Aber der Fall weicht auBer durch das Fehlen des Zitterns auch
sonst erheblich, besonders durch die Langsamkeit seiner Bewegungen.
ferner die starke Fettentwicklung, die auf eine Hypophysenschadigung
hindeutet, wie sie Stiefler u. a. beschrieben, von den vorigen ab. Be-
merkenswert ist es auch, dab bei ihm die Unauslosbarkeit des Tremors
durch Adrenalin mit dem Fehlen jeglichen sonstigen Tremors in den
rigiden Muskelgebieten einhergeht. Man mub deshalb ebenfalls wieder
an gewisse Beziehungen zwisclien dem Tremor und dem Sympathikus
denken. — Es gibt also demnaeh akinetisch-hypertonische Falle ohne
jedes Zittern in den rigiden Muskeln, sie scheinen aber durch ander-
weitige Symptome von den iibrigen Fallen ausgezeichnet und ziemlich
selten zu sein.
Den Ansichten Franks, der die Rigiditat bei der Paralysis agitans
als parasympathisch-autonom bedingte Tonussteigerung, als eine
Hyperfunktion des ,,Tonussubstrates“ auffabt, haben andere Autoren
auf Grund gewisser Feststellungen widersprochen, die scheinbar den
tetanischen Cbarakter dieser Rigiditat und auch derjenigen einer Reihe
weiterer Spannungsanomalien der Willkiir mu skein wie der hypnotischen
und katatonisehen Katalepsie, der Enthirnungsstarre, dartun, und zwar
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
200
W. Runge:
Digitized by
sind dies hauptsaehlich die Ergebnis.se der Untersuchungen auf
Aktionsstrome.
So fand Reh n nnter Anwendung einer neuen Methode, namlich
von Nadelelektroden bei 5 Fallen striarer Erkrankung oseillierende
Aktionsstrome, wie sie bei rein tetanischer Dauerinnervation festzu-
stellen sind, Weigelt (ohne Stichelektroden) im ,,kataleptisehen Sta¬
dium der Encephalitis epidemica“ oseillierende Aktionsstrome, die aller-
dings minimal waren und periodisch schwankten, v. Weizsacker
solche bei der Paralysis agitans und sonstigen amvostatischen Syn-
dromen, wahrend sie iiltere Untersuchungen bei der Paralysis agitans
hatten vermissen lassen. Die neueren Befunde wiirden, wie auch diese
Autoren betonen, gegen einen echten und reinen tonischen Charakter
der Rigiditat sprechen, da beim reinen Tonus keine oscillierenden
Aktionsstrome zu erwarten sind. Allerdings hat Frank in einem
spateren Vortrag im Hinblick auf durch gewisse Gifte und die Ent-
hirnungsstarre hervorgerufene Muskelkontrakturen gemeint, da 8
nicht jeder diskontinuierliche Aktionsstrom gegen die tonische Natur
einer Muskelaktion spreche, sondern diese auf bei jenen Giften vor-
kommende und zuweilen latente Fibrillenzuckungen zuriickzufuhren
seien, wahrend doch eine Tonussteigerung des Sarkoplasmas vorhanden
sei. Untersuchungen, die von Burger und mir in der hies. med. Klinik
mit dem Saitengalvanometer vorgenommen wurden, ergaben in 4 meiner
Falle bei Anwendung von Platin-Nadelelektroden, die durch eine
von Burger angegebene spater mitzuteilende Methodik bis auf eine
kleine Endstrecke zur Ausschaltung fehlerhafter Stromschwankungen
isoliert worden waren und in die Muskeln eingestochen wurden, im Biceps,
sobald eine Rigiditat in ihm erzeugt worden war (z. B. naeh Dehnung
oder in hangender Haltung des Arms usw.), oseillierende Aktionsstrome,
nicht aber in Ruhelage des unterstutzten und gebeugten Armes. Diese
Aktionsstrome sind durch das vielfach vorhandene leichte und offer
fast latente Zittern allein nicht hervorgerufen, denn in dem Fall H. ohne
Zittern und ohne Tremor be reitschaft waren ebenfalls Aktionsstrome
nachzuweisen, sobald der Muskel sich im Zustand der Fixationsrigiditat
befand. Ob, wie Frank es meint, latente Fibrillenzuckungen diese
oscillierenden Aktionsstrome erzeugen, laBt sich nicht mit Bestimmt-
heit feststellen, da grade im Fall H. von solchen Zuckungen nie etwas
zu bemerken war. Unsere Versuchsergebnisse bestatigen also die Er-
fahrungen der obengenannten Autoren und zeigen, daB die Rigiditat
und Spannungsanomalie speziell in den akinetisch-hypertonischen
Fallen nicht einer ausschlieBlich autonom bedingten Hyperfunktion
des Tonussubstrates entspricht, sondern zum mindesten eine tetanische
Erregung gleichzeitig vorhanden ist. Tmmerhin muB man aber, da
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Beobachtungen beim akinetisch-hypertonischen Syniptomenkomplex. 201
grade die pharraakologischen Experimente auf Beziehungen des Zit-
terns und der Rigiditat zum Sympathikus und Parasympathikus hin-
zuweisen scheinen, daran denken, daB nebeneinertetanischenErregung
auch eine echte Tonussteigerung vorhanden ist, die von ersterer iiber-
deckt wird und sich durch unsre heutigcn Mittel nicht nachweisen laBt.
Diese Auffassung wiirde sich also derjenigen Franks nahern, wenn wir
bisher auch noch nicht sicher wissen, ob ausschlieBlich die Fibrillen-
erregung Ursache der tetanischen oscillierenden Aktionsstrome ist.
Lewy glaubt gleichzeitig neben den oscillierenden Aktionsstromen eine
Dauerabweichung der Galvanometersaite feststellen zu konnen, die
er auf einen Strom zuruckfiihrt, der als Ausdruck des tragen Muskel-
anteils anzusprechen sei. V. Weizsacker bestreitet aber die Berech-
tigung zu dieser Deutung. Man konnte nun auch annehmen, daB in
<ler Ruhelage des entspannten Muskels, wahrend der, wie unsere Ver-
suche ergaben, keine Aktionsstrome vorhanden sind, und wahrend der
nach Ansicht Foersters eine Steigerung des ,,plastischen formgeben-
<lenTonus“ besteht, die sich durch reliefartiges Vorspringender Muskel-
bauche und Sehnen und harte Konsistenz derselben kundgibt, eine
echte und reine Tonussteigerung unter ausschlieBlicher Beteiligung
des ,,tragen“ Muskelanteils vorhanden ist. Es schien jedoch in meinen
Fallen und besonders in den auf Aktionsstrome untersuchten die
Steigerung des ,,plastischen formgebenden Tonus“ nur dann hervor-
zutreten, wenn die Muskeln leicht gedehnt wurden, z. B. die Extremi-
taten herunter hingen, nicht aber bei Annaherung der Insertionspunkte
und volliger Entspannung. Im ersteren ]fall waren wie erwahnt auch
Aktionsstrome nachzuweisen. Der Beweis, daB es sich bei dieser Steige-
rung des plastischen Tonus uni eine reine tonische Erscheinung handelt,
ist also bisher nicht erbracht. —Ahnliche, einer ausschlieBlich vegetativ
bedingten Entstehung der extrapyramidalen Rigiditat widersprechende
Ergebnisse zeitigten ferner einige Untersuchungen des
Kreatininstoffwechsels.
Bekanntlich stellten Pekelharing und Hoogenhuyze fest, daB
bei tonischer Erregung der Kreatin- und Kreatiningehalt im
Muskel vermehrt ist, Riesser, daB die Kreatinmenge im Muskel,
der nach andern Untersuchungen die Harnkreatininmenge ent-
spricht, bei Verstarkung des Tonus ansteigt und daB die Kreatinmenge
Ausdruck der die Muskulatur treffenden zentralsympathischen tonischen
Impulse ist. Die Deutung der Versuchsergebnisse von Pekelharing
und Hoogenhuyze wurden von Burger angezweifelt, da es sich nach
den Aktionsstromuntersuchungen Einthovens bei der Enthirnungs-
starre um eine tetanische, nicht um eine tonische Kontraktion handle.
Auch die Feststellung Kahns, daB sich in den bei der Umklammerung
Archlv fttr Psychiatric. Bd. 07. 14
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
202
W. Runge:
Digitized by
Kreatinin-
Name und Alter:
1. Br. 30 J.
2. B. 19 J.
3. Hr. 21 J.
4. Hr. 50 J.
Korpergewicht:
56,3 kg
50,0 kg
67,5 kg
69,3 kg
Muskulatur:
Differenz des stark-
sten Oberarmumfangs
bei Beugung und Strek-
mittclkraftig
kriiftig
mittclkraftig —
kriiftig
mittelkraftig
kung des Vorderarms:
2 l /j cm i
4*/« cm
3*/* cm
3 cm
Tremor:
leicht im linken
Bein
leicht
fehlt
|
gering
Rigiditat:
in den o. E. miiliig
1. > r. in den u.
E. und Nacken-
muzkuiatur stark.
allgemein und
stark
i
in den Armen stark
r. > 1., in den Bei-
nen keine
mittelstark in den
Beinen u. linken
Arm
Bewegungsarmut:
Ocsamtkreatinin-
allgemein u. stark
allgemein und
stark
mittel
1
mittelstark u. all-
gemcin
menge:
0,570
0,440
1,478
1,091
Gesamtst ickstoff:
3,187
2,953
10,383
7,542
Krcatininkoeffizient:
(= die In Milligramm
ausgedriickte Menge
des pro Kilogramm
Korpergewlcht aus-
geschiedenen Harn¬
kreatinins)
Kreatininstickstoff-
10,2
|
1
1
8,8
1
21,9
1
1
1
1
15,7
I
|
quotient:
7,1
5,8
5,5
5,0
des Wei be he ns tonisch gespannten Muskeln des mannlichen Frosches
eine Kreatinverminderung findet, trotzdem das Fehlen von Aktions-
stromen auf rein tonische Zustande hinweist, spricht scheinbar gegen
die Feststellung von Pekelharing und Hoogenhuyze 1 ). Walter
und Genzel konnten in 5 vorgeschrittenen Fallen von Paralysis agitans
eine Vermehrnng des mit deni Urin ausgeschiedenen Kreatinins nicht
nachweisen und schlossen daraus, daB die Franksche Annahme von
dem Zustandekommen der Rigiditat durch eine Stoning der para-
sympathischen Innervation nicht bestatigt werden konne. Dankens-
werterweise hat Burger an der hies. med. Klinik bei 7 meiner Falle
von amyostatisch-rigidem Syraptomenkomplex nach epidemischer
Encephalitis und in einem Fall von Paralysis agitans sine agitatione
raeines Materials Kreatininbestimmungen irn Urin vorgenommen, und
zwar in jedem Fall nach 3 tagiger vollig fleischfreier Diat jedesmal 3 Tage
hintereinander in der 24 stiindigen Urinmenge. Bei Beurteilung der
Resultate muB die friihere Feststellung Burgers beriicksichtigt werden,
daB die Menge des ausgeschiedenen Harnkreatinins bei Abwesenheit von
Muskelstoffwechselstorungen in eincra gewissen Verhaltnis zum Grade
') Neuerdings fand Riesser nach einer Mitteilung, die nicht mehr beriick-
sichtigt werden konnte. keine Kreatinverminderung, sondern unveranderte Krea-
tinmengen. — Pie eingeliende Arbeit von Walter und Genzel (Monatsschr. f.
Psychiatr. u. Neurol. 52. H. 2.) konnte ebenfalls keine Beriicksichtigung mehr
finden, sondern nur Walters Diskussionsbemerkung (Jahresvers. d. Ges. deutscher
Nervenarzte 1.. IX. 21).
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Beobachtungen beim akinetisch-hypertonischen Symptomenkomplex. 203
untersuchungen.
5. Sell. 26 J.
6. Je. 30 J.
7. Ril. 34 J.
8. Jii. 37 J. |
55,6 kg
63,3 kg
62,5 kg
60,0 kg
schwach
mittelkraftig
1 i
mittclkriiftig
iniiOig
l*/s cm
2'/t cm
9
?
fehlt meist
gering bei inten-
dierter Haltung
zeitweisc starker
Ruhetremor der
Belne
maBiger Ruhe¬
tremor in den
obern Extremi-
taten
uur in den Armen nur in den Armen allgemein, in den.
niiiBig in den Bei-
geriug
gering r. = 1.
1
Beinen stark
uen, spurweise im
llnken Arm
goring
gering, nur In den
Armen
mittel
!
i stark allgemein
j Normale Mlttelwerte
1,365
t ,807
1,874
1,359
• g
7,257
5,425
6,896
7,415
24,83
28,5
1
29,9
|
)
22,6
20
7,4
1
14,0
1
1
1
11,1
.4
5-7
der Gesamtentwicklung der Muskulatur steht, und zwar derail, daB
normalerweise bei kraftiger Muskulatur stets eine hohere, bei geringer
eine geringere Ausscheidung von Kreatinin zu erivarten ist. Die Ent-
wicklung der Muskulatur muB also bei derartigen Untersuchungen in
Rechnung gesetzt werden. Nach Burger findet sich bei regressiven
Prozessen im Muskel eine Steigerung, bei abgelaufenen Prozessen mit
Verrainderu ng der Muskelmasse eine Verminderung der Kreatininaus-
scheidung. Er fand ferner bereits in gewissem Widerspruch zur Pekel-
haringschen Theorie bei Hypotonie (Tabes, postdiphtherischer Neuritis)
eine Erhohung der Kreatininausscheidung, desgleichen auch bei Pyra-
midenspasmen, also sicher auch bei nicht echt tonischer Erregung des
Muskels. Die Ergebnisse der Untersuchungen an den 8 Fallen sind aus
obiger Tabelle zu ersehen.
Die Differenz des Oberarmu infanges bei starkster Beugung und
Streckung des Vorderarms ist nach Biirger angegeben, um ein Urteil
iiber die Entwicklung der Muskelmasse zu erhalten. Die Differenz ist
um so groBer, je kraftiger die Muskulatur entvvickelt ist. Der Kreatinin-
koeffizient ist die in Milligramm ausgedriickte Menge des pro Kilogramm
Korpergewicht ausgeschiedenen Harnkreatinins, der Kreatininstick-
Kreatininstickstoff
stoffquotient ist = - —-———-.— —-— • 100.
Gesa mts tic kstof f—Kreatininstickstoff.
Die Untersuchungen ergaben danach in den 8 Fallen durchaus ver-
schiedene Resultate: dreimal war der Kreatininkoeffizient ein deutlich
14*
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
204
W. Runge:
Digitized by
gegcniiber derNorm erniedrigter (Fall 1,2,4) bei mittelkraftiger bis kraftig
entwickelter Muskulatur, zweimal war er etwa der Norm entsprechend
(3 und 8) bei schwacher und bei mittelkraftiger bis kraftiger Muskel-
entwicklung, dreimal erhoht (Fall 5, 6, 7) bei schwach- bis mittelkraftig
entw'ickelter Muskulatur. Die Zahlen zeigen also eine deutliche Unab-
hangigkeit von der Muskelentwicklung. Vor allem ist ihre GroBe
aber auch unabhangig von der Starke der Rigiditat. Ein
niedriger Kreatininkoeffizient bei mittlerer bis starker Rigiditat fand
sich in Fall 1, 2 und 4, ein hoher bei geringer Rigiditat in Fall 5 und 6,
ein hoher bei allgemeiner, aber nur in den Beinen starker Rigiditat in
Fall 7. Etw r a normale Zahlen weisen der tremorlose Fall H (3) mit
ziemlich starker Arm- und Nackenrigiditat sow'ie Fall 8 mit rclativ
geringer Rigiditat auf. Also trotz vorhandener Rigiditat kann
die Kreatininausscheidung vermindert oder normal 3ein.
Andererseits kann sie in manchen Fallen auch erhoht sein,
ohne daB eine starke Muskelentwicklung, Fieber, nachw'eisbare degenera¬
tive oder destruierende Muskelprozesse diese starke Ausscheidung be-
dingt haben konnten. Worauf nun die Verminderung und die Vermehrung
der Kreatininausscheidung in manchen rigiden Fallen beruht, lieB sich
bisher nicht feststellen. Es fallt auf, daB in den drei Fallen mit niedrigem
Kreatininkoeffizienten die Bewegungsarmut eine mittelstarke und
starke bis allgemeine war, in jenen mit hohem Kreatininkoeffizienten,
bis auf Fall 7, eine w'enig ausgesprochene und partielle, daB in dem
Fall 7 mit hohem Kreatininkoeffizienten ein zeitweiliger starker Ruhe-
tremor der Beine bestand. Man konnte daraus schlieBen, daB die Krea¬
tininausscheidung im umgekehrten Verhaltnis zur Starke der Bewegungs¬
armut steht, oder daB sie wie in Fall 7, wo sie trotz starker Bewegungs¬
armut hocli ist, mit dem Ruhetremor in Zusammenhang steht. Aber
dies sind nur sehr vage Vermutungen, da der ,,Grad“ der Bewegungs¬
armut sich iiberhaupt nur ganz oberflachlich und schatzungsweise fest-
stellen laBt.
Zu denken ware noch daran, daB etw r a eine starkere Parasympathikus-
erregung die Herabmindcrung der Kreatininausscheidung in den drei
Fallen verursacht hat, da nach Riesser das das Parasympathikus-
zentrum erregende Pikrotoxin keine Vermehnmg, einmal sogar eine
Verminderung der Kreatinmenge im Muskel hervorrief und da die
Muskelspannung bei der Umklammerungshaltung des Frosches, die
wie gesagt nach Kahn eine Kreatininverminderung zeigt 1 ), auch para-
sympathisch bedingt sein kann. Es ist in dieser Hinsicht auffallend,
daB grade die drei Falle mit verminderter Kreatininausscheidung 1,
2 und 4 eine mittelstarke bis starke Rigiditat, daB die 2 Falle mit ver-
mehrter Kreatininausscheidung (5 und 6) eine geringe Rigiditat auf-
i ) Siehe aber Aninerkung Seite 202.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Beobachtungen beim akinetisch-hypertonischen Syniptonienkomplex. 205
weisen. Der Fall 7 mit Vermehrung der Rreatininausscheidung zeigte
eine starke Rigiditat. Die Vermehrung konnte aber hier vielleicht mit
dem zeitwciligen starken Ruhetremor der Beine in Zusammenhang
gebracht werden, da Schultz bei Muskeltatigkeit eine Vermehmng
der Kreatininausscheidung sail. Aus demselben Grund kann sich in
Fall 3 mit ziemlich starker, aber nur auf die Arme und Nacken be-
schrankter Rigiditat und ohne jeden Tremor die Kreatininausscheidung
in normalen Grenzen gehalten haben. Ebenso ware noch die wenig ver-
mehrte Kreatininausscheidung in Fall 8 mit maBigem Ruhetremor
der Arme und geringerer Rigiditat zu erklaren. Wanim aber die Aus-
scheidung in den erwahnten Fallen 5 und 6 mit geringerer Rigiditat
ohne starkeren Tremor vermehrt ist, ist nicht zu sagen. Im Hinblick
auf die Ergebnisse Riessers miiBte hier an eine stiirkere Sympathikus-
erregung gedacht werden, aber klinisch zeigte sich nicht einmal ein
starkerer Tremor als in den iibrigen Fallen. Die Erkliiningsversuche
haben also noch etwas recht Unbefriedigendes. Soviel kann man aber
sagen, daB ein Beweis fur eine rein tonische Natur der Rigiditat aus
dem Ergebnis der Kreatininuntersuchungen nicht abgeleitet werden
kann. Al)er auch das Mitvorhandensein einer eventuell parasympathisch-
bedingten Tonussteigerung kann nicht ausgeschlossen werden. Ob die An-
schauungen dtr erwahnten Autoren iiber Zusammcnhange zwischen
Tonus und Kreatininausscheidung aufrecht erhalten werden konnen,
sei im ubrigen dahingestellt.
Es sind nun in derartigen amyostatischen F&llen, wie auch von
anderen Autoren mehrfaeh hervorgehoben wurde, sicher vegetativ
bedingte
sekretorische und vasomotorische Storungen
vorhanden. Speziell Frank stiitzt seine Ansichten iiber die Paralysis
agitans zum Teil auf diese Storungen, die er samtlich als Erschei-
nungen einer Reizung im kranial-autonomen parasym-
pathischen Nervensystem auffaBt. Eine Reihe solcher Storungen
lieB sich auch in einem Teil meiner Falle nachweisen. In 22 von ihnen
wurde genauer auf die SchweiB-, Speichel- und Talgdriiscn-
sekretion geachtet:
SchweiB-
sekretion
Speichel-
sekretion
Talgdriisen-
sekretion
verruehrt bei
5
i
16
8
maBig bei
3
—
—
auffallend gering bei
4
1 _
i
4
Am haufigsten war also eine Vermehru ng der Speichelsekre-
tion nuchzu weisen. RegelmaBig handelte es sich da bei um ziemlich
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
206
W. Runge:
Digitized by
diinnfliissigen Speichel. Versuche, diese Speichelsekretionsstorung
als nur eine scheinbare durch Storung der automatischen Schluck-
bewegungen infolge von Muskelrigiditat oder striar bedingten Inner-
vationsstorungen der Muskeln oder von Muskelschwache anzusehen,
kbnnen im Hinblick darauf als widerlegt gelten, daB es Falle mit der
gleichen allgemeinen Starre und Bewegungsarmut gibt, die keinen
SpeichelfluB haben und daB auch die Sekretion anderer Driisen, der
SchweiB- und Talgdriisen oft gestort ist. Die Vermehrung der Speichel-
sekretion ist die regelmaBigste aller dieser Storungen und sicher haufiger
vorhanden, als sie bei oberflachlicher Untersuchung festzustellen ist,
da die iiberwiegende Zahl aller derartiger Kranken auf ausdriickliches
Befragen eine solche Sekretionanomalie zugibt. Eine Hyperhidrosis
fand sich in 8 Fallen. Einmal wurde nachgewiesen, dali infolge der
profusen SchweiBe die Urinsekretion nieist vermindert war. Bisweilen
zeigte sich im Gesicht halbseitiges Schwitzen. Nicht selten trat die
Hyperhidrosis bei geringen kor])erlichen Anstrengungen oder unmittel-
bar nach dem Essen zutage. Neben Fallen mit SchweiBvermehrung
fanden sich vier andere mit einer offenbaren Verminderung der
SchweiBsekretion, und zwar nicht allgemein, sondern speziell im Ge¬
sicht. Besonders lieB sich das auch im Pilocarpinversuch feststellen,
bei dem auf eine Dosis von 0,01 Pilocarpin subcutan, nach der alle
iibrigen Kranken mehr oder minder starken SchweiBausbruch zeigten,
jegliche SchweiBsekretion im Gesicht ausblieb, wahrend sie am ubrigen
Korper ziemlich crheblich war. Im Gesicht stellte sich nur eine starke
Rotung und Hitze ein. Nach Meyer und Gottlieb soli das gelegentlich
auch normalerweise vorkommen, aber hier hing es doch offenbar mit
einer Unerregbarkeit bzw. Untererregbarkeit der parasympathischen
sekretorischen SchweiBnerven zusammen, da sich hier, wie in zwei andern
Fallen auBerdem eine starke Abschilferung und Abschuppung und
Trockenheit der Haut teils nur im Gesicht, teils auch am ganzen Korper
zeigte, wohl bedingt durch eine krankhafte Herabsetzung der SchweiB-
und Talgdriisensekretion.
Bei weiteren in 10 Fallen vorgenommenen Pilocarpinversuchen
zeigte sich viermal eine auffallend starke, sechsmal eine maBige bis
mittelstarke SchweiB- und Speichelabsonderung, also nur viermal lag
eine durch Pilocarpin nachweisbare erheblich gesteigerte Erregbarkeit
der parasympathischen sekretorischen Nerven vor. Eine partielle Er-
regbarkeitssteigerung der speichelsekretorischen Nerven ist alter bei
der hiiufigen Vermehrung der Speichelsekretion noch weit ofter anzu-
nehmen. In den erwahnten Fallen mit Sekretionsverminderung und
fehlender Pilocarpinreaktion scheint eine Unterregbarkeit bzw. Hem-
mu ng der SchweiBnerven vorzuliegen. Bemerkenswert ist es nun, daB
diese Ober- bzw. Untererregbarkeit oft nicht alle, sondern nur eine oder
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Beobachtungen beim akinetiscli-hypertonischen Symptomenkomplex. 207
die andere Driisenart gesondert betraf. Das spricht gegen eine allge-
meine Erregbarkeitssteigerung oder -Herabsetzung im parasympa-
thischen System. So kam es auch z. B. in den erwahnten vier Fallen zwar
nicht zu einer SchweiBsekretion durch Pilocarpin, wohl aber zu einer
Vasodilatation mit Rotung und Hitze im Gesicht, die auf eine Reizung
der Vasodilatatoren, der Endigungen der parasympathischen Nerven,
deren Vorhandensein iibrigens speziell fiir das GefaBgebiet des Kopfs
nachgewiesen ist (L. R. Muller), hindeutet. — Die pathologisch ge-
steigerte Tatigkeit eines andern Driisensystems der Talgdriisen
ist neuerdings von T. Cohn, v. Sarbo, F. Stern u. a. in den akinetisch-
hvpertonischen Fallen bei Encephalitis beschrieben worden. Ich beob-
achtete sie in Form eines abnormen Fettglanzes bei 8 meiner Falle,
viermal schien die Talgdrusensekretion herabgesetzt. Da bisher iiber
die Innervation dieser Drtisen nichts bekannt ist, lalit sich iiber die Art
und den Sitz der Stoning, die die Sekretionsanomalien bedingt, nichts
Sicheres sagen. Wir diirfen aber im Hinblick auf die iibrigen Anomalien
vielleicht ebenfalls eine Storung im parasympathischen System ver-
muten, zuraal nach Pilocarpininjektionen schon vor der Speichel-
sekretion eine deutliche Talgdrusensekretion in manchen Fallen beo-
achtet werden konnte.
DaB die reichliche Speichel- und SchweiBsekretion hier, wie oben
schon vorausgesetzt, mit einer Erregung des parasympathischen Systems
zusammenhangt, ist nach dem Stand der heutigen Forschung mit
Sicherheit anzunehmen, da erstens bekanntlich bei Reizung dieses
Systems klarer dunnfliissiger Speichel wie auch in diesen Fallen spontan
entleert wird, zweitens Pilocarpin die Sekretion noch mehr steigert,
Atropin, in geniigender Menge gegeben, die Sekretionssteigerung restlos
zu beseitigen vermag, was sich iibrigens in einigen meiner Falle wegen
der Beseitigung des erheblichen Fliissigkeitsverlustes von sehr giinstigem
EinfluB auf den Gesamtzustand erwies. Abgesehen nun davon, daB die
/uweilen herabgesetzte Sekretion vielleicht auf eine Untererregbarkeit
des parasympathischen Systems hindeutet, und davon, daB die t)ber-
erregbarkeit nicht selten nur einzelne Abschnitte des Parasympathikus
betraf, fehlten fast stets oder immer andersartige auf eine solche Cber-
erregbarkeit hindeutende Momente, wie Hypersekretion der Tranen-
driisen, die selten vorhanden war, Pupillenverengerung, Bradykardie;
auch eine Hyperaciditiit machte sich nicht bemerkbar. Einmal wurden
voriibergehend Erscheinungen beobachtet, die auf einen spastischen
Ileus hinwiesen und durch Atropin beseitigt wurden. Auch hier kann
man eine Storung der parasympathischen Innervation als Ursache an-
nehmen. Die Dingo liegen also so, daB wir in eineru Teil der F&lle eine
gesteigerte Drusentatigkeit, besonders der Speicheldrusen findcn, als
deren Ursache wir eine Erregung im parasympathischen System (oder
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
208
VV. Runge:
Digitized by
Enthemmung?) annehmen konnen. Aber diese Erregung tietrifft nie
das gesamte parasympathische System, immer nur einen Teil des-
selben. Auch fehlt die gesteigerte Drusentatigkeit in einem kleineren
Teil der Falle und in einigen laBt sich sogar eine partielle Herabsetzung
der Sekretion feststellen
Es bliebe schlieBlich noch tibrig auf einige Erscheinungen hinzu-
weisen, die vasomotorischer Natur sind. Auf die nicht selten auch
in meinen Fallen nachzuweisende lebhafte Dermographie sei nicht
weiter eingegangen, da diese auch sonst oft vorkommt. In einigen Fal¬
len bestanden andersartige vasomotorische Erscheinungen, so zweimal
ein Odem einer Hand und einrnal eine eigenartige rotlich livide Ver-
fiirbung der Finger. SchlieBlich sei erwahnt, daB von 15 mannlichen
Fallen 3 einen auffallend niedrigen Blutdruck von 80—95 mm
Hg (Riva-Rocci) hatten. Sichere Schliisse wird man aus diesem Befund
bei dem heutigen Stand unserer Kenntnisse nicht ziehen konnen. Man
konnte auch hier an eine parasympathisch bedingte Reizung der Vaso-
dilatatoren als Ursaohe der Blutdrucksenkung denken. Aber ebensowohl
kame eine Herabsetzung des Tonus des Sympathikus, der Vasokonstrik-
toren in Betracht. Nach Glaser (s. L. R. Muller) ist es auch heute
noch anatomisch durchaus ungekliirt, ob die peripherischen vasodilata-
torischen Nervenfasern ein eigenes Zentrum im Gehirn und eigene lange
Bahnen im Riickenmark haben, was doch angenominen werden miiBte,
wenn wir in unseren Fallen eine durch die Erkrankung im Zwischen-
hirn bedingte Erregung der vasodilatatorischen Nerven als Ursache des
niedrigen Blutdruckes annehmen wollen. Glaser halt es fiir moglich,
daB von einem allgemeinen Vasomotorenzentrum aus anregende Ein-
fliisse nach dem einen und zugleich hemmende nach dem andern Va«o-
motorensystem gelangen. Jedenfalls laBt sich heute nicht mit Bestimmt-
heit sagen, daB die Blutdrucksenkung durch Parasympathikuserregung
bedingt ist.
Angesichts der Wirkung des Adrenalins auf den Tremor wird man
weiter fragen, ob sonstige Symptomc einer Erregungssteigerung des
Sympathikus in unseren Fallen vorhanden sind. Hin und wieder wurden
in einzelnen Fallen auffallend weite Pupillen beobachtet, gelegentlich
auch einrnal eine Tachykardie, die vielleicht als Zeichen einer Sympathi-
kotonie gedeutct werden konnten. Sonstige Zeichen derselben wie
Hypertonie, Glykosurie fehlten. Relativ haufig konnte ich eine Aniso-
korie feststellen, die bei Abdunkelung deutlicher wirde und deren
Vorhandensein auch mit dem binocularen Mikroskop und dem Pupillo-
meter bestatigt wurde. In alien den Fallen, bei denen sie konstatiert
wurde, waren die Rigiditat und die andern motorischen Symptome in
der einen Korperhalftc starker entwickelt. Das untersuchte Material
geniigt aber nicht, um Beziehungen zwischen der Pupillendifferenz und
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Beobachtungen beim akinetisch-hypertonischen Symptomenkomplex. 209
der Differenz der motorischcn Symptome bzw. der Erkrankung beider
Hirnhalften anzunehmen, zumal Pupillendifferenzen nicht nur bei
andern Gehirnerkrankungen (ohnc sonstige Oculomotoriusstorung)
haufig sind, sondern bekanntlich auch bei angeblich rein funktionellen
Fallen vorkomraen (s.Burake). Wenn sich die Haufigkeit der Pupillen-
differenz in den akinetisch-hypertonischen Fallen ohne glcichzeitige
Anwesenheit sonstiger Oculomotoriusstorungen wie in meinen Fallen
hestatigen sollte, mufite man aber auch an Storungen inderSympathikus-
innervation des Dilatator iridis als Ursache der Differenz denken. In
dieser Hinsicht ist es bemerkenswert, daB, allerdings nur vereinzelt, in
meinen Fallen eine Adrenalinmydriasis (durch Eintraufelung von
dreimal 2 Tropfen der Losung 1 : 1000 in 5 Minuten) erzeugt werden
konnte. — Die Zeichen einer Sympathikuserregung sind also in den
akinetisch-hypertonischen Fallen ganz wesentlich sparlicher als die
der Parasympathikuserregung und noch recht fragwurdig und unbe-
stimmt.
Die Storungen in den beiden vegetativen Systemen in den akinetisch-
hypertonischen Fallen wiirden, worauf bereits Frank ftir den Para-
svmpathikus bei der Paralysis agitans hinweist, mit den iibrigen Ver-
suchsergebnissen, nach denen die Anomalien des Spannungszustands
der Muskeln gewisse noch nicht voll gekliirte Bezichungen zu jenen
Systemen haben, in gewissem Einklang stehen. Aber bisher kann die
mangelnde tlbereinstimmung zwischen der RegelmaBigkeit im Vor-
handensein der Spannungsanomaben und der UnregelmaBigkeit der
Storungen des vegetativen Systems sowie dcren sehr haufiger Beschriin-
kung auf kleine Gebiete dieses Systems nicht erklart werden.
Wie ausgefuhrt, scheinen sich die erwahnten Bezichungen zwischen
den Spannungsanomalien der Muskeln und vegetativem System auf die
beiden Untergruppen dieses Systems zu erstrecken. Es ist aber aus-
zuschlieBen, daB die Rigiditat und der Tremor nur auf rein vegetativem
Wege zustande kommen, da die Ergebnisse der Aktionsstrom- und
Kreatininuntersuchungen dagegen s])rechen. Man hat nach allem den
Eindruck, daB es sich uni kombiniert tetanische und tonische
Zustande handelt. Damit kommen wir zu dem gleichen SchluB,
wie Riesser in seiner neuesten Veroffentlichung iiber die Ergebnisse
der Muskelpharmakologie. Dieser Forscher gelangte auf Grund der
bisherigen Untersuchungen und eigner Vcrsuche zu der Ansicht, daB die
Bewegung der Skelettmuskeln niemals reine Tetani, sondern das F-r-
gebnis von Tetanus plus Tonus sind 1 ). Bei den Spannungsanomalien der
Muskulatur bei der Paralysis agitans, der Katatonie, der Hypnose, die
') Ahnlich auch Frank, Nothmann u. Hirsch-Kaufmann in ihrer
letzten nicht mehr beriicksichtigten Veroffentlichung (Klin. Wochenschr. 1922.
Nr. 37).
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
210
W. Runge:
Digitized by
ohne Ermudungserscheinungen, ohne Stoffwechselerhohung und Ver-
mehrung der Warmebildung einhergehen, fand Rehn, wie erwahnt,
neuerdings Aktionsstrome tetanischen Charakters, die sich aber quan-
titativ durch geringere Intensitat der EinzelstoBe von denen der nor-
malen Willkiirkontraktion unterscheiden sollen. Riesser nimmt
deshalb Tetani von geringerer Intensitat bei stark erhoh-
tem Tonus in diesen Fallen an, also tonisch modifizierte
Tetani. Der Tonus hat sich hier gegeniiber dem der norraalen Muskeln
verstarkt, die tetanische Erregung ist in dem gleichen MaBe zuriick-
gegangen. Also eine Kombination von Tetanus und Tonus sieht auch
Riesser in diesen Zustanden. Auch Frank wies bereits darauf hin,
daB nicht jeder Aktionsstrom gegen die tonische Natur einer Muskel-
kontraktion spreche. Die Anschauung von der Verstarkung des Tonus
bei der Rigiditat gegeniiber dem Tetanus lieBe sich auch mit dem Er-
gebnis dieser Arbeit wohl in Einklang bringen. Jedoch ist bei diestr
Theorie das Vorhandensein eines Tremors bzw. einer Tremor bereitsch aft
nicht beriicksichtigt, das vielleicht auf eine sei es nun indirekt iiber das
Tonussubstrat oder, was wahrscheinlicher ist, direkt vom Zentralorgan
aus erzeugte eigenartige Fibrillenerregung hinweist, die einerseits zum
Sympathikus, andererseits zu der Tonusanderung in irgendeiner Bezie-
hung steht.
Bemerkenswert ist es, daB gerade der tremorlose Fall H. eine auBer-
ordentliche Ve p langsamung der Bewegungen zeigte, so daB man bei den
Muskelkontraktionen dieses Falles oft beinahe etwas an diejenigen der
glatten Muskeln erinnert ward. Es erhebt sich die Frage, ob dieTonus-
steigerung hier die tetanische Erregung noch mehr als in den anderen
Fallen iiberwiegt, so daB es zu Treinorerscheinungen nicht mehr koin-
men kann. DaB noch eine tetanische Erregung in diesem Fall vorhanden
ist, zeigen die Aktionsstromuntersuchungen. Ob die Aktionsstrome hier
eine geringere Intensitat der EinzelstoBe als in meinen andern Fallen
aufweisen, was die obige Vermutung bestatigen wiirde, mussen weitere
Untersuchungen zeigen. Auch l>ei Anwendung der Riesserschen
Theorie bleibt noch die Frage offen, inwieweit beide vegetativen Systeme
bei Entstehung der Spannungsanomalien in den akinetisch-hyperto-
nischen Fallen mitwirken.
Die Ergebnisse und Sc h luBfolger ungen aus den Untersuchungen
an den akinetisch-hypertonischen Fallen sind folgende: 1. Bis auf ver-
einzelte Ausnahmen besteht in diesen Fallen eine durch versc-hiedene
Mittel zu demonstrierende und auf verschiedene Weise sich kundgebende
Tremorbereitschaffc, auch dann, wenn die Rigiditat auBerst gering und
mit den gewohnlichen Mitteln kaum nachweisbar ist.
2. In vereinzelten durch wachsartigen Charakter der Rigiditat,
stark kataleptische Erscheinungen und Langsamkeit der Bewegungen
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Beobachtungen beim akinetisch-hypertonischen Symptomenkomplex. 211
ausgezeichneten, besonders stark an katatonische Zustande erinnern-
den Fallen fehltdiese Tremorbereitschaftund jeglicher Tremor in denri-
giden Muskelgruppen und ist auch durch kein Mittel hervorzurufen.
3. AuBer durch Abkiihlung und zuweilen psychische Einfliisse laBt
sich in den unter 1 genannten Fallen durch subcutane Injektion von
Kokain und Adrenalin ein starker Tremor hervorrufen oder der vor-
handene erhebhch verstarken. Dieser Tremor kommt sehr wahrscheinlich
durch Wirkung dieser Mittel auf das Zentralnervensvstem, und zwar
vielleicht, beim Adrenalin ziemlich sicher durch Wirkung auf die Sym-
pathikuszentren im Zwischenhirn zustande.
4. Die gleichen Mittel bewirken bei intramuskularer Applikation
in diesen Fallen eine Herabminderung der Rigiditat, wie auch
schon anderweitig festgestellt wurde.
5. Durch das wahrscheinlich direkt im Muskel angreifeude Atropin
ist bis zu einem gewissen Grade eine Herabminderung der Rigiditat
wie des Tremors zu erzielen.
6. Diese Ergebnisse sprechen unter Berucksichtigung neuerer Er-
gebnisse anderer Autoren sowie der Haufigkeit sonstiger partieller
Storungen des vegetativen Nervensystems in den vorliegenden Fallen
fiir eine Beteiligung dieses Systems an dem Zustandekommen der Rigi¬
ditat wie des Tremors in derartigen Fallen. Auch die Ergebnisse der
Krcatininuntersuchungen sprechen nicht unbedingt dagegen. Jedoch
kann es sich nur um eine Beteiligung, nicht um eine ausschlieBliche Wir¬
kung dieses Systems handeln, da die Ergebnisse der Aktionsstromunter-
suchungen auf tctanische Vorgange hinweisen. Wahrscheinlich handelt
es sich bei den erwahnten Erscheinungen um kombiniert tetanische und
tonische Zustande.
Meinem hochverehrten Chef Herrn Geh. Rat Prof. Dr. Siemerling
spreche ich fiir Cberlassung der Falle, Herrn Prof. Dr. Schittenhelm
fiir die Bereitwilligkeit, mit der er die Aktionsstromuntersuchungen in
der medizinischen Klinik gestattete, ferner Herrn Privatdozenten Dr.
Burger fiir die Kreatininuntersuchungen und die Anleitung und
aktive Teilnahme bei den Aktionsstromuntersuchungen meinen ver-
bindlichsten Dank aus.
Literatur.
Becker: Psychiatr.-neurol. Wochenschr. 23, H. 35/96. — Berger: Zur Patho-
genese des katat. Stupors. Munch, rued. Wochenschr. 1921, Nr. 15. — Bethe:
Die Dauerverkiirzung der Muskeln. Pflugers Arch. f. d. ges. Physiol. 142, 1911. —
A. Biedl: Innere Sekretion. 2. Aufl. Verlag v. Urban und Schwarzenberg 1913. —
Binz: Beitrage zur Kenntnis der Kaffeebestandteile. Arch. f. exp. Pathol, u.
Pharmakol. 9, S. 31, 1878. — De Boer: Die autonome Innervation des Skelett-
niuskeltonus. Pflugers Arch. f. d. gcs. Physiol. 190, S. 42, 1921. — Bornstein
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
212
W. Runge:
Digitized by
und Saenger: Untersuchungen liber den Tremor und andere pathologische Be-
wegungsformen. Dtsch. Zeitschr. f. Xervenheilk. 52, 1, 1914. — Bostroem:
Der amyostat. Symptomenkomplex und verwandte Zustande.— 11. Jahresv. d. Ges.
dtecher. Nervenarzte in Braunschweig, Sitzungsber. v. 16./17. 9. 1921. Zeitschr.
f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 26, S. 483, 1921. — Burger: Beitrage zum Kreatinin-
stoffwechsel. I. Die Bedeutung des Kreatinin-Koeffizienten. Zeitschr. f. d. ges.
exper. Med. 9, H. 4, 1918. — Derselbe: II. Die Kreatin- und Kreatininausschei-
dung bei Storungen des Muskelstoffwechsels. Zeitschr. f. d. ges. exper. Med. 1919.
9, H. 5/6. — Bumke: Handb. f. Neurol, v. Lewandowsky. 2, S. 1107, 1910. —
Eppinger, Falta und Rudinger: Uber Wechselwirkungen der Driisen mit
innerer Sekretion. Zeitschr. f. klin. Med. 66, S. 1, 1908. — Foerster: Zur Analyse
und Pathophysiologie der striiiren Bewegungen. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u.
Psychiatr. 73, S. 1, 1921. — Forster: Paralysis agitans. Handb. d. Neurol, v.
Lewandowsky. 3, 1912. — Frank: Uber Beziehungen des autonomen Nerven-
systems zur quergestreiften Muskulatur. Berl. klin. YVochenschr. 1919, S. 1057. —
Derselbe: Uber sarkoplasmatogene (tonogene) Fibrillenaktion (idomuskulare
Zuckungen,' Sehnenphanomene). Dtsch. Zeitschr. f. Xervenheilk. 71, S. 146,
1921. — Derselbe: Uber den gegenwartigen Stand der Lehre von der Vagotonie
und Sympathicotonie. Dtsch. med. YY’ochenschr. 1921, S. 159 u. 190. — Frank
und Katz: Zur Lehre vom Muskeltonus. Arch. f. exper. Pathol, u. Pharmakol.
90, 1921. — Frank und Notmann: Uber die YY’irkung parasympathikotroper
Mittel auf die quergestreifte Muskulatur des Menschen. Zeitschr. f. d. exp. Med.
24, 1921. — Hober: Lehrbueh f. Physiol. Verb v. Julius Springer, Berlin 1919.—
Hinsen: Cocainwirkung bei stuporosen Paralysen. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u.
Psychiatr. 74, 1922. — Jakob: Der amyostat. Symptomenkomplex und ver¬
wandte Zustande. Ref. a auf d. 11. Jahresvers. d. Ges. dtsch. Nervenarzte. 1921.
Dtsch. Zeitschr. f. Xervenheilk. 74, S. 62, 1922. — Kahn: Beitrage zur Lehre v.
Muskeltonus. Pflugers Arch. f. Physiol. 177, S. 294. — Lewandowsky: Die
zentralen Bewegungsstorungen. Handb. d. Neurol, v. Lewandowsky. Allg. Teil.
1910. — F. H. Lewy: Tonusprobleme in der Neurologic. II. Zeitschr. f. d. ges.
Neurol, u. Psychiatr. 63, S. 256,1921. — Ders.: Die Grundlagen des Koordinations-
mechanismus einfacher YVillkiirbewegungen. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr.
58, S. 310. 1920. — Martini: Uber den Muskeltonus. Miinchn. med. YVochenschr.
1922, S. 558. — C. Mayer und John: Zur Symptomatologie des Perkinsonschen
Fonnenkreises. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 25, S. 62, 1921. — K.
Mendel: Die Paralysis agitans. Berlin 1911, v. Karger. - Meggendorfer:
Uber Encephalitis lethargies, Schlaf und Scopolaminwirkung. Zeitschr. f. Nerven-
hcilk. 68/69, S. 159, 1921. — H. H. Meyer: Zur Physiologie der Muskelbewegung.
Mod. Klinik. 1920, S. 1278. — Meyer-Gottlieb: Experimentelle Pharmokologie
Y’erl. v. Urban und Schwarzenberg. S. 453, 1914. — L. R. Muller: Das vegetative
Nervensystem. Y’erl. v. Julius Springer, Berlin 1920. — Pekclharing und
Hoogenhuyze: Die Bildung des Kreatins im Muskel beim Tonus und bei der
Starre. Zeitschr. f. psych. Chemie. 64, S. 262, 1910. — Rehn: Elektrophysiologie
krankhaft veranderter menschlicher Muskeln. Dtsch. Zeitschr. f. Chirurg. 162,
H. 3 und 4. — Ders.: Uber myoelcktrische Untersuchungen bei hvpnotischer
Katalepsie. Klin. YY’ochenschr. 1922, S. 309. — Ders.: Myoelektrische Unter¬
suchungen bei Striatumerkrankungen. Klin. YY’ochenschr. 1922, S. 673. — Riesser:
Uber Tonus und Kreatingehalt der Muskeln in ihren Beziehungen zur Warme-
regulation und zentralsympathischer Erregung. Arch. f. exp. Pathol, u. Pharmakol.
80, S. 183, 1917. — Ders.: Untersuchungen an iiberlebenden roten und weiflen
Kaninchenmuskeln. Pflugers Arch. f. Physiol. 190, S. 137, 1921. — Ders.:
Neuere Ergebnisse der Muskelpharmakologie. Klin. YVochenschr. 1922, S. 1317. —
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Beobachtungen beim akinetisch-hvpertonischen Symptomenkomplex. 213
Riesser u. Neuschloss: Physiologische und kolloidchemische Untersuchungen
iiber den Mechanismus der durch Gifte bewirkten Kontraktur quergestreifter
Muskeln. I. Arch. f. exp. Pathol, u. Pharmokol. 91, H. 6,1921 und II. ebenda 92.
H. 4/6, 1922. — V. Sarbo: t)ber die Encephalitis epidemica usw. Dtsch. Zeitschr.
f. Nervenheilk. 74, H. 5/6, 1922. — Schaffer: Vagus und Sympathicus. Klin.
Woehenschr. 1922, S. 909. — Ders.: Beitrage zur Frage der autonomcn Inner¬
vation des Skelettmuskels. Pflugers Arch. f. Physiol. 185, S. 42, 1922. — Schulz:
Der Verlauf der Kreatininausscheidung irn Ham des Menschen mit besondrer Be¬
rtie ksichtigung des Einflusses der Muskelarbeit. Pflugers Arch. f. Physiol. 186,
S. 125, 1921. — Siemerling und Oloff: Ober Pseudosklerose. Klin. YVochenschr.
1922. — Spiegel: Die zentrale Lokalisation autonomer Funktionen. Zeitschr. f.
d. ges. Neurol, u. Psychiatr. Referatenteil. 22, S. 142, 1920. — F. Stern: tlber
das Salbengesicht bci epidomischer Encephalitis. Neurol. Zentralbl. Erganzungsbd.
1921, S. 64. — Stertz: Der extrapyramidale Symptomenkomplex (das dystonische
Syndrom) und seine Bedeutung in der Neurologic. Berlin 1921, Verb v. Karger. —
Ders.: Die funktionelle Organisation des extrapyramidalen Systems und der
Praedilectionstypus der Pyramidenlahmung. Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk.
68/69, S. 481, 1921. — Cecile u. Oskar Vogt: Zur Lehre der Erkrankungen des
striaren Systems. Journ. f. Psychol, u. Neurol. 25, 1920. — Y\ T eigelt: Elektro-
myographische Untersuchungen liber den Muskeltonus. Dtsch. Zeitschr. f. Nerven¬
heilk. 74, S. 129, 1922. — v. YY^eizsacker: Muskelkoordination und Tonusfrage.
Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. 74, S. 262, 1922.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Digitized by
(Aus der Psychiatrischen und Nervenklinik zu Kiel
[Direktor: Geh. Rat Prof. Dr. Siemerl ingj.)
Beobachtungen beim akinetisch-hypertonischen Symptomen-
komplex. II.
Von
Prof. Dr. W. Runge,
Oberarzt der Klinik.
(Eingegangen am 8. September 1922.)
Die Beobachtung, daB Kaltereize den Tremor bei dem akinetisch-
hypertonischen Symptomenkomplex vielfach erheblich verstarken oder
ihn iiberhaupt erst hervorrufen und daB dieser Tremor dann dem
Kaltetremor Gesunder durchaus gleicht, nur daB er erheblich starker als
dieser ist, feruer dieTatsache, daB beim GesundenTremor und Steigerung
desMuskeltonusFaktoren derWarmeregulation darstellen,legen dieFrage
nahe, ob etwa bei den akinetisch-hypertonischen Fallen Storungen der
Warmeregulation
nachzuweisen sind. Schon bei der echten Paralysis agitans hatten einige
Forscher vasomotor ische Storungen festgestellt. Es wird blaurote Ver-
farbung der Haut an den Handen und abhangigen Teilen des Korpers
(Klieneberger,Sch\vartz,Dierks,Mosse,s. Forster), fernerGlanz-
hautbildung, Oedem der Akra (Alquier), starke Dermographie (Borg-
herini, Mendel) erwahnt. Str umpel 1 fand bei der Paralysis agitans die
innere Korpertemperatur normal, die pcriphere oft erhoht. Apolinari,
Fuchs, Gowers, Bychow ski, Heimann, Alquier, Leva, Grasset
fanden Erhohung der Hauttemperatur auf der starker zitternden Seite.
Fuchs stellte einmal cine urn 0,3—0.4° C hohcre Achseltemperatur
auf der nie zitternden Seite gegeniiber der andern fest. Dasselbe fand
Klieneberger. Alquier (Mendel) kann die Temperatursteigerung
nicht als Folge des Zitterns ansehen, da auch bei der Paralysis agitans
sine agitatione eine Temperatursteigerung beobachtet und wiederum
bei andern Kranken mit Zittern und andersartigen Bewcgungsstorungen
(Chorea usw.) vermiBt werde. Fuchs (s. Mendel) will unter 26 Kran¬
ken 9 mal Temperatursteigerungen bis 39,4, und zwar wahrend der
subjektiven Warmesensationen gefunden haben. Mendel fand dagegen
Hitzegefiihl immer, Temperatursteigerungen nie. Speziell von einer
Kranken mit postencephalitischera amyostatischem Symptomenkom-
plex berichtet Griinewald. Diese saB oft trotz der Winterkalte im
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
W.Runge: Beobachtungen b. akinetisch-hypertonischen Symptomenkomplex. 215
Garten, ohne die Kalte unangenehm zu empfinden. — Auch von meinen
25 Fallen, die in der Mehrzahl dem postencephalitischen akinetisch-
hypertonischen Syndrom, vereinzelt der Paralysis agitans sine agita-
tione angehorten, klagten einige liber abnormes Hitzegefiihl, besonders
im Kopf. Ebenso konnte gelegentlich eine subjektive Unempfindlich-
keit, andererseits aber auch gelegentlich eine tlberempfindlichkeit
gegen Kalte festgestellt werden, so bei einem Kranken mit oft auf-
fallend niedriger Korper- und Hauttemperatur. Viele Falle hatten eine
sehr starke Dermographie, in einem wahrseheinlich nicht encephali-
tischen Fall fand sich eine stark livide Verfarbung beider Hande, zu-
weilen auch eine eigenartige Schwellung der linken Vola manus und in
einem andern Fall mit anfanglichen rhythmisch-myoklonischen Be-
wegungen im r. Arm, die auch spater nicht ganz schwanden, und spii-
terem ausgesprochenem akinetisch-hypertonischem Syndrom wurde
eine voriibergehende Schwellung der r.Hand und des r. FuBes beobachtet,
an den Extremitaten, in denen die amyostatischen Erscheinungen am
starksten waren. Es kommen also sicher ausgesprochene vasomoto-
rische Storungen in solchen Fallen vor.
Es wurden ferner in einer Reihe von den genannten Fallen die
Hauttemperaturen genauer festgestellt, und zwar die der unbe-
deckten Gesichtshaut. Bei den ersten Hauttemperaturmessungen von
12 amyostatischen Fallen (inklusive zweier sonst nicht beriieksichtigter
Paralysis-agitans-Falle) fand sich eine durchschnittliche Temperatur
der Gesichtshaut von 34,7 0 C, bei 22 andersartigen, nicht fiebernden
Kranken eine solche von 34,0 0 C (bei einer AuBentemperatur von
16 bis 21° C). Die hochsten Temperaturen bei den Amyostatikern
waren: 35,8, 35,9, 36,0, 36,4, 36,5 bei den andern Fallen: 34,9, 35,0,
35,4, 35,5. Ein Amyostatiker, der gelegentlich auch eine abnorm nie-
drige Innentemperatur hatte, zeigt eine Hauttemperatur von 29,9 °,
eine Zahl, die von keinem andersartigen Kranken erreicht wurde. Eine
Wiederholung derMessungen nach einigerZeit ergabkeine so eindeutige
Erhohung der Hauttemperaturen bei den Amyostatikern. Wegen dieser
widersprechenden Ergebnisse wurde bei erneuten Messungen auf das
VYrrhandensein einer stets gleiehen AuBentemperatur gcachtet, ferner
Messungen zuerst nur in niichternem Zustand, spater nach dem Mittag-
essen vorgenommen. Bei der Untersuchung in niichternem Zustand
ergab sich, bei einer AuBentemperatur von 19° C fur 13 Amyosta¬
tiker eine durchschnittliche Gesichtshauttemperatur von 34,3, fur 15
andersartige Falle eine solche von 34,5. Die Hochstzahlen waren bei
den Amyostatikern: 34,8, 35,2, 36,0, bei den andern Fallen: 34,9, 35,2,
35,6. Die Zahlen waren also hier in beiden Gruppen ziemlich gleich,
obwohl ein Amyostatiker eine bei den andern Fallen nicht vorkommende
Hohe von 36° C aufwies. — Die Messungen nach dem Mittagessen
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
216
W. Runge:
Digitized by
ebenfalls bei einer AuBentemperatur von 19 0 C ergaben bei 7
Amyostatikern eine Durchschnittstemperatur von 35,3, bei 16 anderen
34,5° C. Die Hochstzahlen sind bei Amyostatikern 35,6, 35,8, 36,2,
bei den andern: 35,2, 35,4, 35,5. Die Amyostatiker zeigten also naeh
der Nahrungsaufnahme durchschnittlich etwas hohere Hauttemperaturen
als in niichternem Zustand und als andersartige Falle, bei denen die
Hauttemperatur im Durchschnitt die gleiche wie vor der Nahrungs¬
aufnahme war. Gelegentlich fiel bei ersteren auch eine sehr starke
Rotung des Gesichts und starker Schweidausbruch nach dem Essen
auf. Sie zeigen also eine starkere Warmezufuhr zur Haut nach der
Nahrungsaufnahme, wahrscheinlich infolge starkererGefaddilatation.Um
noch exaktere Resultate zu bekommen, wurden weitere Hauttemperatur-
messungen bei jeweils den gleichen Fallen Va Stunde vor und 3 / 4 Stunden
nach dem Essen vorgenommen. Die Resultate sind aus folgender Tabelle
ersichtlich; da die Messungen an mehrerenTagen hintereinander im Som¬
mer vorgenommen wurden, war es nicht moglich, eine gleiche Atiden-
temperatur, wie bei den ersten Untersuchungen im Winter zu erzielen.
Antyostatische Fade.
Nr.
Name
Diagnose
Zahl d.
Doppel-
mes-
sunKcn
Temperaturdifferenz
vor und nach d. Essen
Zunalime Abnahme
Kelno
Different
1 .
M.
Akinet.-hyperton. Syn-
drom bei Encephalitis
4
3(0,1—0,5°) 1
—
2 .
Be.
>>
4
4(0,1— l,3°)l -
—
3.
Bii.
*»
6
6(0,2—0.7°) 1
—
4.
Sch.
>»
5
5(0,3—0,8°) 1
—
5.
H.
*»
4
3(0—0,4°) |
1
Sa.
23
21 = 91% 1 = 4,50/o
1 = 4,50/„
Andere Fiille.
1.
E.
Depress.
5
5(0,1—0,50)
—
—
2.
O.
Depress.
5
5(0,2—0,6°)
—
—
3 .
M.
Ale.
5
5(0,2—0,8°)
—
—
4 .
K.
Psychop. + Kopfschuss.
5
5(0.1—0,5°)
1 _
—
5 .
A.
Ale.
4
3(0—0,5°)
—
1
6.
J.
Neurasth.
5
5(0,3—0,7°)
—
—
7.
Arn.
Hebephr.
2
2(0,6—0,80)
—
—
8.
J.
Ale.
4
4(0,3—0,6°)
1 _
—
Sa.
35
34= 97% -
1 = 2,9%
Die Untersuchungen ergaben also bei den Amyostatikern und Nicht-
amyostatikern keine wesentlichen Differenzen in den Temperaturzu-
nahmen bzw. Abnahmen vor und nach dem Essen. Die Griinde fiir
dieses gegeniiber dem friiheren verschiedene Ergebnis sind vielleieht
darin zu suchen, dad die Amyostatiker zum Ted vor den letzten Ver-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Beobachtungen beim akinetisch-hypertonischen Symptomenkomplex. 217
suchsreihen einer sehr intensiven Arsenkur unterworfen waren, durch
die besonders die vegetativen Storungen beeinfluBt wurden. Bei den
unbehandelten Fallen traten jedenfalls hohere Hauttemperaturen und
starkere Erhohung der Temperaturen nach der Nahrungsaufnahme
als in den andern Fallen zutage. Immerhin zeigt auch einer der zuletzt
untersuchten Falle eine Steigerung von 1,3°, die von andern Fallen
nie erreicht wurde. — Gewisse Abweichungen ergeben sich nun auch bei
regelmaBiger Kontrolle der Korpertemperatur bei den Amyosta-
tikern. Bei 10 von 16 amyostatischen Fallen fanden sich als niedrigste
Achselhohlenteinperaturen 35,7—36,0° C, also auffallend niedrige
Temperaturen. Ebenso waren die Rektaltemperaturen gelegentlich
auffallend niedrig, betrugen 35,8, 36,1, 36,2° C. Nur bei einem
Kranken von den speziell darauf untersuchten Fallen war aber die
Temperatur langere Zeit auffallend niedrig, bei alien iibrigen nur
gelegentlich. Auch von Sicard werden die niedrigen Rektaltempera¬
turen in solchen Fallen erwahnt. Messungen der Rektaltemperaturen
V 2 Stunde vor dem Mittagessen und % Stunden nachher bei den gleichen
Fallen mehrere Tage hintereinander durchgefiihrt ergaben bei den
Amyostatikern gewisse Unterschiede gegeniiber andersartigen Fallen:
Amyostatische Falle.
Nr.
Name
Diagnose
Zahl d.
Doppel-
messungen
Tcmperaturdlfferenz
vor und nach d. Essen
Zunahme Abnahme
Kelne
Differenz
1 .
H.
Hyperton.-akinet. Syn¬
drom b. Encephalitis
14
4
9
1
2.
Bii.
99
11
2
9
—
3.
Br.
99
9
7
2
—
4.
M.
99
5
1
3
1
5.
Sch.
99
5
4
1
—
6.
Be.
99
0
2
4
—
Sa.
50
20 = 40°/ 0
28=56%
o
II
<N
Andere Falle.
l.
M.
Imbec.
5
3
1
1
2.
J.
Ale.
5
2
2
1
3.
J.
Neurasth.
6
4
1
1
4.
Arn.
Hebephr.
4
3
—
1
5.
O.
Depress.
5
4
—
1
6.
E.
Depress.
5
2
2
1
7.
A.
Ale.
5
1
3
1
8 .
Ma.
Ale.
5
2
2
1
9.
K.
Psychop. + Kopfsehuss.
5
—
4
1
Sa.
45
21 = 47°y
/ 0 ll5=33%
9 =20%
Archiv (Ur Fsychlatrie. Bd. 07. 15
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
218
W. Runge:
Digitized by
Die Amyostatiker zeigten also haufiger eine Abnahme als Zu-
nahme der Korpertemperatur nach der Nahrungsaufnahme,
die andersartigen Falle haufiger eine Zunahme oder gar keine Anderung
der Temperatur. Insbesondere zeigten 4 Amyostatiker bei 5, 6, 11 und
14 Tage lang fortgesetzten Messungen mit einigen Ausnahmen, bei denen
die Temperatur hochstens um 0,1°, nur einmal um 0,3° stieg, fast
dauernd eine Abnahme der Korpertemperatur nach der Nahrungs¬
aufnahme. Temperaturabnahmen kamen auch bei andersartigen Fal¬
len vor, aber regelmaBig nur in einem Fall von Psychopathie mit leichter
Kopfschu Bverletzung mit Eroffnung der Stirnhohle, auch waren hier
die Temperaturabnahmen nur minimale im Vergleich zu den amyosta-
tischen und gingen nur einmal liber 0,5 0 hinaus. Uberhaupt kamen
iiber 0,1 0 C hinausgehende Temperaturabnahmen nach der Nah¬
rungsaufnahme bei 45 Messungen andersartiger Falle nur 3 mal vor,
miter 50 Messungen bei den Amyostatikern aber 21 mal, was dafiir
spricht, daB wirkliche Temperaturabnahmen bei den Amyostatikern
haufig sind, bei andersartigen Fallen nur ausnahmsweise vorkommen.
0,1 0 nicht iibersteigende Abnahmen diirften auch kaum auf wirk¬
liche Abnahmen der Korpertemperatur schlieBen lassen, sondern inner-
halb der Fehlergrenze liegen. Uberhaupt waren ganz allgemein die
Temperaturdifferenzen vor und nach der Nahrungsaufnahme bei den
Amyostatikern groBere als bei den andersartigen Fallen, so daB die
Temperaturkurven bei den Amyostatikern groBere Zacken aufweisen,
wahrend sie sich bei den andern Fallen mehr einer graden Linie nahern.
Eine befriedigende Erklarung fiir die Temperaturabnahme ist nicht
zu geben. Moglicherweise beruht sie auf einer vermehrten Wiirmeabgabe
durch Dilatation der HautgefaBe, auf die ja auch schon die anfanglich
festgestellte starkere Erhiihung der Hauttemperatur bei den ersten
Versuchen hinwies. Aber gleichzeitige Messungen der Rektal- und
Hauttemperatur vor und nach dem Essen ergaben keine bestimmten
Korrelationen zwischen beiden. Andererseits kann man auch an eine
Stoning der Wiirmebildung bei den Amyostatikern denken. Erinnert
werdenwir beidiesen Ergebnissen an gewissevonGrafe erhobeneBefunde,
der bei einigen katatonischen Stuporen nur cine geringfiigige Reaktion
des Korpers auf die Nahrungszufuhr durch Stoffwechseluntersuchungen
feststellen konnte; ob diese Befunde auch bei den hypertonisch-akine-
tischen Fallen erhoben werden, ist naturlich nicht zu sagen. Es ist aber
von Interesse, daB bei den ebenfalls bewegungsarmen und starren
Stuporkranken Stoffw’echselbefunde festgestellt sind, die eine geringe
oder fehlende Temperaturerhohung nach der Nahrungsaufnahme er-
kliiren wiirden. —Jedenfalls also ergeben die Untersuchungen in unseren
Fallen Unterschiede der Temperaturregulierung gegeniiber andersartigen
Fallen, Unterschiede aber, die durch das Vorhandensein der Rigiditat
Go^igle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Beobachtungen beim akinetisch-hypertonischen Symptoraenkomplex. 219
und des Tremors an sich nicht befriedigend erklart werden konnen, da
man zunachst eher eine starkere Warraeproduktion hierbei erwarten
wiirde. Immerhin sind Warmeregulationsstbrungen bei der Lokalisa-
tion derKrankheitsprozesse in den vorliegenden Fallen im striaren System
nicht weiter verwunderlich. Wiesen doch B e c h t er ew u. a. Beziehungen
zur Warmeregulation fur den Thalamus, Aronsohn und Sachs,
Richet, Gerard, White, Scliultze u. a. fur das Striatum, vor
allem Isenschmid und Krehl fiir den Hypothalamus nach. Speziell
der Hypothalamus, dessen Ganglienzellmassen in Abhangigkeit vom
Striatum stehn (Spiegel), beeinfluBt dio autonomen Innervationen
und enthalt bekanntlich, wie Karplus und Kreidl nachwiesen, ein
Sympathikuszentrum, von dem aus die SchweiB- und Tranensekretion
sowie die Konstriktion der Blutgefafie beeinfluBt wird, also Funktionen,
die mit der Warmeregulation in inniger Beziehung stehen. AuchLeschke
fand, daB die Warmeregulation und die Fahigkeit, auf eine Infektion
mit Temperatursteigerung zu antworten, an das Erhaltensein des hin-
teren Teils der Regio subthalamica gebunden ist. Nach Ausschaltung
des Zwischenhirns blieben nach Citron und Leschke Infektionsfieber,
Kochsalzfieber, Fieber durch Paraffin und Tetrahydronaphtylamin
aus. H. H. Meyer nimmt in jenen Gegenden ein Warme- und Kalte-
zentrum an, das erstere soli dem Sympathikus, das letztere dem Para-
sympathikus angehoren. Ferner wird speziell die chemische Warme-
regulation durch Zunahme des Muskeltonus und Muskelzittern mit der
Regio subthalamica in Verbindung gebracht (Isenschmid). Alles
dies laBt das Vorkommen von Temperaturregulierungsstorungen in
unseren Fallen durchaus erklarlich erscheinen. Hinzu kommt, daB spe¬
ziell bei anderen Formed der Encephalitis epidemica von zwei Forschern
eigenartige Temperaturabweichungen festgestellt wurden, die in enger
Beziehung mit dem in diesen Fallen so haufig gestorten Schlaf standen.
Es fand namlich Misch in einem Fall von choreatischer Form der En¬
cephalitis epidemica im Schlaf normale Temperaturen, w&hrend am
Tage Fieber bestand. Lust konnte bei Kindern mit der bekannten
postencephalitischen Schlafstorung und Unruhe in gewissem Gegensatz
hierzu durch Fiebererzeugung Schlaf hervorrufen. Ferner fand Fischer
in einem Fall von epidemischer Encephalitis mit linksseitigen rhyth-
mischen Zuckungen, die den vielfach beschriebenen myoklonischen
Zuckungen glichen und auch auf Lasionder Zentralganglienzuruckgefiihrt
werden miissen, auf der linken Korperhalfte, solange Fieber infolge eines
Decubitus bestand, liohereKorper- undHauttemperaturenalsrechts. Die
Sektion ergab interessanterweise im rechten Thalamus und Linsenkern
deutlich starkere Veranderungenalslinks. Fischerfiihrtdiehalbseitigen
Temperaturdifferenzen darauf zurxick, daBdaspyrogene Agens (Toxin) auf
das starker erkranktcGebietmehreinwirke,alsauf das schwiichererkrankte.
13*
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
220
W. Runge:
Digitized by
In Hinblick auf alle diese Beobachtungen w'urde versucht, in meinen
Fallen noch auf andre Weise Tempera turregulierungsstorungen fest-
zustellen. Es wurde dabei auf alte, aber immer noch zitierte Verstiche
von R. Stern zuriickgegriffen, der durch langsame Abkiihlung und
Erw&rmung in Badern unter Vermeidung jedes briisken Hautreizes
(Kalte- oder Warmereiz) die Gegenregulation priifte. In derartigen
Badern — so nimmt Stern an — sollen die Wasserverdunstung an der
Hautoberflache, die Warmeabgabe durch Leitung und Strahlung
groBtenteils zum Fortfall kommen. Die Kranken wurden also ent-
snrechend dem Sternschen Vorschlag bei den Abkiihlungsversuchen
in ein thermisch indifferentes Bad von 37 0 C (in den ersten 18
Versuchen), bzw. 35 0 (in den iibrigen Versuchen) gesetzt, nachdem
vorher die Korpertemperatur festgestellt war, dann das Bad, dessen
Wasser sie bis zum Hals bedeckte, langsam abgekiihlt und der Versuch
beendet, sobald deutliche und anhaltende Zeichen der Gegenregula¬
tion in Form von Zittern eintraten. Die Wasscrtemperatur und Korper¬
temperatur wurden auch am Ende des Versuchs gemessen. Die Mes-
sungen wurden immer mit dem gleichen Thermometer in den ersten
18 Versuchen im Munde vorgenommen, was von der Vorschrift Sterns
abweicht, der 12 cm tief im Rectum maB, um die Korperinnentempera-
tur zu erhalten. Die Mundmessung schien mir zunachst bcsser, da bei
der Rectalmessung ein groBer Teil des Korpers aus dem Wasser heraus-
kommt und abgekiihlt wird, bei der Mundmessung nicht. Da sich
aber herausstellte, daB einige amyostatische Kranke den Mund bei der
Mundmessung nicht geniigend geschlossen halten konnten, so daB
Fehler moglich wurden, wurde diese Methode spater aufgegeben und
nach Sterns Vorschrift rectal gemessen. Zur"Kontrolle wurden andere
Fiille mit psychischen oder nervosen Storungen herangezogen. War
Zittern schon vor dem Bade vorhanden, so wurde eine Verstarkung
des Zitterns durch die Abkiihlung als regulatorisches Zeichen angesehen.
Die erste Versuchsreihe bei Mundmessung ergab folcendes:
Amyostatische Fiille (Badetemperatur im Beginn 37°).
Durchschnittl. Differenz zwischen Kor- Durchschnittl. Endtemperatur des
peranfangs- und Endtemperatur bei Bades
5 Fallen = —0,21° 0 30,8° C
3 „ = 0° C
Andere Falle.
bei 7 Fallen = —0,66° C I 29,5° C
2 „ =4- 0,07° C
Das Zittern setzte also bei den Amyostatikern durchschnittlich
liei 1,3° hoherer Wassertempcratur als in den andern Fallen ein,
ferner bei um0,45° geringerer Abkiihlung der Mundtemperatur. Ein Teil
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Beobachtungen beim akinetisch-hypertonischen Symptomenkomplex. 221
der andern Falle zeigte cine so prompte Warmeregulation, daB die
Korpertemperatur bei Eintritt des Zitterns schon ganz geringfugig
erhoht war.
2. Versuchsreihe. Anfangstemperatur des Bades 35° C. Korper-
Amyostatische Falle.
Nr-
Name
Diagnose
Differenz d. Korpertempe¬
ratur bei Beginn und Ende
des Bades
End tempera-
turdes Bades
1 .
B.
Akinct.-hyperton. Zu-
- 0,1
30,0
2 .
J.
stand b. Encephalitis
— 0,05
31,0
3.
H.
**
+ 0,225
28,0
4.
»»
+ 0,05
30,0
5.
99
— 0,28
30,0
6 .
)»
— 0,05
30,0
7.
Hyperton. Syndrom
ohne sichere Encephal.
— 0,05
33,0
8 .
K.
Paral. agit, sine agita-
tione
+ —0
33,0
|5 (63°/ 0 ) = — 0,12 30,6
Durchschnittszahlen \2(25°/ 0 ) = +0,14
ll (12°/ 0 ) = +-0
Andcre Falle.
1.
B.
Katat.
— 0,18
30,0
2.
B.
Katat.
+ —0
31,0
3.
Sch.
Hebephr.
+ 0,45
24,0
4.
A.
Epil.
— 0,11
28,0
5.
L.
Melanch.
+ —0
30,5
6.
B.
Imbec.
+ —0
30,0
7.
B.
Melanch.
— 0,23
25,5
8.
H.
Infantil. Imbec. . . .
+ 0,3
25,5
9.
Br.
Poliomyelitis.
+ 0,25
25,5
10.
M.
Katat.
— 0.1
31,0
11.
K.
Imbec.
+ 0,2
28,0
12.
P.
Hebephr.
— 0,1
28,5
13.
J.
Epil.
— 0.02
28.5
14.
K.
Hyst.
+ 0,05
33,0
15.
R.
Ale. chron.
— 0,11
30,3
16.
J.
Paral.
+ 0.15
31,5
17.
G.
Hebephr.
— 0,09
29,5
18.
G.
Demenz (Alzheim?) . .
— 0,18
30,0
19.
R.
Ale. chron.
+ —0
31,0
20.
K.
Hvst.
+ 0,2
27,0
21.
Kl.
Melanch.
+ 0,1
29,5
22.
P.
Poliomyelit.
— 0,2
30,0
1 10 (45°/ 0 ) = — 0,1 29,0
Durchschnittszahlen < 8 (36°/ 0 ) = + 0,2
1 4 (18°/ 0 ) = + —0
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
222
W. Runge:
Digitized by
innentemperatur 12 cm tief im Rectum gemessen. Vor dem Messen
und Beginn des Bades lagen die Kranken V 2 Stunde im Bett.
Die Korperinnentemperatur wurde am Ende des Versuchs im Bade bei
Knieellenbogenlage gemessen, wobei selbstverstandlich eine Beriihrung
des Thermometers mit dem Wasser vermieden woirde. Die Versuche
wurden vor dem Mittagessen in niichternem Zustande des Kranken
vorgenommen.
Sehr erhebliche Unterschiede zeigen also die beiden Gruppen von
Fallen nicht. Immerhinsetzte das Zittern bei den Ainyostatikern
bei durchschnittlich 1,6° hoherer Wassertemperatur ein,
als bei den andersartigen Fallen. Ein Teil der Amyostatiker hatte
zur Zeit des Zittereintritts bei geringer Erniedrigung der Wassertem¬
peratur durchschnittlich etwa die gleiche Senkung der Korperinnen-
temperatur erfahren wie ein Teil der andersartigen Falle bei starkerer
Erniedrigung der Wassertemperatur; die Abkiihlung erfolgte also bei
den ersteren relativ schneller. Der Prozentsatz mit Abkiihlung der
Innentemperatur war bei den Amyostatikern (63%) erheblich
groBer als bei den andern Fallen (45%). Auch zeigten erheblich weniger
Amyostatiker iiberhaupt keine Temperaturanderung oder -Steigerung
als andere Fille. Die Temperatursteigerungen waren bei letzteren durch¬
schnittlich etwas, aber wenig groBer als bei den 2 Amyostatikern, die
iiberhaupt nur eine solche aufwiesen. Der eine von letztern zeigte nur
eine ganz geringe Rigiditat der Beine, der andere eine solche der Arme,
aber ohne Tremor. Die Amyostatiker schienen also auf eine langsame
Abkiihlung weniger haufig mit einer Steigerung der Innentemperatur
zu reagieren wie andere Falle, wenigstens innerhalb der Zeit bis zum
Eintritt des Zitterns. Dies, wie die schnellere Abkiihlung in einem Teil
der Falle kann entweder damit erklart werden, daB die physikalische
Regulation durch Konstriktion der HautgefaBe (und damit Verdrangung
des Blutes in die GefaBe des Korperinnern) bei den Amyostatikern
weniger prompt erfolgt, infolgedessen wolil doch entgegen der Annahme
von Stern eine Warmcabgabe durch Leitung von der Hautoberflache
stattfindet, oder daB die durch Tonussteigerung der Muskeln bedingte,
gesteigerte Verbrennung, also die chemische Warmeregulierung bis
zum Eintritt des Zitterns w'eniger intensiv ist, wie in den andern Fallen,
was also grade das Gegenteil von dem bedeuten wurde, was man als
Folge der schon vorher vorhandenen starken Spannungserhohung der
Muskulatur, die durch die Abkiihlung noch gesteigert wird, erwarten
sollte. Jedenfalls liegt eine weniger prompte Regulation vor,
als in den andern Fallen, dafiir setzt allerdings das Zittern bei den
amyostatischen Fallen friiher ein. Ob dies auf die schnellere Abkiihlung
der Innentemperatur oder allein auf die vorhandene Tremorbereitschaft
zuriickzufiihren ist, lafit sich nicht mit Bestimmtheit sagen, wahrschein-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Beobachtungen beim akinetisch-hypertonischen Symptomenkomplex. 223
lich spielt beides hier eine Rolle. Sollte die schnellere Abkiihlung auf
die mangelhaftere Funktion der Vasomotoren der Haut bei den Amyosta-
tikern zuriickzufiihren sein, so wurde das mit der oben gefundenen Tat-
sache in gewisser Obereinstimmung stehn, daB die Hauttemperatur
der Amyostatiker ofter eine hohere als in andern Fallen ist. Bei der
Mundraessung traten die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen
nicht in dieser WeLse zutage, vielmehr erfuhren die Amyostatiker hier
bis zum Eintritt des Zitterns seheinbar eine geringere Abkiihlung als
die andern Falle, eine Erhohung der Korpertemperatur innerhalb dieser
Zeit zeigten hinvviederum nur einige der andern Falle; dieAbweichungen
sind aber auf die obengenannten Fehlerquellen zuriickzufiihren. Be-
merkt sei noch, daB die Differenzen in beiden Gruppen nicht etwa mit
einer verschiedenen Lebensweise in Zusammenhang gebracht werden
konnen, da dieselbe bei alien Untersuchten ziemlich gleich war, vor
allem die Kranken langere Zeit auBer Bett waren. Nebenbei ist zu be-
merken, daB die Versuchsergebnisse bei den Nicht-Amyostatikern in
gewissera Gegensatz zu den Ergebnissen von Stern stehen, der aller-
dings Gesunde untersuchte. Er fand in seinen wenigen Fallen den Ein¬
tritt des Zitterns durchschnittlich erst bei 26° C Wassertempera-
tur, ich in meiner erheblich groBeren Zahl von Untersuchungen bei
29 0 C. Die Korpertemperatur sank bei diesen Versuchen in den
Sternschen Fallen um 0,1—0,8°C, in meinen Fallen um 0,1—0,2°,
wiihrend sie in nicht geringer Zahl der Falle um 0,2°stieg, in wenigen
Fallen unverandert blieb. Die Differenzen beruhen nicht etwa darauf,
daB meine Versuche nach wesentlich kiirzerer Zeit abgcbrochen wurden,
wie die Sternschen. Die Versuchsdauer betrug in den Sternschen
Fallen 10—30, vereinzelt 50 Minuten, in meinen Fallen 8—28 Minuten,
vereinzelt bis 42 Minuten. Der Versuch wurde nach der Sternschen Vor-
schrift dann beendet, wenn nicht rnchr unterdriickbare Muskelzuckungen
auftraten. Es zeigte sich auBerdem bei mehrfacher Wiederholung
der Versuche an den gleichen Individuen, daB fast durchweg
diejenigen, die vorher eine Steigerung der Innentemperatur bei Ab-
kiihlung aufgewiesen hatten, in der Regel jetzt ebenfalls eine solche,
wenn auch nicht iminer um die gleiche Zahl von Graden zeigten, und
daB bei den Fallen mit Temperatursenkung ebenfalls solche bei wieder-
holten Versuchen festgestellt werden konnte, alles dies unabhangig da-
von, ob die Abkiihlung etwas schneller oder langsamer vorgenommen
wurde oder ob die Badetemperatur bei Beginn des Zitterns und Ab-
schluB des Versuchs eine hohere oder niederere war. Es zeigte sich
sogar, daB bei der Gruppe mit ansteigender Innentemperatur diese um
so inehr anstieg, je langer die Versuchsperson im Bade blieb und je
kiihler die AuBentemperatur wurde. Die Sternschen Ergebnisse be-
diirfen also einer Revision. Es muB sich bei den Fallen mit ansteigen-
Djgitizea by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
224
W. Runge;
Digitized by
der Innentemperatur urn Individuen mit besonders prompt einsetzen-
der Warmeregulation handeln, es mtissen individuelle Eigentiimlich-
keiten hier eine Rolle spielen, und es lieB sich auch feststellen, daB die
Versuchspersonen mit friihzeitig ansteigender Innentemperatur ,,ab-
gehartete" Individuen waren, die im Sommer haufig oder mehr oder
weniger regelmaBig kalt badeten.
Als Zeichen der einsetzenden Warmeregulation bei Erbitzung sah
Stern den SchweiBausbruch an. Bei den entsprechenden Versuchen,
die im iibrigen in gleicher Weise durchgefiihrt wurden, wurde das Bade-
wasser langsam erhitzt, der Versuch bei Beginn deutbcher SchweiB-
sekretion abgebrochen und die Endtemperatur des Bades und Korpers
bestimmt. Die Ergebnisse sind folgende:
Amyostatische Falle.
Nr.
Name
1 1
Diagnose
i
Differenz
Endtemperatur
des Bades
1 .
J.
Akin.-hyperton. Syn-
|
drom bei Encephalitis
+ 0,9
40,0
2 .
H.
„ 1
+ 1,15
40,5
3.
M.
**
+ 0,45
40,5
4.
K.
Paral. agit. sine agitat.
+ 0,93
39,5
5.
1 B.
Akinet.-hyperton. Syn-
1
1 '
drom bei Encephalitis
+ 0,05
j 38,0
Durchschnittszahlen
1
+ 0,68
39,7
And ere
Falle.
1 .
D.
Hebcphr.
+ 0,63
40,0
2 .
F. 1
Lues spinal. + Epil.
+ 0,03
37,6
3.
Sch.
Epil.
+ 0,65
39,2
4.
H. ,
Ale. chron.
+ 0,6
39,0
5.
W. 1
Katat.
+ 0,55
40,5
6 .
L.
Ale.
+ 1,3
39,7
7.
St.
Hebephr.
+ 0,4
37,0
Durchschnittszahlen
+ 0,59
39,0
Die Unterschiede in beiden Gruppen sind weniger erlieblich als bei den
Abkiihlungsversuchen. Die Erwarmung des Bades bis zum Eintritt
des SchweiBausbruchs zeigte in beiden Gruppen durchschnittlich nur
einen Unterschied von 1 J.. °. In dieser Zeit war die Korpertempera-
tur der Amyostatiker um durchschnittlich 0,09 0 mehr gestiegen
als in den andern Fallen. Die Temperaturregulierung schien also wieder
bei erstern nicht ganz so prompt wie bei den andern, was etwas auffallend
ist, da einzelne dieser Falle sonst sehr stark und leicht scliwitzten. Die
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Beobachtungen beim akinetisch-hypertonischen Symptomenkomplex. 225
Unterschiede sind aber zu gering, um Bestimmtes daraus zu schlieBen,
auch waren unter den Nicht-Amyostatikern 2 Falle, die aus unbekannten
Griinden schon auffallend friihzeitig bis 37 und 37,6 0 C SchweiB-
ausbruch zeigten.
Nach den gesamten Untersuchungsergebnissen lassen sich also ge-
wisse Storungen der Warmeregulation bei den akinetisch-hypertonischen
Fallen nachweisen, und zwar hin und wieder auffallend hohe Haut-
temperaturen, auffallend niedrige Korpertemperaturen,
paradoxe Regulationserscheinungen im Sinne einer Tern-
peratursenkung nach der Nahrungsaufnahme und schlieBlich
eine weniger prompte Regulation bei Abktihlung trotz ver-
fruhtem Eintritt des Zitterns, das dem auch sonst in unseren Fallen zu
beobachtenden Zittern glich bzw. wie eine verstarkte Form desselben
aussah. Im Hinblick hierauf waren genauere Bestimmungen der Warme-
bildung und des Warmeverlustes und Stoffwechseluntersuchungen in
derartigen Fallen erforderlich. Bei der Paralysis agitans hat Grafe
(s. v. Weizsacker) bereits solche Untersuchungen vorgenommen und
eine wesentliche Stoffwechselsteigerung trotz der Rigiditat und des
Zitterns nicht feststellen konnen, was mit den in den akinetisch-hyper¬
tonischen Fallen festgestellten Regulierungsstorungen insofern iiber-
einstimmen wiirde, als diese jedenfalls nicht auf eine Steigerung, sondern
vielmehr auf eine Verminderung der Warmebildung schlieBen lassen.
Literatur.
Fischer: Zur Frage des cerebralen und halbseitigen Fiebers. Zeitschr. f. d.
ges. Neurol, u. Psychiatr. 76, S. 131. 1922. — Grafe: Beitrage zur Kenntnis der
Stoffwechselverlangsamung (Untersuchungen bei stuporosen Zustanden). Arch,
f. klin. Med. 102, S. 15, 1911. — Isenschmid: fiber den EinfluB des Nerven-
systems auf die Warmeregulation und den Stoffwechsel. Med. Klinik. 1914. Nr. 7,
S. 287. — Krehl: Pathologische Physiologie. 10. Auflage. 1920. — Krehl
und Matthes: Wie entsteht die Tern peratursteigerung im fiebernden Organismus?
Arch. f. exp. Pathol, u. Pharmakol. 38, S. 284, 1897. — Leschke: t)ber den Ein¬
fluB des Zwischenhims auf die Warmeregulation. Zeitschr. f. exp. Pathol, u. Therap.
14, S. 167, 1913. — Lust: fiber die Beeinflussung der postencephalitischen Schlaf-
storung durch temperatursteigemde Mittel. Dtsch. med. Wochenschr. 1921. Nr. 51,
S. 1545. —Mendel: Paralysis agitans. Verl. v. Karger, Berlin 1911. — Misch:
Zur Pathologie des Himstammes. fiber Himstammfieber. Zeitschr. f. d. ges.
Neurol, u. Psychiatr. 66, S. 59, 1921. — R. Stern: fiber die Wirkung der Hydro-
naphtylamine auf den tierischen Organismus. Virchows Archiv. llo, S. 14, 1889.
— Derselbe: fiber das Verhalten der Warmeregulation im Fieber unter der Ein-
wirkung von Antipyreticis. Zeitschr. f. kLin. Med. 20, Heft 1 und 2, 1892. —
v. Weizsacker: Muskelkoordination und Tonusfrage. Dtsch. Zeitschr. f. Nerven-
heilk. 74, S. 262, 1922.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(Aus dem Hirnforschungsinstitut der University t Budapest
[Voratand: Prof. Karl SchafferJ.)
Digitized by
Beitrage zur Klinik und pathologischen Anatomie der extra -
pyramidalen Bewegungsstorungen.
Von
II. Richter,
Assistenten des Institute.
Mit 12 Textabbildungen.
(Eingegangen am 4. September 1922.)
Die Verhandlungen tiber das Thema der extrapyramidalen Be-
wegungsstorungen auf dem vorjahrigen Kongreb der Gesellschaft
<leutscher Nervenarzte, insbesondere die inhaltsreichen Referate von
Poliak, Jakob und Bostroem zeigten uns den grobenFortschritt,
den wir auf dem Gebiete der pathologischen Erforschung dieser Krank-
heitsgruppe bereits verzeichnen konnen: in der kurzen Spanne Zeit,
die seit den ersten, hochbedeutenden Veroffentlichungen von Wilson
und C. Vogt verstrichen ist, \vurde durch scharfe Beobachter und
geistreiche Forscher cine solche Fiille wertvollen kasuistischen Materials
und sinnfalliger Aufbaugedanken zutage gefordert, dab heute nicht
nur die Existenz einer wichtigen, anatomisch genau begrenzten
Erkrankungsart des Zentralnervensy.stems gesiehcrt ist, vielmehr schon
innerhalb derselben die Umrisse mancher GesetzmalJigkeit in klinischen
und anatomisch-lokalisatorischen Einzelheiten inimer scharfer ins Licht
treten und zur Hoffnung berechtigen, dab die endgiiltige Klarungder
Pathophysiologie dieser heute noch mehr-weniger ratselhaften Erschei-
nungen, namentlich ein Einblick in den funktionellen Aufbau der
striar bedingten Bewegungsverrichtungen nicht mehr lange auf sich
warten labt. Indes glaube ich aus dem bisher vorliegenden Tatsachen-
material nicht unberechtigt den Eindruck gewonnen zu haben, dab
es heute noch angezeigt bleibt, als vorlaufige Forschungsrichtung fiir
die nachste Zukunft dis bisherige beizuhalten und sich anstatt der
Forcierung von konstruktiven Hypothesen auch weiter eher darauf zu
beschranken, unser bisheriges Tatsachenmaterial mit klinisch genau
beobachteten und anatomisch eingehend durchforschten Fallen zu
erweitern. Namentlich erscheint cine Bereichemng der Kasuistik
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
H. Richter: Beitrage zur Klinik uud pathologischen Anatomic usw. 227
durch solche Falle als besonders wiinschenswert, in welchen das klinische
Bild mit rein auf das Striatumsystem beschrankten anatomischen
Veranderungen inZusammenhang gebracht werden kann, oder in welchen
nur bestimmte anatomische Segmente dieses komplexen Neuronen-
systems durch einen krankhaften ProzeB betroffen wurden. Diesem
Bediirfnis entspringt die Mitteilung zweier Falle von Kohlengasvergif-
tung mit einer frappanten Ahnlichkeit sowohl im klinischen Bilde,
als auch in bezug auf das pathologisch-anatomische Substrat; und aus
diesem Gesichtspunkte verdient ein wciterer mitgeteiltcr Fall von
Hemiathetose ein gewisses Interesse. Die drei Falle standen auf der
internen Abteilung des hiesigen Spitals der juclischen Gemeinde in
klinischer Bcobachtung und wurden mir vom Vorstand dicser Abteilung,
Direktor Prof. H. Benedikt, giitigst uberlassen, wofiir ihm auch hier
mein ergebenster Dank ausgesprochen sei. Der vierte Fall betrifft eine
Kranke mit typischer Torsionsdystonie, die zuletzt auf der Nervenabtei-
lung des hauptstadtischen Armen- u. Siechenhausspitals (Vorstand: Prof.
K. Schaffer) beobachtet wurde; fur die Oberlassung des Falles schulde
ich dem Abteilungschefarzt, Doz. Dr. E. Frey vielen Dank. Die ana¬
tomische Bearbeitung des Materials crfolgte im hirnanatomischen Insti-
tut der Universitat unter Leitung von Herrn Prof. Schaffer, der mir
auch diesmal mit seinen bewahrten Ratschlagen in dankbarster Weise
zur Hilfe stand. £
I.
Die Krankheitsjournale der beiden Falle von Kohlengasver-
giftung, die der gewesene Abteilungsarzt Herr Dr. J. Biedermann
mir freundlichst iibcrlieb, enthalten auszugsweise folgende Aufzeich-
nungen:
Fall 1. Die 62jahrige Witwe, Frau J. F. wurde am 10. XI. 1019 mit der
Anamnese ins Spital aufgenommen, sie sei vor 8 Tagen vor dem Gasofen zusammen-
gestiirzt und habe ihr BewuCt.sein verloren; sie blieb von 6 Ukr abends bis zum
nachsten Morgen, wo sie von den Angehorigen mit mehreren Brandwunden am
FuB aufgefunden wurde, bewuCtlos; im Zimmer war starker Kohlengasgeruch
zu verspiiren. Sie war nachher iiberaus matt, schwerbesinnlich, iminer schlafrig,
konnto nur mit Unterstiitzung gehen; sie wurde noch am selben Tage zwecks
Behandlung ihrer Brandwunden ins Roehusspital eingeliefert. wo sich ihr allgemei-
ner Zustand allmiihlich verschlimmerte; am 8. Tage ihrer Krankheit liatten die
Angehorigen die Kranke ins jiidische Spital gebracht. Bei der Aufnahme fiel schon
der starre Gesichtsausdruck, das Fehlen mimischer Gesichtsregungen auf; seltener
Lidschlag. Die Muskulatur des ganzen Korpers ist auBerst gespamit; beim Ver-
such einer passiven Bewegung orhoht sich die Rigitat im betreffenden Glied.
An der AuBenflfiche des rechten Oberschenkels eine etwa kleinhandtellergroBe,
bereits in Heilung begriffene Brandwunde. Lungenbefund: normale, bewegliche
Lungengrenzen, an der Basis etwas rauheres Atmen. Herzdampfung normal;
der erete Ton ist nicht scharf abgegrenzt; iiber den GefaBen ist der erste Ton
dumpf. Rhythmischer, kleinwelliger Puls, p. M. 82. Zunge rein, Nasenrachen-
Digitizea by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
228
H. Richter: Beitrage zur Klinik und pathologischen
Digitized by
raura frei. Schlucken gut. Bauchmuskeln gespannt. Leber und Milz zeigen nor-
male Konturen. Ham strohgelb, sp. Gew. 1020, EiweiB in Spuren, Eiterprobe
portitiv. Im Sediment: zahlreiche weiBe Blutkorperchen und Plattenepithelien
aus den unteren Harnwegen. Blutbild: 302.5000 rote, 11200 weiBe Blutkorper¬
chen, Hgbl.: 38. Qualitativ: 72°/ 0 neutroph. Leukoe., 14°/ 0 kleine, 5% groBe
Lyniphocylen, 9°/ 0 t'bergangsformen.
Nervensystem: Beim Stehen ist die Krankc stark vomiibergebeugt, die
Wirbelsaule ist besondors im oberen Dorsalteil nach vorne gekriimmt. Arme
an den Korper gezogen, in Geburtshelferstellung. Beim Gehversuch auBerordent-
lich kleinschrittiger, trippelnder Gang; kann ohne Unterstiitzung nicht gehen;
Propulsion. Die gesamte Muskulatur zeigt eine starke Rigidit&t, die passiven
Bewegungen erheblichen Widerstand entgegensetzt. Passiv eingestellte, unge-
wohnliche Haltungen der Arme werden lange beibehalten. In solcher Haltung
erinnert sie an die Flexibilis cerea des Katatonikers. Die aktiven Bewegungen
zeigen auch bemerkenswerte Anderungen. Es fallt vor allem die Bewegungs-
armut auf; sie liegt stundenlang regungslos im Bett; weder mimische, noch ander-
weitige Orientierungs-, Schutz- oder Abwehrbewegungen, wie sie beim Gesunden
auf adaquate Reize sich prompt einzustellen pflegen, kann man bei ihr beobachten.
Wenn sie auf mehrfach wiederholte Aufforderung eine aktive Bewegung mit dem
Arm untemimmt, bleibt sie wahrend der Ausfiihmng ofters stehen und setzt die
Bewegung in der gewiinschten Richtung erst auf neueres Zureden fort; manchmal
wird diese trotz Zusprache nicht zu Ende gefiihrt und der Arm bleibt in einer
zwecklosen Stellung durch mehrere Minuten fixiert. Sehnenreflexe gesteigert,
rechts lebhafter (spastisch) als links; Babinski, Mendel, Oppenheim, Gordonsches
Zeichen fehlten. Die groBen Zehen bcider FiiBe zeigen zeitweise spontan eine Dorsal-
flexionsstellung (Pseudobabinski O. und C. Vogt). Bauchdeckenreflexe waren
nicht auslosbar. Pupillen, Augen- und Zungenbewegungen sind frei. Sehen,
Horen, Sprech- und Schluckakt blieben erhalten. Keine Sensibilitatsstorung.
Die geistigen Verrichtungen sind stark herabgesetzt. Der Zustand entspricht
einem leichten Stupor. Die Perception ist sehr verlangsamt; Fragen miissen 4- bis
omal wiederholt werden, bis die Kranke sie versteht; meist wiederholt sie sich
die Frage und gibt dann in wenigen Worten eine meist zutreffende Antwort.
Beziiglich ihrer Erkrankung und Einlicferung besitzt sie keine Erinnerung. Ihr
Gedachtnis iiber friihere Erlebnisse hat auch merklich gelitten. Die Sprache
weist cbenfalls eine deutliche Storung auf; sie erkennt die einzelnen ihr vor-
gesetzten Gegenstande, bezeichnet sie aber oft mit Umschreibung ihrer
Venvendung: beim Vorzeigen eines Schliissels sagt sie: offnen, auf eine Kette:
Halter, wieviel macht 5 X 5 = ,,Fiinfhundertfunfundzwanzig“, 5 X 20 = Fiinf-
hundert. Die Sprache wird durch Paraphasien, Neigung zu Alliterationen und
Perseverieren gestort.
7. XII. Ihr Zustand ist im allgemeinen unverandert; sie kiimmert sich nicht
um ihre Angehorigen, die sie besuchen, liegt regungslos im Bett und muB regel-
maBig durch die Pflegerin in eine andere Lage gebracht werden. Seit gestern
Harninkontinenz.
12. XII. Die Muskelrigiditfit ist noch mehr ausgesprochen. Heute wurde
auf kurze Zeit ein grobwelliges Zitt^rn in beiden Hiinden beobachtet.
20. XII. Seit 2 Tagen Fieber (bis 39,1° C). Cber der rechten Lunge vom
interscapularen Raum abwarts Diimpfung, geschwachtes Atmen, yerstarkte
Bronchophonie. Harninkontinenz andauernd.
22. XII. Deutlich fortschreitender Marasmus. Decubitus am Kreuzbein,
nelaotische Bullen an Ik- iden Fersen und am Trochanter. Lungenbefund un¬
verandert.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Anatomie der extrapyramidalen Bewegungsstorungen.
229
5. I. 1920. Nervenstatus unverftndert. Mimische Gesichtsstarre. Die Kranke
liegt vollkommen unbeweglich und starr im Bett, so, wie sie hingelegt wird. Ganz
selten hebt sie den Kopf vom Polster in die Hohe und halt ihn auch eine Stunde
lang so. Reflexe eher abgeschwacht. Babinski, Oppenheim negativ. Aktive
Bewegungen der Glieder werden iiberhaupt nicht mehr ausgefiihrt; passive sind
infolge des groBen Rigors sehr eingeschriinkt. Der sakrale Decubitus hat schon
auf den Knochen iibergegriffen. Im Harn kein neuer Befund. Blutbild zeigt
hochgradige Anamie (2080000 rote, 29700 weiBe Blutkorperchen). Puls 118,
leicht unterdriickbar. Herztone dumpf.
16. I. Agonale Erscheinungen. Odeme der Beine, Cyanose, arhythmischer
Puls. Rigiditat der Muskeln ist noch immer sehr deutlich.
20. I. Exitus.
Fall 2. Die 56jahrige Witwe, Frau C. H. wurde am 13. VI. 1920 mit ge-
stortem Sensorium eingeliefert. Xach Angabe ihrer Angehorigen ist sie vor 4 Tagen
infolge Kohlengasvergiftung erkrankt; sie hat ihr BewuBtsein nicht ganz ver-
loren, ist aber seither schwerbesinnlich, hat hiiufig Erbrechen. Seit 2 Tagen Husten
und Fieber.
Die Kranke ist von niedriger Statur, gut genahrt. Knochensystem, Gelenke
normal. Keine Driisenschwellung. Haut und Schleimhaute blaB. t)ber der
rechten Lunge von der Spitze des Schulterblattes abwarts ged&mpfter Perkussions-
schall, hier Crepitation, Bronchialatmen, gesteigerte Bronchophonie. Die linke
Lunge weicht beim Atmen etwas aus, hier trockene Gerftusche. Herzdampfung
normal. Puls kleinwellig, leicht unterdriickbar, p. M. 100. Temperatur 38,6° C.
Zunge trocken, belegt. Bauch nicht schmerzhaft, zeigt keine Resistenz. Die
Grenzen der Leber und Milz sind normal. Im Ham kein EiweiB, kein Zucker.
Blutbild: 3600000 rote, 3300 weiBe Blutkorperchen Hgbl.: 66. Qualitativ: 76%
Leukocyten, 8% kleine, 4% groBe Lymphocyten, 6% Ubergangszellen, 4% Eosino-
phile, 2% Myelocyten.
Nervenbefund. Augenspalten weit geoffnet, seltener Lidsclilag. Mimische
Gesichtsstarre; Nasolabialfalten tief eingeschnitten. Pupillen prompt reagiereud,
Hirnnerven frei. Die Muskulatur der Glieder und des Rumpfes ist rigid; gegen
passive Bewegungen starker Widerstand. Arme in einer Dauerhaltung, bei der
sie in Schulter adduziert, im Ellbogen leicht gebeugt und proniert sind, die Finger
in Parkinsonstellung. Die einmal eingenommene Stellung wird lange beibehalten.
Aktive Bewegungen werden kaum ausgefiihrt, verlaufen sehr langsam, mit Unter-
brechungen. Beim Versuch passiver Bewegungen gibt sie heftigen Schmerz an.
Sie kann weder stehen, noch gehen. Beim Aufsitzen im Bett zeigt sie die typisch
rigide Kopfhaltung. Beine im Knie- und FuBgelenk leicht gebeugt, Muskeln
rigid. Reflexe lebhaft. Babinski, Oppenheim rechts stets, links nicht immer
angedeutet. Klonus fehlt. Keine Sensibilitatsstorung. Harninkontinenz. Obsti¬
pation. Die Sprache ist monoton, manchnml imdeutlich, verschwommen. Zeit-
weise Schluckbeschwerden. Psychisch zeigt sie eine Benommenheit, die rasch
wechselt; zeitweise kliirt sich ihr Sensorium, wobei sie auf einfache Fragen richtige
Antwort gibt. Manchmal fangt sie plbtzlich zu weinen an. 0ber ihre Erkrankung
scheint sie keine Erinnerung zu besitzen. Von ihren Angehorigen nimmt sie
manchmal Notiz; meistens liegt sie apatkisch, wort- und regungslos im Bett.
23. VI. Die Rigiditat der Muskeln ist noch mehr ausgesprochen. Psychische
Benommenheit im Zunehmen. Zeitweise psychische Unruhe mit heftigem Weinen
und Schreien. Ernahrung ungeniigend. Reflexe kaum auslosbar; Babinski -
Oppenheim beiderseits angedeutet.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
230
H. Richter: Beit rage zur Klinik unci pathologischen
Digitized by
1. VII. Die Pneumonie hat sich iiber die ganze rechte Lunge ausgebreitet;
diffuse Bronchitis iiber der linken; minimale Expectoration. StAndiges hohes
Fieber. Pulsus inaequalis, zeitweise aussetzend. Getriibtes Sensorium, reagiert
auf Ansprache iiberhaupt nicht mehr. nur auf schmerzhafte Reize durch Aufschreien.
Die RigiditAt der rechtsseitigen Glieder ist verschwunden, an ihrer Stelle zeigt
sich eine schlaffe Parese mit kaum auslosbaren Sehnenreflexen; Babinski unsicher.
Links besteht die RigiditAt weiter. Secessus involuntarii alvi et urinae.
4. VII. Die RigiditAt der linken Hftlfte ist auch nur mehr angedeutet.
Reflexe stark herabgesetzt. Babinski, Klonus negativ.
6 . VII. Exitus.
Die Sektion hat in beiden Fallen Lungeneritziindung mit konsekutiver
Herzlahmung als Todesursache festge-
stellt. Von den inneren Organen soil
liier nur vermerkt werden, daB die
Leber in beiden Fallen auBer Stauungs-
erscheinungen, die mit den agonalen
Storungen im Blutkreislauf zusammen-
hangen, nichts Krankliaftes aufwies.
Die anatomischen Verande-
rungen im Gehirn zeigten sowohl im
makroskopischen als auch im histolo-
gischen Bilde eine so weitgehendo Ahn-
lichkeit, daB eine gesonderte Be-
sprechung derselben gar nicht ange-
zeigt ist. Die makroskopische Unter-
suchung erfolgte im ersten Fall auf
frontalen, im zweiten auf horizontalen
Schnittebenen. Es ergab sich dabei,
daB in beiden Fallen eine bilateral-
syminetrische Enveichung im innersten
Teil des Pallidums vorliegt. Die Lage
Abb. 1. Erweichungsherd im inneren Kern und Ausbreitung der Herde zeigte in
des Globus pallid, aus dem Fall I von beiden Fallen eine weitgehende Gleich-
Kohlenmonoxydvergiftung. Der auBere formigkeit. Im Falle 1 sieht man am
Kern des Pallidums ist intakt, ebenso Frontabschnitt (Abb. 1) eine dreieckige
Putamen, Nucl. caudatus. Medialwarts Aushohlung im medialsten Pallidum-
begrenzt die innere Kapsel den Herd, gebiet, die sich medialwarts durch die
(Frontale Ansicht.) intakt erscheinenden Biindel der inneren
Kapsel, abwarts zu durch die vordere
Kommissur, aber auch lateralwarts ziemlich scharf gegen das gesund gebliebene
auBere Pallidum abgegrenzt ist. Die Durchmesser des Herdes betragen in dorso-
ventraler Richtung 6 mm; in mediolateraler Richtung 7 mm, in frontooccipitaler
Richtung 8 mm. Auf dem Horizontalschnitt des Falles 2 (Abb. 2) breitet sich der
Herd longs des vordersten Teiles des Hinterschenkels aus, reicht vorne bis zur
vorderen Kommissur, lfiBt lateralwarts den auBeren Teil des Pallidums frei, ist
aber nach dieser Richtung nicht so scharf begrenzt, wie im ersten. Die Herde
sind intensiv gelb gefiirbt, ilire Wand ist unregelmaBig ausgehohlt, namentlich
sieht man an der medialenWand einzelneRandbiindelder inneren Kapsel, wie siebalk-
chenformig ausgespartvomErweichungsprozeB.indieHohle hineinragen. Im Inneren
der Herde befindet sich eine lockere Gewebsmasse, die leicht entfemt w r erden kann.
Die mikroskopische Untersuchung wurde nach den iiblichen Methoden aus-
gefiihrt und ergab in beiden Fallen gleichlautend folgende Verfindenuigen:
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Anatomie der extrapyramidalen Bewegungsstorungen. 231
Nissl- und Van-Gieson-Bilder veranschaulichen gut die noch im Herd be-
findliche Triimmermasse. Diese besteht hauptsachlich aus dicht aneinander ge-
reihten Kornchenzellen mit groBem, gitterigem Zelleib; zwischen diesen findet
man zahlreiche, kleine, vom iibrigen Gewebe losgeldste GefiiBe, mit der gleich zu be-
sprechenden markanten Wandver&nderung. Endlich liegen zahlreiche, kleinere-
groBere, amorphe, kugelig geformte oder maulbeerenahnliche Schollen frei im
Zerfallsgewebe, die sich mit Hamatoxylin blaulich schwarz, mit Toluidinblau
dunkelblau farben. Die Wand der Herde gegen das Pallidum wird durch eine
stark aufgelockerte, spongiose Schicht
gebildet, in der die Ganglienzellen des
Pallidums vollkommen fehlen, hin-
gegen zwischen den kaum vermehrten
Kemen des Gliagewebes dichte Massen
von Kornchenzellen liegen. Herx-
heimer - Priiparate zeigen, daB die
Liickenfelder der spongiosen Grenz-
schicht mit groben Fettklumpen aus=
gefiillt sind, und die Kornchenzellen
ebenfalls mit fein verteilten Fett-
kornchen beladen sind; solche Fett-
komchenzellen kann man in einer
Verteilung um die GefiiBe auch in
entfernteren Teilen des Pallidums in
groBer Zahl auffinden; hingegen fehlen
sie im Putamen schon ganzlich. Eine
feinkornige Fettfiirbung begleitet die
Markfasernbiindel des Pallidums,
wahrend die benachbarten Biindel
der inneren Kapsel eine solche weniger
deutlich erkennen lassen.
In beiden Fallen war die iiufiere
Hiilfte des Pallidums vom ProzeB ver-
schont geblieben; eine betriichtlichere
Pigmentierung der Nervenzellen. die
hier alseinzigeVeranderung festgestellt
werden konnte, diirfte mit dem relativ
vorgeschrittenen Alter der Kranken Abb. 2. Horizontaler Schnitt aus der linken
zusammenhiingen. Ebenso zeigten Hemisphare des Falles II von Kohlen-
Putamen (Abb.10) undNucl. caudatus, monoxydvergiftung. Erweichungsherd im
Thalamus, Corp. Luysi und Nucl. inneren Teil des Pallidums. Siehe Text,
ruber auBer einer gesteigerten Pigmen-
tierung der Xervenzellen keine Abweichung vom normalen Bilde.
Wir waren seinerzeit nicht in der Lage, zur V T erfolgung der absteigenden
subpallidaren Markdegenerationen die in beiden Fallen angezeigt gewesene Marchi-
Methode anzuwcnden. Markscheidenpriiparate nach Spielmeyer und Weigert
lieBen in den Markstrahlvmgen zum lateralen Thalamuskern, Corp. Luysi und
roten Kern keinen merklichen Ausfall erkennen. Hingegen fiel es an Weigert-
schnitten, die die Umgebung der Herde umfaBten, auf, daB die dem Herd unmittel-
bar benachbarten Faserbiindel der inneren Kapsel — in einem eng begrenzten
Abschnitt — teils keine, teils nur schwache Markfftrbung zeigten; im zweiten Falle
war dieser Befund ein ganz augenfalliger.
Die Veranderungen der GefaBe konnten an mit Van-Gieson- und Resorcin-
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
232
H. Richter: Beit rage zur Klinik und pathologischen
Digitized by
Fuchsin gef&rbtenPrfiparaten gut verfolgt werden. Die schon vielfach beschrie-
bene Kalkablagerung in der GefiiBwand war in beiden Fallen eine reichliche.
Vomehmlich war die Media der kleinen Arterien (Prftkapillaren) von dieser be-
troffen. Im ersten Fall war sie weiter vorgeschritten ala im zweiten (kiirzere
Lebensdauer nacli der Vergiftung). Die Kalkablagenmg beschr&nkte sich in beiden
Fallen auf den Herd und die spongiose Grenzschicht desselben. In jiingeren
Stadien ist die Media, deren Kerne eine blasse Farbung zeigten, mit feinen, staub-
formig eingestreuten, durch H&matoxylin hellblau geffirbten Kornchen besetzt;
sie lagern ineist nur in einem Segment der GefaBwand. Ein spateres Stadium
diirften die Bilder veranschaulichen, wo man neben kleinen Kornchen auch groBere
Kugelchen findet, die eine dunklere Fftrbung zeigen und wahrscheinlich durch
Verschmelzung zu den Bildern der vorgeschrittenen Stadien fiihren, auf welchen
die Muskelschicht durch einen oder mehrere gleichmaBig dunkelblau gefarbte
Streifen ersetzt ist. In diesem Stadium ist die Kernfiirbung der iibrigen GefaB-
schichten bereits verschwunden. Oft zersplittert sich der Kalkring und fiihrt
zu einem volligen Zerfall der GefaBwand. In den Herden sieht man haufig Frag-
mente von Kalkringen, die von zerfallenen GefaBen herriihren. Manchmal bleibt
die Kalkablagerung und spatere Zerkliiftung der Wandschicht nur auf einen Teil
der GefiiBwand beschrfinkt. Eine zweite, weit seltenere Ablagerungsstatte bilden
die periadventitiellen Virchow-Robinschen Raume, ausnahmsweisediefiuBere Schicht
der Adventitia. Ahnliche Farbung und Struktur zeigende Gebilde lagen frei imGewebe:
im Herd und in der spongiosen Grenzschicht. Im Falle 1 traf ich im benachbarten
Pallidum vereinzelt Bilder, die den Anschein verkalkter Ganglienzellen erweckten.
Im zweiten Fall bestand eine bilateral-symmetrische Thrombotisierung der
Art. cerebri media, und zwar in ihrem Hauptast in der Fossa Sylvii. Die histo-
logische Untersuchung zeigte, daB der Thrombus nirgends zum volligen VerschluB
des GefaBlumens fiihrte.
Die Veranderungen der Himrinde konnen kur/. dahin zusammengefaBt
werden, daB diese in stellenweise wechselnder Intensitat, ziemlich diffus chronisch-
regressive Verfinderungen zeigte, die im zweiten Fall vielleicht mehr ausgesprochen
waren. Es fehlten dabei irgendwelche Zeichen einer Parenchymerwcicliung, wie
iiberhaupt die Merkmale eines intensiveren Abbauvorganges. An den GefaBen
waren wohl regressive Wandverfinderungen (schlechte oder fehlende Kernfarbung,
Zerkliiftung der Wandschichten) otters zu sehen, doch fehlte die aus demPallidum
bekannte Kalkablagerung giinzlich. Auch im freien Gewebe konnten keine Kalk-
konkremente festgestelilt werden. Hingegen waren im zweiten Falle einzelue
Rindenkapillaren dadurch aufgefallen, daB ihr Lumen durch eine homogene,
mit Toluidinblau sich tiefblau, mit Hainatoxylin tiefschwarz fiirbende Masse aus-
gefiillt war; die GefaBwand war auch bei diesen frei von Kalkschollen. t)ber die
Bedeutung dieser Niederschlagsprodukte konnte ich Nftheres nicht erfaliren; daB
es sich um keine gewohnlichen Blutthromben handelt, darauf weist ilire histolo-
gischeStruktur und Farbung hin; sie unterscheiden sich in dieser Hinsicht gfinzlieh
von dem Thrombus in der Art. fossae Sylvii. — Die Markfasern der Rinde lassen
einen diffusen Ausfall in der Tangentialschicht und in den Rindengeflechten er-
kennen, der aber nirgend zu herdformigen Ausfiillen fiihrte. Die Nervenzellen zeigen
fast durchweg verschieden vorgeschrittene Stadien der chronischen Nervenzeller-
krankung. Bei den meisten ist derZelleib geschrumpft, dieXissl-Schollen verschwun¬
den, das Protoplasma dunkelblau tingiert, die Fortsatze diinn, oft korkzieherartig
gewunden; der Kern nurseltener verandert. DieWucherung derGliazellkerne ist haupt-
sachlich in der Niilie der GefaBe ausgesprochen; hier waren im ersten Fall Bilder
einer stiirkeren Gliafaserung offers zu sehen. Fur eine besondere Bevorzugung ge-
wisser Rindengebiete anderen gegeniiber boten meine Bilder keine Anhaltspunkte.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Anatomic der extrapyramidalen Bewegungsstdningcn.
233
Falit man die wesentlichen Krankheitsziige der beiden Falle zu-
sainmen, so ergibt sich. dab in beiden Fallen schon einige Tage nach
einer stattgefundenen Kohlengasvergiftung eine hochgradige Verstei-
fung tier gesamten Korpermuskulatur in Erscheinung trat. begleitet
von mimischer Gesichtsstarre, Bewegungsarmut und Bewegungsverlang-
saraung, Neigung zum Beibehalten abnorracr Stellungen und Ausfall
der gewohnlichen Orientierungs-, Schutz- und Ab wehr bewegungen.
Gemeinsam ist fiir beide Falle das Fehlen der bekannten extrapyrami¬
dalen Hyperkinesen (choreatisch-athetotische Bewegungen: im ersten
Falle bestand einmal einige Stunden lang Tremor der Hande). Die
Sehnenreflexe waren in beiden Fallen anfangs gesteigert, spater ab-
geschwkcht, die Pyramidenzeichen fehlten im ersten Falle, im zweiten
waren hie stets angedeutet gewosen. In beiden Fallen bestand Harn-
inkontinenz (im ersten stellte sich diese erst etwa nach einem Monat
ein). Im ersten Falle hatte die Sprachstorungeinen corticalenCharakter:
im zweiten bestand neben Dysarthrie auch Dysphagie. Beide Falle
zeigten wahrend ihrer ganzen Beobachtungszeit eine mehr oder weniger
starke Trubung des Sensoriums. In beiden bestand eine Lungenent-
ziindung, die aLs die unmittelbare Tcxlesursache angesehen werden kann.
Das pathologisch-anatomische Substrat der Gehirnerkrankung war
in beiden Fallen gleichlautend eine bilateral-symmetrische Erweichung
des medialstcn Pallidumgebietes, fur deren Entstebung weder eine
Kreislaufstorung (Thrombose, Embolie), noch eine in den betreffenden
Gebieten sich abspielende Entziindung verantwortlich gemacht werden
konnte; die Thrombose der Art. cerebri media im ersten Fall kann mit
der Pallidumerweichung um so weniger in Zusammenhang gebracht
werden, da die Blutversorgung des Pallidums bekanntlieh durch die
Art. cerebri anterior erfolgt. Die anfanglich gesteigerten Sehnen¬
reflexe und die im zweiten Fall angedeutet gewescnen Pyramiden¬
zeichen diirften ihre ErklArung darin finden, dab die Erweichungs-
herde in beiden Fallen sich eng der inneren Kapsel angrenzten, und
zwar, wie der Horizontalschnitt aus dem zweiten Fall zeigt, gerade
dem vordersten Drittel des Hinterschenkels, wo bekanntermaben die
Pyranndenbiindel fur die Glieder verlaufen; einzelne Faserbiindel
zeigten hier auch eine fehlende oder schwache Markfarbung.
Die hier angefiihrten Beobachtungen kdnnen weder vom Stand-
punkt des klinischen Bildes, noch weniger aber in bezug auf die patho-
logisch-anatomische Grundlage auf Neuartigkeit Anspruch erheben.
Namentlich hat zuletzt Wohlwill in der arztl. Verein. Hamburg iiber
die Gehirnveranderungen bei Leuchtgasvergiftung berichtet, wo er
uliter 8 Fallen von Kohlengasvergiftung sechsmal die symmetrische
Erweichung des Globus pallidus nachweisen konnte. Man findet in
dem summarischen Bericht liber diesen Vortrag neben den anato-
.\rclilv fiir Pgvchiatrie. lid. 67.
Digitized by Google
16
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
236
H. Richter: Beitrfige zur Klinik und pathologischen
Digitized by
mischcn Bemerkungen auch Hinweise auf das einformige klinische Bild,
in welchem starke Rigiditiit tier Muskulatur die Hauptrolle spielt.
Da aber in Wohlwills Fallen eine langere klinische Beobachtnng
scheinbar nicht vorlag, glaubte ich, keine iiberflussige Arbeit zu ver-
richten, wenn ich die Falle hier zur Mitteilung bringe. Den haupt-
sachlichen Grund hierfiir erblicke ich in dem Umstand, daB wie Wohl-
will auf tier vorjahrigen Tagung der Ges. D. N. hervorhob, diese Falle
die erste GesetzmaBigkeit beziiglich der Lokalisation innerhalb der
striaren Herderkrankungen in der sinnfalligsten Weise bekr&ftigen.
Bekanntlich haben O. u. C. Vogt als Erste auf Grund mehrfacher
Beobachtungen den Satz aufgestellt. daB bei beiderseitigem Ausfall
der Pallidumfunktionen eine zunehmende Spannung der Korper-
muskulatur eintritt, ohne choreatisch -athetotische Bewegungen und
ohne Tremor, und daB dieser reine Rigor in seinem Endzustand zur
,,Versteifung in vertrackten Stellungen" fiihrt.
Die Falle, aus welchen O. u. C. Vogt die These des Pallidum-
syndroms ableiteten, waren teils Eigenbeobachtungen der Falle vom
,,Status dysmyelinisatus"*, teils die in der Literatur befindlichen Falle
von sog.Totalnekroseder Stammganglien. Nun haftet abe r diesen Beweis-
fiillen der ,,Schdnheitsfehler“ an, daB sie entweder klinisch nicht das
reine Bild der Muskelstarre zeigten, oder wenn ein solches best and, da*-
anatomische Substrat nicht auf das Pallidum beschrankt war. Das
klinische Bild der zwei Falle von ,,Status dysmyelinisatus" enthalt
in den weniger vorgeschrittenen Stadien anfallsweise auftretende,
athetotische Bewegungen und spastische Krampfanfalle, erst spater
kommt es zur ausgesprochenen Versteifung: das Krankheitsbild ent-
spricht also der Begriffsbestimmung; progressive, mit allgemeiner
Versteifung endigende Athetose. Anatomisch waren die Falle durch
eine \ r olumvcrminderung des Pallidums, G. Luysi, der Thalamuskernc,
durch teilweisen Ausfall tier striopallidaren und schweren Ausfall jener
Faserziige gekennzeichnet, die aus dem Pallidum zum Thalamus und
Hypothalamus fiihrcn. Ahnliche Verhaltnisse hot der in jugendliehem
Alter stehende Fall 0. Fischers.
Tn den Fallen von H. Deutsch und v. Econorao entsprach das
klinische Bild einer reinen Muskelstarre, doch zeigte sich im anatomisehen
Befund neben einer zweifellosen Pallidumschadigung die vorwiegendc
.Affektion des Striatums. Im Thomallaschen Fall waren anfangs
torsionsspastische Erscheinungen im Vordergrund, die spater zu einer
\ r ersteifung fiihrten; an der Totalnekrose lieteiligte sich neben dem
Pallidum in hohem MaBe auch das Striatum. Auch in den Fallen der
Forsterschen arteriosklerotischen Muskelstarre, die von 0. u. (’. Vogt
untersucht wurden, zeigte sowohl das Pallidum als auch das Striatum
den ,,Status desintegrationis“.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Anatomie tier extrapyramidalen Bewegungsstorungen. 235
Wir verfiigen also heute noch iiber keinen Fall, in welchem eine
von Beginn an reine, durch Hyperkinesen nicht komplizierte Muskel-
starre mit einer auf das Palliduragebiet beschrankten, isolierten Affek-
tion verbunden war. Die beiden hier mitgeteilten Falle liefern aber
— bekraftigt durch Wohlwills gleichlautende Beobachtungen —
den strikten Beweis, daB die Vogtsche Feststellung, wiewohl sie auch
nicht an unkoraplizierten P'allen erhoben wurde (und sie muB deshalb
urn so hoher eingeschatzt werden), zu Recht besteht. In unseren Fallen
war nicht das ganze Pallidumgewebe zerstort, sondern nur der innerste
Teil; der Herd lieB das Gebiet das Globus externus frei und hier konnte
histologisch intaktes Nervengewebe festgestellt werden. Der Herd von
geringem Urnfang zerstdrte im medialen Pallidu rage biet lediglich die
wichtige’Cbergangsstelle, wo der grbBte Teil der strio- und pallidofugalen
Fasern vor ihrem Abstieg zu den subpallidaren Zentren auf einen ganz
engen Raum verdichtet sind. Werden diese Knotenpunkte durch einen
krankhaften ProzeB beiderseitig zerstort, so raiissen w r ir den Ausfall
saratlicher strio-pallidofugalen Innervationen gewartigen und die auf-
tretenden klinischen Symptome in diesem Sinne bewerten. Wir er-
blicken also das pathologische Moment, das fiir das Krankheitsbild
verantwortlich gemacht werden kann, nicht so sehr in der Las ion des
Pallidum, vielmehr in einer schweren Schadigung und Leitungsunter-
brechung im Fasergebiet der subpallidarenBahnen, die vom Erweichungs-
herd gerade an jener Stelle getroffen wurden, wo sie am dichtesten
aneinandergedrangt sind. Halt man sich vor Augen, daB — mit Aus-
nahme der wenigen, separat verlaufenden Biindel der Ansa lenticu-
laris — samtliche efferenten Ziige des Nucl. caudatus, Putamen und
Globus pallidus durch diesen EngpaB durchziehen, um sich dann
in die zohlreichen subpallidaren Zentren zu zerstreuen, dann wird
man es fiir erklarlich finden, daB eine beiderseitige Zerstdrung dieser
Stellen — auch wenn sie isoliert zustande komrat — zu einer allgemeinen
schweren Muskelstarre und den iibrigen striopallidaren Ausfallserschei-
nungen fiihrt. Die beiden Falle lassen auch erkennen, daB die klinischeji
Symptome nur als Ausfallserscheinungen und nicht als Reizsymptome
aufgefaBt werden diirfen: das klinische Bild zeigt in beiden Fallen eine
Einformigkeit und Stabilitat, und das anatomische Substrat entspricht
einer einfachen, durch Erweichung verursachten Leitungsuliterbrechung
des striopallidofugalen Fasersystems. Es ist also naheliegend im Sinne
Y 7 ogts anzunehmen, daB die Muskelrigiditat und die wahrscheinlich
mit ihr einhergehende Bewegungsverlangsamung den Effekt einer
subpallidaren Enthemraung darstellen, wahrend der Ausfall der als
primare Automatismen bezeichneten Bewegungen, wie Mimik, Orien-
tierungs- und Schutzliewegungen, als Folge der aufgehobenen strio-
pallidiiren Innervieiungseinfliisse anzusehen ist. Bei dieser Auffassung
16 *
Digitized by Got >gle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Digitized by
23CS H. Richter: Beitrnge zur Klinik und pathologischen
kann man auch cine Erklarung finden fiir den Unterschied, dor
im klinischen Bilde zwischen den Vogtschen Fallen von Status
dysmyelinisatus und den unseren besteht. Dieser ist erstens in der
verschiedenartigen Lokalisation, zweitens und hauptsachlioh aber in
der Verlaufsart der Krankheit gegeben. In den Vogtschen Fallen
entwickelt sich ein eminent chronischer ProzeB im ganzen Pallidum;
zerstort hier in allmahlichem Fortschritt sowohl die striopallidaren,
als auch die pallidofugalen Fasern: der Ausfall der ersteren bedingt
Hyperkinesen, ebenso wie die Erkrankung eines Teils des Striatums
solche verursacht. Diese bestehen unverandert so lange, als sie durch
leitungsfahige pallidofugale Fasern weiter vermittelt werden. Werden
aber letztere bei Fortschritt des Prozesses in immer groBerem Malle zer-
stort, so tritt die hyperkinetische Komponente des KrankheitsbiIdes
mehr in den Hintergruiul, und es treten die reine Muskelstarre aLs
subpallidiire Enthemmung, sowie die Akinesen als pallidare Ausfalls-
erscheinungen immer starker hervor. In unseren Fallen war der Prozell
nur auf jenen Teil des Pallidums beschrankt, in welchem keine strio¬
pallidaren, sondern lediglich nur pallidofugale Fasern verlaufen, so,
daB die plotzliche, schwere Lasion dieser Faserung eine hyperkineti-
tische Bewegung, selbst wenn eine solche durch das tjbergreifen des
anatomischen Prozesses auf das Striatum bedingt gewesen ware, unter-
driickt hatte. In unserem ersten Falle war die spontane Dorsalflexion der
grollen Zehe ofters zu beobachten, bei gleichzeitigem Fehlen derselben,
wenn nach dem BabinskischenZeichen gepriift wurde. Wir konnen alsodie
Ansicht V r ogts bestatigen, nach der es sich bei diesem Pseudobabinski uin
eine striar bedingte Zwangshaltung handelt. Nur scheint gegen die V ogt -
sche Annahme — es handle sich hier um eine rudimentare Athetose —
in unserem Falle dieTatsache zu sprechen, daB hier die iiblichen Hyjx^r-
kinesen fehlten, insbesondere athetotische Bewegungen; so daB wir
geneigt waren, diese Zwangshaltung als eine mit der Muskelsteifigkeit
einhergehende, also auch bei eminent striaren Erkrankungen zu ge-
wilrtigende Erscheinung anzusehen.
Ob die in beiden Fallen beobachtete Harninkontinenz im Sinne
der Beobaehtungen von Marburg und v. Czilarz als eine striar
bedingte Ausfallserscheinung aufzufassen sei, mochte ieh unentschieden
lassen. Die gleichzeitig bestandencn psychischen Storungen und
Rindenveranderimg lassen auch einen corticalen Ursprung als nahe-
liegend erscheinen, dies um so mehr, als die Blasenstorung im ersten
Fall erst einen Monat spater als das iibrigc ziemlich unverandert ge-
bliebene Pallidumsvndrom auftrat und im zweiten Fall wahrend der
ganzen Beobachtung schwere Storungen der corticalen Funktionen lx*-
standen hatten.
Dvsarthrie und Dysphagie striaren Charakters bestanden nur im
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Anatomie tier extrapyramidalen Bewegungsstorungen.
237
zweiten Falle, im ersten hatte die Sprachstbrung einen ausgesprochen
corticalen Charakter.
Die psych ischen Ausfallserscheinungen waren in beiden Fallen
ausgesprochen, im zweiten war cine mehr-weniger standige Triibung
des Sensoriums vorhanden, an deren corticaler Natur nicht gezweifelt
werden konnte. Der stupordse Zustand des ersten Falles zeigte manche
verwandte Ziige mit Zustandsbildern, die bei encephalitischer Affektion
ties Striatums und l)ei manchen Wilsonkranken beobachtet wurden.
Auffallend war aber in diesem Falle die vdllige Amnesie der Kranken
in bezug auf ihre Erkrankung und deren Verlauf und auch eine gewisse
Gedachtnisabnahme beziiglich friiherer Erinnerungen. Dieses Symptom
erschien mir deshalb bemerkenswert, da ich unlangst einen Kranken
beobachten konnte, der naeh einer Kohlengasvergiftung als sozusagen
einzige Ausfallserscheinung eine hochgradige Gedachtnisschwache
zeigte, die noch D/ 2 Jahre nach der Vergiftung unverandert war. Es
handelt sich um einen 33jahrigen Advokaten, der deshalb seinen Bemf
aufgeben muBte und —merkwiirdigerweise — seine intakt gebliebenen
friiheren Kenntnisse im Sprachunterricht verwertete. Es waren die
Erinnennigen aus der Zeit vor der Vergiftung gut erhalten, nur das
Gedachtnis fiir laufende Angelegenheiten war fast ganzlich aufgehoben;
dabei fiel die Teilnahmslosigkeit und Gleichgiiltigkeit auch dem eigenen
Zustand gegeniiber auf. Hatte er irgendwelche Agenden zu verrichten,
so wurden sie ihm immer notiert; aber auch diese Ma I3nah me erwies
sich aLs unzuverlassig. Ich priifte seine Merkfahigkeit (lurch die Auf-
gabe von Erlernen kurzer Versabschnitte; es zeigte sich, daU er diese
ziemlich rasch erlernte, aber schon nach einer Stunde vergaB: einen
zu Hause gut hergesagten Abschnitt konnte er mir nur dann vorsagen,
wenn er ihn vorher noch einmal durchlas. Dabei kam es vor, daB er
an drei hintereinander folgenden Tagen diesellx‘ Aufgabe von neuem
gelernt hat. Adressen von haufiger besuchten Wohnungen hat er oft
verfehlt. Die korperliche Untersuchung ergab nichts Pathologisehes.
Die schwere Stoning der Merkfahigkeit fiel besonders deshalb stark auf,
weil die iibrigen geistigen Fahigkeiten, Allgemein- und Fachkenntnisse,
iiberhaupt die Intelligenz keinen bemerkbaren Ausfall zeigten.
In der zusammenfassenden Arbeit von Sibelius iiber die psychi-
schen Storungen nach Kohlenoxydvergiftung werden neben eehten
Psychosen psychopathisehe Folgezustiinde beschrieben, in deren Vorder-
grund Storungen des Gedachtnisses stehen. Die retrograde Amnesie
in bezug auf die Umstande der Vergiftung und nachherigen Erkrankung
gehoren zum gelaufigen Krankheitsbild; aber auch Falle mit iiber-
wiegender relativ isolierter Stoning der Merkfahigkeit (wie sie in meiner
obigen Beobachtung vorlag), sind beschrieben, der erste von Briand.
Sibelius erblickt in diesen Ausfallserscheinungen den klinischcn Aus-
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
238
H. Richter: Beitrage zur Klinik und pathologischen
Digitized by
druck der durch die CO-Vergiftung hervorgerufenen Rindenveranderun-
gen, die er und andere schon friiher nachweisen konntcn; er weist die
Moglichkeit, dab diese psychogen bcdingt sein konnen, zuriick. Auch in
unseren Fallen deuten die, wenn auch nicht so schweren Veranderungen
des Rindenparenchyras auf die organisch-toxische Herkunft der bestehen-
den retrograden Amnesie und der iibrigen Bewubtseinsstorungen bin.
Ober die Kalkablagerungen im Erwcichungsgebiet des Globus
pallidus soli bier nach den ausfuhrlicben Beschreibungen von Kolisko,
Poelchen, Diirck, YVohlwill und H. Spatz nur kurz angedeutet
werden, dab ihre Spczifitat in unseren Fallen nicht durch den krank-
machenden Faktor (CO-Vergiftung), sondern durch die Statte ihrer
Ablagerung bcdingt ist. Wollenberg und Spatz zeigten, dab Kalk-
ablagerungen im Globus pallidus auch unter normalen Verhaltnissen
vorkommen: .sie wurden hier in Fallen von Chorea und epidemischer
Encephalitis (Diirck) haufig gcfunden. Im eminent chronischen
Falle von O. Fischer waren sie ebenfalls cine Begleiterscheinung des
Destruktionsprozesses im Pallidum. In unseren Fallen war die Kalk-
ablagerung strong auf das erkrankte Gebiet des Pallidums beschrankt;
nichtdestoweniger ist die Annahme, dab die Erweichung mit der Gefiib-
verkalkung in einem ursachlichen Zusammenhang stiinde, auf Grund
obiger Befunde von der Hand zu weisen; auch zeigten sich keine Lunien-
veranderungen, die die Moglichkeit einer Kreislaufsstorung wahrschein-
lich machen konnten.
Man wird sich heute die Entstehung der Erweichungsherde im
Pallidum, die einen — man darf wohl sagen — hiiufigen Folgezustand
nach Kohlengasvergiftung darstellcn, am leichtesten erklaren, wenn
man eine spezifische Affinitiit dieses Hirnabschnittes zur Giftwirkung
des Kohlenmonoxyds annimmt, wie es Wohl will tut. Die klinischen
Beobachtungen von .Jaksch und Seelert lassen vermuten, dab das
Pallidum auch dem Mangangift gegeniiber einen Locus minoris resisten-
tiae darstellt. Die Kalkablagerungen im erkrankten Gebiet sollten aber
im Sinne Jakobs so aufgefabt werden, dab ,,sie bei starkerer Betonung
ein sinnfalliger Ausdruck der Affektion dieses Gebietes“ sind.
II.
Die Aufzeichliungen des im Folgenden zu besprechenden Falles
von Hemiathetose verdanke ich der Freundlichkeit des Abteilungs-
arztes Dr. E. Fodor; diese enthalten auszugsweise folgendes:
Der 53jahrige Kranke. S. Sch., wurde das erstemal am 5. VII. 1919 auf die
interne Abteilung des hiesigen judischen Spitals aufgenommen. Aus der Anamnese
erfahrt man, daB seine Eltern gesund sind. Aus seiner ersten Ehe entstammen sieben
Kinder, aus der zweiten drei (1 Friihgeburt). Lues negiert, starker Raucher.
maBiger AlkoholgenuB zugegeben. Seit Jahren herzleidend. Seit 4 Wochen Herz-
klopfen, ranches Ermiiden, schweres Atmen, haufig Schwindelgefiihl.
Gotigle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Anatomie der extrapyramidalen Be wegungsstor ungen.
239
Bei der Untersuchung ergab sich folgender Befund: Erweiterte Hautvenen,
cyunotische Nase und Finger. Erweiterter Thorax, kaum bewegliche Lungengren-
7 .en. Atmung sonst gut. Diimpfung der Aorta bedeutend vergroBert, hier neben
deni svstolischen Ton blasendes systolisches Gerausch, scharfer, akzentuierter
diastolischer Ton horbar. Pulsus celer et altus, schwer zu unterdriicken. Leber
etwas vergroBert. Xervensystem: Himnerven frei. Keine motorischen und
Sensibilitatsstorungen. Patellar- und Achillessehnenreflexe beiderseits gesteigert.
FuBsohlenreflex in Form von Plantarflexion, Klonus fehlt. Bauchreflex vorhanden.
Im Ham EiweiB. Die Diagnose lautete damals: Aortitis incompensata, Xephro-
sklerosis. Emphysema. Xach ausgiebiger Venaesektion trat in seinem Zustand
Besserung auf. so daB er nach einigen Tagen entlassen werden konnte.
2. Spitalsbehandlung Xov.-Dez. 1919. Xach Angaben des Kranken und seiner
Frau befielen ihn am 20. IX. nachts heftige Schmerzen in den rechtsseitigen Glie-
dern und in der Friih konnte er diese nicht bewegen. Auch hatte er das Gefiihl in
denselben verloren. Das BewuBtsein war dabei nicht gestort. Allm&hlich kelirte
das Gefiihl in den Gliedern zuriiek, nach 2 Wochen konnte er schon gehen und
etwas spater die Hand bewegen. Gleichzeitig mit der Riickkehr der Beweglich-
keit traten in der Hand schmerzhafte Kriimpfe auf, die aus den Fingern ihren
Ausgang nahmen und sich auf den Unter- und Oberarm erstreckten. Seit dieser
Zeit fiihlt er die rechte Korperseite iramer kalt und hat hier oft nadelstichartige
Gefiihle. Auch im Munde fiihlt er reehts anders als links. Er ist seit diesera Anfall
stark vergeBlich, pflegt die Xamen der Gassen oder seiner Kinder zu vergessen.
Kr hat nachts offers Anfalle von schwerem Atnien, so daB er aus dem Bette steigt
und stundenlang herumgeht. Die Untersuchung der inneren Organe ergibt im
wesentlichen den friiher erhobenen Befund.
Xervensystem: MiiBige Vorvvolbung beider Augapfel. Pupillen mittelweit,
rund, reagieren auf Lichteinfall und Akkomodation gut. Augenbewegungen frei.
kein Xystagmus. Facialis beiderseits gut innerviert. Zungenbewegungen frei,
die gestreckte Zungenspitze weicht etwas nach links ab. Die grobe motorische
Kraft der rechtsseitigen Extremitaten ist kaum vermindert. die Beweglichkeit
aber in hohem MaBe eingeschrftnkt dutch Spannungszustande und fortwahrende
athetotische Bewegungen der Finger, des Unter- und Oberarmes; am Beine sind
diese Erscheinungen viel weniger ausgesprochen. Der Gang weicht nur darin
von der Xomi ab, daB er etwas breitspurig ist; das Bein wird nicht geschleift.
Knie- und Achillessehnenreflexe beiderseits gesteigert. reehts lebhafter. FuB¬
sohlenreflex ergibt reehts und links Plantarflexion, Oppenheims Zeichen reehts
manchmal angedeutet. Die Sensibilitatspriifung ergab eine Hyperiisthesie und
Hyperalgesie der ganzen rechten Korperhalfte. Hier klagt er iiber das friiher er-
wfthnte, standige Kaltegefiihl und andere schmerzhafte Parasthesien (Xadelstiche).
Spraehe, Schlucken gut, Sinnesorgane ohne Ausfallserscheinungen.
Wiederholte Venaesektion und Hyoscin brachten eine wesentliche Er-
leichterung. Der Blutdruck sank von 198 auf 145; auch die Schmerzen und die
motorische Unruhe lieBen etwas nach. In diesem Zustand wurde der Kranke
Ende Dezember entlassen. Keine wesentliche Anderung bis zur anderthalb Jahre
spater erfolgten
3. Spitalaufnahme Juli 1921. Der Kranke berichtet. daB er seit ungefahr
2 Monaten heftige Stichschmerzen in der linken Seite einpfindet, die von der
Achselhohle bis zur Iliacalgegend reichen und unter den Rippen besonders stark
sind; sie treten unabh&ngig von den Mahlzeiten auf, dauem einige Stunden lang
und horen wieder auf. Die Schmerzen und Krampfzustande in den rechtsseitigen
Gliedern bestehen wohl, sind aber etwas milder, als anfangs. Er fiihlt die rechte
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
240
H. Richter: Beitriige zur Klinik und pathologischen
Digitized by
Seite noch immer anders, als die linke; auch die nadelstichartigen Parftstheaien
kehren oft zuriick. Der Kranke ist sehr erregt, schlafloe, beschfiftigt sich niit
Sel bst mordgedanken.
Stat. praes. Outer Ernahrungszustand. Lungen- und Herzbefund un-
verandert. Im Harn EiweiB in minimalen Spuren, im Sediment 2 bis 3 rote Blut-
korperchen. Augenuntersuchung ergab neben maBiger Myopie konzentrisehe
Einengung des Sehfeldes um 10—30°; Augenhintergrund undeutlich, feine Nebel
im Glaskorjjer. — Hininerven frei; Sprache, Nchluckvermogen unbeeintrfichtigt.
Der rechte Arm befindet sich in stiindiger motorischer Unruhe; die fortwfthrend
wechselnden SpannungszustAnde und athetotischen Bewegungen der Handfinger,
des Unter- und Oberarmes storen die aktive Beweglichkeit in so hohem MaSe,
daB er diese Hand zum Essen oder Halten von Gegenstfinden kaum mehr benutzt.
Das Bild der Bewegungsstorung hat sich insofem geiindert, daB neben den friiher
beobachteten rein athetotischen Bewegungen jetzt in kiirzeren Intervallen heftige,
choreiforme Greif- und Ruckbewegungen des Armes, besonders in den distalen
Partien dazugetreten sind. die den Kranken oft veranlassen. seinen Arm irgendwio
fixiert zu halten; gewohnlich benutzt er seine linke Hand dazu. Die Finger der
rechten Hand zeigen eine nuffallende Veriinderung: die interphalangealen Gelenke
sind spindelformig verdickt; diese wird durch die Umfangszunahme der Phalanx-
epiphysen verursacht, wahrend der iibrige Teil der Phalangen im Vergleich mit
der linken Hand eher verdiinnt erscheint. Die Hand ist blaB, leieht cyanotisch.
Am Bein ist die motorische Unruhe nur mehr wenig ausgesprochen; hier bel&stigen
ihn nur die haufig auftretenden, mobilen Spasmen. Die Nehnenreflexe sind rechts
an der oberen und unteren Extremitftt noch immer etwas lebhafter als links; die
pathologischen Pyramidenzeichen fehlen. Der Gang ist kurzschrittig und etwas
breitspurig. Keine Ataxie. Blutdruck: 165—70.
29. Y'll. Nachdem sich die Nchinerzen nacli Hyoscinbehandlung etwas
milderten, und die hartniickige .Schlaflosigkeit gebessert ist, wurde er entlassen.
4. Spitalsbehandlung. Oktober-Dezeinber 1921. Xach Angabe seiner Frau
sind die .Schmerzen in der rechten Korperhiilfte seit 6 Wochen wieder sehr heftig,
manchmal so, daB der Kranke sich wie zerstort gebardet. Seit einer Woche ist
er gar nicht zurechnungsfahig. Bei der Untersuchung zeigt er eine hochgradige
psychomotorische Unruhe, sieht Schreckgespenster vor sich, die ihm Hiinde und
Beine abschneiden wollen. „Sie waren zu Hause im Keller versperrt.“ Die athe-
totisch-choreiformen Bewegungen des rechten Armes sind sehr lebliaft; auch
am Bein vorhanden, doch weniger intensiv. ltei passiven Bewegungen beobaehtet
man eine deutliche Rigiditat dieser Glieder. Knie-Achillesreflexe rechts etwas
lebhafter als links, puthologische Pyramidenzeichen fehlen, kein Clonus. Die
Kalteparilsthesie ist rechts noch vorhanden, die spontanen Schmerzen scheinen
heftig zu sein. Priifung der objektiven Kensibilitat ergab keinen Ausfall; die Hyper-
asthesie ist weniger ausgesprochen. Im Urin EiweiBprolje schwach positiv. im
Sediment einige Hyalinzylinder. Trij>elphosphat und viel Bakterien. In den letzten
Tagen zeigte sich Harninkontinenz.
Wahrend der zweimonatigen Spitalsl>eobachtung stellte sich allmahlicli
wieder eine leichte Besserung ein, die aber ofters durch eigentvimliche Schmerz-
attacken unterbrochen wurde. Diese Attacken zeichneten sich durch das plotzliche
Auftreten von besonders heftigen Schmerzen im rechten Gesicht, Arm, Brust
und Bauch aus, waren auch in der Herzgegend sehr intensiv; der Kranke springt
aus dem Bett und geht wie zerstort im Zimmer herum. Brechreiz und wiederholtes
Erbrechen wurde dabei beobaehtet. Wahrend des Anfalles war die rechte Hand
auffallend blaB und kiihl. die Wand der Radialis stark kontrahiert. Wiederholte
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Anatomie der extrapyramidalen Bewegungsstorungen.
241
Messungen zeigten, daB die Schmerzattacke imraer mit einem plotzlichen Anstieg
desBlutdruckes verbunden war; dieser betrug wahrend des Anfalles 172—85mm/Hg,
nach dem Anfall 132—50 (Rr.). — Am 25. X. hat er bei einem solchen hyperto-
niachen Schmerzanfall Blut erbrochen.
Die spfiter durchgefiihrte Magenuntersuchung zeigte eine Hyperaciditfit
(freie HC1 37,7, Gesamtaciditfit 54,6); Blutprobe blieb negativ. Eine Rontgen-
nnterauchung des Magens muBte wegen des Allgemeinzustandes unterbleiben.
Beim Abgang des Kranken war sein allgemeiner Emfthrungszustand stark
herabgesetzt. Die Bewegungsunruhe hat sich insofem gebessert, daB die chorei-
formen Ruckbewegungen nachgelassen haben, und wieder das fruhere Bild der
reinen Athetose zum Vorschein kam. Reflexe zeigen reehts keine deutliche Steige-
ning gegen links, Babinski-Oppenheim negativ. Die Rigiditfit des Beines hat
etwas nachgelassen. Der Kranke ist niedergeschlagen, seine Korperhaltung eine
gedruckte, der Gang miihsam.
Die 5. Aufnahme erfolgte Ende Januar 1922. Zunahme der friiheren Beschwer-
den, Schmerzen und Parfisthesien reehts wieder lebhafter; er fuhlt jetzt die rechte
Halfte bald heiB, bald kalt. Die Spannung im rechten Bein hat stark zugenommen,
er kann das Bein im Knie nicht strecken und kann deshalb nicht gehen.
Die Untersuchung ergab eine ausgesprochene Rigiditfit in den reehtsseitigen
Extremitfiten mit Neigung zu Contracturen. Fortwfihrende athetotisch-chorea-
tische Bewegungen im rechten Arm, dessen aktive Beweglichkeit eine minimale
ist. Hyperfisthesie der rechten Korperhfilfte, mit Ausnahme der EuBspitze, die
eher hypftsthetisch zu sein scheint. Reflexe beiderseits erhoht. Pyramiden-
zeichen fehlen. Pupillen gleichmfiBig mittelweit, rund, reagieren prompt. Augen-
bewegungen frei. Zungenbeweglichkeit gut. Sprache, Schluckakt normal. Pro-
trusio bulbi unverftndert. Bauchreflexe vorhanden. SpitzenstoB mit zwei Finger-
breiten auBerhalb der Medioclavicularlinie; Herzdfimpfung auch nach reehts
vergroBert. Lungenbefund unverftndert. Am 30. I. hatte der Kranke einen be-
sonders heftigen Schmerzanfall, wobei der Blutdruck 240—90 Hg (nach Riva-
Rocci) betrug. Leber 2 Querfinger unterhalb des Rippenbogens tastbar. Cvanose
der Haut, Puls rhythmisch, prall, stark wellig, betragt 80 pro Minute. Reehts
ist er kleinwelliger als links. Athetotische Unruhe unverfindert. Morphin-Papa-
verin blieben ohne Wirkung. Xachmittags trat wiederholt starkes Erbrechen auf;
nachher sank der Blutdruck rasch auf 75—45 Hg. reehts konnte man den Puls
nicht mehr tasten. Abends gestorben.
Die Sektion erwies neben den in vivo schon vermuteten V'erfinderungen des
Herzens, der GeffiBe und Xieren ein calloses Magengeschwiir an der klemen
Kurvatur, nahe dem pylorischen Anted, das mit der Umgebung stark verwachsen
war.
Das in Formol gehfirtete Gehirn wurde in Frontalschnitten untersucht
und nachher histologisch untersucht. Die Ergebnisse varen folgende:
Der Hauptsitz der auch makroskopisch wahmehmbaren Veranderungen
war der Kopfanteil des linken Schweifkorpers. Abb. 3 veranschaulicht sie. Es
fftllt auf dem Bilde vor alleni die betrfichtbche Volumverfinderung des linken
Caudatums auf, die hauptsfichlich durch eine tief eingezogene Falte an der medialen
• Ventrikelflfiche bedingt ist. In der Richtung dieser Falte zieht eine Erweichungs-
cyste durch den Kopf des Schweifkorpers, die vorne, im oroventralen Gebiet des
Caudatums, bis zur Ventrikelflfiche reicht, von dieser nur durch eine dunne, durch-
sichtige Wand getrennt ist und von hier sich caudalwfirts immer mehr nach dem
Inneren des N. caudatus verzieht und nach einem Sagittalverlauf von etwa D/ 2 cm
I^finge noch im Caput aufhort. Der caudale Abschnitt der Cyste liegt schon in
der Nfihe der Inneren Kapsel, lfiflt aber diese ganz frei.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
242
H. Richter: Beitriige zur Klinik und pathologisehen
Digitized by
Die Cyste besitzt eine ziemlich dicke. eigene Wand; nur im Vorderteil des
Caudatums besteht die Wand aus Ependym und einer darunterliegenden diinnen,
glioeen Fasersehicht. Die iibrige Wand zeigt als innerste Wandschicht einen
breiten, stellenweise sehr starken, dichten Gliafaserfilz, der in Form von einzelnen
Biischeln in die Hohle hineinragt; Zellkerne enthalt diese Schicht nur in untergeord-
neter Zahl. Die Faserschicht wird von einem dichten Wall glioser Zellkerne be-
grenzt. Lateralw&rts, gegen die Bundel der inneren Kapsel ist diese Schieht
weniger ausgesprochen, medialwarts reicht sie aber bis zum Ependym; so daB
zwischen Erweichungscvste und Ventrikelflache das ganze Nervenparenchym fehlt
und durch ein uberaus kernreiches Gliagewebe ersetzt ist. Dorsal und ventral ist
der Herd eng begrenzt, indem die Gliazellschicht eine diinne ist; dann folgt die
normale Struktur des Caudatums. Die Gliazellkerne sind verschieden grolJ, zeigen
lebhafte Chroinatinkornelung. Kornchenzellen sind in den Wandschichten der
Cyste oder im Nachbargewebe nur ganz selten zu finden. Herxheimer-Praparate
zeigen. daB hier die Abbau-
vorgiinge schon abgelaufen
sind; der Herd und seine
Umgebung waren fast fettfrei. .
Die Cyste enthielt eine wasser-
klare Fliissigkeit.
Neben dieser Cyste wies
die genauere Untersuchung
noch weitere Substanzdefekte
auf. Auf Abb. 3 bemerkt man
lateral von der Cyste einen
konvex nach innen gebogenen
groBeren und hart daneben
noch einen kleineren!Spalt,die
auf dem Bilde noch innerhalb
des Caudatumgebietes liegen.
Die histologische Untersuch¬
ung zeigt, daB diese >S pal ten
nichts anderes als stark er-
weiterte perivaskulareRaume
sog. Kribliiren darstellen, die
durch Einschmelzung des
Xervenparenchyms entstan-
den sind; an manchen Stellen
Form von Gewebstriiminern
noch sichtbar. groBtenteils sind aber diese Spaltrjiume schon leer und entbnlten
nur ein losgelostes GefiiB in ihrer Mitte. Verfolgt man diese Spaltr&ume auf
fserienschnitten in caudaler Richtung, so beobaclitet man, daB sie sich all-
raahlich seitwarts verschieben und zwischen den lose zusammenhangenden
Biindeln der inneren Kapsel in das laterale Gebiet des beginnenden Putamens
verziehen; im Anfangsteil des Putamens findet man einen solchen. langlichen
•Spalt hart an der Grenze gegen die auBere Kapsel, der sich hier rasch verringert
und bald aufhort. Diese als Kribliiren bezeichneten Substanzdefekte haben
keine eigene Wand, sondern grenzen uberall an normales Gewebe. Sie liegen
uberall im Striatumgewebe, namentlich auch dort, wo sie zwischen den
Faserbiindeln der uineren Kapsel durchziehen; hier findet man sie in den Ver-
bindungsbriicken des Striatumparenchyms. die Caudatum mit Putamen verbinden.
Die histologische Untersuchung dieser Spaltraume zeigt, daB hier das Nerven-
Abb. 3. Erweichungsherd im FallvonHemiatheto.se
im Kopf des linken Schweifkorpers; rinnenformige
Einsenkung der Ventrikelfliiche, durch die Erwei-
chungscvste bedingt. Lateral von der Cyste ein
bogenformiger Spaltraum, der durch die innere
Kapsel in das Putamen fiihrt.
sind Residuen dieses Einschinelzungsprozesses in
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Anatomie der extrapyramidalen Be wegungsstor ungen,
parenchym spurlos verschwand; nirgends kam es zur Bildung eines Ersatzgewebes.
Der Umstand, daB die Spaltraume iiberall von normalem Gewebe begrenzt sind,
das alle histologiechen Merkinale eines im Gang befindlichen Auflosungsprozesscs
vermissen laBt und die Herxheimer-Bilder, die zellige Abbauprodukte in den
Spaltraumen oder in ihrer Umgebung nur in sehr geringer Menge erkennen lassen,
durften zur Annahme berechtigen, daB auch dieser ProzeB seit liingerer Zeit be-
standen hat, wahrscheinlich mit der cystischen Erweichung im Kopfe des Cauda -
tums gleichzeitig ent-
stand und mit dieser Wgr
denAusgangspunktdes 1 jfr
vor etwa anderthalb g A
•Jaliren entstandenen
Nervenleidens bildete. I
Anders liegen die
X'erhaltnisse bei jener
Kribliire, die auf Abb.
4 abgebildet ist. Auf
einem FrontaLschnitt
durch das mittlereTha-
lamusgebiet erkennt
man im dorsomedial-
stenTeil des lateralen
Thalamuskernes dicht
unter dem Stratum
zonale eine streifen-
formig verlaufende
Marklichtung.die einen
langlichen Spalt um-
gibt; im Spaltraum
liegt ein etwas lfing-
lich getroffenes GefaB
und auf mehreren
Schnitten sind Triim-
nier des zerfallenen
Xervengewebes zu
sehen. Die den Spalt
l>egrenzende Schicht
des lateralen Thala-
muskemes ist ent-
markt, zeigt aber auf
Spielmeyer - Schnitten
grau-blau gefarbte
Klumpen, die im ent-
markten Gewebe zer-
streut sind und in den periadventitiellen Raumen dicht angehauft sind;
man wird nicht fehlgehen, wenn man sie als die primaren Abbauprodukte
(Myelin) des Markgewebes betrachtet, um so mehr, als die Herxheimer-Farbung
auffallige Bilder eines akuten Zerfallsprozesses liefert. Man sieht namlich.
daB im Spaltraum groBe Fettklumpen liegen. entsprechend dem Zerfallsgewebe,
das das GefaB in der Mitte des Spaltraumes umgibt. Die entmarkte. aber
mit dem gesunden Parenchym noch zusammenhiingende Grenzschicht enthalt
ebenfalls Fettschollen von verschiedenem Umfang in groBer Anzahl, auch das an-
Abb. 4. Markscheidenbild aus dem mittleren Thalamus-
gebiet. Im dorsomedialsten Teil des lateralen Thalamus-
kerns zieht liings eines GefaBspaltes ein entmarkter
Streifen (S) unterhalb der Strat. zonale. Nahere Be-
schreibung im Text.
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Digitized by
244
H. Richter: Beitrftge zur Klinik und pathologi.selien
Digitized by
grenzende, normal aussehende Parenchym istmitfeinenFettkornchen reichlicheinge-
streut. An diesenPr¶ten falltauch auf.daB dieNervenzellen desganzen lateralen
Thalamuskemea fettig ver&ndert sind, indem der Zelleib durchwegs hellrot geffirbt
ist. Die Marksubtanz zeigt, abgesehen von der erwahnten streifenformigen
Lichtung, keinen bemerkbaren Ausfall. Der Herd erreieht in der auf Abb. 4
wiedergegebenen Hohe die groBte Ausdehnung, caudalwiirts verliert er sich bald,
in frontaler Richtung ist er unter der Stria und Vena terminalis in den Nucl.
caudatus zu verfolgen; ein Zusammenhang mit der Cyste ini Kopf des Schweif-
korpers war nicht zu erkennen. Sein Verlauf liiBt aber die Annahme zu. daB es
sich um eine perivasculfire Erweichung uni einen GefaBast handelt, der aus dem
Nucl. caudatus ins dorsomediale Thalamusgebiet zieht. Es ist wahrscheinlich,
daB dieser Herd ein jiingerer ist, als die Veranderungen im Nucl. caudatus und
Anfangsteil des Putamens, die Zeichen einer sclion seit liingerer Zeit bestehenden
Gewebsveranderung bieten.
Auf Nissl-Bildem, die aus dem lateralen Thalamuskern stammen. findet
man im Einklang mit den Herxheimer-Praparaten Zeichen einer schweren Gan-
glienzellerkrankmig. In derUmgebung der perivasculiiren Erweichung fehlendie.se
in einer ziemlich breiten Zone ganzlich und sind durch ein zellreiches Gliagewebe
ersetzt, das ein zartes Gliareticulum bildet. Im Thalamuskern selbst ist die Zahl
derZellen deutlich verringert, und die noch vorhandenen sind durchwegs schwer
ver&ndert. Der Zelleib ist geschrumpft, erscheint meist als eine tiefblau gefiirbte
Kugel, ohne Fortsatze mit einem geschrumpften, ebenfalls blau gefarbten Kern;
eine Nissl-Struktur ist nicht zu erkennen. An manchen Zellen sieht man auffallend
lange, verbogene oder gewundene Fortsatze. Stellenweise ist das Gewebe auf-
gelockert, ohne groBere Liicken zu zeigen. hier fehlen die Nervenzellen. an ihrer
Stelle finden sich kleine Anhaufungen von Gliazellkemen.
Die makroskopisch intakten Teile des Nucl. caudatus und Putamens. sowie
des Globus pallidus weisen auBer einer stilrkeren Pigmentierung keine Zeichen
einer pathologischen Veriinderung auf. Die GefiiBliicken sind hier nicht breiter
als es im normalen Bild der Fall ist. Im Herxheiiner-Bild zeigen einige Zellen ein
rosarot gefarbtes Protoplasma; im medialen Thalamuskern und im roten Kern
fand ich durchaus normale Verhaltniase.
Die Gegend der linken vorderen Zentralwindung erwies sich sowohl im Mark-
scheiden-, als auch im Zellenbild als vollkommen normal; ebenso lieBen Mark-
scheidenpriiparate aus der Pons- und Oblongatagegend eine normale Markfullung
beider Pyramidenbatmen erkennen.
Eine weitere, uns hier niiher nicht interessierende kleine Erweichungscyste
lag im Uncusgebiet des rechten Gyrus hyppocampi, die zu einer auch makrosko-
pisch sichtbaren Atrophie des rechten Fornix und des rechten Corpus mamillare
fiihrte.
Die uns hier besch&ftigenden klinischen Symptome des Fa lies
konnen im folgenden. zueaniniengefaBt werden:
Bei einem 53jahrigen Mann, der an vorgeschrittener Aortitis leidet,
entstehen insultartig heftige Schmerzen in der rechten KorperhaJfte
und eine Lahmung und Gefiihlsstorung dieser Seite; letztere Ausfillle
bilden sich in wenigen Tagen bis auf eine geringe motorische Schwache
zuriick und es entwickelt sich nun ein Krankheitsbild, aus folgenden
Symptomen bestehend: 1.Mobile Spasmenund athetotischeBewegungen,
vornehmlich im rechten Arm, weniger ausgesprochen im rechten Bein,
das Gesicht, ganzlich freilassend: 2. Kaltepariisthesie und nadelstich-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Anatomie der extrapyramidalen Beweguugsstorungen.
245
artige Gefiihle auf der betroffenen Seite; 3. Hyperasthesie und Hyper-
algesie daselbst; 4. lebhaftere Sehnenreflexe hier, doch ohne die Pvra-
midenzeichen (nur ira Anfang war einmal das Oppenheimsche Zeichen
angedeutet). Im Laufe der mehr als zwei Jahre lang dauernden Beob-
achtung traten in diesem Zustandsbild folgende Veranderungen auf:
a) die athetotischen Bewegungen wurden spater kompliziert durch
choreiforme Ruek- und Greifbewegungen im rechten Arm; b) in der
letzten Zeit war cine starke Rigiditat der rechtsseitigen Muskulatur zu
beobachten, die sich zuletzt in einer Neigung zu Contracturen iiufJerte;
c) die Schmerzen haben im Laufe der Krankheit an Intensitat zugenom-
men, besonders im letzten halben .Jahr, wo sie zu besonders schweren
Schmerzattacken fiihrten, die immer mit einer plotzlich auftretenden,
bedeutenden Blutdruckerhohung verbunden waren; d) es traten tro-
phische und vasomotorische Storungen der affizierten Seite dazu, als
welche: die spindelformige Verdickung der Interphalangealgelenke,
die Verdfinnung der Fingerknochen. konstante Blasse und Cvanose
der rechten Hand, kleinwelliger Puls der rechten A. radialis im Vergleich
zur linken vermerkt wurden. Die grobe motorisehe Kraft der rechts¬
seitigen GliedmafJen war kaum vermindert, die aktive Gebrauchs-
fiihigkeit derselben nur in dem MaBe eingeschrankt, als es durch die
athetotischen Bewegungen und Spannungszustande bedingt war.
Allerdings waren diese in der zweiten H&lfte seiner Krankheit schon
so intensiv, dad er die rechte Hand gar nicht benutzen konnte. Hervor-
zuhelien ist, dad wahrend seiner ganzen Erkrankung Sjirach- und
Schluckstdrungen niemals Ix'obachtet wurden. Harninkontinenz be-
stand durch einige Tage zu einer Zeit, wo der Kranke infolge seiner
riesigen Schmerzen sich in einem heftigen psychischen Erregungs-
zustand befand; sie blieb dann wieder aus. Eine Ataxic wurdc beim
Kranken nie beobachtet; es wird nur von einem etwas breitspurigen,
kurzschrittigen Gang Erwahnung getan.
Die Gehirnv'eranderungen waren zweifellos durch die arteriosklero-
tischen Gefadverandeningen verursacht. Beziiglich ihrer Lokalisation
wird es zweckmadig sein. sie in zwei Gruppen zu teilen. 1. Der Haupt-
sitz der Veranderungen lag im Kopfgebiet des Schweifkorpers, wo
eine, etwa die Halfte des C'audatumparenchyms ersetzende typische
Erweichungscyste lag, die, am oroventralen Ende des t’audatums begin-
nend, die vorderen zwei Drittel des Kopfes einnahm; als zweite Ver-
anderung wurden im lateralen Kopfgebiet einige groliere Kribliiren
festgestellt, die sich zwischen den Biindeln der inneren Kapsel (Vorder-
schenkel) durchziehend noch im Anfangsteil des aulJersten Putamens
in der Form eines einzigen Langsspaltes an der Grenze zur auBeren
Kapsel nachweisen lieBen. Fur die beiden Arten der Caudatumlasion
konnte histologisch festgestellt werden, daB sie alteren Ursprunges sind:
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
246
H. Richter: Beitrage zur Klinik und pathologischen
Digitized by
bei der Erweichungscytte deutete der Aufbau ihrer Wand, fiir die
Kribliiren der Mangel von Zeichen eines Abbauprozesses auf einen
liingeren Bestand. 2. Die systematische Durchsuchung der benach-
barten Gehirngebiete entdeckte dann noch eine weitere Veranderung
in der Form eines kriblurartigen Parenchymausfalles im dorsomedial-
sten Teil des lateralen Thalamuskernes, der sich langs eines vom Cauda-
turn zum Thalamus fiihrenden GefaBastes entwickelte. Dieser Herd
lieB al>er mannigfaehe Zeichen eines noch im Gang befindlichen Abbau¬
prozesses erkennen, so daB die Annahme, hier einen jiingeren, relativ
frischen ProzeB vor uns zu haben, nicht unbegriindet erscheint.
Das Krankheitsbild entspricht der reinen, symptomatischen
Hemiathetose, die durch einen lediglich auf den Kopf des Schweif-
kdrpers und Anfangsteil des Putamens beschrankten arteriosklero-
tischen Erweichungsherd verursacht, bzw. aufrechterhalten wurde.
Die Anfangssymptome waren eine in einigen Stunden sich entwickelnde
Hemiplegic und Hemianasthesie, die sich im Laufe der folgenden Tage
allmahlich zuriickbildete, und nach et.wa zwei Wochen entstand der
Dauerzustand, in dessen Vordergrund die Hemiathetose des rechten
Armes und Spannungszustande im rechten Beine standen. Eine un-
mittelbare Lasion der inneren Kapsel konnte nicht nachgewiesen wer-
den, namentlich fehlten die anatomischen Veranderu ngen in den hin-
teren Partien, wo die Pyramidenbiindel verlaufen, vollkommen; man
wird daher von den im Anfang bestandenen Ausfallserscheinungen
annehmen miissen, daB durch den plotzlich eingetretenen GefaB-
verschluB im Caudatum Kreislaufstbrungen in den benachbarten Hirn-
teilen, also auch in der inneren Kapsel auftraten, die zu einer voriiber
gehenden Funktionsstorung in diesen Bahnen gefuhrt haben; so konnte
auch das im Anfang nachweisbar gewesene Oppenheim-Zeichen gedeutet
werden. Als sich dann in den ersten zwei Wochen die Kreislaufstdrung
in den Naehbarsegmenten ausgeglichen hat, kehrte die Leitungsfahig-
keit auch in der inneren Kapsel zuriick und jetzt trat der durch den
Erweichungsherd verursachte Dauerzustand zum Vorschein, der neben
einer geringen motorischen Schwache eine typische striar bedingte
Hyj>erkinese darstellt. Die Entstehung des Krankheitsbildes bekraftigt
in vollem Malic die von (). und C. Vogt vertretene Ansicht, nach der
die striar bedingten Hyperkinesen keine Reizerscheinungen sind,
sondern durch den Ausfall striarer Hemmungseinflusse hervortretende
Bewegungszustande darstellen. Die vollige Unversehrtheit des Pallidums
im vorliegenden Fall spricht entschieden gegen die Ansicht, die das
Zustandekommen von Hyperkinesen von einer wenigstens Miter-
krankung des Palldiums abhangig machen will. In dieser Hinsicht
weicht unser Fall von der Beobachtung Stecks ab, in der bei einer
posthemiplegischen Athetose neben hochgradiger Zerstbrung ties
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Anatomic der extrapyramidalen Bewegungsstorungen.
247
Striatums auch die primare Miterkrankung des Palliudms sehr wahr-
scheinlich gemacht wird durch sekundare Degenerationen, die in den
Thalamuskernen, C. Luysi nachgewiesen wurden. Die Hyperkinese
war in unserem Falle ausschlieBlich durch die Lasion des Striatums
bedingt.
Lehrreich ist der Fall auch hinsichtlich der Frage, ob die spezielle
Art der Hyperkinese (choreatische, athetotische oder Zitterbewegung)
durch irgendwelche Eigentiimlichkeit des Krankheitsprozesses deter-
miniert wird. O. und C. Vogt fanden, daB angeborene oder in den
ersten Lebensjahren auftretende Schadigungen des Striatums die
Tendenz haben, unter den Hyperkinesen athetotische Bewegungen zu
zeitigen (Falle von Status marmoratus, Falle von cerebraler Kinder-
lahmung mit Status fibrosus), wiihrend der beim Erwachsenen ein-
setzende ProzeB von Status fibrosus klinisch dem Bild der progressiven
Chorea entspricht. Schon Jakob hob die beschrankte Giiltigkcit dieser
Feststellung hervor, wobei e~ noch darauf hinwies, daB bei diesen beiden
Gruppen von Striatumerkrankungen der pathologische ProzeB selbst
gewisse Unterschiede erkennen ItiBt; beim Status marmoratus und der
cerebralen Kinderlahmung befallt er namlieh die kleinen und groBen
Striatumzellen gleichmaBig, bei den mit prog'-essiver Chorea einher-
gehenden Fallen von Status fibrosus werden aber vornehmlich nur die
kleinen Striatumzellen befallen. Jakob glaubt daher die Eigenart des
pathologischen Prozesses fiir die Unterschiede verantwortlich zu machen
die sich in der Offenbarung einer speziellen Fo r m von Hyperkinese
•/eigen. Wenn ich nun zu dieser Frage auf Grund von Vergleich zweier
Falle mit HerdprozeB des Striatums einen Beitrag liefern mochte, bin
ich mir dessen bewuBt, daB Herdprozesse nur mit gewissem Vorbehalt
zu den chronischen Striatumerkrankungen in Analogie gestellt werden
diirfen. Im Falle Liepmanns (bei O. und C. Vogt) entstand bei einer
Frau, die im 42. Lebensjahr an halluzinatorischer Verwirrtheit mit Ver-
blodung erkrankte, im 67. Lebensjahr plotzlich choreatische Unruhe
im rechten Arm ; nach einer neuen Attacke, die zu leichter Parese des
rechten Mundwinkels und Gesichtes fiihrt, schwinden diese auf 24 Stun-
den, um von neuem auch am Bein aufzutreten; sie dauerten zwei Jahre
lang an. Die anatomische Untersuchung ergab einen arteriosklero-
tischen Elrweichungsherd, der links den Kopf und das vordere Ende des
Putamens zerstorte.
Vergleicht man diesen mit unserem Fall, so zeigt sich: 1. daB in
beiden Fallen der pathologische ProzeB derselbe war, eine
durch Arteriosklerose bedingte Erweichung, 2. die in beiden Fallen
der Kopf des linken Caudatums und den Anfangsteil des Putamens
zerstorte, also dieselbe Lokalisation zeigte; 3. Fall Liepmann
betrifft cine 67jiihrige Frau, unser Fall einen 54jahrigen Mann, in
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
248
H. Richter: Beitrage und Klinik z.ur pathologischen
Digitized by
beiden Fallen entstand also das Leiden in vorgeriicktem Alter: 4. bei
dieser Obereinstimmung an Berte sich die striare Hyperkinese im Falle
Liepraann als Hemichorea, in unserem Falle als Hemiathetose. Aus
dieser Gegeniiberstellung wird man mit vollem Reeht den SchluB ziehcn
konnen, daB (wenigstens bei halbseitigen Herdprozessen) die spezielle
Art der zu erwartenden Hyperkinese unabhangig ist von der Eigenart
des pathologischen Prozesses, von der Lokalisation desselben und aueh
vora Alter des betreffenden Individuums, bzw. vom Entwicklungegrad
des affizierten Nervensystems. Hinzufiigen mochte ich noch. daB im
vorliegenden Falle das anfangliche Bild der reinen Athetose durch das
Hinzutreten von choreatischen Greif- und Schleuderbewegungen kom-
pliziert wurde, eine Beobachtung, die besonders bei den chronischen
Striatumerkrankungen gar nicht selten verzeichnet ist.
Die GesetzmaBigkeit der von O. und C. Vogt aufgestellten somato-
topischen Gliederung innerhalb des Striatums kam auch in unserem
Fall darin zum Vorschein, daB entsprechend der schweren Funktions-
stdrung im rechten Arm der Kopf des Nucl. caudatus die schwersten
Veranderungen aufwies. Auffallend war a her, daB die Bewegungsstdrun-
gen der Zunge sowie Sprach- und Schluckstorungen, deren Sitz von ().
und C. Vogt in das vorderste oroventrale Caudatumgebiet verlegt
werden, vollkommen fehlten, obzwar der Herd, wie friiher schon an-
gegeben wurde, auch diese Gebiete nicht verschonte. Allerdings konnte
hier histologisch intaktes Caudatumparenchym noch in einem ziem-
lichen Umfang festgestellt werden. Es muB dabei in Betracht gezogen
werden, daB die Vogtsche funktionelle Gliederung des Striatums
aus solchen Fallen aufgebaut wurde, wo beidereeitige Striata durch
einen chronisch fortschreitenden ProzeB betroffen waren; in unserem
Falle aber nur eine halbseitige Schatligung vorlag. Manche Analogicn,
die im Aufbau und in der Funktion zwischen Cortex und Striatum
bestehen, maclien es wahrscheinlich, daB fur obige Bewegungen ebenso
wie im Cortex auch im Striatum eine bilaterale Innervation besteht.
Die Spannungskrampfe im rechten Bein, die von Anfang an be-
standen hatten, waren anfangs nur gering, fiihrten al>er spater zu
contracturartigen Zustanden, die das Gehen unmoglich machten,
konnen el>enfalls nur in dem angebenen Erweichungsherd ihre Erklii-
rung finden, wobei vielleicht die im Anfangsteil des Putamens nach-
gewiesene Erweichung die Hauptrolle gespielt haben wvirde.
Die Storungen der Sensibilitat bildeten ein auffalliges Symptom
des Dauerzustandes in unserem Falle. Es bestanden seit Beginn der
Krankheit spontane Schmerzen in der rechten Korperhalfte, eine
qualende Kalteparasthesie sowie nadelstichartige Parasthesien; bei
objektiver Priifung zeigto sich eine Hyperasthesie der rechten Kor]x*r-
halfte, die fast unveriindert bis zuletzt bestand, nur bei der letzten
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Anatomie der extrapyraniidalen Bewegungsstorungen.
249
Priifung war die Gegend der rechten FuBspitze eher hypasthetisch. Es
war von vornherein unwahrscheinlich, daB diese Symptome, wiewohl
sie ebenso zum Dauerzustand gehorten, wie die motorischen Erschei-
nungen, ebenfalls durch den Caudatumherd verursacht worden waxen.
Mingazzini beschreibt Symptombilder bei Herdprozessen im Linsen-
kern, in welchen neben einer leichten, spastischen Hemiparese auch
Sensibilitatsstorungen im Sinne einer Hemihypasthesie vorkommen
sollen. Er beschrankt aber diese ausdriicklich auf das Gebiet des Lenti¬
cular kerns; in unserem Falle war von diesem nur der Anfangsteil des
Putamens einigermaBen betroffen, die kbnischen Ausfallserscheinun-
gen aber, die er hierher verlegt, Bew’egungsstorungen der Gesichts-
und Zungenmuskeln, fehlten in unserem Falle. Die Storungen der
Sensibilitiit zeigten auch nicht den von Mingazzini angegebenen
Charakter (Hemihypiisthesie, Pseudomelia paraesthetica). Eine Iden-
tifizierung mit den Befunden Mingazzinis war also in unserem Falle
nicht moglich.
Die Erklitrung fur das Bestehen der Schmerzen und Parasthesien
und Hvperiisthesie wurde leicht, als wir im auBeren Thalamuskern einen
pt rivaskularen ErweichungsprozeB und eine schwere Erkrankung fast
samtlicher Zellen dieses Kernes vorfanden. Dejerine und seine Schuler
rechnen zur Symptomatologie der Thalamusherde, insbesondere wenn
diese den auBeren Kern betreffen: 1. leichte, meist schlaffe, rasch zu-
riickgehende Hemiplegic (ohne Babinskis Zeichen), 2. dauernde Herni-
anasthesie, insbesondere Bathyanasthesie, zuweilen auch Hyper-
ftsthesie, 3. heftige, halbseitige Schmerzen, 4. leichte Hemiataxie,
5. Hemichorea bzw. Hemiathetose, 6. gelegentlich Blasenstorungen.
lnwieweit die in unserem Falle bestandenen motorischen Symptome
als Teilerscheinungen dieses Thalamussyndroms aufzufassen sind, will
ich hier naher nicht untersuchen; ihre Abhangigkeit vom Caudatum¬
herd erscheint um so wahrscheinlicher, da hier die Hauptveranderung
lag. Die Schmerzen, Parasthesien und Hyperasthesie weisen aber
deutlich darauf hin, daB der auBere Kern des Thalamus vom Anfang
an im Bereich des pathologischen Prozesses stand. Die sensiblen Sto-
mngen hatten wahrend der ganzen Krankheit den Charakter von
Reizerscheinungen, als die wir die Schmerzen, Parasthesien, Hyper¬
asthesie aufzufassen gewohnt sind; eine Ausfallserscheinung im Sinne
einer Hypasthesie der FuBspitze wurde nur im letzten Krankheits-
stadium beobachtet. Man wird also annehmen diirfen, daB im auBeren
Kern des Thalamus im AnschluB an den ErweichungsprozeB im Cauda-
tum eine Kreislaufsstorung sich eingestellt hat, die einen chronischen
Charakter hatte und durch Ernahrungsstbrung in den Zellen und Bahnen
desselben einen Reizzustand aufrechterhielt, der zu den obigen Sympto-
men fiilirte. Die lange Dauer der Ernahrungsstbrung habe zur all-
Archiv filr Psychiatric. Bd. 67. 17
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
250
H. Richter: Beitrage zur Klinik und pathologischen
Digitized by
mahlichcn Verschlimmerung dieser Reizsymptome gefuhrt; zuletzt
kam es auch schon zu einem herdformigen Parenchymausfall, der
vielleicht die terminale Hypasthesie der FuBspitze herbeifiihrte. Die
schweren Veranderungen der ubrigen Ganglienzellen dieses Thalamus-
kernes sprechen ebenfalls im Sinne einer chronischen Ernahrungs-
storang. Wir ha ben die Blasse und Cyanose der rechten Hand, sowie
die im Krankheitsblatt deutlich verzcichnete Herabsetzung des Blut-
druckes auf der affizierten Seite als vasomotorische Storungen, und
die eigentiimlichen Verschiebungen der Knochensubstanz an den Fin-
gern der rechten Hand als trophische Storungen hervorgehoben. Als
Herderscheinungen werden sie von einigen Autoren in das Striatum,
von anderen in den Thalamus verlegt; Parhon - Goldstein vermuten
ihre Leitungsbahn im vorderen Schenkel der inneren Kapsel. In
unserem Falle kdnnten eigentlich alle drei Stellen als Ursprungsort in
Betracht kommen.
III.
Obige kasuistische Mitteilungen bezogen sieh auf Fade, die vom
pathogenetischen Standpunkte aus in die gut umschriebene Gruppe
der Herdprozesse des Striatums eingereiht werden konnen. Es sind
mehr-weniger stabile Zustandsbilder, die ein dureh einen bekannten
exogenen Schadigungsfaktor verursachter Herd aufreehthielt. Anato-
misch sind sie dureh eine Dauerschadigung des Striatumparenchyms
gekennzeichnet, die keine Tendenz zur Progression oder Ausbreitung
zeigt. Sie sind und bleiben unsere reinsten Testobjekte bei der Erfor-
schung der prinzipiellen Frage,ob und inwieweit die Aussehaltung ge-
wisser Zentren oder Bahnen zum Ausfall bestimmter Symptome im
weitverzweigten Krankheitsbild der Striatumerkraukungen fiihren.
Die Schvvierigkeiten, die sieh dem Bestreben entgegenstellen, wenn
man sieh bei den ubrigen, chronisch verlaufenden Formen der Stria tum-
krankheiten auf ein bestimmtes Einteilungsprinzip festlegen will,
sind heutc noch sehr groB. Es kann sieh dabei vorliiufig, wie 0. und C.
Vogt hervorhoben, lediglich um ein heuristisches Prinzip handeln.
Der inhaltsreiehe Sammelbegriff vom amyostatischen Symptomen-
komplex, den wir dcr Intuition Striimpells verdanken, braehte gewiB
eine wesentliche, nosologische Kennzeichnung ad dieser Funktions-
storungen, einen pathoj)hysiologischen Rahmen, der vieles daztt bei-
tragen wird, daB wir in das Wesen der einzelnen Symptome einen
besseren Einblick bekommen. Er wird aber eine Basis fiir die Grup-
pierung der verschiedenen Krankheitsformen um so weniger bilden
konnen, weil die Unzulanglichkeit der klinischen Symptome bei einem
solchen Versueh schon heute als erwiesen gelten kann. Nimmt z. B.
eine als einheitlich aufzufassende GrupjK* der athetotischen Erkran-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Anatomic der extrapyramidalen Bewegungsstorungen.
251
kungen an, die einen seit Kindheit bestehenden, meist fortschreitenden
und oft mit psyehischen Veranderangen einhergehenden Zustand —
die Athetose double — mit einer herdfdrmig entstandenen sympto-
matischen Hemiathetose in sich faBt, so wird es klar, daB hier die Indi-
zien eines das Wesen betreffenden Einteilungsprinzips fehlen. Die
fast regelinaBige Kombination der verschiedenen Symptome in den
einzelnen Krankheitsbildern macht eine solche Gruppierung ebenfalls
sehr schwer.
Sehr richtig betonen O. und C. Vogt, daB die kennzeichnenden
Merkmale einer Striatumerkrankung nicht nur im Zustandsbild, son-
dern vor allem in der Zeit des Auftretens und in seiner spezifischen
Verlaufsart liegen. Sie haben uns tatsachlich durch vorbildlich exakte
Analysen, bei denen auch diese Faktoren Beriicksichtigung fanden,
mit einer Reihe von Striatumerkrankungen bekannt gemacht, die fiir
lange Zeit den Grundstock unseres Tatsachenmaterials auf diesem
Gebiete bilden werden. Auch darin muB dem illustren Forscherpaar
beigepflichtet werden, daB die pathologisch-anatomische Veranderung,
wenn sie durch eine genaue, methodische Untersuchung festgestellt
wird, im Einzelfalle alle wesentlichen pathogenen Faktoren exogener und
endogenerNatur aufdecken kann. Fraglich bleibt aber, imvieweit ihre rein
anatomisch orientierte Einteilung der Striatumerkrankungen eine auch
fur breitere Verw r endung brauchbare Gruppierung darstellt. O. und
C. Vogt gelangten bei der Absonderung ihrer 33 Falle zur Aufstellung
von 8 Gruppen, die durch besondere anatomische Kennzeichen aus-
gezeichnet sind. Durchblickt man die in diese Gruppen eingeteilten
Falle, so kann man sich nicht des Eindruckes erwehren, daB nicht alle
mit gleichem Recht ihre Sonderstellung beanspruchen. Bei der Gruppe
des Status dysmyelinisatus erhob schon Jakob Bedenken gegen die
einheitliche Zusammenfassung dieser Falle, die man wird teilen miissen.
Der Status marmoratus stellt eine sehr charakteristische anatomische
Veranderung dar, in der Falle mit angeborenen striaren Ausfalls-
erscheinungen, darunter solche Platz nehmen, die klinisch der Krank-
heitsform der Athetose double entsprechen; alle hier untergebrachten
Falle zeichneten sich durch die Tendenz zur Besserung aus. Nun
wissen wir aber, daB die Athetose double oft eine progressive Krank-
heit darstellt; und wenn die Progression des Krankheitsbildes einen
fortschreitenden anatomischen ProzeB zur Voraussetzung hat, wie wir
es schon auf Grand der Vogtschen Befunde annehmen miissen, dann
ist es sicher, daB der Status marmoratus, eine stationare MiBbildung,
nicht oder nicht allein das anatomische Substrat aller Falle von Athetose
bilden kann 1 ). DaB die spezifische Art der anatomischen Veranderung,
l ) Von der Richtigkeit dieser Vermutung konnte ich mich nachtraglich
auch in einem jiingst mitgeteilten Fall von Atbetose double bei Filimonoff
17*
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
252
H. Richter: Beitrage zur Klinik und pathologischen
Digitized by
die doch die Unterlage der Vogtschen Klassifizierung bildet, an sich
fur die Verlaufsart und den Zeitpunkt des Auftrittes einer Erkrankung
nicht kennzeichnend sein kann, beweisen die Falle mit Status fibrosus,
die bei zwei in dieser Hinsicht so sehr verschiedenen Erkrankungen
wie die chronisch-progressive Chorea und die nicht progressive Athetose
(als Teilerscheinung der cerebralen Hemiatrophie Typus Bielschowsky)
vorgefunden wurde.
Ich habe die Gberzeugung, daB, wenn sich aus den Vogtschen
Fallen bisher schon 8 Gruppen haben nachweisen lassen, diese Zahl
sich durch weitere, schon heute bekannte Formen, die in der Vogt¬
schen Gruppierung noch nicht untergebracht sind, wie Pseudosklerose,
Torsionsdystonie, Jakobs Falle von spastischer Pseudosklerose usw.
urn ein wesentliches vermehren wiirde, und daB besonders die Gber-
gangsfalle zwischen den einzelnen klinischen Erkrankungsforraen jeder
eine besondere anatomische Charakteristik haben wird. Bei der konse-
quenten Durchfiihrung der Vogtschen Untersuchungsmethode diirfte
das immer mehr wachsende und immer neue Verlaufsarten und klinische
Bilder aufweisende Material in so viel Gruppen zersplittert werden,
daB durch diesen Umstand allein der Versuch einer anatomischen
Gruppierung scheitern muBte.
Diese Gberlegung fiihrt mich dazu, daB man, wenn es sich um eine
vorlaufige, als Arbeitshypothese zu geltende Einteilung handeln soil,
doch noch das bisher vernachlassigte pathogenetische Moment in Er-
witgung ziehensollte. Es gibt unsvorderhand nur dieMoglichkeit,die chro-
nisch verlaufenden Striatumerkrankungen in zwei groBe Gruppen ein-
zuteilen. Die eine wiirde jcne Krankheiten umfassen, wo eine nachweis-
bare exogene Schikllichkeit, die den ganzen Korper oder das Zentral-
nervensystem diffus ergriff, durch ihr Ansiissigmachen im Striatum
oder in bestimmten Teilen desselben zu einer klinischen Offenbarung
fiihrt, in der die striaren Ausfallserscheinungen eine Hauptrolle spielen.
Ich erwahne hier die arteriosklerotische Muskelstarre Forsters,
die durch syphilitische Veranderungen verursachten Krankheitsbilder,
besonders die von Fischer und 0. u. C. Vogt beschriebenen chorea-
tischen Veranderungen bei Paralyse und die bei der Encephalitis epide-
mica auftretenden parkinson-artigen Zustande, um zu illustrieren, daB
(Ref. Zentralbl. f. d. ges. Neurol, u. Psych. Bd. 29, Heft 4, 1922) iiberzeugen. Das
Iveiden begann im Alter von 3—4 Jahren mit Zwangsbewegungen, die allmahlich
starker wurden bis zum Tode, der im 21. Lebensjahr erfolgte. Typisch athe-
totische Bewegungen im Gesicht, in der Zunge, Gaumen, Kaumuskeln, weniger
im Handgelenk, und in den Fingern, an den Beinen hauptsachlich in den
distalen Partien. Anatomisch fand sich neben Hirnrindenveranderungen eine
Atrophie der groBen und kleinen Zelleleinente im Striatum und Pallidum. Von
cinem Status marmoratus, der gewiB einen sehr auffalligen Befund ergibt, wird
keine Erwahnung getan.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Anatomie der extrapyramidalen Beweguiigsstorungen.
253
die Dftseinsberechtigung einer solchen Gruppe, die sich nur auf die
chronisch progressiven Falle bezieht, also die Herdprozesse als Dauer-
zustande auBer acht laBt, durch ein schon heute ansehnliches Tatsachen-
material unterstiitzt werden kann. Auch die Vogtschen Falle von
eerebraler Hemiatrophie mit nicht fortschreitender Athetose, bei welchen
ein friihzeitiger encephalitischer ProzeB durch das anatoraische Bild sehr
wahrscheinlich gemacht wird, diirfte hierher gehoren. Es ist fraglich,
ob wir der Paralysis agitans selbst nicht einen Platz in dieser Gruppe
einraumen miiBten, wenn die bei ihr beschriebenen Striatum veranderun-
gen lediglich nur die scharfere Betonung eines allgemeinen senilen oder
prasenilen Prozesses im Gehirn (F. H. Lewy) darstellen soli.
Die zweite Gruppe weist unleugbar ein recht vielgestaltiges Material
auf; und das vereinigende Prinzip, unter welchem sie in einer einheit-
lichen Gruppe zusammengefaBt werden sollen, liegt auf den ersten
Blick bloB in der negativen Feststellung, daB fur ihr Zustandekommen
eine nachweisbare exogene Schadlichkeit nicht verantwortlich gemacht
werden kann. Eine nahere Betrachtung diirfte jedoch auch andere,
wichtige Ziige ihrer nosologischen Zusammengehorigkeit aufdecken,
besonders dann, wenn wir ihr Verhaltnis zur groBen Gruppe der
Heredodegeneration einer naheren Priifung unterziehen.
Bekanntlich faBte Jendrassik unter diesem Begriff eine
Anzahl von Nervenkrankheiten zusammen, deren spezifische Eigen-
schaften in der Hereditat, Familiaritat, Konsanguinitat und Progression
gegeben sind und deren Zusammengehorigkeit hauptsachlich noch da-
durch gesichert erscheint, daB innerhalb und zwischen den einzelnen
Hauptgruppen durch Ubergangs- und Mischbilder die Moglichkeit
einer fast unerschopflichen Formenvariation gegeben ist. Gerade
diese Moglichkeit der ,,flieBenden t)bergange“ fiihrte Jendrassik
zur Erkenntnis, daB nicht die spezielle Syptomengruppierung das
Wesentliche ist, sondern das Vorherrschcn der oben angefiihrten all¬
gemeinen pathologischen Kennzeichen. Unter den vier Hauptformen,
in die R. Bing die Heredodegenerationen auf dieser Grundlage einteilt,
enthalt die vierte die dyskinetischen Forraen, wohin Bing die myo-
tonischen, myoklonischen, choreatischen, tremorartigen und sonstigen
Bewegungsstdrungen zahlt.
Die uns hier beschaftigenden Striatamerkrankungen, von denen
als wohlbekannte Formen die Athetose double, die chronisch-progressive
Chorea, die Huntingtonsche Chorea, Wilsons Krankheit, die Pseudo-
sklerose und die uns hier nalier beschaftigende Torsionsdystonie an-
gefiihrt werden sollen, sind Krankheitsbilder, die im Sinne der Jendras-
sikschen Zusammenfassung schon beim heutigen Stand unserer Kennt-
nisse all jene Merkmale erkennen lassen, die ihre Zugehorigkeit zur
Gruppe der Heredodegenerationen bestimmen. Ihre endogene Natur
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
254
H. Richter: Bcitrage zur Klinik imd pathologischen
Digitized by
ist durch zahlreiche Beweise der Hereditat, bzw. Farailiaritat kasuistisch
erhartet. Die Athetose double fand 0 ppe n he i m zweimal bei zwei
Geschwistern; die Falle Wiemer, Mutter und Tochter gehoren auch
in diese Gruppe. Fiir die chroniseh-progressive Chorea fehlt zwar noch
der direkte Beweis, doch die ihr klinisch und anatomisch so nahe-
stehende Form der Huntingtonschen Chorea gilt als Prototyp der
direkten, meist gleichsinnigen Vererbung. Fiir die Familiaritat und
Hereditat der Wilsonschen Krankheit hat schon ihr erster Beschreiber,
fiir die Falle von Pseudosklerose Baum lei n und Fickler Beweise
gedefert (C. Hall erachtet sie sogar in der Halfte aller, bisher be-
schriebenen Fade als erwiesen). Endlich steden unsere bisherigen
Kenntnisse iiber die Torsionsdystonie die Rassendisposition der
russtechen Juden fiir dieses Leiden auBer Zweifel, wobei noch die
familiare Disposition in den drei Fallen Schwalbes, die Geschwister
betrafen, und bei den von Bernstein mitgeteilten zwei Geschwistern
deutlich zum Vorschein kommt.
Wichtiger erscheint mir jedoch die Priifung des anderen von
Jendrassik hervorgehobenen Kennzeichens, das sich auf die Misch-
forraen und Variationen innerhalb der einzelnen Hauptformen und
zwischen diesen untereinander bezieht. Neben der klassischen Beob-
achtung von Thom alia besitzen wir im Westphalschen Fall und
in friiheren Beobachtungen von Oppenheim und Kramer klare Be¬
weise dafiir, daB es sich bei den vier Leiden: Pseudosklerose, Wilson,
Athetose double und Torsionsdystonie um ,,stets ineinander verschwim-
mende Krankheitsbilder“ handelt, fiir die Thomalla die gemeinsame
Bezeichnung: Dystonia lenticularis in Vorschlag bringt. Thomalla
kommt auf Grund eigener und fremder kasuistischer Beobachtungen
zu der t)berzeugung, die hier wortlich wiedergegeben werden soil:
,,Bcdenken wir also nochmals die zahlreichen Hinweise von der Athetose
double zum Torsionsspasmus, von diesem zur Wilsonschen Lentikular-
degeneration, ebenso von der Athetose zu Wilson, weiterhin von diesem
zur Pseudosklerose und endlich entsprechend auch von Athetose und
Torsionsspasmus zur Pseudosklerose einerseits, die nach den verschieden-
sten Sektionsbefunden zweifellos gleiche anatomische Grundlage anderer-
seits, so ist eineZusammenfassung naheliegend.“ NachAufzahlungderge-
meinsamenSymptomefahrt er fort:,,Diese Symptoine fehlen undwechseln
bei den verschiedenen Gruppen verschieden, der Charakter der patholo¬
gischen Bewegungen charakterisiert die einzelnen Typen, verschwimmt
aber gleichfalls oft. Das psychische Verhalten ist wechselnd, abhangig
von den oft gleichzeitigen GroBhirnrindenbefunden. Pyramidenbahn-
storungen inachen das Bild unrein. Wechselnd rasche Progredienz ist
fast stets da. Atiologisch kommen Entwicklungsfehler im Gehirn in
Betracht, ferner Erkrankung der Leber, vielleicht infolge infektioser
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Anatomie tier extrapyramidalen Bewegungsstorungen.
255
Allgemeinerkrankung, oder auch Entwicklungsfehler der Leber, jeden-
falls anschlieBend Autointoxikation. Auch familiare Disposition liegt
oft vor.“
Thomalla kommt also trotz Aufrechterhaltung der verschiedent-
lichen pathogenetischen Grundlage zur Auffassung, daB vier bisher
selbstandige Formen der Striatumerkrankungen nur verschiedene
Variationsformen einer weitergefaBten nosologischen Einheit biiden.
Ich bringe dies hier nur deshalb vor, um zu bekraftigen, daB hier die
Lehre Jendrassiks von den Ubergangsformen zwischen den einzelnen
Krankheitsbildern der Heredodegeneration bei der iiberwiegenden
Zahl der in Betracht kommenden Striatumerkrankungen bereits die
weiteste Anwendung findet. Ein unlangst mitgeteilter Fall Ewalds
und die vorliegende Beobachtung deuten darauf hin, daB auch die
Scheidewande zwischen der progressiven Chorea und der Torsions-
dystonie bzw. den ubrigen hierher gehorigen Erkrankungen keines-
wegs uniiberbriickbar sein diirften. Cbrigens kommt Ewald bei der
Klassifizierung zur selben Anschauung, die ich hier vertrete, indem er
den Fall zur Gruppe der autochthonen Degenerationserkrankungen
rechnet.
Die „unreinen“ Falle von Striatumerkrankungen, in denen
psychische oder corticomotorische Ausfallserscheinungen mitspielen,
weisen eben im Sinne Jendrassiks auf die mogliche Untermischung
von Symptomen aus den anderen Hauptgruppen der Heredodegenera¬
tion.
Es wurden hier einige Anhaltspunkte fur die Ansicht angefuhrt,
daB sich bei den Striatumerkrankungen, wo eine exogene Krankheits-
ursache nicht nachgewiesen werden kann, solche Kennzeichen auf-
finden lassen, die nach der Lehre Jendrassiks ihre nosologische Identi-
fizierung mit den Heredodegenerationen ermoglichen. Wir miissen dabei
die pathogenetische Grundlage dieser Erkrankungen heute noch etwas
weit fassen und uns mit dem Begriff der pathologischen Minderwertig-
keit des betreffenden Organs zufrieden geben. DaB diese eine sehr
verschiedengradige sein kann, zeigt die groBe Variabilitat in der Ver-
laufsart auch bei den ubrigen Heredodegenerationen. Sie kann sich
als anatomisch deutlich gemachte Entwieklungsstorung offenbaren
und fiihrt dann zu Bildern, wie der Status marmoratus von O. und C.
Vogt. Einen geringeren Grad der vermuteten Minderwertigkeit stellen
die Falle dar, wo die Erkrankung mit dem Beginn des extrauteri-
nen Lebens einsetzt und ein normal entwickeltes Organ schadigt
(Athetose double). Bei den Striatumerkrankungen, die im spateren
Lcbensalter ihren Beginn nehmen (chronisch progressive Chorea), ist
sie noch weniger ausgesprochen; und wir werden dieses konstitutionelle
Moment auch bei den mit Leberveranderung einhergehenden Fallen
Digitized by Goe)gle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
256
H. Richter: Beitr&ge zur Klinik und pathologischen
Digitized by
(Pseudosklerose, Wilsonsche Krankheit), zur Erklarung der geschwjich-
ten Widerstandskraft des Striatums toxischen oder endotoxisehen
Einfliissen gegeniiber nicht entbehren konnen.
In voller tlbereinstimmung mit der klinischen Charakteri>tik
Jendrassiks gelangte Schaffer zur allgemeinen anatomischen Wesens-
bestimmung der Heredodegenerationen. Er stellte als Grundprinzip
dieser Charakteristik die ektodermale Elektivitat auf, d. h. die Beschran-
kung des Prozesses auf die ektodermalen Elemente bei V T erschonung
der Abkommlinge aus dem mesodermalen Keimblatt. Als zweites
bestimmendes Moment stellte er die Extensitatskomponente, d. h. die
Segmentwahl hin, die durch die spezifische Lokalisation des Prozesses
das Symptombild bestimmt. Sie determiniert hierdurch die Einzel-
formen der Heredodegeneration und bestimmt durch weitlaufige Varia¬
tion der verschiedenen Segmente das Auftreten von Misch- und t)ber-
gangsformen. Der dritte bestimmende Faktor sei die Intensitats-
komponente, die die Verlaufsart des Prozesses und den Zeitpunkt
seines Auftretens determiniert.
Es kann hier nicht der Platz sein, eine eingehende Analyse dariiber
anzustellen, inwieweit. die von Schaffer hervorgehobenen Determi-
nanten im anatomischen Bild der bisher erforschten Erkrankungsformen
des Striatums zur Geltung kommen. Durchblickt man die zunachst
von 0. und C. Vogt untersuchten Formen, so findet man, daB das
Hauptprinzip der ektodermalen Elektivitat in weitgehendem MaBe
seine Bestatigung findet. Der Status marmoratus, die elektive Zell-
nekrose bei Chorea, die Totalnekrose betreffen anatomische Verande-
rungen, in denen das elektive Befallensein des Nervenparenchyms
als das wesentlichste Moment im Vordergrunde steht und die manch-
mal an den GefaBen zu beobachtenden Veranderungen (Kapillarfibrose,
Rundzellenanhaufungen) von samtlichen Forschern nur als sekundjire,
durch den ParemchymprozeB bedingte Veranderungen aufgefaBt
werden. Auch das Prinzip der Segmentwahl findet hier eine weit-
gehende Bestatigung. Der Status marmoratus ist eine angeborene
Mihbildung, die in diesem Grad bisher nur im Striatum beobachtet
wurde (nur in viel leichterem Grade kommt er nach C. Vogt in der
Hirnrinde vor). Die elektive Zellnekrose befallt bei der einfachen
Chorea nur das Striatum; bei der Huntingtonschen Chorea ist auch die
Hirnrinde beteiligt. Die Totalnekrose betrifft hauptsachlich das Puta-
men. In den Vogtschen Fallen vom Status dysmyelinisatus wild
vornehmlich die pallidare Faserung betroffen. Die elektive Zellnekrose
bei weitgehender Verschonung der Markfasern, die sich im Bilde der
chronisch progressiven Chorea verwirklicht, und die Falle von Total
nekrose des Striatums, in welchem Nervenzellen und Markfasern dem
ZerstorungsprozeB gleichmaflig zum Opfer fallen, lassen sogar eine
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Anatomie der extrapyramidalen Bewegungsstorungen. 257
weitere, noch feinere Differenzierung innerhalb eines Segmentes ver-
muten. Das Walten einer Intensitatskomponente erhalt aus den ana-
tomischen Befunden von O. und C. Vogt ebenfalls ihre voile Bestati-
gung; sie konnten in jedem Einzelfalle aus der Art und Schwere des
anatomischen Prozesses auf die Verlaufsart des klinischen Bildes und
auf den Zeitpunkt seines Auftretens richtige Schliisse ziehen.
Ich wollte mit diesen, mehr nur aphoristisch gehaltenen Betrach-
tungen den Gedanken in Erwagung bringen, daB diejenigen Striatum-
erkrankungen, in denen eine exogene, pathogenetische Grundlage
fehlt, im Sinne der von Jendrassik und Schaffer gegebenen Charak-
teristik als eine Gruppe der Heredodegenerationen aufgefaBt werden
konnen. Wiewohl es unter ihnen einige klinisch und anatomisch schjirfcr
gezeichnete Untergruppen gibt, erscheint es nicht am Platze zu sein,
diesen eine Sonderstellung einzuraumen.
Die Aufzeichnungen des im folgenden zu besprechenden Falles
von Torsionsdystonie verdanke ich der Freundlichkeit meines Kollegen,
des gewesenen Sekundararztes am Armenhausspital, Herrn Dr. Desi-
derius Miskolczy.
Johanna Hartan, gcboren im Jahre 1867, gestorben im Alter von 54 Jahren
am 3. V. 1921. Die Kranke stammt aus einer russisch-jiidischen Familie. Uber ihre
GroBeltern konnte nichts inErfahrung gebracht werden. Ihr Vater kam aus RuBland
nach Ungam und hatte hier als Dolmetsch sein Brot verdient. Er ist im Alter von
49 Jahren nach kurzem Leiden an Wassersucht gestorben. Ihre Mutter war bis
zu ihrem 70. Lebensjahr gesund, damals erkrankte sie an einein Lungenleiden
und starb daran im Alter von 74 Jahren. Unter den Eltern bestand keine Bluts-
verwandtschaft. Sie hatten 10 Kinder, von welchen4 im Siluglingsalter an Krampfen
gestorben sind. Uber die iibrigen konnte folgendes erhoben werden: Die
Alteste, um ein Jahr alter, als unsere Kranke, ist im allgemeinen Sinne nervos,
hat 6 Kinder, die alle gesund sind. Die dritte Tochter starb im Alter von 28 Jahren
an einer Gemiitskrankheit, mit welcher sie durcli 2 Jahre auf der Geisteskranken-
abteilung des hiesigen St. Johannspitals gepflegt wurde. Der vierte, ein Bruder.
starb im Alter von 16 Jahren an Gehimerschiitterung, nach einem Sturz im Stiegcn-
haus. Der fiinfte Bruder, um 9 Jahre jiinger als unsere Kranke, leidet seit meh-
reren Jahren an Tabes amaurotica mit schwerer Ataxie; eine lOjahrige Tochter
desselben ist gesund. Der sechste Bruder starb im Alter von 33 Jahren an einein
Kehlkopfleiden; er war Artist von Beruf, seine Frau hatte eine Totgeburt. Johan¬
nas Mutter hatte eine Schwester; diese war gesund, von ihren 4 Kindern ist eine
Tochter geliihmt (N&heres konnte hieriiber nicht festgestellt werden, da diese
Familie in Amerika lebt). Zwei Bruder von Johannas Mutter sind gesund.
Die Kranke ist schon in Budapest geboren. Uber ihre Kindheit wird bis zum
11. Lebensjahr nichts Bemerkenswertes angegeben. Sie hatte zur rechten Zeit
das Gehen und Sprechen erlernt, hat sich in jeder Hinsicht normal entwickelt
und kam mit 6 Jahren in die Schule, wo sie das Lesen und Schreiben rasch er-
lernte. Die erste Storung beobachtete sie im 11. Lebensjahr in der Schule, wo bei
der Handarbeit (Htikeln) in ihrer linken Hand manchmal ganz unwillkiirlich
und unvorhergesehen eine Ruck- oder Schleuderbewegung auftritt, so daB der
Wollenfaden, mit dem sie arbeitete, wiederholt zerriB. Diese unwillkiirlichen Be-
wegungen blieben anfangs nur auf die linke Hand beschrankt, nahmen aber immer
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
258
H. Richter: Beitrage zur Klinik und pathologischen
Digitized by
zu, so daB sie genotigt war, ihre Hand im SchoBe festzuhalten. Nach einigen Mo-
naten begann das linke Bein zu zittern und zu schleudem, so daB sie im Gehen
emstlich gestort wurde. Sie wurde damals elektrisch behandelt. Im nachsten
Friihjahr verschlimmerte sich ihr Zustand durch die immer heftigeren Ruck-
und Schleuderbewegungen hauptsachlich am Beine derart, daB sie iiberhaupt
nicht gehen konnte, sondern auf dem Boden kriechend den Platz wechselte. Sie
wurde damals auf der Nervenklinik in Budapest (Prof. Wagner) und in Wien
(Prof. Douschek) beobachtet, wo ihre Krankheit nach ihrer eigenen Angabe mit
der Diagnose: Chorea bezeichnet wurde. Ihr Zustand blieb einige Zeit lang ein
unveranderter, sie w-ar in hauslicher Pflege, wurde durch 2 Jahre mit Hypnose
behandelt. Allmahlich (ungefahr 4 Jahre nach dem Beginn des Leidens) traten
auch im rechten Arm und Bein grobes Zittern und unwillkurliche Ruckbewegimgen
auf, die aber nie die Stfirke dieser Erscheinungen im linken Bein erreichten. Wegen
der motorischen Unruhe muBte ihr zeitweise am Boden gebettet werden, weil sie
vom Bette herunterfiel. Im Schlafe horten aber diese Bewegimgen auf, oder waren
nur kaum angedeutet. Am linken Arm und Bein trat zu den erwahnten Bewegungs-
storungen aUmiihlich eine zunehmende Schwache hinzu, die die Gebrauclisfahigkeit
noch mehr eingeschrankt hat.
Dieser Zustand blieb da an durch etwa 20 Jahre ziemlich stationar. Eine
wesentliche Versehlimmerung trat erst ungefahr 15 Jahre vor ihrem Tode auf.
wo sich heftige Krampfe in den Halsmuskeln eingestellt haben, so daB sie ihren
Kopf nur mit schwerer Anstrengung gerade halten konnte. Auch damals suchte
sie mehrere Kliniken in Wien und Budapest auf; so war sie 1911 drei Monate lang
auf der Nervenklinik von Prof. Jendrassik in Beobachtung, wo iiber ihren Zu¬
stand im Krankheitsjournal folgendes vermerkt ist:
Die Kranke erweekt durch ihre eigentiimliche Korperhaltung, mit ihren
fortwahrend sich bewegenden Handen und FiiBen, krampfhaft zuriickgebogenem
Kopf und mit ihrer unangenehm krachzenden Stimine auf den ersten Blick
einen be&ngstigenden Eindruck. Sie kann (in wachem Zustande) weder im Belt
liegen, noch auf einern Sessel sitzen, sie stelit zumeist vor ihrem Bettgestell, halt
mit der einen Hand dieses, mit der anderen einen Sessel fest. Sie fiihrt mit dem
rechten und noch mehr mit dem linken Arm fortwiihrende, in langsamem Tempo
sich vollziehende und in groBem Bogen ausgefiihrte Bewegungen, die den Eindruck
von Zwangsbewegungen erweeken. Dabei schiittelt sich der ganze Korper. Der
Kopf ist stets nach riickwarts gebeugt, sie kann ihn nur mit groBer Anstrengung
auf kurze Zeit nach vorne bringen. Wenn sie von einem am Nachtkastchen be-
findlichen Buch lesen soli, kann sie es nur mit hiiufigen Unterbrechungen, die
durch das Zuriickprallen des Kopfes in die erwfihnte Krnmpfstellung verursacht
ist, ausfiihren. Die Wirbelsaule zeigt eine extreme Skoliose, deren Konkavitiit
im mittleren Teil der Brustwirbelsaule nach links, im Lendenteil nach rechts ge-
bogen ist. Das linke Bein zeigt eine Equinusstellung. Am linken Arm zahlreiche
Hautverdickungen und frischere Lasionsspuren. Die Muskulatur ist schwach
entwickelt. Brust- und Bauchorgane ohne pathol. Befund. Stuhl, Ham in Ord-
nung. Pupillen gleich, mittelweit, reagieren prompt. Augenbewegungen frei;
Zungenbewegungen gut. Die Sprachc ist laut, hat einen unangenehmen, kreischen-
den Klang, zeigt aber ansonsten keine Stbmng; die Kranke fiillt im Gegenteil
durch das viele, laute Reden den iibrigen Kranken sehr zur Last. Die Druck-
kraft des linken Amies ist im Vergleich mit der rechten sehr herabgesetzt; die
aktive Beweglichkeit des linken Armes und Beines ist eine minimale. Der linke
FuB infolge Achillesverkiirzung in Equinusstellung. An alien vier Extremit&ten
bestehen neben einem grobschl&gigen Schiitteltremor die langsamen, ziehenden
Krampfbewegungen. Im Schlafe horen sie auf. Sehenreflexe lebhaft, links ge-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Anatomie der extrapyramidalen Bewegungsstdrungen.
259
steigert (liber pathologische Pyramidenzeiclien kein Vermerk). t)ber die psychi-
schen Funktionen wird bemerkt, daB diese normal sind; die Kranke ist von der
Unheilbarkeit ihres Leidens iiberzeugt; ihr Gemiit ist gedriickt; sie ist zanksiichtig,
unvertraglich, schiirt unter den Kranken gerne einen Zwist. Sie wurde wegen
ihres unvertraglichen Benehmens von der Klinik auf eine Spitalsabteilung trans-
feriert. Die Diagnose auf dem Krankheitsblatt der Klinik lautete: Athetose.
Im Mtirz 1913 kam die Kranke auf die Nervenabteilung des hauptstadt.
Armen- und Siechenhausspitals, wo sie bis zu ihrem Tode gepflegt wurde. Ihr Zu-
stand verschlimmerte sich alhn&hlich, das Krankheitsbild kam erst hier zur voll-
kommenen Entwicklimg, woriiber der im Jahre 1920 aufgenommene Status am
besten Auskunft gibt.
Bei der niedrigen Statur der Kranken sind die Arme auffallend lang, die Hande
breitknochig; die Finger zeigen eine Trommelschlagerform. Die Wirbelsaule ist
beim Stehen mehrfach gekriimmt; neben einer dorsolumbalen Skoliose zeigt sich
noch eine tiefe Lordose; liegt die Kranke in ruhigem Schlaf, so verringern sich
diese Krummungen auf ein Minimum. Die Muskulatur ist schwach entwickelt;
beide FiiBe in SpitzfuBstellung, die am rechten weniger ausgesprochen ist. Die
Druckkraft des linken Armes ist sehr gering; passive Beweglichkeit desselben
infolge der Spastizitat der Muskeln stark verhindert; manchmal wieder sind passive
Bewegungen hier ganz leicht auszufiihren. Dieses Wechseln von spastischen
und spannungsfreien Zust&nden ist auch am rechten Arm, sowie an beiden Beinen
zu beobachten. Der Gang ist ein wahres Herumtorkeln, es fiillt besonders die
Ungeschicklichkeit des linken Beines auf; sie tritt mit der Spitze auf den Boden,
vobei der FuB sich stark einwarts biegt, nach ein bis zwei hastigen Schritten tritt
ein allgemeines Korperzittern auf und sie f&llt zu Boden. Die Spuren dieser haufigen
.Sturze sind besonders am linken Knie, Ellbogen und Hand zu sehen. Die Hande
befinden sich, wenn sie nicht etwas festhalt, in fortwahrender Unruhe; langsame
athetotische Bewegungen der Finger setzen sich auf Unter- und Oberarm fort
und werden durch plotzliche ganz ungewohnliche Exkursionen des Armes unter-
brochen. Dabei tritt, besonders beim Versuch willkiirlicher Bewegungen, heftiges
Zittern im ganzen Korper ein. Der Kopf ist fast standig nach riickwarts gebogen,
beim Versuch, ihn aufrecht zu stellen, tritt ein Wackeln ein, das gewissermaBen an
den Nystagmus erinnerte: brachte sie den Kopf langsam und mit groBer Anstren-
gung etwas nach vorne, so stoBt ihn eine lieftige, ruckartige Bewegung rasch wieder
zuriick, so daB ihre Anstrengungen zuletzt schon fruchtlos blieben. Diese Krampf-
haltung des Kopfes hat sie in der letzten Zeit auch im Schlafe beibehalten. Auch
der iibrige, ganze Oberkorper ist krampfhaft zuriickgebogen, wodurch sie meist
am Sitzen verhindert ist. da sie vom Sessel gehoben wird. Beim Gehen tritt die
eigentiimliche Korperhaltung: zuriickgebogener Oberkorper, lordotische Becken-
stellung. am starksten in Erscheinung. die gemeinsam mit den absolut unzweck-
mftBigen Bewegungen der Beine und mit dem fortwahrenden Heruinfuchteln
mit den Handen ein ganz bizarres Bild zeigt. Die Sehnenreflexe sind
lebhaft. der linke Achillesreflex nicht auslosbar. Die linke groBe Zehe stellt
sich ofters spontan in eine Dorsalflexionsstellung. Babinski-Zeichen ist hier
manchmal angedeutet. Klonus fehlt. Bauchreflexe nicht auslosbar. Sensibilitat
frei. Seh-, Horvermogen intakt. Pupillen gleichinaBig, prompt reagierend, Augen-
bewegungen nach jeder Richtung frei. Im Gesicht war in der letzten Zeit eine An-
derung eingetreten; wahrend fruher die Gesichtsbewegungen gar keine Storung
aufwiesen, ist jetzt auch hier, besonders in der linken Halfte eine gewisse Hvper-
miinie zu beobachten; die Gesichtsziige sind nicht nur lebhaft, sondcrn oft ganz
verzerrt (Grimassieren). Auch die Sprache zeigt in der letzten Zeit eine nicht
bestiindige Verftnderung; sie spricht manchmal hastig, explosiv, undeutlich;
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
260
H. Richter: Beitriige zur Klinik und patkologischen
Digitized by
die Zunge liegt bei leicht geoffnetem Munde zwischen oder hinter den Zahrien,
wodurch die Worte verschwommen ausgesprochen werden. Ansonsten waren die
willkurlichen Zungenbewegnngen gut. Uber Schluckbeachwerden wurde nichts
bekannt. Sie litt in den letzten Jahren an standigem, quiilendem SpeichelfluB.
Psychisch war die Kranke bis zuletzt normal; sie wuBte iiber ihre eigenen
Verhfiltnisse genauen Bescheid, besaB eine vorziigliche Erinnerung; sie interes-
sierte sich um alles, was in ihrer Umgebung geschieht und war iiber alles orientiert.
Sie konnte in der letzten Zeit wegen ihrer Kopfhaltung nicht mehr lesen, erkun-
digte sich aber lebhaft um die Ereignisse der AuBenwelt. Ihr Gemiit war infolge
ihres trostlosen Zustandes stets gedrvickt, sie klagte gerne, und in der letzten Zeit
ist aus ihr eine echte Querulantin geworden, die sich immer gekrankt und zuriick-
gesetzt fiihlte. Dabei war sie zanksiichtig und unvertraglich.
Zu erwahnen ist noch, daB bei ihr die Menses zuerst im 45. Lebensjahre
auftraten und sich drei Jahre lang ziemlich regelmaBig wiederholten. Mit 48 Jahren
verlor sie sie endgiiltig.
Ihr Tod erfolgte ohne vorausgegangene akzessorische Erkrankung, unerwar-
tet und rasch. Sie lag in der Friih im Bett, verzehrte ihr Morgenbrot, und wahrend
die Pflegeschwester mit anderen Kranken beschriftigt war, fiel J. im Bett zuriick;
als der Arzt zu ihr kam, war sie schon leblos.
Die Sektion ruachte einen Herztod wahrscheinlich. Von den inneren Organen
soli hier nur erwahnt bleiben, daB die Leber keine bemerkbare krankhafte Ver-
anderung zeigte.
Die klinische Diagnose: Torsionsdystonie (K. Mendel) wurde
bei der Kranken erst wahrend ihrer letzten Spitalsbehandlung im
Armenhausspital aufgestellt. Bemerkensw r ert ist, daB ihr Leiden an-
fangs auf den Kliniken Wagner und Douschek als Chorea bezeichnet
wurde (allerdings in der zweiten Halfte der siebziger Jahre); im Jahre
1911 fiihrte sie die Jendrassiksche Klinik als doppelseitige Athetose.
Die Aufzeichnung des Krankheitsjournals, daB die Kranke in der
Anfangszeit durch zwei Jahre mit Hypnose behandelt wurde, zeigt, da B
ihrem Leiden die in diesen Fallen fast unausweichliche hysterische
Bezeichnung auch nicht vorenthalten blieb.
Die Uberzeugung, daB hier zum erstemnal ein typischer Fall
von Torsionsdystonie mit anatomischem Befund vorliegt, laBt es fiir
mich als zweckmaBig erscheinen, die klinische Identifizierung des Falks
mit den bisherigen Beobachtungen bis in die Einzelheiten durch-
zufiihren, wobei ich mich auf die vorziigliche monographische Bearbei-
tung K. Mendels stiitzen will.
Das Befallensein des weiblichen Geschlechtes ist seltener. Unter
den von Mendel gcsammelten 33 Fallen war in 21 Fallen das mann-
liche und in 11 das weibliche Geschlecht betroffen. Von 26 Fallen,
in denen die Nationality vermerkt ist, stammten 19 aus RuBland
bzw. Galizien; von 18 Fallen, in denen die Religion angefiihrt ist,
waren 15 Juden. Unsere Kranke stammt auch aus einer russiseh-
jiidischen Familie. Beziiglich der Familiaritat habe ich auf die Fallc
von Schwalbe, die 3 Geschwister betrafen, und auf das von Bern-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Anatomie der extrapyramidalen Bewegungsstorungen.
261
stein beschriebene Geschwisterpaar bereits hingewiesen. Unser Fall
bietet diesbezuglich keinen Anhaltspunkt. Hingegen liegen einige
anamnestische Angaben vor, die auf eine hereditare Belastung
hinweisen. Eine Schwester der Kranken starb im 28. Lebensjahr an
einem Gemiitsleiden, nachdem sie 2 Jahre lang auf einer Geisteskranken-
abteilung gepflegt wurde. Von den 10 Geschwistern sind 4 an Zahn-
krampfen gestorben. Ein sonstiges atiologisches Moment lag in unserem
Fall nicht vor; namentlich Traumen oder Infektionskrankheiten, die
als auslosende Faktoren in einigen der bisherigen Beobachtungen eine
Rolle spielen, werden hier nicht erwahnt. Das Alter des Krankheits-
beginns liegt in den meisten Fallen zwischen 10 und 13 Jahren; der
jiingste Kranke war 6 Jahre alt (bei unserem Falle mit 11 Jahren).
Unter den Anfangssymptomen wird in einigen Fallen iiber Schmer-
zen geklagt; das Leiden beginnt in den meisten Fallen in einem der
unteren GliedmaBen, zumeist in der Form einer Gangstorung, die sich
verschiedenartig auBern kann. Dann geht die Storung auf das andere
Bein iiber oder es wird zunachst die gleichseitige obere Extremitat
betroffen. Nicht selten findet sich eine gekreuzte Lokalisation. Unser
Fall weicht in dieser Hinsicht ab, indem das Leiden in der linken Hand
eingesetzt hat (auch dieser Beginn ist ofters beschrieben) und hat sich
nach einigen Monaten auf das gleichseitige Bein erstreckt. Diese hemi-
plegische Form der Bewegungsstorung bestand etwa 4 Jahre lang;
erst dann zeigten sich die ersten Erschcinungen im rechten Bein. Die
linke Korperhalfte blieb aber wahrend der ganzen Krankheit von alien
Symptomen viel schwerer betroffen, als die rechte.
Was nun die charakteristischen Symptome anbetrifft, hat Oppen-
heim, dem wir die nosologische Sonderstellung des Leidens verdanken,
als erster die sonderbare Tonusveranderung hervorgehoben, die in dem
Wechsel von Hypotonie mit Neigung zu tonischer Muskelanspannung
besteht; er bezeichnete deshalb das Leiden: Dystonia musculorum
deformans. In unserem Falle war diese Erscheinung nur im letzten
Zeitabschnitt des Leidens aufgefallen und ist im Krankheitsjournal
so verzeichnet, daB die passive Beweglichkeit der Glieder infolgc ihrer
Spastizit&t stark verhindert war, manchmal wieder sind diese ganz
leicht auszufiihren; dieses Wechseln von spastischen und spannungs-
freien Zustanden war an alien Extremitaten zu beobachten.
Die unwillkurlichen Bewegungen bilden nach Mendel ,,ein Ge-
misch von choreatischen, athetoiden, ticartigen, hemiballistischen,
parkinsonartigen Bewegungen, von jedem dieser Leiden etwas habend
und teils an dieses, teils an jenes erinnernd, doch in keinem derselben
restlos aufgehend; die Bewegungen sind zwecklos, bizarr, klonisch-
tonisch, mit Uberwiegen des tonischen Momentes, dysharmonisch,
sehlangenformig, wurmartig, unkoordiniert, stereotyp. Besonders charak-
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
262
H. Richter: Beitrage zur Kliiiik und pathologischen
Digitized by
teristisch sincl die ziehend-drehenden, die ,torquierenden‘ Bewegungen
des Rumpfes und der Extremitaten, die dureh plotzliches Emporwerfen
oder Abduzieren einer Extremitat zeitwcise unterbrochen werden."
Die allerdings durftigen Aufzeichnungen aus der Anfangszeit des Leidens
machen es in unserera Falle wahrscheinlich, daB die Bewegungsunruhe
mit choreiformen Ruck- und Schleu der bewegungen begonnen hat;
typisch kennzeichnet sie die Kranke mit dem ReiBen des Wollenfadens
bei der Handarbeit. Die Bewegungen ergriffcn beim Fortschritt des
Leidens alie Extremitaten, blieben aber scheinbar durch lange Zeit
ohne Hinzutreten andersartiger unwillkiirlicher Bewegungen eine
ziemlich eintonige Form der Bewegungsunruhe. Denn sie berichtet.
von einem ungefahr 20 Jahre lang dauernden stationaren Zustand,
nach welchem sich eine wesentliche Verschlimmerung in ihrem Zu-
stande eingestellt hat. Auf der Klinik Jendrassik, wo sie daruals in
Beobachtung stand, fiel schon der krampfhaft zuriickgebogene Kopf,
fortwahrende in langsamem Tempo sich vollziehende athetotische Be¬
wegungen und ein Schiitteltremor im ganzen Kbrper auf. In den
letzten Jahren ihrer Beobachtung sind neben den choreiformen, atheto-
tischen und groben Wackelbewegungen die torquierenden Bewegungen
in den Hals- und Rumpfmuskeln in den Vordergrund getreten, die da»
Sitzen, diegerade Kopfhaltung unmoglich machten und zur Verkrummung
der Wirbelsaule fiihrten. Die Bewegungsrunruhe verstarkte sich bei
willkurlichen Bewegungen, wobei heftiges Zittern im Korper auftrat.
Als charakteristisch fiir das Leiden hebt Mendel das Aufhoren der
Bewegungsunruhe im Schlaf liervor. Dieses Zeichen ist auch bei unserem
Kranken wiederholt vermerkt.
Die Haltu ng der Wirbelsaule ist ein sehr charakteristisches Zeichen
des Leidens. Zumeist wird eine Lordose der unteren Brust- und Lenden-
wirbelsaule beobachtet, zuweilen auch eine Skoliose. Die Kriimmung
der Wirbelsaule ist in Riickenlage kaum bemerkbar, beim Sitzen wird
sie deutlich und am starksten beim Gehen und Stehen. In unserem
Fall bestand zuerst eine Skoliose im Brust- und Lendenteil der Wirbel¬
saule, erst spater gesellte sich eine Lordose dazu. Diese Haltung fiihrt
dazu, daB die GesaBgegend stark nach hinten vorspringt und fiihrt ge-
meinsam mit dem nach riickwarts gebogenen Kopf zu den charakte-
ristischen Kbrperstellungen, die Oppenheim als Dromedarstellung,
Mendel (vielleicht noch zutreffender) als Vogel-StrauB-Stellung be-
zeichnete. Im Schlaf verringerte sich die Kriimmung der Wirbelsaule
im hohem MaBe.
Fiir die Gehstorung wird als pathognomonisch der eigenartig
„torquierte' , ‘ Gang bezeichnet, der durch die mannigfaltigen anders-
artigen unwillkiiilichen Bewegungen sowie die Haltungsanomalien
des Rumpfes in den einzelnen Fallen recht verschiedene Bilder liefert;
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Anatomic der extrapyramidalen Bewegungsstorungen.
263
deshalb die verschiedensten Bezeichnungen bei den einzelnen Beob-
achtern: bizarr, clownartig, tanzelnd, grotesk, stampfend, steppernd,
eigentiimlich schiebend, watschelnd, derajenigen des Dromedars ahn-
lich. In unserem Fall verursachten anfangs die heftigen choreiformen
Schleuderbewegungen eine ernste Gehstorung. Spater wird der Gang
als ein wahres Hemratorkeln bezeichnet; typisch war dabei, da6 der
FuB stark nach einwarts gebogen ist. Sie verfiel zuletzt nach ein bis
zwei has tig ausgefuhrten Schritten unter allgemeinem Korperzittern
zn Boden; die Spuren dieser schweren Gehstorung, bzw. der dadurch
vemrsachten haufigen Stiirze zeigten sich deutlich an ihrer Haut.
tTber die Gebrauchsfahigkeit der Hande sagt Mendel, daB die
grobe Kraft derselben gut erhalten ist, doch sind die willkiirlichen
Bewegungen, wie Schreiben, Essen, An- und Ausziehen durch die Mit-
bewegungen, die Ungeschicklichkeit, das zeitweise Herumwerfen der
Extremitat sehr gestort bzw. unmoglich gemacht. In dieser Hinsicht
unterscheidet sich unser Fall von den meisten bisher verzeichneten
Fallen, indem schon 1911 in den Aufzeichnungen der Jendrassik-
schen Klinik berichtet wird, daB die Druckkraft und aktive Beweglich-
keit des linken Armes und Beines eine minimale war, im Vergleich
zu den rechtsseitigen stark herabgesetzt. Auch die Reflexe, die nach der
Zusammenstellung Mendels in den meisten Fallen abgeschwacht sind,
waren als lebhaft, links gesteigert verzeichnet. In den Aufzeichnungen
des Armenhausspitals aus der letzten Beobachtu ngszeit sind beider-
seits lebhafte Reflexe, links fehlender Achillesreflex vermerkt und hin-
zugefiigt, daB die linke groBe Zehe zeitweise spontan eine Dorsal-
flexionsstellung einnimmt, die sich manchmal auch auf den Babinski-
reiz einstellt. Es bestand also in unserem Falle eine Hemiparese der
linksseitigen Glieder, die sich in der Abschwachung der motorischen
Kraft und Steigemng der Reflexe sowie im angedeuteten Babinski-
Zeichen kundgab. Ich will hier gleich bemerken, daB der anatomische
Befund im Einklang mit diesen Erscheinungen eine deutliche Rarefi-
ziemng im linksseitigen Pyramidenareal des Ruckenmarks erkennen
lieB. Von den bisher beschriebenen Fallen fand Seelert in seinem Fall
lebhafte Knie- und Achillessehnenreflexe und Andeutung von FuB-
klonus; in einem Fall Bregmanns waren die Archillessehnenreflexe
gesteigert, in einem weiteren Falle Babinskis anscheinend beider-
seits positiv. Ein anderer Fall Bregmanns, dessen Zugehbrigkeit
zur Dystonie von Mendel bezweifelt wird, sowie im ,,unreinen“ Fall
Thomallas war das Babinski-Zeiehen positiv (in letzterem nur rechts).
Die SpitzfuBstellung des FuBes wurde in der Mehrheit der Falle
beobachtet. Sie war auch in unserem Falle vorhanden, anfangs nur
am linken, spater und weniger ausgesprochen am rechten FuB.
Die Sprache weist in den meisten Fallen keine Veranderung auf.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
264
H. Richter: Beitrage zur Klinik und pathologischen
Digitized by
In Bernsteins Fall war sie krampfartig, stotternd, zuweilen explosiv;
Thomalla vermerkt bei seinem Falle stark behinderte, nasale Sprache.
Auch Ziehen beobachtete bei einem seiner Falle zeitweise Sprach-
storung; ebenso gab die Mutter der einen Patientin von Mendel an,
daB ihre Sprache zeitweise schwer zu verstehen sei. In unserem Fall
war die Sprache — abgesehen von einem unangenehmen, kreischenden
Klang — durch die lange Beobachtungszeit eine ungestorte. Nur in der
letzten Beobachtungszeit fiel es auf, daB die Kranke zeitweise hastig,
explosiv, undeutlich spricht, und daB die verschwommene Aussprache
durch die ungewohnliche Lagemng der Zunge verursacht wird. Schluck-
beschwerden sind in keinem Falle, auch in unserem nicht verzeichnet.
Das Gesicht ist in den meisten Fallen von den unwillkiirlichen
Zuckungen verschont; nur in den Fallen Maas, Bregmann und Tho¬
malla bestand auch gelegentlich leichtes Grimassieren im Gesicht.
Im vorliegenden Fall zeigte in der letzten Zeit besonders die linke
Gesichtshalfte lebhafte, oft verzerrte Gesichtsziige. Die Torsions-
bewegungen des Kopfes, die nur in jeeinem Fall von Flatau-Sterling
und Mendel beobachtet wurden, standen durch lange Zeit als die unan-
genehmste Bewegungsstorung im Mittelpunkte des Krankheitsbildes.
Gleichlautend negativ war der Befund in alien Fallen in bezug
auf Pupillen, Augenhintergrund und die iibrigen Hirnnerven. Ein
Pigmentsaum der Cornea fehlt ebenfalls. Eine Veranderurg der Leber-
wurde mit Ausnahme des auch sonst nicht ganz hierher gehorigen
Falles von Thomalla in keinem Falle gefunden.
Als eine Veranderung, deren Zusammenhang mit dem Leiden
jedoch zweifelhaft ist, erwahne ich gewisse Anomalien des Knochen-
wuchses, die in unserem Fall vermerkt ist; die Arme waren auffallend
lang, die Hande breitknochig, die Finger zeigten eine Trommelschlager-
form. Frankel fand in einem seiner Falle eine Entkalkung im Schenkel-
hals und Schenkelkopf und eine Periostitis, die vom Schenkelkopf zum
Trochanter zog. Climenko fand den linken Femurhals abnorm kurz
und verdickt, den linken Trochanter major von abnormer Konfiguration,
die Knochenstruktur normal.
Die Sensibilitat war in unserem Falle sowie auch in alien iibrigen
intakt; Schwalbe beobachtete zeitweise eine allgemeine Hypalgesie
(hysterischer Natur), Frankel in einem Falle eine Hypalgesie im Ge-
biet beider Nn. cut. fem. und in der linken Gesichtshalfte. Schmerzen,
von welchen in einigen Beobachtungen Erwahnung getan wird, waren
in unserem Falle nicht vorhanden.
Die Intelligenz ist in samtlichen Fallen und wie Mendel hervor-
hebt, trotz eventuell langen Bestehens der Erkrankung, die doch —
oft schon in der Kindheit — einen Teil des Gehirns in Mitleidenschaft
gezogen hat, als normal angegeben; in keinem Fall wird von einer
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Anatomie der extrapyramidalen Bewegungsstorungen.
265
Minderung der inteilektuellen Fahigkeiten oder gar von Schwachsinn
gesprochen. Die aus der letzten Lebenszeit unserer Kranken stam-
menden Aufzeichnungen betonen ebenfalls die vollkommene Intaktheit
der psychischen Funktionen, das gute Erinnerungsvermogen, das
wache Interesse und die Orientiertheit der Kranken auch in bezug auf
die Ereignisse der AuBenwelt. Diese Feststellung ist besonders deshalb
von Bedeutung, weil die Kranke mit ihrem in der friihen Jugend ein-
setzenden, tiberaus qualvollen und ihren Geraiitszustand schwer be-
driickenden Leiden ein Alter von 54 Jahren erreichte. Die bei ihr
beobachteten Depressionszustande, ihre Unvertraglichkeit, Zanksucht
und die zuletzt auffalligen querulanten Ziige konnten vielleicht —
psychologisch — durch ihr trostloses Schicksal erklart werden.
Fasse ich also nochmals die wesentlichen Ziige des klinischen Bildes
zusaramen, so erscheint die Einreihung des Falles in die Gruppe der
Torsionsdystonie durch folgende Momente gesichert: Abstammung
aus russisch-jiidischer Familie, Beginn des Leidens um die Pubertat
heruin, anfanglich stetige Progression, dann Stationarbleiben (letzterer
Zustand hielt 20 Jahre lang an, nach welcher Zeit wieder eine schwere
Progression sich eingestellt hat, die eigentlich das charakteristische
Krankheitsbild zur vollen Entwicklung brachte; allerdings betrifft
unsere Kranke mit ihrem Alter von 54 Jahren den altesten beobach¬
teten Fall, ihm folgt der 45jahrige Kranke Mendels), u nwillkurliche
Bewegungen, fiir die das Torquierende charakteristisch ist, doch auch
athetoide und choreiforme Bewegungen, Wechsel von Hypotonie und
Spannungszustanden, bizarrer, auBerst ungeschickter Gang, Skoliose
und Lordose der Wirbelsaule, die im Liegen abnimmt und beim Gehen
besonders hervortritt (StrauB-Stellung), SpitzfuBstellung, Fehlen von
Ver&nderungen an den Augen, in der Sensibilitat, bis zuletzt vollkommen
gut erhaltene Intelligenz.
Als seltenere, also in den engeren Rahmen des Krankheitsbildes
nicht hineii^ehorende Veranderungen erw'ahne ich die in der letzten
Beobachtungszeit etwa gleichzeitig aufgetretene Sprachstorung und
u nwillkurliche Gesichtsbewegungen (Grimassieren) und das starke
Hervortreten der Torsionsbewegungen am Kopfe. Ungewohnlioh war
auch das Auftreten und die Art der umvillkiirlichen Bewegungen. Das
Anfangsbild beherrschten ausgesprochen choreiforme Bew r egungen, die
zuerst eine Seite befielen, dann auf die andere iibergingen und lange
Zeit das Krankheitsbild Chorea vortauschten. In einem jiingst mit-
geteilten Falle von Ew r ald gestaltete sich das Krankheitsbild ebenfalls
in einer ungew'ohnlichen Weise. Ein 9jiihriges Kind erkrankt an mobilen
Spasmen im reehten Arm, mit 18 Jahren war dieser unbrauchbar,
mit 26 Jahren wird der linke Arm ausschlieBlich von choreatischen
Storungen befallen, die seit mehreren Jahren unverandert bestehen.
Archlv fiir Psychiatrie. Bii. 07. 18
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
266
H. Richter: Beitrage zur Klinik und pathologischen
Digitized by
Bei dor Untersuchung fanden sich lebhafte torquierende Bewegungen
im rechten Arm und im Hals beiderseits, die mit choreatisch-atheto-
tischen und ticartigen Bewegungen gemischt den Eindruck einer
typischen torsionsdystonischen Storung erwecktcn, im linken Arm
bestand nur eine ausgesprochen choreatische Unruhe, Beine blieben frei.
Atypisch ersehien der Fall auch durch das Bestehen von Grimassieren.
Die athetotischen Bewegungen traten in unserem Falle zusammen
mit den Torsions bewegungen erst in einem spateren Zeitabschnitt ties
Leidens in Ersckeinung. Gewohnlich sind sie bei der Torsionsdystonie
nieht sehr ausgesprochen und werden von den tibrigen Bewegungsarten
verdeckt. In unserem Falle standen sie zu einer Zeit so sehr im Vorder-
grund, daB das Leiden als Athetose double aufgefaBt wurde. Das spater
aufgetretene Grimassieren und die Sprach,storung gehoren ebenfalls
in den Symptomenkomplex der Athetose double, so daB es angezeigt ist,
die Frage der Differentialdiagnose aufzuwerfen, insbesondere auch des-
halb, weil die noch zu besprechende spastische Hemiparese mit Pyra-
midenlasion als Herderscheinung seitens ties Gehirns bei der Athetose
double ein regelmaBiges Vorkommnis bedeutet, bei der Torsionsdystonie
hingegen bisher einwandfrei noch nicht bewiesen wurde. Bei Geltend-
machung all jener Kriterien, auf die in unserem Falle die Diagnose
der Torsionsdystonie gestiitzt wurde, sprechen noch gegen die An-
nahme einer Athetose double: die Verkriimmung der Wirbelsaule, die
im Liegen sich ausgleichende Lordose, das Aufhoren der Bewegungen
im Schlaf, die der Athetose fremden Zitter- und Schiittelbewegungen,
das Fehlen von epileptischen Kriimpfen und fixen Contracturen und
die bis zuletzt ungestorte Intelligenz. Auch muB hier vor Augen gehalten
werden, daB die Athetose double eine Krankheit des friiheren Kindes-
alters ist, und die Torsionsdystonie zumeist — wie auch im vorliegenden
Fall — um die Pubertatszeit beginnt.
Man wird also an der Berechtigung der Diagnose Torsionsdystonie
festhalten miissen und auf Grand dieses Falles die Mogliqjikeit dessen
anerkennen, daB die Torsionsdystonie sich mit einer Pyramidenerkran-
kung kombinieren kann, wie es im vorliegenden Fall klinisch durch eine
ausgesprochene Hemiparese der linken Seite, gesteigerte Sehnenreflexe
und links angcdeutetes Babinski-Zeichen, anatomisch durch einen
deutlichen Ausfall im Areal der linksseitigen Ruckenmarkspyramide
feststellen lieB.
K. Mendel kommt im Gegensatz zu Thomallas friiher angefiihr-
ter Ansicht zur SchluBfolgerang, daB man fur die auf Grand der oben
besprochenen gemeinsamen Symptome zur Torsionsdystonie gerechneten
Falle einen Morbus sui generis statuieren und die Falle, die als Misch-
formen oder tj bergiinge von der Dystonie zu anderen Krankheiten
erscheinen, auBerhalb des Rahmens dieser Krankheit stehen lassen
Got)gle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Anatomic der extrapyraniidalen Bewegungsstorungen.
267
miis.se. Inwieweit diese Forderung zu Recht besteht, kanu erst dann
entschieden werden,. wenn man im anatomischen Substrat der typischen
Torsionsdystonie durch die Untersuchung von mehreren, hierher ge-
horigen Fallen eine einheitliche Grundlage des Leidens hat, die als
spezifisch fiir diese Krankheit zu betrachten ist und eine Auseinander-
haltung der typischen Falle von den Mischfallen ermoglicht. Die bis-
her untersuchten Falle gehoren nicht zur Gruppe der typischen Torsions¬
dystonie. Fiir mich ist der atypische Charakter dieser Falle darin gegeben,
dali sie vom enger gefafiten pathogenetischem Standpunkt nicht zu den
Fallen von echter Torsionsdystonie gerechnet werden konnen. Im Falle
Westphal, der iibrigens auch im klinischen Bild nur wenig Beriih-
rungspunkte init der Torsionsdystonie hat, wird durch den anatomischen
Befund und auch den klinischen Verlauf eine exogene Schadigungs-
ursache wahrscheinlich gemacht. Die Falle Thomalla und Wimmer
zeigten bei eincm ziemlich akuten klinischen Verlauf die fiir die Wilson-
sche Krankheit und Pseudosklerose typische Leberveranderung: ein
Befund, der bei dem iiberaus chronischen Verlauf der typischen Torsions¬
dystonie hier als regelmaBiger Befund sehr unwahrscheinlich ist und
in unserem Fall auch vermibt wurde. Die Zugehorigkeit des anatomisch
untersuchten Fades von Cassirer zur Torsionsdystonie konnte even¬
tual vom klinischen Standpunkt in Zweifel gcstellt werden, so dab es
berechtigt erscheint, unseren Fall als den ersten, anatomisch unter¬
suchten Fall von typischer Torsionsdystonie zu betrachten, wobei ich
besonders die pathogenetischen Momente, die im Falle vorlagen, als
maBgebend betrachte; also die Abstammung aus mssisch-jiidischer
Familie, den Beginn um die Pubertat herum, ferner den chronisch-
progressiven, durch Stillstand unterbrochenen Verlauf des Leidens,
alles Krankheitsziige, die die typischen Falle von Torsionsdystonie auf
eine gemeinsame Plattforru stellen.
Oppenheim war der erste, der die funktionelle Natur der echten
Torsionsdystonie (im Sinne von Schwalbe und Ziehen) in Zweifel
gezogen und die Wahrscheinlichkeit einer organischen Grundlage aus-
gesprochen hat. Flatau und Sterling machten die Liision der Klein-
hirnbindearmbahn fiir das Entstehen des Leidens verantwortlich.
K. Mendel kommt schon zu folgender Ansicht (1919): ,,Alles weist auf
einen extrapyramidalen Herd hin, der bestimmte, den Muskeltonus
regulierende Systeme betroffen hat und daher in den Hirnstamm, und
zwar wahrscheinlich in die Gegend des Streifenhiigels und Linsenkerns,
vielleicht aber auch in den Kleinhirnbindearm zu verlegen ist.“
Mogen nun die Befunde selbst sprechen!
Die histologische Untersuchung des Gehirns erfolgte in der Weise, daB die
linke Hemisphere in frontaler Serie nach Weigert-Pal bearbeitet wurde und
die rechte Hemisphere zur genaueren histologischen Bestimmung des patholo-
18 *
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Klinik und pathologischen
gischen Prozesses diente, wobei die Mark-
far bung nach Spielmeyer, Fibrillenim-
pragnation durch die Methode Biel-
schowskys und die Herxheimersche
Sclmrlachrotfarbung an Gefrierschnitten
Anwendung fanden. Paraffinschnitte
wurden nach Nissl und Van Gieson
gefiirbt. t)ber die Verhaltnisse der Glia
gewannen wir durch die Holzersche
Kresyl - violett - Methode iibersichtliche
Bilder. Neben dem Striatum wurden
noch folgende Teile des Gehirns unter-
sucht: In Weigert-Serien Teile des Me¬
sencephalons, der Pons, Oblongata und
einige Hohen des Ruckenmarks. Eingehen-
der untersucht: Thalamus, Hypothalamus,
das Gebiet des roten Kerns mit der Sub¬
stantia nigra, die Gegend des Nucl. denta-
tus; von der Hirnrinde: Stiicke aus der
vorderen und hinteren Zentralwindung,
dann aus der ersten Frontal- und ersten
Temporalwindung.
Ich beginne mit der Beschreibung
der Weigertserie, die das Gebiet der
linksseitigen Zentralganglien umfaBt.
A'ob. 6. Vergrolierte Teilansicht des Striatums von einem Schnitt, der ungefahr
aus der Mitte des Putamens stammt. Deuthch sieht man hier den durch die
V'erdichtung der Markbiindel entstandenen Status fibrosus.
268 H. Richter: Beitrage zur
Abb. 5. Weigert-Bild aus dem frontalen
Gebiet des St riatums. Schnitt etwas stark
differenziert. Annahernd normale Ver-
hSltnisse.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Anatomic der extrapyramidalen Bewegungsstorungen.
269
Abb. 5 veranschaulicht einen Schnitt aus der frontalen Halfte des Striatums.
Man erkennt vor allem, daB sowohl Caudatum als Putamen an Umfang keine
merkliche V T erringerung erlitten haben. Die Markfarbung ist etwas schwacher
als auf den iibrigen Schnitten (infolge zu starker Differenzierung), doch erkennt
man die Markbiindel des Putamens und Caudatums in einer normalen Dichte.
Es fehlen die Spuren eines Markpilzes, wie beim Status marmoratus. Das Bild
entspricht also in dieser Hohe dem normalen Weigertbild.
Eine deut-
liche V eriinderu ng
zeigt uns schon
das auf Abb. 6
veranschauliclite
Bild, das aus einer
etwa in der Mitte
gelegenen Hohe
stammt. Hierfallt
vor allem eine ge-
wisse Verkleine-
rung des Stria¬
tums auf; beim
Vergleich mit nor¬
malen Pra para ten
ist das Schmiiler-
werden des Puta¬
mens leicht be-
merkbar; das
Pallidum zeigt
keine erheblichere
Schrumpfung.
Der Schwundpro-
zefi imParenchym
des Putamens gibt
sich auf dem
Mar kfaserbild da-
rin zu erkennen,
daB die kleinen
Markbiindel des
Putamens auf-
fallend dicht
nebeneinander
lagem, wie dies
besonders in der
unteren Halfte Abb. 7. VergroBerteTeilansicht desStriatums aus dem hinteren
des Putamens Drittel. — Einzelheiten im Text,
deutlich ist. Einen
sinnfalligen Ausdruck des Parenchymschwundes bieten die maehtigen Spalten
im Putamen, die in dieser Hohe durch mehrere Schnitte verfolgt werden konnten.
Es sind dies Spaltraume, die von einer diinnen Markfaserschicht eingesaumt sind;
in einigen sah ich in der Mitte des Spaltes ein GefiiB, das in anderen, speziell in
den groBeren fehlte. Auf diesem Schnitte (Abb. 6) konnte ich die Vereinigung der
in der Mitte vertikal aneinander gereihten Spalten sehen, wo der Spaltraum auch
breiter ist. Die Spaltraume sind auch im korrespondierenden .\nteil des N. caudatus
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
270
H. Richter: Beitrilge zur Klinik und pathologischen
sehr ausgesprochen und kommen zahlreich, wenn auch mit geringerem Umfang
in der Lam. med. externa des Globus pallidus vor. Der feine Faserfilz des Striatums
zeigt im allgemeinen keine Veranderung, nur in der untersten Partie des Putamens
ist er deutlich schiitterer. Das Pallidum ist vielleicht etwas schmiichtiger, sein
Fasergehalt zeigt eine leichte Verarmung, die besonders in dem oberen, an die
innere Kapsel grenzenden Abschnitt bemerkbar ist. Eine leichte Rarefizierung
zeigt auf dera Schnitt aucli die auBere Markleiste des Pallidums.
Abb. 7 bringt — etwas mehr vergroBert — eine weiter caudal gelegene Hohe.
Auch hier ist die Schrumpfung des Striatums gut zu erkennen, aber auch das
Pallidum scheint hier verringert zu sein. Der Markausfall im Putamen ist
im unteren Segment desselben sehr ausgesprochen, hier sind sowolil die
feinen Fasern, als auch die dickeren Markbiindel groBtenteils ausgefallen. Im
oberen Teil, der der inneren Kapsel anliegt, ist eine Rarefizierung der Markfasern
ebenfalls sehr auffallend. Entsprechend diesen Markausfallsgebieten sieht man,
daB die fiuBere Markleiste in ihrem oberen und unteren Abschnitt eine deutliche
Verdiinnung und Aufhellung zeigt, wahrend das mittlere Gebiet relativ gut
erhalten ist. Die Markarmut des Pallidums macht sich im oberen Teil des¬
selben am meisten bemerkbar, wo auch die innere Markleiste einen deutlichen
Ausfall erkennen lfiBt. Die durch das Pallidum diametral durchziehenden dicken
Fasern sind im oberen Teil ganzlich ausgefallen, im unteren Pallidumabsclinitt
auch in hohem Grad verringert; die innere Markleiste ist hier ebenfalls verdiinut.
Lehrreich ist der Vergleich des Markzustandes auf den Abb. 6 und 7, die in ver-
groBerter Ansicht das Putamen und Pallidum aus dem mittleren und hinteren
(caudalen) Gebiet darstellen. Auf dem ersteren erscheint das Putamen infolge
der Zu8ammenriickung der intakten Markbiindel, die durch den Schwund des
Parenchyms herbeigefiihrt wird, noch markhaltiger als auf dem normalen Bild.
Der Zustand entspricht dem Vogtschen Status fibrosus. Am zweiten Bilde fallt die
hochgradige Verarmung der Marksubstanz im Putamen auf. Im oberen und unteren
Teil derselben felilen sie fast ganzlich, oder sind in hohem MnBe atrophisch, auch
im mittleren Teil erscheinen sie etwas schiitterer.
Die Faserung der inneren Kapsel, des Thalamus und Hypothalamus laBt
keinen bemerkbaren Ausfall erkennen. Namentlich ware hervorzuheben, daB das
Forelsche Blind el H 2 als vollkommen intakt erscheint und der Luysische Korper
keine bewertbare Verringerung aufweist.
Auf Schnitten aus dem caudalsten Striatumgebiet fallt die helle Farbung
des fioch vorhandenen Pallidums auf. Putamen und Nucl. caudatus lassen
auBer ihrem Schmiilerwerden, die durch Vergleich mit analogen Xormalpriipa-
raten auch hier festgestellt werden kann, nur eine Rarefizierung der feinen
Markfasern im unteren Putamengebiet erkennen. Hingegen fallen die aus dem
Temporallappen stammenden und hier durchziehenden „Fibres of passage' 4 durch
ihre gute Markftirbung auf.
Der rote Kern ist an Umfang niclit verringert, seine Markumhullung zeigt
keinen bemerkbaren Ausfall.
Die Markbildcr der Rinde zeigen normale Verhaltnisse, namentlich ware
hervorzuheben, daB die vordere Zentralwindung keinen Markausfall zeigt. Die
gute Markftirbung der inneren Kapsel ist auf alien Schnitten deutlich zu er¬
kennen.
Weigert-Bilder aus der Gegend des caudalen Mesencephalons zeigen, daB die
Bindearme einen normalen Markgehalt ha ben; die zentrale Haubenbalm laBt
ebenfalls keinen erkennbaren Ausfall feststellen. Die Pyramidenbiindel erscheinen
auf diesem Schnitt noch beiderseits gut gefarbt. Das Kleinhirn und die Gegend
des Nucleus dentatus zeigte vollkommen normale Markverhaltnisse. In der Obion-
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Anatomie der extrapyramidalen Bewegungsstorungen.
271
gata f&llt schon eine hellere Farbung der rechten Pyramidenbahn auf, die von hier
nach abwarts konstant nachzuweisen ist. Die Markfasern sind diffus rarefiziert.
Es fallt auf dem Schnitt noch die beiderseitge Aufhellung (links starker) der Hell-
wegschen Dreikantenbahn auf.
Interessanten Befund lieferten die Weigert-Bilder aus dem Riickenmark.
Abb. 8 wiedergibt das Bild einer Cervical- und Lumbalhohe. Es fallt auf beiden
Sclinitten eine leichte Einsenkung der konvexen Riickenmarkskontur an der
linken Seite, entsprechend dem verringerten und deutlich gelichteten Pyramiden-
areal dieser Seite, wahrend die rechte Pyramidenbahn vollkommen normal ist
und als gutes Vergleichsobjekt dienen kann. Der diffuse Markausfall, den wir
in der Oblongata im
rechten Pyramiden-
biindel fanden,macht
sich hier im linken
Seitenstrang bemerk-
bar.
Die genauere
Untersuchung des
Weigert-Bildes aus
derCervicalhohe laCt
aber noch ein weiteres
symmetrisch ge-
legenes Lichtungs-
areal erkennen, und
zwar im anterola-
teralen Strangge-
biete; rechts ist
dieses Ausfallsgebiet
deutlich begrenzt,
veil es iiberall von
normalen Ab-
schnitten umgeben
ist; es grenzt, vie
man siebt, dorsal-
warts direkt an das
Gebiet des seitlichen Abb. 8. Weigert-Bilder aus dem Cervical- und Lumbalmark.
Pyramidenstranges. Nahere Beschreibung im Text.
Links ist das symme-
trische Ausfallsgebiet weniger ausgeprochen, als rechts, auch fallt es auf
dem Schnitt nicht so gut auf, weil es dorsalwarts an das ebenfalls gelichtete Pyra-
midenareal grenzt. Ich glaube aber, dad man auch auf dem beigefiigten Bilde
im linken Seitenareal zwei voneinander noch gut absonderbare lichtere Bezirke
unterscheiden wird konnen, wie es auf den Praparaten deutlich zu sehen ist. Das
vordere liegt symmetrisch zum gelichteten Gebiet der rechten Seite. Ich habe
dieses symmetrische Ausfallsgebiet auch auf nach Spielmeyer gefarbtenSchnitten,
die absichtlich zu kurz differenziert wurden, vorgefunden, und auf mit Fuchsin
iiberfarbten Spielmeyer-Praparaten an Stelle der ausgefallenen Markfasern eine
deutliche Zunahme des Gefadbindegewebes und faseriges Gliagewebe gefunden.
Dieses symmetrische Ausfallsgebiet konnte ich nur im Cervicalinark nachweisen;
vom Dorsalmark stand mir als verwertbar nur ein Teil des unteren Dorsalmarkes
zur Verfiigung, und hier felilte es ebenso wie es das Bild auf der Lumbalhohe
zeigt. Abb. 9 zeigt das rechte Ausfnllsareal in einer Vergro derung, die nahere
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
272
H. Richter: Beitrage zur Klinik und pathologischen
Digitized by
Einzelheiten erkennen laBt. Man sieht neben groBeren Liicken, die das GefaB-
bindegewebe einnimmt, ein diffuses Hervortreten der Markfaserzwischenschicht,
die besonders auffallt, wenn man das links sichtbare Areal der normalen Pyramide
zum Vergleich nimmt. Auch wird man diinne, atrophische Markfasem in groBer
Anzahl zwischen den relativ erhaltenen auffinden. Ahnliches Bild zeigt die sym-
metrische Stelle rechts, doch sind hier die markfreien Liicken nicht so groB, und
der gelichtete Bezirk etwas kleiner.
Das beschriebene Ausfallsgebiet liegt an jener Stelle, wohin wir bekanntlich
den Verlauf der rubrospinalen Faserung verlegen. Ich habe deshalb in den fron-
taleren Gehimsegmenten die Stellen untersucht, wo diese Bahn verlauft. Ich
Abb. 9. VergroBerte Teilansicht im Ausfallsgebiet des Tractus rubrospinalis
rechts. Links davon das intakte Pyareal.
fand dabei. daB in der Oblongata in jenen kleinen Biindeln, die medialwarts von
der Flechsigschen Bahn in der Substantia reticul. lateralis verlaufen, eine im
Vergleich zu mehreren normalen Schnitten deutliche Rarefiziemng bestand, die
sich darin kundgab, daB die vertikal verlaufenden kleinen Markbiindel deutlich
schwacher gefiirbt waren, in manchen Biindeln waren nur 1—2 dicke Markfasem
zu sehen, hingegen waren die diinnen, atrophischen Markscheiden ungewohnlieh
zahlreich vertreten. Das ganze, ziemlich gut begrenzte dreieckformige Areal der
Formatio reticularis lateralis war im Vergleich mit mehreren Normalschnitten
aus dieser Hohe an Umfang deutlich verringert. Doch nniB ich bemerken, daB
die Bestimmung einer diffusen Markrarefizierung in diesem Gebiete recht schwierig
ist, und ich wiirde mich gar nicht berechtigt fiihlen, aus dem Oblongatabefund
allein weitere Schliisse zu ziehen. Im Haubengebiet habe ich an der Verlaufs-
stelle der rubrospinalen Faserung einen Markausfall mit Sicherheit nicht feststellen
konnen.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Anatomie der extrapyramidalen Bewegungsstdrungen. 273
Zellbilder aus dem Striatum (rechts). Der Unterschied, der auf den
Weigert-Bildern zwischen den frontalen und caudalen Gebieten in bezug auf den
Zustand der Markfasern beobachtet werden konnte, wird noch viel auffalliger,
wenn man verschiedene Teile des Striatums auf Zellbildern untersucht. Die Zell-
veranderungen konnen kurz dahin zusammengefaflt werden, daB sowohl die groBen
als auch die kleinen Nervenzellen des Striatums von einem einfachen Schwund-
Digitized by Goo
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
274
H. Richter: Beitrage zur Klinik und pathologischen
prozeB befallen sind, der im caudalen und mittleren Putamengebiet schon weit
vorgeschritten ist, im Anfangsteil des Putamens auch deutlich ausgesprochen ist
und im Kopf des Nucl. caudatus die geringste Intensit&t zeigt. Doch auch inner-
halb der angefiihrten Segmente liiBt sich ebenso, wie im Markbild, die herdformige
Ausbreitimg des Prozesses noch deutlich bemerken. So war im caudalen Putamen
der auBere, unterste Abschnitt vom SchwundporzeB am schwersten heimgesucht.
Die Abb. 10 und 11 veranschaulichen die Veranderungen an zwei verschiedenen
Stellen aus dem hinteren und mittleren Teil des Putamens; als Vergleichsbilder
stellte ich Nissl-Bilder aus ungefakr gleichen Gegenden eines normalen Putamens.
der aus dem Falle I. von Kohlenmonoxydvergiftung stammt, zur Seite. Die auf-
fftlligste Veranderung ist die hochgradige, zahlenmaBige Verringerung der Striatum -
zellen. Durch die Abzahlung vieler Gesichtsfelder hier und in Normal priiparaten
Abb. 11. Nissl-Bilder kongruenter Stellen aus dem mittleren unterenPutamen¬
gebiet: a) im vorhegenden Fall; b) aus Fall I von Kohlenmonoxydvergiftung.
gelangte ich zu einer durchschnittlichen Verhiiltniszahl von 11: 38. Der Zell-
schwund ist auch an ein und demselben Schnitt ein verschiedengradiger. Ich fand
schwer verodete Stellen, die in einem Gesichtsfeld nur 4—5 schwer veriinderte
Zellen aufwiesen, neben relativ besser erhaltenen mit 20—25 Zellen im Gesichts-
felde.
Eine weitere, auffallige Veranderung zeigt sich im inorphologischen Bild
der noch erhaltenen Striatumzellen. Man wird sagen konnen, daB keine einzige
Ner\ T enzelle in der caudalen Putamenlnilfte eine normale Struktur zeigt. Die meisten
bieten das charakteristische Bild der chronischen Zellerkrankung Nissls (die
„einfache Schrumpfung“ im Sinne Spielmeyers): Der Zellumfang ist verringert,
derZelleib ist gleichmiiBig dunkelblau gefarbt, laBt keine Nissl-Strukturen, sondern
meist nur einen Pigmentfleck erkennen. Das Plasma ist manchmal so stark
reduziert, daB der Kern nur von einer Seite her von tiefblau gefarbten Plasma-
schollen begrenzt ist. Die Zellfortsatze sind verdiinnt, oft korkzieherartig ge-
wunden; bei vielen fehlen sie ganz. Der Kern ist auch kleiner geworden, ist nicht
Digitized by Goe)gle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Anatomie der extrapyranlidalen Bewegungsstorungen.
275
blaschenformig, sondem dreieckig oder ovalformig und ist ebenfalls blaulich ge¬
farbt. Das dunkelblaue, punktformige Kernkorperchen der normalen Zelle ist
liier vergroBert, erscheint wie aufgedunsen, plump, unscharf gezeichnet. Diese
Schrumpfungsart ist an den groBen und kleinen Striatumzellen gleichmaBig zu
beobachten und ist im liinteren Putamenteil am meisten ausgesprochen, doch
findet man auch hier noch Zellen, an welchen die Veranderung relativ weniger
ausgesprochen ist; unter den groBen Zellen finden sich Exemplare, die nur eine
pyknotische Umfangsverringerung zeigen, oline andere Strukturverauderungen;
man bemerkt in diesen kleine Tigroidschollen in normaler Anordnung; fast alle
noch erhaltenen Zellen enthielten reichlich Pigment.
Eine andere Veranderungsart, die sich neben dunkel gefarbten Schrumpf-
bildem im Striatum zeigt, entspricht den sog. Zellschattenbildern, die ebenfalls
haufig und diffus zerstreut vorkommt. Auffalliger sind die groBen Zellen, die diese
Veranderung zeigen: der Zelleib ist blaB gefarbt, Tigroidsubstanz fehlt, das Plasma
zeigt eine wabige Struktur, die Zellkonturen sind unregelmaBig, ersclieinen mancli-
mal wie ausgenagt. Manchmal findet man einige Gliakerne um solche Zerfalls-
figuren, offers fehlen aber solche. Bilder von echter Neuronophagie habe ich
hier nicht gesehen.
Den schweren Zellveranderungen steht eine unverhaltnismaBig schwaclie
Reaktion von seiten des Gliagewebes gegeniiber. In der liinteren Putainenhalfte
ist die Zahl der Gliakerne im verodeten Parenchym kauin vermehrt. Die Zell-
kerne sind fast durchwegs klein, rund, chroinatinreich, oft homogen dunkel-
blau gefarbt und konnen von den gleich zu besprechenden Rundzellen der peri-
vaskulftren Anhaufungen gar nicht unterschieden werden. GroBere, ovale Glia¬
kerne mit sparlicherer Chromatinkomelung waren in viel geringerer Anzalil zu
sehen. Auf Bildern, die nach Holzer gefarbt wurden, sieht man stellenweise in
der Umgebung von GefaBen eine leichte Zunahme von faserbildenden Gliazellen
oder einen diinnen Faserfilz, der das Parenchym gegen die erweiterten perivascu-
lhren Raume begrenzt. Progressive Gliazellformen sind mir iiberhaupt nicht
entgegengetreten. Ebenso habe ich die von Alzheimer beschriebenen Riesen-
gliazellen, die von ihm bei der Pseudoklerose, von Spielmeyer bei der Wilson-
schen Krankheit gefunden wurden, in diesein Falle vollig vermiBt.
Auch GefaBveranderungen waren im hinteren Putamen nur wenig ausgespro¬
chen. Von der auffallend groBen Erweiterung der perivascularen Raume wurde
schon Erw'ahnung getan. Die GefaBliicken begrenzt eine etwas aufgelockerte
Parenchymschicht, in der hauptsachlich nur einige Gliazellkerne zu sehen waren,
manchmal aber auch Nervenzellen. Die GefaBwand bot keine besonderen Ver-
anderimgen; auf Fibrillenbildern konnte festgestellt werden, daB eine merkliche
Capillarfibrose fehlte, ebenso eine Kernvermehrung der GefaBwand. Pathologisclie
Ablagerungen von Niederschlagsprodukten sahen wir weder in der GefaBwand
noch im Parenchym.
An einigen GefaBen, die im pathologisch veranderten Gebiet lagen, fand ich
perivasculare Rundzellenanhaufungen. Zumeist waren es Venen, die diese Ver¬
anderung aufwiesen. Die Infiltrate bestanden meistens aus ein bis zwei Reihen,
nur ganz seiten bot sich eine starkere Anhaufung. Die Zellen liegen zum
groBten Teil periadventitiell, gewohnlich in einer weiten GefaBliicke. Die
Zellkeme sind klein, rund, sind homogen blau gefarbt; seltener sind etwas
groBere, hellere Formen mit einer femen Cliromatinkornelung zu sehen. Die
Kerne liegen meistens frei; seltener sind die mit einem diinnen Plasmasaum
umgebenen Kerne. Plasmazellen ahnliche Gebilde habe ich in diesen Anhaufungen
nie angetroffen. Im ganzen gehoren sie zu den verhaltnismaBig seltenen Befunden;
in mehreren Praparaten waren sie gar nicht angedeutet. Es soil noch bemerkt
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
276
H. Richter: Beitrage zur Klinik und pathologischen
Digitized by
werden, daB sicli die Infiltratkeme von den kleinen runden Gliazellen, die im
Parenchym lagen, niorphologisch knuni unterscheiden lassen.
Im Vorderteil des Putamens waren die Ver&nderungen bei weitem nicht so
schwer, wie in dein bisher besprochenen Abschnitt. Man findet Stellen, wo
die Nervenzellen an Zah] kaum vermindert sein konnen und niorphologisch
den nornialen Zellen nahe stehen. Es gibt dann Stellen, wo der ZerfallsprozeB
und die Schrumpfungsvorgange deutlich erkennbar sind. Man wird hier die herd-
formige Lokalisation des Prozesses noch besser erkennen. Rundzelleninfiltrate
um die GefaBe trifft man auch hier nur sparlich an; ein Zusammenhang zwischen
ihrer Lagerung und der Ausbreitung der Zerfallsherde lieB sich nicht feststellen.
Die morphologischen Veranderungen der Nervenzellen sind init denen im hin-
teren Putamen identisch: auch hier dunkelgefarbte Schrumpfformen und Zell-
schattenbilder. Das Gliagewebe ist hier etwas lebhafter am ProzeB beteiligt;
man sieht ofters Anhiiufungen von Gliakernen um die veranderten Nervenzellen;
kleine isolierte Kernanhaufungen. die hier dicht anzutreffen sind, diirften wolil
mit den, die intakten Markbiindel begleitenden Gliakerngruppen identisch sein.
Ihrer Form nach sind es dieselben kleinen, runden Gliakerne, die auch hier iiber-
wiegen. Die aus dem hinteren Putamen bekannten weiten GefiiBraume waren hier
nicht zu sehen.
Herxheimer-Bilder aus dem hinteren Putamen zeigten, daB alle Nervenzellen
fettig verandert sind. Abbauvorgange waren hier nur wenig ausgesprochen. Im
vorderen Putamen waren mit Fettkornehen beladene Gliazellen haufiger zu sehen.
GroBere Anhiiufungen um die GefiiBe wurden auch hier nicht gefunden.
Im Kopf des Nucl. caudatuj waren die beschriebenen Veranderungen am
wenigsten ausgesprochen. Die Nervenzellen lassen eine zahlenmaBige Abnahme
nicht erkennen. An manchen Stellen fallen sie durch die hellere Fiirbung des
homogenen Zell plasmas auf; auch dunkelgefarbte Schrumpfzellen sind stellenweise
zu sehen. Das Gliagewebe zeigt keine merkliche Zunahme der Kerne. Die
perivasculfiren Lymphrftume sind nicht erweitert, GefaBinfiltrate fehlen.
Unverkennbar, wenn auch an Ausbreitung und Intensitat viel geringfiigiger
waren die Veranderungen im Globus pallidus. Eine zahlenmaBige Verringerung
der Zellen konnte mit Sicherheit nicht festgestellt werden. Die Zellen sind aus-
nahmslos stark pigmenthaltig. Deutliche Schrumpfformen waren an manchen
Stellen herdformig angesammelt; hier und da war ein zartes Gef&Binfiltrat zu sehen.
Die zellige Gliawucherung war mehr ausgesprochen. Unter den Zellen fand ich
ein zweikerniges Zellexeihplar.
Interessantes Bild zeigte die groBzellige Gruppe der Substantia innominata,
das den herdformigen Charakter des pathologischen Prozesses lebhaft illustrierte.
Inmitten der Gruppe zeigt sich n&mlich eine Stelle, wo alle Zellen in einer herd¬
formigen Begrenzung schwer geschadigt erscheinen. Wahrend die iibrigen Zellen
ilire normale GroBe. eine gute Tigroidfilrbung, einen hellen, blaschenformigen
Kern zeigen, sind auf dieser Stelle alle Zellen hochgradig geschrumpft, dunkelblau
gefarbt; kleine Haufchen von Gliazellkemen weisen darauf hin, daB einige Zellen
bereits zugrunde gingen. Um die veranderten Zellen lagen oft 8—10 Gliakerne.
Von den benachbarten Grisea des Striatums wurden noch genauer untersucht
und histologisch als normal gefunden: das Claustrum, die Thalamuskeme, der
Hauptkem des Nucleus ruber und Corpus Luysi.
Eine schwere anatomische Veranderung deckten die Nissl-Bilder in jener
Gegend auf, die dem caudalsten Ende des roten Kerns entspricht und das
Gebiet oberhalb der Substantia nigra umfaBt. Abb. 12 sta nmt aus dieser
Gegend. Ich wurde auf diese durch das im Bilde sichtbare, zarte Gef&B-
infiltrat und den erweiterten GefiiBraum aufmerksam gemacht, die ich nur noch
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Anatomie der extrapyramidalen Bewegungsstorungen.
277
ira Striatum vorfand. Die Pigmentzellen der Substantia nigra waren vom patho-
logischen ProzeB groBtenteils verschont geblieben, nur auf engen Stellen, wie
eine solche auf der Abb. 12 ersichtlich, trat Schrumpfung und Zerfall einiger Zellen
ein; hier sieht man kleine Pigmentschollen frei im Gewebe liegen. Viel schwerer
betroffen wurde das oberhalb der Substantia nigra liegende Gebiet, in deni
als die caudalsten Auslaufer der Nucleus-ruber-Formation, die zum Nucl. magno-
cellularis gehorigen groBen, motorischen Zellen einzelne. Nester bilden. Es ist
dies ein schon ziem-
lich verodetes Ge¬
biet, in dem noch
einige schwer ver-
anderte Zellen
liegen. Manche
Stellen lassen sie
noch in kleinen
Gruppen erkennen,
doch alle sind
schwer verandert;
die aus dem Stria¬
tum bekannten
Schrumpfformen
sind hier nur selten
anzutreffen, die
meisten Zellen sind
auffallend blaB ge-
farbt, ihr Zelleib
wabig zerkluftet
und erinnert an
vacuolisierte Zel¬
len ; oft ist ein Zell-
kem nicht zu er¬
kennen. Die Zellen
sind meist von
Gliazellkernen um-
ringt. Die Veran-
derung ist auf den
caudalen Pol des
Nucl. ruber scharf
begrenzt; der Abb. 12. Aus der caudalen Hftlfte des Hirnschenkelgebietes.
Hauptkern dessel- In der Zellschicht der Subst. nigra einige in Zerfall be-
ben, in welchem griffene Zellen in herdformiger Anordnung. Dorsal davon
nur mittelgroBe erweiterter GeftiBraum mit leichten Rundzellenanh&ufungen.
und kleine Zellen
enthalten sind, zeigt eine vollkonunen normale Struktur.
Kleinhirn und Nucl. dentatus wiesen auf den Nissl-Bildern gar keine patho-
logisch zu bewertende Verflnderungen der Ganglienzellen, des Gliagewebes oder
der GefftBe auf.
Die motorische Rinde der rechten Hemisphare lieB auf Nissl-Praparaten
folgende Veranderungen erkennen. Die einzelnen Zellschichten waren an Umfang
nicht verringert und gegeneinander gut begrenzt. Die Beetzsehen Riesenpyra-
midenzellen waren an Zahl kaum vermindert, die Struktur der Zellen im all-
gemeinen gut erhalten. In einigen war das Tigroid feinkornig zerbrockelt; der
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
278
H. Richter: Beitrage zur Klinik und patliologischen
Digitized by
komige Zerfall der Nissl-Schollen war besonders in den Zellfortsatzen gut zu beob-
achten. Man fand auch ein bis zwei Zellen mit ausgenagtem Zelleib, in dem
ein oder mehrere Gliazellkerne lagen. Doch sind solche Bilder nur vereinzelt zu
sehen, wiihrend die Zellen der dritten und vierten Schicht hfiufiger regressive
Veranderungen aufwiesen. Neben einfach geschrumpften Zellformen fanden
sich Bilder von echter Xcuronophagie in dieser Schicht zahlreich vor. Viele
Residualknotchen weisen darauf hin, daB die kleinen und mittelgroBen Pyramiden-
zellen einem ziemlich lebhaften ZerfallprozeB anheimfielen. Die Gliazellen sind
auch diffus vermehrt, ihr Zelleib ist vergroBert und zeigt oft eine hellblaue Farbung;
an den Kernen sail man hier und da Teilungsformen. Zu einer Faserbildung ist
es aber in dieser Schicht nirgends gekommen. Die GefaBe sind nicht verandert,
Kornchenzellen lieBen sich nur in maBiger Zahl nachweisen. Die Markbilder
aus der motorischen Rinde, die an Gefrierschnitten gewonnen wurden, lieBen
keinen bemerkbaren Ausfall erkennen.
Die Ganglienzellen aus anderen Rindenteilen (hintere Zentralwindung, erste
frontale, erste temporale Windung) zeigten im allgemeinen normale Verh<nisse.
Durchblickt. man die im obigen geschilderten anatomischen Ver-
anderungen, so lassen sich diese in Folgendem znsammenfassen:
Die schwerste Veranderung lag im Striatum vor; und zwar, wie
die Zellbilder und Markfaserbilder gleichlautend bestatigen, war diese
im caudalen Drittel desselben am meisten vorgeschritten, im mittleren
Teil auch noch schwer, im vordersten Drittel schon viel weniger aus-
gesprochen; das frontalste Gebiet des Striatums, der Kopf des Schweif-
korpers war nur leicht verandert. Es soil hier gleich darauf hingewiesen
werden, da(3 dieser Befund im Sinne der topographischen Gliederung
von 0. und C. Vogt mit dem Auftreten der klinischen Symptome in
den verschiedenen Korperteilen, soweit dies in unserem Falle besonders
vermerkt ist, recht gut in Einklang gebracht werden kann. Naraent-
1 ich ware hervorzuheben, daB die im letzten Stadium der Krankheit
beobaehteten Storungen in der Sprache und in den Gesichtsmuskeln
mit den relativ leichten, also vermutlich nicht lange bestehenden Ver¬
anderungen im Kopf des Caudatums ubereinstimmen.
Der pathologische ProzeB auBerte sich in erster Linie in einem
chronisch progressive!! Zellschwund, der die kleinen und groBen Striatum -
zellen gleichmaBig betraf und hierdurch zu einer fortschreitenden Ver-
odung des Striatums fiihrte. Er waren ledighch zwei histologische
Veranderungsarten an den Striatumzellen zu beobachten: Schrumpf-
zellen, die wahrscheinlich einen stabileren Endzustand der chronischen
Zellerkrankung Nissls darstellen und Zellsehattenbilder, die als Repra-
sentanten eines rascheren Zcrfallsprozesses gclten keinnen. Auffallend
schwach war die Beteiligung des Gliagewebes an den Ersatzvorgangen.
Diese findet ihre Erklarung zunachst in der Tatsache, daB das Striatum
zu jenen Segmenten gehort, in welchcn — wie es Spielmeyer hervor-
liebt — die Ersatzwucherung des Gliagewebes infolge seiner besonderen
lokalen Beschaffenheit weit hinter dem Schwund der Nervenzellen
Go^igle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Anatomie der extrapyramidalen Bewegungsstorungen.
279
zuriickbleibt; ein weitorer Grund diirfte in dom eminent chronischen
Verlauf des Prozesses gegeben sein. Tatsache ist, daB eine mit dem
schweren ParenchymprozeB in Verhaltnis stehende Wucherung der
Gliazellen fehlte nnd daB die vorhandenen Gliazellkerne in iiberwiegen-
derZahl aus kleinen, dunkelgefarbten, runden Kernen bestanden, so daB
wir in diesem Befund auch noch ein Zeichen dafiir besitzen, daB das
Gliagewebe selbst sich in einem regressiven Zustand befand.
Das MiBverhaltnis, in dem die Ersatztatigkeit der Gewebs-
glia zum Parenchymschwund des Pntamens stand, offenbarte sich
makroskopisch in der deutlichen Umfangsverringerung des Putamens
und in den pathologisch erweiterten perivascularen Ran men, fur deren
Zustandekommen in erster Linie die Retraktion des Parenchyms ver-
antwortlich gemacht werden muB; erst in zweiter Linie wird man die
Einschmelzung der an das GefaB angrenzenden Parenchymschicht in
Erwagung ziehen, umsomehr,dadie histologischenMerkmale eines solchen
Prozesses, die man bei den echten Kribliiren in der Form von desinte-
grierten Gewebsteilen fast immer auffindet, hier vermiBt wurden. Die
Rundzellenanhaufungen, die um einige GefaBe des erkrankten Gebietes
gefunden wurden, konnen mit dem ZellschwundprozeB in keinen ur-
sachlichen Zusammenhang gebracht werden. Man wird einen primaren,
echt-entzundlichen Charakter dieser Infiltrate aus mehreren Griinden
ansschlieBen konnen. Sie waren im krankhaft veranderten Gebiet
nur selten anzutreffen (zumeist in den perivenosen Gef&Blucken), auch
dort, wo der ProzeB einen relativ lebhafteren Verlauf zeigte; speziell
an solchen Stellen, wo der herdformige Charakter des Zellschwund-
prozesses ausgesprochen war, konnte ihr Auftreten mit dem ProzeB
in keine Beziehung gebracht werden. Auch fand ich nie unter diesen
Zellen solche Formen, die man fiir Plasmazellen hatte halten konnen,
wo doch bei lymphocvtaren Exsudationen, die einen entziindlichen
Charakter haben, die Weitcrentwicklung der Lymphocyten zu Plasma-
zellen eine regclmaBig beobachtete Erscheinung ist (es sei hier besonders
an Westphals Fall erinnert). Ihrer morphologischen Struktur nach
mochte ich die Zellen doch als Lymphozyten auffassen, obwohl sie —
wie schon friiher bemerkt — von den kleinen Gliazellkernen, die im
Parenchym zerstreut lagen, kaum unterschieden werden konnen.
Raecke und andere Forscher, die ahnliche Rundzellenanhaufungen bei
der chroniseh-progressiven Chorea gefunden haben, identifizieren sie
mit den kleinen Gliazellkernen, da sie in der schwacheren Farbung
und der feinen Granulation der Kerne auch eine morphologische Ab-
weichung von den Lymphocyten feststellen konnten. Auf jeden Fall
wird man den entziindlichen Charakter dieser Infiltrate ausschlieBcn
konnen, und diese viel eher als durch den ParenchymprozeB sekundar
bedingte Veranderungen auffassen.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
280
H. Richter: Beitrage zur Klinik und pathologischen
Digitized by
Die Markfaserbilder aus dem Putamen lassen sich etwa dahin
loewerten, dab die Veranderungen der Markfasern im allgemeinen viel
weniger ausgesprochen sind als die der Nervenzellen, sie weisen aber
darauf hin, dab bei einem gewis.sen Fortschritt des Zellprozesses auch
die Markfasern eine erhebliche EinbuCe erlitten haben. So zeigt uns
das Weigert-Bild aus dem hinteren Putamen, dab im oberen und un-
teren Putamensegment das feine Eigenfasernetz des Putamens sehr
stark gelichtet ist, und dab die kompakten Markbiindel, die aus dem
Putamen gegen das Pallidum ziehen, an Zahl und Umfang stark ver-
ringert sind. Der partielle Ausfall der striopallidaren Faserung fiihrt zu
auffalligen, lokalen Markausfallen in den korrespondierenden Abschnitten
der Lamina med. externa und in der Faserung des Globus paUidus,
die an diesen Stellen im volligen Ausfall der radiar durchziehenden
Faserziige sich bekundet. Das Markfaserbild aus der Mitte des Putamens
labt einen Ausfall von Marksubstanz kaum erkennen; es tritt im Gegen-
teil der von O. und C. Vogt beschriebene charakteristische Zustand
von relativer Markiiberfullung in Erscheinung, der Status fibrosus,
bedingt durch den Parenchymschwund, der ein Zusammendrangen der
noch intakten Markbiindel bewirkt. Im vorderen Dritteil des Putamens
lieben die Markbilder keine als pathologisch bewertbare Veranderungen
erkennen.
Im Globus pallidus war der pathologische Zellprozeb viel weniger
ausgesprochen; die lokale Faserverarmung im Hinterteil desselben
diirfte grobtenteils auf den Ausfall der striofugalen Fasern zuriick-
gefiihrt werden. Ein Markausfall in der subpallidaren Faserung konnte
nicht nachgewiesen werden.
Von den benachbarten Grisea des Striatums hat der geschilderte
Zellprozeb sich noch an zwei Stellen bemerkbar gemacht: im Nucleus
substantiae innominatae, deren Zugehorigkeit zum Striatumsystem
noch zweifelhaft ist, namentlich von O. und C. Vogt in Abrede gestellt
wird, und im caudalsten Teil des Nucl. ruber.
t)ber die Bedeutung dieser Stelle gibt uns die eingehende Studie
v. Monakows Aufschlub, die den roten Kern und seine Umgebung
behandelt. Aus dieser erfahren wir, dab beim Menschen der sog. Nucleus
mugnocellularis (Hatschek) nur einen rudimentaren Bestandteil der
Ru berformation bildet, der mit einigen Nestern von groben motorischen
Zellen, den sog. Riesenzellen die caudalsten Auslaufer des roten Kerns
bildet. Diese motorischen Zellen waren auch in unserem Fall vom
pathologischen Prozeb am schwersten betroffen, wahrend der Haupt-
kern des Nucl. ruber sich als anatomisch intakt crwies. Was nun die
synaptologische Bedeutung dieser Zellgruppe betrifft, konnte v. Mona-
kow in zwei pathologischen Beobachtungcn am Menschen durch Ver-
folgung aufsteigender Degenerationen aus dem Ruckenmark den
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Anatomie der extrapyramidalen Bewegungsstorungen.
281
Nachweis erbringen, daB die rubrospinale Faserung beim Menschen
ausschlieBlich mit dieser Zellgruppe zusammenhangt. Experimentell
zeigte Kohnstamm an Kaninchen, daB bei halbseitiger Durchschnei-
dung des Riickenmarks nur die Zellen des Nucl. raagnocellularis zu-
grunde gehen (die den sog. weiBen Kern bilden), wahrend der eigentliche
rote Kern intake bleibt. Bei Tieren ist der Nucl. magnocellularis viel
starker entwickelt und nimmt auch an der Bildung des Hauptkerns
teil; beim Menschen besteht der Hauptkern nur aus kleinen und mittel-
groBen Zellen, die mit den ubrigen rubrofugalen Faserungen in Verbin-
dung stehen, der stark riickgebildete Nucl. magnocellularis ist nur durch
die motorischen Zellgruppen vertreten, die im caudalsten Gebiet des
roten Kerns oberhalb des Substantia nigra liegen.
Ober den Verlauf des Fasciculus rubrospinalis sind wir aus den
tierexperimentellen Untersuchungen von v. Monakow, Probst u. a.
unterrichtet. Probst war der erste, der den Ursprung dieser Bahn, die
v. Monakow schon friiher als ,,aberrierendes Seitenstrangbiinder' be-
schrieb, aus dem roten Kern unzwcideutig festgestellt hat. Probst
gibt in seiner Beschreibung liber diese Bahn folgendes an: Das Biindel
ist durch uuffallend dicke Markscheiden ausgezeichnet. Die aus dem
roten Kern austretenden Fasern ziehen durch die ventrale Hauben-
kreuzung Forels auf die andere Seite, wo sie im ventrolateralen Teil
der Formatio reticularis in sagittaler Anordnung verlaufen. Unter dem
motorischen Trigeminuskern ziehen sie etwas ventral warts und kommen
zwischen austretender Facialiswurzel und oberer Olive zu liegen. In
der Oblongata verlaufen die Faserbiindel medial von der Gowers bahn,
ventral vom dorsalen Trigeminuskern, lateral von den spinothala-
mischen Biindeln, im lateralen Teil der Formatio reticularis. Im Cervi¬
cal mark erstreckt sich die Bahn im Seitenstrang vor dem Pyramiden-
areal. Sie reicht im Hals- und oberen Dorsalmark nicht bis zur Peri¬
pherie, ist nach vorne und innen dreieckig. Im Brustmark nimmt sie
an Umfang ab, erscheint hier nindlich und liegt im unteren Brust-und
Lendenmark ganz am Rand des Seitenstranges. Probst konnte an
Marchi-Bildcrn einige Fasern bis ins Sacralmark verfolgen. Er hat auch
deutliche Einstrahlungen in das seitliche Vorderhorn feststellen kbnnen.
Sehr bemerkenswert auBert sich Probst liber das Verhaltnis des
v. Monakowschen Biindels zur seitlichen Pyramidenbahn. ,,Die Fasern
<les Biindels und die Fasern der Pyramidenstrangbahn liegen dicht bei-
sammen, so daB sie bei gemeinsamer Degeneration nicht voneinander
zu trennen sind. Dadurch erklart sich die Tatsache, die schon friiheren
Autoren auffiel, daB die Seitenstrangsbahndegeneration bedeutend star¬
ker ist nach einseitiger Riickenmarksdurchschneidung, als nach Dureh-
schneidung der Pyramide selbst oder nach Blutungen in der inneren
Kapsel.”
Arohlv far Psychintrie. Bd. «7. 19
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
282
H. Richter: Beitrage zur Klinik und pathologischen
Digitized by
Cber den Verlauf der Bahn beim Menschen wissen wir eigentlich
nur so viel, als sich im Falle von Collier und Buzzard, wo die beider-
seitigen Ursprungszellen der Bahn zerstort waren, durch die angewen-
dete Marchi-Methode feststellen lieB und v.Monakow in seinenFallen
ermitteln konnte. Aus diesen ergab sich, daB die Bahn beim Menschen
ungef&hr denselben Verlauf zeigt, wie bei den Versuehstieren beobachtet
wurde, nur ist die Bahn beim Menschen viel schmachtiger. lhre typische
Lagerung im Riiekenmark vor der Pyramidenhahn, in der Oblongata
im dreieckigen Gebiet der Formatio reticularis lateralis ventral vom
Trigeminuskern und im lateralen Haubengebiet der Pons ist auch beim
Menschen sichergestellt. Fraglich ist, ob sie das gauze Riiekenmark
durchzieht, oder schon in hoheren Segmenten aufhdrt. v. Monakow
nimmt auf Grund seiner Beobachtung an, dab die Bahn die Hohe des
V. Dorsalsegmentes unbedingt u berschreiten muB.
Bei der Beschreibung der Ruckenmarksveranderungen unseres
Falles habe ich die anatomischen Beweise ausfuhrlich angefiihrt. die
mich dazu bewogen haben, den symmetrischen Faserausfall im vorderen
Teil beider Seitenstrange und die nachweisbare Faserlichtung in den
beiderseitigen Gebieten der Formatio reticul. lateralis in der Oblongata
als einen Faserausfall im rubrospinalen Biindel v. Monakows auf-
zufassen. Ich bin mir der Schwierigkeiten bewuBt, die der Identifizierung
einer heute noch so wenig bekannten Bahn auf Grund von Weigert-
Bildern im Wege stehen. MaBgebend war fiir mich dabei neben fler
typischen Lagerung der Ausfallsareale — im Seitenstrang unmittelbar
vor dem Pyramidenbiindel, in der Oblongata ventral vom Trigeminus¬
kern, medial von der Kleinhirnseitenstrangsbahn — auch der Umstand,
daB an der Ursprungsstelle der nibrospinalen Bahn, in den caudalsten
Zellnestern der Ruber formation ein schwerer SchwundprozeB in den
hier liegenden motorischen Zellen nachgewiesen werden konnte. C'harak-
teristisch war die Lagemng des Ausfallsareals im linken »Seiten.strang,
wo die seitliche Pyramide ebenfalls gelichtet ist. Probst erwahnt,
daB in solchcn Fallen das Ausfallsareal sich nach vorne vergroBert;
allerdings stammt seine Beschreibung aus frischen, mit Marchi bearbei-
teten Fallen. Ich konnte auf den Weigert-Bildern die beiden Ausfalls¬
areale, so innig sie auch aneiander grenzten, doch deutlich voneinander
unterscheiden. Das rechtsseitige Ausfallsgebiet war wesentlich besser
ausgesprochen, als das linke. Im Lumbalmark war die linksseitige
Pyramidenlichtung noch deutlich zu sehen, die rubrospinalen Ausfalls-
gebiete fehlten aber vollkommen: ebenso vermiBte ich sie in den unteren
Thorakalsegmenten (die ubrigen Ruckenmarkssegmente standen mir
nicht zur Verfiigung).
Der Ausfall im linken Pyramidenstrang zeigte sich nicht nur in
der helleren Markfarbung des betreffenden Areals, sondern auch darin,
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Anatomie der extrapyramidalen Bewegungsstorungen.
283
da Li der Seitenstrang auf der linken Seite bedeutend schmaler war
als auf der rechten und daB die Randlinie des Riickenmarks an dieser
Stelle etwas eingebogen verlief; es ist daher naheliegend, anzunehmen,
dali die Pyramideniasion schon seit langer Zeit bestand; dies wird
auch durch die klinische Beobachtung wahrscheinlich geraacht. Inwie-
weit einZusammenhang zwischen der Pyramideniasion und den in der r.
motorischen Rinde beschriebenen Veranderungen besteht, raochte ich
unentschieden lassen. Die Beetzschen Riesenpyramidenzellen waren in
annahernd normaler Zahl zu sehen, und zeigten nur geringfiigige Ver¬
anderungen. Die Veranderungen der kleinen und mittelgroiien Zellen
waren schon deutlicher; es fehlten jedoch auch in dieser Schicht die
histologischen Kennzeichen eines seit langern bestehenden Prozesses,
wie wir es fur die Pyramideniasion annehmen miissen; die Zellschichten
waren noch gut erhalten, glios bedeckte groBere Ausfallsgebiete waren
nicht zu sehen.
Ich komme nun auf die Frage zu sprechen, welche Folgerungen
aus dem klinisch-anatomischen Befund des vorliegenden Falles abgeleitet
werden konnen.
Was zunachst die Lokalisationsfrage betrifft, so fanden wir,
daB in einem Falle, den wir auf Grund der klinischen Symptome in die
Gruppe der Torsionsdystonie einreihen konnten, lediglich drei Steden
des Zentralorgans anatomisch-pathologische Veranderungen aufwiesen.
Die einseitige Lasion der Pyramidenbahn, die sich im klinischen Bilde
in einer typischen spastischen Hemiparese kundgab, konnen wir bei
diesem AnlaB, wo die anatomische Grundlage des torsionsdystonischen
Krankheitsbildes erdrtert werden sod, ruhig ausschdeBen und diese
als eine zufftdige, im adgemeinen sehr seltene Kombination der in
Rede stehenden Erkrankung auffassen.
Die schwerste, weil am meisten ausgebreitete pathologische Ver-
anderung lag im Striatum, wo ein chronisch progressiver Schwund-
prozeB ade nervosen-Elemente ergriffen hat, am schwersten die Nerven-
zellen, weniger schwer die Markfasern und das Gliagewebe: eine leichtere
Form der Erkrankung bot noch das benachbarte Pallidum und die
Zellgruppe der Substantia innominata. Neben diesem groBen Er-
krankungsherd fand sich eine ziemlich isolierte Affektionsstelle in der
Gegend der Substantia nigra, die hauptsachlich die Utsprungsstelle der
rubrospinalen Faserung geschadigt hat. Bekanntlich wird dieses Faser-
system mit den extrapyramidalen Bewegungsfunktionen als eine der
wichtigsten zum striaren System gehorigen efferenten Bahnen aufgefaBt,
obwohl seine Beteiligung bei den striaren Erkrankungen anatomisch
bisher noch nie bewiesen wurde. Nachdem dieser Befund in einem solchen
Fade erhoben wurde, der als erster Fall von typischer Torsionsdystonie
anatomisch untersucht wurde, wird man die Frage in Erwagung ziehen
19*
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Digitized by
284 H. Richter: Beitrage zur Klinik und pathologischen
miissen, ob der Ausfall in der rubrospinalen Fasemng irgendeinen
spezifisch bestimmenden Charakter fur das Zustandekomnien des
torsionsdystonischen Symptomenkomplexes haben kann.
Der groBen Bedeutung, die die Gegend der Substantia nigra beim
Entstehen von striaren Ausfallserscheinungen zu haben scheint, wird
durch die Beobachtungen der letzten Jahre immer mehr Auf-
merksamkeit gewidmet. Es wurde aber dabei die Zellgruppe der
Substantia nigra in den Vordergrund gestellt, und von anderen hier
liegenden Zentren und Bahnen wenig Kenntnis genommen. In unserem
Fall war der Locus niger nur leicht verandert, um so schwerer aber die
dorsaler liegende Zellgruppe des Nucl. magnocell. (Hatschek), die
dem System des roten Kerns cauda lwarts angeschlossen, von der Haupt-
formation aber deutlich abgegrenzt ist; der Hauptkern selbst erwies sieh
in unserem Fall sowohl im Zellbild, als auch auf Markbildern als voll-
kommen intakt (nur eine doppelkernige Ganglienzelle konnte ich hier
nachweisen). Ich mochte dies hervorheben, weil es mir als wahrschein-
lich vorkommt, daB in einem Teil jener, striare Symptome bietenden
Falle, wo die Substantia nigra besonders in ihrem caudalen Teile
affiziert war, auch dieser Kern vom ProzeB nicht verschont blieb.
Darauf weisen schon die kurzen Bemerkungen K. Goldsteins auf der
Jahresversammlung d. Nervenarzte hin, der auf die Hiiufigkeit der
Lasion der Substantia nigra bei den postencephalitischen parkinson-
artigen Erkrankungen hinwies und dabei von der sekundaren Dege¬
neration solcher Fasern Erwahnung machte, die in der Forelschen
Commissur iiber die Mittellinie dringen (also allem Anschein nach der
rubrospinalen Fasemng angehoren).
Schon die wenigen Beobachtungen, iiber die wir in dieser Hinsicht
verfiigen, lassen erkennen, daB die Lasion der rubrospinalen Faserung
an sich mit dem klinischen Typus der extrapyramidalen Erkrankung
in keinen Zusammenhang gebraqht werden kann, speziell aber in unse¬
rem Fall mit der speziellen Form der torsionsdystonischen Bewegungs-
storung nichts zu tun hat. DerUmstand, daB die Lasion in derGegend der
Substantia nigra,diezum anatomischenSubstrat der postencephalitischen
striaren Erkrankungen gehort, zu ganz verschiedenartigen Bewegungs-
storungen fiihren kann, unter denen aber die torsionsdystonische Form
am seltensten vorkommt, spricht schon gegen die Wahrscheinlichkeit
eines solchen Zusammenhanges. Es sind uns aber andererseits solche
Falle bekannt, die in ihrem klinischen Bilde eine groBe Ahnlichkeit
mit der Torsionsdystonie zeigten, im anatomischen Befund jedoch
die Lasion dieser Gegend nicht erwahnt wird. Im Falle Thomallas
fanden zwar O. und C. Vogt auf Weigert-Bildern eine Verschmalerung
der Substantia nigra, konnten aber dabei ein eventuelles Kunstprodukt
nicht ausschlieBen. Im Falle Westphal ist iiber dieses Gebiet nichts
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Anatomie der extrapyramidalen Bewegungestorungen.
285
verzeichnet; ebenso ini Falle Wiramer. Man wrrd also recht tun,
wenn-man die in unserem Falle bestandene Affektion der rubrospinalen
Faserung ebenfalls nur als eine begleitende Veranderung auffaBt und
den GrundprozeB, der das Krankheitsbild hervorrief und aufrecht hielt,
auch hier in das Striatum verlegen. DaB es sich aber dabei uin eine
in gewissem Sinne einheitliche Erkrankung der genannten zwei Zentren
handeln diirfte, dafiir spricht die vollkommene Identitat des patho-
logisch-anatomischen Prozesses an beiden Stellen; die Annahme ist
also naheliegend, daB das Striatum und die Ursprungsstelle der rubro¬
spinalen Faserung in diesem Falle eine gleich geschwachte Wiederstands-
kraft dem krankhaften ProzeB gegeniiber zeigten. Und in diesem Sinne
gewinnt durch vorliegende Beobachtung die bisher nur als theoretische
Vermutung angesprochene Beteiligung der rubrospinalen Bahn als
Leitungsbahn bei den extrapyramidalen Bewegungsvorgangen in hohem
MaBe an Wahrscheinlichkeit.
Es ist nach dem Obigen naheliegend, dieTorsionsdystonie als eine Er¬
krankung des Striatums zu betrachtenund in lokalisatorischer Beziehung
mit der chronisch-progressiven Chorea und mit der Athetose double in
eine gleiche Kategorie zu stellen. Das vorwiegende Befallensein des Puta-
mens — wie es in unserem Falle vorlag — diirfte dabei gewissermaBen
eine fur die Torsionsdystonie allgemeine Geltung haben, da die Sprach-
und Schluckstdrungen, sovvie das Grimassieren, also all jene Ausfalls-
erscheinungen, die im Sinne der Vogtschen somatotopisehen Gliederung
auf die Affektion des vorderen Caudatums hinweisen, bei Torsions¬
dystonie nur selten anzutreffen siml (sie gehorten in unserem Fallzu
den Erscheinungen der vorgesChrittensten Phase, wobei das Leiden
43 Jahre lang dauerte). Demgegeniiber miissen wir liei der Athetose
double, wo die erwahnten Storungen zum geliiufigen Krankheitsbild
gehoren, annehmen, daB hier der ProzeB schon friihzeitig die Vorder-
teile des Striatums zu befallen pflegt; die anatomischen Befunde von
O. und C. Vogt bestatigen auch dies. In dieser Hinsicht weicht unser
Fall auch von den bisherigen Fallen von chronisch-progressiver Chorea
ah, wo nach den Untersuchungen von O. und C. Vogt, F. Stern,
Jakob u. a. das ganze Striatum, also Putamen und Caudatum vom
ProzeB gleichmaBig stark befallen zu sein scheinen (F. Stern fand sogar
in seinen drei Fallen im Caudatum die schwersten Veranderungen).
Wir konnen also die chronisch-progressive Torsionsdystonie zu
den Eigenerkrankungen des Striatums rechnen, und dabei das vor¬
wiegende Befallenwerden des Putamens als eine spezifische Art der
Lokalisation betrachten, die dieses Leiden von den anderen chronisch-
progressiven Eigenerkrankungen des Striatums, von der Athetose
double und der chronisch-progressiven Chorea bis zu einem gewissen
Grad unterscheidet.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
28l) H. Richter: Beitrage zur Klinik und pathologischen
Eine weitere wichtige Frage. die *ich bei der Analyse des Falles
erhebt, ist die. ob die Eigenart des pathologisch-anatomischen Prozesscs
irgendwelche Ruckschlusse anf die spczifische Gestaltung des klinischen
Bildes zulaBt, ob also in unserein Fall das Entstehen des torsionsdvsto-
nischen Krankheitsbildes durch den vorgefundenen anatomischen Pro-
zeB eigenartig bedingt sein kann. Hieriiber konnen wir uns nur dann
Aufklarung verschaffen, wenn wir die schon friiher erwahnten und
anatomisch untersuchten Fallc heranziehen, in denen ein ahnlicher
klinischer Symptomenkoraplex vorlag. Der Fall Thomallas betrifft
ein 12'/ 2 jahriges Kind arischer Abstammung, bei deni das Leiden
mit anfallsweise auftretenden Torsionsbewegungen am rechten Beiii
begann, die bald auf den rechten Arm und den Rumpf iibergingen.
Vier Monate nach Krankheitsbeginn traten Sprachstorungen auf, zwei
Monate spater Schluckbeschwerden. Im Krankenhaus zeigt der Patient
Drehattacken des ganzen Korpers mit Ausnahme des freibleibenden
linken Armes. Der Schlaf milderte im Anfang die Erscheinungen.
Die grobe motorische Kraft, Sensibilitat und Intelligenz war gut.
Sehnenphanomene auslosbar. Babinski rechts zeitweise angedeutet.
Vorubergehend Fixationscontracturen, die durch passive Bewegungen
iiberwindbar waren. Einmal wurden athetotische Bewegungen und
beiderseitiger Babinski verzeichnet. Das Leiden dauerte 3 / 4 Jahre.
Im anatomischen Befund (0. und C. Vogt) zeigte sich eine Total-
nekrose des Putamens, bestehend aus weitgehendem Zerfall der Ganglien-
zellen mit nur geringfiigiger Ersatzwucherung der Glia; diese blieb
so schwach, daB es zur Entstehung eines schwammigen, zahlreiche
Liicken aufweisenden Gewebes kam. Zahlreiche Fettkornchenzellen.
An einzelnen GefaBen eine schwache Rundzelleninfiltration der AuBen-
wand. Faserbildende Astrocyten in sparlicher Menge. Der anatomische
Befund entspricht also der Totalnekrose, die mit dem pathologischen
Substrat der Wilsonschen Krankheit schon deshalb identifi/iert werden
kann, weil auch eine typische Leberveranderung vorlag.
Wimmers Fall betrifft einen Kranken ohne erbliche Belastung,
ohne Lues: das Leiden begann mit 12 .lahren mit einer langsam fort-
schreitenden Bewegungsstoru ng, die die gesamte Korjiermuskulatur
ergreift. Es bestnnden choreiforme und unwillkiirliche Drehbewegungen
und sonderbare Haltungen ohne Muskelrigiditiit, ohne Liihmung, ohne
Pyramidenzeichen, ohne Sensibilitatsstorung; kein Cornearing. Wim-
mer vermag den Fall weder zur Athetose, noch zur Wilsonschen Krank¬
heit zu rechnen u nd findet am nachstliegenden die Anne lime einer Torsions-
dystonie. Exitus nach zwei Jahren an Pneumonie. Die Sektion ergab
eine typische Leberveranderung, wie bei Wilsonscher Krankheit. Das
Gehirn bot makroskopisch nichts, mikroskopisch in weiter Ausdehnung
im Geliirn (auch Rinde und Kleinhirn) die von Alzheimer beschriebe-
Digitized by Got.)gle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Anatomie der extrapyramidalen Bewegungeatdrungen.
287
lien und fur die Pseudosklero.se charakteristischen Veranderungen, am
starksten im Striatum.
Westphals Fall, der iihrigens nur wenig Beriihrungspunkte mit
den iibrigen Fallen von Torsionsdystonie hatte und klinisch der Athetose
double am nachsten stand, betrifft einen 43jahrigen Mann mit Lues
in der Anamnese, bei dem plotzlich ein Krankheitsbild mit folgenden
Svmptomen entstand: Eine allgemeine, mit Muskelrigiditat eiuher-
gehende athetotische Unruhe, die durch psychische Reize gesteigert
wurde, eigentiimliche torsionsspastische Haltungsanomalien, die an
die Torsionsdystonie erinnerten, lcbhaftes Grimassieren, Sprach- und
Schluckbeschwerden, Blasenstdrungen, Abnahme der Erinnerung. Die
Bewegungsunruhe bestand auch beim Liegen. Krankheitsdauer zehn
Woehen. Anatomisch zeigte sich neben gleichsinnigen Veranderungen
in der Rinde hauptsachlich das Putamen schwer erkrankt. Hier waren
einerseits entziindliche GefaBinfiltrate, stark erweiterte perivasculare
Lymphraume, sehwere GefaBwandveranderungen, andererseits zahl-
reiche Gliaproliferationsherde an Stelle der zugrunde gegangenen Gan-
glienzellen zu sehen.
Westphal nimmt als Krankheitsursache Lues oder Encephalitis
an; der Krankheitsbeginn mit 43Jahren und der akute Verlauf machen
eine exogene Schadigungsursache auch sehr ivahrscheinlich.
Die Falle von Cassirer verdienen auch vom klinischen Stand-
punkt aus eine besondere Beachtung. Sie zeigen uns den isolierten
Torsionskrampf als das Symptom einer chroniseh fortschreitenden Er-
krankung, das sich von den HaLsmuskeln auf die Glieder, oder in ent-
gegengesetzter Richtung ausbreiten kann und zu einem der Torsions¬
dystonie nahestehenden Zustand fiihrt. Man wird auch Cassirer
darin recht geben miissen, daB der Unterschied, der im Sitz des Muskel-
krampfes zwischen den Fallen von echter Torsionsdystonie und seinen
Fallen besteht, kein wesentlicher sein kann: die Haltungsanomalien
und Gehstorungen der Dystoniker benihen auf den Torsions be wegungen
der Rumpfmuskulatur, in Cassirers Fallen waren neben den Gliedern
vornehmlich die HaLsmuskeln betroffen. Ich erinnere hier wieder an
unseren Fall, in dem neben den Rumpfmuskeln auch die Hals-
muskeln sehwere Torsionsstorungen zeigten.
Der zweite Fall Cassirers wurde von Bielschowsky anatomisch
untersucht, und zeigte neben diffusen Erscheinungen von Hirnschwel-
lung einen subakuten Zerfall von Ganglienzellen im ganzen Striatum
mit Zellschattenbildern, Neuronophagie usw.; die Fettpraparate deuteten
auf einen lebhaften AbbauprozeB hin. Pyramidenbahn war unversehrt.
Sowohl in diesem, wie im friiher erwahnten Fall Westphals war keine
Leberveranderung nachweisbar.
\'ergleicht man die hier angefiihrten Falle miteinander, so findet
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
288
H. Richter: Beitrftge zur Klinik und pathologischen
man ziemlich abweichende klinische Krankheitsbilder, in denen die
Torsions be wegungsstorung als gemeinsames Symptom wiederkehrt.
Vom pathogenetischen Standpunkt aus beurteilt, reprasentieren sie
cine ganz heterogene Gruppe, in der exogene und endogene Schad-
lichkeitsfaktoren angenommen werden mtissen, unter den letzteren
solche, die mit einer Leberveranderung einhergehen neben anderen, in
denen diese vermiBt wurde. Der pathologisch-anatomische ProzeB
war ebenfalls ein sehr verschiedener: im Falle Thomalla lag eine
fiir die Wilsonschc Krankheit charakteristische Totalnekrose des
Striatums vor, der Fall Wimmer zeigte den fiir die Pseudosklerose
typischen Befund (in beiden Fallen bestand auch Leberveranderung),
im Falle Westphal war ein glioser HerdprozeB mit entzundlich-infil-
trativen Veranderungen das anatomische Substrat, und der Fall
Cassirers zeigte neben Hirnschwellung einen subakuten Zellschwund-
prozeB. Vergegenwartigen wir noch den anatomischen Befund in
unserem Fall, einen ausgesprochen chronisch-progressiven Zellschwund-
prozeB mit Schrumpfung des Striatums, ohne Leberveranderung, so
raiissen wir zur Ansicht gelangen, daB die Torsionsbcwegungsstorung
zur Umfassung einer nosologisch einheitlichen Krankheitsgruppe nicht
geeignet ist, sondem daB wir es hier mit einem Symptom zu tun
haben, das in verschiedenen Krankheitsbildern auftreten kann und in
Analogic zu stellen ist mit der choreatischen und der athetotischen
Bewegungsstorung. In alien oben angefiihrten Fallen war das Striatum
der Hauptsitz der pathologischen Veranderung (in den Fallen von
Thomalla und Westphal ist das Putamen als Pradilekticnsstelle
der Erkrankung besonders hervorgehoben, wie es auch unser Fall
zeigte). Wir werden daher annehmen konnen, daB die Torsionsbewe-
gungsstbrung eine besondere Art der strifir bedingten hyperkinetischen
Bewegungsstorungen darstellt, deren Zustandekommen — ebenso
wie bei der choreatischen oder athetotischen Bewegung — an irgend-
eine Schiidigung des Striatums, hauptsachlich des Putamens gebunden
ist, a her durch die Eigenart des hier sich abspielenden pat hologischen
Vorganges nicht determiniert wird. Ebenso wie die athetotische Be-
wegungsstorung durch einen Status marmoratus, durch einen Status
fibrosus oder durch einen arteriosklerotischen HerdprozeB verursacht
werden kann, konnen Torsionsbewegungen durch eine Totalnekrose
fKler durch einen entzundlichen oder durch einen progressiven Zell-
schwundprozeB l)edingt sein. Alle drei Arten der striaren hyperkine¬
tischen Bewegungsstdrung konnen als Teilerscheinungen in den ver-
schiedensten Krankheitsbildern vorkommen, sie bilden aber auch
einzeln selbstandige Erkrankungen, in denen je eine Art der Be¬
wegungsstorung das gauze Krankheitsbild beherrscht. Die Athetose
double, die chronisch-progressive Chorea und die Torsionsdystonie
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Anatomic der extrapyramidalen Bewegungsstorungen.
289
veranschauliehen drei solche Erkrankungen, wobei jedoch gleich be-
raerkt werden soli, dab atreh bei diesen Fallen eine Untermiscbung mit
anderen, nach der Bezeichnung des Leidens atypischen striaren Hyper -
kinesen haufig vorkommt. Bei der echten Torsionsdystonie z. B.
gehoren neben den charakteristischen Torsionsbewegungen die chorea -
tischen und athetotischen Bewegungen zum gelaufigen Krankheitsbild.
wie es auch unsere Beobachtung und der Fall Ewalds zeigt.
Auf unsere oben gestellte Frage, welche Momente dabei bestim-
mend wirken, dab es in einem Fall von Striatumerkrankung zur chorea-
tischen, im zweiten zu einer athetotischen und in einem dritten zur
torsionsdystonischen Bewegungsstorung kommt, werden wir auch lvier
nur durch den Vergleich der anatomischen Befunde, die bei den er-
wahnten drei Erkrankungsarten beschrieben wurden, eine Antwort
erhalten. Ich mochte hier einen Vergleich mit den Fallen von Athetose
double auber acht lassen, weil diese keine einheitliche anatomische
Grundlage haben und auch im klinischen Verlauf Unterschiede zeigen,
indem es stationare und progressive Falle gibt. Hingegen verfiigen wir
uber zahlreiche, eingehende Untersuchungen bei Fallen von chronisch-
progressiver Chorea, die bei manchen Abweichungen in den Details im
ganzen eine recht grobe Ubereinstimmung in den Hauptziigen des
anatomischen Bildes erkennen lassen und einen Vergleich mit den
Befunden unseres Falles von Torsionsdystonie als zweckmabig er-
scheinen lassen. Der Hauptsitz der krankhaften Veranderungen liegt
bei beiden Erkrankungsarten im .Striatum; die geringe Mitbeteiligung
des Pallidums, die wir in unserem Fall von Torsionsdystonie haupt-
sachlich auf den Ausfall der striopallidaren Faserung zuruckfiihrten,
wurde auch bei der chronisch-progressiven Chorea haufig beobachtet
und von den meisten Autoren ebenso bewertet. Der schon friiher er-
wahnte Unterschied in der anatomischen Lokalisation, namlich das vor-
wiegende Befallensein des Putamens bei der Torsionsdystonie mub
fur die Bestimmung der besonderen Art der Hyperkinese als belanglos
angesehen werden, da eine ahnliche Lokalisation des Prozesses in ein-
zelnen Fallen auch bei der Chorea beschrieben wurde. Der histopatho-
logische Prozeb labt bei beiden Erkrankungen eine grobe Ahnlichkeit
in den Hauptziigen erkennen: hier wie dort handelt es sich um einen
fortschreitenden Schwundprozeb der Striatumzellen, mit relativer Ver-
schonung der Markfasern, ohne Beteiligung der mesodermalen Elemente.
Die durch den Parenchymschwund herbeigefiihrte Verdichtung der
Markbiindel fiihre zum typischen Status fibrosus. An den Gefaben
sind nur als sekundar aufzufassende Veranderungen zu beobachten.
In den Einzelheiten zeigt jedoch der histopathologische Prozeb, den wir
bei Torsionsdystonie fanden, manche bemerkenswerte Abweichungen
von den meisten Fallen der chronisch-progressiven Chorea. Bei letzterer
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
290
H. Richter: Beitrage zur Klinik und pathologischen
Digitized by
wird allgeniein hervorgehoben, daB diekleinen Striatumzellen intensiver
vom ProzeB befallen werden als die groBen, wahrend wir in unserem
Fall eine solche elektive Affektion nicht deutlich feststellen konnten,
vielmehr einen chronisch fortschreitenden, alle Striatumzellen scheinbar
gleichmaBig schadigenden SchwundprozeB. Es soli hier gleich festgestellt
werden, daB in den friiher erwahnten Fallen, wo Torsions be wegungs-
storungen im Krankheitsbild vorkamen, die fiir die Chorea als charak-
teristisch bezeichnete, elektive Schadigung der kleinen Striatumzellen
ebenfalls nicht vorlag, sondern iiberall eine schwereAllgemeinschadigung
des Striatu mparenchyms gefunden wurde. Den zweiten Unterschied
im mikroskopischen Bild liefert das Verhalten des Gliagewebes, das
durch seine iiberaus schwache Beteiligung am krankhaften Vorgang
in deutlichem Gegensatz steht zu zahlreichen Befunden, die iiber leb-
hafte, progressive Gliaveranderungen bei der chronisch-progressive!!
Chorea berichten. Endlich war in unserem Fall im schwer affizierten
hinteren Putamen auch die Marksubstanz deuthcher geschadigt, als es
bei der chronischen Choreu zumeist angegeben wird. Ob at)er diese Untcr-
schiede hinreichen, um die verschiedene Gestaltung des klinischen
Bildes zu erklaren, kommt mir zweifelhaft vor. Erstens deshalb,
weil, wie O. und C. Vogt zeigten, bei der Chorea auch die groBen Zellen
schwer verandert sein konnen und zu merklichen Ausfallen in der
striopallidaren Fasemng fiihren konnen, ohne daB sich das choreatische
Krankheitsbild andern miiBte, zweitens, weil auch das Verhalten des
Gliagewebes bei den verschiedenen Choreafallen eine reeht groBe Ab-
wechslungzeigt; ubrigcns scheint dies ein durch den ZellschwundprozeB
bedingter sekundarer Vorgang zu sein. Diese Unterschiede mochte ich
iiberhaupt nicht mit dem spezifischen klinischen Bild, sondern mit der
Dauer und dem Verlauf des Prozesses im Einzelfall in Zusammenhang
bringen. Die Verlaufsdauer der meisten Falle von chronisch progressiver
Chorea ist im Verhaltnis zu unserem Fall, wo diese 43 Jahre betrug, eine
verhaltnismaBig kurze. Die Chorea beginnt ja gewohnlich im Erwach-
senenalter, w&hrend in den Fallen von Torsionsdystonie der Krankheits-
beginn zwischen 10 und 13 Jahren angegeben wird. Der Tod pflegt
in beiden Fallen unabhangig von der eigentlichen Haupterkrankung
einzutreten, der Fortschritt des Krankheitsprozesses, der sich in der
Schwere der anatomischen Veranderungen im Striatum kundgibt, ist
also eigentlich nur von der Dauer der Erkrankung abhangig. Hierauf
deuten in unserem Falle die verschiedenen Befunde im Striatum selbst:
im hinteren Putamen, wo nach alien Zeichen der ProzeB am langsten
angedauert hat, finden wir neben dem hochgradigen Zellschwund auch
schon einen schweren Markausfall; im mittleren Putamen war der Zell-
schwundprozeB wohl noch sehr stark ausgepragt, die Marksubstanz
blieb aber noch intakt, sie zeigt sogar eine relative Verdichtung der
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Anatomic der extrapyramidalen Bewegungsstdrungen.
291
Markbiinclel, die ganz an den fur die chronisch-progressive Chorea
charakteristischen Status fibrosus erinnerte. Im vorderen Putamen
und noch mehr im Caudatumkopf war auch das Zellenparenchym
groBenteils noch vom ZerfallsprozeB verschont, die Marksubstanz voll-
kommen normal. Wir haben wohl in diesen weniger vorgeschrittenen
Partien eine schwerere Affektion der kleinen Striatumzellen im Verhalt-
nis zu den groBen nicht deutlich fest&tellen konnen, wie es bei der
chronisch-progressiven Chorea regelmaBig der Fall ist, doch wird man
gerade in Hinsicht auf die RegelmaBigkeit dieses Befundes bei der
Chorea die friihere Affektion der kleinen Striatumzellen auf ihre groBere
Vulnerabilit&t gegeniiber den groBen Zellen annehmen konnen und ihre
vorwiegende Affektion bei diesem Leiden mit der kurzen Dauer der Er-
krankung in Zusammenhang bringen, die schon durch den spaten Beginn
des Leidens gewahrleistet ist. Es ist klar, daB in bezug auf die Dauer
und den Verlauf des Leidens Unterschiede auch innerhalb der einzelnen
Gruppen bestehen, die dann zu Abweichungen vom typischen Befund
fiihren (so ware die Affektion der groBen Zellen bei Chorea zu erklaren),
und der wechselvolle klinische Verlauf bei der Torsionsdystonie laBt
es als wahrscheinlich annehmen, daB weitere anatomische Befunde,
die sich auf diese Krankheit beziehen, in den erwahnten Einzelheiten
manche Abweichungen von unserem Falle zeigen werden.
Diese Betrachtungen fiihren mich zur Ansicht, daB die Torsions¬
dystonie und die chronisch-progressive Chorea in ihrem anatomischen
Substrat eigentlich gar keine wesentliche Abweichung aufweisen,
sicher aber keine solche, die als der bestimmende Faktor des spezifischen
klinischen Symptomenbildes angesehen werden kann. Wir werden also
unserer beim Fall von Hemiathetose gezogenen SchluBfolgerung,
daB die spezielle Form der Hyperkinese von der Eigenart der patholo-
gischen Veranderung unabhangig ist, die Giiltigkeit auch bei den
chronischen Eigenerkrankungen des Striatums zuerkennen und einst-
weilen uns mit der Feststellung begniigen miissen, daB hier ein anderer
Faktor heute noch ganzlich unbekannten Wesens die bestimmende
Rolle spielt.
Kurz seit noch darauf hingewiesen, daB die von O. und C. Vogt als
striare Akinesen beschriebenen Ausfallserscheinungen in unserem Falle,
wie iiberhaupt in alien bisher veroffentlichten Fallen von echter Tor¬
sionsdystonie vermiBt wurden; es ist naheliegend anzunehmen, daB
sie durch die hochgradige hyperkinetische Bewegungsunruhe des
Rumpfes und der Glieder leicht verdeckt werden konnten. Im Gesicht
fehlen in den meisten Fallen sowohl die hyperkinetischen, als die akine-
tischen Symptome; in unserem Fall bestand zuletzt ein halbseitiges
Grimassieren, das wir mit der beginnonden Lasion im linken Caudatum¬
kopf in Beziehung brachten.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
292
H. Richter: Beitrage zur Klinik und pathologischen
Digitized by
Wenn wir die Ergebnisse obiger Ausfiihrungen zusammenfassen,
so miissen wir zum SchluB kommen, daB die Torsionsdystonie als eine
selbst&ndige Krankheit nicht aufgefaBt werden kann. Durch die verglei-
chende Betrachtung anderweitiger in der Literatur niedergelegten
Falle muBten wir namentlich erkennen, daB das klinische Bild keine
nosologische Eigenzeichnung hat, sondern bloB einen torsionsdystoni-
schen Symptomenkomplex darstellt, der analog ist der athetotischen
oder der choreatischen Bewegungsstdrung; wir haben in demselben eine
striar bedingte Hyperkinese kennengelernt, die bei Striatumerkran-
kungen verschiedenster Art auftreten kann; pathologische Vorgiinge
exogener und endogener Natur, mit akutem oder chronischera Verlauf
konnen den Symptomenkomplex hervorbringen. Nur die Lokalisation
im Striatum (speziell im Putamen) ist eine sichergestellte Bedingung
seines Zustandekommens; in dieser Hinsicht unterscheidet es sich aber
nicht von der choreatischen oder athetotischen Bewegungsstoning.
Das anatomische Bild der echten Torsionsdystonie zeigt in den Haupt-
ziigen eine Obereinstirnmung mit der chronisch-progressiven Chorea,
die bestehenden kleinen histologischen Abweichungen sind durch die
Dauer und den Verlauf des Leidens bestimmt und sind auch innerhalb
ein und derselben Gruppe einer Variation unterworfen, hangen aber
keinesfalls mit dem spezifischen Krankheitsbild zusammen.
Die Torsionsdystonie gehort mit der chronisch-progressiven Chorea
und mit der Athetose double zu den autochthonen Degenerationen des
Striatums. Die biologische Minderwertigkeit dieses Himteils bildet
ihre gemeinsame pathogenetische Gnindlage. Diese kann sich auch
anatomisch bemerkbar machen: in einigen Fallen offenbart sie sich
als eine ausgesprochene Entwicklungsstdrung, wie die Falle von Athetose
double mit dem Status marmoratus zeigen. In unserem Fall deutet
das Auffinden von doppelkernigen Ganglienzellen im Pallidum und
Nucl. niber auf eine Entwicklungshemmung in jenen Kernen, die mit
dem Striatum funktionell zusammenhangen. Bei alien drei Erkran-
kungen sind klinisch Beweise der Hereditat und Familiaritat vorhanden,
sowie Beobachtungen von Misch- und Gbergangsformen zwischen ein-
ander und den iibrigen Heredodegenerationen. In ihrem anatomischen
Bild ist das elektive Befallenwerden des ektodermalen Nervenparen-
chyms das hervorragende Kennzeichen der histopathologischen Ver-
anderung. Ihre segmentare Elektivitat auf das Striatumgebiet bedingt
das rein striare Krankheitsbild, das aber oft durch die Mitaffektion
von anderen Hirnsegmenten (Rinde bei Athetose double, bei Hunting-
ton-Chorea, Pyramidenbahn in unserem Fall von Torsionsdystonie)
kompliziert werden kann. Die Intensitatskomponente bestimmt den
Verlauf und die Dauer der Erkrankung; dieses Kennzeichen der Schaf-
ferschen Charakteristik l&Bt nun die drei erwahnten striaren Heredo-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Anatomie der extrapyramidalen Bewegungsstorungen.
293
degenerationen am deutlichsten voneinander unterscheiden: Bei der
Athetose double beginnt das Leiden mit der Geburt oder in den ersten
Lebensjahren (es kann dabei station&r bleiben, wenn eine dauernde
Entwicklungsstorang vorliegt, oder fortschreiten, wenn ein progressiver
Destra ktionsproze B besteht). Bei der Torsionsdystonie beginnt das
Leiden um die Pubertat herum (zwischen 10—13 Jahren). Die chronisch-
progressive Chorea setzt erst im erwachsenen Alter ein. Man wird
also annehmen konnen, daB die biologische Minderwertigkeit des Stria¬
tums bei den drei Erkrankungen spezifische Unterschiede aufweist,
durch die die einzelnen Formen am meisten gekennzeichnet bleiben.
DaB aber auch in dieser Hinsicht eine breite Variationsmoglichkeit
besteht, wie schon fruher erwahnt wurde, deutet nur auf eine Eigentum-
lichkeit hin, die fur die groBe Gruppe der Heredodegenerationen als
charakteristisch hervorgehoben wurde.
Nachtrag bei der Korrektur.
Bedauerlicherweise erhielt ich erst nach Fertigstellung der Arbeit
Kenntnis von einer kurzen Mitteilung Bielschowskys (Journ. f.
Psychol, u. Neurol. 24, 1918), in der die Striatumerkrankungen —
in Ubereinstimmung mit meinen obigen Ausfuhrungen — als Heredo¬
degenerationen im Sinne der Jendrassikschen Charakteristik auf-
gefaBt und auf dieser Grundlage klassifiziert werden. Der Autor unter-
scheidet hier Dysplasien als Storungen der Organogenese von den Abio-
trophien (im Sinne von Gowers), bei denen die inh&rente Schwache
gewisser Hirnsegmente erst im postfoetalen Lel)en zutage tritt. Zu
den ersteren rechnet er als reine Dysplasie den Status marmoratus und
als Dysplasie mit blastomatosem Einschlag die tuberose Sklerose; bei
den Abiotrophien unterscheidet er auf Grand der anatomischen Veran-
derangen 1. eine Form mit blastomatosem Einschlag (Pseudosklerose),
2. eine Form mit lokaler Totalnekrose des Parenchyma (Nekrose des
Putamens und Pallidums bei Wilsons Krankheit und beim progressiven
Torsionsspasmus) und 3. eine dritte Form mit elektiver Nekrobiose der
Ganglienzellen (hierher wird die chron. progressive Chorea, als elektive
Zellnekrose des Nucl. caudatus und N. lentiformis gerechnet). Die
Griinde, die fur die Richtigkeit und ZweckmaBigkeit einer Grappierang
auf dieser Grundlage sprechen, habe auch ich in meinem Aufsatze an-
gefiihrt; andererseits wird man aber die vom Autor selbst gemachten
\'orbehalte in bezug auf die Vollstandigkeit und genaue Abgrenzung
der einzelnen Untergrappen teilen miissen. Ich mochte mir dabei er-
lauben die Ansicht zu auBern, daB in der Gruppe der Abiotrophien die
Falle mit Leberveranderangen eine einheitliche, vom pathogenetischen
Standpunkt enger zu fassende Unterabteilung bilden konnten. B. rech-
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Digitized by
294 H. Richter: Be it rage zur Klinik und pathologischen Anatomic usw.
net —offenbar auf Grand des bekannten Thomallaschen Falle.s — die
Torsionsdystonie zu den Totalnekrosen des Striatums. DaB es sich in
diesem Fade um keine typische Torsionsdystonie handelte, wurde friiher
ausfiihrdch erortert. Hingegen weisen die anatomischen Befunde im
hier mitgeteilten klassischen Fad darauf hin, daB der typischen Torsions¬
dystonie ein ahnlicher, elektiver ZedschwundprozeB des Striatums
zugrande liegt, wie bei der progressiven Chorea. Auch war in unserem
Fad keine Leberver&nderung vorhanden. Nimmt man noch hinzu, daB
in Fallen von chronisch-progressiver Athetose — wie im Fade Fili¬
nn onoffs — ebenfalls ein elektiver ZedschwundprozeB im Striatum
stattfindet, auch ohne Leberveranderung, so konnte man in der Grappe
der striaren Abiotrophien auf Grand des Vorhandenseins oder Fehlens
von Leberveranderungen zweierlei Erkrankungsarten uliterscheiden:
1. Abiotrophien mit Leberveranderungen; hierher gehoren die
Wilsonsche Krankheit und die Pseudosklerose. Ihre Zusammeiigehorig-
keit ist heute nach Spielmeyers Untersuchungen auch durch das
1 istologische Bild sichergestedt. 2. Abiotrophien ohne Leber¬
veranderungen. Eminent chronische Erkrankungen mit elektiver
Nekrobiose der Ganglienzellen. Diese Grappe w'iirde die striar-hyper-
kinetischen Erkrankungen umfassen: die chronisch-progressive Chorea,
die chronisch-progressive (typische) Torsionsdystonie und die Fade
von chronisch-progressiver Athetose mit Beginn in den ersten Lebens-
jahren (wahrend die Fade von angeborener, stationarer Athetose double,
deren anatomisches Substrat der Status marmoratus bildet, zu den
Dysplasien des Striatums gehoren).
Literaturverzeichnis.
t'bcr die ineistcn im Aufsatz zitierten Arbeiten befinden sich nahere An-
gaben in den Ref era ten von Poliak und Jakob zumThema: „Der amyostatiache
Symptomenkomplex und verwandte Zustiinde", Verhandl. d. Ges. dtsch. Nerven-
itrzte. 11. Jahresversamnil., bei F. C. W. Vogel, Leipzig 1922 und in der Arbeit
von O. und C. Vogt: „Zur Lehre der Erkrankungen des striaren Systems." Journ.
f. Psychol, u. Neurol. 25, Ergfinzungsheft 3. 1920.
AuBer den hier angefuhrten Arbeiten wurden noch beriicksichtigt:
Cassirer, Berl. klin. Wochenschr. Heft 2. 1922.
Ewald, Munch, med. Wochenschr. Heft 8. 1922.
Wimmer, Originalmitteil. in der Rev. Neurol. Jg. 28. Referiert im Zentralbl.
f. d. ges. Neurol, u. Psych. 28, 6/7 und 29, 2/3.
Steck, Schweiz. Arch. f. Neurol, u. Psychiatr. 8, 1.
K. Mendel, Monatsschr. f. Neurol, u. Psychiatr. 45, 6.
v. Monakow: Der Rote Kern, die Haube und die Regio Hypothalamiea
(Arbeiten aus dem him-anatomischen Institut Zurich). J. F. Bergmann. Wies¬
baden 1910.
Probst: Cber vom Vierhiigel, von der Brucke usw. absteigende Bahnen
(Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. 15).
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(Aus dem Himforschungsinstitut der Universitat Budapest
[Vorstand: Prof. Dr. Schaffer].)
Bpmerkuugeu zur Histogenrse der Tabes.
Von
H. Richter,
Assistenten des Instituts.
Mit 5 Textabbildungen.
(Eiiigegangen am 4. September 1922.)
Die Veranlassung zu vorliegenden Beraerkungen gibt mir ein in
dieser Zeitschrift Bd. 65, Heft 1/3 unlangst veroffentlichter Aufsatz
Jakobs, in welchem meine im Vorjahr mitgeteilten (Bd. 67 der
Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psych.) Untersuchungen und die auf diese
gestiitzte pathogenetische Erklarang der Tabes einer kritischen Bespre-
chung unterzogen wurden. Die Wichtigkeit der zur Diskussion stehen-
den Frage, von der ich mich auch aus den zahlreichen, autoritativen Be-
sprechungen raeiner Arbeit uberzeugen konnte, aber auch der vornehnie
Forscherrang meines Kritikers — besonders auf dem Gebiete der syphi-
litischen Erkrankungen des Zentralnervcnsystems — lassen es fiir mich
als dringend geboten erscheinen, zu den von ihm erhobenen Eimvanden
Stellung zu nehmen und zu versuchen, den zwischen uns bestehenden
Meinungsverschiedenheiten auf den Grand zu kommen. Einiges,
was ich dabei hervorheben miiBte, wurde in raeiner vorjahrigen Arbeit
eingehend besprochen und ich werde deshalb — um Wiederholungen
zu vermeiden — an den betreffenden Stellen auf die Originalarbeit ver-
weisen.
Es soli zunachst die weniger wichtige, mehr personliche Frage
hPreinigt werden, die meine Stellungnahme zu den Befunden Hassins
lietrifft.
Jakob sagt: ,,Wahrend Richter von den Hassinschen Befunden
gerade die herausgreift, denen Hassin selbst, wie aus seiner kurzen
V r eroffentlichung hervorgeht, keine prinzipielle Bedeutung beiraiBt,
erwahnt er jene nicht, die Hassin als die echten tabischen Veranderan-
gen aus dem Gesamtkomplex der Erscheinungen in seinem Material
herausschalte.“
Wer meinen Aufsatz nicht gelesen hat, konnte dirrch diese Ein-
stellung meiner Vorgangsweise leicht den Eindrack erhalten, ich hatte
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
206
H. Richter:
Digitized by
gewisse Ursachen gehabt, von den ,,echttabischen” Veranderungen
Hassins keine Kenntnis zu nehmen. Ich berufe mich aber in dieser
Hinsicht ruhig auf die Arbeit selbst, in welcher ich — oft vielleicht
zum Nachteil der Ubersichtlichkeit — beflissen war, alle mit meineni
Gegenstand nur irgendwie zusammenhangenden Arbeiten einer ge-
wissenhaften Priifung zu unterziehen. Hassins vorlaufige Bemer-
kungen erschienen urn einige Monate spater, als raeine erste diesbeziig-
liche Veroffentlichung (beide im Neurol. Zentralblatt 1914), in welcher
ubrigens alle wesentlichen Feststellungen der spateren Arbeit enthalten
waren; Prioritatsriicksichten konnten also meinerseits gar nicht in
Betracht kommen. Ich habe in der Einleitung zu rneiner Arbeit auf
die grobe Bedeutung hingewiesen, die der richtigen Auswahl der zur
Untersuchung verwendeten Tabesfalle zukommt und fiihrte zur Be-
kraftigung dieser Oberzeugung einige Arbeiten aus der letzten Zeit,
danmter auch die summarisch mitgeteilten Befunde Hassins an, fur
die heute schon sichergestellt ist, was ich seinerzeit als Vermutung aus-
sprach, dab es sich in keinem einzigen Fall um eine reine unkomplizierte
Tabes handelte. Ich zitierte einige Befunde Hassins um zu illustrieren,
dab bei Untersuchungen an einem ungeeigneten Material Ver¬
anderungen gefunden werden, die mit dem tabischen Prozeb gar nicht
zusamraenhangen konnen und hob gleichzeitig vor, dab diese dann ge-
eignet sind, die richtige Wertung der von Hassin gefundenen iibrigen
,,echttabischen“ Veranderungen unmoglich zu machen. Auf diese niiher
einzugehen, fand ich aber deshalb keinen Anlab, weil ich zwischen den
Befunden Hassins, die er in den Hinterstrangen, Meningen, Wurzeln
beschreibt, und seiner auch von Jakob zitierten Auffassung (Punkt 11
bei Hassin) iiber die Pathogenese der Tabes eine solche Dissonanz
fand, die ich mir nicht gut erklaren konnte. Ich will dies hier naher
begriinden. Hassin fand eine fleckweise Degeneration in den Hinter¬
strangen und stellt diese Ver&nderung als pathognomonisch fiir die Tabes
hin. Er beschreibt diese auf Bielschowskypraparaten, wo er in den
marklosen Partien neben Stellen mit erhaltenen Axonen solche fand.
wo gar keine oder nur zarte Silberfasern anzutreffen sind. Auf Mallory -
bildern verzeichnet er in diesen Flecken zuerst die regressiven und
proliferativen Erscheinungen der sekundaren Degeneration, dann
bemerkenswerte Entmarkungsvorgange an einzelnen Fasern, ahnlich
denen der multiplen Sklerose, Markscheidenerkrankungen bei relativ
normalem Axon und schlieblich marklose Achsenzylinder. Schon aus
dieser Beschreibung Hassins ist zu erkennen, dab in seinen Fallen
im tabischen Hinterstrang neben dem sekundar-degenerativen Prozeb
noch ein unmittelbarer primarer Degenerationsprozeb des Paren-
chyms vorliegt. Er bekraftigt dies, indent er im tabischen Opticus eben-
falls eine fleckformige Degeneration der Randfasern beschreibt, die er
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Bemerkungen zur Histogenese der Tabes.
297
mit den Riickenmarksveranderungen in Analogie stellt; die Entstehung
dieser Ausfalle auf sekundar-degenerativem Wege ist aber liier sicher
auszuschlieBen, es kann sich hier nur um einen direkten, herdformigen
Ausfall handeln. Es war daher fur mich naheliegend anzunehmen,
daB die fleckformige Degeneration im Hinterstrang, die Hassin
in seinen Fallen beschrieb, den Effekt eines auch unmittelbar im Hinter¬
strang sich abspielenden pathologischen Prozesses darstellt, auf keinen
Fall aber als ein rein sekundar-degenerativer Folgezustand aufgefaBt
werden kann, wie man es im Sinne der pathogenetischen Erklarung
Hassins erwarten rnochte. Obrigens wiirde die „fleckweise“ Degenera¬
tion eine ganz ungewohnliche Form des seku nd&r-dege nerativen Faser-
ausfalles darstellen; man begegnet dieser Bezeichnung bei myelitischen
Herdprozessen oder bei der Beschreibung der kleinen Markausfalls-
herde in der paralytischen Hirnrinde, mit einem sekundar-degenerativen
ProzeB — wie es Hassin will — wurde sie aber bisher noch nicht in
Beziehung gebracht. Hassin beschreibt dann entzvindlich-infiltrative
Ver&nderangen und hyperplastische Vorgange an den Meningen, an
den mesodermalen Hiillen der spinalen Wurzeln, mit besonderer Ver-
starkung an der Nageotte-Stelle und an der Redlich-Obersteinerschen
Einschmirung, bemerkt aber, daB auch die weiBe und graue Substanz
des Riickenmarkes diffuse GefaBinfiltrationen und Kapillarvermehrung,
zuweilen auch endarteriitische Vorgange aufweist, wenn auch nicht so
ausgesprochen, wie die Meningen; die Infiltrationszellen waren uberall
Lymphozyten und Plasmazellen. Wenn nun Hassin in seiner patho¬
genetischen Auffassung nur die Veranderungen an der Nageotteschen
und Redlich-Obersteinerschen Stelle fiir die tabische Hinterstrangs-
erkrankung verantwortlich macht, dann vernachlassigt er dabei von
seinen Befunden die von ihm als pathognomonisch bezeichnete
,,fleckformige Degeneration" der Hinterstrange und die im Riicken-
mark gefundenen entziindlichen Veranderungen vollkommen und ver-
legt die primare Schadigung der Hinterwurzeln willkurlich auf gewisse
Stellen ihres Verlaufes, ohne daB er dabei irgendwelche Beweise dafiir
aufbringen konnte, daB die hier vorgefundenen infiltrativen und proli-
ferativen Erscheinungen tatsachlich an dieser Stelle und nur hier die
primAre Lasion der Nervensubstanz bewirken. Hassins Tabeserkla-
ning ist eine — wie mir scheint — durch seine eigenen Befunde nicht
recht begriindete Zusammenfassung der pathogenetischen Lehren von
Nageotte und Obersteiner, die tatsachlich nur durch ein ,,Heraus-
schalen" aus seinen Befunden zustande kommen konnte. Dieses Heraus-
schalen ist aber ein individuelles Verfahren, bei welchem die Schale
nach Belieben einmal dick, das andere Mai diinn ausfallen katm. Auch
koramt es hier nicht auf die Erklarung, sondern auf die Befunde an,
Hassins Falle waren aber durchweg komplizierte Tabcsfalle, ein groBer
Archlv fiir Psychiatrie. lid. 67. 20
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
298
H. Richter:
Digitized by
Teil seiner Befunde, namlich die bisher unbekannten, gehoren auch
nicht in die Histopathologie der Tabes; der rein tabische ProzeB aber
ist in alien seinen Fallen durch die Kombination mit Paralyse oder
anderen luetischen Veranderungen verdeckt.
Die Beteiligung der Lymphozyten und Plasmazellen am tabischen
WurzelnervprozeB ist eine Frage, deren Losung mich schon bei Fertig-
stellung meiner vorjahrigen Arbeit nicht ganz befriedigte, und das Gefiihl
in mir hervorrief, daB diese zu mancherlei MiBverstandnissen AnlaB geben
konnte. Ich mochte es also hier versuchen, diese Frage bei Beriicksich-
tigung der Jakobschen Einwande und an der Hand einiger instruk-
tiver Bilder nochmals zu erortern, zumal ich mich mit diesem Gegen-
stand an einigen neuen Fallen von reiner Tabes und Taboparalyse
auch seither eingehend beschaftigte. Beziiglich der geschichtlichen
Antezedentien dieses Streites, der seit den ersten Veroffentlichungen
Nageottes schon mehrere Forscher beschaftigte, verweise ich auf
meine ausfiihrliche Arbeit. Auf Grund von vergleichenden Unter-
suchungen an reinen und mit Paralyse kombinierten Tabesfallen ge-
langte ich zur Erkenntnis, daB der rein tabische WurzelnervprozeB durch
ein syphilitisches Granulationsgewebe verursacht wird, das zwar
Lymphozyten und Plasmazellen in verschwindender Menge enthalten
kann, diesen aber dabei keinesfalls die Bedeutung beigemessen werden
darf, zu der sie durch Nageotte erhoben wurden, der den tabischen
Vorgang auf einen entziindlichen (vascular-infiltrativen) und prolifera-
tiven Vorgang zuriickfiihrte und dabei in den entziindlichen Zellelemen-
ten (Lymphozyten, Plasmazellen) das Wesentliche des Prozesses er-
blickte, wahrend er die proliferativen Vorgange, die mit dem von mir
beschriebenen Granulationsvorgang identisch sind, vernachlassigte.
Ich konnte nun durch die Untersuchung von mit Paralyse komplizier-
ten Tabesfallen feststellen, daB in diesen Fallen oft neben dem rein
tabischen Granulationsgewebe die von Nageotte beschriebenen
Lymphozyten- und Plasmazellenansammlungen teils in perivascularer,
toils in diffuser Anordnung anzutreffen sind, und nachdem auch die
Falle Nageottes fast ausnahraslos taboparalytische Falle waren,
fiihrte ich diese Veranderung im WurzelnervprozeB auf die paralytische
Miterkrankung zuriick. Ich mochte dabei hervorheben, daB es sieh
keineswegs um eine konstante Veranderung bei Taboparalyse handelt,
denn ich vermiBte sie schon wiederholt auch in diesen Fallen, wo nur
das rein tabische Granulationsgewebe vorhanden war. Es war auch
mir bei der Fertigstellung meiner Arbeit die von Jakob aufgeworfene
Frage nicht ganz klar, „weshalb gerade an einer Stelle, die die reine
Paralyse an sieh verschont, Veriinderungen sich etablieren sollen, die
auf sie zu beziehen sind“, und ich habe mich deshalb auf Vermutungen
beschrankt, die mir jedoch heute als uberholt vorkommen, da neuere
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Benierkungen zur Histogenese der Tabes. 299
Untersu chungen mich zu einer — wie mir scheint — einwandfreien
Erklarung der in Rede stehenden histopathologischen Eigentiimlich-
keit fuhrten. Vor allem mufi ich erklaren, daB ich meinen Befund,
laut welchem das Granulationsgewebe Lymphozyten und Plasmazellen
nur in verschwindend geringer Menge enthalt, in vollem Made aufrecht
halte und daB mich diesbezuglich die Bilder, die Jakob als Beweise
fiir die gegenteilige Ansicht anfiihrt, nicht iiberzeugen kbnnen. Er bringt.
auf Abb. 7 einen — nach der Kernfarbung beurteilt — alteren Granu-
lationsprozeB, in welchem Lymphozyten und Plasmazellen unter-
mischt sein sollen. Tatsache ist, da!3 unter den durchweg dunkel-
gefarbten Kernen, von welchen ein groBer Teil infolge ihrer unregel-
miiBigen Lagerung schief oder quer getroffen ist, die Erkennung
dieser Zellarten auch jenem Untersucher Schwierigkeiten macht,
der mit der histologischen Eigenart des Granulationsgewebes
einigermaBen vertraut ist. Doch liegt nicht hier das Wesen der
strittigen Frage; denn hier beruht unsere Meinungsverschiedenheit
auf einer quantitativ verschiedenen Bewertung des histologischen
Bildes. Es kommt nicht darauf an, ob im Granulationsgewebe weniger
oder mehr Lymphozyten und Plasmazellen auffindbar sind, sondern
es handelt sich in der Hauptsache um die Beteiligung der GefiiBe des
Wurzelnerven am histopathologischen ProzeB. Ich habe schon in meiner
vorjahrigen Arl>eit darauf hingewiesen, daB im taboparalytisch erkrank-
ten Wurzelnerv neben der reinen tabischen Granulation, die als eigenes
Gewebe wenige Lymphozyten und Plasmazellen enthalt, eine andere
Veranderung darin besteht, daB diejenigen GefaBe, die in den ein-
zelnen Wurzelnervbiindeln und ihren Eigenhiillen verlaufen, aus Lym¬
phozyten und Plasmazellen bestehende perivaskulare Infiltrate auf-
weisen, und daB gleichzeitig mit diesen entziindlichen Infiltraten eine
Ausstreuung der Lymphozyten und Plasmazellen in das benachbarte
Gewebe erfolgt, wo diese sich dann mit den Zellen der Granulation
untermischen kbnnen. Auf Abb. 10 meiner Arbeit zeigte ich einen
Querschnitt aus dem Wurzelnerv eines Taboparalytikcrs, wo Lympho¬
zyten und Plasmazellen mitGranulationselementen reichlich untermischt,
imfreien Gewebe liegen; ich wollte damit ein Vergleichsbild schaffen zu
Abb. 9 meiner Arbeit, wo in einem Fall von reiner Tabes fast ausschlieB-
lich Granulationselemente in das Nervenparenchym eingestreut sind.
Der wesentliche Unterschied liegt aber — das mochte ich hier betonen
— nicht in dieser zahlenmaBig verschieden starken Untermischung von
Lymphozyten-Plasmazellen und Granulationselementen, sondern darin,
daB bei der Tabesparalyse im Wurzelnerv entziindliche, vaskular-
infiltrative Veriinderungen auftreten, und daB diese bei reiner Tabes
fehlen. Abb. 1 und 2 zeigen uns solche Infiltrate aus zwei Fallen von
Taboparalyse. Man sieht auf Abb. 1 ein groBeres, ausschlieBlich aus
20 *
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
300
H. Richter:
Lymphozyten bestehendes Infiltrat um ein GefaB, das in der Hiille
eines Nervenbiindels verlauft; neben diesem zeigen zwei weitere Ge-
faBe, darunter eines im Biindel selbst, kleinere Zellanhaufungen, in
denen auch Plasraazellen enthalten sind. Abb. 2 bringt das Bild
eines Nervenbiindels, auf welchem ein ziemlich breites Infiltrat fast
ausschlieBlich aus Plasmazellen besteht. Wir sehen also hier die Korn-
ponenten des vascular-infiltrativen Prozesses in ihrer reinsten Form.
Ich stelle dazu im Gegensatz auf Abb. 3 ein Bild des tabischen Granula-
Abb. 1. Perivasculiire Lymphozyteninfiltrate um die GeftiBe (G) der Nerven-
biindel und ihrer Hiillen. Aus einem Fall von Tabesparalyse (Van-
Gieson-Praparat).
tionsgewebes aus einem Fall von reiner Tabes; es ist hier die frische,
kompakte Granulationsmasse zu sehen, die den zwischen den Biindeln
liegenden perifascicularen Raum ausfiillt. Ihre Ausbreitung und
Lagerung erfolgt ganz unabhangig von den GefaBen. Lymphozyten
oder Plasmazellen enthalt sie iiberhaupt nicht. Vergleicht man diese
zwei Veranderungsarten miteinander, so wird man den groBen Unter-
schied erkennen, der zwischen den beiden Prozessen besteht. Bei der
Taboparalyse findet man also neben dem tabischen Granulations-
gewebe eine zweite, selbstandige Gewebsveriinderung, namhch einen
vascular-infiltrativen ProzeB in den Nervcnbiindeln und ihren Hiillen.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Bemerkungen zur Histogenese der Tabes.
301
Die beiden Prozesse konnen sich miteinander vermischen, wenn
die Infiltrationszellen sich auBerhalb des GefaBbereiches in das
freie Nervengewebe oder in das umherliegende Granulationsgewebe
ausstreuen.
Verfolgt man nun solche Wurzelnervbilder, die neben dem Granu-
lationsvorgang die erwahnten exsudativ-infiltrativen Veranderungen
zeigen, auf Serien gegen das Riickenmark, so findet man, daB die In¬
filtrate langs der GefaBe bis zur Ruckenmarkspia verfolgt werden
konnen und
daB diese selbst
in diesen Fallen
regel maBig sehr
schwere, eben-
falls vaskular-
infiltrative
Entziindungs-
erscheinungen
aufweist. Diese
Bilder machen
es sehr wahr-
scheinlich, daB
in den Fallen
von Tabespara-
lyse die ent-
ziindlich infil¬
trative Veran-
derung des
Wurzelnerven
ein von der
schwer ent-
ziindlichen Pia
langs der Wur-
zelgefaBe wei-
tergeleiteter
ProzeB ist; sie
ist eine sekundare Veranderung im Wurzelnerv und ist streng
zu scheiden von dem Granulationsvorgang, der das wesentliche
anatomische Substrat der tabischen Wurzelnervschadigung bildet.
Das Granulationsgewebe entsteht, wie ich es an vielen Wurzel-
nervbildern beobachten konnte, in der Tiefe des Wurzeltrichters,
nahe zum Ganglion, und zwar in der auBeren gcmeinsamen Hiille des-
selben. Dieses ,,Epineurium‘‘ entsteht aus der Verwachsung der Dura
mit der Arachnoidea, und zeichnet sich durch seine Armut an Blut-
Abb. 2. Perivascultires Plasmazelleninfiltrat urn ein Rand-
gefaB innerhalb eines Nervenbiindels in der medvdlaren
Hftlfte des Wurzelnerven. In der Umgebung ziemlich unver-
anderte Struktur desjNervenparenchyms (Tabesparalyse).
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
302
H. Richter:
Digitized by
gefiiBen aus. In den Bindegewebsspalten und Lymphraumen dieser
Hiille fand ich bei beginnendem WurzelnervprozeB die ersten Zell-
nester des Granulationsgewebes, das sich dann durch die Wege des
Gewebssaftverkehrs ausbreitet, und zwar zuerst in den subarachnoidalen
Spaltraum, der zwischen den einzelnen Biindeln des Wurzelnerven
liegt, ura dann durch die LymphgefaBe der Eigenhiillen der einzelnen
Nervenbiindel in die Nervensubstanz selbst einzudringen. Hier in der
Tiefe des Wurzelnervtrichters liegt die Stelle der primaren Nerven-
schadigung, die man in der Form von Lokalherden gut erkennen kann.
Abb. 3. Reines Granulationsgewebe in junger Entwicklung als
kompakte Masse im subarachnoidalen Spaltraum. der sich zwischen den
Wurzelnervbiindeln ausbreitet (Fall von reiner Tabes).
Das Granulationgswebe breitet sich bei weiterem Fortschritt gegen
das Riickenmark zu aus, und kann in vorgeschrittenen Fallen die
Riickenmarkspia auch erreichen. Jakob sah diese Erscheinung
wiederholt auf Hass ins Priiparaten und mochte deshalb diesent
Befund in der Pathogenese der Tabes eine gewisse Rolle zukoin-
raen lassen; auf Abb. 9 bringt er ein Bild, auf welchem die
Hinterwurzel nahe zum Riickenmark von einer Granulationswuche-
rung umgeben ist. Ich habe unter meinen Befunden, die etwa
100 Wurzelnerven umfassen, in einem einzigen Fall beobachten
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Bemerkungen zur Histogenese der Tabes.
303
konnen (die Beschreibung befindet sich unter den nicht mitge-
teilten Befunden), daB die Granulationswucherung bis zum Riicken-
mark sich ausbreitete, und habe deshalb eine Bedeutung diesem Befund
nicht beimessen konnen.
Auf Grund dieser zum Teil neugewonnenen Erfahrungen mochte
ich mir die Rolle der Lymphozyten- und Plasmazelleninfiltrate im
tabischen WurzelnervprozeO folgendermaBen vorstellen:
Die echt-tabische Veranderung wird durch das von mir beschriebene
Granulations ge we be verursacht, in welchem Lymphozyten und Plasma-
zelleninganz geringer Menge enthalten sind. In solchen Tabesfallen, die
durch Kombination mit Paralyse oder anderen luetischen Erkrankungen
des Zentralorgans eine intensive Entzundung der Riickenmarkspia
zeigen, pflegt sich dieser entzundliche Vorgang langs der WurzelgefaBe
bis in den Wurzelnerv fortzusetzen, wo er mit dem tabischen Granula-
tionsvorgang zusammentrifft. Die vascular-infiltrativen Veranderungen
habe ich in reinen Tabesfallen im Wurzelnerv bisher stets vermiBt,
da aber die Bedingung fiir ihr Zustandekommen nur in einer intensiven
Ruckenmarksmeningitis liegen diirfte, so erblicke ich in diesen nicht
mehr eine fiir die Paralyse spezifische Veranderung, sondern erachte
es fiir moglich, daB in all jenen Tabesfallen, in welchen eine schwere
Meningitis vorliegt, diese Veranderungen im Wurzelnerv auftreten
konnen. Bei den Tabesfallen, die ich zu untersuchen Gelegenheit hatte,
waren die entziindlichen Veranderungen der Pia im allgemeinen nur
wenig ausgesprochen, in einigen habe ich sie ganzlich vermiBt; auf diese
Tatsache mochte ich es zuriickfiihren, daB in meinen Fallen von reiner
Tabes die vascular-infiltrative Komplikation im WurzelnervprozcB
fehlte. Hingegen beschreiben Nageotte und Hassin in alien ihren
Fallen schwere meningitische Veranderungen der Riickenmarkspia
und gleichzeitig die vascular-infiltrativen Erscheinungen im Wurzel¬
nerv.
Die Klarung dieser Frage scheint mir deshalb von groBer Wichtig-
keit zu sein, weil Jakob die prinzipielle Bedeutung des von mir im
Wurzelnerv beschriebenen Granulationsvorganges dadurch in Frage
zu stellen sucht, daB er auch in reinen Tabesfallen eine Untermischung
des Granulationsgewebes mit Lymphozyten und Plasmazellen beschreibt,
in akut fortschreitenden Fallen sogar eine starke Gberwucherung des
Granulationsgewebes durch Lymphozyten und Plasmazellen fest-
gestellt hat. Bei Aufrechterhaltung meiner Bedenken, die sich auf die
Schwierigkeit der Erkennung dieser Zellen in einem alteren Granulations-
gewebe, wie es auf Abb. 7 bei Jakob dargestellt ist, beziehen, hangt
nun fiir mich die Beurteilung dieser Frage davon ab, ob in diesen Fallen
1. ein intensiverer meningitischer ProzeB bestanden hat und 2. ob im
Wurzelnerv selbst vascular-infiltrative Veranderungen vorlagen. Die
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
304
* H. Richter:
Digitized by
Bilder, die Jakob als Beweise mitteilt, stammen beide aus Hass ins
komplizierten Tabesfallen, in denen eine schwere Piameningitis und
vascular-infiltrative Vorgange im Wurzelnerv als konstanter Befund
beschrieben sind. Nach meiner oben skizzierten Auffassung uber die
Entstehung der Lymphozytenanhaufungen ira Wurzelnerv mochte
ich aber die Moglichkeit dessen nicht ausschlieflen, dafl es auch Falle
von reiner Tabes geben kann, in denen eine gleichzeitig bestehende
schwere Meningitis — die aber nach meinen Erfahrungen keineswegs
zu den wesenthchen Veranderungen der Tabes gehoren, bloB eine lueti-
sche Begleiterscheinung derselben bilden — sich durch die GefaBe in
den Wurzelnerv weiterverbreitet und auch hier zu vascular-infiltrativen
Veranderungen fiihrt, aus welchen die Infiltratzellen sich in das freie
Nervengewebe oder in die Granulation austreuen, wobei es zu einer
Unterraischung der beiden Zellarten kommen kann. Ich muB aber
daran festhalten, daB dieser Befund nur eine histologische Komplikation
des tabischen Wurzelnervprozesses darstellt, welchen ich ausschlieBlich
durch den beschriebenen Granulationsvorgang gekennzeichnet betrachte.
Ich konnte die hier besprochene Beteiligung der Infiltratzellen am
WurzelnervprozeB in meinen reinen Tabesfallen nicht auffinden und
im Einklang darnit nur eine leichte, oft ganzlich fehlende Piameningitis
feststellen. Hingegen war der GranulationsprozeB in alien meinen
Fallen, sowohl in den rein tabischen, als auch in den taboparalytischen
nicht nur gut ausgesprochen, sondern ich konnte seine Ausbreitung
und Lokalisation mit der Nervenlasion in einen unmittelbaren Zu-
sammenhang bringen. Jakob bestatigt meine Beschreibung, nach
der die Zerstorung des Nervengewebes parallel mit dem Vordringen
der Granulation im Nervenbiindel erfolgt. So entstehen die herdformi-
gen, lokal eng begrenzten Ausfallsherde im Wurzelnerv, die die un-
mittelbar-pathogene Einwirkung des Granulationsgewebes am deut-
lichsten beweisen. Ich mochte dem gcgeniiber auf Abb. 2 vorliegender
Arbeit hinweisen, wo innerhalb eines Nervenbiindels ein Plasmazellen-
infiltrat liegt (das Bestehen des Infiltrates aus reinen Plasmazellen
deutet auf einen offenbar schon seit langerer Zeit bestehenden ent-
ziindlichen ProzeB) und das umgebende Nervenparenchym eine fast
normale Struktur erkennen laBt.
Gegen die von mir angenommene Wirkungsart des Granulations¬
gewebes liegen Bedenken von seiten Jakobs und Wohlwills 1 ) vor.
Jakob glaubt einer von mir abgelehnten Druckwirkung, die die Granu¬
lation auf die Nervenbiindel ausiibt, eine gewisse Rolle zuerkennen
zu miissen. Meine Bedenken gegen eine solche Annahme stammen aus
dem Vergleich von Wurzelnervpriiparaten, die die sog. hypertrophischen
i) Zentralbl. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr., Heft 2, Bd. XXVI.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Bemerkungen zur Histogenese der Tabes.
305
und atrophischen Formen der Granulationswucherung darstellen; ich
habe diese auf S. 63 meiner Arbeit besprochen und glaube diesen nichts
weiter zufiigen zu miissen. Wohlwill bemangelt meine lakonische
Au Boning iiber die Wirkungsweise der Granulationszellen auf die
Nervensubstanz, von der ich nur soviel angab, daB das pathogone
Gewebe durch sein Erscheinen innerhalb des Nervenparenchyms —
sei es auf mechanischem, sei es auf biochemischem Wege — die empfind-
liche Nervensubstanz schadigt. Darauf kann ich nur soviel erwidern,
daB ich inich bei der Beschreibung meiner Befunde nur darauf be-
schrankte, was ich im histologischen Bild wahrnehmen konnte. Ich
fand, daB die Granulationseleraente durch die Lymph- und Gewebs-
spalten der Hiille in das Nervenbiindel eindringen und dort zu den
Markfasern in innige Beziehungen treten, wo bei die letzteren oft massen-
haft Zerfallerscheinungen bieten. Diese Bilder fuhrten mich neben
anderen, zwingenden Beweisen zur Annahme, daB die Aifektion des
Nervengewebes im tabischen Wurzelnerv als der unmittelbare Wirkungs-
effekt des in die Nervensubstanz eingedrungenen Granulationsgewebes
aufzufassen sei. Im iibrigen mochte ich nur bemerken, daB die Wir¬
kungsweise von pathologischen Prozessen auf das Nervenparenchym
heute noch auf puiun Hypothesen beruht ; mehr, als uns das anatomische
Substrat zeigt, wissen wir dariiber nicht; es handelte sich also auch bei
meiner Angabe um hypothetische Vermutungen, unter welchen natiir-
lich auch die von Wohlwill erwahnte Verlegung der Lymphbahnen
durch die Granulation und eine dadurch bedingte Ernahrungsstorung
Platz finden kann. Von einem Durchbruch der natiirlichen Schranken,
wie Wohlwill sich das Eindringen der Granulation ins Nervengewebe
vorstellt, war in meiner Beschreibung nirgends die Rede; ich habe im
Gegenteil gezeigt, daB die Granulation zuerst die Gewebsspalten der
Hiille ausfiillt, hier oft stehen bleibt und durch ihre sklerotische Um-
wandlung zur Verdickung der Hiille fiihrt, ohne daB es zum Eindringen
der Granulation in das Nervengewebe gekommen ware. Nur wo massen-
hafte Granulation um die Nervenbiindel sich ansammelt und die Hiille
reichlich Durchgangsspalten zeigt, dringt die Granulation weiter in
das Nervengewebe vor. Es blieb mir iiberhaupt ratselhaft, wieso
der von mir beschriebene WurzelnervprozeB mit den bosartigen
Geschwulsten irgendeine Ahnlichkeit auch nur vortauschen kann,
wenn man in Betracht zieht, daB ich als das am meisten charak-
teristische Merkmal die lokal eng begrenzte, herdformige Schadigung
des Nervenparenchyms hingestellt habe; eine solche Parenchym-
schadigung gehort doch nicht zu den Kennzeichen maligner Ge-
schwulstprozes.se. Es soil hier noch kurz die Einwendung Wohlwills
erwahnt werden, meine Falle waren durchweg in relativ spaten
Stadien zur Untersuchung gekommen, so daB die Anfangserschei-
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
306
H. Richter:
Digitized by
nungendes Prozesses verdeckt bleiben konnten. Dem habe ich entgegen-
zusetzen, daB der tabische WurzelnervprozeB sich nur ganz allmahlich
auf die Wurzeln der verschiedenen Riickenmarkshohen ausbreitet,
wobei die Zervikalwurzeln noch in relativ spaten Stadien entweder
intakt bleiben konnen, oder nur erst anfangliche Stadien der
Wurzelschadigung aufweisen; man kann also diese auch an alteren
Fallen studieren; die mitgeteilten Befunde liefern hierfiir zahlreiche
Beweise.
Ubrigens stammt Abb. 3 meiner vorjahrigen Arbeit aus dem
Lumbalwurzel-
nerv ernes
Paralytikers, wo
ich das anfang-
lichste Stadium
der Granula-
tionsbildung im
Wurzelnerv ver-
folgen konnte :
die Nervensub-
stanz selbst war
noch intakt, nur
die Gewebsspal-
ten der Binde-
gewebssepta
waren mit Gra-
nulationszellen
ausgefiiUt. —
Die Bedeu-
tungderRedlich-
Obersteiner-
schen Ein-
sch niiru ngsstelle
fiir die Patho-
genese der Tabes
hatte ich in meiner Arbeit in Abrede gestellt, und meinen ablehnenden
Standpunkt ausfuhrlich bogriindet. Jakob nimmt aufGrund derHassin-
schenBefunde an,dab auch dieserStelle beider primarenWurzellasioneine
Rolle zukommt und stiitzt sich teils auf die entziindlichen und prolifera-
tiven Veranderungen, die an dieser Stelle gefunden werden, teils aber auf
Erfahrungen, die das Verhalten dieserStelle bei anderenKrankheitspro-
zessen (Trauma, Tumoren) zeigt. Er bemerkt zwar, daB er keine Beweise
dafiir finden konnte, daB die Lasion der Hinterwurzeln durch die hier ge-
fundenen entziindlichen Veranderungen verstarkt wurde. Ich rnochte als
Abb. 4. Weigert-Fuchsin-Bild aus dem Zervikalmark des
Falles 8. Zur Itedeutung der Redlich-Obersteinerschen
Stelle bei Tabes. G = GefaB, P = Pia, RO = Redlich-
Obersteinersche Taille, Re = extramedull. Wurzel, Ri =
intramedull. Wurzel.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Bemerkungen zur Histogenese der Tabes.
307
Beitrag zu dieser Frage auf Abb. 4 noch ein Bild aus dem Zervikalmark
meines Falles8 zeigen, der ubrigens S. 92 meiner Arbeit besprochen wurde.
Hier sind die markarme Redlich-Obersteinersche Taille und die extra-
und intramedullaren Abschnitte einer Zervikalwurzel in einem gliick-
lich gefiihrten Schnitt getroffen und das Bild rechtfertigt in iiber-
zeugender Weise meinen ablehnenden Standpunkt gegen die patho-
genetische Bedeutung dieser Stelle. Das Weigert-Fuchsinbild laBt eine
l>etrachtliche Verdickung des pialen Schniirringes und die verdickte
Wand des hier verlaufenden GefaBes erkennen. Van Giesonpraparate
aus dieser Hohe zeigen eine schwere Piaraeningitis mit perivascularen
und diffusen Lymphozyten- und Plasmazelleninfiltraten. Wenn die
Hinterwurzelschadigung an dieser Stelle einsetzen sollte, so miiBte
man — in Anbetracht der schweren und allem Anschein nach schon
lange andauernden entziindlichen Veranderung, die diese Stelle .zeigt, —
einen intensiven Faserausfall besonders in der intramedullaren Wurzel-
partie beobachten; diese zeigt aber in der Wurzeleintrittszone ein an-
nahernd normales Bild.
Am wenigsten iiberraschte es mich, daB J akob trotz der vorliegen-
den neuen Befunde an seiner friiheren Auffassung uber die Pathogenese
der Tabes festhalt. Die kurzen Bemerkungen aber, mit welchen er seine
Stellungnahme begriindet, kann ich nicht unwidersprochen gelten
lassen. Jakob erklart, daB er sich zu einer einheitlichen Auffassung
iiber den histopathologischen Vorgang bei Tabes nicht durchringen
konnte und beruft sich dabei auf die Ausfuhrungen Schaffers, der
das Prinzip der Elektivitat bei der tabischen Hinterstrangserkrankung
auch beim heutigen Stand unserer Kenntnisse nicht aufzugeben ver-
mochte. Ich habe hier keinen neuen AnlaB auf diese Frage naher ein-
zugehen, da in meiner vorjahrigen Arbeit alles vorgebracht wurde,
was ich diesbeziiglich fur beachtenswert halte. Sonderbar mutet es
aber an, wenn Jakob aus den Bemerkungen Schaffers zu Ansichten
gelangt, die weder mit jenen meines verehrten Chefs, noch mit den
Tatsachen iiberhaupt ubereinstimmen. Jakob faBt namlich seine
Bedenken gegen die wahllos radikulare Natur der Tabes in folgendem
lapidaren Satz zusammen: ,,Es ist dies vor allem die elektiv-syste-
matische Degeneration gewisser endogener Faserziige, fiir die heute
noch eine zwingende Erklarung fehlt.“ Jakob fiigt hinzu, solche Falle
selbst nicht gesehen zu haben, sie seien aber von so autoritativer Seite
(zitiert werden Dejerine, Nageotte, Marie und Schaffer) fest-
gelegt worden, daB man sie unmoglich bei der Beurteilung des ganzen
Krankheitsprozesses ubersehen darf. Wenn Jakobs Stellungnahme
auf dieses Argument gestiitzt ist, dann muB ich darauf aufmerksam
machen, daB endogene Hinterstrangsfasern bei unkomplizierter
Tabes nicht ergriffen werden. daher von einer elektiv-systeraatischen
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
308
H. Richter:
Degeneration endogener Faserziige bei Tabes koine Rede sein kann. Die
Arbeiten Schaffers und der anderen, von Jakob angefiihrten Autoren
bieten auch gar keine Anhaltspunkte fur diese Auffassung. Schaffer
war doch seit jeher gemeinsam mit Dejerine, Nageotte u. a.
der eifrigste Verkiinder der fundamentalen Tatsache, daB die Tabes
keine Hinterstrangs-, sondern eine Hinterwurzelerkrankung sei, daBim
Hinterstrang nur die aus den Hinterwurzeln stammenden exogenen
Fasern degenerieren und die endogenen — bei reinen Tabesfallen —
immer unversehrt bleiben. Und Striimpell, der Schopfer der elektiv-
systematischen Tabestheorie, hob schon als charakteristisch fiir diese
Falle das vollige Intaktbleiben gewisser Hinterstrangszonen hervor
(ventrocoramissurale, dorsomediale, ovale Zone), die erst durch die
spater gewonnenen anatomischen Kenntnisse iiber den Aufbau der
Hinterstrange, als Verlaufsstellen der endogenen Faserziige erkannt.
wurden. Gerade diese Tatsache, daB die Tabes die endogenen Faser¬
ziige iramer verschont, wahrend die Riickenmarksveranderungen bei
Paralyse haufig gerade an diesen Stellen Ausfalle zeigten, lieB eine ganz
verschiedene Beurteilung dieser beiden Veranderungsarten als gerecht-
fertigt erkennen. Jakob bespricht auch letztere in seiner Arbeit und
faBt sie als primare Systemdegenerationen auf; andere fiihren sie als
sekundar-degcnerative Folgeerscheinungen auf die paralytische Er-
krankung der grauen Substanz des Riickenmarks zuriick. Wie dem auch
sei, gehoren sie — wie dies schon Alzheimer hervorhob —zum wesent-
lichen Bestandteile der paralytischen KrankheitsauBerung und haben mit
dem tabischen ProzeB, wenn auch ein solcher vorliegt, nichts zu tun.
Ich mochte mit dieser vielleicht etwas entschiedenen Richtigstellung
keinesfalLs der auch von mir hochgeschiitzten wissenschaftlichen Person-
liehkeit Jakobs nahetreten wollen; es fuhren mich dabei ausschlieB-
lich die ernsten Bedenken, die gegen Bemerkungen dieserArt, besonders
wenn sie unter dem Namen eines Autors vom Range Jakobs segeln,
nur allzu begriindet sind. Zur Rechtfertigung meiner Stellungnahme
diene allein das Referat im Zentralbl. f. d. g. N. u. Psych. (Heft 4, XXIX),
das bereits auf der oben beanstandeten irrigen Spur wandelt, indem
es zu folgendem SchluBsatz kommt: ,,Die sekundare Hinterstrangs-
erkrankung wird durch die geschilderten Prozesse zwanglos verstand-
lich, wahrend fiir die elektiv-systematische Degeneration gewisser
endogener Faserziige bei Tabes die Erklarung noch ausstelit.“ Es ist
zu bedenken, daB die meisten Leser dieser Aufsatze nicht in der Lage
sind, die Frage der Elektivitat bei Tabes an der Hand von Original-
praparaten zu studieren und daB sie lediglich auf fremde Mitteilungen
angewiesen sind. Liest aber jemand in einem Aufsatz aus dem Jahre
1922 iiber die elektiv-systematische Degeneration endogener Faserziige
im tabischen Hinterstrang, dann wird er wohl nicht viel iiberlegen miis-
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Bemerkungen zur Histogenese der Tabes.
309
sen, am die Unzulanglichkeit all jener Untersuchungen und Erklarungs-
versuche festzustellen, die die Tabes als einen rein radikularen ProzeB
darzustellen sich bemiihten. Durch solche Bemerkungen kann wieder ein
neuer Ziindstoff in den Kampf geworfen werden, der uns das Ziel, das wir
doch gemeinsam fordern wollen, die endgiiltige Klarung der Tabesfrage in
eine weitere Zukunft zu verlegen droht. Wir haben dafiir schon lehr-
reiche Beispiele in der Geschichte der Tabesforschung, daB einzelne, ohne
geniigend Beweise aufgestellte Dogmen von einem Autor zum anderen
wanderten und jahrzehntelang als unantastbare Wahrheiten galten.
Ich erinnere nur an die Lehre, die die schwerere Lasion der intramedul-
laren Wurzelpartie gegeniiber der extramedullaren als eine Gesetz-
maBigkeit des tabischen Prozesses statuierte.
Um also neuerenMiBverstandnissen vorzubeugen,mochte ich wieder-
holen, daB die elektiv-systematische Gliederung, wenn von einer solchen
im tabischen Hinterstrang die Rede ist, sich nie auf die Affektion der
endogenen Ruckenmarksfasern bezieht, sondern, wie dies auch Schaffer
in seinem letzten, diesbeziiglichen Aufsatz beleuchtete, auf die Beob-
achtung, daB in manchen Tabesfallen, besonders in jiingeren, das Ge-
biet der exogenen, also von den Hinterwurzeln abstammenden Mark-
fasern in der Intensitat des Markausfalles solche Unterschiede aufweist,
daB es durch die verschieden starke Rarefizierung zur Absonderung ge-
wisser Abschnitte, und zwar einer starker gelichteten mittleren und einer
leichter rarefizierten hinteren Wurzelzone kommt (die vordere Wurzel-
zone entspricht der ventrocommissuralen Zone, in der endogene Fasern
verlaufen; diese bleibt bei der Tabes intakt). Durch Gbereinstimmung
dieser Gliederung mit gewissen Bildern aus der Periode der Myelinisa-
tion kam man zur Auffassung, daB bei beiden Prozessen das Prinzip
der Elektivitat zur Geltung kommt, und daB in diesen beiden Zonen
Hinterwurzelfasern von verschiedener anatomischer und biologischer
Dignitat verlaufen. In meiner vorjahrigen Arbeit habe ich ausfiihrlich
dargelegt, welche Beobachtungen und Uberlegungen mich dazu be-
wogen haben, den Intensitatsunterschied in der Markaffektion zwischen
der mittleren und hinteren Wurzelzone auf andere Ursachen, wie die
hypothetische Annahme einer besonderen Elektivitat zuriickzufiihren;
ich halte eine weitere Diskussion in dieser Frage deshalb fur unzeit-
gemaB, weil ich der Ansicht bin, daB nur neues Tatsachenmaterial
zur Bereinigung der hier obwaltenden Meinungsverschiedenheiten ctwas
beitragen konnte.
Als Erganzung zu meiner vorjahrigen Studie mochte ich zum
SchluB mit einigen Bemerkungen der Frage nahertreten, welche Fol-
gerungen aus meinen histopathologischen Befunden beziiglich der
Pathogenese der Tabes abgeleitet werden konnen, ob iiberhaupt die
von mir versuchte Klarung der Histogenese uns irgendeinen Einblick
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
310
H. Richter:
Digitized by
gewahrt in die noch vollig ratselhaften Bedingungen, unter welchen
es zum Entstehen der tabischen Erkrankung kommt. Bei Besprechung
dieser Frage tritt vor allem die groBe Bedeutung der Lokalisation
des histopathologischen Grundprozesses hervor. Ich gelangte
beziiglich der Nervenveranderungen im Riickenmark zur Feststellung,
daB die fur die Tabes charakteristische Liision des peripheren sensiblen
Neurons durch die unraittelbare Schadigung des sog. Wurzelnerv-
abschnittes erfolgt; der schadigende Faktor sei ein luetisches Granula-
tionsgewebe, das in den Gewebsspalten und Lymphraumen der den
Wurzelnerv umgebenden auBeren Bindegewebshiille entsteht und
von hier aus sich zuerst in die Spaltraume des Subarachnoidalraumes
ausbreitet, die die einzelnen Biindel des Wurzelnerven umgeben und
schlieBlich in die Nervenbiindel selbst eindringt und dort lokale Zer-
storungsherde verursacht. Der ProzeB spielt sich in der Tiefe jener
trichterformigen Auslaufer des Subarachnoidalraumes ab, die den
groBen Subarachnoidalraum gegen die Spinalganglien absperren. Hier
liegt die primare Schadigungsstelle des Hinterwurzelsystems, alles,
was da von distaler liegt, erkrankt infolge sekundarer Degeneration;
die Erkrankung der Riickenmarkshinterstrange ist also ein durch den
WurzelnervprozeB bedingter sekundar-degenerativer Vorgang. Be-
ziiglich der Hirnnervenschadigung konnte ich Beweise liefern, daB ihre
primare Schadigung ebenfalls durch einen histopathologischen Vorgang
verursacht wird, der auBerhalb der Nervensubstanz in den Hiillen der
Nerven einsetzt und sich von hier in das Nervenparenchym fortsetzt.
Mit Ausnahme des Opticus konnte ich bei alien iibrigen denselben
Granulationsvorgang als das histopathologische Substrat der Nerven-
lasion feststellen, beim Opticus selbst — im Einklang mit den Be-
funden von Stargardt — einen vascular-infiltrativen Vorgang im
inneren Hiillenanteil des intrakraniellen Opticus, des Chiasmas, im
Anfangsteil des Tractus und in den benachbarten Teilen der Hirnbasis.
Fur diesen Unterschied in der histologischen Form brachte ich eine
Erklarung, nach welcher der differente Bau jener Gewebe, in denen der
ProzeB beginnt, ihre spezifische histologische Reaktionsform auf die
pathologische Reizwirkung bestimmt. Gemeinsam fiir alle Hirnnerven
konnte aber die Feststellung gemacht werden, daB die primare Schadi¬
gung den extracerebralen Nerven betrifft, an einer Stelle, wo dieser
mit dem Subarachnoidalraum eng zusammenhangt, bzw. durch den¬
selben verlauft. Hierdurch erhalten w'ir fiir alle Angriffsstellen des
tabischen Prozesses ein gemeinsames lokalisatorisches Kennzeichen,
das bei der Frage der Pathogenese nicht ohne Bedeutung sein diirft-e.
Man erhalt aus diesen Befunden Griinde fiir die Annahme, daB der
ganze tabische GrundprozeB sich lediglich im Subarach¬
noidalraum abspielt. Seine zahlreichcn Angriffsstellen,
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Bsmerkungen zur Histogenese der Tabes.
311
vora Opticus bis zur letzten Sakralwurzel, stehen mit
dem Su barachnoidalraum in innigster Beziehung; der
Inhalt desselben, die Cerebrospinalfliissigkeit, umspiilt
all diese Stellen und vereinigt sie zu einem einheitlichen
Angriffsgebiet, vermittelt das Obergreifen des Prozesses
von einem Wurzelnerv auf den anderen und auf die Hirn-
nerven, und sichert hierdurch das mehr oder weniger
typische Fortschreiten eines einheitlichen Prozesses. Die
Affektion eines Wurzelnerven oder eines Hirnnerven ist zwar ein in
sich abgeschlossener ProzeB, der zu einer bestimmten Ausfallserschei-
nung fiihrt; er hat aber nichts Spezifisches fiir die Tabes an sich. Erst
durch die allmahliche Ausbreitung des Prozesses auf das ganze Wurzel-
nervsystem und auf gewisse Hirnnerven erhalt die Erkrankung den fiir
die Tabes spezifischen Charakter. Diese Ausbreitung des Prozesses
aber kann man sich nicht anders vorstellen, wie durch die Vermittlung
des Liquors, der die zahlreichen, ziemlich weit entfernten Angriffs-
stellen miteinander verbindet. Fassen wir also die Tabes als eine ein-
heitliche Erkrankung auf — und dies braucht wohl nicht naher be-
griindet zu werden —, dann konnen wir sie nur als einen im Subarach-
noidalraum sich abspielenden ProzeB betrachten, der gewisse Pradi-
lektionsstellen dieses Raumes begiinstigt und hierdurch zu den typi-
schen histopathologischen Veranderungen und klinischen Ausfalls-
erscheinungen fiihrt. Der tabische GrundprozeB spielt sich also auBer-
halb des Zentralnervensystems ab, die Veranderungen des letzteren
haben ausnahmslos einen sekundaren Charakter, sie sind Folgezustande
der primaren Lasion, die im Wurzelnerv, im Opticus usw. stattfindet.
Man wird also vom Standpunkt der Lokalisation rechttun, wenn man
die Tabes und die Paralyse als zwei grundverschiedene Erkrankungen
betrachtet.
Das zweite Moment, das bei einer pathogenetischen Betrachtung
auf Interesse Anspnich erheben kann, sind die bisher vorliegenden
Spirochatenbefunde bei Tabes. Die Zahl der positiven Falle ist heute
noch eine geringe (seit meiner vorjahrigen Veroffentlichung habe ich
weitere vier Falle mit den Methoden Jahnels, Levaditis und
Noguchis untersucht, ohne einen neuen positiven Befund erlangt zu
haben). Ich teile die Ansicht von Jahnel und Raecke, daB die bis
heute vorliegenden Spirochatenbefunde im Wurzelnerv viel zu sparlich
sind, um uns ein auch nur annahernd verlaBliches, parasitologisches Bild
iiber ihre allgemeine Beteiligung am tabischen ProzeB gewahren zu
konnen, und glaube auch, daB erst das Ausfindigmachen einer fur das
Wurzelnervgewebe spezicll geeigneten Modifikation der Spirochatcn-
impragnierung imstande sein wird, die Zahl der positiven Falle wesentlich
zu erhohen. Auf zwei wichtige Feststellungen, die sich aus den
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
312
H. Richter:
Digitized by
bisherigen Befunden ergaben, kann ich jedoch schon heute aufmerksam
inachen. Erstens auf die Tatsache, dab die Spirochaten im tabisch
affizierten Wurzelnervgebiet ausschlieBlich in dem reinen Granulations-
gewebe vorgefunden warden, und zwar iiberall dort, wo dieses Gewebe
anzutreffen ist: in den Lymph- und Gewebsspalten der Hiille, in den
LymphgefaBen, die mit Granulationselementen gefiillt im Subarach-
noidalraum liegen (es sind dies die von Nageotte als kleine Gummen
bezeichneten Ge-
bilde) und in den
Granulations-
massen, die im
Su barachnoidal-
raum frei um die
Nervenbiindel
herumlagen.
Abb. 5 zeigt
mehrere Spiro¬
chaten in einem
solchen, perifas-
cicular liegenden
Granulomge-
webe. Ich fand
sie vomehmlich
in den jungen
Granulationenin
groBerer Zahl,
im sklerotischen
Gewebe sah ich
nur vereinzelte
Exemplare. Die
zweite Beobach-
tung, die ich fur
bemerkenswert halte,ist,daB imNervengewebe selbst,also in denBiindeln
derWurzelnerven Spirochaten bisher nicht nachgewiesenwerdenkonnten;
natiirlich werden erst weitere Untersuchungen entscheiden konnen, ob es
sich hier umein konstantes,gesetzma8igesVerhaltenhandelt. Dieunlangst
mitgeteilten Untersuchungen Igersheimers am Opticus scheinen
jedenfalls diese Feststellung zu bestatigen. Er fand in drei Fallen
von Opticusdegeneration (zwei Falle von Taboparalyse, ein Fall von
Tabes) Spirochaten, und zwar in einem Fall dicht am Chiasma, in
einem weiteren eine Ansammlung dicht hinter dem Chiasma am be-
ginnenden Tractus opticus in der angelagerten grauen Substanz, sowie
herdformig im grauen Anteil des Corp. geniculatum; bei einem dritten
Abb. 5. Spirochatenherd im perifaseicularen Granulations-
gewebe wie es auf Abb. 3 veranschaulicht ist. (Methode
Noguchi.)
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Bemerkungen zur Histogenese der Tabes.
313
Patienten ergab die Dunkelfelduntersuchung positiven Befund aus dem
Corp. genicul. und ein sicheres Exemplar in der aus dem intrakraniellen
Opticus hergestellten Emulsion, wobei es nicht zu entscheiden war,
<>b die Spirochate im Opticusgewebe selbst oder in der Scheide lag.
Bei den anderen zwei positiven Fallen fanden sich die Spirochaten
zweifellos nicht in der Sehbahn selbst, sondern im dicht benachbarten
Gewebe. lgersheimers Befunde bestatigen in vollem MaBe die in
meiner Arbeit ausgesprochene Vermutung, die ich auf Grund meiner
Befunde im Wurzelnerv aufgestellt habe, daB die Spirochate im atro-
phischen Opticus auch nicht im Opticus selbst vorhanden sein
diirfte, wie es Stargardt annahm, sondern in der Scheide und in dem
Xach barge webe, das die vaskular-infiltrativen Veranderungen zeigte.
In meinen Fallen waren diese Veranderungen hauptsachlich im hinteren
Drittel des intrakran. Opticus, im Chiasma und im Anfangsteil des
Tractus ausgesprochen (das Corp. genicul. wurde nicht untersucht).
Abb. 2o meiner vorjahrigen Arbeit veranschaidicht ein entziindliches
Infiltrat am hinteren Chiasmarand, dessen Ausgangsherd im Tuber
cinereum lag. Die histologischen Veranderungen und die Spirochaten-
befunde weisen also in gleichem Sinne darauf hin, daB die primare
krankhafte Veranderung auch bei der tabischen Opticusatrophie nicht
im Opticusgewebe selbst, sondern in den dicht benachbarten Stellen
ties Sehnerven und seiner basalen Fortsatze liegen. Diese Cbereili¬
st im mu ng zwischen lgersheimers Befunden am Opticus und den
Spirochatenbildern, die ich im Wurzelnerv sah, erscheint mir deshalb
von Bedeutung zu sein, weil dadurch meine obige, auf Grund der histo¬
logischen Veranderungen gemachte Feststellung — der tabische Grund-
prozeB etabliere sich auBerhalb der geschadigten Nerven, diese werden
erst spater durch das Cbergreifen des Prozesses auf die Nervensubstanz
geschadigt — auch durch Spirochatenbefunde eine voile Bestatiguug
erhielt.
Die aus meinen histologischen Befunden hervorgehende Erkenntnis,
daB der tabische Krankheitsvorgang sich lediglich im Subarachnoklal-
rauin abspielt und daB er durch den Syphiliserreger selbst aufrecht-
erhalten wird, laBt die Moglichkeit dessen, daB die im Liquor befind-
lichen Spirochaten sich nicht nur an den typischen Affektionsstellen
der Tabes niederlassen, sondern iiberall in jenen Gewebsschichten sich
ansiedeln konnen, die den Subarachnoidalraum begrenzen, als sehr
naheliegend betrachten. So konnte der unlangst mitgeteilte positive
Befund Jahnels aufgefaBt werden, wo in der Arachnoidea des Dorsal-
markes ein ansehnlicher Spirochatenbefund entdeckt wurde. Die Spiro¬
chaten lagen hier in dichten Massen in den Nischen auf der Innenflache
der Arachnoidea, also auch innerhalb des Subarachnoidalraumes. Es
braucht auch heute nicht mehr bezweifelt zu werden, daB die entziind-
Archlv filr Pgvchlatrle. Hd. 67. 21
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
314
H. Richter:
Digitized by
lichen Veranderungen der Riickenmarkspia, die eine hiiufige Begleit-
erscheinung der Tabes bilden, ebenfalls auf einer unmittelbaren Spiro-
chateneinwirkung beruhen, wobei die Spirochaten auch aus dem Liquor
stammen und sich in der Pia, als der inneren Begrenzungsschicht des
Subarachnoidalraumes ansiedeln. In dem Fall Noguchis, wo im
Hinterstrang eines Tabikers die Spirochate vorgefunden wurde, kann
ich mir die Richtung ihres Eindringens am leichtesten nur durch den
Weg aus dem Liquor liber die Riickenmarkspia in das Riickenmark vor-
stellen, in welchem Falle eine syphilitische Meningomyelitis vorgelegen
haben diirfte. Denn dab die im Hinterstrang aufgefundene Spirochate
nicht die eigentliche Ursache der Tabes bilden kann, kann kaum be-
zweifelt werden, wenn man die histologischen Veranderungen im
Wurzelnerv einerseits und im Hinterstrang andererseits in Betracht
zieht. Man konnte sich dabei iiberhaupt nicht erklaren, warum die
Spirochate innerhalb des Hinterstranges nur diejenigen Fasern zerstort>
die aus den Hinterwurzeln stammen, und die iibrigen, endogenen Fasern
freilaBt. Es ist aber klar, dab die friiher erwahnten Ansiedlungsstellen
der Pallida (an der Arachnoidea und Pia) mit dem tabischen Hinter-
wurzelprozeB ebensowenig in ursiichlichen Zusammenhang gebracht
werden konnen. Sie bedeuten nur einen akzidentellen Befund bei Tabes,
wo die Liquorspirochaten neben ihren typischen Ansiedlungsstellen
sich noch liberal 1 in den Geweben festsetzen konnen, die den Sub-
arachnoidalraum begrenzen.
Die fiir die Tabes spezifische Lokalisation der Spirochaten mull
aus Griinden, die auf der histopathologischen Erkenntnis des Wurzel-
nervprozesses beruhen, in den Wurzelnerv selbst verlegt werden.
Hier fand ich nun in einigen Fallen die Spirochaten in der Tiefe der
seitlichen Wurzeltrichter, in das Granulationsgewebe eingelagert. Es
ist naheliegend anzunehmen, dall auch diese Spirochaten aus dem
Liquorraum stammen und durch ihre Ansiedlung in den seitlichen
Auslaufern des Subarachnoidalraumes den GranulationsprozeJl einleiten.
Nachdem wir hcute schon sowohl im tabisch affizierten Wurzelnerv,
als auch bei tabischer Opticusatrophie die Amvesenheit der Spiro-
cheten und ihre unrnittelbare Beteiligung am histopathologischen
Prozefl auf strikte Beweise stiitzen konnen, so steht der Annahme nichts
mehr im Wege, dafl an alien Angriffsstellen des tabischen Prozesses
der histopathologische Vorgang durch die Ansiedlung von Spirochaten
eingeleitet wird.
Man wird sich daher die Rolle der Spirochatenansiedlung 1km der
Entstehung der Tabes folgendermaflen vorstellen konnen:
Die Entstehung der Tabes ist an die Anwesenheit des Syphilis-
erregers in der cerebrospinalen Fliissigkeit gebunden. Bekanntlich
erfolgt bei der Mehrzahl der Luetiker schon im friihsekundaren Stadium
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Bemerkungen zur Histogenese tier Tabes.
315
eine Invasion der Spirochaten in den Liquor, die sich im positiven Aus-
fall der Reaktionen kundgibt. Einen solchen ohne klinische Symptome
bestehenden latenten Zustand der Liquorspirochetose miissen wir
als den regelmaBigen Vorlaufer der Tabes betrachten. Die bedeutungs-
volle Phase, in der die Liquorspirochaten aus dem inaktiven, klinisch
symptomlosen Stadium in ein aktives mit organischen Gewebsverande-
rungen und meist auch klinischen Symptomen einhergehendes Stadium
iibertritt, hangt mutmaBlich mit jenem Moment zusammen, wo die
Spirochaten, dis bis dahin nur in der Liquorfliissigkeit suspendierte
Elemente sein diirften, sich in jenen Geweben ansiedeln, die den Sub-
arachnoidalraum begrenzen. Solche Ansiedlungen kdnnen an der
Riickenmarkspia erfolgen, wo sie dann zu einer Meningitis fiihren, die
manchmal klinisch in Erscheinung tritt, manchmal auch nicht. Dali
die Ansiedlung der Spirochaten in der den Liquorraum von auBen
begrenzenden Arachnoidca auch stattfinden kann, bcweist der oben
angefiihrte Befund Jahnels.
Gegeniiber diesen mehr zufallsmaBigen Ansiedlungsarten der
Liquorspirochaten miissen wir fur die bei der Tabes aktiv wirkenden
Spirochaten eine scheinbar mehr systemisierte Ansiedlungsart in Er-
wagung ziehen. Zwei Momente sind es, die das Bestehen einer solchen
wahrscheinlich machen. Erstens gehort es zu den Eigentiimlichkeiten
des tabischen Prozesses, daB dieser sowohl unter den Riickenmarks-
wurzeln, als auch unter den Hirnnerven gevvisse Pradilek + ionsstellen
hat, die am friihesten und am haufigsten vom krankhaften ProzeB be-
troffen werden. Eine zweite bemerkenswerte Eigenschaft der Spiro-
chatenansiedlung bei Tabes liegt darin, daB diese im Wurzelnerv sich
in den tiefsten Stellen der trichterfdrmigen Auslaufer niederlassen, dort,
wo dieser Raum gegen die Spinalganglien abgeschlossen ist, und dab
sich der ganze tabische ProzeB lediglich hier abspielt. Die beiden er-
wahnten Eigentiimlichkeiten deuten darauf hin, daB der Ansiedlungs-
vorgang der Spirochaten im Wurzelnerv bei Tabes ein durch eine
gewisse GesetzmaBigkeit ausgezeichneter Vorgang sei und sich in dieser
Hinsicht von den anderen, mehr zufallsmaBigen Ansiedlungsarten in
der Pia oder Arachnoidca unterscheidet. So wissen wir, daB unter
den Ruckenmarkswurzeln die Lumbalwurzeln als die ersten Anwarter
der Spirochatenansiedlung bei der Tabes zu betrachten sind und unter
den Hirnnerven der Oculomotorius und der Opticus am friihesten und
haufigsten da von betroffen werden.
Durch welche Momente die Pradilektion dieser Stellen geschaffen
wird, ist uns heute noch unklar. Doch aus dem Umstand, daB die
Ansiedlung der Spirochaten bei Tabes manche Ziige einer mccha-
nischen GesetzmaBigkeit erkennen laBt, und in gewisser Hinsicht an
einen Sedimentierungsvorgang erinnert, diirfte auch die Annahme
21 *
Digitized by Goe)gle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
316
H. Richter:
Digitized by
eine gewisse Wahrscheinlichkeit erhalten, nach der die physikalischen
Verhaltnisse der verschiedenen Angriffspunkte innerhalb des Sub-
arachnoidalraumes hierbei eine gewisse Rolle spielen. In meiner vor-
jahrigen Arbeit erwahnte ich schon diesbeziiglich die experimentellen
BeobachtungenTinels, dernachChinatusch-undKarmineinspritzungen
in den subarachnoidalen Raum eine reichliche Ansammlung der Farb-
kornchen in den seitlichen Wurzeltrichtern vorfand und dabei bemerkte,
daB diese in den lumbalen Wurzeltrichtern fruher und in groBerer Zahl
sich anhaufen, aLs in den zervikalen. Tinel fiihrt zur Erklaning dieser
Tatsache physikalische Argumente heran, indent er annimrat, daB in
den tieferliegenden und aus dem groBei\ Liquorraum schief nach ab-
wiirts fiihrenden Lumbaltriehtern, die im Liquor kreisenden Form-
elementc sich infolge der Gravitation leichter niederlassen konnen,
als in den Zervikaltrichtern, die hoher liegen und aus dem Liquorraum
rechtwinklig abzweigen. Eine gewisse Analogie zwischen den experimen¬
tellen Beobachtungen Tine Is und dem Beginn und Verlauf des tabischen
Prozesses ist nicht von der Hand zu weisen. Die Affektion beginnt
meist in den Lumbalwurzeln, man miiBtc also annehmen, daB die den
WurzelnervprozeB einleitenden Spirochaten sich zuerst in den Lumbal-
trichtern niederlassen und der Fortschritt des Prozesses durch eine
fraktioniert fortschreitende Sedimentierung der Spirochaten bedingt
ware, bei der neben den bereits affizierteu Wurzeln, die aber noch
weitere, frische Zufuhren aus dem Liquor erhalten, immer neue und
hoher gelegene Wurzelhohen mit Spirochaten bevolkert werden. Der
hypothetische Charakter dieser Erklaning ist offenkundig; auch ist
es nicht wahrscheinlich, daB die Spirochatenansiedlung im tabischen
Wurzelnerv nur den von Tinel angefiihrten mechanischen Gesetzen
unterworfen ware. Denn es bliebe z. B. bei dieser Annahme unerklart.
warum die am tiefsten liegenden und fast vertikal verlaufenden Sakral-
wurzeln, die doch nach dem Gesetz der mechanischen Sedimentiening
am fruhesten Spirochaten aufnehmen sollten, gewohnlich spater er-
kranken als die Lumbalwurzeln. Auch ware die gar nicht seltene
atypische Reihenfolge der Wurzelaffektion mit obiger Erklaning schwer
zu vereinbaren. Man muB hier jedoch auch vor Augen halten, daB die
Spirochaten keine Farbkornchen, sondern Lebewesen mit ausgespro-
chener Eigenbewegung sind, die allein schon manche Abweichung
vom mechanischen Sedimentierungsvorgang erklaren konnte.
Auch bei den Hirnnerven konnte man die auffallende Bevor-
zugung einiger Hirnnerven (II., III.) gegeniiber den iibrigen am leich-
testen so erklaren, wenn wir in der verschiedentlichen Gestaltung
des Subarachnoidalraumes um die einzelnen Hirnnerven den be-
stimmenden Faktor erblicken und annehmen, daB bei den haufig
affizierten Hirnnerven eine etwa den Wurzelnervtriohtern ahnliche
Go^igle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Bemerkiingen zur Histogenese dcr Tabes.
317
Einscheidung des Subarachnoidalraumes die Ansiedlung der Spiro-
chaten an diesen Stellen begiinstigt.
Meine im Vorjahr verbffentlichten Untersuchu ngen haben den
Beweis erbracht, daB die Tabes eine vom Anfang bis zum Ende an
Spirochatenvirulenz gebundene, echt syphilitische Erkrankung sei. Es
zeigte sich weiter, daB der ProzeB, obwohl er auf zahlreichen, vonein-
ander ziemlich entfernten und verschiedenartigen Stellen verlauft,
dennoch eine weitergefaBte, einheitliche Lokalisation zeigt, indem alle
Angriffsstellen im Subarachnoidalraum im Bereich der Liquorzirkula-
tion liegen, so daB es vom. pathogenetischen Standpunkt naheliegend ist,
anzunehmen, daB der tabischen Erkrankung ein im Liquorraum sich
abspielender ProzeB zugrunde liegt.. Naheres iiber diesen ProzeB lassen
uns die bei Tabes vorbegenden Spirochatenbefunde erkennen: diese
gewahren die Annahme von zweierlei Ansiedlungsarten der Spiro-
cheten bei Tabes; eine mehr akzidentelle, vom tabischen ProzeB un-
abhangige, diesen mehr nur begleitende Spirochatenansiedlung an der
Riickenmarkspia oder Arachnoidea und eine zweite, mehr systemisierte
Ansiedlung der Spirocheten in den Wurzeltrichtern des Ruckenmarks
und an einigen Hirnnerven der Hirnbasis. Aus dem mehr-weniger
tvpischen Verlauf und aus der Progression der Tabes haben wir Grand
anzunehmen, daB letzterer Ansiedlungsart, durch die der tabische
ProzeB eingeleitet und aufreehterhaltcn wird, eine gewisse Gesetz-
maBigkeit in der Reihenfolge der einzelnen Ansiedlungspunkte inne-
wohnt und manche Analogien scheinen darauf hinzuweisen, daB diese
mit den mechanischen Verhaltnissen im Subarachnoidalraum zusammen-
hangt; die Ansiedlung der die Tabes verursachenden Spirochaten, zeigt
namlich gewisse Eigenschaften, die an eine im Subarachnoidalraum
vor sich gehende Sedimentierung der Spirochaten erinnern.
Die hier vorgebrachte hypothetische Annahme bedarf sicher noch
weit-erer Beweise, um als begriindet betrachtet zu werden; insbesondere
iniissen die bisherigen Ergebnisse der Spirochatenforschung erweitert
werden. Erweisen sich aber die oben angefuhrten GesetzmaBigkeiten in
der Entstehung und Lokalisation des tabischen Prozesses als zu Recht
bestehend, dann verdichtet sich das Problem der Tabespathogenese
in die Hauptfrage: welche Faktoren dafiir verantwortlich zu machexi
sind, daB die Spirochaten des Liquors von'einem bestimmten Zeit-
punkt an, der dem Beginn des tabischen Prozesses entspricht, einem
systematisierten Sedimentierungsvorgang an den Pradilektionsstellen
der tabischen Affektion unterliegen.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(Aus deni hirnhistologischen und interakademisehen
Hirnforschungsinstitut der k. ungar. Univereitftt zu Budapest
[Direktor: Prof. Dr. Karl Schaffer].)
Digitized by
Beitrage zur Histopathologic der Spinalgaiiglieiizelleii.
Von
Karl Schaffer.
Mit 4 Textabbildungen.
(Eingegangen am 4. September 1912.)
Vor kurzem hat aus dem Cajal-Institut Fernando de Castro 1 )
iiber die Struktur der Spinalganglienzellen unter normalen wie patho-
logischen Verhaltnissen berichtet; diese sehr eingehende und wertvolle
Arbeit veranlaBt mich, das pathologische Material derselben durch die
Mitteilung von jenen Veranderungen zu erganzen, die die Spinalganglien¬
zellen im Verlauf der infantil-araaurotischen Idiotie erleiden. Wohl
hatte mein Schuler Ernst Frey 2 ) diesbeziigliche Untersuchungen vor
Jahren angestellt, doch war seine Darstellung eine sehr summarische
und ohne Ulustrationen, besonders aber lieB er die Histogenese der
Zellveranderungen ganz unberiicksichtigt. Diese Liicken sollen nach-
folgende Zeilen ausfiillen, um so mehr da in der einschlagigen Literatur
auBer der Arbeit von Frey kein Hinweis iiber das Verhalten der Spinal¬
ganglienzellen bei der infantil-familiaren Idiotie enthalten ist.
Die flir diesen FrozeB charakteristische ubiquitare Nervenzellver-
anderung lftBt sich an den Spinalganglienzellen ebenfalls auffinden.
Diese auBert sich in erster Linie in der Neuronophagie des Zellkorpers,
verursacht durch die histiolytische Wirkung der Cajalschen Satelliten,
ferner durch die Neubildung von pericellularen Knaueln und schlieBlieh
durch die Gegenwart von Endkeulen.
Bekanntlich wird das normale Fibrillengeriist des Zellkorpers
einesteils durch ein derberes Oberflachennetz gebildet, das, als
eine Schale oder Rinde erscheinend, das feingesponnene Tiefennetz in
sich schlieBt. Hervorzuheben ware noch der wichtige Umstand, daB
das Tiefennetz um den Kern herum eine recht bedeutende Verdichtung
erfahrt, wodurch das bekannte Donaggiosche Sieb entsteht, d. h.ein
auBerst engmaschiges Netz, dessen allerfeinste Fascrchen oft nicht
einzeln zur Darstellung gelangen. — Somit besteht das Fibrillen-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Karl Schaffer: Beitrfige zur Histopathologie der Spinalganglienzellen. 319
geriist der Spinalganglienzellen aus drei Schichten, wie dies zuerst
•Cajal 3 ) darstellte und fiir aile somatochromen NervenzeUen als gc-
setzm&Big nachwies: 1. aus der oberflachlichen oder corticalen Schicht,
bestehend aus derberen Langsstreifen, 2. aus der mittleren oder haupt-
sachlichen Schicht, die aus feinen Faserchen zu polygonalen Maschen
gebildet wird, 3. aus der perinuclearen Schicht, die sich aus allerfeinsten
Faserchen zusammensetzt.
1. Betrachten wir nach diesen normal-anatomischen Bemerkungen
die Veranderungen des Zellkorpers der GanglienzeUen bei der in-
fantil-fainiliaren Idiotie, so ware in erster Linie als dominante Erschei-
nungdieNeuronophagieanzufiihren (Abb. 1). Dadurch, daB die intra-
kapsularen Satelliten, nachdem aie proliferierten, eine histiolytische Wir-
kung auf den Zellkorper der Spinalganglienzelle austiben, entstehen die
variabelsten Formen der Zellveranderung. Die Ansammlung der ver-
mehrten Satelliten kann teils mehr lokal etwa um den Achsenzylinder
henan, oder diffus um den Zellkorper herum stattfinden und es kann somit
im allgemeinen entweder eine mehr lokale oder aber eine zirkulare Form
der Neuronophagie entstehen. Natiirlich ist die Unterscheidung von
diesen beiden Formen nicht immer strikt durchfiihrbar. Auf Grand der
histiolytischen Wirkung der Satelliten erscheinen die von de Castro
so eingehend geschilderten diversen Formen der pathologischen Spi¬
nalganglienzellen, wie die henkelformigen (ansiformen), dann die ober-
flachlich vielmals ausgcnagten und fein durchlocherten (retikidaren),
ferner die kollateralartig ausgehohlten (dendriformen), endlich die zen-
tral durchlocherten (perforierten) Zellkorper, die man insgesamt als
Cajals fenestrierte Zellen bezeichnen konnte. Im Verlauf der Histio-
lvse kann einesteils die Farbbarkeit des Tiefennetzes hochgradig leiden,
so daB GanglienzeUen entstehen, die durch ihre schattenhafte Blasse
auf fallen, anderseits kann man aber die Auflosung des Tiefennetzes be-
obachten, nebst mehr oder minder gewahrtem Oberflachennetz. Letz-
teres Verhalten konnte ich bekanntlich vor Jahren fiir die Fibrillen-
bilder der Rinden- und Riickenmarkszellen bei Tay-Sachs als cha-
rakteri8tisch feststellen. — Durch die zunehmende Neuronophagie ver-
mindert sich der Zellkbrjier bis auf einen kleinen, unansehnlichen Rest,
von dem aus der anscheinend intakte Achsenzylinder entspringen
kann. Ganz zuletzt schwindet die Spinalganglienzelle und ihre Stelle
nimmt die proliferierte Satellitenmasse ein, wodurch das bekannte
Nageottesche ,,Restknotchen‘‘ zustande kommt.
Nicht unerwahnt sei die Tatsache, daB die fiir das zentrale Nerven-
svstem bei Tay-Sachs so charakteristischen lecithinoiden Degene-
rationskorner im Zellkorper der Spinalganglienzellen nur in hochst
sparlicher und angedeuteter Weise in der Form von einigen blau ge-
farbten allerfeinsten Piinktchen vorkommen. Ziehen wir in Betracht,
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
320
Karl Schaffer:
Digitized by
daB die lecithinoiden Kornehen in den Rindenzellen massenhaft, in den
Ruckenmarksnervenzellen zumeist den Zelleib nur partiell besetzen,
endlich in den Spinalganglienzellen in auBerst geringem MaBe vor-
kommen, so ware hieraus zu folgern, daB der degenerative ProzeB, ob-
schon auf das gesamte Nervensystem sich erstreckt, jedoch am zeit-
lichsten in der GroBhirnrinde einsetzt und von hier gegen die Spinal¬
ganglienzellen zu hinabsteigt.
2. Eine fur die Spinalganglienzellen im Fall von infantil-familiarer
Idiotie am meisten charakteristische Erscheinung besteht in den peri¬
cellularen und perinodularen Knaueln, d. h. in jenen faserigen
Umwicklungen, die
teils um veranderte
Spinalganglien¬
zellen, teils um die
Restknotchen i n
auffallend
groBer Zahl er-
scheinen (s. Abb. 1,
2, 3). De Castro ist
auf Grand seiner
umfassendenUnter-
suchungen der An-
sicht, daB die peri¬
cellularen Knauel in
normalen Spinal¬
ganglienzellen un-
gemein selten sind.
bzw. an gewissen
Stellen derselben
iiberhaupt nicht
vorkommen; ferner hebt dieser Autor hervor, daB in pathologischen
Fallen (Alkoholismus, Pottsche Krankheit usw.) diese Knauel eine ganz
besondere Entwicklung erfahren konnen; endlich stammen die Fasern
dieser Knauel entweder vom Achsenzylinder derselben Ganglienzelle
oder von einer fremden ab. Aus diesen Feststellungen diirfte zu folgern
sein, daB die pericellularen bzw. perinodularen Knauel keine sympa-
thischen Endaufrollungen darstellen, sondern neugebildete Faserein-
richtungen sind.
Diese Knauel treten in zwei Hauptformen auf, denn man sieht
solche aus drahtahnlichen starkeren bzw. aus feinen, ja feinsten, haar-
scharfen Fasern gebildet; natiirlich gibt es Gbergange zwischen diesen
zwei Extremen, wie man auch Mischformen sieht, d. h. Knauel, die
wohl iiberwiegend aus feinen Faserchen bestehen, jedoch untermischt
Abb. 1. Ganglienzellrest mit circularer Xeuronophagie.
Wohlausgebildeter pericellularer Knauel, der kalotten-
artig abgeschnitten ist. ZweiKnauelfasern bilden typische
solideEndkeulen, von welchen eineFaser einevolJeKreisli-
nie beschreibend, den Ganglienzellrest umf&Bt. Zu beach-
ten der Eintritt fremder Fasern in den pericellularen Knauel
(homoneuronaleKnauelfasern). Tay-Sachs. Fibrillenimpr.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Beitrage zur Histopathologie der Spinalganglienzellen.
321
1 bis 2 starkere Fasern enthalten, ferner wie man auch in einem drahtahn-
lichen Knauel noch immer einige sehr schwache Faserchen vorfindet. Im
allgemeinen fallt der starre Charakter der pericellularen Knauel auf, wo-
mit ausgedriickt sei, daB besonders die starke ren Fasern sich einem
Drahtgewinde ahnlich verhalten (s. Abb. 2). — Hervorzuheben ware
ferner, daB der Faserreichtum der einzelnen Knauel verschieden ist.
denn man findet neben fast unentwirrbaren, also an Fasertouren iiber-
reichen
Knaueln noch
auBerst faser-
arme. Als eine
sehr wichtige
Beobachtung
ware zu ver-
zeichnen, daB
die feinsten
Knauelf a-
sern stellen-
weise Bifur-
kationen
auf weisen
konnen, wo
dannansolchen
Stellen eine
konische Ver-
breiterung zu
sehen ist. —
Der Verlauf der
Fasern ist iiber-
wiegend ein pa-
ralleler, wobei
aber t)ber-
kreuzungen
vielfach vorkommen konnen (s. Abb. 2).
Beziiglich der Herkunft der Knauelfasern lieB sich folgendes feststel-
len. Wie dies aus Abb. 3 hervorgeht, konnen einem zirkular reduzierten
Zellkorper faserige Seitensprossen entspringen, die gleichmaBig fein und
tiefschwarz impragniert, ganz den Eindruck eines axonalen Fortsatzes
machen, und diese Natur des letzteren wird noch gesteigert durch dessen
interessantes Verhalten, das in dem pericellularen und welligen Verlauf
gegeben ist. Aus derselben Abbildung ist es ferner ersiehtlich, daB solche
kollateralartige Fasern auch dem Achsenzylinder entspringen konnen (s.
Abb. 3, 1), endlich bemerkt man eine Faser (Abb. 3, 3), die, sich teilend,
Abb. 2. Immersionsphotographie einer schwer entarteten
Ganglienzelle, die von einem derbfasrigen Knauel eingehiillt
ward; letzterer ist schief aquatorial abgeschnitten, daher
kommt nur die eine Hfilfte des Knfiuels zur Darstellung. Die
Ganglienzelle liegt im abgeschnittenen Knauel, wie eine Eichel
in der Schale. — Tay-Sachs. Fibrillenimpr.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
322
Karl Schaffer:
Digitized by
zwei pericellulare Fasern entstehen laBt. Sennit kann man die Beob-
achtungen, die an einer einzigen Spinalganglienzelle anzustellen sind,
in folgenden Punkten zusammenfassen: Die Knauelfasern nehmen ihren
Ursprung: 1. aus deni pathologischen Zellkorper, 2. aus dem Axon,
3. zeigen sie eine Vermehrung infolge Bifurkation. Alle diese pericellu¬
laren Fasern weisen als gemeinsames Merkmal den subkapsularen
Verlauf auf, d. h. sie umrahmen als geschlangelte Fasern innerhalb
der Ganglienzellkapsel die Ursprungszelle also zwischen Kapsel und
Spinalganglienzelle. Solche
Knauelfasern, weil sie die Ur¬
sprungszelle umwickeln, waren
als autoneuronale zu be-
zeichnen.
Nun gibt es Beobachtungen.
die darauf hinweisen, dali Knauel¬
fasern von benachbarten Ele-
menten herstammen, indent sie
als neugebildete Seitenaste eines
starken Achsenzylinders nahe zu
dessen Bifurkation entspringend,
zu einer fremden Spinalganglien¬
zelle ziehen, um in deren peri¬
cellularen Knauel einzutreten.
Das ist ein Beispiel fur die h o-
moneuronale Knauelfaser. So-
mit sind die pericellularen
Knauel pluricellularer Na-
tur.
Ein bemerkenswerter Um-
stand ist es, dali die pericellularen
Knauel sich um angegriffene bzw.
um bereits hochgradig veranderte
und redu zierteSpi na lganglienzellen u nd besonders umRestknotchen heru m
entwickeln, und somit ist es naheliegend, in den Knauelfasern abnorroe
Elemente zu erblicken, die mit dem pathologischen Zustand der Spinal-
ganglienzellen zusammenhangen. Somit laBt sich behaupten, daB die
Entwicklung der cellularen Verandentngen und die Ausbildung der
subcapsularen Faserknauel so ziemlich parallel gehende Erscheinun-
gen sind.
3. Die Endkeulen anlangend waren kurz folgende Momente her-
vorzuheben: Es finden sich im Parenchym des Spinalganglions auBerst
gewundene Fasern, die ihr neugebildetes Wesen einesteils durch ihre
Bifurkation, anderteils durch die den Faserenden aufsitzenden keulen-
Abb. 3. Spinalganglienzelle, deren Korper
durch zirkulare Neuronophagie (Ansamm-
lung von Satelliten) stark verniindert ist ;
das Tiefennetz dekomponiert. Man beachto
bei „A“ (axon) den feinen geschliingelten
Seitenzweig (1); den axonartigen Fortsatz
des Zellkorpers bei 2; endlich Itei 3 eine
Stammfaser, deren Ursprung hochstwahr-
scheinlich aus dem Zellkorper wohl nicht
sichtbar, doch ist deren Bifurkation seltr
bemerkenswert. Die sub 1, 2, 3 erwiilinten
feinen wellig verlaufenden Fiiserchen bilden
einen Kniiuel um denGanglienzellrest(auto-
neuronaler Knauel), der aber nur frag-
mentarisch zur Darstellung gelangt. Tay-
Sachs. Fibrillenimpr.
Gottgle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Beitrage zur Histopathologie der Spinalganglienzellen.
323
formigen Endanschwellungen dartuen (Abb. 4). Diese Endkeulen kon-
nen solid bzw. homogen, dann aber auch strukturiert erscheinen, und
es hat den Anschein, daB die groBten Endanschwellungen zugleich die
strukturierten, wahrend die kleinen die homogen-schwarzen Endkugel-
ehen sind. Es l>edarf keines eingehenden Nachweises, daB die struk¬
turierten Endkeulen infolge der hochstgradigen lokalen Bl&hung zu-
standekommen, wodurch namlich die fibrill&ren Elemente auseinander-
gedrangt werden; die Schwellung besorgt die lokale Massenzunahme des
Hyaloplasma. — Die mit Endkeulen versehenen Fasern dringen dann
in die Kapsel naheliegender Spinalganglienzellen ein und formieren
dann den pericellularen
Knauel.
Nachdem wir in ge-
drangter Kiirze die Ver¬
anderungen der Spinal-
ganglienzellen in Augen-
sehein nahmen, bleibt uns
deren Erklarung iibrig.
Es sei vorwegge-
nommen, daB die Nerven-
zellen der Spinalganglien
bei der infantil-familiaren
Idiotic so ziemlich jene
Veranderungen auf-
vveisen, die bei der ex-
jierimentellen Transplan¬
tation der Spinalganglien
des Kaninchens auftreten. Nageotte war der erste 4 ), der eine t)ber-
pflanzung unter die Haut des Ohres bei demselben Tier vornahm; das
versetzte Ganglion verwaehst schon am Ende des ersten Tages mit der
Umgebung, schwillt dann etwas an und Yvird rotlich und harter, nach
14 Tagen plattet sich das Gebilde ab, um sich sehlieBlich bis zur Un-
kenntlichkeit zu verlieren bzw. zu verkleinern. Die Veranderungen an
den Spinalganglien bestehen in den ersten Tagen 1. im iippigen Wachs-
tura neugebildeter Fortsatze, die am Zellkbrper der Ganglienzellen,
ferner am Glomerulus des Axons, endlich am extrakapsuliiren Axon
erscheinen. Beziiglich der Fortsatze an dem Zcllkorper kamen vor allem
monstrose Bildungen zu Gesicht; es sind dies machtige und zahlreiche
Vegetationen mit Verastelungen und knollenformigen Endbildungen,
die, von mehreren Punkten des Zelleibs als breite, plumpe Stamme
hervorsprossend, in einige wechselnd starke Aste sich teilen. Dann er-
seheinen sog. gelappte Zellformen, wie wenn der Zellkbrper in mehrere
lappenformige Segmente sich geteilt hlttte, dabei bleibt der Axon
Abb. 4. iS Stanimfaser, die zwischen den Nerven-
fa.sern des Parenchyms im Spinalganglion liegt;
sie setzt sich in die Faser S' fort, die eine mftchtige
strukturierte Endkeule aufweist. S entsendet
einen Seitenzweig (C), der mit einer soliden End¬
keule AbschluB findet. Zu beachten der gekriimmte
Verlauf des S' und C.-Tay-Sachs. Fibrillenimpr.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
324
Karl Schaffer:
Digitized by
ganz unverandert. Endlich kommen Ganglienzellen niit glatten, gleich-
kalibrigen und langen fortsatzahnlichen Auswiichsen vor, die von der
Ursprungszelle fernziehen, urn sich dann dichomotisch zu teilen, ganz
dem Typus der sympathischen Zellen entsprechend. — Hinsichtlich der
Glomerulusauswuch.se kommen Seitenaste aus dem Glomerulus zustande.
die a) diesen solenoidartig reichlich umwickeln (,,pelotons periglomeru-
laires“); b) den Glomerulus verlassend zu irgendwelcher benachbarten
abgestorbenen Ganglienzelle ziehen um an dessen Stelle, die durch das
Restknotchen eingenommen wird, eine reichliche terminate Verzwei-
gung ,,arborisation nodulaire“ zu bilden; c) solche Verzweigungen
konnen auch um benachbarte Ganglienzellen als pericellulare Umwiek-
lungen vorkommen und imitieren in dieser Form jene Normalbildung,
die als Dogielscher pericellularer Knauel bekannt ist. — Endlich die
Fasern, die dem extrakapsularen Teil des Axons entspringen, erscheinen
als feine Kollateralaste, die oft den Axon einfach begleiten und mit
Eindringen in die Kapsel der Spinalganglienzelle ihren AbschluB
finden.
Obiger Oberblick von Nageottes Befunden ergibt die Tatsache.
dab mit Ausnahme der periglomerularen Aufrollungen die iibrigen
Wucherungserscheinungen der transplantierten Spinalganglien, obschon
in maBigerer Form, bei der infantil-familiaren Idiotic vorkommen.
Hinsichtlich der Bedeutung dieser Wucherungserscheinungen, spe-
ziell der pericellularen und perinodularen Knauel hegte Nageotte 6 )
die Ansicht, daB es sich keineswegs um internepronale Artikulationen
handeln kann, wie dies fur die Dogielschen Korbe als sympathico-sen-
sitive Synapse besteht, denn die Restknotchen enthalten keine aktiven
Ganglienzellen mehr, und es ware noch zu erwagen, daB im Fall eines
autoneuronalen Knauels dieser keiner neuronalen Artikulation dienen
kann. Die Hypothese eines mechanischen Hindernisses, das die Fasern
im Verlassen der Kapsel hindernd diese formlich dazu zwingen wtirde,
sich um die Ganglienzelle zu wickeln, erschien Nageotte nicht im
mindesten plausibel. Hingegen neigte er zur Annahme, daB die ge-
wucherten Satelliten die faserigen Auswiichse auf Grund von chemo-
taktischer Wirkung anzogen. Indem er sich auf Cajals neuro-satel-
litare Symbiose stutzte, ferner auf die Hypothese von Holmgren, die
ein Netz von den Fortsatzen der Satelliten, das Trophospongium, an-
nahm, dessen Aufgabe der Transport von Nahrsubstanzen unmittelbar
in den Korper des nervosen Cytoplasma ware, gelangt Nageotte 6 ) zu
folgendem SchluB. Es erscheint als moglich, daB die perinodularen
Knauel solche Wurzeln darstellen, mit deren Hilfe gewisse Neuronen
ihr Nahrgebiet vergroBern, wozu sie die Satellitenanhaufungen Ih*-
niitzen, die infolge des Todes der Ganglienzelle zwecklos geworden sind.
Die pericellularen Knauel scheinen eine dem Trophospongium iihnliche
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Beitiage zur Histopathologie tier Spinalganglienzellen.
325
Rolle zu spielen, indem sie die Bcriihrungsoberflache zwischen dem
Neuron und seinen eigenen Satelliten vergroBert.
Meine eigene Auffassung weicht von jener Nageottes wesentlich
ab, schon aus dem Grund, weil ich die Rolle der Satelliten fur eine ganz
anders geartete erachte als der franzbsischeAutor. Wie ich dies in meinem
letzten, der Histopathologie der infantil-familiaren Idiotie gewidmeten
Aufsatz 6 ) ausfiihrte, besaBen die apolaren Gliaelemente (und als solche
sind auch die subkapsularen Satelliten der Spinalganglienzellen zu be-
trachten), im normalen Zustand keine erkennbare Funktion, im Gegen-
satz zu den normalen multipolaren Gliaelementen, die als Fixations-
und Nutritionselemente fungieren. Die Satelliten scheinen nur im Fall
der Erkrankung der Spinalganglienzellen aktiv zu werden, wo sie dann
eine histiolytische Tatigkeit auf Kosten der Ganglienzellen entfalten,
somit zum Bild der Neuronophagie fiihren. Die apolaren Elemente re-
prasentieren im Normalzustand der Spinalganglien nur Reserveele-
mente, Poliaks Bereitschaftszellen. Auf Grund dieser Betrachtungs-
weise ist den Satelliten keine nutritive Funktion zuzusehreiben, daher
kann man auch die pericellularen und perinodularen Knauel nicht
als Nutritionsorgane betrachten. Diese Knauelbildungen, sei es im
transplantierten Spinalganglion, sei es in jenem der infantil-familiaren
Idiotie, diirften Reizerscheinungen darstellen, wie solche eben in den
genannten Fallen gegeben sind. Ob die Produktion der Knauel das
Ergebnis einer regenerativen Tendenz sei, ist eine Frage fiir sich. Biel-
schowsky 7 ) ist der Ansicht, daft die Achsenzylinder der Purkinjeschen
Zellen bei der infantil-familiaren Idiotie Seitenaste mit Endkeulen vor-
treiben als Effekt einer ziellosen Regeneration; ich 6 ) betrachtete die
axonalen wie dendritischen Anschwellungen in denselben Fallen als
degenerative Erscheinungen, da doch das gesamte Nervensystem mit
all seinen nervosen wie gliosen Elementen in einer schweren und un-
aufhaltsamen Auflosung begriffen ist. In den Spinalganglien handelt
es sich mit Bezugnahme auf Nageottes experimentelle Untersuchungen
wohl um einen regenerativ orientierten Vorgang: nach meiner An-
schauung handelt es sich um eine krankhafte Reizung, um einen ProzeB,
der gleichzeitig pro- und regressiv ist, der einen FaseriiberschuB als
luxuriose Vegetationen scheinbar ohne Zweck und Ziel produziert.
Bei der Wertung dieser maBlosen Faserproduktion haben wir auf
Cajals Experimente 8 ) 9 ) zuriickzugreifen, die zeigten, daB in Fallen
von traumatischer Lasion so des zentralen wie des peripheren Nerven-
systems dieses mit lokalen Schwellungen des Neurons und mit Axon-
sprossungen reagiert. Wahrend aber die Peripherie lebensfahige Neu-
bildungen entstehen lalJt, neigen jene des Zentrums rasch zur Dege¬
neration. Das Spinalganglion verhalt sich wie die Periphe¬
rie; seine Nervenzellen reagieren auf traumatische Eingriffe (Cher-
Digitized by Goe)gle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
326
Karl Schaffer:
Digitized by
pflanzung) oder auf anderc schadigende Eingriffe mit Vegetationen,
deren Gestaltung von lokalen Verh<nissen abhangt. Die axonalen
Kollateralen nehmen einen recht geschlangelten Verlauf, wobei sie sicb
eben den sehr variablen Spalten und Lucken des Ganglienparenchyms
fiigen; gelangen diese dann zu einer Kapsel, so durchdringen sie diese
mit einer Leichtigkeit und rollen sich nun subkapsular auf. Diese Auf-
rollung wird dadurch bedingt, daB die eindringende und formlich tastend
vordringende Faser sich in einer spharischen Spalte befindet, die eines-
teils durch die konkave Innenflache der Zellkapsel, andernteils durch
die konvexe Oberflache der Ganglienzelle bzw. des Restknotchens
bedingt wird (s. Abb 1). Diese spharische Spalte scheint zur Aufrollung
neugebildeter Nervenfasern wie geschaffen zu sein, und tatsachlich be-
obachtet man die Knauel immer nur innerhalb der Ganglienzell-
kapsel. Wie sehr sich das Spinalganglion bei traumatischen Eingriffen
dem peripheren Nervensystem gleich verhalt, geht nebst der relativ
iippigen Faserneubildung noch aus den pericellularen und periuodu-
laren Knaueln hervor, die entschieden an die Perroncitoschen Spi-
ralen erinnern. Letztere sind ebenso GberschuBbildungen wie die spi-
raligen Aufrollungen um kranke Ganglienzellen, bzw. um Restknotchen;
die spiralige Beschaffenheit der neugebildeten Fasern wird, wie soeben
dargetan, durch lokale Verhaltnisse in der Ausbreitungsmoglichkeit
bedingt. Dabei ware noch zu erwagen, ob die neugebildeten Fasern
nicht etwa durch die neurotropische Wirkung der proliferierten Satel-
liten ,,herangelockt“ werden, welche Wirkung als chemotaktische man
seitens der Schwannschen Zellen auf die zentral herauswachsenden
Achsenzylinder annimmt; mit dieser Vorstellung gewannen wir eine
Erklarung fiir die Tatsache, daB die extrakapsular entsprungenen
Axonen insgesamt dazu tendieren, sich intrakapsular auszubreiten und
daselbst die spiraligen Faserwindungen zu bilden.
Zur richtigen Beurteilung und Auffassung der reaktiven Verande-
rungen des Nervensystems so an der Peripherie wie im Zentruni im
Falle von Lasionen waren folgende Momente zu vergegenwartigen.
Vor allem ist die Tatsache bemerkenswert, daB seitens des Neu¬
rons Faserbildungen mit kugeligen Endigungen sich an beiden Stellen
zeigen, somit erscheint vom morphologischen Standpunkt weder bier
noch dort eine Differenz. Allerdings diirften an der Peripherie die Neu-
bildungen durch ihre iiberwaltigenden Massen auffallen gegen jene im
Zentrum, die verhaltnismaBig bescheidener sind. Eine Differenz er-
gibt sich doch in einem Punkt: an der Peripherie kann es zu einer
Leitungsherstellung kommen, in welchem Fall also das ladierte Neuron
als regeneriert betrachtet wird, wahrend im Zentrum eine Restitution
nie erreicht wird. Warum? Die richtige Antwort gab m. E. zuerst
Bielschowskv, der darauf wies, daB im Zentrum jene plasmatischen
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Beitrage zur Histopathologie der Spinalganglienzellen.
327
Streifenstrukturen fehlen, die, an der Peripherie durch die Schwann-
schen Zellen gebildet, dazu dienen, urn die faserigen Bildungen vor-
dringen bzw. bis zum Endpunkt der Peripherie vorwachsen zu lassen.
Somit erscheinen die Biingnerschen Streifen als jenes Material, dessen
Gegenwart bzw. Abwesenheit das Phanomen der ,,Regeneration” be-
dingt und ermoglicht, bzw. unmoglich macht; die sog. Sprossungen des
Neurons sind nur reaktive Erscheinungen, die zu regenerativen allein
vermoge der plasmatischen Streifen werden. Und da letztere allein an
der Peripherie vorkommen, kann es eine Regeneration nur hier geben
und niemals im Zentrum; hier verfallen die reaktiven Bildungen als-
bald dem Untergang, sie degenerieren. Somit ist die Bedingung und
die Moglichkeit einer Regeneration allein an der Peripherie ge-
geben.
Nach obigem hatten wir zwischen zwei Erscheinungen im Fall
von Neuronverletzung genau zu unterscheiden. Vor allem die generelle
Neuroneigenschaft der Reaktion, die in lokalen Schwellungen so im
Verlauf wie am Ende des Axons bestehen, nebst Faserbildungen als
Kollateralen (wie im Spinalganglion bei Tay-Sachs) oder als Spal-
tungen (an der Peripherie im zentralen Axonstumpf); diese Bildungen
zeigen die Tendenz zum UbermaB, daher rollen sie sich gern auf, wo
dies die lokalen Verhaltnisse eben ermoglichen (Perroncitosche Spi-
ralen, subkapsulare Knauel). — Dann die Existenzbedingung
der Neubildungen, die auf Grund der Biingnerschen Streifen an der
Peripherie gegeben ist, im Zentrum aber infolge mangelnder Streifen¬
strukturen fehlt.
In diesem Sinn ware den faserigen Neubildungen keine regenerative
Tendenz zu unterschieben; das Neuron reagiert ebcn mit Schwellungen
und Faserauswiichsen bei Verletzungen; es ist dies eine allgemeine
Eigenschaft des Neurons, das noch keineswegs eine Regeneration be-
deutet. Erst bei gegebener Existenzbedingung dieser Bildungen
bleiben diese erhalten und werden zu brauchbaren Leitstrukturen
ausgebildet; mangelt diese Bedingung, wie eben im Zentrum, so unter-
gehen diese Neubildungen. Wie sehr man diese Neubildungen a priori
nicht als AusfluB einer regenerativen Tendenz betrachten kann, erhellt.
aus der morphologischen Identitat der sog. regenerativen und degene-
rativen Reaktionen des Neurons, vermoge der man oft nicht in der Lage
ist zu bestimmen, was progressiv und was regressiv zu deuten ist. Da¬
her sind ,,Sprossungsphanomene“ nicht eo ipso Regenerationserschei-
nungen; sie werden erst zu solchen vermoge der als Gleitbahnen die-
nenden plasmatischen Streifen. Und so ware m. E. imrner unprajudi-
zierlich von reaktiven Phanomen des Neurons zu sprechen, die von
Haus aus von pro- und regressiver Befahigung sind.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
328
Karl Schaffer:
Digitized by
Zu sain menf assu ng.
Die Spinalganglien weisen bei der infantil-familiaren Idiotie zweier-
lei Phanomene auf: einesteils die fortschreitende Verminderung des
ganglionaren Zellkorpers durch die proliferierenden Satelliten (Neurono-
phagie), andernteils die progressiven Sprossungen, so des Ganglienzell-
korpers wie des Axons. Die Ganglienzellen, als das Angriffsobjekt des
heredodegenerativen Prozesses, offnen den Reigen der Veranderungen,
und diese — in deni Zerfall des Tiefennetzes bei ziemlicher Verscho-
nung des Oberflachennetzes bestehend — werden gefolgt durch die
histiolytische Tatigkeit der Satelliten. Der pathologische Reiz pro-
duziert nun seitens der Ganglienzellen und Achsenzylinder die Erschei-
nung der pericellularen und perinodularen Knauel. Der Ganglienzell-
korper entsendet feine und zahlreiche Fortsatze, die ura die Ursprungs-
zelle geschlangelt verlaufen und bilden einen lockeren, subkapsularen
Knauel aus feinen Faserchen. Der Achsenzylinder partizipiert in diesera
Fall ebenfalls an der Bildung des pericellularen Knauels, wo dann dieser
unraittelbar nach seinem Ursprung subkapsular Kollateralaste aus sich
entstehen laBt. Doch entspringen dem Axon auch extrakapsulare Seiten-
aste, die, mit ihren Endkeulen auf Ganglienzellen stoBend, deren Kapsel
durchdringen und nun im bogenfdrinigen Verlauf die Ganglienzelle bzw.
deren Rest umwickeln, wodurch sie einen Knauel von zumeist star-
keren Fasern bilden. Diese aufrollenden, manchmal wirklich solenoid-
artig sich um die Ganglienzelle windenden Fasern scheinen progressiv
starker werden zu konnen, womit auch der Knauel zunehmend koni-
plizierter, d. h. aus reicheren Windungen bestehend wird. Es gibt also
jiingere und altere Knauel: erstere sind arm an Touren und werden
von schwachen Fasern gebildet, letztere erscheinen in Form fast un-
entwirrbarer Aufrollungen als starkere Fasern. Dieses Wachstum von
Windungsfasern gibt sich aber nicht allein durch die zunehmende
Starke, also durch das Kaliberwachstura, sondern auch durch Ver-
mehrung von Fasern auf Grund vr>n Bifurkation kund. Somit sind die
pericellularen Knauel bei der infantil-familiaren Idiotie neugebildete
Fasereinrichtungen, die als luxuriose Vegetationen das Produkt eines
pathologischen Reizes darstellen. Es sei betont, daB fiir die patholo-
gischen Knauel der Spinalganglien deren subkapsularer Verlauf
gegen den extrakapsularen der normalen Knauelbildungen cha-
rakteristisch ist. Letztere sind teils varikos-sympathische also marklose,
endbaumchenformige Verastelungen um den Zellkorper herum, teils
extrakapsulare Umwickelungen einfacherer oder komplizierterer Art-
seitens markhaltiger Nervenfasern, die einen korkartigen Knauel um
die Spinalganglienzelle (Dogiels Korbe) bilden, deren Ursprung bislang
unbekannt ist.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Beitrage zur Histopathologie der Spinalganglienzellen. 329
Llteratur.
l ) Castro, de Fernando: Estudio sobre los ganglios sensitivos del hombre
en eatado normal y pathologico. Trabajos etc. 19, 4. 1922. — 2 ) Frey. Ernst:
Zur Histopathologie der infantilen Form der familiar-amaurotischen Idiotie (Typus
Tay-Sachs-Schaffer). Virchows Arch. f. pathol. Anat. u. Physiol. 218. 1913. —
3 ) Cajal, S. R.: Systeme Nerveux. — 4 ) Nageotte, Jean: Recherches experi-
mentales sur la morphologie des cellules et des fibres des ganglions rachidiens.
Rev. neurol. N. 8. 1907. — 5 ) Idem: Etude sur la greffe des ganglions rachidiens;
variations et tropismes du neurone sensitif. Anatom. Anz. 39, 9, 10. 1907. —
6 ) Schaffer, Karl: Tatsachliches und Hypothetisches aus der Histopathologie
der infantil-amaurotischen Idiotie. Arch. f. Psychiatr. u. Nervenkrankh. 64, 5.
1922. -— 7 ) Bielschowskv, Max: Zur Histopathologie und Pathogenese der
amaurotisclien Idiotie usw. Joum. f. Psychol, u. Neurol. 26. 1920. — 8 ) Cajal.
S. R.: Les metamorphoses precoces des neurofibrilles dans la regeneration et la
degeneration des nerfs. Trabajos etc. 5. 1907. — 9 ) Idem: Note sur la degenerescence
traumatiques des fibres nerveuses du cervelet et du cerveau. Trabajos etc.
o. 1907.
Arcliiv (Ur Psychiatrie. Bd. 67.
22
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Digitized by
(Aus deni hirnhistologischen imd interakademischen Hirnforschungsinstitut
der k. ung. Qniversitiit zu Budapest [Direktor: Prof. Karl Schaffer].)
Zur Markscheideiientwicklung des Rautenhirns.
Von
Dr. Desiderius Miskolczy.
Assistenten des Instituts.
Mit 4 Textabbildungen.
(Eingegangen am 4. September 1922.)
Folgende Ausfiihrungen schlieBen sich den Untersuchungen Hoe-
sels 1 ) liber die Myelogenese des Rhombencephalons an, und da er die
ersten Markspuren des Rautenhirns verfolgend die Zunahme der Mark-
scheidenentwicklung bei 4-, 5- und 6 monatigen Foeten beschrieb, konnen
diese meine Schilderungen als Fortsetzung seiner Studien betrachtet
werden. Mein Untersuchungsmaterial bildeten namlich Foeten aus der
zweiten Halfte des intrauterinen Lebens, und zwar:
1. Ein 38 cm langer Foetus aus dem VII. Monat,
2. ,, 40 ,, ,, „ ,, ,, VIII. ,,
3 44 VIII
9J. yy TT , , y, yy yy yy » J-O-i. ,,
4. ,, 46 ,, ,, ,, ,, ,, IX. m
Da eine liickenlose Darstellung der Myelogenese des Rauten¬
hirns aus der zweiten Halfte des intrauterinen Lebens bisher noch aus-
stand, glaube ich diesen Mangel durch meine Befunde behoben zu
haben.
Das Rhombencephalon bietet ein sehr wechselvolles Bild fiir das
Auge des Untersuchers aus mehrfachen Griinden:
1. Es besteht aus phylo- und ontogenetisch sehr verschiedenwerti-
gen Teilen.
2. Es ist der Durchzugsort der den verschiedensten Hohen und
Tiefen entspringenden afferenten und efferenten Bahnen, die selbst den
Gesetzen der Phylo- und Ontogenese unterworfen sind.
3. In ihm endigen bzw. entspringen die meisten Gehirnnerven. —
t) Hoesel, Otto: Beitrftge zur Markscheidenbildung imGehim und in der
Medulla oblongata des Menschen. Monatsschr. f. Psychiatr. u. Neurol. 6. 1899
und 7, 1900.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Desiderius Miskolczy: Zur Markscheidenentwicklung des Rautenhims. 331
Daraus folgt, daB in diesem entwicklungsgeschichtlich gut abgrenzbaren
Organ, das in sich die Briicke, das verlangerte Mark und das Kleinhirn
vereinigt, mit Haematoxylin tiefblau gefarbte markhaltige Systeme an
vollkommen marklose Felder grenzen konnen, u. z. gemaB der zeit-
lich differenten Myelogenese dieser verschiedenwertigen Bahnen,
Meine Aufmerksamkeit erregten folgende Fragen:
1. Welche Schliisse lassen sich fur die normale Phylo- und Onto-
genese gewinnen? 2. Was fur eine Reihenfolge laBt sich in der Um-
markung einzelner Bahnen bzw. Markscheidengruppen bestimmen?
3. Welche Vergleiche konnen zwischen normaler Ontogenese und ge-
wissen degenerativen Veranderungen angestellt werden?
Die Beobachtung jiingerer, aus der ersten Halfte des intrauterinen
Lebens stammenden Entwicklungsstufen liiBt eine sehr genaue Ab-
grenzung zwischen den ontogenetisch verschiedenwertigen Teilen, so
ini Pons wie ira Cerebellum durchfiihren. Niro Masuda 1 ) teilt zu
diesem Zwecke die Entwicklung der Briicke in fiinf Entwicklungsab-
schnitte ein. Er fand namlich die erste deutliche Anlage der Briicke bzw.
des Pars basilaris pontis beim 4 cm langen, zw-eimonatigen Foetus. In
dieser ersten Phase der Briickengestaltung kann man ventral von der
schon machtig angelegten Haubenetage die erste Briickenanlage nur
als ein schmales, spindelformiges Feld erkennen (Masudas ,,primitives
Briickengrau“).
In der zweiten Phase (3 J / 2 bis 4monatige Foeten) ist die Briicke
ira Verhaltnis zur Haube noch immer „dorsoventral abgespalten und
eiformig“. In diesem Zeitalter erscheinen die ersten deutlichen Nerven-
fibrillen. Erst wahrend der 3. Phase (6. bis 7. Foetalmonat) kommt es
zur kraftigeren Gliederung auch in dem ventralen Briickenfelde, so daB
am Ende dieser Periode die allmahliche Annaherung an das endgiiltige
GroBenverhaltnis zwischen FuB und Haube immer mehr und mehr zu-
tage tritt. In dieser Phase w’eist der BriickenfuB die ersten Markfasern
auf, wohingegen in der Haube schon von der zweiten Stufe an eine fort-
schreitende Zunahme an Markfasern beobachtet w r erden konnte.
In der vierten Phase nimmt der Umfang der Briicke immer noch
zu, und zwar zugunsten des BriickenfuBes. Diese Phase umfaBt die 8.
bis 9. Foetalmonate und die ersten Lebensw'ochen des Sauglings. —
Die immer deutlicher sich fortsetzende Formausbildung bzw. Mark-
entwicklung findet erst in der 5. Phase ihren vorlaufigen AbschluB bei
3 monatigen bis 2jahrigen Kindern.
Aus dieser kurz geschilderten Einteilung erhellt, daB die onto-
genetischen Verhiiltnisse der Briicke sehr leicht mit den phylogenetischen
i) Masuda, Niro: t)ber das Briickengrau des Menschen. Arlr. a. d. hirnanut.
Inst, in Zurich. H. IX. Wiesbaden 1914.
22 *
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Digitized by
332 Desiderius Miskolczy:
Ergebnissen in Einklang gebracht werden konnen. Die erste Phase der
Entwicklung erinnert sehr an Formverhaltnisse niederer Sauger, so dalJ
die Edingersche Einteilung zwischen palaeo- und neoencephalen An-
U'ilen des Gehirns aueh im Rhombencephalon mit vollem Recht durch-
gefiihrt werden kann.
Vor der Beschreibung meiner Befunde sehe ich mieh genotigt,
einc Zusammenfassung der Ergebnis.se Hoesels zu geben, denn nur auf
diese Weise konnen meine von der Untersuchung spaterer Entwick-
Inngsstufen gewonnenen Daten mit seinen von jiingeren Fruchten stain-
menden Resultaten verglichen und so die Liickenlosigkeit in der Dar-
stellung erreicht werden.
Die ersten markhaltigen Fasern in der Medulla oblongata zeigen
sich erst bei 4monatigen Fruchten, und zwar im Gebiete des vorderen
Grundbiindels. Diese verlieren sich in der Gegend des Hypoglossus-
kerns. Sonst sind nur die austretenden Wurzelfasern des N. XII schwach
markhaltig.
Im 5. Monat sendet das vordere Gnindbiindel bzw. der aus ihm sich
entwickelnde Fasc. long. med. schon zu den Kernen der Augenmuskeln
markhaltige Fasern; im Seitenstrang gibt nur das Seitenstranggrund-
biindel und der Tr. spinocerebellaris dors, gute Markscheidenfarbung.
Das Seitenstranggrundbiindel gliedert sich in seinem spateren Verlauf
folgendermaBen: einerseits sendet er einen raphealen . Teil zum N.
centralis, anderseits verlieren sich seine ungekreuzten, diesseits der
Raphe bleibendenFasern in drei Biindelchen gespalten im l.Nucl. reti¬
cularis tegmenti, 2. im N. Deiters, und im vorderen Seitenstrangkern. —
lm Hinterstrange sind markhaltig: 1. Die im Gollschen Kern endigen-
den Fasern, sowie das erste System der mittleren Wurzelzone Flech-
sigs, 2. von den beiden Abteilungen des Burdachschen Kerns weisen
nur Flechsigs vordere Wurzelzone, das zweite System der mittleren
Wurzelzone und der lateraleTeil der medialen Wurzelzone einen Mark-
besitz auf. Markhaltig sind noch: Beginn der Schleifenkreuzung, die
aus der vorderen medialen Kerngruppc stammenden Fasern des Vorder-
horns und Fasern, die von der hinteren Wurzel zur Clarkeschen Saule
ziehen, ferner der N. XI und XII vom letzteren diejenigen Fasern, die
aus dem ventralen Abschnitt des Hypoglossuskerns stammen. Vom
N. IX und X sind die Fasc. solitarius und Fasern aus dem dorsalen
Vaguskerne markhaltig; ebenso verhalten sich jene Markfaden des
vestibularen Anteils des N. VIII, die zum Nucl. Deiters und von dort
zur Raphe ziehen. Markhaltig fand Hoesel bei omonatiger Frucht
noch den aufsteigenden Schenkel, das Knie, den absteigenden Schenkel,
die raphealen und Wurzelfasern des N. VII, sowie die Raphe- und Wurzel¬
fasern des N. VI. — Es erscheinen in der aufsteigenden Wurzel des N. V
die ersten Anfange der Markscheidenbildung, markhaltig sind die sen-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Zur Markscheidenentwicklung des Rautenhirns.
333
sibJen, motorischen sowie diegekreuzten Wureelfasern. Voile Uni markung
zeigen die Fasern, die vom Trochleariskern und vom zentralen und late-
ralen Oculomotoriuskern stammen. Endlich wurden der Stiel der oberen
Olive und die von der oberen Olive zur Raphe ziehenden Fasern, die
die ersten Spurendes Corpus trapezoides darstellen, markhaltig gefunden.
Im sechsten Monat bereichert sieh folgendermalJen dieser Mark-
gehalt:
Der Fasc. long. med. gewinnt einen Zuwachs durch den aus deni
Kerngebiet des N. trigeminus und N. vestibularis stammenden, sowie
vom N. retie, lat. zum Vestibular kern ziehenden Fasern. Der Mark-
gehalt des Seitenstranges wird mit den ersten Fasern des Gowersschen
Biindels und den ersten Ansatzen der seitliehen Grenzschicht ergiinzt.
Die vordere Wurzel bekommt schon aus der vorderen und hinteren seit¬
liehen Kerngmppe Markfasern und im Hinterhorn erscheinen die Re-
flcxkollateralen. Der Hypoglossuskerti schickt schon auch zur Raphe
einige Fasern und seine Wurzelfasern werden durch solche aus dem
dorsomedialen Abschnitte kommenden ergiinzt; so bereichert sieh der
N. IX und X mit Fasern, die aus dem Nuel. ambiguus stammen. Nur
im 6. Monat gelangen zuerst jene Fasern des Ramus cochlearis N. VIII
zur Darstellung, die mit der medialen Halfte des vorderen Acusticus-
kerns im Zusammenhang sind; zu gleicher Zeit wird die Kleinhirn-
wurzel des Vestibularastes markhaltig. Es zeigen sieh ferner Anfange
der Markbildung. in der absteigenden Trigeminuswurzel. Der Trapez-
korper wird durch Fasern, die aus dem ventralen Acusticuskern stam-
men, vermehrt, und gleichzeitig stellen sieh die ersten Markfasern der
lateralen Schleife ein. In diesem Alter konnte endlich Hoesel zwisehen
den unteren Oliven commissurale Fasern beobaehten.
Nun sollen meine Befunde aufgeziihlt werden.
Das Markreifungsbild des 38 cm langen Foetus gestaltet sieh
folgendermaSen:
Der Burdachsche Strang weist den dichtesten Markgehalt auf,
das Vorder- und Seitenstranggrundbiindel sowie die hintere Klein-
hirnseitenstrangbahn wetteifern mit ihm betreffs Farbenton und Dich-
tigkeit; viel blasser ist schon die Farbung der im Gebiet des Gollschen
Stranges sieh befindenden Fasermasse, und die Fasern der absteigenden
Trigeminuswurzel zeigen nur cine schwache Tinktion. Der Burdach-
sehe Strang scheint seine endgiiltige Diehtigkeit schon beinahe erreicht
zu haben, in seinem Kern erscheint in nestartiger Anordnung sein aus
feinen Fasern bestehendes Fasergeflecht.
Im Gollschcn Strang findet man in viel beseheidenerer Anzahl die
schwacher gefarbten Faserquerschnitte, w'obei im Kern das Mark-
geflecht sieh auch sehr gering und unvollkommen zeigt. Vollstandig
marklos ist die Substantia gelat. cent., ebenso findet.man keine weilJe
Digitized by Goeigle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
334
Desiderius Miskolczy:
Digitized by
Commissur. Auch die Fasern der absteigenden Trigeminuswurzel sind
sp&rlich und blaC gefarbt, die ihr sich anschmiegende Subst. gelat. Ro¬
lando wird von etlichen Radiarfasern durchzogen. Medial von ihr, an
der Stelle, die dein Hinterbornhalse entspricht, ist ein femes blasses
Fasernetz und darin die schwach gef&rbten Bundelchen der Fibrae
concomitantes trigemini zu sehen.
Im Seitenstrang heben sich die quergeschnittenen und sich auf die
AuBenflache der absteigenden Trigeminuswurzel verschiebenden Fasern
der Flechsigschen Bahn lebhaft vom Gebiete der Subst. retie, lat. ab,
wo die blassen Faserquerschnitte sparlich zerstreut liegen. Der Seiten¬
strang wird auBen von einem schmalen tiefblauen Marksaum umrandet,
zwischen ihm und dem gesattigt gefarbten Seitenstranggrundbiindel er-
scheint ein markarmer Streifen, der mit Querschnitten gut gefarbter
Markscheiden sparlich besat ist.
Im Vorderhorn ist schon eine nestformige Faseranordnung zu be-
obachten, die aber noch von der Vollendung weit entfernt ist; die vor-
deren Wurzeln sind tiefblau gefarbt, ebenso weist das vordere Grand -
biindel einen tiefblauen Farbenton auf.
In dem sich kreuzenden Pyramidenbiindel sowie im Felde der un-
gekreuzten Pyramide findet sich keine einzige quergeschnittene Mark-
scheide. Wohl erbliekt man im ungekreuzten Biindel querverlaufende,
offers sich schlangelnde feine Faserchen, diese stammen aber von der
ventralen weiBen Commissur, bzw. vom Vorderstranggrundbundel, wenn
sie nicht vom Vorderhorngebiet auf die andere Seite himiberstreben.
Es drangen sich auch zwischen die gekreuzten Pyramiden solche Faser-
ehen durch, die teils vom Vorderhorn, toils vom Burdachschen
Kern ihren Ursprung nehmen. Einige setzen ihren Weg nach Umkreisen
der einzelnen marklosen Bundelchen fort, um damit die Marklosigkeit
der Py-Bahn noch scharfer hervorzuheben.
Der Ease, cornu anterioris (Ziehen) ist gut abgrenzbar und hin-
langlieh bemarkt.
Auf hoheren Querschnitten erscheinen die Fibrae arcuatae internae,
die hauj)tsachlich aus dem Burdachschen Kern stammen; der
Gollsche Kern sendet solche entsprechend seiner unvollstandigen Mark-
reife nur in sehr bescheidener Anzahl.
In diesem Alter erscheinen die ersten auBeren ventralen
Bogenfasern, die aber nur bis an den Burdachschen Kern heran-
reichen, hintere auBere Bogenfasern sind noch nicht markreif. Die inne-
ren Bogenfasern sammeln sich im Areal des Lemniscus medialis, ohne
aber die vollstandige Dichtigkeit erreicht zu haben (s. Abb. 1). Eine
andere Gruppe dieser Fasern folgt nach Cberschreiten der Mittellinie
folgende Wege:
1. Es sind Fasern, die in der Regel bis zur Fissura medians ant.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Zur Markscheidenentwicklung des Rautenhirns.
335
hinabgleitend die Py. als Pi brae circumpyramidales von au Ben uin-
saumen. 2. Fibrae intrapyramidales, die ihren Weg im marklosen
Py-Feld fortsetzen. 3. Der groBte Teil der inneren Bogenfasern aber be-
nimrat sich so, daB sie am dorsalen Rand der Py auf die Oberflache
des verlangerten Marks streben, wobei manche Fasern den Nucleus oli-
varis accessorius medialis als Fibrae chordales (Ziehen) durchsetzen.
Diese ventralen auBeren Bogenfasern schlieBen sich dem Strickkorper
an. Anfangs konnen noch die zarteren langs- oder schragverlaufenden
Fasern von den quergeschnittenen der Flechsigschen Bahn unter-
schieden werden, spater aber vermengen sich diese Fasern miteinander.
Der Nucleus reticularis lateralis und Nucl. arcuatus entsendet keine
markhaltigen Bogenfasern. Der Tractus solitarius ist geniigend mark-
haltig.
Das zarte Kerngeflecht des Nucl. ambiguus hebt sich schon hervor
von der fast marklosen Umgebung der Substantia reticularis grisea.
Einige Ambiguusfasern konnen auch in die Raphe verfolgt werden.
Die untere Olive ist beim 38 cm langen Foetus vollkommen mark-
los (Abb. 1), sie entbehrt eines jeden eigenen markhaltigen Fasersyste-
mes, die zwischen seinen dorsalen Lamellen erscheinenden schwachen
Faserchen miissen als von andersher durchziehende fremde Fasern be-
trachtet werden, es sind dies ebenfalls innere Bogenfasern, die ihren
Weg durch die Olivenblatter nehmend zur AuBenflache streben.
Die Substantia reticularis grisea ist nicht vollkommen marklos.
Es kann eine Anreicherung ihrer Faserquerschnitte an folgenden
Stellen beobachtet werden: 1. Es lehnt sich an den Fasciculus longitudi-
nalis medialis ein mit schwach gefarbten Fasern sparlich besates Feld
an, das sich vom sonst markarmen seitlichen retikulierten Feld gut
abhebt: die Area acclinis (Ziehen). 2. Einwarts von der Gowers-
schen Bahn an der dorsalen Fliiche der unteren Olive: die dorsoolivaren
Fasern Hoesels.
Die Raphe zeigt sich am besten in der Hohe der Fasciculi longitudi-
nales mediales bemarkt. Weiter ventral wird dieses Geflecht immer ar-
mer, um in der Hohe der Oliven eine Bereicherung zu erfahren. Man
sieht zwar eine sehr schwache interolivare Faserung auch vertreten,
aber diese entspricht noch durchaus nicht der Fasermenge der vollstan-
digen Ausbildung, es zeigt sich hingegen, daB die beiden Lemnisci me¬
diales von parallelen marklosen Spalten mehrfach durchfurcht werden,
und diese Gliederung ist eben durch die Unreife der Fibrae inter-
olivares bedingt.
Die thalamoolivare Bahn ist marklos.
Der Strickkorper enthalt nur die friihmarkreifen Fasern der
Flechsigschen Bahn und die Fibrae arcuatae ext. ventr. aus den gegen-
seitigen Hinterstrangkernen. Durch die Marklosigkeit der olivocerebel-
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
336
Desiderius Miskolczy:
Digitized by
laren Balm, die als ein spatmarkreifender Bestandteil des Strickkorpers
zu betrachten ist, erblickt man diese friihmarkreifen Svsterue zuerst
ganz lateral an der Oberflache ein halbmondformiges seitliches Feld
vom Gebiet des Corpus restiforme (C R) einnehmend. Das mediale
marklose Feld ist die Anlagerungsstatte der olivocerebellaren Bahn,
deren Fasern als Fibrae prae-, trails- und retrotrigeminales ihren Weg
durch die Substantia reticularis lat. und Radix dcscendens N. V nehmen.
Abb. 1. 38 cm langer Foetus. Pyramidenbahn (Py) und Oliva inferior
(Oi) marklos. Der Verlauf der von der Olive stammenden olivocerebellaren Bahn
(Oc am = Tractus olivocerebellaris amyelinicus) wird durch marklose Streifen
vorgezeichnet. Der markbaltige Teil des Corpus restiforme (CR myelinicum)
enthalt auBer der Flechsigschen Bahn noch die Fibrae arcuatae ext. vent (Faev)
das Corpus restif. amyelinicum (CRam), wird hauptsaclilich vom Ocani gebildet,
und wird links durch einen vom CRm medial liegenden, rechts von einem das
CRm umzingelnden markleeren Rauni vertreten (CRam). Die Gehirmierven, und
zwar N. hypoglossus (XII), Vagus (Xs, Xrn, Ts — Tractus solitarius), Tractus
vestibularis descendens (17// vd). Radix trigemini descendens ( Vd), und Tractus
desc. nervi intermedii (Ni) sind geniigend bemarkt. In der Flocke (FI) angehende
Myelogenese. In der Substantia reticularis lat. (Sri) sparliche Markfaserbildung,
nur die Area acclinis (Art) bereichert sich allmahlich an Markscheiden.
Da diese Fasern erst im spateren Alter ihre Umhiillung erlangen, sind
ihre Verlaufswege an den Oblongataquerschnitten iiberall als freigelassene
marklose Streifen vorgezeichnet (s. Abb. 1).
An hoheren Querschnitten in der Hohe des VIII. Gehirnnerven
(wie auch an der Abb. 1 rechts ersichtlich, wo durch die schiefe Ein-
stellung die rechte Halfte des Praparates etwas weiter frontal liegt)
nehmen die friiher reifenden Fasern des C. R. eine zentrale Lage ein,
so dali dieses Biindel wie von einem marklosen Hof eingesaumt er-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Zur Markscheidenentwicklung des Rautenhirns.
337
scheint. Dieses anfangs mediale Areal ist von feinen zartesten Faser-
chen durchwoben, ob aber diese verspatete innere Bogenfasern oder
nucleocerebellare Fasern sind, entzieht sich der weiteren Beurteilung.
In der Substantia reticularis alba erbiickt man zwischen dem Fas¬
ciculus longitudinalis med. und Lemniscus med. die praedorsalen Bun-
delfasern, die sich fortschreitend ummarken, ohne dab man eine weitere
Gliederung im Entwicklungsvorgang beobachten konnte.
Der Fasciculus longitudinalis dorsalis (Schiitz) ist nicht mark-
haltig.
In der Markleiste der Flocke erscheinen schon schwach gefarbte
Fasern, diese horen aber noch vor der Erreichung der Lamina granu-
laris interna auf. Der Flockenstiel ist auch unvollstandig bemarkt.
Die Gehirnnerven sind alle geniigend markreich, es kann sogar der
N. intermedius Wrisbergii als ein von der absteigenden Vestibularis-
wurzel lateralwarts gelegenes rundes Biindelchen unterschieden werden.
Die Fibrae concomitantes trigemini erhalten ihrc Markscheiden
mit der absteigenden Trigeminuswurzel anscheinend zu gleicher Zeit.
Im Nucl. triangularis ist das Fasergefleclit noch unentwickelt. Die
Biindelchen der absteigenden Vestibulariswurzel, die beim Erwachse-
nen in ein dichtes Fasergewirr eingebettet verlaufen, stehen noch beinahe
frei, zwischen ihnen sich kreuzende Lichtungen freilassend.
Der ventrale Cochleariskern weist einen dichten Markgehalt gegen
den dorsalen Cochleariskern auf, auch die Bodenstriae fehlen noch.
Man kann Cochlearisfasern beobachten, the zum C. R, andere, die zum
Tuberculum acusticum und solche, die zur Mittellinie streben.
An Schnitten, die vom Briickengebiet stammen, findet man den
BriickenfuB und Briickenarm vollkommen markleer. Nur die Briicken-
haube enthalt markgefarbte Fasern in der schon geschilderten Anord-
nung. Trigeminus, Facialis, Abducens verhalten sich wie bei Hoesels
Entwicklungsphasen. Die gut gefarbten Fasern des ventralen Cochle-
ariskerns stromen in den Trapezkbrper und hauptsachlich in die oben-
01 ive, deren Stiel schon bei jiingeren Foeten gut bemarkt gefunden
wurde. Um die obere Olive legen sich die Faserbiindel des Lemniscus
lateralis.
Man findet im BriickenfuB auch keine Fibrae rectae markhaltig.
Im Stratum profundum hingegen erbiickt man aber einige sehr schwach
gefarbte kurze Faserchen, die wagerecht verlaufen und in der Raphe
sich zu kreuzen scheinen. Die Radix mesencephalica trigemini zeichnet
sich (lurch ihren geniigenden Markreichtum aus.
In hoheren Querschnitten scheint die mediale Lemniscusbahn ab-
zublassen, wohingegen die absteigende Trigeminuswurzel bis zu ihrer
Austrittsstelle eher eine allmahlich zunehmende tiefblaue Farbung er-
fahrt.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
338
Desiderius Miskolczy:
Das Kleinhirn. Der ventrale Teil des gezahnten Kerns (N. D.) ist
vollkommen marklos, nur in die Lamellen seiner oberen Spitze und gegen
seinenHilusverirrensich einige sehr blasseFasern. ImStratuminterciliare
findet man schon in viel groBerer Anzahl die markhaltigen Fasern, die
um den Nucl. globosus und emboliformis sich in ein loses Geflecht ver-
dichten. Man erblickt zwar stellenweise Fasern, die im Unterwurm
endigen, diese konnen aber nur in den Markleisten gefunden werden
und reichen nicht bis an die innere Kbrnerschicht. Zwischen dem Pfropf-
r,";'.-*
Abb. 2. 38 cm langer Foetus. Die Kleinhimhemispharen und der Nucleus
dentatus (ND) sowie der Vermis inferior sind vollkommen marklos. Um die zen-
tralen Kleinhirnkeme beginnt die Markscheidenbildung. Im Nucleus emboliformis
(Ne) sehr schwaches Fasemetz, links fiihrt ein Faserstiel vom Ne in die vordere
Kreuzungskommissur ( VKk) unterhalb deren eine, aus beiden Nuclei fastigii (Nf)
8tammende Decussatio interfastigiosa (Dif) zu erkennen ist. Die restiformialen
Fasern der Fibrae semicirculares externae (Fse) streben gegen den Oberwurm.
Ng = Nuclei globosi. Die markhaltigen feinen vom Cortex vermis senkrecht zu
den Kleinhirnkernen ziehenden Faserchen tragen den Namen: Fibrae cortico-
nucleares.
kern und Rinde desOberwurms ziehen feine senkrechte Fasern, die Fibrae
corticonucleares Edingers. Sie werden also in dieser Phase
zuerst markhaltig gefunden. Sehr schwache Andeutungen von
Fibrae semicirculares internae, schwache Ziige von Fibrae semicirc. ext.,
dessen Fasern vom Strickkorper herruhren. Von der Kreuzungskom¬
missur kehren Faserziige in den Pfropfkern ein, wie auch an Abb. 2 er-
sichtlich.
Nach dera Auftreten des Dachkerns entsteht. folgendes Bild (Abb.2):
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Zur Markacheidenentwicklung des Kautenhirns.
339
Der Dachkern wird von innen und unten von einem losen Fasermantel
umhiillt. Oberhalb des Kernes liegt die Decussatio interfastigiosa, die
von der Faserschicht der vorderen Commissur iiberdacht wird. Dach-
und Pfropfkerne sind mit der Rinde des oberen Wurms durch zarte
dorsoventral gerichtete Fasern in inniger Verbindung. Die Kerne selbst
besitzen sehr schwache Fasernetze.
Entsprechend der Marklosigkeit des N. D. und der Markarmut der
medialen Kleinhirnkerne ist der Bindearm auch sehr markarra, er
besteht in dieser Phase noch aus sehr schwach sich farbenden Fasern.
YVenn wir diese kurzgeschilderten Befunde, wo unwichtige Einzel-
heiten oder schon bekannte Tatsachen weggelassen warden, an Hoesels
friihere Phasen angliedern wollen, erhalten wir folgende Ergebnisse:
Beide Hinterstrangkerne erfahren bei der 38 cm langen Frucht
cine erhebliche Bereicherung; der Gollsche Kern wird schon mit den
blaBblau gefarbten Fasern des Funiculus gracilis ganz umgenommen,
das Burdachsche Biindel bezeigt seine sehr vorgeschrittene Mark-
reife durch den tiefblauen Farbenton seiner dichten Fasern.
Es muB ferner die Zunahme der Schleifenbahn hervorgehoben
werden, deren Fasern vorlaufig hauptsachlich vom Burdachschen
Kern geliefert werden, der Gollsche Kern nimmt nur einen bescheidenen
Anteil in der Entwicklung der inneren Bogenfasern.
Die Gehirnnerven bzw. ihre Kerne schicken alle Bogenfasern in
die Mittellinie, ihre Anzahl wachst je nach der Ursprungshohe des be-
treffenden Nerven.
Hand in Hand mit der Zunahme der inneren Bogenfasern geht die
Entwicklung der vorderen auBeren Bogenfasern, die, da sie alle vom
Nucl. fun. cuneati der Gegenseite stammen und durch Vermittlung des
Strickkorpers dem Kleinhirn zustreben, als gekreuzte bulbocerebellare
Faserung bezeichnet werden konnen. Diese Tatsache wird des weiteren
auch durch die hier zuerst auftretendenFibrae circum-et intrapyramidales
bestatigt. Man sieht zwar die ersten bescheidensten Anfange der gleich-
seitigen bulbocerebellaren Fasern angedeutet, aber besser entwickelte
hintere auBere Bogenfasern sind erst der nachsten Phase aus dem VIII.
Foetalmonat eigen.
Der Ramus vestibularis weist keine morphologische Anderung
mehr auf, wohingegen der ventrale Cochleariskern durch die Anmarkung
seines lateralen Abschnittes sich vervollstandigt, auch der dorsale Cochle¬
ariskern sowie das Tuberculum acusticum besitzt schon die Anfange
der fortschreitenden Anmarkung gegen die Marklosigkeit der sechs-
monatigen Phase.
Im Areal der Lemniscusbahn konnte Hoesel nur in der Hohe der
unteren Oliven einen Markgehalt aufweisen, bei der 38 cm langen Frucht
kann man diese Bahn in ihrer zentraleren Ausdehnung bis zum Mesence-
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
340
Desiderius Miskofczy:
Digitized by
phalon verfolgen, obzwar sich ihre Faserquerschnitte hier allmahlieh
abblassen; andererseits aber belegt die Bahn noch immer nicht das
endgiiltige Areal: in der Hohe des Corpus trapezoides sind z. B. ihre
Faserquerschnitte zwischen den Biischeln des Trapezkorpers zu finden.
Den Bindearm fand Hoesel noch oline Markfarbung bei der 6-nio-
natigen Frucht. Beim 38 cm langen 7-monatigen Foetus beobachtete
ich schon sparliche Markfasern im Verlaufsgebiet des Bindearmes. Den
Ursprung dieser Fasern muli ich von den medialen Kleinhirnkernen ab-
leiten aus dem Grunde, weil neben der Marklosigkeit des gezahnten
Kerns die erwahnten Kerne in der Markscheidenbildung einen guten
Anlauf zeigen.
Im Kleinhirn ist der Fasergehalt der Flocke, des Dach- und
Pfropfkernes eine neue Bereieherung, ebenso gelangt das Kleinhirn er>t
in diesem Alter in den Besitz der corticonuclearen und fastigiobulbaren
Fasern.
Das verlangerte Mark des 40 cm langen Foetus weist eine weitere
Fortentwickelung in dem Sinne auf, dali einige Systeme durch Zunahme
neuer Fasern und kraftigere Farbung eine scharfere Abgrenzung er-
fahren. Die Substantia reticularis lateralis erganzt sich mehr und mehr,
es erscheinen schon Fibrae radiantes (Ziehen) darin, die untere Olive
blieb noch immer marklos, keine Fibrae fimbriatae, kein Amiculum
olivae und Fibrae olivocerebellares zu sehen.
In der Hohe der Py-Kreuzung erscheint als zufalliger Befund ein
abnorm verlaufendes Biindel, dessen Verhalten folgendermaBen
geschildert werden kann: In die Jinke Flechsigsche Bahn miinden
drei tiefblau gefarbte Biindelchen ein, die sich von der schwach
bemarkten Umgebung kraftig abheben. lhr Ursprung kann auf
Grund der frontaleren Serienschnitte verfolgt werden. So bemerkt
man, daI3 von dcr lateralen Spitze des Burdachschen Stranges eine
umschriebene Fasergruppe sich abspaltet, die den Nucleus spinalis N. V
in einwarts konvexem Bogen umkreisend sich in drei kleinere Biindel-
chen teilt, die sich der Flechsigschen Bahn immer mehr nahern. Diese
Biindelchen miissen so aufgefafit werden, dali sie sich vom Burdach¬
schen Strang trennend sich an die Flechsigsche Bahn anschlielien, in¬
dent sie einen caudalwarts sinkenden Bogen beschreiben. Da die Fasern
im Corpus restiforrae ihren Weg fortzusetzen scheinen, konnen sie als
abnorm verlaufende bulbocerebellare Fasern aufgefalit wer¬
den. Dali sie zum Py-Biindel keine Beziehung haben, beweist die Tat-
sache, dali sie zu einerZeit, wo noch die Py in diesem unteren Abschnitt
vollkommen marklos ist, eine kraftige Markscheidenfarbung aufweisen.
Als Neuerwerb kann betrachtet werden, dali vom Gollschen Kern
einige Faserchen zum gleichseitigen C. R. verfolgt werden konnen. Die
mediale Schleifenbahn hat sich schon beinahc vervollstandigt. Sie nimmt
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Zur Markscheidenentwicklung des Rautenhirns.
341
schon eine groBere Ausdehnung ein und wird z. B. in der Hohe des
Corpus trapezoides von wagerechten, gleichverlaufenden, marklosen
Streifen zerlegt, die hoehstwahrscheinlich fur die Fibrae profundae
pontis vorbehalten sind, wenn nicht die Nachziigler des Corpus tra-
jjezoides diese Stellen belegen werden. Der BriickenfuB ist mitsamt
<len Fasciculi pyramidales pontis marklos in den caudaleren Abschnitten.
Je hohere Schnitte man durchpriift, um so mehr Fibrae rectae konnen
entdeckt werden; auch im Querschnitt der Py-Btindel erscheinen einige
zerstreute Markschollen mit urivollstandiger Farbung.
Die Markstrahlen der Flocke und auch des Flockenstiels erfahren
eine gewisse Zunahme an neuen Fasern, ohne den endgiiltigen Mark-
gehalt erworben zu haben, es konnen schon einige U-Fasern in der
Flocke verfolgt werden, die in die Markleiste der Nachbarlamelle ein-
dringen. Der Flockenstiel schmiegt sich bis zur lateralen Ecke der
Fossa rhomboidea eng an den Ramus cochlearis an, um spater eine neue
Richtung gegen die unteren Lamellen des gezahnten Kerns einzuschlagen.
Die Striae medullares sind noch iminer marklos, wohingegen das Faser-
geflecht des Nucl. triangularis sich schon verdichtet hat, es werden
einige Fasern auch zur Mittellinie entsendet.
Da das Markbild des Cortex cerebelli von O. Vogt 1 ) schon ge-
niigend untersucht und ausfiihrlich beschrieben wurde und meine Be-
obachtungen denen von Vogt vollstandig entsprechen, verzichte ich
auf eine ausfiihrliche Schilderung dieser Hirnteile. Mein Augenmerk rich-
tet sich insbesondere auf den gezahnten Kern: vor allem fallt es auf,
daB die caudalen Abschnitte des Nucl. dentatus keine einzige Mark-
scheide enthalten. Die ersten schwachen Anzeichen einer beginnen-
den Markscheidenbildung um die Dentatusblattchen werden erst in
der Hohe der hinteren Kreuzungscommissur wahrgenommen. Zu glei-
cher Zeit erscheinen die Fibrae semicirculares extraciliares, d. h. auBere
bogenformige Fasern, die vom Oberwurm gegen den BriickenfuB und
Hemispharenmark gerichtet verlaufen, ohne aber auch nur die Mark-
lcisten der Hemispharen zu erreichen oder in die Schichten der Briicke
tiefer einzudringen. Einige dieser Fasern biegen ins Stratum prof, pontis.
Ob aber diese Fasern mit dem Bechterewschen 2 ) Tractus cerebello-
tegmentalis oder mit der pontopaleocerebellaren Bahn Schaffers 3 )
identisch waren, entzieht sich der sicheren Entscheidung.
Je oralere Schnitte man durchmustert, desto mehr Fasern werden
in den Falten des N. D. beobachtet. In der Gegend des Dachkerns,
l ) Vogt, 0.: Die myelogenetisehe Gliederung des Cortex cerebelli. Journal
f. Psychol, und Neurol. 5, 1905.
*) Bechterew: Die Leitungsbahnen im Gehirn u. Riiekenniark. Leipzig 1899.
*) Schaffer: Cber einige Bahnen d. menschlichen Rhombencephalons. Hirn-
pathologische Beitrage Bd. II. 2. H. Berlin 1919.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
342
De8iderius Miskolczy:
Digitized by
dort, wo die Decussatio fastigiobulbaris und die Fibrae fastigiobulbares
am schonsten entwickelt sind, hat sich schon ein allerdings noch zarter
Faserfilz zwischen seinen Lamellen gebildet; so sieht man feine Fibrae
fimbriatae externae und internae und U-Fasern, die bogenformig von
einer Lamelle zur nachsten hiniiberbiegen. Die untere Spitze dieses
feinen lockeren Fasergewebes scbeint mit dem Kerngeflecht des Tuber-
culum acusticum im Zusammenhang zu sein. Zwischen dem Vellus
nucl. dentati und der schon markhaltigen extraciliaren Faserung schiebt
sich ein nach oben sich verjungender markloser Streifen ein. In diesen
Streifen dringen dann an oraleren Abschnitten die friihreifen restifor-
mialen Fasern ein, die insgesamt zum Oberwurm hinaufstreben (vgl.
auch Abb. 4 vom 46 cm langen Foetus).
Auch das Fasernetz um die medialen Kleinhirnkerne ummarkt sich
zunehmend; in den Kernen selbst zeigt sich aber die Markgeflecht-
bildung in den bescheidensten Anfangen.
Es wird entsprechend der unvollstandigen Markreife des gezahnten
Kerns auch im Bindearm eine bemerkenswerte ontogenetische Reihen-
folge in der Markfaserbildung beobachtet. Diejenigen Fasern namlich,
die in dieser anfanglichen Phase der Bindearmausgestaltung von den
vorderen Partien des N. D. herziehen, nehmen eine mehr oberflachliche,
auBere Lage im Bindearmquerschnitt ein in der Weise, daB eine me¬
diate marklose Zone fur die spater reifenden Anteile freigelassen wird.
Ein Verhalten, das bei den alteren Phasen eine w’eitere Wiirdigung be-
ansprucht. Obrigens wird der Bindearm in diesem Alter noch nicht von
Fibrae perforantes lemnisci durchdrungen, diese erscheinen erst im
9. Mon at markhaltig.
Bei m 44 cm langen Foetus fand ich beinahe dieselben Verhalt-
nisse wie beim vorigen. Die Py-Bahn, BriickenfuB und untere Olive
bieten grundsatzlich die bisherige Markleere dar. Als ein weiterer be*
scheidener Fortschritt im verlangerten Mark ist der Befund aufzuzeich-
nen, daB vom Nucl. reticularis lat. einige Faserchen in den Strick-
korper unmittelbar verfolgt werden konnen.
Etwas abwechslungsvoller ist das Bild im Kleinhirn. Der fort-
schreitende Ummarkungsvorgang in der Flocke, wo die Markfasern
schon die Tiefe der Kornerschicht zu erreichen scheinen, greift auf die
benachbarten Kleinhirnlamellen liber, wie es auch schon von O.
Vogt 1 ) geschildert wurde. Die hinteren Kleinhirnlappen sind
vollkommen marklos, demgemaB auch die entsprechenden Dentatus-
windungen. Bei oraleren Schnitthohen wird eine Markscheidenzunahme
im N. D. beobachtet, und zwar fiillt es besonders auf, daB die oberen
gewundenen Lamellen imraer mehr Fasern entsenden als die ventraler
J ) Vogt, 0.: 1. c.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Zur Markscheidenentwicklung des Rautenhirns.
34 ^
liegenden. Dieser Unterschied wird in den oraleren Gegenden nur zum
Teil ausgeglichen.
Nun erscheinen in schonen blaBblauen Ziigen auch die Fibrae semi-
circulares int., die sich zwischen den Zellgruppen des Nucl. embolifor-
mis und globosus verlieren; ventralwarts kann ihr Verlauf bis in die
Briickenhaube verfolgt werden.
Briickenarm, Bindearm, Strickkorper verhalten sich wie friiher.
Im Mesencephalon bemerkte ich die gut entwickelten Fasern eines
neuen Systems, die sich an die mediale Spitze des Lemniscus med. an-
legen und oralwarts eine Kreuzung unterhalb der Wernekinkschen
Commissur erlitten haben,: anscheinend die Monakowsche mbrospinale
Bahn.
Beim 46 cm langen Foetus sind im wesentlichen dieselben Ver-
haltnisse aufzufinden. In der Oblongata sind nur kleinere Einzelheiten
aufzuzahlen: so z. B. eine schwaehe interolivare Commissur zwischen
ilen unteren Oliven; doch erhielten weder die olivocerebellare noch die
thalamoolivare Bahn ihre Markscheiden.
Das Markscheidenbild des Kleinhirns kann am besten an den bei-
gelegten zwei Zeichnungen erklart werden. Die Schnitte stain men nam-
lich von einem Praparat, wo das Messer nicht genau die frontale Ebene
eingehalten hat, sondern durch die etwas schrage Einstellung die linke
Seite des Priiparates etwas caudaler liegt als die rechte. Dadurch
kann an einem einzigen Schnitte das schon beim 44 cm langen Foetus
besprochene Verhalten des gezahnten Kerns iiberblickt werden. Auf
dem Schnitte (Abb. 3, links), der links den N. VIII, rechts aber schon
den sensiblen N. V getroffen hat, sieht man den caudaleren sehr mark-
armen Abschnitt des Nucl. dentatus. Oralwarts aber (rechte Seite)
vermehren sich die von ihm entspringenden Fasern in der Weise, dafi
die oberen Lamellen bedeutend mehr Fasern entsenden als die ven-
traler liegenden. Auf der Abb. 4, die von der Eintrittsstelle des sen¬
siblen Trigeminus stammt, sind diese Verhaltnisse durch das Auftreten
der medialen Kleinhirnkerne zwar etwas verwischt, doch genugend be-
merkbar. Hier besitzt schon der N. D. feine Fibrae fimbriatae ext. und
int. Auf den oralsten Abschnitten des N. D. (Abb. 4, rechts) wird na-
tiirlich keine genauere Abgrenzung mehr moglich, dafiir kann aber
das schon vorhin geschilderte Verhalten des Brachium conjunctivum
in Augenschein genommen werden. Hier sieht man namlich, daB das
Bindearmgebiet nur dorsolateral von Markfasern ausgefiillt ist, das
ventrolaterale Feld bleibt marklos bzw. nur sparlich mit Markscheiden
besat; der Cbergang vom marklosen Gebiet ins gut entwickelte ist ein
allmahlicher, und es konnte keine scharfe Grenzlinie zwischen den zwei
Feldern gczogen werden, ohne den natiirlichen Verhaltnissen Zwang
anzutun. Die an den oralsten Abschnitten gut fortschreitende
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
344
Desiderius Miskolczy:
Digitized by
Markscheidenentwicklu'ng im Album gyrorum ist auf der rechten
Seite der Abb. 4 zu bemerken, hier fallt es noch auf, daB der
X. D. in eine markarme Kapsel eingeschlossen liegt, die Kapsel
Ves
Ry
Bp
Abb. 3. 46 ciu langer Foetus. Die neoencephale Pars basilaris pontis (Bp)
und Hemisphaeriae (H) cerebelli sind marklos; die palaencephale Pars tegmentalis
pontis (Tp), ferner der Vermis ( V es, Pei) und Flocculus mit seinem Stiel (fs)
schreiten in der Myelogenese fort. Im Briickenfuli (Bp) findet man in den Quer-
schnitten der Fasciculi pyramidales (Py) eine Andeutung der beginnenden Mark-
scheidenbildung. In der Briiekenhaube (Tp) sind auBer denGehirnnerven(F/// C —
Ramus cochlearis N. octavi, VIII V — R. vestibularis n. oct., N. VII = Facialis-
kern mit dem aufsteigenden >Schenkel, VII = absteigender Facialisschenkel.
VI = N. abducens, Vs = sensible Trigeminuswurzel) noch folgende Systeme
gut bemarkt: Corpus trapezoides (Ctr), dessen Faserung nach Durchsetzung
der medialen Schleife (Lm) teils zur Gegenseite strebt, teils aber in der Oliva
superior (Os) ihr Ende findet. Gut ausgepriigt sind die Verhaltnisse im S trick-
korpergebiet, wo das friih markreife CRm (Corp. restif. mylinicum) ringformig
vom CRam (Corp. restif. amyelinicum) umgenommen wird; das ganze System
wird in die zwei Aste des achten Gehimnerven, medial vom vestibularen (VIII V),
lateral vom cochlearen ( VIIIC) Ast sozusagen eingeklemmt. Auf der linken
Seite des Bildes, die caudalere Verhaltnisse darstellt, ist der gezahnte Kern (N D)
markarm, etwas weiter oral (rechts) verstarkt sich seine Faserung, die dorsalen
medialen Kernblattchen entsenden dichtere Biischel als die ventralen. Den
N D umsaumen die Fibr. semieirculares ext., die aus der unbemarkten olivocere-
bellaren Faserung (Ocam) und den frii hmarkreifen CRm Fasem bestehen. Die
Fibr. semicirc. int. werden hier von denfastigiobulbftren Fasern (fb) vertreten.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Zur Markscheidenentwicklung des Rautenhirns.
345
wird in spateren Entwicklungsphasen mit den cerebelloolivaren Fasern
ausgefiillt. Im Briickenarm sehr sparliche Fasern, die sich sehr bald
ira Briickengrau verlieren. lhre genaueren Beziehungen zn den Brucken-
kernen wurden von Niro Masuda eingehend geschildert.
Ves
Abb. 4. 46 cm langer Foetus. Schnitt aus der Trigeminushoho. Links die
eintretende sensible Trigeminuswurzel (F), rechts die inotorisehe Portion des
Trigeminus mit der Radix mesencephalica quinti (Km I ). in der hochst. markarmen
Basis {K)ntis (Bp) sind Markspuren der Py-Bahn, vereinzelte Fibrae rectae (Fr, im
Brachium pontis (Brp) zarte Faserchen zu beobachten. Links enthalt die Hemi¬
sphere (H) keine cinzige Markfaser, weiter oral (rechts), wo der vordere Pol des
ND in einer von den feinen corticonuclearen Faserchen durchbohrten markarmen
Kapsel der olivocerebellaren Bahn (OCam) ruht, weisen schon die Markstrahlen
der Kleinhimlappen einen Anlauf in der Myelogenese auf. Die zentralen Klein-
hirnkerne und der Vermis ( V es) bereichern sich Schritt fiir Schritt mit Mark-
fasern. Vom Cortex vermis gleitet zu den zentralen Kemen ein feines Biischelchen
corticonuclearer Fasern (fen) hinab. DerDachkern (Nf) entsendet eine miichtige
fastigiobulbare Faserung, die sich in der Mittellinie kreuzt (Dif = Decussatio
interfastigiosa). Der Briickenarm bezieht von den oberen Lamellen des ND mehr
Markfasern als von den unteren, und diese werden von feinen Faserziigen der
Fibrae semicirculares internae (Fsi) durchsetzt. Der Bindearm besteht aus einem
marklosen (BCam = Brach. conj. amyelinicum) und einem bemarkten Feld
(BCm). Der t)bergang von einem Feld ins andere ist ein allmahlicher.
t)berblickt man diese myelogenetisch-anatomisehen Datcji im Sinne
der eingangs erwahnten Gcsichtspunkte, konnen folgende Ergebnisse
festgestellt werden:
Archiv fiir Psychiatric. Bd. 67. 23
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
346
Desidorius M iskolczy:
Digitized by
Vor allem fand ich bestatigt das bekannte Prinzip der Myelogcnesc,
wonach die morphogenetiseh sich friih ausbildenden Hirnteile, in denen
selbstverstandlich auch die Achscnzylinder sich frlilier anlegen, rait
ihren Markscheiden auch eher umklcidct werden. Auf ahnliche Weise
konnte man eine scharfe Grenze ziehen zwischen den phylogenetisch
verschiedenwertigen Teilen; der BriickenfuB z. B., der in der phylo-
genetischen Reihenfolge erst bei den Saugern zur Ausbildung gelangt,
also ein neencephaler Hirnteil ist, bleibt im groBen und ganzen marklos
wahrend der ganzen Dauer ties intrauterinen Lebens mitsamt den in
ihm endigendenfronto-temporo-occipitopontinen Bahnen und der dureh-
ziehenden Pyramidenbahn, obzwar in dieser letzteren die vom achten
Foetalmonat an blaugrau sich farbenden Fasern schon den Anfang der
Markscheidenentwicklung zeigen. Diese Markspuren konnen aber bei
den von mir durchgepriiften Entwicklungsstadien nur in den cerebral
liegenden Bruckenschnitten aufgefunden werden, an caudaleren Prii-
paraten waren dagegen die Py-Biindel marklos. Dieses in der Myelo-
genese der Pyramidenbahn sich offenbarende Verhalten scheint jenes
Flechsigsche 1 ) Gcsetz zu bestatigen, nach dem der fortschreitende
Aufbau tier Markscheiden und die Achsenfasern cellulifugal ist, d. h.
von der Zelle zur Endverastelung strebt. Marklos sind die Bruckenarme
auch, abgerechnet die sehr sparliche Faserung, die ihren Ursprung vom
Stratum profundum pontis zu nehmen scheint und sich bei den Fasern
cles C. R. verlierend nicht genauer untersucht werden kann. Diese
Faserung konnte entweder fiir die Bechterewsche nucleocerebellare
oder die Schaffersche pontopaleocerebellare Bahn gehalten werden
(beidenfalls erweisen sie sich als palaoencephale Abkommlinge).
Im verlangerten Mark enthalten die ventral liegenden unteren
Oliven und die neencephale Py-Bahn keine einzige Markscheide,
wahrend der von mir untersuchten Entwicklungsphascn. Die auch
sonst diinnfaserige spinoolivare bzw. olivos pin ale Bahn Helwegs,
die die Olive mit dem Riickenmark verbindet, erlangt ihre Markumhul-
lung erst nach der Geburt. Die Hauptfaserung der Olive, die olivo -
cerebellare Bahn, die die Verbindung mit dem Kleinhirn aufrecht
halt, bekam noch nicht ihre Markscheiden, so daB an derStelle der den
Querschnitt des verlangerten Marks so scharf charakterisierenden pra-,
intra- und retrotrigeminalen Fasern marklose Streifen den spateren Ver-
lauf zwischen den palaoencephalen Faserquerschnittcn der Subst. ret.
grisea vorzeichnen. Im Gegensatz hierzu weisen die dor sale n Teile
der Oblongata und Briicke eine betrachtliche Anzahl gut gefarbter
Markscheiden auf, was mit der ontogenetischen Tatsache in Einklang
1 ) Flechsig: Anatomic des menschlichen Gehirns und Riickenmarks auf
myelogenetischer Grundlage. I. Bd. Leipzig 1920.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Zur Murkscheidenentwicklung ties Rautenhirns.
347
gebracht werden kann, wonach die Pars basilaris pontis als ein An-
hangsel der Pars tegmentalis beim 4 cm langen, 2monatigcn Embryo
durch einen schmalen Streifen vertreten wird, und eine kraftige Zu-
nahme der Entwicklung nur im 6. Monat erfahrt, also zu einer Zeit,
wo in der Pars tegmentalis die Markscheidenbildung schon in volleru
Umfang fortschreitet. Der N. hypoglossus wird bekanntlich schon
im 4. Monat markhaltig gefunden, im 5. kleiden sich samtliche Wurzel-
fasern der Gehirnnerven um, mitsamt den die Hirnnervenkerne mit-
einander verkniipfenden Fasern des Fasciculus longitudinalis me¬
dial is, der bekanntlich die phylogenetische alteste Balm des verlanger-
ten Marks ist.
In der Myelogenese der vom Goll- und Burdachschen Kern ent-
springenden Fasern konnte ich drei Abschnitte unterscheiden:
1. Im 6. Monat schickt sich der Tractus bu 1 bothalamicus zu
myelinisieren an: Fasern des zweiten sensiblen Neurons, die von den
Hinterstrangskernen zum Thalamus hinaufstreben (Hoesel).
2. Im 7. Monat beginnt die Myelogenese des Tractus bulbo-
cerebellaris cruciatus, dessen Fasern von den Hinterstrangskernen
als innere Bogenfasern entspringen und die AuBenflache der Oblongata
erlangend als auliere vordere Bogenfasern ihren Weg durch Vermitt-
lung des C. R. zum Kleinhirn einschlagen.
3. Die ersten Spuren der hinteren au Keren Bogenfasern, die sich
ins gleichseitige C. R. vermischend den Tractus bulbocerebellaris
directus darstellen, konnte ich nur im 8. Foetalmonat auffinden.
Alle diese Fasern schmiegen sich der im 5. Monat schon reifen Flechsig-
schen Bahn innigst an und setzen ihren Weg gemeinsam im friih mark-
reifen Abschnitt des C. R. fort.
Die olivocerebellare Faserung aber, die einen betrachtlichen
Teil des C. R. ausmacht, ist noch immer marklos und dementsprechend
ladt sich in seinem Querschnittsfeld ein mediales leeres und ein laterales
tiefblau gefarbtes Gebiet unterscheiden. In der Hbhe des VIII. Gehirn¬
nerven hiillt das markleere Feld die reifen Bestandteile allmahlich ein,
woraus die in der pathologischen Anatomic schon bekannte Tatsache
gefolgert werden kann, dali die olivocerebellaren Fasern die iibrigen
Systeme des C. R. ringformig umhiillen.
Das seitliche retikulierte Feld wird, wie schon erwahnt,
Schritt fur Schritt raarkreicher, doch erreicht es bis zum 9. Monat seinen
endgiiltigen Markgehalt noch nicht. Ahnliche Verhaltnisse kcinnen
auch in den Kcrnen der im Rautenhirn endigenden bzw. entsprin-
genden Gehirnnerven beobachten werden: von den motorischen Ker-
nen werden immer mehr Fasern zum Fasciculus longitudinalis med.
entsendet, wohingegen von den sensiblen Kernen in fortschreitend sich
vermehrender Anzahl cerebellarwarts gerichtete Fasern zum C. R. stre-
23*
Digitized by
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
348
Desiderius Miskolczy:
Digitized by
ben, als Fibrae cerebellonucleares, deren genauere Gliederung aber mit-
tels der rayelogenetischen Forgchungsweise undurchfiihrbar ist. Nur
das Einstrahlen des Ramus vestib. N. VIII ins Kleinhirn kann unmittel-
bar verfolgt werden. (Die Zergliederung des VIII. Gehirnnerven in einen
vestibularen und cochlearen Ast fiihite bekanntlich Beehterew mit-
tels der myelogenetischen Methode durch.)
Die markreifen Teile des Strickkorpers streben zura Vermis
cerebelli und somit sind diese vom Riickenmark und Oblongata stain-
menden fremden Hcrkommlinge die cn ten Markfasern des Kleinliirns,
desseneigene Faserung sich viel spater ausbildet (Saute de Sanctis 1 ).)
Im Kleinhirn verhalt sich die Markentwicklungsreihe folgend:
Zuerst bauen sich die Flocke und der Wurm, also die phylogene-
tisch iiltesten Abschnitte aus. Es setzt sich die Bildung der Markhiillen
unterhalb des Stratum gran. int. in den Markleisten an, und erreicht
nicht einmal beim 46 cm langen Foetus die Schicht der Purkinjeschen
Zellen. AuBer den von G. R. und Gower sscher Bahn herziehenden Pro-
jektionsfasern sind im Lobus me dianus cerebelli noch andere mit Hii-
matoxylin farbbare Fasern am Ende des 7. Monats aufzufinden; diese
sind die corticonuclearen Fasern, die von der Kleinhirnrinde in
vertikaler Richtung zu den zentralen Kernen, in erster Linie zum Nucl.
emboliformis und globosus hinstreben. (S. Abb. 2.) Vom Vermis su¬
perior erstreckt sich allmahlich die Myelogenese nach den hinteren und
unteren Wurmpartien. Zur selben Zeit baut sich die fastigiohu 1 bare
Bahn aus.
Im Nucleus dentatus konnte ich die ersten Ansiitze der fort-
schreitenden Anmarkung nur beim Bmonatigen Foetus feststellen, und
zwar in den cerebralen Abschnitten, hingegen zeigen die hinteren La-
mellen nur beim 44 cm langen Foetus einen schwachen Beginn der
Myelogenese. Aber auch in den oraleren Abschnitten rnussen wir einen
Unterschied zwischen den der Mittellinie naher liegenden oberen und
seitlicheren unteren Lamellen in dem Sinne wahrnehmen, dad sich die
Markscheidenbildung zuerst um die oberen medialen Kernblattchen
ansetzt.
Gemali dicsen Vcrhaltnissen baut sich der Bindearm, der seine
Bestandteile von den zentralen Kleinhirnkernen und hauptsachlich
vom N. D. bezieht, folgendermaBen aus: Beim 38 cm langen Foetus
sind die blaBblau gefiirbten Fasern im Bindearmquerschnitt in s])iir-
licher Anzahl vertreten, und diese nehmen cine dorsale auBere Lage ein.
Diese Fasern miissen in Anbetracht der volligen Mark-
losigkeit des N. D. und der beginnenden Bemarkung der
i) de Sanctis, Sante: Untersuchungen iiher den Bau und die Markschcidcn-
bildung des menschlichen Kleinhirns. Monatsschr. f. Psychol, u. Neurol. 5. 1898.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Zur Markscheidenenlwicklung ties Rautenhirns.
349
ubrigcn medialen Kerne als vom Nucl. fastigii, embolifor-
mis und globosus entsendeten Bindearmf asern aufgefaBt
werden.
Beim 40 cm langen Foetus schlieBen sich zu diesen die ersten Den-
tatusfasern an, und so bereichert sich allmahlich der Bindearm, in
seinem Querschnittsfeld bleibt aber sogar noch beim 46 cm-Foetus
cine schmale mediale markleere Zone iibrig. Die von Bechterew ge-
schilderte Entwicklungsweise des Bindearms nach umschriebenen Faser-
gruppen konnte ich nicht beobachten. Der Anbau der Markseheiden
ist vielmehr ein allmahlicher, der von auBen nach inncn sich ausdehnt
und mit der Markscheidenentwicklung des Nucleus dentatus Schritt
halt, was so zu deuten ist, da6 die friiher reifenden dorsalen Bindearm-
fasern vom frontalen Pol des N. D. stammen, das mediale innere leere
Feld ist fUr die spater reifenden, von den hinteren Dentatuslamellen her-
ziehenden Fasern des hinteren Poles vorbehalten.
Als wiehtigstes Ergebnis vorliegender Untersuchungen verdient
also neben dem wesentlichen Unterschied zwischen der
Myelogenese der Pars basilaris und tegmentalis pontis die
Marklosigkeit der oberen Olive, ferner die ontogenetische
Reihenfolge im Ausbau des geziihnten Kerns hervorgehobcn
zu werden.
Nun drangt sich aber unwillkurlich die Frage auf, warum die untore
< )live, die seheinbar ein Urbesitz des verlangerten Markes ist, so
spat ihre Markseheiden gcwinnt. Die Erkliirung dieses sonderbaren
Verhaltens gibt uns die Stammesgeschichte. Es ist wahr, daB auch bei
den niederen Wirbeltieren die Oliva inferior immer aufzufinden ist,
aber sehr oft nur in Gestalt einer unbedeutenden Zellgruppe, die neben
den uralten Nucl. olivares access, med. und lat. cine untergeordnete
Rolle spielt; diese letzteren sind eigentlich die bestandigsten Oliven-
kerne, wobei der die mittlere Lage einnehmende Nucl. ohvaris princi-
palis eine immer groBere Ausdehnung erwirbt. Beim Schweine weist
er schon eine S-formige Umbiegung auf, bei den niederen Affen er-
scheint schon der Hilus, bei den Anthropoiden zeigt sich eine beschei-
dene Faltelung, aber nur beim Menschen erscheint der Kern in seiner
machtigen Ausdehnung und reichen Faltenbildung (Brunner) 1 ). Diese
verspatete stammesgeschichtliche Ausbildung bekundet sich in der
Ontogenese durch die spate Markscheidenbildung seiner Faserung.
Dieselbe phylogenetische Betrachtungsweise wirft auch auf die
Entwicklungsfolge der den Kleinhirnkernen entspringenden Fasern ein
erklarcndes Lieht, wenn man weiB, daB der Vermis und der Dacbkern
J ) Brunner: Zur Kenntnis der unteren Olive bei den Saugetieren. Ober-
steiners Arb. 22, S. 113.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
350
Desidcrius Miskolczy:
Digitized by
bzw. Nucl. medialis die altesten Kleinhirnteile sind, und in dem MaBe,
wie die Hemispharen sich ausbilden, gliedert sich der anfangs noch in
die Hemisphare sich erstreckcnde einzige Nucl. med. in zwei und spater
drei Kerne, so daB bei den niederen Affen schon drei Kerne deutlich
unterschieden werden konnen: Nucl. lateralis, interpositus und medialis
(Brunner) 1 ). Die laterale Kerngruppe erhalt nur bei den anthropoiden
Affen einen Hilus, und von nun an verdient sie den Namen Nucl. den-
tatus; die machtige Ausdehnung aber, mit der er die iibrigen pala-
encephalen Kerne weit uberfliigelt, gewinnt der Kern ebenfalls nur
beim Menschen, und so widerspiegelt sich das stammesgeschichtliche
Bild einerseits dadurch, daB der Kern seine Markumhullung verspatet
erlangt, andrerseits aber muB er das phylogenetische Nacheinander auch
darin einhalten, daB die Myelogenese von den der Mittellinie naher lie-
genden Blattchen sich gegen die lateralen hinteren Lamellen ausdehnt.
Interessant sind die Folgeningen, die vom Markbildungsvorgang
fur die Physiologie verwertet werden konnen:
Es kann eine Bahn nur dann ihrer Aufgabe gerecht werden, wenn
sich die Markscheiden um ihre Achsenfasern schon ausgebildet haben.
Als Beispiel kann uns aus der Pathologic die multiple Sklerose dienen,
wo die schweren Bewegungsstorungen ihre anatomische Erklarung im
Nacktwerden der Achsenzylinder finden. Der beim Neugeborenen aus-
losbare extendierende FuBsohlenreflex (Babinski) ist mit der Mark-
losigkeit der Py-Bahn geniigend begriindet. Hingegen bewegt sich die
Frucht schon im 5. Foetalmonat, was durch den Markreichtum der
vorderen Ruckenmarkswurzel ermoglicht wird, vcrschluckt Frucht-
wasser, was durch die friihe Ummarkung der Hypoglossusfasern bedingt
ist. Da die Gehirnnerven zur Zeit der Geburt schon allc beinahe voll-
standig ausgebaut sind, werden die Saug- und Schluckreflexe, das
Weinen, Grimassieren ermoglicht; lauter solche Bewegungskomplexe,
die allein durch das Rhombencephalon besorgt werden, wie uns die Bo-
obachtung des Goltzschen Hundes und Edingers ,.Menschen ohne
GroBhirn“ 2 ) gelehrt hat.
Auf das Bewerten der Entwicklungsgeschichte des Kleinhirns wirft
ein lebhaftes Licht die interessante Beobachtung Lowys 3 ), daB bei
jener Gruppe von Tieren, die sofort nach ihrer Geburt flott herum-
laufen, die Myelogenese schon vollendet gefunden wurde: z. B. beim
Hund, Schwein, Kalb, von den Vogeln beim Huhn.
*) Brunner: Die zentralen Kleinhirnkerne bei den S&ugetieren. Ober-
steiners Arb. 22, 8. 200.
2 ) Edinger und Fischer: Ein Mensch ohne GroBhirn. Arch. f. d. ges.
Psychol. 152.
3 ) Lowy: Zur Frage der superficiellen Kornerschichte und Markscheiden-
bildung des Kleinhirns. Arb. a. d. neurol. Inst. d. Wiener Univ. 18. 1910.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Zur Alarkscheidenentwicklung des Kautcuhims.
351
Dagegen aber vollendet sich die Myelogenese ini Kleinhirnkerne
der blindgeborenen, sich ungeschickt bewegenden Tiere (u. a. Katze,
Kaninchcn, Taube) erst nach kiirzerer oder liingerer Zeit post partum.
Das menschliche Kloinhirn erwirbt ebenfalls spat nach der Geburt seinen
endgiiltigen Aufbau, daher das unentwickelte Gleichgewichtsgefiihl, die
inkoordiniert erscheinenden Bewegungen bzw. ihre an tierische Koordi-
nationen erinnernde Form.
Auf das Rhombencephalon segmentartig sich erstreckende heredo-
degenerative Nervenkrankheiten ahmen mit ihren Markerkran-
kungsbildern die Myelogenese so auffallend nach, daB wenigstens mit
einigen Worten auch auf diese hingewiesen werden muB.
Es rufen insbesondere die cerebellare Heredoataxie (Form Pierre-
Marie) und die auf das Rhombencephalon sich erstreckende Form der
Tay-Sachsschen Krankheit solchc Markausfalle hervor, bzw. verur-
sachen jene Hemmung in der Entwicklungsfolge der Markscheiden, die
eine Parallele ermoglichen. So z. B. in Schaffers 1 ) Fallen, und auch
in den bekannten Fallen der ponto-olivo-rubrocerebellaren Atrophien
waren vorwiegend jiingere rhombencephale Systeme in verschiedener
Kombination befallen. In Schaffers Fallen waren Wurm und Flocke
gesund, die Hemispharen und der Briickenarm wiesen eine betrachtliche
Abnahme der Markfasern auf. In seinem jiingst verdffentlichten Tay-
Sachsschen Falle sah er 2 ) 3 ), daB wieder der Wurm, die Flocke, Binde-
arm und Strickkorper es waren, die dem Krankheitsvorgang langere
Zeit widerstanden haben, ale die neoencephale Briicke, Briickenarm und
Kleinhirnhemispharen.
Herr Prof. Schaffer untersttitzte mich in meiner Arbeit mit Rat
und Tat; es sei ihm dafiir auch an dieser Stelle mein ergebener Dank
ausgesprochen.
1 ) Schaffer: Beitrage zur Lehre der cerebellaren Heredegeneration. Journ.
f. Psychol, u. Neurol. 27. 1921.
2 ) Schaffer, TatMchliches und Hypothetisches aus d. Histopath. der
infantil-amaurotischen Idiotie. Arch. f. Psychiatr. u. Nervenkrankh. 64. 1922.
3 ) Schaffer: Die allgemeine histopathologische Charakterisierung der
Heredodegeneration. Schweiz. Arch. f. Neurol, u. Psychiatr. 7. Zurich 1920.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Digitized by
Riclitigstellung zu „Die Bedeutung der Abderhaldenschen
Reaktion fur Psychiatrie und Nervenkrankheiten nach dem
heutigrn Staiide unserer Keniitiiisse** von Max Kastaii.
Von
Emil Ahderhaldcu, Halle a. S.
(Eingegangen am IS. November 1922.)
Es ist auBerordentlich zu begriiBen, daB die Bedeutung nieiner
Reaktion fur die Pathologie und namentlich fiir die Diagnostik von dem
Standpunkte aus eingeschatzt wird, den ieh immer betont habe. Die
A.-R. vermag keine Diagnosen direkt zu vermitteln, aie kann nur in
bestimmten Fallen solche unterstiitzen und vielleicht da und dort die
Aufmerksamkeit auf Storungen innerhalb bestimmter Zellarten lenken.
Die A.-R. stellt feat, dafi aus bestimmten Zellen Inhaltsstoffe in das
Blut iibergetreten sind: vergleiche hierzu die 5. Auflage meines Buches
iiber die A.-R., Julius Springer, Berlin 1922. In diesem ist genauer be-
griindet, weshalb ich den Ausdruck ,,Abwehrfermente“ fallen gelassen
habe. Es handelt sich bei einem positiven Ausfall der A.-R. wohl in den
meisten Fallen, wenn nicht immer, um deit Ubertritt von zelleigenen
Inhaltsstoffen mit den zugehorigen Fermenten in das Blut und nicht
um eine Neubildung von Fermenten. Eine andere Deutung erfordern
vielleicht die durch parenterale Zufuhr bestimmter EiweiBarten hervor-
gerufenen Fermente, doch besteht auch hier die Moglichkeit, daft eine
unmittelbare Neubildung von Fermenten nicht vorliegt. Kastan hat
in seiner Abhandlung zwei Darstellungen gegeben, die eine Richtig-
stellung notwendig machen. Er schreibt: ,,War es bei der Art dcs
Nachweises dieser Fermente und bei ihrem Ban und ihrer Zusammen-
setzung natiirlich, daB von einer Spezifitat, l)esonders einer Organ-
spezifitat, nicht die Rede sein konnte, so war es Abdcrhalden ein iiber-
raschendes Untersucliungsergebnis, als er zunachst mit der optischen
Methode fand, daB Peptone, also EiweiBspaltproduktc, von sj)ezifischeji
Fermenten gespalten werden. Er kam zu diesen Ergebnissen bei seinen
Forschungen iiber die Eklampsie, nachdem es endlich seinem Schuler
Pincusson gelungen war, ein fiir das Studium der Fermente geeignetes
Plazentapepton herzustellen.” Aus dieser Darstellung muB der unein-
geweihte Leser den SchluB ziehen, als ware durch die Darstellung des
Plazentapeptons durch Pinctisson das ganze Forschungsgebiet erst er-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
E. Abderhalden: Richtigstellung. — F. Sioli: Berichtigung. 353
off net worden. Nach einer brieflichen Mitteilung bezieht sich Kastan
auf die folgende Stelle in der Monographie iiber die Abderhaldensche
Reaktion von Gottfried Ewald (Seite 17)'): ,,Nunraehr versuchte Abder-
halden , ob es nicht geliinge, aus Plazenta ein angreifbares Pepton her-
zustellen, und endlich gelang auch Pincusson unter Leitung Abder-
haldens die Darstellung eines solchen." Die beiden Darlegungen unter-
scheiden sich ganz wesentlich. Sie sind beide nicht richtig. Die Methode
zur Darstellung von Organpeptonen war schon Jahre zuvor, ehc die
A.-R. zur Ausfiihrung kam, bekannt, und ist von Emil Fischer und mir
und dann in zahlreichen Arbeiten von mir selbst beim Studium des
stufenweisen Abbaus von Proteinen zur Anwendung gekommen. Es
handelt sich bei der Darstellung des Plazentapeptons um eine Ober-
tragung bereits vorhandener, in alien Teilen ausgearbeiteter Methoden,
die iibrigens sehr einfach sind. Ich wiirde die nicht zutreffende Dar¬
stellung der Entwicklung der A.-R. nicht ricbtigstellen, wenn nicht die
Gefahr bestunde, daB an Stelle derOriginalarbeiten Bezug aufZusammen-
fassungen genoramen wil'd.
Viel wichtiger ist die Richtigstellung des folgenden Satzes: ,,Wichtig
ist es ja auch, daB in den letzten Monaten der Graviditat ein Abbau der
Plazenta von Abderhalden nicht nachgewiesen werden konnte.“ Eine
solche Angabe ist von mir nie gemacht worden. Es ist richtig, daB die
A.-R. in den letzten zwei Monaten und insbesondere im letzten Monat
der Schwangerschaft zumeist schwach ausfallt. Eine negative Re¬
aktion ist nur in ganz seltenen Fallen zur Beobaehtung gekommen.
Berichtigung zu: „Ueber Spirochaten hei Endarteriitis syphili¬
tica des Gehirns u ini vorigen Heft dieses Archivs.
Von
F. Sioli.
(Eingegangen um 30. November 1922.)
In meiner Arbeit ,,die Spirochaete pallida bei der progressiven
Paralyse" im Band 60 dieses Archivs steht S. 435 ein Druckfehler.
Es muB dort Absatz 2, Zeile 3 statt Taf. VII lauten ,,Taf. IV“. Der
Tafelhinweis gilt dem Fall 13 der damaligen Arbeit, die Figuren der
Tafel VII aber gehoren zu Fall 16. Beide Falle von Paralyse batten auf-
fjillige, aber unter sich verschiedene, Beziehungen der Spirochaten zu
den GefaBwanden, der Fall 13 dazu cine auffallige Endarteriitis,
') Verlag S. Karger, Berlin, 1920.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
354
F. Sioli: Berichtigung.
Digitized by
der Fall 16 keine solche, aber die Ablagerung einer eigenartigen homo-
genen Substanz in den GefaBwanden und ini Gehirngewebe. Der Druck-
fehler des Tafelhinweises auf S. 435 geht aus andern Stellen der Arbeit
hervor, z. B. S. 420, 426, 435 Absatz 4, 464.
Hauptmann ist in seiner Arbeit ,,Spirochaeten und Hirnrinden-
gefaBe bei Paralyse” (Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr., Bd 57)
auf S. 167 und 168 auf meine Falle eingegangen und wurde durch den
genannten Druckfehler veranlaBt, Angaben liber endarteriitische Er-
scheinungen des Falles 13 auch auf den Fall 16 zu beziehen. Ich, der
ich auch den Druckfehler noch nicht kannte, sah darin ein Versehen
Hauptmanns und stellte es in meiner Arbeit ,,t)ber Spirochaten bei
Endarteriitis syphilitica des Gehirns” im vorigen Heft dieses Archives
auf S. 333 richtig.
Nun schreibt mir Hauptmann in einem personlichen Brief, daB
er den Vorwurf der Verwechslung der Falle 13 und 16 nicht als berechtigt.
anerkenne und ,,wenn iiberhaupt eine Schuld vorliegt, was ich noch
bezweifeln mochte, diese mindestens so viel auf Ihrer Seite liegt”.
Hauptmann hat recht, das Versehen ist durch den Druckfehler
im Tafelhinweis meiner Arbeit entstanden und die Schuld fallt mir zur
Last; ich stelle das richtig unter besonderer Anerkennung der loyalen
Art und Weise, in der Hauptmann die Aufklarung herbeigefuhrt hat.
Sachlich ist die Aufklarung deshalb von Bedeutung, weil durch den
genannten Druckfehler mein Fall 16 ev. erneut mit miBverstandlicher
Bedeutung in die Diskussion der Beziehungen von Spirochaten zu
endarteriitischen Erscheinungen gezogen werden konnte. Das Spiro-
chatenvorkommen bei dem Fall von Paralyse mit endarteriitischen
Erscheinungen, Fall 13 meiner friiheren Arbeit, und bei dem Fall von
Endarteriitis im vorigen Heft dieses Archive ist ganz anders als das der
vaskularen Spirochatenverteilung Jahnels, der Spirochatenumwallung
und Durchwachsung der GefaBwande Hauptmanns, zu denen
mein Fall 16 gehort; bei den letzteren Typen des Spirochatenvorkom-
mens scheinen endarteriitische Erscheinungen nicht zu bestehen.
Gougle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Biieherbesprechungen.
Oswald Buinke, Das Unterbewulltseln. Eine Kritik. Berlin, Julius Springer,
1922.
In dieser often tlichcn Antrittsvorleaung beschaftigt sich Verfasser mit dem
interessanten Problem des UnbewuBten. Er faBt seine Kritik dahin zusammen,
daB die angeblich unbewuBtcn Vorgange zwar nur dunkel, aber doch noeh bewuBt
auftreten, daB der Mensch sie nur — mit oder ohne sein Zutun — vergiBt oder
auch vor sich und anderen verechweigt. Der anregende Vortrag sei sehr zur
Lektiire empfohlen. S.
Hermann Heymann, Lehrbuch der Irreiiheilkuiide fiir Pfleger und PFlegcrin-
nen. Berlin, Julius Springer, 1922.
Es ist ein erfreuliches Zeichen, daB heutigen Tages das allgemeine Interesse
an der Entwicklung der Irrenpflege und der Ausbildung eines geeigneten und
brauchbaren Pflegepersonals ein regeres geworden ist. Die Einrichtung von
Krankenpflegerschulen hat auch auf den Ausbau der Irrenpflege giinstig gewirkt.
Zur Erziehung eines zuverlassigen und geschulten Pflegepersonals, das beobachten
lernt und den Arzt bei seinen Beobachtungen unterstiitzen kann, ist dieses Lehr¬
buch fiir Pfleger und Pflegerinnen geschrieben. Wer auf diesem Gebiet Unter-
richt erteilt, weiB, wie schwierig es oft ist, bei der Darstellung sich nur auf das
in das Wirken des Pflegepersonals fallende Gebiet zu beschranken. Auswahl und
Anonlnung des Stoffes sind hier gut getroffen. Vielleicht erhebt sich die Frage,
ob es angebracht ist, Krankenpf lege personal so in die Psycho pathologic einzu-
fiihren, wie es in dem Buch zura Ausdruck kommt. Ich mochte diese Frage un-
bedingt bejahen und rede einem solchen Unterricht das Wort in der festen l)ber-
zeugung und gestiitzt auf die Erfahrung, daB ein bessercs Verstandnis des Pflege-
personals fiir die Krankhcitserseheinungen dem Kranken in einer seiner Eigenart
angepaBten Pflege zugute kommt.
Die Teilgebiete der Medizin sind so ausgewachsen, daB sie auch besonders
geschultes Pflegepersonal verlangen (z. B. Operationen, Sauglings- und Wochen-
bettpflege, Geburtshilfe, Kinderpflege usw.). Von diesem Standpunkt aus ist
das Erscheinen des vorliegcnden Buches als erwiinscht zu begriiBen. Wer nerven-
und gemiitsleidenden Kranken in der Pflege wirklich nutzen soil, muB auch Kennt-
nis haben von der vorliegenden Erkrankung. S.
Karl Jaspers, Strindberg und van Gogh. Versuch einer pathographischen
Analyse unter vergleiehender Heranziehung von Swedenborg und Hiil-
derlin. Arbeiten zur angcwandten Psychiatric. Bd. V. Leipzig, Ernst Bircher.
In fesselnder W'eise wird in diesem Buch die bei Strindberg vorhandene
Geisteskrankheit analysiert, ohne iilier seine Bedeutung als Dichtcr ein Urteil
zu fallen. Es wird gezeigt, wie diese Geisteskrankheit ein entscheidender Faktor
in seiner ganzen Existenz und auf die Entwicklung seiner Weltanschauung ge-
wesen ist und dadurch EinfluB auf den Inhalt seiner Werke gewonnen hat.
Um dieser geistigcn Abweichung bei Strindberg einen besseren Hintergrund
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
35K
Biicherbesprechungen. — Mitteilung.
Digitized by
7.u geben, wird er mit drei anderen hervorragenden Intellektuellen und Produk-
tiven, die gleichfalls geistige Storungen aufwcisen, verglichen. In einem beson-
deren Kapitel werden auBer dem ihm verwandten Swedenborg die anders gear-
teten Falle Holderlins und van Goghs gegeniibergestellt.
Gas Ergebnis dieser interessanten pathographischen Betrachtung finden wir
in zwei Abschnitten zusammengestellt: iiber die Beziehung zwischen Schizo¬
phrenic und Wahn, sowie Schizophrenic und die Kultur der Zeit. Hier wird be-
sonders das Verhaltnis der Produktivitat zum Krankhaften erortert. S.
S. Auerbach, Die Difterentialdiagnose und Behandlung der verschiedenen
Formen des Kopfschmerzes. Sammlung diagnostisch-therapeutischer Ab-
handlungen. Heft 10. Munchen, Verlag der Arztlichen Rundschau Otto
Gmelin, 1922.
Verfasser, dem wir cine gute Monographic iiber den Kopfschinerz verdanken,
bringt in diesem Vortrag eine auf reiche Erfahrung gestiitzte Darstellung der
verschiedenen Formen des Kopfschmerzes und ganz besonders dem Bediirfnis
des praktischen Arztes entsprechend seiner Behandlung. S.
Theodor Friedrichs, Zur Psychologie der Hypnose und der Suggestion. Mit
einem Vorwort von Arthur Kronfeld. Kleine Schriften zur Seelenforschung.
H. 1. Stuttgart, Julius Piittmann, 1922.
Friedrichs beschaftigt sich in seiner Schrift mit der einheitlichen psyeholo-
gischen Erfassung der hypnotischen und suggestiven Phanomene. Ihn beschaftigt
die Frage: welcher Art ist die affektive Bindung zwischen dem Suggerierten und dem
Suggestor und welche psychologischen oder charakterologischen Voraussetzungen
lassen eine solche Bindung wirksam werden? Nach ihm an Bert sich die Sug-
gestibilitat in bestimmten archaistischen (friihen und primitiven) Erlebens- und
Reaktionsweisen im Sinne der „Glaubigkeit“ und ihrer ,,magischen“ Symbolik.
Diese Suggestibility stammt aus affektiver Quelle. Die suggestive Bindung ist
in vieler Hinsicht analog der Liebesbindung anzusehen. S.
Arthur Kronfeld, t'ber Gleichgcschiechtliehkelt (ErklUrungstvege und We-
senschau). Kleine Schriften zur Seelenforschung 2. Stuttgart, Julius Piitt-
mann, 1922.
In diesem Vortrag setzt sich Verfasser mit dem Wesen der Gleichgeschlecht-
lichkeit auseinander. Nach ihm ist sie fiir den Trager etwas WesensmaBiges, mit
seiner Konstitution schicksalshaft verwachsen; sie ist nicht eine zufallige Per-
vertierung der Seele und der Triebe, sondern sie entspricht einem notwendigen
und tiefen Wesensbedurfnis in den Grundlagen des gesamten Menschen, der sie
tragt. S.
Mitteilung.
Medizinisch-literari8che Zentralstelle. Der bisherige Leiter, Herr
OI>erstabsaizt a. D. Berger, hat aus Gesundheitsrucksichten die Leitung
der „Medizin.-literar. Zentralstelle* 1 niedergelegt. An seine Stelle ist
deren langjiihriger Mitarbeiter, Herr Dr. M. Schwab, Berlin, getreten,
der auch die Verwaltung der ,,Sonderdtuekzentrale“ ubernommen
hat. — Alle Zuschriften nur'an: Dr. M. Schwab, Berlin W. 15.
Pariser StraBe 3.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Digitized by
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Digitized by Goo
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Sigbert Ganser, zum 24. Januar 1923.
Von
Georg Ilberg.
Mit Freuden habe ich den Auftrag iibernommen, ein Lebensbild
Gangers zu seinem 70. Geburtstag zu entwerfen, habe ich doch das Gluck
gehabt, von 1887 biB 1891, erst an der 2. inneren Abteilung des Stadt-
krankenhauses Dresden-Friedrichstadt, dann in der Dresdener Heil-
uncl Pfleganstalt fiir Geisteskranke und Sieche sein Assistent zu sein
und die letzten 10 Jahre mit ihm im Sachs. Landesgesundheitsamte
zusammen zu arbeiten und immer wieder von ihm zu lernen. An Gamer
war stets sein groBes Wohlwollen fiir die Kranken zu bewundern, und
sein hervorragendes Gescbick, mit Geisteskranken umzugehen. Aus
Dresden und Umgegend kommen in seine Abteilung fast alle, die ver-
sucht haben, ihrem Leben ein Ende zu machen. UnvergeBlich ist es
seinen Schiilern, wie er diese im Lebenskampfe Gestrandeten trotz
ihrer Verstimmung und anfanglicher Ablehnung zum Erzahlen ihres
Schicksals zu bestiramen weiB, wie er durch seine vertrauenerweckende
Personlichkeit Geangstigte und Verzweifelte wieder aufzurichten ver-
steht. Schnell iiberschaut er die Lebenslage jedes Kranken und paBt
auf natiirliche Weise sein Verhalten dem Stand, dem Bildungsgrad
und der psychischen Krankheit des einzelnen an. Stets hat er Zeit fiir
seine Patienten; zu alien ist er freundlich, zu den einen mehr ernst,
zu den andern mehr humorvoll. Mit vornehmer, giitiger Ruhe tritt er
dem Aufgeregten, mit liebenswiirdigen Trostworten dem Schwermiitigen
gegeniiber, mit aufmunternder Energie dem Willensschwachen. Jeden
der vielen Trinker, die aus seiner Beobachtungsabteilung entlassen
werden, belehrt und warnt er nochmals aufs eindringlichste, und keine
Miihe laBt er sich verdrieBen, die Angehorigen der Kranken aufzu-
klaren und zu berateu.
VVer die psychiatrische Abteilung des Friedrichstadter Kranken-
hauses in den Jahren 1886—1889 gekannt hat, weiB, wie unzuliinglich
und ungeeignet die auBeren Verhaltnisse damals waren. Nur durch
die strengste Ordnung war es iiberhaupt moglich ; Geisteskranke liier
zu behandeln; da immer Platz fiir neue und schwere Falle sein muBte,
war eine schnelle Beurteilung und Weiterleitung notig, mit unermiid-
Archiv fiir Psychiatric. Bd. 67. 24
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
358
G. Uberg:
lichem FleiB und groBer Urteilsscharfe bewaltigte Ganser diese Auf-
gabe. Es waren ihm aber damals nicht nur die Geisteskranken an-
vertraut. Unter seiner Leitung stand noch eine groBe Abteilung fur
Nervenkranke und chronisch innere Kranke, und gerade die aller-
schwersten Falle von Tuberkulose, unheilbarem Unterleibskrebs usw.
waren hier arztlich zu versorgen ; nicht ganz mit Unrecht vertraute die
Verwaltung gerade diese Kranken, denen nicht mehr zu helfen war,
denen ihr trauriges Schicksal aber doch in vieler Hinsicht erleichtert
werden konnte, den Psychiatern an. Kein Geringerer als Kraepelin
war ubrigens, ehe er an die Universitat Dorpat berufen wurde, der
Vorganger Gansers gewesen und hatte dessen Berufung nach Dresden
vermittelt. Beide haben die Plane der schonen Beobachtungsabteilung
der Dresdener Heil- und Pfleganstalt ausgearbeitet, in die wir 1889
mit der psychiatrischen Abteilung umzogen. Eine ungemein schwere
Arbeit fiel Ganser nun zu, denn er hatte zunachst mit nur 2 bis 3 As-
sistenten die arztliche Leitung der ganzen Anstalt, zu der auBer der
Beobachtungsabteilung mehrere groBe Gebaude mit chronisch Geistes¬
kranken und chronisch korperlichen Kranken gehorten, zu besorgen.
Nach und nach hat sicli der Krankenbestand immer mehr vergroBert,
die Zahl der Assistenten wurde vermehrt und die Abteilungen der
chronisch Geisteskranken sowie der korperlich Siechen wurden selb-
standig gemacht. Am Ausbau dieser umfangreichen stadtischen An¬
stalt und ihren neuzeitlichen Einrichtungen ist Ganser bis zur Gegen-
wart in erster Linie beteiligt gewesen. Seit 1908 ist ihm im Speziellen
die Beobachtungsabteilung unterstellt, die an Bedeutung einer Uni-
versitatsirrenklinik entspricht, aber eine wesentlich groBere Aufnahme-
zahl hat als die meisten psychiatrischen Kliniken: gegen 1500. Gansers
Klugheit, Sorgfalt, Menschenfreundlichkeit und seiner groBen Energie
ist es zu verdanken, daB seiner Anstalt alle die Fortschritte, die die
Irrenbehandlung und Irrenpflege in den letzen 36 Jahren gemacht hat,
zugute gekommen sind. Von seiner Assistentenzeit bei Gudden war es
ihm in Fleisch und Blut iibergegangen, daB Rippenbriiche, Ohrblut-
geschwiilste und Druckbrand auch bei fortgeschrittener Schwache ver-
rnieden werden konnen, was Ende der achtziger Jahre in Dresden noch
keineswegs bekannt war. Er sorgte fur Bettbehandlung, gute Lagenuig
und untersuchte grundsatzlich jede Beschwerde, die ein Kranker vor-
brachte. Sehr besorgt war er fiir gute Ernahrung und saubere Kleidung
der Kranken, jede Unordnung bemerkte er auf seinen Rundgangen
und stellte sie ab. Sehr schwer war es in den ersten Jahren, zuverlas-
siges Pflegepe'rsonal zu bekommen. Es gab damals keinerlei Berufs-
vorbildung fiir Pfleger und Pflegerinnen. In irgendeinem anderen Beruf
stellenlos Gewordene meldeten sich zur Krankenpflege, und es war l>ei
dem haufigen Wechsel des Personals oft sehr muhevoll, einen richtigen
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Sigbert Ganser, zum 24. Januar 1923.
359
Krankenpflegedienst aufrechtzuerhalten. Aber auch diese Schwierig-
keiten hat Ganser einerseits durch Bestimmtheit, andererseits durch
Belehrung und vor allem durch das eigne gute Beispiel strengster
Pfhchterfiillung iiberwunden. Es ist heute noch nicht iiberall iiblich,
die Geisteskranken auch korperlich so genau zu untersuchen, wie dies
Ganser tut; jeder von den vielen Neuangekomraenen wird nicht nur
iiber seine Vorgeschichte von ihm befragt und psychisch gepriift, dies
geschieht auch neurologisch und somatisch. Von sich selbst verlangt
Ganser sehr viel, auch an seine Assistenten stellt er groBe Anforderungen;
wer aber seine Pflicht tut, hat auch die Freude, mit groBeren Aufgaben
betraut zu werden. Ganser besitzt die Kunst zu dirigieren, er stellt
seine Mitarbeiter an, erzieht seine jungen Hilfskrafte und versteht sie
fur die Psychiatrie zu interessieren. Bei der Krankenuntersuchung
halt er streng wissenschaftliche Methoden ein und bedient sich aller
modernen Hilfsmittel. Trotz seiner groBen Sparsamkeit scheut er sich
nicht, auch kostspielige Behandlungsarten anzuwenden oder umfang-
reiche Anderungen in den Anstaltseinrichtungen einzufiihren, wenn sie
ihm notig und niitzlich erscheinen (Dauerbader, Liegehallen, hirnpatho-
logisches Laboratorium, Weilerschen Pupillenuntersuchungsapparat u.
dgl.). Die Grundsymptome jeder einzelnen Erkrankung analysiert er
sorgfaltig, er wiirdigt aber auch Eigenart und Charakter des ganzen
Menschen. Ein Lieblingsthema seiner Studien ist die Hysterie, die in
ihren verschiedensten Formen beim Dresdener Krankenmaterial auBer-
ordentlich haufig ist. Ganser veroffentlichte 1895 in der Allg. Zeitschr.
f. Psychiatr. eine Arbeit iiber hysterische Psychose, 1897 schrieb er im
Arch. f. Psychiatr. Bd. 30 seine beriihmte Arbeit: t)ber einen eigen-
artigen hysterischen Dammerzustand, in demselben Jahr hielt er in der
Vereinigung mitteldeutscher Psychiater und Neurologen einen Vortrag:
Ober eine besondere Form des hysterischenDammerzustandes, und 1902
in derselben Vereinigung: Zur Lehre vom hysterischen Dammerzustand,
eine Arbeit, die er 1904 im 38. Bd. des Arch. f. Psychiatr. veroffent-
licht hat. Es folgte im Jahre 1912 eine weitere Arbeit iiber Hysterie
in der Munch. Med. Wochenschr. Die ungeheure Zahl der Alkohol-
kranken in seiner Anstalt hielt sein arztliches und menschliches Interesse
an dem Alkoholelend unseres Volkes dauernd wach und hat mehrfache
Arbeiten und Vortrage gezeitigt, 1901: Die Trunksucht eine heilbare
Krankheit (Vortrag in der Jahres versa mmlung des sachsischen Landes-
verbandes gegen den MiBbrauch geistiger Getranke in Dobeln), 1902:
Mord im Sauferwahnsinn (Allg. Zeitschr. f. Psychiatr. Bd. 59, S. 542).
1907 veroffentlichte er in der Munch, med. Wochenschr. einen thera-
peutisch iiuBerst wichtigen Aufsatz zur Behandlung des Delirium tre¬
mens; dank sorgfaltigster Pflege und Verordnung verschiedener Herz-
mittel gelang es Ganser, die Zahl der Todesfalle im Sauferwahnsinn
24*
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
360
G. Ilberg:
Digitized by
ganz erheblich herabzusetzen. Von 1909 stammt seine Arbeit iiber
Alkohol und Geisteskrankheiten (Alkoholfrage VI, 1—23). Person-
lich gibt er Kranken und Gesunden schon langst das Beispiel totaler
Abstinenz. —In der Festschrift zur Feier des 50jahrigen Bestehens
des Stadtkrankenhauses zu Dresden-Friedrichstadt, 1899, Verlag von
Baensch in Dresden, hat Oanser ferner eine bedeutungsvolle Arbeit:
Die neurasthenische Geistesstorung (ref. im Neurol. Zentralbl. 1900)
veroffentlicht. 1908 sprach er im Verein zur Fiirsorge fiir Strafent-
lassene im Konigreich Sachsen vom psychiatrischen Standpunkt zum
Entwurf eines Gesetzes iiber die Fiirsorgeerziehung. In demselben
Jahre hat er zur Kasuistik der Akromegalie, der Tabes dorsalis und
der hereditaren Ataxie Beitrage geliefert (Miinch. med. Wochenschr.
1908), und von 1910 stammt sein Vortrag auf der 16. Versammlung
mitteldeutscher Psychiater und Neurologen iiber die Behandlung der
unruhigen Geisteskranken (Arch. f. Psychiatr. 49. Bd., S. 637). —
Eine ungeheure Zahl von psych iatrischen Gutachlen hat er im Laufe
der Jahrzehnte bewaltigt. Bei der forensischen Begutachtung unter-
stiitzt ihn seine Exaktheit, seine Welt- und Menschenkenntnis und
seine genaue Bekanntschaft mit den gesetzlichen Bestimmungen. Da-
bei ist er mild und giitig und verkennt die guten Seiten nicht, die
schlieBlich auch am Verbrecher zu finden sind. Mit groBem Entgegen-
kommen hat sich Gamer auch den Zielen der forensisch-psychiatrischen
Vereinigung in Dresden gewidmet. Er hat hier oft geistvoile Vortrage
gehalten und in geradezu klassischer Weise Kranke demonstriert.
Nicht nur die Juristen, auch die Gerichtsarzte und Psychiater konnen
viel von den in mustergiiltiger Ruhe und Geschicktheit ausgefiihrten
Krankenvorstellungen lernen. Von Vortragen in der forensisch-psychia-
trischen Vereinigung sind zu nennen: 1894: Ober die Methoden der
psychischen Untersuchung; eine wiederaufgehobene Entmiindigung
wegen Querulantenwahnsinns, 1895: t)her Wahnideen; iiber Hypnose:
iiber die Mariaberger Angelegenheit, 1922: Die Gesundheit des deutschen
Volkes vor und nach dem Kriege. Es ist nicht zu verwundern, daB ein
so bedeutender Mann auch in der Privatpraxis hochgeschatzt ist. In
Dresden, ja im ganzen Lande wird er oft als Konsiliarius begehrt.
Es ist charakteristisch fiir Gamer, daB er sich in all den Jahren
seiner Dresdener Tatigkeit nicht nur mit Psychiatrie und Neurologie
besehaftigt, sondern seinen weiten Blick auf die gesamte Medizin ge-
richtet hat. Das tritt namentlich in seiner regelmaBigen Teilnahme
an der Dresdener Gesellschaft fiir Natur und Heilkunde, deren Vor-
sitzender er jahrelang war, hervor. Auch hier hat er mehrfach Vor¬
trage gehalten, z. B. 1886/87 iiber Simulation von Geisteskrankheiten,
1894 iiber einige Symptome der Hysterie und iiber die Beziehungen
der Hysterie zum Alkoholisinus. — In alien den genannten Vortragen
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Sigbert Ganser, zum 24. Januar 1923.
361
und Veroffentlichungen ist aber nur ein kleiner Teil der Lehrtatigkeit
Gansers zu erblicken. Ungefahr 100 Assistenzarzte und Volontararzte
ha ben in all den Jahren seiner Dresdener Tatigkeit von ihm gelernt.
Er selbst war von 1881 bis 1884 Privatdozent fiir Psyehiatrie an der
Universitat Miinchen, und aus der Miinchener Zeit stammen seine vor-
trefflichen anatomischen Arbeiien : Vergleichende anatomische Studien
liber das Gehirn des Maulwurfs (Morpholog. Jahrb. VII); Uber die vor-
dere Hirncommissur der Saugetiere (Arch. f. Psychiatr. 9. Bd.); Zur
Anatomie der Katzenretina; tTber die Anatoiuie des vorderen Hiigels
vom Corpus quadrigeminum (Vortrag in Baden-Baden am 5. Juni 1880
— Arch. f. Psychiatr. 11. Bd.); Uber die periphere und zentrale An-
ordnung der Sehnervenfasern und iiber das Corpus bigeminum anterius
(Arch. f. Psychiatr. 13. Bd., 1882), endlich der gemeinsame Beitrag
von Ford, Mayser und Ganser zur Festschrift Nageli-Kolliker: tTber
das Verhaltnis der experimentellen Atrophie- und Degenerations-
methoden zur Anatomie und Histologie des Zentralnervensystems. Ur-
sprung des 9., 10. und 12. Hirnnerven, Zurich 1891 (A. Muller). Auch
in dem schonen VVerk Grasheys : Bernhard v. Guddens gesammelte und
hinterlassene Abhandlungen, Wiesbaden 1889 (Johann Friedrich Berg-
rnann) finden sich im Text ehrende Erwahnungen der Mitarbeit Gansers,
von dem in den Tafeln mehrere meisterhafte Zeichnungen wiederge-
geben sind, z. B. zu folgenden Abhandlungen: Experimentalunter-
suchungen iiber das peripherische und Zentralnervensystem, iiber die
Frage der Lokalisation der Funktionen der GroBhirnrinde, iiber die
Kreuzung der Fasern in Chiasma nervorum opticomm, Beitrag zur
Kenntnis des Corpus mammillare und der sogenannten Schenkel des
Fornix, iiber die verschiedenen Nervenfasern in der Retina und dem
Nervus opticus, Augenbewegungsnerven.
Bei dem groBen Wissen und Kbnnen und der jugendlichen Frische
des Jubilars ist zu hoffen, daB er die Mit- und Nachwelt noch mit wei-
teren Mitteilungen aus dem gewaltigen Beobachtungsmaterial be-
schenkt, das seine Anstalt bietet. Ubrigens sind viele seiner Gedanken
in den wissenschaftlichen Arbeiten seiner Schiiler niedergelegt. In den
verschiedenen medizinischen, neurologischen und psychiatrischen Ver-
einigungen, denen er angehort, hat sich Ganser in der Diskussion als
glanzender, schlagfertiger Redner bewahrt, der, wenn er sich fiir eine
Sache begeistert oder iiber einen Vorgang entriistet, sich nicht nur
lebhaft- und frisch, sondern auch karapfesfroh und kampfesmutig zeigt.
Allezeit ist Ganser ein treues Mitglied des drztlichen Slandes ge-
wesen. Fiir die Standesehre trat er bei vielen Gelegenlieiten kraftig
ein. Stets betont er die Rechte der Arzte und tritt, wer es auch sei,
dem entgegen, der Anforderungen an die Arzte stellt, die ihm unberech-
tigt erscheinen.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
362
G. Ilberg: Sigbert Ganser, zum 24. Januar 1923.
Hoch zu bewerten ist endlich die Tatigkeit Gansers im Landes-
gesundheitsamt. Hier tritt seine Vielseitigkeit und sein weiter Gesichts-
kreis deutlich hervor. Nicht nur wissenschaftlichen Fragen, nein auch
solchen der Medizinalverwaltung bringt er groBes Interesse entgegen.
An der Verbesserung aller Wohlfahrtseinrichtungen nimmt er teil.
Seine eignen psychiatrischen Gutachten zeichnen sich durch groBe
Griindlichkeit aus; die Fragen der Gerichte und Behorden beantwortet
er mit logischer Scharfe, aber nicht starr dogmatisch, sondern in Er-
fassung des tieferen Sinnes der gesetzlichen Bestimmungen und unter
Beriicksichtigung der individuellen Eigenart des zu Begutachtenden,
seiner Familiengeschichte, des Einflusses seiner Umgebung und vor
allem niemals ohne menschliche Empfindung. Auch das Landesgesund-
heitsamt hofft, daB ihm die Mitarbeit dieses ausgezeichneten anreg-
baren und anregenden, besonders tatkraftigen Mitglieds noch lange
erhalten bleiben raoge.
t)ber den Lebensgang des Jubilars ist noch zu erwahnen, daB Sig¬
bert Joseph Maria Ganser am 24. Januar 1853 in Raunen (Bernkastel)
als Sohn eines Kgl. PreuB. Notars das Licht der Welt erblickte. Seine
Kinderzeit verlebte er in Prim (Eifel), das Gymnasium besuchte er in
Munster (Eifel), und auf den Universitaten Wurzburg und StraBburg
studierte er. Nachdem er kurze Zeit an der Psychiatrischen Klinik in
Wurzburg Assistent von Professor v. Rinecker gewesen war, war er
von 1877 bis 1884 bei Bernhard v. Gudden in Miinchen, wahrend der
letzten drei Jahre als Privatdozent der Miinchener Universitat. Dann
war er 2 Jahre lang als Oberarzt an der Brandenburgischen Landes-
anstalt Sorau N.-L. unter Direktor Adolf Schmidt tatig. Seit 1886 hat
er den groBten Teil seiner Arbeitskraft der Stadt Dresden gewidmet.
1908 wurde er zum Geheimen Sanitatsrat, nach Berufung als ordent-
liches Mitglied ins Landesgesundheitsamt zum Geheimen Medizinalrat
ernannt. Er erhielt den PreuBischen Kronenorden, das Ritterkreuz
I. Klasse des Albrechtsordens mit der Krone, sowie das Kriegsverdienst-
kreuz. 1922 wurde ihm die Dienstbezeichnung Direktor der 1. Ab-
teilung der Stadtischen Heil- und Pfleganstalt zu Dresden gegeben.
Seit 1889 fuhrt Ganser ein sehr gliickliches Familienleben mit
seiner liebenswiirdigen, vortrefflichen und welterfahrenen Frau Mary
geb. Cloete-Brown; eine Tochter lebt, ein hoffnungsvoller Sohnstarb
zum groBten Schmerz seiner Eltern an den Folgen einer Verwundung,
die er im Weltkrieg erlitten hatte.
Wir, seine Schuler, wiinschen dem hochverehrten Jubilar zu seinem
70. Geburtstag, daB ihm seine Frische und Tatkraft noch recht lange
erhalten bleibt und daB er den Abend seines arbeitsreichen Lebens im
Gefiihl innerer Befriedigung froh genieBen kann.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Multiple Verodungen in der Hirnrinde.
(Herrn Gehehnen Medizinalrat Dr. Ganger zum 70. Geburtstage.)
Von
Georg Ilberg.
[Mit 2 Textabbildungen.
(Eingegangen am 12. Dezember 1922.)
Spielmeyer hat in seiner Histopathologie des Nervensystems die
groBe Bedeutung durch zirkulatorische Storungen bedingter Verodungen
fur das anatomische Bild arteriosklerotischen Irreseins hervorgeboben
und betont, daB das pathogenetisch Wesentliche der Verodungen ist,
daB die GefaBerkrankung nicht einen volligen VerschluB herbeifiihrt,
sondern allmahlich eine hochgradige Verengerung. Solche Verodungs-
herde finden sich bei Arteriosklerose, aber auch bei GefaBsklerose
anderer Art, z. B. bei GefaBlues; das hochdifferenzierte und deshalb
empfindliche Nervengewebe leidet Not, die Glia aber bleibt erhalten
und proliferationsfahig. Solche Verodungsherde sah Spielmeyer in der
Regel in einer Windung oder in einer Windungsgnippe dicht beieinander
liegend. Sie hatten haufig Sektorenform mit der Basis an der Ober-
flache. Die Randzone war entsprechend der Atrophie der narbigen
Schrumpfung oft eingezogen. Tiefer in der Rinde hegende Verbdungs-
bezirke lieBen ein Zusammenriicken der umgebenden Gewebsteile,
Schiefstellung der Ganglienzellen, Verzerrung der Schichten gegen den
Herd u. dgl. erkennen. Die Ganglienzellen wurden anfangs nur kleiner,
spater gingen diese in einfache Schnxmpfung, Sklerose und Verfettung
iiber. In den Gliafaserwucherungen solcher Verodungen sah man keine
gemasteten Gliaelemente oder Monstregliazellen, die Gliazellen hatten
mehr eine kurze, stabchenformige Gestalt oder die kleiner Spinnen-
zellen mit schmalen Fortsatzen. Kornchenzellen waren iiberaus selten.
Die Wand der erkrankten GefaBe war meist hyalin verdickt. Mitten im
Gliafilz der keilformigen Herde waren Netze von Mesenchymfasern
ausgespannt. Neben den Verodungen lagen oft in der gleichen Win-
dung kleine Erweichungen. — AuBer und neben den glios-faserigen
Herden sah Spielmeyer in der Rinde wie im Mark noch andere Lich-
tungsbezirke, in denen die Glia nicht gewuchert ist. An solchen Stcllen
der Hirnrinde waren die Nervenzellen verkleinert, auffallend schmal
oder auch sklerotisch, oft waren sie aus ihrer Stellung gebracht. Es
handelte sich weder um eine Zunahme der Gliafasern noch um eine
Vermehmng der Gliazellen; die Gliaelemente erschienen nur relativ
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
364
G. Ilberg:
Digitized by
vermehrt, wenn das ganze Gebiet etwas zusammengeriickt war; hier
handelt es sich also um Fehlen einer gliosen Reaktion bei Parenchym-
schwund. Zweifellos sind die kleinen. umschriebenen Verodungen in
einer Windung abhangig von den Eigentiimlichkeiten des corticalen
GefaBsystems. Sie sind die Folgen nnzureichender Ernahrung.
Kraepelin erwahnt in der 8. Auflage seines Lehrbuchs, Band II,
Seite 620, daB bei seniler Arteriosklerose vorzugsweise die kleinen von
der Oberflache her in die Rinde eintretenden GefaBe befallen zu werden
pflegen und daB hier ein ganz allmahlicher VerschluB der GefaBe ein-
tritt, so daB es gewohnlich weder zu Blutungen, sondern zu einem ein-
fachen Schwund der nervosen Gewebsbestandteile komrat, wodurch
jene Verodungen entstehen, die von Alzheimer als senile Hirnverodungen
beschrieben worden sind. In der von Kraepelin mitgeteilten Figur 141
erkennt man den strangformigen, umschriebenen Ausfall von Nerven-
zellen im Zuge eines von der Oberflache her die Rinde durchziehenden
kleinen GefaBes. In Figur 142 erblickt man an zahlreichen Stellen
kleine Einziehungen der Oberflache, unter denen tief in die Rinde
hineinreichende keilfdrmige Ausfalle von Nervenzellen erkennbar sind.
Die Ausbreitung der Rindenveranderungen ist in der Regel keine gleich-
maBige, sondern mehr inselformig. Die einzelnen Hirngebiete pflegen
in verschiedenem Grade befallen zu sein. Haufig finden sich unmittelbar
neben stark gekrummten Partien andere, die nahezu gesund erscheinen.
Auch bei der Alzheimer* chen Krankheit, bei der es sich um die lang-
same Entwieklung eines ungemein schweren geistigen Siechtums mit
den verwaschenen Erscheinungen einer organischen Hirnerkrankung
handelt, die zuweilen schon im Senium praecox auftritt, bietet der
Leichenbefund Veranderungen dar, die schwerste Formen der senilen
Verodungen darstellen.
Wenn ich einen einschlagigen, in der Heil- und Pflegeanstalt Son-
nenstein beobachteten Fall mitteile, vermag ich zu der schwierigen
Fragc keine Stellung zu nehmen, ob es sich in diesemFall umNekrosen
handelt, die im Sinne Spielmeyers noch nicht der Colliquation verfallen
sind, oder um Lichtung und herdformige Verodung mit einfacher, bzw.
degenerativer Atrophic, oder um Herde, in denen das rein nervose
Gewebe nekrobiotisch zugrunde gegangen ist, wahrend der Gewebs-
grund geronnen und schollig erscheint (koagulierte Verodungsherde).
Eine einfache Darstellung des klinischen und histologischen Befunds
ohne weitere theoretische Erwagungen scheint mir das zweckmaBigste
zu sein. Wir Anstaltsarzte wollen iiber derartige Falle nur berichten,
um denen Material zu unterbreiten, die in der Lage sind, weitergehende
Schliisse daraus zu ziehen.
Yorgeschichte: Frau R. J. ist 1860 geboren. 'Ihr Vater starb mit 43 Jahren
an Geisteskrankheit (angeblicb Gebirnerweichung). Sie batte mit 15 Jahren
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Multiple Verodungen in der Himrinde.
365
Gelenkrheumatismus und war danach herzkrank. Auch magenkrank war sie eine
Zeitlang. Vielfach litt sie an Ohnmachten und Blutarmut. Geistig entwickelte
sie sich normal, heiratete mit 19 Jahren, gebar ein Kind, das von Jugend an ge-
lahmt war, nicht laufen konnte und im Alter von 20 Jahren starb. Die Ehe war
gliicklich, aber namentlich seit der 1910 erfolgten Pensionierung des Mannes
sorgenvoll. Seit 1915 war Frau R. J. sehr nervos und rechthaberisch, geistig
ging sie nach und nach zuriick. Ende 1918 magerte sie unter den Emfihrungs-
schwierigkeiten des Kriegs sehr ab und brach zuweilen ohnmachtig zusammen.
Sie machte sich ungeheuer viel Sorgen und untemahm im April 1919 einen ener-
gischen Selbstmordversuch, indem sie sich mit einem Hammer sehr heftig auf
den Kopf schlug. Danach war sie einige Zeit bewuBtlos. In der Folgezeit be-
nahm sie sich kindisch, spielte mit Steinen, redete irre, hielt sich fiir vollstandig
verarmt und quillte sich mit Versiindigungsideen. Anfang Juli suchte sie sich
zu erdrosseln. Sie war gehemmt in ihren Bewegungen, sprach nur davon, daB
sie ihre Familie an den Bettelstab gebracht habe und ins Gefflngnis gehore. Wieder-
holt traten Ohnmachtsanfalle auf. Am 30. VIII. 1919 Aufnahme in die Heil-
und Pfleganstalt Sonnenstein.
Krankhcitsverlauj: Das Korpergewicht betrug bei der 165 cm langen Frau
nur 34 kg. Die korperliche Untersuchung ergab schlechte Ernahrung und Blut¬
armut, groBe strahligo Xarbe an der Stirnhaut (s. o.), Verstrichensein der linken
Nasenlippenfalte, leichtes Zittem der Zunge. Gang schwankend. Etwas Strabis¬
mus divergens. Verlangertes Exspirium. Schwache Herzaktion. Fehlen der
Bauchdeckenreflexe. Bewegungen der Glieder kraftlos. Xarben von abgeheiltem
Decubitus. Urin hellgelb, klar, frei von EiweiB und Zucker. Leichtes (idem
der FiiBe. Die sehr erschopfte Kranko war schwer beftngstigt und muBte erst
beruhigt werden, ehe sie imstande war, Antwort zu geben. Sie war orientiert
iiber ihre Person, Zeit und Ort, gab an, woher ihre Stirnnarbe herriihrte, sagte,
sie sei schon seit lfingerer Zeit sehr matt und sei zuweilen umgefallen, ftngstige
sich iiber ihr und ihrer Familie Auskommen und ha lie sich aus Verzweiflung
selbst mit einem Kohlenhammer geschlagen, als sie kurz vorher umgefallen ge-
wesen sei; sie habe sterben wollen. Auch in der Anstalt machte sich die Patientin
schwere Vorwiirfe, hatte Versiindigungsideen und heftige Angstzustande. Xach
einiger Zeit wurde sie ruhiger und jammerte nur zeitweise, blieb aber dauernd
gedriickt, driingtc fort, hatte keine Krankheitseinsicht. In ruhigeren Zeiten
konnte man iiber ihr Vorleben Auskunft von ihr erlangen. Sie rechnete gut und
verfiigte iiber geniigendes Schulwissen. Im Herbst 1919 machte Frau R. J. eine
Pleuritis durch. Andauemd blieb sie deprimiert und geangstigt. Im Friihjahr
1920 besserte sich ihr Befinden etwas, das Korpergewicht nahm auch zu. Sie
blieb aber sehr still, verharrte in miBmutiger Stimmung und zeigte deutlichen
Schwachsinn. Im Sommer 1920 anderte sich das Krankheitsbild nicht. Patientin
meinte, sie sei im Zuchthaus, aB oft schlecht, starrte triibe vor sich hin, nahm
keinen Anted an den Vorgangen der Umgebung. Auch im Winter 1920/21
blieb sie unzuganglich, gehemmt und zeigte sich dement. Am 18. Februar er-
krankte sie mit leichtem Fieber und Entziindung der Gaumenbogen, an die sich
eine Schwellung der linken Ohrspeicheldriise anscldoB. Sie wurde iminer sellwacher
und starb am 20. II. 1921.
Selction, 11 Stunden nach Tod vorgenommen, ergab folgendes: Fettgewebe
leidlich entwickelt, Muskulatur schlaff. hellbraun. groBe alte Hautnarbe an Stirn.
Schadeldach ohne Veriinderungen. GefaBe an Him basis zart. Hirnwindungen
und Rindensubstanz teilweise schmal. Marksubstanz zeigt Fiillung und Klaffen
der GefaBe. Herzbeutelbliitter initeinander verklebt. Herz vergroBert, Endokard
glatt. Herzmuskulatur gelblich-blaBbraun, morsch, durchsetzt von gelben Streifen
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
366
G. Ilberg:
Digitized by
und Flecken. Mitralklappen verdickt. Anfangsteil der Aorta und innere Haut
der Kranzadem zeigen gelbe Flecken und Streifen. Alte pleuritische Verwach-
aung beiderseits. Unterer Teil des Oberlappens blutreich. Schilddriise klein.
Milz 13:6:4, morach, Kapsel stellenweise verdickt. Leber 25:18:5, Oberflacha
stark gerunzelt, derbe Konsistenz, Schnittflache uneben, hellgelb gefleckt. Magen
von Sanduhrform, zeigt alte strahlige Narbe. Nieren in Fettmasse eingebettet.
Bindegewebskapsel nur mit Substanzverlust abziehbar, Oberfluche hockerig, derb,
JDurchschnitt zeigt verschmalerte Rinde, kleine Infarktnarben, undeutliche Zeich-
nung. Nierenbecken erweitert. Nebennieren derb, mittelgroB. Ovarien atro-
phisch. Auf Uteruaachleimhaut Blutung.
Mikroskopische L’ntersuchung der Hirnrinde:
Toluidinbla ufarbu ng, Zen tralwindu n g.
ZeiB, Okular 4, Objektiv 16: Pia nicht verdickt. Schon bei achwacher Ver-
groBerung aieht man innerhalb der Ganglienzellenachicht, und zwar in verschie-
denen Tiefen deraelben zahlreiche kleine und ganz kleine belle Herde, in denen
die Ganglienzellen zugrunde gegangen aind. Diese ,,verikieten“ Stellen enthalten
Zellen in sehr atark verminderter Anzahl; ganz zello8 aind aie nicht. In der Um-
gebung ist die Zellarchitektonik offenbar durch Verzerrungen und Verschiebungen
gestort. In derartigen verodeten Herden finden aich oft pigmentreiche Zellen.
Auf einem Schnitt von 1 qcm GroBe, der aenkrecht durch die Hirnrinde geht,
aind ohne weiterea 13 solcher Verodungsherde zu unteracheiden; hierbei ist eine
Reihe sehr kleiner Verodungsstellen nicht mitgerechnet. Weitaus die meisten
von ihnen befinden aich in der Tiefe der Ganglienzellenachicht; rnanche liegen
in der ftuBersten Schicht der Hirnrinde, andere in der mittleren. Die Betzachen
Zellen zeigen auBerhalb dieser Herde normale NiBlkorperchen und ziemlicli hellen
Kern, manchmal aber ist der Kern hellviolett und der groBte Teil des Zelleibs
diffua dunkelviolett. In der Ganglienzellen- und der auBersten Rindenschieht
bemerkt man stark gewundene und auch kernreiche GefiiBe. Viele von oben in
die Hirnrinde einmiindende Arteriolen zeigen ein verengtes Lumen. Neben den
Arteriolen der Marksubstanz, namentlich in den Verfistelungsstellen, liegt oft
reichlich grimes Pigment. Neben einem quergetroffenen, mit Blut gefullten, nicht
verengten GefaB der unteren Ganglienzellenschicht liegen pigmentreiche Kugeln;
auch finden sich runde, blasse, kernlose Kugeln in der Nit he der GefiiBe. Manche
groBeren, quergetroffenen GefaBe — auch aolche mit verengtem Lumen — zeigen
eine gefaserte Struktur. Neben den mehr graugriinen Pigmentkugeln liegen auch
scharfgriine brockelige Elemente neben groBeren GefiiBen. An manchen Stellen
zeigt das GefiiB geringe oder stftrkere aneurysmatische Auftreibung. In einem
Verodimgsherd liegt ein Haufen blaugriines Pigment.
Ok. 4, Immersion 2,0: Zwischen den beschriebenen Herden zeigen die Gan¬
glienzellen meist einen ziemlicli hellen Kern mit dunklem Kernkorperchen und
undeutlicher Kernmombran. Der Zelleib ist stellenweise dunkel, stellenweise
hellviolett und laBt tigroide Substanz— oft in Punkten und Streifen—erkennen.
Sodann kommen Ganglienzellen mit blassem, schattenhaftem, etwas wabigem
Zelleib ohne Kern vor. wenn auch nicht sehr hftufig. Endlich finden aich ge-
achrumpfte Ganglienzellen mit diffua dunklem Zelleib, der in dem ebenfalls dunk-
len Kern schwer abzugrenzen ist; inmitten des Kerns liegt das dunkle Kern¬
korperchen. In der Ganglienzellenschicht liegen mehr oder weniger zahlreiche
kleinere dunkle und groBere blasae Gliakenie auch als Trabantzellen neben den
Ganglienzellen. In dem Gebiet zwischen den Herden sieht man stark gekriimmte
GefiiBe und Capillaren. In ersteren sind die Endothelkerne oft stark vermehrt,
so daB das Lumen verengt wird. Auch die Kerne der Media sind vermehrt. Neben
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Multiple Verodungen in der Hirnrinde.
367
den Gef&Ben und Capillaren, zuweilen auch in der GefaBwand selbst, griinliches
Pigment und Gbakeme in perlschnurartiger Anordnung. — Die Herde entbehren
der Gangbenzellen fast ganz; nur einzelne Reste sind vorhanden und zeigen ge-
sclirumpften Zelleib. Oft Uegen an ihnen zahlreiche Gbazellen. Im iibrigen er-
kennt man in den Herden sehr zahlreiche blasse Gbazellen, teils vereinzelt, teils
zu mehreren beieinander Uegend. — In den Herden sieht man femer sich mehr-
fach ver&stelnde, zarte Capillaren, neben denen blasse Gbazellen liegen. An der
GefaBwand blaugriine Pigmentpunkte. — Neben den Herden liegen auch langs-
getroffene, weniger zarte Capibaren, die reichhche l&ngbche Kerne aufweisen.
Inmitten einiger Herde begt eine kleinere oder groBere Masse griinen Pigments
mit Konglomeraten von stark bchtbrechenden Komchen (Kalk). Dies Pigment
liegt mit Vorbebe in der Nahe eines dickeren Gef&Bes, bzw. zwischen GeffiB&sten.
Toluidinblaufarbung, Stimvrindung.
Ok. 4, Obj. 16: Die Stimwindung erscheint ohne weiteres im ganzen ver-
schmalert. Die Gangbenzebenschicht zeigt zahlreiche verodete Stellen, noch viel
mehr als in der Zentralwindung. Auch hier findet sich ein Teil der Verodungen
in der auBersten Rindenschicht, oft bis in die Mitte der Gangbenzebenschicht
hineinreichend, wahrend ein anderer Teil in der an das Mark angrenzenden Partie
der Gangbenzebenschicht begt; endlich kommen auch verodete Stellen in der
Mitte der Gangbenzebenschicht vor. Die Zellarchitektur ist in der Nahe dieser
Herde gestort. In manchen Schnitten ist die Zahl der Verodungen sehr groB,
in manchen gering. In den verodeten Stellen sieht man keine Gangbenzeben,
die Herde sind aber nicht kernlos. Die sichtbaren Zellen sind schwach gefarbt.
Inmitten einiger Verodungsherde liegen griinliche Brockel, ebenso in der Nahe
einiger GefaBe des Marks. Die GefaBe zeigen hie und da im Mark, in nicht ver-
odeter Rinde und namentbch in den Verodungsstellen verdickte Wande und
gekriimmte Konturen. AuBerdem finden sich Stellen, in denen die erwaluiteri
griinbchen Brockel reichlicher sind und einen Spalt auszufiiben scheinen. Ein¬
zelne quergetroffone GefaBe der Gangbenzebenschicht sowie der Pia zeigen Ver-
mehrung der Endothelkeme, auf die nach auBen in manchen Praparaten eine
blasse, kemlose Schicht folgt, an die sich weiter nach auBen vermehrte langliche
Kerne anschbeBen; das Lumen ist hier verengt. — Die Pia ist an manchen Stellen
verdickt und dann maBig kemreich. Die von der Pia in die oberste Hirnrinden-
schicht einziehenden langsgetroffenen GefaBchen zeigen gekriimmte Kontur und
vermehrte Kerne in ihrer Wand. In der Randzone, aber auch in verschiedenen
Schichten der Gangbenzelleiste und insbesondere auch in der Nahe von Ver-
odungsherden sind nicht nur die Wandungen der GefaBe sehr kemreich, teilweise
enthalten die GefaBe auch mehrere Lumina.
Ok. 4, Immersion 2,0: Manche Gangbenzeben in den nicht verodeten Stellen
haben einen blauen, andere einen hellen Kem. Die groBeren Gangbenzeben
zeigen einzelne NiBlschollen im Zelleib. Der Zelleib der Gangbenzeben mit dem
blauen, ovalen Kem ist diffus violett, oft rotlich violett bei dunklerer Farbung
der Randpartie, manchmal auch so diffus dunkelviolett, daB die Grenze zwischen
Kern und Zelleib nicht scharf zu sehen ist. Einige Gangbenzeben mit schatten-
haftem Zelleib haben keinen sichtbaren Kem. Die verodeten Stellen zeigen sehr
blasse Ghakerne von runder Kontur, auch blasse polygonale Zellen von geringer
GroBe und vereinzelte Gangbenzellenschatten, zum Teil mit Kernen. Um die
Gliakerne herum sieht man Andeutungen eines blassen Zelleibs. Die Gliakerne
liegen oft auch zu mehreren, zu vier und fiinfen beieinander. Das bei der schwachen
VergroBerung erwahnte grime Pigment begt bald in kleinen Brockeln, bald in
runden Scheiben angeordnet, ist bald mehr blaugriin, bald mehr gelbgriin. In
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
368
G. Ilberg:
der die Verodungsherde umgebenden Ganglienzellenschicht sind die Gliakerne
deutlich vermehrt; sie sind hier besser gefiirbt als im Herd. Die an der Peripherie
der Herde liegenden Ganglienzellen sind bald geschrumpft, bald verzogen (an-
nehmbar durch Zusammenziehung des Herdes). Liingsgetroffene GefaBe haben
eine unregelmftBig gekriimmte Kontur. Die Kerne aller Schichten sind vermehrt,
das Lumen ist bald verengt, bald erweitert. GefaGchen mit mehreren Lumina
zeigen Wucherung der langlichen wieder zarteren ovalen Kerne; die Wucherungen
sind mehrfach mit dunkelblauen, strukturlosen Brockeln versehen. In einem
stark gewundenen, langsgetroffenem GefaB liegt eine Ansammlung von weiBen,
kemhaltigen Blut-
korperchen; auch
Diplokokken und
Streptokokken fin-
den sich hier. Eben-
so sieht man in eini-
genCapillaren Leu ko -
cyten.
Hamatoxylin-Eosin -
fdrbung, Zentralwin-
dung.
Ok. 4, Obj. 16:
An mit salzsaurem
Alkohol behandelten
Hamatoxylinprafw-
raten treten die bei
den Schnitten mit
Toluidinblaufarbung
beschriebenen Ver-
odungen nicht son-
derlich hervor. Man
sieht nur hie und
da in der Molekular-
schicht und in der
Pia vereinzelte und
nurselten ingroBerer
Anzahl herdweise
Abb. 1 und Abb. 2 geben Mikrophotographien von Toluidin- auftretende blaue.
blaupriiparaten der Zentral- und Stirnwindung wieder, die runde Scheiben und
im Forschungsinstitut zu Miinchen hergestellt wurden. auBerdem nur einen
grau erscheinenden
Herd mit zahlreichen blauen Kernen inmitten der Ganglienzellenschicht, viel-
leieht 1 / 30 des Gesichtsfeldes einnehmend.
Ok. 4 , Immersion 2,0: Die Wand der zuweilen gekrummt verlaufenden und
ein verengtes, auf Langs- und Querschnitten manchmal geschlossenes Lumen
darbietenden Arteriolen enthalt. reichliche langliche Kerne. In der Molekular-
schicht und der Marksubstanz liegen stellenweise diffus blaue, runde, kernlose
Scheiben, vermehrt in der Nahe groBerer GefiiBe. Neben manchen groBeren Ge-
faBen und herdweise finden sich gelbbraune Kornchen, bald vereinzelt, bald in
groBerer Anzahl. Am deutlichsten sieht man diese gelbbraunen Brockel in dem
bei Obj. 16 erwahnten grauen Herd. Hier liegen auch runde und ovale Schei!>en
mit schnrfem Rand von der GroBe eines Ganglienzellkemes (groBe Gliakerne),
V'-.. . 7 >■< :5
• —•< V4 W.*.. / ■ - * • ' vi -*
.r • . •’ .. *: , ' >• 1 j;*
/,«• ^7.V J ■“ * • • * ■ J, . 4
*
' • ‘ . - ■
. .
. :
Abb. 1. Zentral windung.
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Multiple Verodungen in der Hirnrinde.
369
die zahlreiche feine, blaue Punkte enthalten. Oft liegt am Rand der gelbbraunen
Gebilde ein dunkelblauer ovaler Kern, — eine Randkontur um das graue Brockel
ist nicht zu erkennen.
In der Marksubstanz liegen oft neben den GefaBen Gliakerne in perlschnur-
artiger Anordnung.
Hdmatozylin-Eosinfdrbung, Stimwindung.
Ok. 4, Obj. 16: Kleine, dunkelblaue Scheiben liegen an einigen Stellen der
auBersten Hirnrinde. Zuweilen sind diese Scheiben herdweise zahlreicher und
reiehen keilformig bis
an die Ganglienzellen-
schicht heran. Auch
finden sich derartige
runde Scheiben ver-
streut in der Marksub¬
stanz (Myelintropf-
chen?).
Ok. 4, Immersion
2,0: Die erw&hnten
runden Scheiben lassen
keinen Kern und keine
Schichtung erkennen.
An lftngsgetroffenen
Arteriolen sind die
langlichen Kerne ver-
mehrt. Die bei Be-
schreibung der Zentral-
windung geschilderten
gelbbraunen Brockel
neben den GefaBen ent¬
halten auch hier inei-
stens, aber nicht im-
mer, einen blauen Kern.
Eine Umrandung ist
nicht sichtbar.
Heidelberger Gliafaserfdrbnng, Zentralmndung.
Ok. 4, Obj. 16: Vom helleren Untergrund heben sich die durch Kernreichtum
und -Fiillung stark blaugefarbten GefaBe in Ganglienzellenschicht und Mark grob
hervor. Auch die Umgebung der Arteriolen ist durch vermehrte Kerne und Fasern
starker blau gefarbt. Die auBerste Schicht der Hirnrinde zeigt einen dunkelblauen
faserigen Saum, der verschieden dick ist und an einigen Stellen keilformig als
feiner Filz bis an die Ganglienzellenschicht heran und in sie hinein l&uft. An einer
anderen Stelle findet sich in der Ganglienzellenschicht ein langlicher, stark blau
gefarbter faseriger Streifen.
Ok. 4, Immersion 2,0: Um viele GefaBe heruin liegen Gliafasern und neben
einigen GefaBen rundliche, hellbraune Brockel ohne Umrandung mit blauem,
ovalem Kern. An einigen Stellen finden sich in der Ganglienzellenschicht Herde
von Gliafasern. Hier sind auch die Gliakerne — und zwar die kleinen dunkleren
wie die groBen helleren — stark vermehrt. Ein Gliafaserherd entspricht einem
verodeten Herd im Toluidinblaupraparal. Die Herde mit Gliafaservermehrung
finden sich aber nicht so haufig wie die verodeten Stellen im Toluidinblaupriiparat.
lA, • ^ • . • •• '•>•*» * i rf 'f i* , •
-W, • . '•«?• % ‘ V : V ' :!
Abb. 2. Stimwindung.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
370
G. Ilberg:
Digitized by
Abgesehen von sole hen Herden enthalt die Ganglienzellenschicht nur wenige Glia-
fasem. Xeben manchen GefftBen liegen runde, hellblaue Scheiben, die innen eine
dunklere und am Rande eine hellere Ffirbung haben.
Heidelberger Gliafaserfdrbung, Stimwindung.
Dieselben Verhfiltnisse wie bei Zentralwindung beschrieben.
Herxheimer-Fettfarbung, Zentralwindung.
Ok. 4, Obj. 16: Die Wand einiger groBerer GeffiBe in der Ganglienzellen-
schicht ist stellenweise diffus grellrot gefarbt (hyaline Degeneration). Besondere
Herde wie bei der Toluidinblauffirbung lassen sich nicht abgrenzen. Einzelne
quer- oder lfingsgetroffene GeffiBe sind verschlossen. Ein Teil des Zelleibs der
Ganglienzellen ist rot punktiert.
Ok. 4, Immersion 2,0: Der Leib der meisten Ganglienzellen ist reichlick mit
roten Pimkten durchsetzt. Xeben vielen Kemen der Gliazellen liegen sehr zahl-
reiche rote Punkte. Auch neben den GeffiBwandzellen der Capillaren und Ar-
teriolen imd im adventitiellen Lymphraum sind feine und dickere rote Punkte
zu erkennen. In alien Schichten des Priiparats ist diese starke Verfettung deut-
lich. Ein herdweiser Unterschied fftllt nicht auf. Auch neben den Gliakernen
der Randzone und besonders am Zelleib der kleinen Ganglienzellen der obersten
Schichten sieht man viele rote Punkte. Die bei Obj. 16 erwahnten hellroten
Stellen der Gef&Bwand sind auch bei Immersionsbetrachtung diffus rot, nicht
wie die verfetteten Stellen punktiert rot.
Herxheimer- Felt farbung, Stimwindung.
Ok. 4, Obj. 16: Dieselben Verhaltnis.se wie bei der Zentralwindung; eine
deutliche Abgrenzung von Herden ist auch hier nicht zu erkennen.
Ok. 4, Immersion 2,0: Einzelne GeffiBe haben infolge Kernwucherung ein
verschlossenes Lumen. Es findet sich dieselbe starke Verfettung wie bei der
Zentralwindung beschrieben. An den Arteriolen bemerkt man cinwfirts von der
Adventitia auch hier stellenweise GefftBwandabsclmitte, die diffus leuchtend rot
gefftrbt sind, nicht rot gesprenkelt wie bei Verfettung (hyaline Degeneration).
Farbung nach PlasmazeUen mit Unna-Pappenheims Methylgriin-Pyronin-Gemisrh.
Ok. 4, Immersion 2,0: Stiicke von Stimwindung und von Zentralwindung
zeigen die verodeten Stellen wie die mit Toluidinblau gef&rbten Pr¶te; in
den verodeten Stellen sind die Ganglienzellen fast ausgefallen; dafiir finden sich
reichliche groBere helle und kleinere dunklere Gliazellen. Die Gliakeme sind auch
in den nicht verodeten Stellen und hier teilweise um die Ganglienzellen vermehrt.
Die GeffiBe zeigen hier und da Vermehrung der Endothel- wie der l&nglichen
Kerne. PlasmazeUen finden sich nicht.
Alaunkarmin farbung, Zentralwindung und Stimwindung.
Ok. 4, Immersion 2,0: Teile der Intima der GeffiBe sind verdickt, die Media
hat vermehrte Kerne. Einzelne Partien des GeffiBquersclmitts sind strukturlos;
sie entsprechen den hyalin degenerierten Stellen des Fettprfiparates. Einzelne
quergetroffene GeffiBe zeigen Anh&ufung von kemhaltigen Zellen einwfirts von
der Intima. Xeben vielen groBeren GefftBen liegen hellere, kernartige Partien.
Resorcinfuchsinfarbung, Zentralwindung und Stimwindung.
Ok. 4, Immersion 2,0: Die Elastica ist an manchen GefftBen teilweise diinn,
teilweise fehlt sie. Zuweilen ist sie aufgesplittert. Oft ist sie gut erhalten. — An
einigen GefaBen der Pia liegt einwfirts von zusammengedrfingten Elasticafasern
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Multiple Verbdungen in der Himrinde.
371
eine diffus dunkelrosa gefarbte Masse im Gef&Blumen ( wands tdndiger Thrombus)',
die gerade unter diesem Thrombus liegende Oegend der Himrinde enthalt einen Ver-
odungsherd.
Pikrocarminfdrbung, Zentralwindung und Stirnwindung.
Ok. 4, Immersion 2,0: Stellenweise findensich schattenhafte Ganglienzellen,
zuin Teil ohne Kern, sowie geschrumpfte Ganglienzellen mit diffus dunkelblauem
Zelleib, der vom dunklen Kern nur schwer abzugrenzen ist. Intima und Media
der kleineren GefaBe zeigen vermehrte Kerne. An vielen Ganglienzellen und
neben vielen Capillaren liegen Gliakerne. Viele kleine Gef&Be der oberen Partien
der Himrinde zeigen ein diffus leuchtend rot gefftrbtes Innere, oft schon beim
Eintritt aus der Pia in die Randzone. Man sieht diese leuchtend roten Stellen in
der GefaBwand und ira Innem des GeffiBlumens auf Quer- wie Langsschnitten,
inGanglienzellenschicht undMarksubstanzfTAro/niett und hyaline Degenerationen).
Bielschowskysche Farbung, Zentralwindung.
Ok. 4, Obj. 16: Querschnitte einiger groBerer und L&ngsschnitte vieler klei-
nerer GefaBe sind diffus dunkelviolett gefarbt. Einige mittelgroBe GefaBe in der
Randzone zeigen auf Querschnitten einen dicken, diffus violetten Ring. Das
Lumen einiger langsgetroffener GefaBe der Randzone hat unregelmaBige Breite.
An einer Stelle finden sich vier quergetroffene GefaBlumina dicht nebeneinander.
(Knauelbildung — Teilung?)
Ok. 4, Immersion 2,0: Langsschnitte von Capillaren weisen oft langsziehende
oder um das GefaB herum gewundene Fasem auf. Langs- und quergeschnittene
GefaBe enthalten zuweilen dunkelvioletten, etwas marmorierten GefaBinhalt.
(Thromben); solche Gebilde finden sich in einigen Abschnitten der Randzone
wie der Ganglienzellenschicht.
Herrn Kollegen Schob in Dresden spreche ich fur mehrfache Beratung und
Hilfe auch an dieser Stelle meinen besten Dank aus.
Vberblickt man alles Vorstehende, so zeigt sich folgendes: die
untersuchten Stellen der Zentralwindung und Stirnwindung, die, wie
der Sektionsbericht angibt, teilweise schmal waren, weisen zahlreiche
Verodungsherde auf, in denen die Ganglienzellen atrophiert, zum Teil
schattenhaft sind. In den Herden finden sich Pigmentbrockel und
pigmentreiche Zellen; Gliakerne und Gliafasern sind in den Herden
vermehrt. Endlich sind in manchen Herden sich mehrfach verastelnde
zarte GefaBchen zu erkennen. In der Umgebung der Herde sind die
Gewebselemente oft verzerrt und verschoben. Viele GefaBchen der
Pia und der Ganglienzellenschicht haben eine stark gewundene Kontur.
Die Wand der GefaBe ist oft verdickt, die Kerne namentlich der mitt-
leren und der inneren Schicht sind vermehrt. Die Elastica ist sparlich,
diinn, zuweilen aufgesplittert. Einige Male zeigen GefaBlangsschnitt-e
aneurysmatische Auftreibung. Die GefaBwand ist mehrfach hyalin
degeneriert; es ist hier und da zu thrombotischer Verengerung des Lu¬
mens gekommen. Auch die Kernvermehrung der mittleren und in¬
neren Schicht hat zuweilen zu Verengerung des Lumens gefiihrt,
manchmal zu seiner VerschlieBung. Einige Male finden sich mehrere
Lumina nebeneinander; ob es sich hier um einen Schnitt durch ein
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
G. Ilberg: Multiple Verodungen in der Himrinde.
Digitized by
Gefaliknauel oder um Teilung des GefaBes handelt, ist nicht vollig
geklart. Wie im Sektionsbericht angegeben, sind verschiedene Stellen
der Hirnwindung und der Rindensubstanz teilweise verschmalert. Die
Ursache dieser Verschmalerung beruht, wie die Untersuchung der
Zentralwindung und der Stirnwindung gezeigt hat, auf dem Vorhanden-
sein zahlreicher Verodungsherde, in deren Umgebung infolge von
Schrumpfung Verzerrungen und Verschiebungen des Gewebes statt-
gefunden haben. Zweifellos sind diese Verodungen durch VerschluB
der kleinen GefaBe zu erklaren, denen die Ernahrung der betreffenden
HirnrindensteUe zufiel. Die kleinen GefaBe sind arteriosklerotisch ver-
andert und durch Kernwucherung, Verminderung der Elastica, hyaline
Degeneration und Thrombenbildung geschlossen. In dem zu den ge-
schlossenen GefaBen gehorigen Bezirk sind die Ganglienzellen atrophiert
oder geschwunden; dafiir ist das GUagewebe gewmchert; groBe Gliazellen
finden sich nicht. Die vorhandenen Pigmentbrockel sind als Abbaupro-
dukte anzusehen, die nach und nach fortgeschwemmt werden — finden
sie sich doch auch im adventitiellen Lymphraum vieler GefaBe. In den
Verodungsherden zeigt das mesodermale Gewebe schwache Neigung zu
YVucherung, wie die neu gebildeten Capillarnetze erweisen. Die GefaB-
wand ist auch in Form fettiger Degeneration entartet. Die perlschnur-
artige Anlage von Gliakernen an die GefaBe weist auf perivasculare
Gliose hin. Abgesehen von den Verodungsherden finden sich in den
Praparaten noch unregelmaBige Verdickung des Gliasaumes der Rand-
zone, Vermehrung der Gliakerne in der Ganglienzellenschicht, Anhau-
fung von Fettkornchen im Zelleib der Ganglienzellen und neben den Glia¬
kernen; neben den Ganglienzellen liegen nicht selten mehrere Gliakerne.
Die nervosen Erscheinungen, die in der Krankengeschichte mitgeteilt
sind, lassen sich durch die zahlreichen Verodungsherde erklaren, zweifel¬
los auch die in der letzten Zeit bestehende Demenz. Ob die arteriosklero-
tischen Veranderungen teilweise auf luetischer Grundlage entstanden
sind, ist nicht genau aufgeklart worden, da serologische Untersuchungen
seinerzeit leider nicht angestellt worden sind.
Gougle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
BewuBtseinstrubungen bei Dementia praecox.
Von
Dr. W. Medow.
(Aus der psych, u. Nervenklinik Rostock-Gchlsheim
[Direktor: Prof. Dr. Rosenfeld].)
(Eingegangen am 11. Oktober 1922.)
Als BewuBtsein bezeichnet man die innere Wahrnehmung von Vor-
stellungen, Gedanken und Gefuhlen. Bewufitseinsstorungen sind also
nicht Storungen von Vorstellungen, Gedanken und Gefuhlen, sondern
solche dieser inneren Wahrnehmung. BewuBtseinstrubungen haben im
allgemeinen als Kennzeichen organischer Geisteskrankheiten gegolten
und sie werden vom Charakter schlafriger Dammrigkeit, aber auch
von dem einer deliridsen Gberhelligkeit in der Regel bei den verschie-
denen Arten anerkannter exogener Erkrankungen gefunden. Sie be-
herrschen in den Delirien und den organischen Dammerzustanden das
Krankheitsbild und geben in den symptomatischen Psychosen das
wichtigste Merkmal ab. Scheint somit das Symptom der BewuBtseins-
triibung in erfreulicher Weise klarend zu wirken, so erwachst eine be-
deutende Schwierigkeit in erster Linie aus der Tatsache, daB es eine
messende Methode fur die Feststellung derselben nicht gibt. Es begriin-
det sich dieses darin, daB das BewuBtsein eine subjektive GroBe ist, die
nicht objektiv in Erscheinung tritt und nicht direkt wahrgenommen
werden kann. Als ein allgemeiner cerebraler Zustand werden ihre Sto¬
rungen auch solche der greifbareren psychischen Teilzustande, die Eb-
binghaus die TatigkeitsauBerungen des BewuBtseins nennt, nach sich
ziehen und somit nach auBen wirksam werden. Hingegen lassen Sto¬
rungen der letzteren keinen unmittelbaren RiickschluB auf den Be-
wuBtseinszustand zu. Jaspers hat zwar als greifbare Kennzeichen
der Besonnenheit, d. h. der gesunden BewuBtseinsklarheit, die Orien-
tiertheit und die Fahigkeit, sich auf Fragen zu besinnen und sich
etwas zu merken, angefiihrt, doch beziehen sich diese Feststellungen
nicht auf das BewuBtsein selbst, sondern auf die nachgeordnete, nach
auBen wirksam werdende BewuBtseinstatigkeit. Fehlleistungen des
Orientierungsvermogens, der Auffassung, der Merkfahigkeit werden nur
auf dem Wege des indirekten Riickschlusses auf BewuUtseinsstorungen
bezogen werden konnen. Der RiickschluB wird erleichtert, wenn wir
iiberzeugt sein werden, daB nach Art des Eindruckes eine BewuBt-
Archlv fUr Psychiatrie. Bd. 67. 25
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
374
W. Medow:
Digitized by
seinsstorung vorliegt oder die Art des Krankheitsvorganges eine solche
erwarten la lit. Derselbe verlangt den AusschluB primarer, isolierter
Storungen der TatigkeitsauBerung des BewuBtseins, ebensowohl wie
den von sekundaren Einwirkungen anders gearteter psychischer Krank-
heitsvorgange; beides wird aber aus praktischen Griinden oft nur mit
Schwierigkeiten festgestellt werden konnen. Wenn auch eine Unter-
suchung der Orientiertheit, der Auffassungsfahigkeit, der Merkfahig-
keit, der Aufmerksamkeit, fiber deren diagnostischen Wert zur Erken-
nung von BewuBtseinstriibungen im einzelnen spater gesprochen wer¬
den soil, hilfsweise herangezogen werden muB, so bleibt das entschei-
dende Urteil iiber die Bewu Btseinsklarheit selbst doch dem Eindruck
des Beobachters iiberlassen. Die Mangel der subjektiven Auffassung
miissen bei dieser Lage auch in den Resultaten der BewuBtseinsprii-
fung wiederkehren. Aus allem ergibt sich die Schwierigkeit, mit der
eine genaue Feststellung des Bewu Btseinszustandes zu rechnen hat.
Gleichwohl ist im praktischen Falle die Erkennung einer vollent-
wickelten BewuBtseinstriibung vom Charakter der Dammrigkeit keine
schwierige. Erheblich unsicherer wird jedoch das Urteil, w r enn niedere
Grade von BewuBtseinstriibung vorliegen, wenn die BewuBtseinstrii-
bung nicht im Gewande der Schlafrigkeit, sondern in jenem der deli-
riosen Erregtheit und der traumartigen Lebendigkeit auftritt und wenn
anders geartete, von einer anderen Seite des Seelenlebens angreifende,
aber ahnlich auf die Denkvorgange wirkendeErscheinungen hinzutreten.
Es sei hier angedeutet, daBes sich bei einer derartigenErregtheit und der
hyperluziden Veranderung der BewuBtseinstatigkeit nur um eine schein-
bare, nicht um eine wirkliche Vermehrung der Bewu Btseinshelligkeit
handcln kann, ahnlich wie bei dem manischen IdeenfluBdieForderung der
Assoziationsleistungen nur eine scheinbare ist. Ahnlich tvird es sich
auch bei den mit der Hyperluziditat einhergehenden analogenErregungen
auf dem Gebiete der TatigkeitsauBerungen des Bew’uBtseins (Auffassung,
Aufmerksamkeit) handeln. Wenn man entsprechende, mit Erregungen
oder einer Mischung aus Erregung und Lahmung der Bewu Btseinstatig¬
keit einhergehende Krankheitsfalle iiberblickt, tvird man sich der
Schwierigkeit der Beurteilung bewuBt werden und sich gestehen miissen,
daB fur den Untersucher bisweilen mehr die Kenntnis iiber ein vor-
liegendes oder fehlendes organisches Grundleiden als die sichere Fest¬
stellung und genaue Zergliederung des BetvuBtseinszustandes die prak-
tische Entscheidung abgeben wird. Man wird sich leicht von der
bisherigen, etwas dogmatischen Auffassung von der Beschrankung der
BewuBtseinstriibung auf die engere organische Krankheitsgruppe un-
bewuBt leiten lassen und die feineren, schwerer zu erklarenden Erschei-
nungen in den BewuBtseinszustanden, der bisher als endogen geltenden
Krankheitsbilder miBdeuten.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
BewuBtseinstriibungen bei Dementia praecox.
375
Wie hiermit schon angecleutet, gesellt sich zu der eingangs geschil-
derten Schwierigkeit, die in der Erfassung der BewuBtseinstriibungen
beruht, noch die weitere, daB der bisher ziemlick scharf begrenzte Gel-
tungsbereich der BewuBtseinstriibungen, der auch ihre Kenntnis zu-
nachst erleichterte, bei genauer Priifung doch eine erhebliche Erweite-
rung erfahren muB. Wie allgemein wird die Vertiefung der Kenntnisse
auch die Schwierigkeiten vermehren, denen erst die Zuriickfiihrung auf
einheitliche Linien Einhalt tun kann. Die folgenden Untersuchungen
werden sich insbesondere mit der Frage beschaftigen, ob die bisher
gezogenen Grenzen zwischen organischen und nicht organischen Psy¬
chosen in ihrer bisherigen Auffassung zu Recht bestehen und ob die
Feststellung einer BewuBtseinstriibung den Ausschlag fur eine Zu-
teilung zur exogenen oder endogenen Krankheitsgruppe abgeben kann.
Es wird sich die Frage erheben, ob nicht die Besonderheit endogener
Krankheitsgruppen, von denen ich speziell die Dementia praecox ins
Auge gefaBt habe, sich aus einer feineren, nur gelegentlich den Grad
greifbarer BewuBtseinstriibung erreichenden Schadigung des BewuBt-
seins erklart, die dem Funktionellen Spielraum zur ins Auge fallenden
Entfaltung belaBt.
Die Frage der BewuBtseinstriibung bei der Amentia, dem Binde-
glied zwischen exogenera und endogenem Krankheitstyp, hat wie diese
selbst seit Meynert eine wesentliche Wandlung erfahren. Meynert
hat das grundlegende Symptom der gedanklichen Verwirrtheit durch
Assoziationsmangel und nicht durch BewuBtseinstriibung erklart. Er
sagt: ,,Mit Mangel des BewuBtseins ist die Verworrenheit nicht zu
verwechseln. Der Verwirrte hat die Wahrnehmungen, aber er versteht
sie nicht. Wenn die Wahrnehmungen fehlen oder herabgesetzt sind,
so liegt nicht Verwirrtheit, sondern Betaubung vor. Solche kann ir-
gend einmal die Verwirrtheit komplizieren, gehort ihr jedoch nicht
wesentlich an.“ Seitdem hat das Krankheitsbild der Amentia eine Ein-
engung und Verschiebung erfahren. Gegenwartig wird sie als selb-
standiges Krankheitsbild fiir eine Gruppe symptomatischer Psychosen
vorbehalten, die den Infektionsdelirien nahestehen. Gleichzeitig hier¬
mit ist die BewuBtseinstriibung gerade zu einem wesentlichen Sym¬
ptom des Krankheitsbildes erhoben worden. Nach Kraepelin ist die
Amentia hauptsachlich durch das Auftreten einer leichteren oder tiefe-
ren BewuBtseinstriibung mit mannigfaltigen Reizerscheinungen auf
sensorischen oder motorischen Gebieten gekennzeichnet. Die Verworren¬
heit ist eine traumhafte. Er miBt der BewuBtseinstriibung eine Be-
sonderheit bei, insofern als Aufmerksamkeit und das elementare Auf-
fassungsvermogen erhalten bleiben und der Mangel assoziativer Ver-
kniipfung und die Schwere der Denkstorung viel mehr im Vordergrund
stehen. In letzterem findet ohne Zweifel eine erhebliche Annaherung
25*
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
376
W. Medow:
Digitized by
an den Meynertschen Standpunkt statt. — Es ist jedoch zweifelhaft,
ob ein solcher Standpunkt theoretisch haltbar ist, da BewuCtseins-
triibungen eine Storung der Bewu Qtseinstatigkeit nach sich ziehen
miissen; immerhin konnte an gewisse graduelle Besonderheiten gedacht
werden. Wieg-Wickenthal halt den BewuBtseinszustand der Amentia
flir einen traumhaft getriibten und deliriosen. Einen ahnlichen Stand¬
punkt nimmt Bleuler ein, ohne der von Kraepelin gefundenen Wahr-
nehmungshelligkeit eine charakteristische Bedeutung beizumessen. An-
dere Autoren diirften zu dem Krankheitsbilde der Amentia eine ab-
weichende Stellung einnehmen. Racke fiihrt unter den Grundsym-
ptomen nicht die BewuBtseinstriibung, hingegen den Zerfall der Asso-
ziationen, die Schwache der Apperzeption und das Auftreten zahl-
reicher Phantasmen an, wobei in der Apperzeptionsstorung wohl die
Tatsache der BewuBtseinstriibung angedeutet ist. Kleist faBt die
Amentia als Symptom auf und kennzeichnet sie kurz als Verwirrtheit
durch Inkoh&renz. Die Loslosung des Amentia-Begriffes von der sonst
iiblichen Verkniipfung mit dem organischen Krankheitsprozesse hat in
diesem Falle auch den Fortfall der BewuBtseinstriibung nach sich ge-
zogen. Als Syndrom erlangt hiermit die Amentia eine umfassendere
Ver wend bar keit und verbreitert sich wieder auf das weite Gebiet des
Meynertschen Krankheitsbegriffes. Fiir jene Autoren, die die Amentia
auf eine Gruppe von Krankheitsbildern mit organischen Krankheits-
grundlagen beschrankt haben, ist es verlockend gewesen, gerade in der
BewuBtseinstriibung ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal gegen-
iiber anderen Krankheitsbildern zu sehen, bei denen organische Sym-
ptome weniger augenfallig oder nur episodisch und in besonders ge-
arteten Fallen hervortreten; es sind dieses namentlich zur Krankheits-
gruppe der Schizophrenic gehorige Krankheitsbilder. Insbesondere hat
Wieg-Wickenthal geglaubt, hier einen scharfen Trennungsstrich
ziehen zu konnen. Einesteils behauptet er, daB bei den mit akuter Ver-
worrenheit beginnenden Bildern der Dementia praecox primare Ver-
wirrtheit und primare Assoziationsstorungen im Gegensatz zur Amen¬
tia fehlen; die Assoziationsstorungen wvirden hier vielmehr sekundar
durch Mangel der ,,treibenden Faktoren fiir eine geordnete BewuBt-
seinstatigkeit (Wille, Aufmerksamkeit)“ hervorgerufen. Niemals mache
die Verwirrtheit den Eindmck der schweren primaren Assoziations-
storung mit sekundarer Ratlosigkeit. Die Auffassung sei bei diesen
Verwirrten nur ganz geringfiigig oder gar nicht gestort. Hierzu sei dar-
auf aufmerksam gemacht, daB Kraepelin gerade umgekehrt die ele-
mentare Auffassung bei der Amentia ungestort sieht. Ferner spricht
Wieg-Wickenthal den verwoiTenen Bildern der Dementia praecox
die BewuBtseinstriibung und die Auffassungsstorung, die er als die we-
sentlichsten Merkmale der Amentia bezeichnet, giinzlich ab. Immer-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
BewuBtseinstnibungen bei Dementia praecox.
377
hin gibt er fiir seltene Falle der Dementia praecox, namentlich unter
der Einwirkung erschopfender Ursachen, wozu er auch das Wochen-
bett rechnet, wenigstens eine primare Inkoharenz, allerdings verkniipft
mit Willens- und Aufmerksamkeitsstorung und Erregungszustanden zu,
in welchen Fallen dann eine Unterscheidung unmoglich sei. Dem Fehlen
oder Bestehen von Aufmerksamkeitsstorung will er keine trennende
Bedeutung beimessen. Einen beweglicheren Standpunkt vertritt Bleu-
ler, der in der besonderen Art der BewuBtseinstatigkeit, namentlich
auch der Auffassung keinen entscheidenden Unterschied erblickt. Er be-
zeichnet zwar auch den BewuBtseinszustand bei der Amentia als einen
traumhaft getriibten, doch legt er bei der Trennung das Hauptgewicht
in das Fehlen oder Bestehen schizophrener Zeichen. Einen auffallen-
den Standpunkt nimmt Tromner ein, indem er der Amentia gerade
eine gewisse Besonnenheit zuerkennt, aber als Unterscheidungsinerk-
mal die bei Hebephrenie selten zu beobachtende Desorientierung und
Ratlosigkeit anfiihrt. Das Zusammentreffen von Besonnenheit mit
Desorientierung und Ratlosigkeit muB aber als eine besonders kompli-
zierte Kombination bezeichnet werden, die bei Trommer keine Erkla-
rung findet. Gabe es scharf getrennte Zustandbilder, so ware nach
dem Gesagten im allgemeinen zu erwarten, daB bei Amentia keine
schizophrenen Erscheinungen, insbesondere weder Willensstorung noch
Negativismus, bei ahnlich gearteten Zustanden der Schizophrenic da-
gegen keine BewuBtseinstrubung und keine primare Assoziationsstorung
auftreten diirften. Diesen Standpunkt vertritt im allgemeinen Krae-
pelin, indem er sagt: ,,Fiir die Unterscheidung der Infektionsdelirien
ist die schwere Benommenheit gegeniiber der Besonnenheit katatoner
Kranker zu beachten, ferner das Fehlen des Negativismus und trieb-
artiger Stereotypie.’ 4 An anderer Stelle miBt er der Amentia andauernde
Ratlosigkeit und Verworrenheit bei erhaltener Aufmerksamkeit, der
Katatonie, auch in der starksten Erregung, Verstandnis der Umgebung,
richtige Zeitrechnung und gutes Gedachtnis der letzten Zeit bei. Im
folgenden wird sich die Frage ergeben, ob diese Annahmen den wirk-
lichen Verhaltnissen voll gerecht werden und ob es wirklich gestattet
ist, nach diesen Gesichtspunkten scharfe Trennungsstriche zu ziehen.
Es ist mit der Frage der BewuBtseinstrubung in der Dementia
praecox auch jene nach der Art des zugrunde liegenden Prozesses und
nach der Eingruppierung zu den exogenen oder endogenen Verlaufs-
tvpen verkniipft.
Alle diese Fragen haben schon bei Bonhoffer in seiner Arbeit
iiber die Infektionspsychosen eine eingehende Beantwortung gefunden.
In der Tat gibt es nach ihm keine scharfen Trennungslinien zwischen
den Auslaufern beider Krankheitsgruppen. Er sagt: ,,Die Differenzie-
rung beider Krankheiten nach dem Zustandsbilde ist keineswegs ein-
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
378
W. Medow:
Digitized by
fach, vielleicht nicht moglich. Die echte Katatonie kann ganz ahnlich
schwere Bilder erzeugen, sogar die neurologischen Begleitsymptome
konnen iibereinstimmen.“ Katatonische Symptome und Benommenheit
sind keine Unterscheidungsmerkmale, denn ,,es gibt tatsachlich kein
einziges katatonisches Symptom, das sich nicht auch bei Infektions-
psychosen fande, ausgesprochener Negativismus ist sogar eine haufige
Erscheinung bei Infektionspsychosen. Benommenheit kann in beiden
Fallen ausgesprochen sein. Sie kann in den schweren Katatonie-Fallen
durchaus den Charakter der Betaubung haben.“
Es bleibt zu erortern, welche Stellung die Autoren zur Frage des
BewuBtseinszustandes l>ei der Dementia praecox und deren Unter-
formen einnehmen.
Zunachst wird von den meisten Autoren die groBe Vielgestaltig-
keit der Bilder, die fast alie denkbaren Verlaufsformen annehinen kon-
nen, hervorgehoben. Von alien diesen Formen sind es insbesondere
die akut einsetzenden Bilder, die katatonen und inkoharenten Formen
und die Stupor-Zustande, bei denen die Frage des BewuBtseinszustan¬
des am meisten erortert worden ist. Bleuler hebt die Unklarheit des
BewuBtseinsbegriffes hervor. Aus praktischen Griinden nimmt er Fol-
gendes als Kennzeichen einer BewuBtseinstriibung an: ,,Storung der Zu-
sammensetzung der Sinneseindriicke zu einem Ort- und Zeitbild (ort-
liche und zeitliche Desorientierung), Alteration der Empfindung und
Wahrnehmung (Auffassungsschwache). Die Sinnesreize werden zum
Teil nicht erfaBt und illusionar umgedeutet;dafiir schafft sich die Psyche
von innen heraus eine eigene Welt, die nach auBen verlegt wird, und
man redet dann von Dammerzustanden.“
Besonders tief leuchtet Wernicke in die krankhaften BewuBt-
seinsvorgange hinein an einer Stelle, wo er iiber das Entstehen von
Wahnbildungen aus BewuBtseinsstorungen spricht. Nach ihm sind die
Bewu Btseinstriibungen nicht als etwas Einheitliches und unbedingt
Kontinuierliches anzusehen. AnschlieBend an einen Krankheitsfall, der
wohl in die Gruppe der paranoiden Erkrankungen gehort, zeigt er auch
auf diesem Gebiete die eigenartigsten Teilstorungen und den fliichtig-
sten Wechsel der Zustande. Er findet bei ihm momentweise traum-
hafte Abgelenktheit durch innere Vorgange, die er mit deliranten Zu-
standen vergleicht, denen er eine traumhafte Trtibung des BewuBt-
seins zuerkennt. Diese Zustande konnten sich in ununterbrochenem
Wechsel der Bew'uBtseinszustande in einen Grundzustand von Luzi-
ditat mit guter Fixierbarkeit und wohlerhaltener Merkfiihigkeit ein-
schieben. Sie ahnelten den physiologischen Zustanden der sogenannten
Fassungslosigkeit. Jedenfalls ist es unrichtig, anzunehmen, daB kon-
tinuierliche Be wu Btsei nst r ii bu nge n nur bt‘i den als organisch geltenden
Gehirnerkrankungen, fliichtiger Wechsel der Luziditat demgegen-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
BewuBtseinstriibungen bei Dementia praecox.
379
fiber bei besonderen Arten endogener Psychosen vorkommen. Die
wirklichen Verhaltnisse dfirften so liegen, daB nur bei den hohen Gra-
den von BewuBtseinstriibungen, die zu einer volligen Lahmung des
BewuBtseins ffihren, ohne irgendwelche Rficksicht auf die qualitative
Art des Vorganges die kontinuierliche Tiefe der Somnolenz oder des
Komas erreicht wird und daB diese Tiefe in der Regel nur bei schweren
organischen Prozessen auftritt. Bei alien geringeren Graden von Be¬
wu Btseinstrtibungen ist die Luziditat standigen, verschieden schnell
ablaufenden Schwankungen unterworfen, gleichgfiltig ob sie bei einer
als exogen oder als endogen geltenden Krankheitsform auftritt. Ich
erinnere an die fiberraschenden Wechsel der Bewu Btseinshelligkeit im
Alkohol- und vielen Fieberdelirien. Bezfiglich der Amentia sagt Krae-
pelin: ,,Nicht selten kommt es schon im Beginn der Krankheit zu
kurzen, ganz tiefen Nachlassen, in denen ffir Stunden und selbst Tage
vollstandige Klarheit, Einsicht und Schwinden der Tauschungen be-
obachtet wurde.“ Bekannt ist die Sprunghaftigkeit der BewuBtseins-
vorgange in den hierher gehorenden Krankheitsbildern der Dementia
praecox. Es wfirde also verfehlt sein, diese Art der BewuBtseins-
schwankungen auf die schizophrene Bewu Btsein-stoning besehranken
zu wollen. Es gibt andererseits auch hier, wie ich im folgenden werde
zeigen konnen, in das Kapitel der BewuBtseinstrfibung zu rechnende
BewuBtseinsveranderungen, die einen sehr langen Zeitraum einnehmen.
Es erscheint mir notwendig hervorzuheben, daB neben der Schwere
des Prozesses auch dessen Plotzlichkeit dahin wirksam ist, in uns den
Eindruck der BewuBtseinstrfibung zu erzeugen. Ein schnell einsetzen-
der Dammerzustand scheint uns viel mehr Benommenheit zu zeigen
als ein paralytischer Endzustand mit hochgradigstem Bewu Btseins-
mangel. Diejenige Art und Starke der BewuBtseinsveranderung, die
wir als Trfibung bezeichnen, wird deshalb besonders in den akuten
Phasen von Psychosen vermerkt. Es ist auch zu bemerken, daB die
Schlafrigkeit und Dammrigkeit wohl ein haufiges, leicht erkennbares
Zeichen von BewuBtseinstrfibung darstellt, daB es aber ein erheblicher
Fehler ware, ihn als alleinigen MaBstab zu nehmen. In vielen Zu-
standen veranderter BewuBtseinsluziditat, in Dammerzustanden, im
deliriosen Traumzustand, vor allem bei den mit Hyperluziditat einher-
gehenden Prozessen laBt uns dieses Merkmal im Stich.
Fast ebenso schwer wie der Begriff des BewuBtseins ist der in der
Psychiatrie so wichtige Begriff des Stupors einer Klarung naher zu
biingen. Kraepelin sucht die Schwierigkeit von der praktischen Seite
zu losen, indem er in praktischer Beschrankung einen melancholischen
und einen katatonischen Stupor unterscheidet und den einen auf Af-
fekthemmung und den andern auf Willensstorung zurfickffihrt. Es kann
hiermit jedoch die Ftille der Erscheinungen, schon allein bei den Stujx»r-
Digitized by Got >gle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
380
W. Medow:
Digitized by
formen der Dementia praecox, nicht erschopft sein. Bleuler faCt den
Stupor nicht als ein einheitliches Syndrom auf, sondern als eine auBere
Erscheinungsform verschiedener Zustande. Ziehen unterscheidet von
der Denkhemmung der Melancholie die Stupiditat, als deren Haupt-
symptom er die Hemmung der Ideenassoziation benennt, an die
sich motorische Hemmung und Apathie anreihen. Fur die schweren
Falle fiihrt er Traumhaftigkeit, Ratlosigkeit, Unaufmerksamkeit und
Mangel an Apperzeption an. Wenn ich die Sumine der zirkularen, kata-
tonischen, hysterischen und symptomatischen Stuporen uberblicke, so
scheinen sich mir in der Tat zwei Hauptgruppen herauszuschalen, je
nachdem es sich um Affekt- und Willensstorungen handelt oder hin-
gegen Denkstorungen vorliegen, die letzten Endes mit mehr oder we-
niger hochgradigen BewuBtseinsveranderungen und BewuBtseinstrii-
bungen verknupft sind. Letztere Arten mochte ich fur die katatonischen
und symptomatischen Stuporen als die ganz vorwiegenden bezeichnen.
Beziiglich des BewuBtseinszustandes im Stupor sagt Bleuler an einer
Stelle: ,,Unter Benommenheit verstehen wir verschiedene Zustande
eingeengten, unklaren, langsam ablaufenden Denkens, bei denen Reiz-
symptome fehlen oder doch zuriicktreten. Ein Teil dieser Bilder kann
natiirlich ebensowohl Stupor genannt werden.“ Es sind dieses also
solche Benommenheitszustande, bei denen infolge der Tiefe der Lah-
mung oder Ausdehnung und Lokalisation des Prozesses es zu einem
Ausfall der Zielvorstellungen und Bewegungsantriebe kommt. Bleuler
findet bei der Dementia praecox Zustande von Benommenheit mit und
ohne Lahmung der Zielvorstellungen und Bewegungsantriebe. Einen
breiten Raum nehmen bei ihm in der Dementia praecox die Dammer-
zustande ein, die er als traumartig bezeichnet. Wenn er auch geneigt
ist, in ihrer auBeren Gestaltung mehr etwas Sekundares, eine rein psy-
chische Reaktion zu sehen, so muB doch wohl auch ihnen eine primare
Veranderung der BewuBtseinslage und der BewuBtseinsklarheit zu-
grunde liegen. Demgegeniiber schildert Bleuler auch schwerere Be-
wuBtseinstrubungen bei der Dementia praecox, er sagt: ,,Es gibt eine
Form von Benommenheit, die einen organischen Charakter hat. Die
Kranken dammern unklar herum, lassen sich durch psychische Einfliisse
nicht wecken, trotzdem man mit ihnen intellektuellen Rapport hat und
diese sich oft alle Miihe geben, unsereFragen zu beantworten. Der Gedan-
kengang ist langsam, unklar, kurz. Schon bei einfachen Rechnungen ver-
sagen die Leute, im Schreiben machen sie ungewollte orthographische
und grammatische Fehler; dabei konnen Orientierungsstorungen fehlen,
auch die Affektivitat kann relativ gut erhalten sein.“ Wenn er dann
anfiigt: ,,Dennoch lassen sich diese Zustande oft schwer von einer psy-
chogcnen Form von Benommenheit abgrenzen,“ so muB man sich ver-
gegenwartigen, daB Bleuler eine besondere Auffassung des Psycho-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
BewuBtseinstriibungen bei Dementia praecox. 381
genen hat, die weit in das sonst als organisch angesehene Gebiet hinein-
reicht.
Nach Kraepelin ist das BewuBtsein bei den katatonischen Kran-
ken, namentlich wahrend der Entwicklung und auf der Hohe der akuten
Storungen, meist etwas getriibt, bisweilen sogar recht erheblich. An
anderer Stelle meint er, die Bewu Btseinstriibung in den Erregungs-
und Stuporzustanden sei meist weniger hochgradig, als es auf den ersten
Blick scheine.
Bleuler findet BewuBtseinsstorungen nicht allein in den akuten
Phasen der Dementia praecox, sondern er sah dieselben sich sogar Jahr-
zehnte hinziehen.
Die abweichende Stellung Wieg-Wickenthals, wonach er bei
schizophrener akuter Verworrenheit Bewu Btseinstriibung ausschlieBt,
scheint mir einesteils in der Subjektivitat der Erfassung von damme-
rigen und erregten BewuBtseinstriibungen sowie in der Fliichtigkeit
und dem Wechsel dieser Erscheinungen zu liegen, andererseits diirfte
ihn die Einschrankung auf gewisse Formen zu diesem Urteil veranlaBt
haben, wahrend ihm die Einbeziehung anderer Verlaufsarten mit stu-
porosem und katatonem Einschlag wohl den Fingerzeig zu einer an-
deren Auffassung gegeben hatte.
Nachst dem allgemeinen BewuBtseinszustande sind zu einer Be-
urteilung auch die TatigkeitsauBerungen des BewuBtseins, die Auf-
merksamkeit, die Auffassungstatigkeit, die Merkfahigkeit und das
Orientierungsvermogen einer Priifung zu unterziehen. Schwierig ist es
zu entscheiden, in welcher Beziehung dieselben und deren Storungen zu
dem eigentlichen BewuBtsein stehen. Vielleicht konnen die verschiede-
nen Arten der BewuBtseinstriibungen, Dammerigkeit, Unbesinnlich-
keit, Hyperluziditat als allgemeine diffuse Veranderungen des BewuBt-
seins aufgefaBt werden. FaBt man nach Ebbinghaus das BewuBt¬
sein als ein ,,sehr umfangreiches, zusammenhangendes, einheitliclxes
System 11 der psychischen Vorgange auf, so miissen solche Storungen,
die es insgesamt verandern, auch als insgesamt-angreifend gedacht
werden. Bei den TiitigkeitsauBerungen des BewuBtseins handelt es
sich hingegen um genauer definierte Teilzustiinde von beschranktem
Tatigkeitsbereich. Storungen auf diesen Teilgebieten brauchen nicht
den BewuBtseinszustand insgesamt erheblich zu verandern, so daB der
Eindruck der Luziditat mehr oder minder erhalten bleibt. Dabei ware
es denkbar, daB die Beziehung dieser Teilzustiinde zum Gesamtzustande
des BewuBtseins eine verschieden innige und bedeutungsvoile ware
und deren Storungen im einzelnen auch einen ungleich wertvollen
Fingerzeig fiir die etwa nebenher gehende Bewu Btseinstriibung ab-
geben wiirden. Es wird uns hier aber weniger die rein wissenschaft-
liche, einer Klarung schiver zugiingliche Beziehung dieser Erscheinungen
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
382
W. Medow:
Digitized by
interessieren, als vielmehr die durch Krankheitsvorgange verursachte
praktische Verkniipfung bestimrnter BewuBtseinsstorungen mit be-
stimmten Veranderungen in ihren TatigkeitsauBerungen. So verlockend
eine Erorterung dieser Fragen ist, so stellen einer solchen jedoch im
Falle psychischer Erkrankungen die Fiille der Veranderungen, die in
den akuten Stadien zu einer mehr oder minder volligen Desorganisation
des psychischen Gesamtgeschehens fiihrt, das Ineinandergreifen und
die Abhangigkeitsverhaltnisse der einzelnen psychischen Elemente und
mancherlei Nebenumstande, die dem Untersucher oft schon an der
Schwelle der Psyche Halt gebieten, die groBten Schwierigkeiten ent-
gegen. Es wird daher nur moglich sein, in groben Umrissen und be-
dauerlicher Unvollkommenheit einige praktische Fingerzeige zu ge-
winnen.
Von alien TatigkeitsauBerungen des BewuBtseins scheint die Auf-
fassung (Wahrnehmung, Apperzeption im Herbartschen Sinne) am un-
mittelbarsten den Bewu Btseinszustand auszudriicken und am wenig-
sten anderweitigen Einfliissen unterworfen zu sein. Indem ich bei den
von mir untersuchten Krankheitsfallen die BewuBtseinstriibungen und
die EntauBerungsveranderungen in Form eines Diagramms aufzeich-
nete, fand ich, daB BewuBtseinsstorung und Auffassungsstorung ein-
ander immer kongruent waren, daB die Auffassung alle Schwankungen
der Luziditat mitmachte in Gestalt von Erschwerung oder Erleichte-
rung der Auffassung. Diese Erscheinungen diirften Beriihrungspunkte
haben zur Kraepelinschen Aufmerksamkeitsfesselung, zur Hyperpro-
sexie und zur Wernickeschen Hypermetamorphose. Wennes nur mog¬
lich war, eine GewiBheit iiber eine primare Auffassungsstorung zu er-
langen, so fand sich bei einer Auffassungshemmung auch immer eine
BewuBtseinstrubung oder es bestand die Verkniipfung von Hyperluzi-
ditat und Wahrnehmungserregung. Fehlte eine BewuBtseinstrubung,
so erwies sich auch das Auffassungsvermogcn immer als intakt. Es er-
scheint mir daher, daB Auffassungsstorungen, soweit sie primar bedingt
sind, am ehesten einen RiickschluB auf den BewuBtseinszustand ge-
statten; da dieselben bis zu einein gewissen Grade einer objektiven
Feststellung zuganglich sind, so ware dadurch eine exaktere Feststel-
lung der BewuBtseinsluziditat ermoglicht. Ist der Untersucher iiber
den BewuBtseinsumfang (Vorstellungsschatz) unterrichtet, vermag er
somit eine Demenz auszuschlieBen, so obliegt ihm nur, festzustellen,
ob der Untersuchte sich willensgemaB zur Auffassung einstellt. Es
kann durch organische Vorgiinge der perzeptive Anteil gestort sein,
es konnen durch Besonderheiten des Vorstellungsschatzes einzelne
Wahrnehmungen unverstandlich bleiben, es kann auf sekundarem
Wege durch Ablenkung des Interesses auf innere und auBere Vorgange
bei affektiven Zustanden und bei dissoziierenden und wahnbildenden
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
BewuBtseinstriibungen bei Dementia praecox.
383
Denkstorungen die spontane Auffassung versagen. In diesen besonde-
ren, im allgemeinen wohlerkennbaren Fallen muB eine BewuBtseins-
anderung ausgeschlossen werden. Eine Priifung der passiven Auffas-
sungsfahigkeit wird in der Regel klarstellen konnen, ob eine allgemeine
primare Auffassungsstorung vorbegt. Eine solche ist mit Sicherheit
auf eine Luziditatsanderung des gesamten BewuBtseinsinhaltes zu be-
ziehen. Kraepelin stellt diese innige Beziehung der Auffassungssto-
rungen zur Unbesinnlichkeit, zur Benoramenheit und Schlafsucht fest
und findet sie bei der Ermiidung, den Ubergangen zum Schlaf, schwe-
ren Erschopfungszustanden, beim Kollapsdelir, der Amentia, der In-
toxikation durch Narkotika, bei Fieber- und Vergiftungsdelirien und
epileptischen Dammerzustanden. Bemerkenswerterweise vermerkt
Kraepelin dieselben an dieser Stelle auch bei den versehiedenen Zu-
standen des manisch-depressiven Irreseins, besonders im depressiven
und manischen Stupor, wie in den starkeren Graden der manischen
Erregung, so dab auch hier neben sekundaren Affektwirkungen und
andersartigen Denkstorungen mit einer primaren Bewubtseinsverande-
rung zu rechnen ware.
Kraepelin findet auch bei der Dementia praecox auf Grund ge-
nauerer Messungen die Zuverlassigkeit der Auffassung entschieden ver-
ringert, am starksten in den akuten Krankheitszustanden und dann
wieder in den letzten Abschnitten des Leidens. Ebenso findet Bleuler
in den mit BewuBtseinstriibungen einhergehenden Zustanden der De¬
mentia praecox die Auffassung gestort. Es bestehe eine Unmoglich-
keit, sich in einigermaBen komplizierten und ungewohnten Verhalt-
nissen zurechtzufinden, wobei der eigenthche Wille zur Auffassung
relativ oder ganz erhalten sei, wodurch die primare Natur der von
Bleuler ins Auge gefaBten Veranderungen gekennzeichnet ist. Es zeige
sich zunehmendes Versagen vom Leichteren zum Schw r ereren, es konne
sich ein ausgesprochenes Bild der Apraxie, verkehrte Handlungen in-
folge einer Art Verwirrung einstellen. Die Patienten konnten die noti-
gen Ideen nicht zusammenbringen. Bei nicht benommenen Kranken
hingegen konnte Bleuler keine Auffassungsstorung feststellen. Auf-
fallenderweise behauptet er das lctztere auch von delirierenden Kran¬
ken, eine Anschauung, die sich jedoch mit den Grundauffassungen iiber
das Wesen des Dehrs nicht vereinigen laBt, insbesondere wenn man die
durch Hyperluziditat und Auffassungserregung gekennzeichnete Art
der BewuBtseinstriibung nicht iibersieht. In Gbereinstimmung mit
seiner Ablehnung von BewuBtseinstrubung bei den inkoharenten For-
men der Dementia praecox findet Wieg-Wickenthal die Auffassung
nur ganz geringfiigig oder gar nicht gestort.
Weit unzuverlassiger scheinen mir die Riickschliisse zu sein, die
aus Aufraerksamkeitsstorungen auf den BewuBtseinszustand gezogen
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
384
W. Medow:
werden konnen. Ebenso wie in der Psychologie die scharfere Heraus-
hebung der Aufmerksamkeit aus der Gesamtheit des BewuBtseins ihr
eine gewisse Selbstandigkeit verleiht, so miissen wir auch in der Psycho-
pathologie erfahrungsgemaB feststelJen, daB der Umfang der Aufmerk-
samkeitsstorungen weit iiber den Kreis der erkennbaren BewuBtseins-
triibungen hinausreicht und daB Aufmerksamkeitsstorungen keines-
wegs regelmaBig mit erkennbaren Storungen der Luziditat verbunden
sind. Man konnte daher zu der Annahme gelangen, daB die Aufmerk-
samkeit mehr isoliert und unabhangig vom GesamtbewuBtsein be-
troffen sein kann. Es ist ferner zu beachten, daB die Aufmerksamkeit
in besonders hohen Graden noch von anderen psychischen Vorgangen
als denen der allgemeinen BewuBtheit, besonders von solchen affektiver
Art abhangig ist, so daB gerade in den affektiven Psychosen Auf¬
merksamkeitsstorungen ohne greifbare Luziditatsveranderungen an der
Tagesordnung sind. Die Erscheinungen bei Neurosen und nervosen
Erschopfungszustanden deuten nun darauf hin, daB die Aufmerksam¬
keit ein besonders feiner Indikator der Psyche ist, der nach auBen schon
auffallig wird, wenn die BewuBtseinsklarheit noch kaum erkennbar er-
griffen ist. Es ist fast selbstverstandlich, wenn ich erwahne, daB meine
Diagramme dort, wo BewuBtseinstriibungen vorliegen, auch die Auf¬
merksamkeit stets als schwer gestort anzeigen, daB hingegen Aufmerk¬
samkeitsstorungen auch sehr haufig zu verzeichnen sind in Fallen, die
kaum BewuBtseinstriibung erkennen lassen. Da sich diese Diagramme
nicht auf affektive, sondern nur auf schizophrene Psychosen beziehen,
bei denen sekundare Einwdrkungen auBer Negativismus kaum in Frage
kommen, so nehme ich an, daB es primare Aufmerksamkeitsstornngen
gibt, ohne daB das BewuBtsein eine erkennbare Veranderung der Klar-
heit erlitten hat. Diese Selbstandigkeit im Rahmen der BewuBtseins-
entauBerungen scheint mir jedoeh nur eine scheinbare zu sein, indem
die Aufmerksamkeit ein objektiv und auch subjektiv besonders leicht
sichtbares Reagens darstellt, wohingegen die leichtesten Schwankun-
gen der BewuBtseinsluziditat noch lange Zeit unbeachtet im Verborge-
nen bleiben. Die Aufmerksamkeitsstdrung stellt somit eine erste Stufe
von Bt'wu Btseinstriibung dar. Eine ahnliche Ansicht beziiglich der Auf¬
merksamkeit hat Ewald vertreten. Oppenheim bezeichnet die Zer-
streutheit und Konzentrationsunfahigkeit als erstes Zeichen der bei
Hirntumor beginnenden BewuBtseinstriibung. So ist es zu erklaren,
daB in Krankheitsfallen von weniger intensiver Schadigung des Be¬
wuBtseins oder sehr schleichendem Krankheitsablauf, in denen das
BewuBtsein noch klar erscheint und die BewuBtseinstatigkeit wenig
betroffen ist, gerade Aufmerksamkeitsdefekte stark in die Augen sprin-
gen. Ebenso erkliirt sich auch, daB trotz der besonders innigen Ver-
kniipfung der Bewu Btseinstatigkeit mit der Aufmerksamkeit — be-
Digitized by
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
BewuBtseinstriibungen bei Dementia praecox.
385
zeichnet doch Ebbinghaus die letztere als Veranderungen in der
Hohe des BewuBtheitsgrades im Sinne von Klarheits- und Aufdring-
lichkeitsanderungen — die Storungen der Sperrung, Hemmung, Be-
stimmbarkeit, Ablenkbarkeit der Aufmerksamkeit keineswegs mit sicht-
baren BewuBtseinstriibungen verkniipft zu sein brauchen, wahrend sie
gleichwohl der Ausdruck einer wenn auch nicht hochgradigen und stiir-
mischen BewuBtseinstriibung sind. Von den psychischen Zustanden,
die auf die Aufmerksamkeitstatigkeit einwirken, kommen auBer den
BewuBtseinszustanden vorwiegend der Vorstellungsreichtum, die Wil-
lenstatigkeit und die Affektivitat in Frage. Es ist dieselbe somit von
mehreren Polen aus storenden Einfliissen unterworfen. Hieraus ent-
springen die groBen Schwierigkeiten, aus der Aufmerksamkeit unmittel-
bare Ruckschliisse auf die BewuBtseinsklarheit zu ziehen; sie wird im
aligemeinen nicht als Gradmesser von BewuBtseinsveranderungen ver-
wertet werden konnen. Ihre Unversehrtheit wird jedoch mit Sicherheit
auch eine solche der BewuBtseinslage anzeigen. Sie wird ferner unter
vorsichtiger Abwagung aller Begleitumstande und unter AusschluB
sekundarer Einwirkung wegen der Feinheit ihrer Reaktion gerade bei den
leichtesten Graden von BewuBtseinsveranderungen nicht vernachlas-
sigt w r erden diirfen.
Zur Frage der Aufmerksamkeitstatigkeit bei der Dementia prae¬
cox ist die Voraussetzung gestattet, daB diejenigen Autoren, die Be-
wu Btseinstriibungen bei der Dementia praecox anerkennen, auch pri-
mare, durch die BewuBtseinslage bestimmte Aufmerksamkeitsstorungen
zugeben. Fur das Gros der schizophrenen Erkrankungen scheint man
jedoch groBtenteils die primare Aufmerksamkeit als funktionstuchtig
anzusehen. Man ist bestrebt, das Versagen der Aufmerksamkeit auf
sekundare Ursachen, insbesondere krankhafte Affekt- und Willens-
einfliisse zu beziehen. Kraepelin hat hierfiir den Begriff der Auf-
merksamkeitssperrung gepragt und bezeichnet damit eine krankhafte
Unterdriickung der an sich funktionstiichtigen Aufmerksamkeit. Als
Besonderheit gegeniiber dem Verhalten bei organischen Psychosen, in
welchen die maximale Aufmerksamkeit die habituelle uberwiegt, findet
er dieses Verhaltnis bei der Dementia praecox umgekehrt liegen. Bleu -
ler findet in der Mehrzahl die Aufmerksamkeit nicht nur ungestort,
sondern tatiger als normal. Er sagt, es konne die Aufmerksamkeit so-
wohl im positiven wie im negativen Sinne alteriert sein. Bei dieser be-
merkenswerten Feststellung ist daran zu denken, daB einer solchen
wahrscheinlich nicht eine wirkliche Leistungsvermehrung, sondern eine
hyperluzidive Veranderung der BewuBtseinstatigkeit zugrunde liegt.
Hierauf deutet vielleicht auch die von Kraepelin gefundene Schwache
der maximalen Aufmerksamkeit hin. In anderen Fallen erblickt Bleu ler
die Ursache der Unaufmerksamkeit in Storungen des Interesses und der
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
380
W. Medow:
Digitized by
Assoziationen, doch spricht er auch von primaren Hemmnissen, die die
Intensitat der Aufmerksamkeit herabsetzen. Sehr bemerkenswert er-
scheint rair, daB Wieg-Wickenthal in seinen Fallen die Aufmerk¬
samkeit durchweg schwer gestort und das Symptom krankhafter Zer-
streutheit vorherrschend fand. Ziehen ist geneigt, bei der Dementia
hebephrenica die Unaufmerksamkeit teils als primare Assoziations-
storung, teils als sekundare Wirkung der Apathie aufzufassen.
Als Grundlage des BewuBtseins mu0 die Fahigkeit, Assoziationen
zu erwerben, betrachtet werden. Mithin wird die Merkfahigkeit als
unaufloslich mit dem BewuBtsein und seinen TatigkeitsauBerungen ver-
kniipft gedacht werden miissen. Kraepelin sagt: ,,Die Merkfahigkeit
ist im allgemeinen am groBten fur Eindriicke, die mit moglichster Klar-
hcit aufgefaBt sind. Man beobachtet daher Storungen derselben bei
alien ausgepragteren BewuBtseinstrubungen. Aus den hierdurch ent-
stehenden Erinnerungsliicken ist meist ein RuckschluB auf eine statt-
gehabte Aufhebung des BevvuBtseins gestattet. Streng genommen ist
die Amnesie der einzige Anhaltspunkt, der mit einiger Sicherheit die
Annahme einer vorangegangenen BewuBtlosigkeit gestattet.“ Die Merk¬
fahigkeit kann jedoch auch auf dem Umwege der Auffassung und der
Aufmerksarakeit und mithin auch von Affekt- und Willensvorgangen
aus beeintrachtigt werden. Ihr Umfang wird ferner durch Umfang und
Ablauf der Vorstellungen mitbestimmt. Verblodungen und Denk-
storungen vermindern die Merkfahigkeit. Sie erscheint gut bei ma-
nischen Kranken bei intakter Wahrnehmung trotz Unaufmerksamkeit.
Amnesie bei psychogenen Erkrankungen wird von der Seite der Affek-
tivitat hervorgerufen werden, ohne daB primare BewmBtseinstrubungen
oder Auffassungsstorungen vorliegen. Die Erfahning in der Psycho-
pathologie bestatigt, daB ii be rail dort, wo die BewuBtseinshelligkeit ver-
iindert ist, auch die Merkfahigkeit erheblich leidet. Geht man aber vom
anderen Ende der Reihe aus, so erschwert eine erhebliche Komplikation
einen RuckschluB auf die BewuBtseinslage. Zunachst miissen Verblo-
dungszustande und Denkstorungen in Rechnung gestellt werden, es
miissen die sekundaren Affektwirkungen in den Affektpsychosen aus-
geschlossen werden. Ist das geschehen, so tvird man zu einer Gruppe
von psychopathologischen Zustanden gelangen, in denen die Merk¬
fahigkeit primar gestort ist. Ziehen sagt, der Merkdefekt beruht am
hiiufigsten auf einer organischen angeborenen oder erworbenen Er-
krankung der Hirnrinde. Gleichwohl werden wir nicht in all diesen
Fallen den Eindruck gewinnen, daB das BewuBtsein erkennbar getriibt
sei. Anfangszustande der progressiven Paralyse, der senilen Demenz,
die Korssakowsche Psychose gelten dem praktischen Urteil im allge¬
meinen nicht als bewuBtseinsgetriibt, trotzdem hier gerade die Merk-
schwache sehr charakteristisch ist; und doch wird man bei genauester
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
BewuBtseinstriibungen bei Dementia praecox. 387
Betrachtung sagen konnen, daB in alien diesen Fallen die Luziditat in
leichtesten und sehr schwankendcn Graden verandert ist und daB die
ersten Stufen einer BewuBtseinstrubung erreicht sind. Die Merkschwache
ist ebenfalls ein verhaltnismaBig feiner Anzeiger der Psyche, der erheb-
lich fniher und starker ins Auge fallt als eine BewuBtseinstrubung, die
wenigstens bis zum Grade der Dammrigkeit schon sehr schwerer und
sturmischer Einwirkungen bedarf. Es ist also festzustellen, daB es eine
primare Merkschwache gibt ohne bereits nachweisbare BewuBtseins-
triibung, die aber in feinster Weise als dem Vorgange zugrunde liegend
gedacht werden muB. Steigerung der pathologischen Vorgange lassen
dann neben der Vertiefung der Merkschwache auch die BewuBtseins-
unklarheit erkennen, bis bei hoheren Graden von Merkfahigkeitsverlust
auch BewuBtseinsumdammerung eintritt und nach dem Abklingen
eine Amnesic hinterbleibt. Lassen sich psychogene Erinnerungsverluste
ausschlieBen, so ist die Amnesie ein sicheres Anzeichen fur BewuBt-
seinstriibungen und wird sie in solchen Fallen, die nach Riickkehr der
Besonnenheit eine diesbeziigliche Ausforschung gestatten, neben der
Auffassungsschwache in erster Linie zur Erkennung solcher heran-
gezogen werden miissen. Leider wird dieses Erkennungszeichen bei den
unheilbaren und nicht zu erheblicher Remission gelangenden Psycho¬
sen, zu denen das Gros der Dementia praecox zu rechnen ist, seltener
aufgefunden werden konnen; w r o es aber festgestellt werden kann, wird
es ein besonders bemerkenswertes Beweismittel fur Bewu Btseinstrii-
bungen sein. Auch wenn ich hieriiber beine direkten AuBerungen vor-
finde, ist zu folgern, daB jene Autoren, die BewuBtseinstriibungen bei
besonderen Fallen bei Dementia praecox zugeben, im gleichen Um-
fange auch Defekte der Merkfahigkeit anerkennen. Dariiber hinaus
findet Bleuler das Gedachtnis intakt, hingegen niinmt er sekundare
Storungen durch assoziative und affektive Prozesse an. Auch Kraepe-
lin fiihrt im allgemeinen nur sekundar durch Aufmerksamkeitsschw'an-
kungen und Interessenlosigkeit bedingte Storungen der Merkfahigkeit
an. Nach schwerem Stupor beobachtete er amnestische Erscheinungen,
fiir die er neben BewuBtseinstriibungen Merkschw'ache als Grundlage
annimmt.
Einer der praktisch wichtigsten seelischen Zustande in der Psych¬
iatric fiir die Erkennung organisch bedingter Psychasen ist seit jeher
die Orientiertheit gewesen. Ihre Gestortheit stellt eine Stufe dar, deren
Uberschreitung anzeigt, daB Ursachen sturmischer und unterbrechend
in die psychischen Vorgange eingegriffen haben. Die Orientiertheit ist
eine zusammengesetzte GroBe, an der primar Luziditat und Tatigkeits-
auBerungen des BewuBtseins, sekundar Affekt, Willenstatigkeit, Um-
fang und Ablauf der Vorstellungen beteiligt sind. Kraepelin glaubt
drei Gmppen der Desorientiertheit unterscheiden zu konnen, je nachdem
Digitized by Goe)gle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
388
W. Medow:
Digitized by
die Ursache in Storungen der Aufmerksamkeit, des Gedachtnisses oder
des Urteils liegt, wobei mehrere dieser Storungen miteinander verbunden
sein konnen. Hiervon unterscheidet er die apathische Desorientiert-
heit, die durch Mangel an geistiger Regsamkeit verursacht wird, und
die wahnhafte Desorientiertheit. In diesen beiden Fallen werde der Aus-
fall sekundar ohne primare BewuBtseinsveranderung hervorgerufen.
Es ergibt sich, daB nur die ersteren Formen einen Hinweis auf Veran-
derung der BewuBtseinsklarheit geben und unbeschadet mancher, im
einzelnen ungeklarter Kombinationen wird die praktische Diagnostik
hiervon Gebrauch machen konnen, um ein allgemeines Urteil iiber den
BewuBtseinszustand zu erlangen. In der Anwendung auf die Dementia
praecox findet Kraepelin die Orientierung entweder ungestort oder
sekundar durch Apathie oder durch Wahnbildung beeintrachtigt; nur
im Stupor oder in heftigen Angstzustanden findet er die richtige Auf-
fassung der Umgebung zeitweise starker getriibt. Bleuler findet bei
der Schizophrenic nur eine sekundare Stoning durch Halluzinationen
und Wahnbildungen; er rechnet hierzu auch eine solche durch Asso-
ziationsstorung. Wenn er jedoch sagt, die Orientierung in Raum und
Zeit sei nie primar gestort, so steht dieses im Widerspruch zu seiner
Stellungnahme zum Vorkommen von BewuBtseinstriibungen, Delirien
und Dammerzustanden bei dieser Krankheitsgruppe. Aus dem bisher
Gesagten folgt, daB bei primaren Storungen der BewuBtseinsklarheit
auch die Orientiertheit mehr oder weniger gestort sein muB. Pfersdorf
findet in den akuten Stadien der Dementia praecox namentlich die
zeitliche Orientierung gestort.
Es bleibt noch ein Blick zu werfen auf die Beziehungen der Be¬
wuBtseinsklarheit und der BewuBtseinstatigkeit zu dem Vorstellungs-
inhalt und zum Vorstellungsablauf. Bei der Zusammengehorigkeit von
BewuBtsein und Vorstellungen ist es klar, daB eine exakte Trennung
nicht moglich ist. Aus den nachfolgenden Erorterungen miissen zu-
nachst alle sekundar bedingten Storungen der Gedankentatigkeit fern-
gehalten werden. Hierher mochte ich insbesondere die Affektzerfahren-
heit und die psychogenen paranoischen Zustande rechnen. Im xibrigen
wird man aus praktischen Griinden drei Gruppen unterscheiden konnen,
die D»fektzustande, die chronisch und langsam verlaufenden und die
akuten Prozesse. Bei Defekten des Vorstellungsinhaltes muB auch die
Klarheit des BewuBtseins von Stufe zu Stufe sinken, bis bei der Idiotie
und der tiefen Demenz ein Zustand von Dammerleben erreicht ist. Es
erhebt sich die Frage, ob diese Unklarheit nur in gewisser Hinsicht
oder grundlegend verschieden ist von den BewuBtseinstriibungen. Ist
ein KrankheitsprozeB mit maBigem Defekt zum Stillstand gekommen,
so werden als besonders leicht ins Auge springend Mangel der sozialen
Personlichkeitsentfaltung vermerkt werden, beruhend auf Mangeln des
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
BewuCtseinstrlibungen bei Dementia praecox.
389
Affekts oder der Urteilsfahigkeit, wahrend bei ungenauer Beobachtung
das BewuBtsein als klar beurteilt wird. Ich glaube aber, daB bei ein-
gehender Beobachtung Mangel der BewuBtseinstatigkeit nicht vermiBt
werden, insbesondere werden dies die besonders erapfindlichen Teile
derselben, die Aufmerksamkeit, die Konzentrationsfahigkeit und die
Merkfahigkeit sein. Ich mochte da besonders erinnern an Defektzustande
nach schweren Traumen, nach Encephalitis und an alkoholische De¬
fektzustande. Wie es sich mit den schizophrenen Defektzustanden ver-
halt, wird diese Arbeit im folgenden selbst zeigen. Ich glaube, daB
den Beobachter stark beeinfluBt ein Unterschied, der darin besteht,
daB der Defekte nicht unklar ist im Verhaltnis zu seinem Habitual-
zustande, sondern nur relativ im Verhaltnis zu inhaltlich Vollwertigen,
wahrend der an einem fortschreitenden ProzeB Leidende unklar ist im
Verhaltnis zu dem noch vor kurzem vollwertigen Umfange seines ge-
sunden BewuBtseinsinhaltes. Ein wesentlicher Unterschied diirfte darin
zu erblicken sein, daB erfahrungsgemaB die benommene und hyper-
luzide Farbung der BewuBtseinsunklarheit verkniipft mit einem hohen
Grade gestorter Bewoi Btseinstatigkeit an einen mit einer gewissen Ge-
schwindigkeit ablaufenden ProzeB gebunden ist. Bei den Defekt¬
zustanden liegt die Unklarheit uberwiegend auf der gedanklichen Seite
des BewuBtseins, bei den fortschreitenden Prozessen in erster Linie
und die gedankliche Seite iiberdeckend auf der Seite der Luziditat und
der BewuBtseinstatigkeit. Ich glaube aber, daB ein grundlegender Un¬
terschied nicht gemacht werden kann. Zur Unterscheidung der akuten
und chronischen Prozesse kann gesagt werden, daB die Starke und
Schnelligkeit des Prozesses in erster Linie entscheidet, ob Denkstorun-
gen von greifbaren, d. h. von starkeren Luziditatsveranderungen be-
gleitet sind, die uns als dammrig, schwerbesinnlich oder hyperluzide
erscheinen. Je feiner und schleichender ein KrankheitsprozeB zu den-
ken ist, urn so mehr wird wie bei der Paranoia die Denkstorung uns den
Eindruck der Klarheit hinterlassen. Je stiirmischer der Vorgang, um
so getriibter erscheinen auch die Gedankengebilde. Man koimte daran
denken, daB es auch Storungen des BewuBtseins gibt, in denen der
gedankliche Anteil selektiv betroffen ist, daB es also eine rein gedank¬
liche BewuBtseinsstbrung gebe, im Gegensatz zu den BewuBtseins-
triibungen. Man konnte hierbei an die Inkoharenz der Amentia denken,
wie Meynert getan hat, aber es besteht kein Zweifel, daB die Inkoha¬
renz in der Regel mit Storungen der BewuBtseinstatigkeit verbunden
ist, wobei an die Storungen der Orientiertheit und der Aufmerksamkeit
in erster Linie erinnert sei, auch stellen sich sehr haufig amnestische
Erscheinungen ein. Es ermangelt ihnen nur der Ausdruck der Damm-
rigkeit. Es ist mir wahrscheinlich, daB solche Bilder in dem Zugrunde-
liegen einer hyperluziden Triibung ihre Erkliirung finden. Immerhin
Ar«hiv fUr Psyi hiatrie Bd. 67. 26
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
390
W. Medow:
Digitized by
ist es wahrscheinlich, daB gewisse Verkniipfungen noch eine besondere
Bedeutung haben. Wir beobachten, daB scheinbar gleich tiefe Denk-
storungen, die in annahernd gleichen Zeiten entstehen, einraal von Be-
nommenheit, ein andermal von Unbesinnlichkeit oder von gesteigerter
oder krankhaft abgeanderter Luziditat begleitet sind, daB die Grade
der Luziditat sehr schwanken konnen. Ich glaube aber, daB sie me¬
ntals ohne begleitende BewuBtseinsunklarheit gedacht werden konnen,
wenn es sich wirklieh um primare und akut entstandene Denkstorungen
handelt. Im letzteren Falle gestatten sie auch einen positiven Riick-
schluB auf die BewuBtseinshelligkeit. Es kann deshalb die Frage, ob
Storungen der BewuBtseinstatigkeit allein durch Denkstorungen ohne
BewuBtseinstriibung hervorgerufen werden konnen, dahin beantwortet
werden, daB dieses nicht der Fall sein kann, wenn es sich um primare,
einigermaBen akut verlaufende und auf einem ProzeB beruhende Denk¬
storungen handelt. Diese Voraussetzungen scheinen mir bei den im
folgenden zu schildernden Krankheitsfalien gegeben. Die Denksto¬
rungen sind in ihnen nichts Selbstandiges, sondern Teilerscheinungen des
das BewuBtsein und die Bewu Btseinstatigkeit befallenden Krankheits-
prozesses, welehe nur mehr oder minder je nach der Geschwindigkeit
des Krankheitsprozesses in den Vordergrund geriickt werden. Ich habe
daher, um die Komplikation nicht zu erhohen, von ihrer Erorterung
abgesehen. Es werden bei den nachfolgenden Unters-uchungen neben
den schon geschilderten elementaren psychischen Gebilden auch noch
andere komplizierte psychische Zustande beachtet werden miissen, die
erfahrungsgemaB in besonderem MaBe der Ausdruck eines organisch
ablaufenden Gehirnvorganges sind. Es sind dahin insbesondere die
Ratlosigkeit, die delirante Beschaftigungsunruhe, Traumhalluzinatio-
nen, Personen- und Situationsverkennungen, Konfabulationen, Haften
und Denkhemmung zu rechnen.
Wenn es sich ergibt, daB primare Veranderungen der BewuBtseins¬
helligkeit und der Bewu Btseinstatigkeit bei der Dementia praecox auf-
treten konnen und wenn damit die Moglichkeit naher geriickt wird,
daB auch andere den organisch bedingten Psychosen zugehorige Sym-
ptome in ihrem Bereich auftreten konnen, so ist die Abgrenzung auch
nach einer andern Richtung hin zu treffen. Es ist bereits wiederholt
diskutiert worden iiber die Zugehorigkeit gewisser schizophrener Psy¬
chosen verbunden mit Erscheinungen des Hirndruckes, mit neurolo-
gischen und Herdsymptomen. Eine endgiiltige Entscheidung diirfte
bisher noch nicht gefallt sein. Es soli diese Frage hier nur insoweit
gestreift werden, als sie ihrerseits geeignet ist, das Auftreten der BewuBt-
seinstriibungen in ein verstarktes Licht zu riicken und positive Fest-
stellungen auf diesem Gebiete zu unterstiitzen.
Im AnschluB an seine Untersuchungen iiber Hirnschwellung hat
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
BewuBtseinstriibungen bei Dementia praecox. 391
Reichardt einen Krankheitsfall veroffentlicht, der im Beginn mit epi-
sodischen Hirndruckerscheinungen und Stauungspapille verlief und der
sich spater zu einer typischen Katatonie entwickelte. Er glaubt, daft
ein Teil der Erkrankungen an Pseudotumor cerebri in das Gebiet der
Katatonie gehort. Potzl hat diesen Gedanken weiter ausgefiihrt. Er
halt die Hirnschwellung fiir eine Episode, die bei verschiedenen Psy¬
chosen und auch bei der Katatonie auftreten kann. Bei der letzteren
waren insbesondere die Zustande von Benommenheit, die an Hirndruck
erinnern, hierher zu rechnen. Im AnschluB an die Schilderung einer
sonst typisch verlaufenden Katatonie, die im Anfang meningitische Er-
scheinungen darbot, sagt er, dieser Fall sprache dafiir, daB in man-
chen vereinzelten Fallen wahrend des akuten Eruptionsstadiums einer
Katatonie Erscheinungen von Hirndruck und meningealer Reizung auf¬
treten konnen, ohne daB man zur Annahme einer Komplikation genotigt
ware. Man konnte davon sprechen, daB eine Meningitis serosa das akute
Stadium der Katatonie einleite. Er stiitzt seine Annahme ferner durch
Hinweis auf die der Dementia praecox eigenen Reizerscheinungen des
autonomen Systems und die in 2 Fallen nachgewiesene Steigerung des
Liquordruckes in katatonen Anfallen. In einer Reihe weiterer Krank-
heitsschilderungen von Potzl scheint mir jedoch die Diagnose der De¬
mentia praecox nicht vollig gesichert zu sein. Auch eine Veroffentlichung
von Rosenthal fiber einen schizophrenen ProzeB im Gefolge einer
Hirndruck steigernden Erkrankung leidet darunter, daB die Diagnose
der Dementia praecox nicht sichergestellt ist, wie er auch selbst sol-
chen schizophrenen Prozessen im Gefolge von Hirndruck steigernden
Erkrankungen eine Sonderstellung einraumen will. Bleuler sagt:
,,Man trifft manchmal bei der Katatonie Zeichen von Hirndruck, die
teils einem Odem in der Schadelhohle, teils einer besonderen Hirn¬
schwellung zuzuschreiben sind. Manchmal, namentlich in akuten Fallen
der Katatonie, gleicht der Zustand des Korpers dem einer schweren
Infektion.“ Er fiigt hinzu: ,,Die Abtrennung der Schizophrenic von
gewissen psychotischen Zustanden, die grobe Hirnherde begleiten, liegt
noch ganz im argen.“ Er weist auf das Vorkommen schizophrenie-
ahnlicher Psychosen bei chronischen Meningitiden, Hirngliose und Hirn-
traumen hin. Stransky schildert Schizophrenien von letaler Verlaufs-
art mit meningitischen und Hirndmckerscheinungen. Aus einer Zu-
sammenstellung von Michel liber korperliche Symptome bei Dementia
praecox entnehme ich folgendes: Bei alten Fallen von Dementia prae¬
cox fanden sich ahnliche Symptome wie bei organischcn Erkrankungen,
feiner Tremor, Nystagmus, choreiforme und athetoide Bewegungs-
storungen. Schfile und Rosenfeld sahen solche Falle halbseitig mit
Hypotonie. Bleuler sah apoplektiforme und epileptiforme Anfalle,
aphasische Storungen namentlich amnestischer Art. Petzner und
26 *
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
392
W. Medow:
Digitized by
Gianilli beobachteten einen Status epilepticus. Urstein sah in
8 Prozent, Kraepelin in 16 bis 19 Prozent bei Katatonie epileptiforme
Anfalle. Meyer, Pfortner und Kleist stellten Steigerung, Ab-
schwachung, Differenzen der Kniesehnenreflexe fest. Rosenfeld sah
3 Falle mit teils spastischer, teils schlaffer Hemiplegie mit anfallsweisem
Sprachverlust. Kraepelin beobachtete amnestische Aphasie, Kleist
fand psycho-motorische Apraxie und Aphasie, er hebt die Ahnlichkeit
solcher motorischer Storungen mit den bei Erkrankungen des Stirn-
hirn-Kleinhirnsystems gefundenen hervor. Hierher gehort auch Wer¬
nickes klassischer Fall von Aphasie bei einer schizophrenen Psychose.
Dufour hat geglaubt einen cerebellaren Typ bei Dementia praecox
aufstellen zu konnen. Andere Autoren wie Blumenthal sind geneigt,
solche strittigen Falle als eine besondere Gruppe von Psychosen bei
cerebralen Prozessen, insbesondere der Meningitis serosa, der Hirn-
schwellung und bei Hydrocephalus aufzufassen. Er fiihrt jedoch in
seiner Arbeit auch einen im Beginn mit Hirnschwellung einhergehen-
den Krankheitsfall an, der mit Sicherheit als Katatonie bezeichnet wer-
den mu Bte und beobachtete in einer akuten Phase der paranoiden De-
menz ein amnestisches Zustandsbild. Es scheint mir zur weiteren Kla-
rung nicht unwesentlich zu sein zu erwahnen, daB der Fall 5 Meta P.
dieser aus der Rostocker Klinik hervorgegangenen Arbeit, der mit Be-
wuBtseinsumdammerung und Albuminurie einherging und daraals als
chronisch gewordene symptomatische Psychose mit Verdacht auf einen
endogenen ProzeB aufgefaBt worden ist, sich nachtraglich im Sinne
einer Dementia praecox weiterentwickelt hat.
In der Rostocker Klinik ist in den letzten Jahren eine Reihe von
schizophrenen Erkrankungen beobachtet worden, bei denen BewuBt-
seinstriibungen in so erheblichem Grade entwickelt waren, daB bei ihnen
die Diagnose langere Zeit nach der Seite der symptomatischen Psy¬
chose, sei es nun infektioser oder anderer organischer Genese, hinneigte.
Hiervon werde ich im folgenden einige Falle so ausfiihrlich, wie es die
Klarung der Sachlagen notwendig macht, schildern. Es fanden nur
solche Krankheitsbilder Verwendung, bei denen die Diagnose der De¬
mentia praecox gesichert erschien. Die bei Durchsicht dieser Falle ge-
wonnenen Uberzeugungen fiilirten mich dahin, auch andere typische
Falle von Dementia praecox in groBerer Anzahl gerade unter dem Ge-
sichtswinkel der BewuBtseinsvorgange zu durchpriifen. Letztere Be-
funde werde ich in kurzer Ausfiihrung beifiigen, da sie mir fiir einige
Grundfragen iiber Wesen und Stellung der Dementia praecox belang-
reich erschienen.
Fall I: Frau Emma K., geb. 25. IV. 1883.
Vorgeschichte: Mutter wortkarg und verschlossen. Erblichkeit im iibrigen
o. B. Ala Kind normal entwickelt. Gute Schulleistungen. Im Hauahalt der
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
BewuBtseinstrubungen bei Dementia praecox.
393
Eltern tatig. Mit 23 Jahren verheiratet. GleichmaBig lebhafter Stimmung, ge-
sellige Xatur. Ein gesundes Kind. Mann 1914 gefallen. Seitdem zuriickgezogener,
jedoch ohne psychische Veranderung. Seit Mitte Oktober 1921 peychisch ver-
andert. Unruhe, ging viel und selbst bei starkem Unwetter spazieren, litt an
tlbelkeit, horte Stimmen, war deprimiert. Sprach viel davon, daB ihr Lebens-
gltick auf dem Spiel stande. War beeinfluBbar. Starke Kopf- und Augenschmerzen.
Erste Aufnahme in Gehlsheim 26. X. bis 12. XII. 1921. Diagnose: Schizo¬
phrenic.
Aufnahinebefund: Korperorgane gehorig. Steigerung der Knie- und
Achillessehnenreflexe. Personalien werden richtig angegeben. Bei der Wieder-
gabe der Lebensgeschichto maBige Reproduktionsschwache. Die Affektlage er-
scheint blaB, die Kranke lachelt bald, bald klammert sie sich angstlich an, sie
schwankt zwischen einer befehlsautoinatischen Willfahrigkeit und angstlichem
Widerstreben. Sie verkennt die Personen, belegt den Arzt mit einem Namen
aus ihrer Bekaimtschaft. Ortlich und zeitlich mangelhaft orientiert, ohne daB
hierbei Xegativismus mitspielt. Betrachtliche Merkschwache, Auffassung er-
scheint besser.
Krankheitsverlauf:
27. X. Liquorbefund normal, keine Druckerhohung. Wassermann im Blut und
Liquor negativ.
29. X. Erbrechen. BlaB. Etwas benommen. Verlangsamte Auffassung. Ant-
worten erfolgen erst nach langen Reaktionszeiten. Ortliche Orientierung
vorhanden, zeitliche fehlt. Unaufmerksam, schwerfallig. Schwerer Aus-
fall bei Urteilspriifung, ohne daB Patientin widerstrebt. Rechnet nur
ganz leiehte Aufgaben richtig, versagt bei schwereren. Leichter Grad
von BewuBtseinstriibung. Teilnahmslos. Willenlos.
30. X. Schwerbesinnlicher, fast benommener Eindruck. Die psychischen Reak-
tionen bei vorhandenem Bestreben, das Richtige zu finden, sehr wech-
selnd. Glaubt, der Arzt wisse das selbst, was er fragt. Beim Lesen eines
Textes unaufmerksam, kommt zu keiner verstandlichen Auffassung.
31. X. Ortlich desorientiert.
1. XI. Etwas luzider, aber ablehnend, ratios. Schwere Aufmerksamkeitsstbrung,
die keineswegs sekundar durch Widerstreben erzeugt ist.
2. XI. Sehr matt, ruiide und hinfallig. Starke Bltisse, Krankheitsgefiihl, starke
Kopfschmerzen. Patientin ist zuganglich. Sie benennt den Arzt jetzt
richtig. Teilweise Amnesie fur die letzten Ereignisse. Glaubt langer
hier zu sein, als es wirklich der Fall ist. Zeitlich mangelhaft orientiert.
Sehr verlangsamte Antworten, Schwerbesinnlichkeit. Denkt sehr lange
nach, beantwortet nur die leichtesten Fragen richtig. Ratios. Bekommt
einen kurzen, l / 2 Minute dauernden Zitteranfall ohne ersichtlichen An-
laB. Auffassung sehr schlecht, spricht nur Reihen von 3—4 Ziffern
richtig nach. Merkleistungen sehr vermindert. Kann die Binetschen
Bilder fur Zwolfjahrige nicht erklaren, obwohl sie sich bemiiht.
3. XI. Heute wieder ablehnend. FaBt von einem gelesenen Text sehr wenig
auf, u'obei schwere Aufmerksainkeitsstorung zum mindesten mitspielt.
5. XI. Zuganglicher, miide, unaufmerksam, sehr verlangsamte Auffassung.
Gibt an, sie kdnne nicht mehr so denken wie fruher, sie vergesse alles,
es falle ihr nichts ein.
7. XI. Zeitlich desorientiert. Schlechte Auffassung. Sehr schlechte Urteils-
leistungen.
8. XI. Heute Krankheitseinsicht, zuganglich, ortlich und zeitlich orientiert.
9. XI. Orientiert, teilnahmslos, fiihlt sich verandert. Urteilsleistungenetwas besser.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Digitized by
W. Medow:
Zustand leichter Umdammerung. Auffassungserschwerung und Auf-
merksamkeitsschwache.
Erbrechen. Leichtes Taumeln. Kommt beim Schreiben einer Karte
nicht weiter, deren Inhalt arm, aber formal geordnet ist. Zeitlich richtig
orientiert.
Geringe Spontaneitat. Liegt mit abgehobenem Kopf. Unmotiviertes
Lachen. Neben Unaufmerksamkeit Haften. Merkschwache fiir Namen
und Da ten, bisweilen Personenverkennungen.
Bei Priifungen anfangs widerstrebend, dann folgsam. Perseveriert.
Schlechte Auffaasung. Erkennt auf einer Landkarte nicht die einzelnen
Lander, weiB sie nicht zu benennen.
Lebhaftere und schnellere Antworten. Etwas besser orientiert. Kopf-
sausen. Unmotiviertes Lachen. Berichtet iiber Stimmen, die sie inner-
lich hore und die ihr Befehle erteilen.
Nachts traumartige, szenenhafte Erlebnisse aus dem Krieg. Verharren
in Haltungen. Manirierte Bewegungen. Beklagt sich iiber Gedanken-
iibertragung. Desorientiert. Phoneme, redet Arzte mit Du an, ratios.
5. XII. Naehtliche traumartige Erlebnisse. Physikalische Beeinflussung.
11. XII. Springende Affekte, Maniriertheiten, abnorme Haltungen, Grimas-
sieren. Ungeheilt entlassen.
Zweite Aufnahme in Gehlsheim 2. I. 1922.
War inzwischen dauernd psychisch verandert, Wechsel von ruhigeren Tagen
und solchen mit Unruhe und verworrenem Rededrang. Horte Stimmen, fiihlte
sich von der Klinik aus beeinfluBt.
Aufnahmebefund: Gesicht etwas gedunsen. Schilddriise leicht fast bar.
Feiner Tremor. Starke Hautschrift. Arm-, Knie- und Achillessehnenreflexe leb-
haft. Spannungen. Lappisch. Standig wechselnde Affektlage, inkoharenter Rede¬
drang, Wortneubildungen, somatopsychische Erklarungsideen, Phoneme, unauf-
merksam, abschweifend. Orientierung mangelhaft. Auffaasung herabgesetzt,
Denkschwache, wobei Unaufmerksamkeit und negativistische Stromungen storend
eingreifen. Merkfiihigkeit vermindert.
4. I. Mangelhaft orientiert. Ratios. In der folgenden Zeit maflige Erregtheit.
Starke Inkoharenz. Fortschreiten der gedanklichen Storungen mit ver-
worrener Wahnbildung. V r ereinzelte Zeichen, die noch auf BewuBtseins-
unklarheit hindeuten. Bisweilen schlafrig, klagt selbst iiber Gedachtnis-
schwaehe. Die Orientiertheit bessert sich, zeigt aber noch immer ein-
zelne Mangel. Im Februar nimmt die inkoharente Erregtheit zu. Starke
Abgelenktheit durch Sinneseindriicke, verarbeitet dieselben, Andeutung
von Hypermetamorphose. Mischt sich in die Unterhaltung ein. Es ent-
wickeln sich verworrene GroBenideen. Affekt immer flach und sprunghaft.
Weiterer Verlauf bis zur Gegenwart: Inkoharente Erregtheit, sehr verw r orrene
Fehlvorstellungen. Meist zuganglich, sehr abspringend. Liegt mit abgehobenem
Kopf. Zeitweise vollig desorientiert. Rechnet leichte Aufgaben richtig. Bei
Denkleistungen vollig inkoharent, unproduktiv. Phoneme.
Zusammenfassung: Bei einer 38jahrigen Frau von normaler Konstitution
akutes Einsetzen einer Psychose, die die ersten Wochen leicht stuporos verlauft,
spater in zunehmende inkoharente Erregtheit iibergeht. Die Diagnose Schizo-
phrenie (inkoharente Verblodung) stiitzt sich auf die Besonderheiten der Affekt-
storungen (Teilnahmlosigkeit, Farblosigkeit trotz lebhafter seelischer Vorgange,
Xegativismus), die motorischen Erscheinungen (Verharren in Haltungen, Para-
kinesen, Grimassen, vereinzelte Spannungen), die Willensschwiiche (Untatigkeit),
394
10. XI.
11. XI.
15. XI.
18. XI.
22. XI.
28. XI.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
BewuBtseinstriibungen bei Dementia praecox.
395
die sensorischen Erscheinungen (Phoneme), die sprachlichen und gedanklichen
Storungen (Wortneubildungen, faselige Inkoharenz).
Der BewuBtseinszustand: Das BewuBtsein ist in den ersten Wochen
getrubt und macht den Eindruck maBiger Dammrigkeit und Schwerbesinnlichkeit.
Dieser Eindruck wird gestiitzt durch den Nachweis von Amneaie und bemerkens-
werter Auffassungsschwache. Einzelne luzidere Tage sind eingeachoben. Der
Eindruck der Dammrigkeit schwindet mit dem Umschlag in Inkoharenz. In
letzterer Phase sind einzelne Anzeichen von Hyperluziditat, wenn auch nicht
sehr ausgesprochen, vorhanden (optische Hyperasthesie, leichte Hypermetamor-
phose). Die Merkfahigkeit, die Orientiertheit ist dauemd, etwas schwankend
gestort. Hochgradige Storungen zeigt die Aufmerksamkeit. Die BewuBtseins-
triibung besteht zeitlich eher, als sich Negativismus entwickelt, der in spateren
Wochen schwankend, nicht sehr hochgradig zutage tritt. Auch der gedankliche
Zerfall entsteht erst spater. Auch spater erklart der Negativismus die Abgelenkt-
heit, die Unaufmerksamkeit, die Mangel der BewuBtseinstatigkeit nicht, er geht
nur nebenher und verstarkt sie bisweilen. Als sonstige Kennzeichen von Be-
wuBtseinsverandevungen sind Ratlosigkeit, Schlafrigkeit, Hemmungsgefiihl, Per-
sonenverkennungen und traumhafte Halluzinationen zu verinerken. Es zeigt sich
bei der akut und stiirmisch einsetzenden Schizophrenic eine primare BewuBtseins-
triibung mit primaren Storungen der TatigkeitsauBerungen des BewuBtseins.
Differentialdiagnose: Dieselbe bleibt nur gegeniiber einer symptomati-
schen Amentia zu stellen. In erster Linie entscheidet gegen letztere das Fehlen
eines korperlichen Krankheitsprozesses. Bei dem sonstigen IneinanderflieBen
der Symptomatologie kann vielleicht fiir die gestellte Diagnose angefiihrt werden
die verhaltnismaBige Blasse des Affekts, die Abulie und die Wortneubildungen.
Fall II: Karl G., geb. 8. II. 1902.
Vorgeschichte: Bruder des Vaters, eine einsiedlerische Natur, war mit
46 Jahren wegen einer angstlich-paranoiden Psychose 9 Monate in Gehlsheim.
Er wurde ungeheilt entlassen. Mutter neigt zu reaktiven Verstimmungen. Nor-
male Kindheitsentwicklung. Gute Schulleistungen. Mit 11 Jahren Rippenfell-
entztindung, anschlieBend Keratitis eczematosa, Mittelohreiterung und AbczeB
an der rechten Hand. Arbeitete 1 / i Jahr bei einem Bauer, dann wegen korper-
licher Schwachlichkeit beim V r ater. War etwas still, zutraulieh, uberall beliebt.
GleichmaBige Affektlage. Herbst 1918 entwickelte sich ein kalter AbczeB am
Riicken. Vor der in Aussicht genommenen Operation leicht angstlich verstimmt.
Aufnahme in die chirurgische Klinik Rostock, 5. bis 13. XI. 1919. Diagnose:
Kongestions-AbszeB. Befund: Schlechter Ernahrungszustand. Gesicht gedunsen.
Fluktuierende Geschwulst in der Hohe des 4.—-5. Lendenwirbels. Rontgenolo-
gisch: Aufhellung im 5. Lendenwirljel. der etwas eingebrochen zu sein scheint.
Patient war schon vor der Operation etwas auffallend und angstlich. In Chloro-
formnarkose Punktion und Ablassen von diinnfliissigem Eiter. Injektion von
30 cbcm Chloroformglycerin. In der darauffolgenden Nacht psychisch verandert,
lief nackt umher, betete, lag teilnahmlos im Bett, l>cantwortete Fragen langsam,
aber sinngemaB, auBerte Versiindigungsideen. Da man mit einer Jodoform-
intoxikation rechnete, so wurde dieses am 11. XI. wieder entfcrnt. Am 13 XI.
Erregungszustand, schrieb und betete laut, zerriB, muBte gehalten werden. Ver-
kannte den Arzt.
AnschlieBend Aufnahme in Gehlsheim 13. XI. 1919. Diagnose: Katatonie
(anfangs Eindruck einer symptomatischen Psychose).
Aufnahmebefund: Es findet sich im Riicken neben der Lendenwirbel-
saule eine in Abheilung lx'griffene Kreuzincision. deren Umgebung geschwollen
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
396
W. Medow:
ist. Temperatur 37,6. Leichte Hornhauttriibung links. Neurologischer Befund
normal. Gibt Personalien richtig an. Ist bestrebt, iiber Lebensgeschichte Ans-
kunft zu geben. Fiir die letzten Ereignisse teilweise Amnesie. FaBt schlecht
auf, gibt verkehrte Antworten. Ziemlich mangelhaft orientiert. AuBert un-
zusammenhangende religiose Ideen, verkennt die Situation in entspreehender
Weise. Die Auffassung wechselt sehr, fragt bei jeder Frage nochmals, braueht
lange Zeit, bis er verstanden hat. Vermag nur leichte Rechenaufgaben zu losen,
schwerere dagegen nicht. VergiBt die Aufgabe und versteht sie schlecht. Manche
Frage faBt er wieder sohnell auf. Ratloser, verstandnisloser Gesichtsausdruck.
Verhalt sich teilweise ablehnend, kataleptisch, Affekt indifferent, zum Teil ratios
oder angstlich. Hort die Stimme Gottes. Unmotiviertes Lachen.
Krankheitsverlauf:
14. XI. Mangelhaft orientiert, Personenverkennungen, Versiindigungsideen. Ant-
wortet langsam, oft beziehungslos. Die Resultate wechseln sehr.
15. XI. Ortlich orientiert, zeitlich mangelhaft. Zutraulich. Korrigiert die reli-
giosen Ideen. Erinnert sich besser an die letzten Ereignisse. Heiter.
Denkleistungen besser. Andeutung von Stereotypie. Bald darauf ist
die Auffassung wieder erschwert, unaufmerksam, ratios, teilnahmlos.
Liquorbefund normal, keine Drucksteigerung. Wassermann negativ.
16. XI. Macht einen schwer besinnlichen Eindruck. Angst mit angstlichen Ver-
kennungen. FaBt schlecht auf. Rechen- und Urteilsleistungen langsam,
erschwert, obwohl er sich bemiiht. Unaufmerksam. Andeutung von
Negativismus und Stereotypie. Knie- und Achillessehnenreflexe herab-
gesetzt.
17. XI. Pseudoflexibilitas. Leicht stuporos. Erschwerte Auffassung. Fragt nach
jeder Frage „wie“. Vermag einfache Bilder trotz Bemiihens nicht zu
erklaren. Alle Denkleistungen hochgradig vermindert. Beim Markieren
von Zweckbewegungen zum Teil apraktisch mit Stereotypien.
18. XI. Etwas luzider. Auffassung und Merkfiihigkeit besser. Leichte Katalepsie
und Verharren in Haltungen.
21. XI. Akinetisch. Leichtes Verharren. Affekt indifferent.
23. XI. Vollige Amnesie fur die Operation.
25. XI. Merkschwache.
3. XII. Seit 2 Tagen leichte Temperatursteigerung. Zunahme der Akinese.
4. XII. Vertraumt, zutraulich. Vereinzelte optische und akustische Halluzina-
tionen.
5. XII. Auffallende koordinierte Bewegungen, an die er Fehlurteile ankniipft.
Verharren in Haltungen. Auffassung erschwert. Zeitlich desorientiert.
Visionen religiosen Inhalts.
7. XII. Leichtes remittierendes Fieber. Exanthem im Gesicht. Diazoreaktion
positiv. Zeitlich desorientiert, glaubt viel langer hier zu sein, als es der
Fall ist. Erschwerte Auffassung. Szenenhafte Visionen. Haltungen und
Stereotypien.
10. XII. Schlafsucht. Akinese, Einnassen. Fieberfrei.
15. XII. Erschwerte Auffassung. Orientierung etwas besser.
24. XII. Schmerzen in der Wirbelsaule, jedoch kein Befund. Unaufmerksam.
Schlafsucht. Schwerbesinnlich. Zeitlich mangelhaft orientiert. Speicheln.
26. XII. Schlafsucht. Kniesehnenreflexe abgeschwacht. Achillessehnenreflexe
rechts.fehlend, links schwach vorhanden. Sehr unaufmerksam.
5.1.1920 Traumhaft.. Mangelhaft orientiert. Katalepsie. Verharren in Haltungen.
Leichte parethische Erscheinungen in den Oberschenkelbeugem und
Dorsalflektoren der FiiBe. Sehnenreflexe abgeschwacht.
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
BewuBtseinstriibungen bei Dementia praecox.
397
6. I. Leichte Hyperkinese mit Stereotypic.
15. I. Bei standig mangelhafter Orientiertheit schwankend freier und schlaf-
riger, schlaft sogar beim Essen ein.
29. I. Traumhaftes Wesen, schlaft wahrend der Untersuchung ein. Hoch-
gradige Aufmerksamkeitsstorung. Verharren in Haltungen.
31. I. Nachts deliriose Unruhe wechselnd mit Schlafsucht. Amnestische Er-
scheinungen. Speicheln.
14. II. Mutacismus. Liegt unter der Decke.
Patient ist die folgenden 3 Monate stuporos, zeitweise unzuganglich, ist vollig
desorientiert, obgleich er nachdenkt und willig antwortet. Kopfweh, Speicheln,
Einn&saen. Allmahlicher Ubergang in leicht hyperkinetische inkoharente Erre-
gung, sehr unaufmerksam.
Seither bis zur Gegenwart in dauerndem bald Jangerem, bald kiirzerem
Wechsel von hyperkinetischen, inkoharenten und stuporosen Phasen. Zunehmen-
der Negativismus, ausgesprochene Apathie. Vollige Abulie. Immer unaufmerk¬
sam und mangelhaft orientiert. In den stuporosen Phasen ausgesprochene Schlaf-
rigkeit, klagt stcreotyp iiber Miidigkeit. In den hyperkinetischen Phasen albern,
lappisch, stereotj'p, verworren und unfixierbar.
Zusammenfassung: Unter zeitlichem Zusammenfall mit einer Karies der
Lendenwirbelsaule entwickelt sich bei einem 17jahrigen Mann von normaler Kon-
stitution nach einem ganz kurz dauemden angstlichen Vorstadium akut eine
Katatonie, die in einem periodischen Wechsel von akinetischen und hyperkine¬
tischen Phasen verlauft. Die schizophrene Natur der Erkrankung wird begriindet
durch die Eigenart der Affektveranderung (Apathie, Negativismus, hinter denen
Angstlichkeit, Zutraulichkeit und Ratlosigkeit allmahlich immer mehr verschwin-
den), die motorischen Erscheinungen (Haltungen, Katalepsie, Stereotypien
Pseudo-Spontanbewegungen), die sensorischen Erscheinungen (optische und
akustische Halluzinationen), sekretorische Storimgen (Speicheln), Willensstorun-
gen (Willenlosigkcit, Untatigkeit), die gedanklichen Storungen (faselige In-
koharenz), den progressiven Verlauf.
BewuBtseinszustand: Das BewuBtsein ist von Anfang an ansteigend und
Monate sich auf maBiger Hohe erhaltend, dann allmahlich abklingend getriibt.
Es bestehen Unbesinnlichkeit und amnestische Erscheinungen, die Auffassung
ist in erheblichem MaBe gestbrt. Es besteht Merkschwache, die Orientiertheit
bleibt dauemd maBig und die Aufmerksamkeit hochgradig herabgesetzt. Be-
wuBtseinsklarere Tage mit besserer Auffassungsfahigkeit und Orientiertheit
schieben sich haufig ein. Die Aufmerksamkeitsstorung zeigt geringere Abhangig-
keit von der BewuBtseinstriibung und bleibt auch nach deren Zuriicktreten
stationar. Wahnhafte und sensorische Erscheinungen sind verhiiltnismaBig gering
und wenig sturmisch, eine Erklarung der BewuBtseinslage und des Ausfalls der
TatigkeitsauBerung des BewuBtseins geben sie nicht. Negativismus besteht zwar
von Anfang an in maBigem Grade, jedoch keineswegs gleichlaufend mit den Be-
wuBtseinsveranderungen, er begleitet sie, er erklart aber die erheblich ausge-
sprocheneren Veranderungen der BewuBtseinstatigkeit nicht; er nimmt progressiv
zu, wahrend die BewuBtseinstriibung mit dem Abklingen der akuten Phase naeh-
laBt. An sonstigen Kennzeichen der BewuBtseinsveranderung ist hervorzuheben
Ratlosigkeit, Schlafsucht, Traumhaftigkeit, Personenverkennungen, Traumhallu-
zinationen. Es handelt sich um eine primare Storung des BewuBtseins und seiner
TatigkeitsauBerungen.
Differentialdiagnose: Dieselbe ist gegeniiber einer symptomatisch be-
dingten Amentia zu stellen. Der zeitliche Zusammenfall mit einer korperlichen
Erkrankung fiihrte anfanglich zu einer solchen Annahme. Der chronische Ver-
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
398
W. Medow:
Digitized by
lauf hat dagegen entschieden. Das Zusamnientreffen ist wahrscheinlich als zu-
fallig zu erklaren, wenn man nicht eine Begiinstigung des Ausbruches der Kata-
tonie annehmen will. Symptomatologisch spricht wohl die fortschreitende Apathie
und Abulie fiir den schizophrenen ProzeB. Abgesehen von dem Beginn mit star-
kerer BewuBtseinstriibimg ist das Krankheitsbild fiir Katatonie vollig schulgemaB.
Fall III: Hermann J., geb. 18. II. 1901.
Vorgeschichte: Erblichkeit o. B. Normale Kindheitsentwicklung und
Schulleistungen. Tiichtiger landwirtschaftlicher Arbeiter. Unauffallige Konsti-
tution. Seit 1 / i Jahr zunehmende Langsamkeit bei alien Verrichtungen, Zuriick-
gezogenheit, Verschlossenheit. Er wurde mit der arztlichen Diagnose Meningitis-
Epilepsie eingewiesen Aufnahme in Gehlsheim 9. X. 1921. Diagnose: Katatonie.
Aufnahmebefund: Diirftiger Ernahrungszustand. Leichte Kyphoskoliose.
Temperatur o. B. Puls 90. Leichte EiweiBtriibung des Urins. Pupillen weit, von
normaler Reaktion. Starke Spannungen in alien GliedmaBen. Knie- und Achilles-
sehnenreflexe abgeschwacht. Leib etwas eingezogen, die Beine werden an den
Leib adduziert. Geringe Nackensteifigkeit. Augenhintergrund normal. Lumbal-
punktion: Liquor flieBt mit etwas erhohtem Druck ab, Nonne Phase 1 schwach
positiv, GesamteiweiB leicht vermehrt (2 Teilstrich Nissel), Zellen 18/3 (Lympho-
cyten), Wassermann im Blut und Liquor negativ. Kulturell weder Meningokokken
noch Tuberkelbazillen. Pat. macht einen schwerbesinnlichen Eindruck. Er liegt
mit geschlossenen Augen da, reagiert nur mit leichten Kopfbewegungen und
Zucken mit der Kopfschwarte und den AugenschlieBmuskeln. Bei Fragen nach
Schmerzen deutet er auf den Hinterkopf. Er befolgt einfache Aufforderungen,
schwerere dagegen nicht. Bei passiven Bewegungen federnder Widerstand.
12. X. Die BewuBtseinstriibung ist etwas geringer als in den ersten Tagen. Er
faBt Fragen sehr langsam und erst nach mehrfacher Wiederholung auf.
Spricht nur Reihen von 3 Ziffem nach. Gibt Personalien mit fliisternder
Stimme an. Ortlich und zeitlich desorientiert. Benennt einfache Bilder
und Gegenstande langsam und miihsam, bei schwereren versagt er.
Nestelt dauernd mit den Handen am Hemd und Bett umher.
13. X. MaBige deliriose Bewegungsunruhe.
16. X. Kauert Tag und Nacht auf dem Bettrand, die Beine bis ans Kinn heran-
gezogen, die Augen zugekniffen, die Hande nach Art eines Beschafti-
gungsdelirs in dauernder Bewegung. Federnder Widerstand bei passiven
Bewegungen. Bleibt auch die Nacht hindurch trotz ausgiebiger Schlaf-
mittel so sitzen, reagiert nur mit einzelnen stereotypen Worten.
23. X. Auffassung standig schwer gestort, nur leicht schwankend.
25. X. Verharrt ununterbrochen in Hockerstellung. Der Blick ist geradeaus ins
Leere gerichtet. AuBer der fedemden Muskelspannung kein eigentliches
Widerstreben. Er bemiiht sich zu antworten, bewegt die Lippen, bleibt
mitten im Wort stecken. Eindruck schwerster Denkhemmung. Erkennt
den Arzt und benennt einige Gegenstande.
26. X. Tiefer Stupor. Das BewuBtsein erscheint stark getriibt, wenn auch nicht
schlafrig. Einzelne AuBerungen iiber Angstvorstellungen. Er fliistert:
„Ich will mich nicht totschlagen lassen.“ Miene unbewegt. Hockerstel¬
lung. Fliistert hie und da stereotyp vor sich hin. Befolgt einige Auf¬
forderungen, best die Uhr nach dem groBen Zeiger ab. Einnassen. Wider-
strebt motorisch, dagegen nicht gedanklich. Puls 80. Nie Erbrechen.
Starrt geistesabwesend ins Leere. Nimmt zu keiner Zeit von irgend
etwas Notiz. Verbigeriert leise. Bemiiht sich bei alien Fragen, macht
aber schon beim Fingerzahlen Fehler.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
BewuBtscinstriibungen bei Dementia praecox.
399
29. X. Konzentrationsschwache ohne Spur einer auBeren Abgelenktheit. AuBer-
ordentlich gehemmt. VergiBt die Fragen, faBt nicht auf. Rechnet 3x4
richtig, 4x6 falsch. Klagt liber Kopfschmerzen. Antwortet langsam
in abgerissenen Satzen. Gibt Monat und Tageszeit richtig an. Er be-
schreibt das Binetsche Bild „Eingeworfene Fensterscheibe“ wie folgt:
„Kind . .. Glas ein ... kaputt... er schlagt.. . er steht da . ..“ Wort-
findung ziemlich gut. Beim Schreibversuch faBt er den Bleistift sehr un-
geschickt an, ist aueh nicht zu einem besseren Anfassen zu bewegen.
Schreibt kurze Diktate immer agrammatisch.
31.X. FaBt sehr schlecht auf, Konzentrationsschwache. Tag und Nacht in
Hockerstellung.
1. XI. Urin jetzt frei. Augenhintergrund normal. Blickt ins Leere wie geistes-
abwesend, verbigeriert leise. Bei alien gedanklichen Leistungen bemiiht
er sich ersichtlich, es gelingt ihm aber nur das Leichteste miihsam nach
zahlreichen VViederholungen. Nur bei motorise hen Einwirkungen trieb-
artiges Widerstreben. Ausfall jeglicher Spontaneitat. Das einfache op-
tische Erkennen ist normal, jedoch versagt er bei alien erheblichen
Kornbinationsaufgaben. Affektleer. Gesicht unbewegt, wenn auch nicht
maskenhaft. Er bekommt gelegentlich Tranen in die Augen, murmelt:
„Ich bin doch kein Verbrecher."
3. XI. Halt Urin zuriick und naBt dann ein.
4. XI. Schilddriise leicht vergroBert. Er liest die Uhr immer nur nach dem
groBen Zeiger ab.
7. XI. Tags und meist auch nachts in Hockerstellung. VVird mit Loffel gefiittert,
widerstrebt etwas, kaut aber gut, sobald das Essen im Munde ist.
8. XI. Sieht sich angstlich um. Scheint optisch zu halluzinieren.
10. XI. Ortlich ungenau, zeitlich vollig desorientiert. Gibt Personalien langsam
auf Drangen an. Benennt einfache Gegenstande, hantiert richtig damit,
aber immer langsam und mit groBer Miihe; widerstrebt hierbei nicht.
Rechnet immer nur leichte Aufgaben. Halt ein Buch sehr unzweckmaBig,
so daB es hinunterfallt, hilft nicht mit der anderen Hand.
11. XI. Dauemd auBerordentlich schwerbesinnlich. Hochgradige Konzentrations¬
schwache. Pupillen weit. Cyanose der Hande. Hockerstellung. Wider¬
strebt bei passiven Bewegungen, besonders wenn sie briisk erfolgen.
Aus seinen AuBerungen ist zu entnehmen: „Dies ist hier die Holle; Sie
konnen mich hier doch wohl nicht umbringen.“ Gibt einmal an, er hore
die Stimme des Vaters, scheint optisch zu halluzinieren. Vollige Abulie.
Puls 108. Augenhintergrund normal. Leichtes Grimassieren.
14. XI. Verhalten unverandert. Es wird folgende Verbigeration notiert: ,,Rostock
nach Augenklinik hin. .. will mich nicht schlagen lassen von euch
(fliichtige Weingrimasse). . . zufrieden ... ich will mich doch nicht. . .
Kinder verderben lassen . .. zu Vater .. . nach Rostock . . . Rostock . . .
niemals schlagen lassen . . . Vater ... hinfahren . . . zu Hause ... hin-
fahren . . . nach Rostock . . . zufrieden . .. hinfahren nach Rostock . . .
Augenklinik . .. sollte ich hin . . . nach Rostock zur Augenklinik . . . hier
Qual. .. hier zu Schanden (plotzlich auftretende und verschwindende
Weingrimasse). . . Wesen . . . Rostock.. . bei Kindern . . . am Stamm des
KreuzeB . . . nicht hin . . . hin nach ... die armen Kinder . . . Wesen . ..
zu Schanden ... nach Rostock . .. mir nichts anschlagen . .. Wesen hin
... Vater .. . Himmel. .. hin .. . Rostock . .. hinbringen ... die Holle ge-
qualt (plotzliche Weingrimasse).' 1 Hierbei blickt Pat. abwesend ins Leere
und ist vollig unablenkbar.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
400
W. Medow:
Digitized by
15. XI. Spricht heute riehtig von seinem Aufenthaltsort.
In der folgenden Zeit ist Patient wenig verandert, standige Hockeratellung,
blickt ins Leere, Unbesinnlichkeit. Er bemiiht sich zu antworten, es gelingt ihm
aber nur miihsam das Leichteste, dagegen motorisches Widerstreben, zeitweise
leise Verbigerationen, abgerissene Angstvorstellungen. Beira Benennen von Ge-
genstanden verwendet er oft die Oberbegriffe. Zeitweise echopraktisch, leichte
Katalepsie. Zeitlich immer desorientiert, ortlich dagegen riehtig. Motorisch
macht er zeitweise einen gesperrten Eindruck, er verwendet die zweite Hand auch
in sehr unbequemen Haltungen nicht. Eine episodische fieberhafte Erkrankung
bringt keine Anderung in das Bild. Patient muB lange Zeit mit Schlundsonde
ernahrt werden. Das Korpergewicht sinkt kontinuierlich trotz reichlieher Nah-
rungszufuhr und volliger Ruhe. Bei Denkleistungen erscheint er nie erheblich
negativistisch, bezeigt vielmehr gegeniiber dem Arzt eine gewisse Zutraulichkeit.
Im Januar 1922 tritt zeitweise eine leichte motorische Erregung auf, er wird bett-
fliichtig, klammert sich an, widerstrebt bei alien Korperbewegungen unsinnig.
Die Sprache nimmt an der Erregung nicht toil. Der neurologische Befund bleibt
negativ. Am 18.1. 1922 sind die Pupillen weit, zeigen geringe Lichtreaktion. Ver-
fallenes Aussehen, halt den Kopf immer nach links gedreht, Hockerstellung am
Bettrande, standig vollig abwesend, er bleibt jedoch fur leichte Priifungen meist
zuganglich. Die Auffassung und Merkfahigkeit ist immer schlecht, alles muB
mehrfach vorgesprochen werden. Auch bei Besuch der Angehorigen ganz unver-
andert. Leichte Hyperleukocytose im Blutbild. Liegt ganz kontrahiert im Bett,
geht ungeschickt, balanciert aber ziemlich gut. Lumbalpunktion am 2. II. 1922:
Druck 50 mm Wasser, Nonne schwach, aber deutlich positiv, GesamteiweiB leicht
vermehrt (2 Teilstrich Nissel), keine Zellen. Seit Februar iBt Patient wieder von
selbst, trotzdem fortschreitender Krafteverfall, schmutzig-gelbe Hautfarbe. Die
linke Hand schilfert in groBen Lamellen ab. Lumbalpunktion am 21. II. ergibt
200 mm Wasser, sonst gleichen Befund wie zuvor. Nach der Punktion kurze Zeit
hyperkinetisch erregt. Ohne den Eindruck der Schlafrigkeit macht Patient immer
einen auBerat schwerbesinnlichen Eindruck. Die Spannungen und Haltungen
bestehen unverandert fort. Die Orientierung bessert sich nicht, die ortliche ist
vorhanden, er benennt den Arzt gelegentlich riehtig beim Namen. Es fallt auf,
daB er personlichkeitsfremde Dinge, soweit es sich um leichte Fragen handelt,
beantwortet, hingegen personlichkeitseigene nicht, auBer den einfachsten Per-
sonalien. Beim Gehen driickt er immer mit dem ganzen Korper nach der ent-
gegengesetzten Richtung. Die Aufmerksamkeit ist nur ganz schwach erweekbar.
Die Auffassung ist hochgradig reduziert.
Im Mai ist das Gewieht auf 70 Pfd. gesunken, obgleich er ausreichend und
spontan Nahrung nimmt und noch daruber hinaus mit Sonde hinzugefiittert wird.
Es entwickelt sich ein schwerer gangranoser Decubitus, jedoch ohne Fieberbewe-
gung. In den letzten Tagen vor dem am 31. V. an plotzlicher Herzschwache er-
folgenden Tode erscheint er psychisch etwas regsamer. Er beantwortet willig
einfache Dinge, wenn auch unter groBter Miihe. Er macht spontan einige AuBe-
rungen iiber Angstvorstellungen und Beeintrachtigungen. Die zeitliche Orien-
tiertheit war etwas besser, doch glaubte er, schon ein paar Jahre hier zu sein.
Er leugnete Phoneme. Er war bis zum Ende vollig abulisch und ohne Spon-
taneitat. Keine aphasischen Eracheinungen. Kein Negativismus bei Denkauf-
gaben, hingegen in hohem Grade bei alien Veranderungen der Korperlage.
Sektionsbefund: Koriiersektion ausgefiihrt durch das Pathol. Institut
Rostock am 1. VI. 1922: Ausgedehnte Decubitalphleginone. Sepsis. Multiple
subpleurale Abszesse in beiden Lungen. Konfluierende Bronchopneumonie in
beiden Unterlappen mit frischer fibrinoser Pleuritis rechts. Starke Atrophie des
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
BewuBtseinstriibungen bei Dementia praecox.
401
Herzens. Hypoplasie der groBen GefaBe. Abdominale Stauungsorgane und
Stauungskatarrh am Magendarmkanal. Hochgradigste allgemeine Macies. Die
von Prof. Walter in Gehlsheim vorgenommene anatomische und histologische
Gehimsektion ergibt keine mit der Diagnose im Widerspruch stehende Befunde.
insbesondere besteht weder Hirnschwellung, noch Hydrocephalus, noch Lepto¬
meningitis oder Gehimodem.
Zusammenfassung: Bei einem 20jahrigen Mann von normaler Konsti-
tution entwickelt sich, subakut von Anfang mit stuporosen Erscheinungen ein-
setzend und dauemd unter dem Bilde des Stupors verlaufend, eine schwere Ka-
tatonie, die nach achtmonatigem Bestand unter fortschreitendem Krafteverfall
zum Tode fiihrt. Die Diagnose eines schizophrenen Prozesses stiitzt sich in nega-
tivem Sinne auf das Fehlen eines andersgearteten organischen Leidens, in posi-
tivem Sinne auf die motorischen Erscheinungen (Spannungen, motorisches Wider -
streben, Katalepsie, Grimassieren), auf die affektiven Erscheinungen (Affekt-
blasse, der gcgeniiber Angstlichkeit zuriicktritt), die schwere Willenstorung
(Abulie, Inaktivitat).
Der BewuBtseinszustand: Es besteht dauemd hochgradige Schwerbesinn-
lichkeit, die jedoch nicht die Farbung der Schlafrigkeit aufweist. Auf erhebliche
BewuBtseinstriibung deutet die dauemde schwere Auffassungsschwache, neben
der auch Merkschwache zutage tritt. Die Orientiertheit ist dauemd und die Auf-
merksamkeit besonders hochgradig gestort; bei letzterer fehlte jede auBere Ab-
gelenktheit. Als Ursache, die sekundar den Ausfall der BewuBtseinstatigkeit hatte
hervorrufen konnen, kommt nur Negativismus in Frage. Derselbe erstreckt sich
aber in hohem Grade nur auf das motorische Gebiet. Soweit die BewuBtseins¬
tatigkeit in Frage kommt, besteht BeeinfluBbarkeit und Bestreben zu aktiver
Leistung. Bei Denkleistungen ist Patient keineswegs ablehnend, er bemiiht sich
etwas zu leisten, er versagt vollig gleichmaBig vom Leichteren zum Schwereren;
niemals besteht irgendein Anhaltspmikt, daB er bessere Leistungen durch Nega¬
tivismus unterdriickt. Der Negativismus ist nur eine Begleiterscheinung der Be-
wuBtseinsschwache. Auch wahnhafte Vorgange, besonders Angstvorste 11 ungen.
konnen den elementaren Ausfall an BewuBtseinsleistungen nicht erklaren; ebenso-
sehr fehlte eine sekundare affektive Abgelenktheit. Die Schwankungen der Luzi-
ditat sind in diesem Falle ganz gering. Die Denkschwache ist hochgradig ent¬
wickelt, sie ist aber hier unaufloslich und primar mit der Unbesinnlichkeit ver-
kniipft. Es handelt sich uni eine primare BewuBtseinstriibung mit primarer
Stbrung aller BewuBtseinstatigkeiten.
Differentialdiagnose: Die Schwere der Unbesinnlichkeit. die anfang-
lichen meningitischen Symptome (Nackensteifigkeit, eingezogener Leib) lieBen
anfangs an einen organischen HirnprozeB denken. Die Fieberlosigkeit, der Liquor-
befund entschied gegen Meningitis. Das Fehlen der Stauungspapille, der Puls-
verlangsamung, der Herdsymptome sprach gegen einen Tumor. Die initiale leichte
Albuminurie ist, wie auch sonst beobachtet, auf den katatonischen ProzeB zu
beziehen. Die iibrigen neurologischen und somatischen Erscheinungen (Pupillen-
weite, die zeitweise von Lichtstarre begleitet war, Cyanose der Hande, Marasmus)
fallen in den Itahmen des katatonen Prozesses. Bemerkenswert ist der EiweiB-
befund des Liquors (leicht positiver Nonne und leichte EiweiBvermehrung bei
wochselnder Druckliohe). Der Sektionsbefund hat keinen Anhaltspunkt ergeben.
denselben auf irgendeinen anderen Grund als den des schweren katatonischen
Prozesses zu beziehen. Auch fur selbstandige Meningitis serosa hat die Sektion
keinen Anhaltspunkt ergeben. Die Art des I^eidens, bei dem keine erheblichen
meningitischen Erscheinungen vorlagen und bei dem dauernde schwere Storung
aller Denkvorgange im Vordergrund stand, spricht elninfalls gegen eine solche
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
402
\Y. Medow:
Digitized by
Annahme. Die Erhohung des Liquordruckes mit deni anfanglich angedeuteten
Meningismus laBt jedoch an eine der Meningitis serosa auBerlich vielleicht ahn-
liche Veranderung der Liquorproduktion denken; es liegt jedoch kein Grund
vor, ihn ursachlich von dem die psychische Storung veranlassenden katatonischen
Prozeli zu trennen. Fiir die Annahme eines toxischen oder infektiosen Stupors
hat weder der Krankheitsverlauf noch die Sektion Anhaltspunkte ergeben.
Ich mochte an dieser Stelle auf zwei in gleicher Zeit in Gelsheim be-
obachtete und von Blumenthal veroffentlichte schizophrene Psy¬
chosen hinweisen, bei denen BewuBtseinstriibungen gleich schweren
Grades auftraten (Fall 6 Toni B. und Fall 5 Meta P.). Der letztere Fall,
der anfangs einen so ungewohnlich organischen Anstrich trug, daB die
Diagnose Meningitis serosa gestellt wurde, hat sich im spateren Ver-
lauf als einwandfreie Schizophrenic aufgeklart.
Ich schlieBe in gekiirzter Form eine zweite Gruppe von Krank-
heitsfallen an, die den harmonischen tjbergang von den soeben gesehil-
derten Krankheitsformen zu dem gewohnlichen Typ der Dementia
praccox bilden und die zu jenen Fallen hintiberleiten, bei denen Be¬
wu Btseinsveranderungen ganz im Hintergrunde stehen und deren Be-
deutung nur durch den Hinweis auf die eingangs geschilderten schwe-
reren BevmBtseinstriibungen geklart wird.
Fall IV: Frida G., geb. 23. IX. 1889.
Vorgeschichte: Zaghaftc, scheue Natur. In letzter Zeit getausehte Heirats-
hoffnung.
Erste Aufnahme in Gehlshcim 26. IV.—14. VIII. 1921. Seit 14 Tagen
akuter Beginn mit Depression. Aufnahme im Stupor. Mutistisch, widerstrebend
leichte Katalepsie. Anfangs leichte Temperaturerhohung. Wird etwas freier.
Desorientierung. Leichte Umdammerung. Zeitweise abgelenkt. Auffassung
schwankt, meist sehleeht. Xach 3 Wochen schwindet die Dammrigkeit, worn it
Riiekkehr der Orientiertheit und des Auffassungsvermogens eintritt. Sie gibt
jetzt iiber die Vorgeschichte Auskunft, wobei sich teilweise Amnesic fiir die letzten
Ereignisse zeigt. Ziemlich gute Urteilsfahigkeit. Nach achttiigigem luzidem In-
tervall Ruckfall in Stupor, gemischt mit deliranter Unruhe. Hyjiermetamorpho-
tisch. Angstlich-negativistisch. Klagt iiber Miidigkeit. Schlafsucht. Erscheint
gehemmt. Auffassung ist wieder sehleeht. Xach 14 Tagen wiedcr Aufhelluug des
BewuBtseins. Gebessert entlassen.
2. Aufnahme in Gehlsheim 13. IX.—22. XII. 1921. Patientin war zu Hause
einige Wochen lebhaft, beschiiftigte sich, dann wurde sie wieder depressiv. Bei
der Aufnahme Unbesinnlichkeit, Merkschwache. Unaufmerksam. Delirante L T n-
ruhe in den Handen. Stupor. Einnassen. Sonderfiitterung. Nach 3 Wochen
schiebt sich ein erneutes luzides Intervall ein. Sodann entwickelt sich eine all-
miihlich zunehmende inkohiirente Erregung. Die Orientiertheit bleibt mangelhaft.
Starke Aufinerksamkeitsstorung. L T rteilsleistungen sehleeht. Die Affektlage ist
zeitweise euphorisch verbunden mit leichtem Beschaftigungsdrang. Hicran schlieBt
sich ein 4 Wochen dauernder Stupor, in dem Patientin eine verblaBte Angstlich-
keit zeigt. Sie ist gehemmt, zeitlich desorientiert, es treten Spannungen, Nah-
rungsverweigerung, impulsive Handlungen und Parakinesen auf. Kurz dauernde
hyperkinetische Erscheinungen sind eingestreut. Es entwickeln sich zahlreiche
katatonische Erscheinungen, wie Katalepsie, Schnauzkrampf, Lachausbruche,
Gotigle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
BewuBtseinstriibungen bei Dementia praecox.
403
Grimassieren, Speieheln, Stereotypien und Befehlsautomatie. Im Stupor wird
Patientin ungeheilt entlassen.
3. Aufnahme in Gehlsheim 7. II. 1922. Auch in der Zwischenzeit haben
akinetische und hypcrkinetische Zustiinde gewechselt. Patientin befindet sich
seither in einem Zustand maBiger inkoharenter Erregung mit zahlreichen katatoni-
schen Erscheinungen. Sie ist in maBigem Grade negativistisch, obwohl sie gegen-
iiber Eragen und Priifungen leidlich zuganglich bleibt. Im ubrigen ist der Affekt
bisweilen leicht angstlich, meist blaB. Motorisch findet sich Katalepsie, Ver-
harren in bizarren Haltungen, Stereotypien, Maniriertheiten und Speieheln. Es
besteken Phoneme. Der Gedankengang zeigt faselige Inkoharenz ohne Produk-
tivitat. Den Eindruck der Dammrigkeit hat Patientin in letzter Zeit nicht mehr
gemaeht, dagegen reagiert sie sehr langsam, besinnt sich lange. Die Auffassung
erscheint sehr schlecht, obwohl sie sich wenigstens auBerlich einstellt. Sie ist
desorientiert, zeigt Merkschwache und schwere Aufmerksamkeitsstorung.
Beurteilung: Der AnscliluB der Erkrankung an eine gemutliche Erachiit-
terung, die Storung der BewuBtseinsvorgange, der anfangs ausgesprochene Wechsel
von stuporoser Hemmung und leichter euphorischer Erregtheit lieBen zunachst
an der Diagnose Schizophrenie zweifeln. Das anfangliche Fieber lieB an eine
Amentia denken, fur die auch die BewuBtseinstriibung und der Wechsel akineti-
scher und hyperkinetischer Zustande ins Feld gefiihrt werden konnte. Der weitere
Verlauf hat jedoch dagegen entschieden. Es hat sich kein grundlegendes korper-
liches Leiden ergeben, der psychische ProzeB erwies sich als ein fortschreitender.
Wenn auch die Symptomatologie im einzelnen nichts Entscheidendes gegeniiber
einer Amentia besagen kann, so paBt doch die Fulle der katatonischen Erschei¬
nungen, die Affektblasse, der Negativismus, die faselige Inkoharenz weitaus eher
zu der Diagnose einer Katatonie. Der BewuBtseinszustand ist in den stuporosen
Zeiten dammerig, unbesinnlich und unklar. Es bestehen teilweise Amnesie und
leichtc deliriose Erscheinungen. Die BewuBtseinstriibung nimmt zeitweise den
Charakter der Hyperluziditat mit Hypermetamorphose an, wobei aber gleichwohl
die Orientiertheit gestort bleibt. Die Auffassung ist stark gestort, die Aufmerk-
samkeit bleibt durch alle Phasen hindurch erheblich geschwacht. Es besteht zwar
dauernd ein erheblicher Grad von Xegativismus, er ist aber nicht so stark, um
Priifungen zu verhindern und Denkleistungen dauernd zu unterdriicken. Die
BewuBtseinsstorungen bestehen gleichmaBig auch in zuganglichen Zeiten fort.
Wahrend Negativismus und Zuganglichkeit momentweise wechseln, schwanken
die Elementarsymptome der BewuBtseinsstorung mehr in groBeren Zeitraumen
oder bestehen dauernd wie die Konzentrationsschwache und die Desorientiertheit.
Apathie erklart die Ausftille der BewuBtseinstatigkeit nicht. Es handelt sich
auch hier um eine primare Storung der BewuBtseinstatigkeit, die nur nicht so
hochgradig entwickelt ist wie in den vorhergehenden Fallen.
Fall V: Martha B., geb. 4. XI. 1895.
Vorgeschichte: Keine Hereditat. Gute Schulleistungen. Normale Kon-
stitution. Seit 2 Jahren wird eine leichte Veranderung des Wesens im Sinne eines
starkeren Betatigungsdranges wahrgenoinmen. Unmittelbar anschlieBend an das
Abklingen einer schweren mit Pneumonie verbundenen GripjKi Einsetzen einer
akuten Psychose. Ekstatische Verwirrtheit und Erregtheit. Optische und aku-
stische Halluzinationen. Pcrsonenverkennungen. Zeitliche Desorientiertheit.
Aufenthalt in Gehlsheim 16. XI. 1918—7. VII. 1920. Der korperliche
und neurologische Befund bieten hier nichts Besonderes. Mangelhafte Orientiert¬
heit. Personenverkennungen. Patientin ist lebhaft, lacht viel, auch unmotiviert.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
404
\V. Medow:
Digitized by
zornmiitig, inkoharent, ekstatischer Gedankengang, Traumhaftigkeit. Die Be-
wegungsunruhe ist ziellos, einformig, zum Teil parakinetisch abgeandert. Hoch-
gradige Unaufmerksamkeit. Die passive Auffassung erscheint bisweilen gut, meist
ist sie schwer gestort. Auch die Merldeistungen schwanken sehr. Wahrend der
ersten Wochen macht Patientin dauemd einen traumhaften Eindruck, sie dost
oft vor sich hin. Die Unaufmerksamkeit und die Desorientiertheit erhalten sieh
durch die ganze Beobachtungszeit in hohem Grade fort. Abgelenktheit durch
Sinneseindriicke. Der Gedankengang ist inkoharent, inhaltlich ekstatisch-expansiv.
Es finden sich Paralogien, Klang- und Ahnlichkeitsassoziationen, Haften, er-
Bchwerte Vorstellungserweckbarkeit. Wahrend anfangs kein merklicher Negativis-
mus besteht, entwickelt sich dieser allmahlich, wobei er in der ersten Zeit starken
Schwankungen unterworfen ist. Es wechseln erregte und leicht stuporose Zu-
stande, in denen Denkhemmung auftritt. Die anfangs bestehende Lebhaftigkeit
des Affektes laCt nach. Sie wird vorwiegend apathisch, zeitweise ratios, jedoch
standig sehr wechselnd. zunehmende Gewalttatigkeit und Impulsivitat, Grimas-
sieren, Vorbeireden, Laehausbriiche, ungeordnete GroBenideen, Phoneme. Die
ortliche Orientiertheit kehrt zuriick, was trotz des Negativismus sehr wohl fest-
stellbar. Dabei wird sie standig unzuganglicher, untatig, abulisch und teilnahm-
los. Begriffliche Verwechselungen. Juli 1920 auBert sie: „Ich als Laborantin
danke fur Betschemel. Das kommt mir so russenhaft vor. Ich weiB, daB Sie Herr
Ruwold sind. Ich habe gemerkt, daB die Toten unter den Grabern noch bliihen.
Ich heiBe die deutsche Kaiserin, ich bin die abgesetzte Papstin von Rom.“ Zu¬
nehmende sprachliche Storung und Wortneubildungen. Vorwiegend inkoharent
erregt, stuporose schlafrige Zeiten eingeschoben. Patientin wird ungeheilt ent-
lassen. Seit 16. II. 1921 bis zur Gegenwart befindet sie sich in der Anstalt Sachsen-
bcrg. Sie befindet sich hier dauernd in inkoharenter, gewalttatiger, katatonischer
Erregung. Die Personenverkennungen verschwanden. 1921 waren einige ruhigere,
zuganglichere Tage eingeschoben, in denen sie sich orientierte und die Dauer des
Aufenthaltes in Gehlsheim ganz falsch angab.
Beurteilung: Bei einem 23jahrigen Made hen von norinaler Konstitution
entwickelt sich nach einer langere Zeit vorangehenden ganz leichten Personlich-
keitsveranderung im AnschluB an eine Grippe akut eine schizophrene Erkrankung
unter dem Bilde einer progressiv verlaufenden inkoharenten Verwirrtheit, in die
sich kurz dauernde, wenig tiefe stuporose Zeiten cinschieben. Der zeitliche An¬
schluB an eine Grippe, die Traumhaftigkeit der BewuBtseinslagc, die schweren
Storungen der BewuBtseinstatigkeit lieBen an eine Grippe-Amentia denken. Die,
wenn auch nur geringe vorauslaufende Personlichkeitsveranderung, der schwere
progressive Verlauf lassen jedoch nur an ein zufalliges Zusammentreffen, evtl.
an eine Begtinst igung des Ausbruches denken. Die Diagnose der Schizophrenic
stutzt sich neben dem Verlauf auf die zunehmend negativistische, vorwiegend
apathische Affektveranderung, die vollige Abulie, die motorischen Erscheinungen
(Parakinesen, Grimassieren, Laehausbriiche), die schwere Denkstorung mit Para¬
logien und Wortneubildungen.
BewuBtseinszustand: Es besteht akut einsetzend eine dauernd betracht-
liche Unklarheit des BewuBtseins, die anfangs eine traumhafte, dosige Farbung
tragt, spater in den stuporosen Zeiten auch von Schlafrigkeit begleitet wird. Die
Luziditat ist anfangs bemerkenswerten, kurzdauernden Schwankungen unter¬
worfen, die auch von der Auffassung und der Merkfahigkeit kongruent mitgemacht
werden. Als sonstige Kennzeichen der BewuBtseinsstorung sind Personenverken¬
nungen und Ratlosigkeit zu vermerken. In einem lichteren Zeitabschnitt kann
eine maBige Amnesie festgestellt werden fiir den ersten Krankheitsabschnitt. Der
Negativismus entwickelt sich erheblich spater als die BewuBtseinsstorung, er be-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
BewuBtseinstriibungen bei Dementia praecox.
405
gleitet nur dieselbe und erklart sie nicht. Auch die Abgelenktheit ist nur unbedeu-
tend und vermag etwa auf dem Wege liber die Aufmerksamkeit die Ausfalle auf
dem Gebiete der BewuBtseinstatigkeit nicht zu erklaren. Die Denkstorung ist
primar und untrennbar mit der BewuBtseinstrubung verbunden. Es handelt
sich um eine primare BewuBtseinsstorung und Veranderung der BewuBtseins¬
tatigkeit.
Fall VI: Berta L., geb. 14. IX. 1878.
In Gehlsheim 8. X. 1911—18. IV. 1912 und vom 5. X. 1912 bis zur Gegenwart.
Diagnose: Schizophrenic. Hereditat und pramorbide Personlichkeit ist ohne
Belang. Patientin machte 13. VIII. 1911 einen Partus durch und war seither
etwas auffallig. Bald darauf erkrankte sie an Pneumonie, an die sich eine akute
angstlich-erregte Verwirrtheit anschloB, die anfangs durchaus einer Amentia
glich. Wahrend der ersten 3 Wochen des klinischen Aufenthaltes holies Fieber
bis 40°. Leicht iibelriechender Fluor und mangelhafter SchluB des Muttermundes
deuten auf eine Endometritis. Es bestanden traumhafte Visionen und schwere
Inkoharenz, deren Inhalt durchaus aus reproduktivem Material bestand. Vollig
desorientiert. Vorwiegend hyperkinetisch, kurze akinetische Zustande eingestreut.
Impulsivitat und Verbigeration. Verkennung von Ort und Personen. Schwere
Aufmerksamkeitsstorung und Merkschwache. Nach Entfieberung bleibt die Er-
regung zunachst auf unverminderter Hohe. Nach 4—5 Monaten folgt ein tlber-
gangsstadium, in dem die Orientiertheit stark wechselt. Bei Fragen besinnt sie
sich lange. Andeutung von Amnesie. Allmahlicher Ubergang in ein orientiertes
chronisches Stadium, das dauernd in abgeschwachter Foim hyperkinetische und
hypokinetische Zeiten wechseln lafit und progressiven Zerfall der Denkvorgange
aufweist. Die anfangs vorwiegend freundliche Stimmung geht allraahlich und
fortschreitend in Negativismus iiber. Unmotiviertes Lachen, faselige Inkoharenz,
Urteilsschwache, Wortneubildungen, optische und akustische Halluzinationen.
Vorwiegend Apathie und Abulie. Merkfahigkeit und Auffassung bessern sich,
wahrend die Aufmerksamkeit dauernd gestort bleibt. Dem Eindrucke nach er-
scheint Patientin bewuBtseinsklar.
Beurteilung: Eine 33jahrige Frau von normaler Konstitution erkrankt im
AnschluB an eine Wochenbettspneumonie akut an einer Schizophrenie. Der An-
schluB an den korperlichen ProzeB, die Fieberbewegung, der Wechsel hyper- und
akinetischer Phasen, die Verwirrtheit verbunden mit Storungen der BewuBtseins-
tatigkeit lieBen zunachst an eine infektiose Amentia denken. Das Fortschreiten
der Psychose nach der Entfieberung, der progressive gedankliche Zerfall sprachen
gegen diese Annahme. Bei der Hohe des Fiebers liegt die Annahme nahe, daB es
sich im Beginn der Erkrankung wirklich um eine putride Endometritis gehandelt
hat, wenn auch eine entsprechende Diagnose nicht gestellt wurde. Wahrschein-
licher als ein rein zufalliges Zusammentreffen mit dieser korperlichen Krankheit
ist die Annahme, daB das voraufgehendc korperliche Leiden den Ausbruch der
Schizophrenie begiinstigt hat, Eine endgultige Entscheidung hieriiber wird nach
dem gegenwartigen Stand der Kenntnisse jedoch nicht mbglich sein. Das End-
stadium charakterisiert sich nicht als ein einfacher residuarer Schwachezustand,
sondern als ein schweres, zu fortschreitendem Zerfall fuhrendes Leiden. Es ist
deshalb auch ein residuarer Schwachezustand nach Infektionspsychose abzulehnen.
Die Diagnose der Schizophrenie griindet sich auf die fortschreitende affektive und
intellektuelle Verblodung, die in Negativismus und faseliger Inkoharenz ilire
charakteristische Fiirbung erhalt. Daneben sind Abulie, Manicriertheiten, Laeh-
ausbriiche, Halluzinationen vermerkt.
BewuBtseinszustand: Gleichzeitig mit dem akuten Beginn setzt eine
Archiv (jir Psycniatrie. BJ. 67. 27
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
406
W. Medow:
Digitized by
schwere unldare BewuBtseinshyperluziditat mit starkem Vordrangen von Erin-
nerungsbruchstUcken ein, die von traumhaften Visionen, Desorientiertheit, Merk-
und Aufmerksamkeitsstorung und Andeutung von Amnesie begleitet wird. Die
BewuBtseinstrubung geht durch ein Zwischenstadium von starkeren tageweisen
Scliwankungen der Luciditat in ein Endstadium iiber, das keine greifbaren Ver-
anderungen der BewuBtseinsklarheit mehr erkennen laBt. Wahrend die Orien-
tiertheit zuriickkehrt, bleibt die Aufmerksamkeitsschwaehe auch jetzt fort-
bestehen. Negativismus entwickelt sich erst im spateren Verlauf der Psychose
und kommt fiir den initialen Ausfall der BewuBtseinstatigkeit nicht in Frage.
Bei dem Fehlen von Abgelenktheit, bei den nur maBig lebhaften sensoriellen Er-
scheinungen sind auch andere sekundare Ursachen fiir dieselben auszuschbeflen.
Es handelt sich im akuten stiirmisch verlaufenden Anfang der Psychose um eine
primare BewuBtseinstriibung und primare Stbrungen der BewuBtseinstatigkeit,
wahrend die residuare Aufmerksamkeitsschwaehe das letzte erkennbare Zeichen
einer Veranderung des BewuBtseins bleibt.
Fall VII: Martha Schl., geb. 27. IX. 1896. Aufgenommen 31. V. 1921.
Diagnose: Schizophrenic, depressive Form mit katatonischen Symptomen. Pa-
tientin zeigt im Beginn der akut im AnschluB an eine Grippe einsetzenden Krank-
heit BewuBtseinstrubung vom Charakter der Schwerbesinnlichkeit und Umdam-
merung. Als Ausdruck derselben findet sich Desorientierung, Merkschwache, Auf-
merksamkeitsstorung und Amnesie. An sonstigen Kennzeichen sind Personen-
verkennungen und Katlosigkeit zu vermerken. Der Affekt ist anfanglich lebhaft,
angstlich, spater geht er progressiv in Negativismus iiber. Weder Negativismus
noch Abgelenktheit iiben im Beginn einen erheblichen EinfluB auf die BewuBt¬
seinstatigkeit aus. Nach 1 / 2 jahriger Krankheitsdauer tritt der Eindruck der
Dammrigkeit nicht mehr auf. Die Orientiertheit bessert sich, ohne jedoch voll-
standig zu werden. Es handelt sich um eine primare BewuBtseinstrubung mit
primaren Storungen der BewuBtseinstatigkeit.
Ich habe aus dem Gros der Schizophrenien des gleiehen Zeitab-
schnittes, aus dem die obigen Krankheitsfalle entnommen sind, eine
Anzahl herausgegriffen und daraufhin untersucht, welche Merkmale
von BewuBtseinstrubung oder Unklarheit sich nach den bisher erorter-
ten Grundsatzen bei ihnen auffinden lassen. Ich habe hierbei keine
systematische Auswahl getroffen, mich aber tvenigstens teilweise sol-
chen Fallen zugewendet, bei denen ich greifbare Merkzeichen von Be-
vvuBtseinsveranderung zu finden hoffte. Ich gebe im folgenden nur in
Stichworten das iiber den BewuBtseinszustand Erhobene wieder. Es
handelt sich hierbei nach dem Stande der Kenntnisse um diagnostisch
sichere Krankheitsfalle.
Fall VIII: Berta M., geb. 28 IV. 1886. Aufgenommen 11. III. 1920. Diagnose:
Schizophrenic. Akuter Beginn der Erkrankung, keine Dammrigkeit, jedoch
Storungen der BewuBtseinstatigkeit, Merkschwache, Unaufmerksamkeit. Des-
orientiert. Auffassung besser. Daneben finden sich Personenverkennungen und
Ratlosigkeit. Negativismus ist friihzcitig entwickelt, er hemmt die Zuganglich-
keit, ohne die Ausfalle der BewuBtseinstatigkeit zu erklaren. Orientierungs-
storung und Merkschwache halten im weiteren Verlaufe an. Der Grad einer greif¬
baren BewuBtseinstrubung wird hier nicht erreicht, dementsprechend keine
Amnesie und leidliche Auffassung. dagegen finden sich primare Storungen der
BewuBtseinstatigkeit beziiglich Merkfahigkeit und Aufmerksamkeit.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
BewuBtseinstrubungen bei Dementia praecox.
407
Fall IX: Henny L., geb. 24. IV. 1894. Aufgenommen 8. V. 1916. Diagnose:
Schizophrenic. Patientin war zeitweise geistesabwesend, ratlose Verkennungen.
Klagt iiber Miidigkeit und Denkunfahigkeit. Konfabulationen. Schlaft zeitweise
viel. Stuporose Phasen wechseln mit katatonischen Erregungen. Sehr langsame
Reaktionen bei Assoziationsversuch. Amnesie fur die erregten Zeiten. In der
Regel, wenn auch nicht immer richtig orientiert. Auffassung vermindert. Zeit¬
weise in sich versunken. Aufmerksamkeitsschwache. Die BewuBtseinsklarheit
weist starkere Schwankungen auf, abwesendes, versunkenes Verhalten, Miidigkeit,
Denkunfahigkeit, Amnesie weisen auf BewuBtseinstrubungen hin; daneben findet
sich die BewuBtseinstatigkeit in Gestalt von Auffassungsschwache und Unauf-
merksamkeit gestort. Als weitere Zeichen fur BewuBtseinsstorung finden sich
Ratlosigkeit und Verkennungen. Die Orientiertheit ist weniger gestort. Der Ne-
gativismus nimmt spater einen breiten Raum ein, erkliirt jedoch nicht die Aus-
falle der BewuBtseinstatigkeit.
Fall X: Grete L., Schwester von Fall IX, geb. 7. II. 1898. Aufenthalt in
Gehlsheim vom 4. VII.—13. IX. 1913. Diagnose: Katatonie. Akuter Beginn mit
angstlicher hyperkinetischer Erregung ohne den greifbaren Eindruck einer Be-
wuBtseinstrubung. Infolge Heftigkeit der motorischen Entladungen ist es an-
fangs nicht moglich, einen Einblick in ihren BewuBtseinszustand zu erhalten.
Nachdem nach Ablauf einiger Wochen ein Umschlag in Akinese eingetreten ist,
deuten schwere Denkhemmung und Ersehwerung des Gedankenablaufes auf Un-
besinnlichkeit. Die Orientierung ist gestort, die Auffassung erschwert. Es be-
stehen Verkennungen. Patientin glaubt viel langer in der Klinik zu sein, als
es der Fall ist. Merkschwache. Negativismus ist stark entwickelt, jedoch nicht
so kont.nuierlich, um nicht in zuganglicheren Zeiten einen richtigen Einblick in
den BewuBtseinszustand zu erhalten und dessen Storungen als prinmr zu er-
kennen. Die nur gering entwickelte Halluzinose und Abgelenktheit kommen als
Ursachen nicht in Frage. Patientin kommt nach der Entlassung in eine gute
Remission.
Fall XI: Martha A., geb. 1. I. 1882. Aufgenommen 14. X. 1921. Diagnose:
Katatonie. Chronischer Beginn Beit einem Jahr. Dann akute Steigerung zu hoch-
gradiger, angstlicher Erregtheit, in der delirante Unruhe vermerkt wird. Auf-
nahme im Stupor. Infolge von stark ausgepragtem Negativismus ist es sehr schwer,
den primaren BewuBtseinszustand festzustellen. Starkere Triibung scheint zu
fehlen, in zuganglichen Momenten ist der Gedankenablauf ungehemmt, die Auf¬
fassung und Merkfiihigke t leidlich. Ratlose Verkennung der Situation. Auch
in zuganglichen Momenten zeigt sich Desorientiertheit. Ablenkung durch wahn-
hafte Denkvorgange. Progressive Zunahme des Negativismus und der katatoni¬
schen Verworrenhc it, die kaum noch einen Einblick in den BewuBtseinszustand
gestatten. Die Auffassung scheint erheblich gestort zu sein. In diesem chronisch
beginnenden Falle scheint die BewuBtseinstriibung nur gering entwickelt zu sein.
Die deliriosen Erscheinungen, die ratlosen Verkennungen, die Desorientiertheit,
die Auffassungsmangel deuten darauf hin, daB eine solche nicht ganz fehlt, Der
Ausfall der BewuBtseinstatigkeit wird vorwiegend sekundar durch Negativismus
und lebhafte Wahnbildungen verursacht.
Fall XII: Anna W., geb. 25. X. 1901. Aufgenommen 13. VII. 1921. Diagnose:
Katatonie. Akuter Beginn. Stiindiger Wechsel von inkoharenter hyperkinetischer
Erregtheit, die sich zu delirioser Verworrenheit steigert und stuporosen Zustanden.
Haufiger Wechsel des BewuBtseinszustandes, niemals dammerig. Zeitweise sehr
abgelenkt, hypermetamorphotisch. Ebenso haufiger Wechsel der Orientiertheit.
Wechselndcr Negativismus. Ratios. Die BewuBtseinsstorung triigt oft einen
hyperluziden hyperasthetischen Anstrich („sie weiB mchr wie fruher"), zeitweise
27*
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Digitized by
408 W. Medow:
besteht delirante Farbung. Auch in den von Xegativismus freien Momenten ist
die BewuBtseinstatigkeit nicht intakt.
Fall XIII: Elisabeth Sell., geb. 23. VIII. 1890. Aufgenommen 3.1.1915.
Diagnose: Schizophrenic mit katatonischen Erscheinungen. Subakuter Beginn.
Eine greifbare BewuBtseinstriibung ist nicht feststellbar. Gefiihl allopsychischer
Veranderung. Ratlosigkeit. Die Auffassung erscheint vermindert. Antworten
oft erst auf wiederholtes Fragen. Spiiter erscheint die Auffassung leidlich. Die
Orientiertheit ist wenig gestort. Die Luziditat und BewuBtseinstatigkeit ist nur
wenig affiziert. Sekundare Stdrungen durch Xegativismus und lebhafte Wahn-
bildungen.
FallXIV: Wilhelm B., geb. 5. III. 1900. Aufgenommen 8. IV. 1920. Diagnose:
Katatonie bei Debilitat. Subakuter Beginn. Patient zeigt in periodischer Wieder-
kehr katatonische Erregungszustande, in denselben werden ekstatisch-expansive
Ideen neben somatopsychischen Wahnvorstellungen geauBert. Der BewuBtseins-
zustand ist infolge Vorbeiredens und Xegativismus nicht direkt feststellbar. Es
scheint jedoch eine gewisse Schwerbesinnlichkeit vorzuliegen. In den Z wise hen -
zeiten ist Patient zuganglich, maBig dement. Es zeigt sich, daB eine fiir die ein-
zelnen Phasen wechselnde, meist betrachtliche Amnesie fiir die Erregungen be-
steht, so daB dieselben, abgesehen von den gehiiuften parakinetischen Erschei¬
nungen und sprachlichen Besonderheiten manchen epileptischen Dammerzustan-
den ahneln. Zeitweise konnte erschwerte Auffassung, Desorientiertheit und
vollige Verwirrtheit festgestellt werden.
Fall XV: Martin A., geb. 6. XII. 1894. Aufgenommen 30. V. 1918. Diagnose:
Katatonie. Chronischer Beginn. Uber den BewuBtseinszustand wird vermerkt:
gehemmt, besinnt sich sehlecht, in Sprache und Bewegung langsam, miides Ver-
halten. Leichte Benommenheit. Er gibt an, das Sprechen falle ihm schwer, er
konne nichts behalten, er habe alles vergessen, sei wie zerschlagen gewesen. Die
Orientiertheit ist intakt. Bei im allgemeinen kontinuierlichem Verlauf werden
einige katatonische Erregungszustande beobachtet, die mit ihrer deliranten Un-
ruhe Dammerzustanden ahneln. Er zeigt hierbei dammrigen Gesichtsausdruck,
Personenverkennungen, Ratlosigkeit und Desorientiertheit. Ein Bruchstiick einer
Beobachtung sei hier angefiihrt: „Er ist damit beschaftigt, ein kleines Stiiekchen
Papier in die Mitte eines Sonnenfleckes auf der Bettdecke zu legen. Er deckt
dann ein zweites Stuck Papier dariiber. Als Grund gibt er an, es habe gebrannt,
er habe es schon fliuimern sehen. Er wolle die Sonne abhalten. Dabei ist das
Papierstiickchen viel kleincr als der Sonnenfleck. Er nimmt dann das untere
Ende der Bettdecke und legt sie iiber den Sonnenfleck, darauf ein Stiiekchen
Tuch und eine Rcihe weiterer Gegonstande. Er nimmt immer das eine weg, urn
das andere dafiir hinzulegcn; bedeckt dabei immer nur die Hiilfte des Sonnen¬
fleckes, indem er den Rand des Papiers genau parallel mit dem Rande des Son¬
nenfleckes legt. Bald darauf auBert er: , Vorsicht, der Mond kommt! Zwei sind
abgefallen, die sind unterwegs, die werden gleich einfallen. Gestcrn abend wurde
von dem einen Stern zum andern geschossen. Die Figur, die den Mond darstellt,
habe ich entzwei geworfen. Der ganze Himmelsbogen ist abgesaust. 4 Hierbei
zeigt Patient groben Tremor und kongestioniertes Gesicht. Er kramt ununter-
brochen mit Bettstiicken und Bettgestellen, um sich toils zu schiitzen, toils die-
sclben aus dem Gefahi-sbereich zu bringen. Auf Fragen nach Orientiertheit geht
er nicht ein.“ Im spateren Verlauf wird Patient immer unzuganglicher, so daB
kaum noch etwas iiber seinen BewuBtseinszustand gesagt werden kann. Im
Begiim der chronisch verlaufenden Psychose werden leichte Zeichen von BewuBt-
seinstrubung in Form von leichter Benommenheit, Unbesinnlichkeit, Hemmung,
Mudigkcit, Zerstreutheitsgefiihl beobachtet. Sie sind im allgemeinen gering und
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
BewuBtseinstriibungcn bei Dementia praecox.
409
lassen die Orientiertheit intakt. Sie erreicht hohere Grade in deni akuten Schub
einer katatonischen Erregung, die einem Dammerzustand ahnelt. Sekundare
Einfliisse kommen fiir diese Ausfallserscheinungen nicht in Frage.
Fall XVI: August A., geb. 5. IX. 1849. Aufgenommen 4. VI. 1889. Diagnose:
Hebephrenie. Ausgesprochen chronisch verlaufender Fall. In den ersten Jahren
der Krankheit wird vermerkt: Mangelhafte Orientiertheit. FaBt die Fragen viel-
fach falsch auf. Unbesinnliches Wesen. Konfabulationen. In den spateren Jahren
zeigt er annahemd normale BewuBtseinstatigkeit, doppelte Orientiertheit. Bei
einem schleichend verlaufenden KrankheitsprozeB sind BewuBtseinstriibungcn
sehr gering, werden jedoeh nicht ganz vermiBt.
FallXVII: Paul D., geb. 21. XII. 1897. Aufgenommen 2. II. 1920. Diagnose:
Schizophrenie. Subakuter Beginn. Der BewuBtseinszustand 1st anfangs traum-
haft benommen und schwerbesinnlich. Patient ist langsam, schwerfallig, schlafrig,
er faBt langsam und schwer auf, die Aufmerksamkeit ist erheblich gestort. Merk-
schwache. „Es ist mir, als ob alles weg ist. “ Ratios. Bei Priifungen versteht
er nicht, was von ihm verlangt wird. Im spateren Verlauf sind BewuBtseins-
veranderungen nicht mehr sichcr feststellbar, da durch Xegativismus und ver-
worrener Wahnbildung der primare Zustand uberdeckt wird, wahrscheinlich sind
sie nur noch gering.
Fall XVIII: Ida H., geb. 2. II. 1888. Aufenthalt in Gehlsheim 11. VIII.
1919—2. XII. 1920. Diagnose: Katatonie. Akuter Beginn, nachdem P /2 Jahre
zuvor ein ereter Krankheitsfall voraufging. Patientin zeigt anfangs ein ekstatisches
religiosverzucktes Wesen. Die Auffassung ist erscliwert und verlangsamt, sie
macht den Eindruck starker Denkhemmung. Sie ldagt wiederholt, es liege wie
ein Bann auf ihr und bittet den Arzt, ihr den Bann abzunehmen. „Ich war im
Bann des Herm der Welt, das Gedachtnis versagt manchmal, manchmal bin ich
verwirrt geworden.“ Zeitliche Orientiertheit mangelhaft. Mit Riicktritt der
stiirraischen Erscheinungen treten die BewuBtseinsstorungen zuriick, Patientin
wird besser orientiert, hingegen entwickelt sich fortschreitender Xegativismus.
Bei Entlassung ist Orientiertheit und Merkfahigkeit noch reduziert.
Fall XIX: Anna S., geb. 21. VIII. 1886. Aufgenommen 22.1. 1920. Diagnose:
Katatonie. Chronischer Beginn, nachdem sie schon vor 7 Jahren einmal erkrankt
war. Sie wurde vergeBlich. Personenverkennungen. Die Orientiertheit ist man¬
gelhaft, schlechte Auffassung, Merkfahigkeit besser. Zeitweise ablehnendes Ver-
halten, verwirrte Handlungen. Auffassung und Merkfahigkeit verschlechtem
sich. Sehr unaufmerksam. Sitzt wie geistesabwesend da. Vertraumter Ausdruck.
Die BewuBtseinsklarheit wechselt betrachtlich. Bei an sie gerichteten Fragen
fragt sie immer wieder: „Was denn?“ Unter Schwankungen des BewuBtseins-
zustandes vertraumt, ablehnend. Auf BewuBtseinstriibung deutet die Auffas-
sungs- und Merkschwache, daneben finden sich Personenverkennungen und Auf-
merksamkeitsstorungen. Die Orientiertheit wechselt mit der BewuBtseinsklarheit.
Xegativismus ist vorhanden, erklart jedoeh die Ausfallserscheinungen nicht.
Sekunddre Storungen durch Abgelenktheit, lebhafte Wahnbildimgen bestehen nicht.
Die in letzter Gruppe kurz geschilderten Krankheitsfalle lieBen
sich in unbegrenzter Zahl verniehren. Doch werden in Ansehung der
beschrankten Raumverhaltnisse die angefiihrten Falle die SchluBfolge-
rungen zur Geniige stiitzen.
In den geschilderten Krankheitsfalien sind uns Krankheitsbilder
aus der Gruppe der Schizophrenie mit BewuBtseinsstorungen vierfacher
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
410
W. Medow:
Digitized by
Abstufung vor Augen getreten. Fall 1 bis 3, denen sich 2 Falle von
Blumenthal anreihen, zeigten die starksten BewuBtseinsverande-
rungen; daran reihen sich Fall 4 bis 7 mit maBigen Triibungen, wahrend
der Rest nur geringe Anzeichen, die auf eine getriibte BewuBtseins-
lage hinweisen, aufwies. Es lieBe sich noch eine 4. Gruppe anreihen,
zu denen Fall 11, 13 und 16 gehoren, bei denen das BewuBtsein fast
klar erscheint und nur Storungen der BewuBtseinstatigkeit als An¬
zeichen fiir nicht greifbare Klarheitsanderungen bemerkbar werden.
Ich glaube, daB sich in diese 4. Gruppe samtliche Formen von Schizo¬
phrenic, soweit ihr BewuBtseinszustand in Frage steht, einteilen lassen.
Bestimmte Angaben fiber das prozentuale Verhaltnis dieser 4 Gruppen
verraag ich nicht zu geben, da hierzu eine ungleich groBere Anzahl
von Krankheitsfallen hatte durchforscht werden miissen. Da jedoch
alle Krankheitsfalle aus dera gleichen Zeitabschnitte stammen, so
kann schatzungsweise angegeben werden, daB, wenn man von der
paranoiden Demenz und der Dementia simplex absieht, die ich nicht
in das Bereich meiner Untersuchungen gezogen habe, sondern nur die
Hebephrenie, Katatonie und inkoharente Verblodung ins Auge faBt,
vielleicht die Halfte aller Falle in die 3. Gruppe fallt, wahrend die
andere Halfte sich annahernd gleich auf die iibrigen Gruppen verteilt.
Jedenfalls scheinen mir Formen der Gruppe 1 mit starkeren BewuBt-
seinstriibungen im Gegensatz zu der Annahme mancher Autoren keines-
wegs selten zu sein.
Ich mochte zunachst nochmals die Aufmerksamkeit auf die Be-
wuBtseinstriibungen im allgemeinen hinlenken. Indem ich die durch-
forschten Krankheitsbilder iiberblickte und indem ich eine Reihe von
symptomatischen und Infektionspsychosen mit herbeizog, schien es
mir moglich, 4 allerdings unscharf getrennte, sich haufig mischende
und sogar im Verlauf der gleichen Krankheit einander vertretende
Pradilektionstypen von BewuBtseinstrubungen zu erkennen. Es ware
dieses auf der lahmungsartigen Seite der Triibungen die dammrige und
die unbesinnliche BewuBtseinstriibung; auf der erregungsartigen Seite
dagegen zwei Formen, die ich als die sensorisch-hyperluzide und als die
reproduktiv-hyperluzide bezeichnen mochte. Die dammrige Triibunger-
halt ihren sinnfalligen Ausdruck durch die traumhafte Schlafrigkeit, eine
hochgradige Schwache der Auffassung bis zum Verlust jeder Beziehun-
gen zur Umwelt, wohingegen innere, traumhafte Vorstellungen von
mehr oder minder starker Inkoharenz in einem dfimmrigen Lichte
vortiberschweben. Die unbesinnliche Triibung ermangelt hingegen des
dammrigen Ausdruckes, sie empfangt ihr besonderes Geprage durch
die Erschwerung und Verlangsamung der begleitenden gedanklichen
Vorgange, mit dem BewuBtseinsausdruck der Abwesenheit und des
Insichversunkenseins. Die Kranken maehen einen gehemmten Ein-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
BewuBtseinstrubungen bei Dementia praecox.
411
druck, w'omit jedoch nicht die Affekthemmung der Melancholiezuverwech-
seln ist. Der Affekt ist ratios, der Zusammenhang mit der Umwelt
ist besser, die Kranken bemuhen sich aufzufassen und nachzufolgen,
doch sind Auffassung, Merkfahigkeit und Aufmerksamkeit schwer
gestort. Die Orientiertheit ist nicht so vollstandig wie im ersten Fall,
jedoch erheblich beeintrachtigt. Traumhalluzinose ist seltener. Es
liegt der Gedanke nahe, die erste Form als einen hoheren Grad, die zweite
als einen geringeren Grad von BewuBtseinslahmung aufzufassen. Ich
mochte mich im allgemeinen hierfiir entscheiden, ohne zu verkennen,
daB auch noch andere Griinde fiir das Auftreten der einen oder der
anderen Form mitzuwirken scheinen. Es scheint dagegen zu sprechen,
daB dammrige Trubungen auch bei geringer Gehirnschadigung (Miidig-
keit, Narkose, Schlaf), Unbesinnlichkeit, bei schwereren destruktiven
Prozessen auftreten konnen, so daB wohl auch an Verschiedenartigkeit
der Ursachen zu denken ware. Sehr haufig ist eine Mischung beider
Arten von Triibung vorhanden und schien mir dieses bei den unter-
suchten Fallen auf einen hoheren Grad der Triibung hinzudeuten. An
Stelle der Dammrigkeit und Denkhemmung findet sich bei anderen
Fallen von BewuBtseinstriibung eine gesteigerte Lebendigkeit der Be-
wuBtseinsvorgange von sehr eigenartigem Geprage, verbunden mit
affektiver und motorischer Erregtheit. Bei der einen Form, die ich als
die reproduktive bezeichnen mochte, handelt es sich vorwiegend uni
einen gesteigerten Zustrom von Erinnerungsbruchstiicken, wahrend
die Beziehung zu den Gegenwartseindriicken, die Tatigkeit der Sinnes-
wahrnehmungen mehr oder minder abgeschnitten ist. Die Kranken
sind wenig oder gar nicht fixierbar. Kraepelin findet dieselbe beson-
ders bei den Delirien. Er sagt hier: ,,Der Schwellenwert fiir auBere
Einwirkungen ist erheblich erhoht aber fur iimere Erregungen ver-
mindert.“ In einer kleinen Anzahl von Fieberdelirien, die ich darauf-
hin untersucht habe, fand ich ebenfalls diese Form. Die zweite von mir
als sensorisch bezeichnete Form zeigt gerade umgekehrt eine gesteigerte
Abgelenktheit durch Sinneseindriicke, die sich bis zur Hypermetamor-
phose steigern kann. Bonhoffer schildert dieselbe bei der Amentia
und auch bei Delirien, sie findet sich auch bei epileptischen Ausnahme-
zustanden. Ob sie auch Beziehungen zu ahnlichen Zustanden bei der
Paralyse und der verworrenen Manie besitzt, mochte ich dahingestellt
sein lassen. Bonh offer charakterisiert dieselbe als ein zwangsmaBiges
Achten auf Sinneseindriicke mit deutlicher optischer und akustischer
Hyperasthesie. Er sah diese Erscheinungen auch die Form der Ideen-
flucht annehmen. Er fand bei den Kranken das subjektive Geftihl des
erleichterten Gedankenablaufes und weitere manische Symptome. In
dem Fall eines Fieberdelirs entwickelten sich an Paralyse erinnernde
GroBenideen. Das BewuBtsein fand er hierbei erheblich getriibt, zum
Digitized by Goeigle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
412
W. Medow:
Digitized by
Teil jedoch leidlich luzide, so daB die Unterscheidung von Manie
schwierig wurde. Es scheinen also moglicherweise keine scharfen Gren-
zen zwischen einer hyperluziden BewuBtseinstriibung und dem mani¬
schen Symptomkomplex zu bestehen. Ich selbst vermiBte bei der von
mir als hyperluzide Triibung bezeichneten Erregtlieit die manischen
Kennzeichen einer Ideenflucht und des Betatigungsdranges. Der Affekt
war wohl lebhaft, aber nicht heiter, eher leicht angstlich. Oft beschaf-
tigten sich die Kranken mit einer unheimlich wirkenden Lel>endigkeit
mit Todesvorstellungen. Bonhoffer ist geneigt, fiir den Obergang
in ein manisches Bild eine individuelle Anlage als Ursache anzuerkennen,
im iibrigen aber den verschiedenen Benommenheitszustanden Quanti-
tatsunterschiede der Bcnommenheitstiefe zugrunde zu legen. Man
konnte geneigt sein, hyperluzide Erregtheit als Vorstufe der lahmungs-
artigen Benommenheit aufzufassen, es trifft dies sicher auch fiir viele
Falle zu. Man findet bei schweren Infektionsdelirien die lebhafteste
BewuBtseinserregtheit mit agonalem Eortschreiten des Prozesses in
Somnolenz und Koma iibergehen. Ahnlich liegen die Verhaltnisse auch
bei vielen Nervengiften, insbesondere bei der akuten Alkoholintoxika-
tion. Aber es muB fiir andere Falle diese Annahme wieder in Zweifel
gezogen werden infolge der Beobachtung, daB manche deliriose Pro-
zesse viel schwerer sein konnen als die Veranderungen bei leichten
dammrigen Traumzustanden. Es miissen also neben der Schwere des
Prozesses noch andere Momente, die in der Konstitution oder der Art
der Schadigung liegen, mitspielen. Nicht minder ungekliirt ist es,
wantm in dem einen Fall selbst bei der gleichen Krankheitsform einmal
eine reproduktive, ein andermal eine sensorische Hyperluziditat auftritt.
Mischungen und gegenseitiger Wechsel und Verkniipfung mit Lah-
mungssymptomen sind auch hier sehr haufig.
Ewald will das oft beobachtete manieartige Vorstadium von In-
fektionspsychosen als ersten Ausdruck der beginnenden BewuBtseins-
lahmung, die zunachst denFortfall von Hemmung verursacht, ansehen,
und er trennt diese Zustande grundlegend von dem manischen Sympto-
menbilde. Es fragt sich, ob die Zustande, die Ewald im Auge hat,
sich mit den von mir als hyperluzide Triibung bezeichneten Zustanden
decken. Wenn ich ihn recht verstehe, hat er auch besonnenere, ideen-
fliichtige Bilder im Auge, die ich in die hyperluzide Triibung vorerst
nicht einbeziehen mochte, infolgedessen ist die von mir vorgenommene
Trennung vom manischen Bilde jener von Ewald nicht vollig gleicli
zu setzen. Ich selbst bin geneigt, hyperluzide Triibung von manischen
Bildern, die beide im Verlauf organischer Psychosen vorkommen konnen,
aus praktischen Griinden zu trennen. Bei der hyperluziden Erregtheit
fand ich vorwiegend Haften, Inkoharenz und die ausgepr>en Merk-
male der Bewu Btseintriibung. Andererseits sehen wir bei Steigening des
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
BewuBtseinstrubungen bei Dementia praecox.
413
manischen Krankheitsprozesses bis zur verworrenen und inkoharenten
Manie diese Erscheinungen bis zu einem gewissen Grade auch auftreten,
so daB man auBer an die Verschiedenheit der Vorgange doch auch
wieder nur oder neben diesen an Unterschiede in der Schwere und dem
zeitlichen Ablauf des Prozesses zu denken berechtigt ware. Vielleicht
sind die Verhaltnisse so zu denken, daB das BewuBtsein in der Tat
gewissermaBen nur mit einer quantitativ abgestuften Skala von Tonen
auf verschiedenartige Schadigungen zu antworten vermag, daBaber Ver-
laufsart und spezifische F&rbungen durcb ursachliche Faktoren und viel¬
leicht auch dieKonstitution bedingt werden. Eskonntedann.trotzdemdie
Skala der BewuBtseinsstufen nur auf quantitative Reize reagieren wiirde,
doch der Gesamtzustand,der eben noch andereBausteine als jene ausdem
Be wu Bt se i ns zu s t ande enthalt, nicht nur genetisch, sondern symptomato-
logisch grundlegend verschieden sein. Aus praktischen Grtinden erscheint
mir eine Sonderung dieser Formen schon jetzt geboten, wenn auch
eine restlose Klarung der Unterschiede zurzeit noch nicht moglich ist.
Ich stimme mit Ewald darin uberein, daB die Anfange von BewuBt-
seinstrubung fiir unsere direkte Wahrnehmung in der Begel verborgen
bleiben. Sie treten dagegen sehr fruhzeitig mit Aufmerksamkeits-
storungen in die Erscheinung, wir haben aber keinen Beweis, daB
solche geringgradigen BewuBtseinstrubungen nicht auch bei dem ein-
fachen manischen Symptomenbild schon vorliegen.
Wenn man die geschilderten Krankheitsfalle iiberblickt, so muB
zunachst die Tatsache festgestellt werden, daB BewuBtseinstrubungen
zum Teil erheblicher Art in breitem Umfange bei der Dementia praecox
vorkommen. Bei den Krankheitsfallen der beiden ersten Krankheits-
gruppen fallt dieses ohne weiteres in die Augen. Es besteht D&mm-
rigkeit und Unbesinnlichkeit oder eine Mischung von beiden. Daneben
finden sich auch hyperluzide Triibungen. Alle werden begleitet von
erheblichen Ausfallen in der BewnBtseinstatigkeit, groBtenteils finden
sich amnestische Erscheinungen. Beziiglich der hohen Beweiskraft der
letzteren fiir den Nachweis von BewuBtseinstrubungen verweise ich auf
das eingangs Gesagte. Kontinuierliche Ubergange finden sich zu der
Gruppe 3 und 4, deren Deutung ermoglicht wird durch starkere Zeich-
nung der voraufgehenden Gruppe. Die Erscheinungen von BewuBt-
seinstriibung treten in ihnen zuriick. In Gmppe 3 sind sie noch leicht
vorhanden, wahrend sie in Gmppe 4 zu fehlen scheinen. Hingegen
sind Storungen von Auffassung, Merkfahigkeit, Aufmerksamkeit und
Orientiertheit als besonders feine Anzeiger von BewuBtseinstrubungen
noch immer in betrachtlichein Umfange nachweisbar. Es kann gesagt
werden, daB in alien untersuchten Fallen der schizophrene Krank-
heitsprozeB zu einer allgemeinen Schadigung des BewuBtseins gefiihrt
hat. Der Unterschied bestand nur darin, daB der Grad der Schadigung
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
414
W. Medow:
Digitized by
ein sehr verschiedener war. In leichtesten Fallen wurde dem Unter-
sucher nur die gestorte BewBtseinstatigkeit bemerkbar, wahrend das
BewuBtsein leidlich klar erschien. Bei den schwereren Sch&digungen
wurden dann die BewuBtseinstriibungen immer greifbarer. Mit dieser
Annahme einer zunehmenden allgemeinen Schadigung des BewuBtseins
stimmt auch die Beobachtung zusammen, daB, wenn man von Gruppe 4
zur Gruppe 1 hinaufgeht, die Triibungen zuerst episodisch, sehr fliichtig,
singular auftreten, sich besonders in akuten Steigerungen und katato-
nischen Erregungen finden, wobei sie in Fall 14 und 15 den Grad eines
umschriebenen Dammerzustandes erreichen. Sodann gewinnen sie im¬
mer mehr an Umfang und beherrschen in der ersten Gruppe durchaus
das Krankiieitsbild. Sie erreichen aber auch hier nicht den Grad einer
kontinuierlichen BewuBtseinslahmung, wie in der Somnolenz oder im
Koma, sondern weisen immer noch Schwankungen und luzide Inter¬
vals auf. Nur der besonders schwere und in direkter Wirkung todlich
verlaufende Fall 3 zeigt eine kontinuierliche besonders tiefe Unbe-
sinnlichkeit. Ich mochte an dieser Stelle nochmals darauf hinweisen,
daB mir die Durchsicht einer Anzahl von Benommenheitszustanden
organischer Erkrankungen das gleiche Bild der standigen Luziditats-
schwankungen ergeben hat. Ich fand letztere selbst noch bei den
schwersten und furibundesten Prozessen, die erst mit dem agonalen
Koma in eine kontinuierliche BewuBtseinslahmung iiberging. Es ist
also auch hierin ein grundlegender Unterschied zwischen organischer
und schizophrener BewuBtseinstriibung nicht zu erblicken. Bei jedem
einzelnen Krankheitsbilde ist bereits nachgewiesen, daB die BewuBt¬
seinsstorung primar war. Es wurde hervorgehoben, daB der Negativis-
nxus, der am meisten fiir den Beobachter den Be wuBtseinszu stand zu
verdecken und auseinander zu zerren scheint, in der Mehrzahl im
Beginn der starksten BewuBtseinsstorung noch kaum angedeutet war
und sich erst spater nach dem Zuriicktreten der BewuBtseinsstorung
progressiv entwickelte. Er begleitete die BewuBtseinsstorungen und
verdeckte oft die BewuBtseinsausfalle, vermochte sie aber nicht ur-
sachlich zu erklaren. Ebensowenig vermochten Abgelenktheit, die nur
selten starkere Grade erreichte und meist vollig fehlte, Wahnbildungen,
halluzinare Vorgange, die selten sehr sturmisch auftraten, die Er-
scheinungen auf dem Gebiete des BewuBtseins zu begriinden.
|. Es fragt sich, welche Ursachen eine so verschiedengradige Er-
griffenheit des BewuBtseins bei den vier unterschiedenen Gruppen
veranlassen. Es scheint mir, daB hierfur die Schwere des Krankheits-
prozesses und der zeitliche Ablauf verantwortlich zu machen sind.
Die 7 Falle der ersten beiden Gmppen zeigten mit nur einer Ausnahme
einen akuten Beginn. Es schienen mir dies auch besonders schwere
Verlaufsformen zu sein. Fall 3 fiihrte durch den schizophrenen Krank-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
BewuBtseinstriibungen bei Dementia praecox.
415
heitsprozeB direkt zum Tode, die andern gingen ohne Remissionen in
schwere Endzustande mit gedanklichem Zerfall aus. Bei den iibrigen
Gruppen finden sich auch noch akute, aber wesentlich zahlreicher
subakute und chronische Verlaufsformen, die im Endstadium oft nur
einen Teilabbau bis zum Erhaltenbleiben einer gewissen Arbeitsfahig-
keit bewirkten. Auf einen Zusammenhang mit dem zeitbchen Ablauf
deutet auch der Umstand, daB bei chronischen Fallen die BewuBt-
seinstriibungen sich vornehmlich an die Schiibe und katatonischen
Erregungen anschlossen.
Es ist noch ein weiterer Punkt in Erwagung zu ziehen. Von den
ersten 7 Fallen schloB sich bei 4 Fallen das akute Stadium an korper-
liche Krankheiten an (einmal KongestionsabszeB, einrnal fieberhafte
Endometritis, zweimal Grippe). Es ist bei den einzelnen Krankheits-
geschichten dargelegt worden, daB es sich nicht um symptomatische
Psychosen, sondern um echte Schizophrenien handelt. Es ware aber
daran zu denken, ob nieht das Symptomenbild erst durch den korper-
lichen Krankheitsvorgang die Zutat der BewuBtseinstriibung erhalten
hat. Der Umstand, daB Fall 1, 3 und 4 ohne ein korperliches Leiden
die gleichtiefe BewuBtseinstriibung aufwiesen, scheint mir dagegen zu
sprechen. Die BewuBtseinsstdrungen nehmen bei der Schizophrenic
einen viel breiteren Raum ein, wahrend das Zusammentreffen des
Beginns mit korperlicher Krankheit ein erheblich selteneres ist. Die
Erfahrung zeigt auch nicht, daB bei spater interimistisch auftretenden
korperlichen Krankheiten ein erneutes Anschwellen der BewuBtseins-
triibungen eintritt. Das Verhaltnis zu dem korperlichen ProzeB lag
auch bei diesen Fallen keineswegs gleichartig. Bei Fall 2 und 6 setzten
die Psychosen erst nach Ablauf des korperlichen Leidens ein; bei Fall 3
gingen die Vorboten der psychischen Krankheit der korperlichen
monatelang vorauf; nur bei Fall 5 fielen Fieberstadium und Beginn
der Psychose direkt zusammen. Es ist daher nicht angangig, die Be-
wuBtseinstrubungen auf symptomatisch-infektiose Prozesse zu be-
ziehen, hingegen ist daran zu denken, ob nicht in vereinzelten Fallen,
wie in Fall 5, der korperliche ProzeB auslosend oder beschleunigend
auf den psychischen Krankheitsvorgang einwirkt, mit dem dann natur-
gemaB auch eine starkere BewuBtseinstriibung verkniipft ware. Bon-
h offer bemerkt hierzu: ,,Schwere Katatoniefalle gehen erfahrungs-
gcmaB im ersten Beginn nicht selten mit Fieberbewegung einher (Fall 4
meiner Beobachtung). Es muB auf die Erfahrung hingewiesen werden,
daB nicht selten endogene Psychosen durch einen fieberhaften ProzeB
und besonders durch den Fieberabfall ausgelost werden. In anderen
Fallen handelt es sich darum, daB bisher unbeachtet gebhebene Initial-
erscheinungen der Dementia praecox (vielleicht Fall 3) durch die Fie-
bererregung eine starkere AuBerung erfahren.“ Es wird zu dieser
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
416
W. Medow:
Digitized by
Ansicht Bonhoffers nichts weiteres zur Klarung hinzuzusetzen
sein.
Es ist von Interesse festzustellen, ob sich besondere der von mir
angedeuteten Typen von BewuBtseinstrubung bei den untersuchten
Fallen herausheben und ob dieselben einen Hinweis auf den Grad und
die Art des Krankheitsprozesses bieten. Bei den ersten 7 Fallen fand
ich einmal eine vorwiegend unbesinnliche, einmal eine vorwiegend
dammrige, viermal eine gemischt dammrig-unbesinnliche Form, ein¬
mal war ein sensorisch-hyperluzider Zustand eingestreut; ein Fall war
vorwiegend reproduktiv-hyperluzide getriibt. Bei den Gruppen 3 und 4
herrschte die unbesinnliche Form ganz tiberwiegend (8mal), nur zwei-
mal trat in akuten Schuben eine unbesinnliche-dammrige Trubung auf,
ein Fall trug eine sensorisch-hyperluzide Farbung. Wenn sich auch
scharfe Grenzen nicht finden lassen, so scheint mir das Ergebnis dafiir
zu sprechen, daB die dammrige Trubung oder solche mit dammrigem
Einschlag der Ausdruck von starker und akuter verlaufenden Be-
wufltseinsschadigungen sind, wahrend die unbesinnlichen Formen den
chronischer verlaufenden und geringgradigeren Bcavu Btseinsverande-
rungen entsprechen. Aus dieser Feststellung fallt jedoch Fall 3 heraus,
der bei seiner besonderen Schwere doch nur eine tiefe unbesinnliche
Trubung aufweist. t)ber die Stellung der hyperluziden Trubungen
laBt sich bei der geringen Anzahl von Beobachtungen nichts aussagen,
nur scheinen beide Arten bei der Schizophrenic vorzukommen.
Von jenen psychischen Vorgangen, die einen RiickschluB auf die
BewuBtseinsklarheit gestatten, stehen, wie bereits ausgefiihrt, die Auf-
fassxing und das Symptom der Amnesie oben an. Beide zeigen, wenn
deutlich ausgepragt, recht bemerkenswerte Grade von Bewu Btseins-
trubung an. Es ist darum beachtenswert, daB ich amnestische Er-
scheinungen bei einer ganzen Reihe von Schizophrenien nachweisen
konnte. Auffassungsstorungen primarer Art lieBen sich, wenn auch
oft sehr schwankend, ebenfalls in der Mehrzahl der Falle nachweisen.
Im groBen genommen stimme ich hierin mit der Mehrzahl der Autoren
iiberein, nur finde ich dieselben in viel groBerer Ausdehnung und Hau-
figkeit. Kraepelin ist geneigt,den Wahrnehmungsausfall im katatonen
Stupor durch Aufmerksamkeitsfesselung, d. h. durch Abgelenktheit
durch innere und auBere Vorgange, die fiir andere Wahrnehmungen
unzulanglich machen, zu erklaren. Wenn dieser sekundar bedingte
Wahrnehmungsausfall auch vorkommt, so muB ich demgegeniiber l)e-
tonen, daB die von mir festgestellten zahlreichen Auffassungsdefekte
bei richtiger Willens- und Aufmerksamkeitseinstellung gefunden wut-
den und somit primarer Natur tvaren.
Als ein feinerer Anzeiger bei oft noch kaum greifbarer BewuBtseuis-
triibung ist die MerkschAvache anzusehen. Ich finde sie in sehr groBem
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
BewuBtseinstriibungen bei Dementia praecox.
417
Umfange bei der Schizophrenie gestort, auch in solchen Fallen, bei
denen weniger der Anschein der Dammrigkeit als jener der Unbesinn-
lichkeit erreicht wird. Ich stimme hier mit der Ansicht der Autoren
nicht xiberein, die geneigt sind, allzusehr in sekundaren Affekt- und
Willenseinflussen die Ursachen von Ausfallserscheinungen zu erblicken.
Bei unbefangener Pnifung meiner Falle konnte ich immer wieder fest-
stellen, dab wohl Abulie und Negativismus zeitweise den Einblick in
das Seelenleben verwehrten, dab aber ebenso beim Schwinden der
verdeckenden Einfliisse und bei eintretender Zuganglichkeit und wil-
lensgemaber Einstellung das Resultat der Merkschwaehe unverandert
blieb und die Art einer durchaus primaren Merkschwaehe trug. Erst
bei den geringeren Graden von Bewubtseinstriibung in den chronisch
verlaufenden und den Endzustanden schien die Merkfahigkeit oft
nor male Werte zu erlangen.
Der feinste Anzeiger leichter oder beginnender Bewubtseinstriibung
scheint mir die Aufmerksamkeit zu sein. Hierauf deutet die Beobach-
tung hin, dab sie das erste Zeichen der Ermiidung und Erschopfung
ist. Sie iibertrifft daher bei ausgesprochenen BewuBtseinstriibungen
dem Grade nach alle anderen Storungen der Bewubtseinstatigkeit und
scheint noch bei abflauendem und in Chronizitat iibergehendem Krank-
heitsprozeb alle andern Erscheinungen der Bewubtseinstriibung zu
iiberdauern. Sie scheint so eine gewisse Selbstandigkeit zu erlangen,
im praktischen Sinne nicht mehr an Bewubtseinstriibungen gekniipft
zu sein, wenn sie auch der wirklichen Bedeutung nach von solchen nicht
zu trennen ist. Die Aufmerksamkeitsstbrungen spielen wie iiberhaupt
in der Psycho-Pathologie so auch in der Dementia praecox die grobte
Rolle und ich habe keinen der untersuchten Krankheitsfalle ohne Auf¬
merksamkeitsstbrungen gefunden. Ich will mich nicht im einzelnen
damit auseinandersetzen, ob die aufgestellten Typen der Sperrung,
Hemmung, Bestimmbarkeit, Abgelenktheit der Aufmerksamkeit wirk-
lich der Ausdruck von Unterschieden der Aufmerksamkeitsstbrungen
selbst sind oder ob diese Farbungen nicht vielmehr von anderen psycho-
pathologischen Vorgangen her durch psychische Verkniipfung an-
geheftet sind. Ich konnte mich jedenfalls nicht davon iiberzeugen,
dab es bei der Schizophrenie dem Grunde nach eine besondere Art
von Aufmerksamkeitsstbrungen gabe, die eine Absonderung von solchen
bei anderen Krankheitsgruppen gestatten wiirde. Das Spiel der Auf-
merksamkeitsveranderungen in einem psychischen Kranklieitsablauf
eresheint mir so komplizierten, so mannigfachen Einfliissen unterworfen
zu sein und so vielerlei Gestaltungen annehmen zu konnen, dab Fest-
stellungen hieriiber doch nur fiir Einzelmomente, Einzelfalle oder
Einzelgruppen Giiltigkeit haben wurden. Kraepelin findet Ixi der
Dementia praecox die maximale Aufmerksamkeit stiirker gestort als
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
418
W. Medow:
Digitized by
die habituelle. Es wiirde dieses doch fur das tlberwiegen einer primaren
Stoning sprechen, da die habituelle Aufmerksamkeit mehr sekundaren,
affektiven und ablenkenden Einfliissen unterworfen ist als die maxi¬
male. Ieh selbst vermag nichts Allgemeingiiltiges zu dieser Besonder-
heit auszusagen. Interesselosigkeit, Apathie, Negativismus, die ihre
Domane bei der Schizophrenic haben, werden allerdings ilirerseits auch
auf die Art der BewuBtseinstatigkeit abfarben, und in diesem Sinne
wird man von einer apathischen Aufmerksamkeitsstorung und einer
Sperrung der Aufmerksamkeit sprechen konnen, doch sind dieses meines
Erachtens zusammengesetzte Gebilde, die durch sekundare Verkniip-
fungen mit dem Grundsymptom der reinen Aufmerksamkeitsstorung
ihre Farbung erhalten. Ich befinde mich hier mit den Autoren in
Widerspruch, die bei der Schizophrenic die Aufmerksamkeit primar
intakt und nur sekundar gestort finden; hingegen stimme ich mit
Wieg-Wickenthal iiberein. Es erschien mir bei meinen Beobach-
tungen moglich, sekundare Einfliisse abzusondern und ausgebreitete
Aufmerksamkeitsstbrungen sui generis festzustellen; ja sie schienen
mir durchaus fruhere und grundlegendere Krankheitserscheinungen
zu sein, als die erst bei langer fortwirkendem KrankheitsprozeB ein-
tretenden Affekt- und Willenslahmungen.
Das zusammengesetzte Gebilde der Orientiertheit zeigt bei aus-
gesprochener Stoning bereits einen merklichen Grad von BewuBtseins-
triibung an. Es findet dieselbe daher ihren besonderen Platz bei den
organischen Psychosen mit BewuBtseinstriibungen. Leichteste Grade
werden jedoch auch in Fallen zu finden sein, in denen die Triibung
noch nicht greifbar geworden ist. Ich finde die Storungen der Orientiert¬
heit bei der Schizophrenic einen sehr breiten Raum einnehmen, wenn
sie sich auch bei der Mehrzahl in maBigen Grenzen halten und beson-
ders auf Mangel der zeitlichen Orientiertheit erstrecken werden. Ich
sehe mich veranlaBt, an dieser Stelle die Aufmerksamkeit auf einen
Punkt hinzulenken, der meines Erachtens besonders leicht den AnlaB
zu Fehlschliissen gibt. Es sind dies die im AnschluB an Schwankungen
der BewuBtseinsklarheit auch haufig wechselnden Grade der Orientiert¬
heit. Nur zu haufig finden wir die Orientiertheit bei der Schizophrenic
tageweise wechselnd; in langer andauernden, scheinbar tiefen Ver-
wirrtheitszuptanden iiberrascht uns auf einmal eine An Berung, die auf
richtige Orientiertheit hindeutet, und wir sind leicht geneigt, die Orien¬
tiertheit als den wirklichen Dauerzustand anzunehmen, die darauf
folgende Desorientiertheit aber als scheinbare und auf negativistischer
Unterdriickung beruhend zu erklaren. Nach meinen Beobaehtungen
kann es wohl derartig bedingte Verhaltnisse geben; und doch ware es
ein FehlsehluB, die Mehrheit solcher Schwankungen so zu erklaren.
Ich gestehe, daB mich erst die gegenwartige genaue Beschaftigung mit
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
BewnBtseinstriibungen bei Dementia praecox.
419
dieser Erscheinung zu der Erkenntnis fiihrte, daB es sich sehr haufig
urn einen wirklichen Wechsel der primaren Orientiertheit und der Be¬
wu Btseinstatigkeit handelt. Es bestarkte mich hierin auch das Auf-
finden genau analoger Erscheinungen bei symptomatischen und deli-
riosen Psychosen. Ahnlich wie bei der Orientiertheit schienen mir
auch mit dem Wechsel der BewuBtseinsklarheit kongruent gehende
Schwankungen der Auffassung und Merkfahigkeit sowohl bei der
Schizophrenic als auch bei organischen Psychosen gang und gabe zu
sein. Durch eine Verkennung dieser in Wirklichkeit primaren Schwan¬
kungen wird mir die Ansicht der Autoren erklarbar, daB bei der Schizo¬
phrenic die Orientiertheit in der Regel intakt sei und bestenfalls Sto-
rungen durch sekundare Einfliisse verursacht wiirden. Bei den End-
zustanden und bei durchweg chronischen Verlaufsarten fand ich eben-
falls die Orientiertheit intakt, haufig verdecken apathische und nega-
tivistische Einfliisse den eigentlichen Orientieru ngszu stand, wahnhafte
Vorgange konnen die sogenannte doppelte Orientiertheit hervorrufen,
doch wird eine fortlaufende Beobachtung meist den wirklichen Zu-
stand der Orientiertheit erkennen lassen.
Es ergibt sich die Frage, ob es bei der Schizophrenie eine besondere
Art von BewuBtseinsveranderung gibt, die eine Unterscheidung von
solchen bei organischen Psychosen gestattet. Denkt man sich aus den
verschiedenen Stufen der BewuBtseinsveranderungen bei der Schizo¬
phrenie einen Durchschnittsgrad derselben gebildet, so wird derselbe
nicht hochgradig sein, ein Bild ergeben, das nur in besonderen Episoden
Dammrigkeit oder Unbesinnlichkeit aufweist, im ubrigen nur mehr
oder minder ausgepragte Veranderungen der Bewu Btseinstatigkeit er¬
kennen laBt. Dieses Durchschnittsbild bleibt ohne Zweifel beziiglich
der Tiefe der BewuBtseinstrubung erheblich hinter dem Durchschnitts¬
bild zuriick, das wir aus der Suinme organischer Psychosen gewinnen.
Ich kann den Unterschied jedoch nur in einem quantitativen Grade
der BewuBtseinstriibung erblicken. Die Form der dammrigen und un-
besinnlichen, der sensorisch- und reproduktiv-hyperluziden Bewu Bt-
seinstrubung sind keine anderen als sie bei organischen Psychosen auch
auftreten, nur der Grad der Auspragung ist verschieden. Wenn es
qualitative Unterschiede im Symptomenbilde beider Psychosengnippen
gibt, so mxissen sie auf einem andern Gebiete als dem der BewuBtseins-
storung gesucht werden. Gehen wir aber nicht von den Durchschnitts-
bildern beider Gruppen aus, sondern vergleiclien die Tiefe der Be-
wuBtseinstrubung bei den Endgliedern der organischen Psychosen mit
jener der Anfangsglieder der schizophrenen Reihe, so muB dieselbe
durchaus gleichgesetzt werden. Die BewuBtseinsunklarheit bei .sympto¬
matischen Psychosen vom Charakter der Amentia und bei den in meiner
ersten Kranklieitsgruppe vereinigten Kranklieitsfalien ist genau die
Digitized by Goe)gle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
420
W. Medow:
Digitized by
gleiche. Kraepelin hat geglaubt, der Amentia eine besondere BewuBt-
seinslage (Traumhaftigkeit bei Erhaltenbleiben der Aufmerksamkeit
und des elementaren Auffassungsvermogens) zuerkennen zu iniissen,
wogegen Bleuler Einspruch erhebt. Gegen Kraepelins Auffassung ist
zu sagen, daB schon theoretisch eine Bewu Btseinstrii bung ohne Auf-
merksamkeits- und Auffassungsschwache schwer zu denken ist. Ich
glaube, daB die BewuBtseinstrubung bei beiden Fallen keine verschie-
dene sein kann, daB aber verschiedene sekundare Farbungen durch
Willenseinfliisse vorkommen konnen. Ich finde jedoch, daB diese for-
dernden oder hemmenden Willenseinfliisse, wenn auch nicht in gleicher
Haufigkeit, bei beiden Krankheitsgruppen auftreten konnen, was sich
mit Bonhoffers Ansicht deckt. Eine typische Anordnung der Aus-
fallserscheinungen der verschiedenen Arten der Bewu Btseinstatigkeit,
wie etwa bei der epileptischen Degeneration, wo die Auffassungsschwache
von einer besseren Merkfahigkeit und Aufmerksamkeit absticht und
was vielleicht mit einer besonderen Schwache der begrifflich-spraclilichen
Vorgange zusammenhangt, konnte ich bei der schizophrenen Triibung
nicht finden. Mir schien sie im allgemeinen sehr diffus, ahnlich gerade
jener bei der Amentia und beim Infektionsdehr zu sein. Wenn mir im
allgemeinen die Aufmerk amkeit am friihesten und starksten betroffen
zu sein schien, so halte ich dieses bei der besonderen Empfindlichkeit
dieser Bewu Btseinsau Bcrung gerade fur den typischen Ablauf von Be¬
wu Btseinstriibungen. Die Ahnlichkeit zwischen den Gruppen der
Amentia und der ersten Gruppe meiner Beobachtungsreilie besteht je¬
doch nicht nur in der Art der BewuBtseinsstorung, sondern kann auch
in der Mehrzahl der andern Symptome vorhanden sein. Ich verweise
diesbeziiglich auf die eingangs erwahnten Darlegungen Bonhoffers,
denen ich mich anschlieBe. Wenn ich mir die Frage vorlege, welche
Merkmale eine Unterscheidung beider Gmppen ermoglichen konnen,
so kann ich zu den Merkmalen, die Bonhoffer von der symptomati-
schen Seite her aufgestellt hat (kombinierte optisch-taktile Sinnes-
tauschungen, besonders starke Auspragung von psycho-motorischen
Reizerscheinungen im Bereich der Gesichts-, Mund- und phonetischen
Muskulatur), von der schizophrenen Seite her neben dem Verlauf und
dem Fehlen einer korperlichcn Begleiterkrankung anfiihren, die Hau-
fung katatonischer Ziige, das Auftreten von Storungen des gedanklich-
sprachlichen Ausdmcks (Paralogie, Wortneubildungen, Verquickungen)
das Durchschcinen von Zerfall der Persbnlichkeit und die meist erst
allmahlich deutlich werdende Abulie und Affektblasse. Es konnen
aber alle diese Symptome im ersten Stadium mehr oder minder im
Stich lassen, es konnen auch Ixn der Schizophrenic korperliche Be-
gleitkranklieiten auftreten, das von Bonhoffer fiir die symptomato-
logische Seite noch angefiihrte Auf- und Abschwanken der Symptome,
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
BewuBtseinstriibungen bei Dementia praecox.
421
das Erhaltenbleiben eines gewissen Krankheitsgefuhls konnen sich sehr
haufig im Beginn der Schizophrenic^ ebenfalls finden, so daB oft nur
der Verlanf cine Entscheidung bringen kann.
Es fragt sich zumSchluB, welche Folgerungen aus der Feststellung
fiber das Vorkommen und die Ausbreitung von BewuBtseinstriibungen
bei der Schizophrenic sich fiir die Ursachen und die Stellung derselben
ira allgemeinen finden lassen. Ich lenke neben meinen Resultaten die
Aufmerksamkeit nochmals auf die Feststellungen von organischen
Syraptomen durch Reichardt, Potzl, Rosenfeld und andere Au-
toren hin. Sind langer fortbestehende mit destruktiven Vorgiingen
verbundene primare BewuBtseinstorungen der Ausdruck eines organi¬
schen Krankheitsprozesses, woran wohl nicht zu zweifeln ist, so muB
auch die Schizophrenic als eine organische Gehirnerkrankung auf-
gefaBt werden. Sie muB mithin ihre Stellung in der Gruppe der organi¬
schen Psychosen finden. Sollte dieser organische ProzeB im Gegensatz
zu anderen aLs ein endotoxischer aufgefaBt werden miissen, so ware
wenigstens beziiglich der BewuBtseinsveranderungen kein grundlegen-
der Unterschied zwischen ekto- und endotoxischen Formen zu machen.
Sie erhalt ihre Besonderheit gegeniiber den gewohnlich als organisch
bezeichneten Psychosen dadurch, daB die BewuBtseinstrubung durch -
schnittlich bei langsamem Krankheitsverlauf nur geringe Grade der
Tiefe erreicht und die Trubung in der Mehrzahl nur in Storungen der
BewuBtseinstatigkeit ihren Ausdruck findet. In nicht zu seltenen
Fallen haben beschleunigter und stiirmischer Ablauf der Vorgange
jedoch auch hohere Grade der BewuBtseinstrubung zur Folge. Ich
finde mich hier, wenigstens soweit es den von mir untersuchten Be-
wuBtseinszustand bei der Schizophrenic anbelangt, mit einer Ansicht
von Specht zusammen, der den wesentlichsten Unterschied der endo-
genen und exogenen Symptome in dem Unterschied der Quantitat und
der zeitlichen Entfaltung der Ursachen erblickt. Je feiner und lang-
samer eine allgemeine Schadigung das Zentralnervensystem trifft, um
so geringer werden auch die BewuBtseinsveranderungen sein, um so
mehr wird der Zusammenhang der BewuBtseinsvorgange erhalten blei-
ben und den psychologischen Reaktionen und Vorgangen Spielraum
zur Entfaltung verbleiben. Specht nennt es die Mitarbeit des intakten
Seelenanteils. Und so werden auch bei der Schizophrenic, sobald die
BewuBtseinsunterbindungen zuriicktreten, die mehr oder minder ge-
sehlossenen Wahnbildungen in sichtbare Erscheinung riicken. Ich
mochte mich der Ansicht Spechts in vollem Umfange anschlieBen,
soweit dieselbe sich auf den immerhin in erster Linie zu nennenden
Anteil erstreckt, den die Bewu Btseinsstorungen und deren Folgeerschei-
nungen in der Psychopathologie haben. Diese scheinen mir durch die
von Specht angefuhrten Ursachen der Quantitat und Akuitiit allein
Archiv filr Psychiatrie. Bd. 67. 28
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
422
W. Medow:
Digitized by
in Bewegung gesetzt zu werden. Ob vielleicht noch andere Seiten der
Psyche den gleichen oder ahnlichen Gesetzen folgen, mochte ich mit
Specht fur moglich halten. Ich* mochte aber annehmen, daB Kon-
stitution und andere spezifische Vorgange iiber die Wirkungen der
Quantitat und Akuitat hinaus einen Trennungsstrich zwischen die
Psychosen des erweiterten Rahmens der auf einem organischen Prozefi
beruhenden Psychosen ziehen. Es bleibt daher unerschiittert, daB
Eigenart des Krankheitsvorganges, Ausdehnung und Lokalisation Ver-
lauf, Besonderheit der Forrnen und Eigenart der Farbung der Psychosen
bestimmen und dadurch die Abgrenzung von Krankheitsbildern er-
moglichen.
Zusammenfassung: Der Schizophrenic liegt ein organischer Kra nk-
heitsprozeB zu Grunde, der zu Veranderungen des BewuB^seins fuhrt. In
den chronischen Verlaufsformen undindenEndzustandenerreichtdieselbe
nicht den Grad der greifbaren BewuBtseinstriibung, sondern fuhrt nur zu
mehr oder minder ausgepragten Veranderungen der BewuBtseinstatigkeit.
Die TatigkeitsauBerungen des BewuBtseins besitzen eine verechieden
abgestufte Empfindlichkeit gegeniiber krankhaften Einfliissen, dieselbe
nimmt zu von der Auffassung iiber die Merkfahigkeit zur Aufmerksam-
keit. Bei den akuten Forrnen und in den Schiiben erreicht die BewuBt-
seinsveranderung den Grad der BewuBtseinstriibung, die ahnlich wie bei
organischen Psychosen die Form der dammrigen, der unbesinnlichen,
der sensorisch-hyperluziden und reproduktiv-hyperluziden BewuBt¬
seinstriibung annehmen kann. Bei der hier gewohnlich erreichten mitt-
leren Hohe der Triibung ist die Luziditat standigen mehr oder minder
ausgesprochenen Schwankungen unterworfen. Affekt und Willens-
einflusse verdecken oft sekundar die BewuBtseinsveranderungen, doch
erklaren sie dieselben nicht. Bei den akuten Forrnen beginnt die Krank-
heit mit BewuBtseinstriibungen, wahrend Negativismus und Willens-
schwache erst erheblich spater zur Entfaltung kommen. Der Durch-
schnittsgrad der BewuBtseinstriibung bei der Schizophrenic ist erheb¬
lich geringer als der, der durchschnittlich bei den gewohnlich als orga-
nisch bezeichneten Psychosen erreicht wird, doch ist der Unterschied
beziiglich der BewuBtseinstriibung nur ein quantitativer.
Literatur:
Bleuler: Lehrbuch der Psychiatrie. 1916. — Derselbe: Gruppe der Schizo-
phrenien. Aschaffenburgs Handbuch, sp. Teil 4,1. — Blu menthal: Psychosen bei
Hydrocephalus, Meningitis serosa, Hirnschwellung und Pseudotumor. Zeitschr.
f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 64. — Bonhoffer: Die Psychosen im Ge-
folge von akuten Infektionen, allgemeinen Erkrankungen und inneren Erkran-
kungen. Aschaffenburgs Handbuch, sp. Teil 3, I. — Ebbinghaus: GrundriB
der Psychologic. 3. Aufl. 1911. — Ewald: Zur Frage der klinischen Zusammen-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
BewuBtseinstriibungen bei Dementia praecox.
423
gehorigkeit der symptomatischen Psychosen. Monatsschr. f. Psychiatr. u. Neurol.,
-14. — Kraepelin: Lehrbuch der Psychiatrie. 8. Aufl. — Michel: Die korper-
lichen Storungen bei Dem. praecox. Psychiatr.-neurol. Wochenschr. 1913. —
Pfersdorf: Uber eine Verlaufsart bei Dem. praecox. Neurol. Zentralbl. 1909. —
Potzl: Zur Frage der Hirnschwellung imd ihre Beziehungen zur Katatonie.
Jahrbiicher f. Psychiatr. u. Neurol. Bd. 31. — Rosenfeld: Zur klinischen Diagnose
der Hirnschwellung. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 53, H. 3/4. — Der-
selbe: Uber atypische Psychosen. Arch. f. Psychiatr. u. Nervenkrankh. to,
H. 1/3. — Rosenthal: Uber einen schizophrenen ProzeB im Gefolge einer hirn-
drucksteigernden Erkrankung. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 25. —
Specht, G.: Zur Frage der exogenen Schadigungstypen. Zeitschr. f. d. ges.
Neurol, u. Psychiatr. 19. — Stransky: Lehrbuch der Psychiatrie. — Trommer:
Das Jugendirresein. Sammlung von Abhandlungen a. d. Gebiet der Nerven- und
Geisteskrankheiten von Alt. Bd. 3. — Wernicke: GrundriB der Psychiatrie.
2. Aufl. — Wieg-Wieckenthal: Zur Klinik der Dem. praecox. Aschaffenburgs
zwanglose Abhandlungen. Bd. 7 u. 8.
Digitized by Google
28*
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Digitized by
Zur Frage tier Pyknolepsie.
(Geh&ufte kleinc Anf&lle der Kinder.)
Von Dr. Kurt Pohlisch.
(Aus der Psychiatiischen und Nervcnklinik der Charite Berlin
[Direktor Geh. Rat Bonhoeffer].)
(Eingegangen am 18. Oktober 1922.)
1906 wiesen Friedmann und nach ihm Heilbronner auf eine
Form von gehauft auftretenden absenceartigen Anfiillen hin, die ihrem
ganzen Symptombild, besonders ihrer giinstigen Prognose nach,
grundsatzlich von der genuinen Epilepsie zu trennen sind. Durch
weitere Arbeiten von Friedmann und anderen Autoren vvurde im
Laufe der nachsten Jahre, besonders in der Zeit von 1913—18, die
symptomatische Einheit dieser abzutrennenden Anfallsform schiirfer
erkannt und folgende differentialdiagnostischen Kriterien im Vergleich
zur Kranklieitsgruppe der genuinen Epilepsie aufgestellt: Ausheilen
der Anfalle ohne Hinterlassung einer e{)ileptischen Personlichkeits-
veranderung: Nutzlosigkeit der Epilepsie-Medikamente, gehauftes Auf-
treten vom Beginn der Anfallszeit an, im allgemeinen von der Schulzeit
bis zur Pubertat, nur selten von kurzen Pausen unterbroehen, Mono-
tonie der Anfallsform, vor allem Fehlen der Krampfanfalle und epilep-
tischen Aquivalenten. Besonders Friedmann betonte, dab es sich bei
diesen Anfiillen lediglich um eine momentane Unterbrechung des Den-
kens und der Fahigkeit Willkiirbewegungen auszufiihren handele ohne
Auftreten groberer motorischer Reizerscheinungen. Andererseits sei der
Tonus der Korpermuskulatur nur selten so weit herabgesetzt, dab der
Kranke einknicke oder hinfalle. Als Bezeichnung dieser Anfalle fiilirte
Sauer, einer Anregung Schroders folgend, den Ausdruck Pyknolepsie
ein, den tvir ; obwohl er die giinstige Prognose als wesentlichstes Merk-
mal nicht in sich schliebt, beibehalten werdcn, weil er sich einmal ein-
gebiirgert hat. Der neue Krankheitsbegriff erwies sich in der Praxis
wegen seiner noch nicht scharf genug durchgefiihrten Abgrenzung und
der grobcm, zuweilen tiber Jahre hinaus sich erstreckenden Ahnlichkeit
mit bestimmtcn Epilepsieformen als sehr schtvierig anwendbar. Eine
Reihe anfangs als pyknoleptisch angeseliener und veroffentlichter Fiille
stellte sich spiiter als epileptisch oder zu anderen Anfallsformen ge-
horig heraus, so dab schlieblich kaum ein Dutzend der zahlreichen in
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Kurt Pohlisch: Zur Frage der Pyknolepsie.
425
die Literatur iibergegangenen Beobachtungen als einwandfreies und
geniigend lange beobachtetes Erfahrungsmaterial zur Beweisfiihrung
fur die Richtigkeit des neuen Krankheitsbegriffes iibrig blieb. Bei
dem Rest der Falle wiederum war eine einheitliche pathogenetische
Grundlage nicht nachweisbar. Von mehreren Autoren wurde an eine auf
psychopathisch - neuropathischer Konstitution entstandene Neurose
gedacht, andere dagegen glaubten Beziehungen zur spasmophilen
Diathese, zur Hysterie und Narkolepsie gefunden zu haben. So er-
schien der neue Krankheitsbegriff klinisch und theoretisch zu wenig
sicher fundiert, um in der Sprechstunde und am Rrankenbett sicher
mit ihm arbeiten zu konnen. Den Kinderarzten z. B. wurde er kaum
bekannt, und in der Psychiatrie ist die Diskussion iiber die Pyknolepsie-
Frage in den letzten Jahren nicht wesentlich gefordert worden 1 ). Schuld
daran ist in erster Linie die Schwierigkeit, geeignetes Erfahrungsmaterial
zu bekommen, d. h. Falle, die nicht nur iiber mehrere Anfallsjahre,
sondern auch Jahre iiber die Zeit des Abklingens hinaus verfolgt wor-
den sind. Gerade das letztere ist aber eine unumgangliche Voraus-
setzung zum Nachweis der giinstigen Prognose, also des wesentlichsten
differentialdiagnostischen Unterschiedes mit der genuinen Epilepsie.
Wahrend der Krankheit entziehen sich die Kinder meist wegen der
oft erfolglosen Therapie der weiteren Beobachtung, und nach dem spon-
tanen Abklingen besteht fiir die Eltern erst recht kein AnlaB zur polikli-
nischen Wiederv r orstellung. Gberdies ist die Pyknolepsie recht selten.
Die groBe poliklinische Besucherzahl ermoglicht es, eine verhaltnis-
maBig groBe Zahl lang beobachteter und klarer Falle zu bringen, (lurch
die ein Beitrag zur Symptomatologie und — was noch notwendiger
ist — zur Pathogenese der Pyknolepsie geliefert werden kann.
Fall 1—11: Pyknolepsie, 2—8 Jahre iiber das Aussetzen der Anfalle hinaus
beobachtet.
Fall 12—26: Pyknolepsie, sicher oder sehr wahrseheinlich, Anfallsdauer
2—14 Jahre, noch nicht oder erst seit Monaten abgeklungen, darunter Fall 18—26
stationar beobachtet.
Fall 27—30: Genuine Epilepsie mit mehrjahriger Verlaufsform ahnlich der
Pyknolepsie.
Fall 31—32: Genuine Epilepsie? Pyknolepsie? Diagnose nach ojahriger
Anfallszeit noch fraglich.
Die kurz abgefaBten Krankengeschichten konnen wegen Raum-
mangels keine differentialdiagnostischen Erwagungen enthalten, die
selbstverstandlich eingehend gemacht worden sind. Wenn z. B. das
x ) Stier hat am 12. V 7 . 1922 im Verein fiir Innere Med. u. Kinderheilk.,
Padiatr. Sekt. Berlin, iiber 8 abgeklungene, langjahrig beobachtete Falle ein¬
gehend berichtet. Die ErgebnLsse, die sich in vielem mit denen des Verf. decken,
konnten hier nicht inehr beriicksichtigt werden.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
426
Kurt Pohlisch:
Fehlen anderer Anfallsformen (Krampfformen, Anfallaquivalente) nicht
verzeichnet ist, so sind diese ausdriicklich auszuschlieBen. Ebenso
verhalt es sich mit Aurasymptomen, psychischen Veranderungen im
Nachstadium des einzelnen Anfalls, Auftreten der Anfalle aus dem
Schlaf heraus, hereditaren Besonderheiten und anderen zur Abgrenzung
mit der genuinen Epilepsie oder anderen kindlichen Anfallsformen
wichtigen Symptomen.
Fall 1. Wally Kr.
Beobaehtungszeit, Alter bei Anfallev: Polikl. I.—IV. 1915. Nachunters. 22.
III. 1922. Anf. vom 4.—8. Jahr (1913-—1917). Frei seit 5 Jahren.
Form der Anfalle: Stiert vor sich hin, manchmal langsamee Lidzwinkern. In
Polikl. zweimal unmotivierte Greifbewegung. Amnesie dafiir. Zweimal kurzes
Zusammenknicken ohne Zuckungen. Fragt manchmal nach dem Anf all: ,,Was
ist denn.“ Anfall so kurz, daB Reaktion auf ituBere Reize nicht zu priifen ist.
Frequenz: Von Anfang an gehauft. In der ersten Zeit 5—10 taglich, spater 10—12,
unverandert 4 Jahre hindurch. Seit 1917 Anfalle aufgehort. Auslosende Momente:
Ereter Anfall vielleicht durch Schreck, durch Anspringen einer Katze. Spater
bei Aufregungen keine Haufung beobachtet.
Therapie: Brom und Luminal wochenlang erfolglos. Nach 4jahrigem Be-
stehen Aussetzen ohne erkennbare Ursache im 8. Jahr, vielleicht nach Nieren-
entziindung. (Ungenaue Angabe.)
Psychische Konstitution: Bis zum 11. Jahre als einziges Kind aufgewachsen.
Verwohnt, im Mittelpunkt des hauslichen Interesses. Krankelte friiher viel. Gute
Auffassungsgabe und gutes Gedachtnis. Sehr interessiert, altklug. Erteilt Kla-
vierunterricht. Macht korperlich und psychisch den Eindruck einer 16—-17jah-
rigen (14jahrig). Keine psychische Veranderung 9 Jahre nach Beginn der An¬
falle. Korperlicher Befund: o. B. Hereditat: Mutter nervos, hysterische Wein-
krampfe. Schwester rachitisch. Diagnose: Pyknol.
Fall 2. Erich Sch.
Beobaehtungszeit, Alter bei An fallen: Polikl. 1913—1914. Nachunters. 21.
III. 1922. Anf. vom 9.—14. J. (1912—1917). Frei seit 5 J.
Form der Anfiille: Behalt meist Korperhaltung bei. Manchmal auch auto-
matische Bewegungen „wie eine Puppe“ mit Rumpf und Armen. Bulbi starr.
Keine Zuckungen. Keine Reaktion auf Anrufen oder Schiitteln. Kurzes Unter-
brechen der Tatigkeit, dann Fortfahren. Bleibt auf Treppe stehen. Einmal vom
Turngeriist gestiirzt. Dauer des Anfalls wird auf 1—2 Min. geschatzt. Frequenz:
Wahrscheinlich von Anfang an gehauft, 20—25 taglich. Spater 40—50 und 100.
Jeden Tag ohne Unterbrechung 5 J. hindurch. Auslosende Momente: Anfalle
sollen seit StraBenbahnunfall bestehen; spater von Erlebnissen unabhangig. Auf-
horen 1917. Angaben ungenau.
Therapie: Medikamente venveigert. Anfalle haben sich von selbst verloren,
wahrscheinlich im 15. J.
Psychische Konstitution : Einziges, von Mutter sehr verwohntes Kind. Un-
ehelich. Bis zu 10 J. Bettnassen. Nach Bericht des Lehrers schwer erziehbar,
eigensinnig. Gutmiitig, gute Intelligenz. 1922 (19 J.) asozialer, haltloser, weich-
licher Psychopath. Gibt an, homosexuell zu sein. Seit 3 Jahren arbeitslos, wegen
schlechter Leistungen als Lehrling und Laufbursche entlassen. LaBt sich von
Verwandten ernahren. Keine epil. Ziige 10 J. nach Beginn der Anfalle. Intellekt
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Zur Frage der Pyknolepsie. 427
gut. Korperlicher Befund: 1913o. B. 1914 Fac.-Ph&n. +. Hereditat: o. B. Diagnose:
Pyknol.
Fall 3. Arthur Sch.
Beobachlungszeit, Alter bei AnfdUen: Polikl. VI.—XII. 1912. Katamnest.
Angaben der Eltern M&rz 1922. Anf. vom 9.—15. J. (1908—1914). Frei seit 8 J.
Form der Anfalle: Kopf riickwarts gelegt. Bulbi starr geradeaus oder ver-
dreht. Keine anderen Krampferscheinungen. Korperhaltung steif, jedoch keinen
eigentlichen Starrkrampf. Handlungen ausgesetzt, gleich nach Anfall fortgefiihrt.
Dreht sich manchmal um sich selbst oder geht einige Schritte vor- und riickwarts.
Keine Reaktion auf Schiitteln oder Kneifen. WeiB, daB Anfall war, aber keine
Erinnerung an Einzelheiten. Dauer: einen Augenblick. Frequenz: Zahl anfangs
uruddier, spater 1—5mal taglich. Vielleicht auch tageweise ausgesetzt, aber nie
langer als einen Tag. Am haufigsten morgens in der Schule. Im 16. J. (1914)
allm&hlich ganz aufgehort. Seitdera nie wieder Anfalle. Auslosende Momente:
1. Anfall ohne erkennbare Ursache: 1 Jahr vorher Fall auf Hinterkopf, angeb-
lich */ 4 Stunde bewuBtlos. Anfalle hiiufiger bei Erregungen.
Therapie: 20 Flaschen Broin und Polypragmasie ohne Erfolg. Nach 6jahrigem
Bestehen Aussetzen ohne erkennbare Ursache. Seit 1914 frei.
Psychische Konstitution: 14 J. nach Beginn der Anfalle keine epil. Verande-
rung. 1 Jahr Front-Infanterist, jetzt tiichtiger Kaufmann. Nach psychopathi-
schen Ziigen nicht besonders geforscht. Bis 4. Jahr einziges Kind. Korperlicher
Befund: 1912 geringe rechts-konvexe Skoliose. Differenz der Corneal- und Patellar-
Reflexe (vielleicht Folge des Schadeltraumas). Spater offenbar vollig gesund:
Infanterist im Felde. Hereditat: o. B. Diagnose: Pyknol.
Fall 4. Charlotte G.
Beobachtungszeit, Alter bei AnfaUen: Polikl. VIII. 1911—-V. 1912, II.—V.
1918. Nachunters. 9. II. 1922. Anf. von —17 J. (1910—1919). Frei seit 3 J.
Form der Anfalle: Plotzliches Aussetzen der Tatigkeit, dann sofort weiter-
gefiihrt. Bulbi zuweilen nach oben verdreht. Kein Lidflattern, keine motorischen
Reizerscheinungen. Korperhaltung bleibt, Selten einige Schritte vor- oder ruck-
warts oder kurze Drehbewegung. Gegenstande werden festgehalten. Meist nur
absenceartig ohne motorische Erscheinungen. In Polikl. Pupillen weit, Licht-
reaktion nicht sicher. Leichte Gesichtsverfarbung. Keine Reaktion auf auBere
Reize. Amnesie, weiB aber oft, daB Anfall war. Ein Anfall beim Schwimmen,
Bewegungen dabei kurz ausgesetzt. Frequenz: Am 1. Tag 4—5 Anfalle. Spater
20—-30 taglich und mehr. 1917 3 Wochen ohne erkennbare Ursache Pause. Im
ubrigen 9 Jahre unverftndert. 1919 allmahliche Abnahme, tageweise frei, zuletzt
mehrere Wochen. Dann — nach kurzem Riickfall — vblliges Aufhoren. Aus¬
losende Momente: Erste Anfalle ohne erkennbare Ursache. Spater bei Aufregun-
gen hfiufiger, z. B. beim Deklamieren.
Therapie: Mehrmals wochenlang Brom und Bettruhe. Danach hiiufiger.
Ebenso nach Luminal.
Psychische Konstitution: Lebhaft, quirlig, fiir alles interessiert. Weint
leicht bei Kleinigkeiten. Unruhiger Schlaf. Sehr gutes Gediichtnis und Auffas-
sungsgabe. Zur Zufriedenheit im Kontor tatig. Zurzeit, 12 J. nach Anfallsbeginn
keine epil. Veranderung. Korperlicher Befund: 1913 leichte Ptosis links. Kein
Fac. Ph£ln. K. 0. Z > 8 M. A. (1918). Neurol, o. B. Deni Alter entsprechend
entwickelt. Hereditat: Vater leicht erregbar. Mutter reizbar, schlechter Schlaf.
Schwester der Mutter Resp. Affektkrampfe. Tante der Mutter nichtepil. Anfalle.
Diagnose: Pyknol.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
428
Kurt Pohlisch:
Digitized by
Fall 5. Martha G.
Beobachlungszeit, Alter bei Anfallen: Polikl. 1918—1919. Nachunters. III. 1922.
Anf. vom 7.—11. J. (1915—1919). Frei aeit 3 J.
Form der Anfalle: Bulbi werden nach oben und seitwarts verdreht. Lid-
flattern. Gesichtsausdruck starr; etwas blab. Korperhaltung wird beibehalten.
Keine Kranipfbewegungen. Unterbrechen von Beschaftigung. Keine Reaktion
auf Riitteln und Kneifen. Eininal fast gegen die Strabenbahn gelaufen. Zu-
weilen nachher VerlegenheitsfiuBerungen. Keine Erinnerung an Anfall. Frequenz:
Bei Beginn mehrmals wochentlich, dann haufiger. Nach 3 jahrigem
Bestehen 30mal und mehr taglich. Einmal 3 Wochon ausgesetzt. Seit Juli 1919
aufgehort. Auslosende Momente: 1. Anfall nicht beobachtet. Vielleicht Haufung
bei Erregungen. Abends bei Schularbeiten haufiger.
Thera pie: 3maliger Landaufenthalt erfolglos. Ebenso homoopathische Mittel.
Nach Luminal 3 Wochen Aussetzen, dann allmahlich steigende Haufung. So-
fortiges Aufhoren bei Klinikaufnahme in Gottingen 1919. Seitdem frei. Diagnose
dort „psychogene Anfiille“.
Psychische Konstitution: Lebhaft, munter, zeigt gutes Verstandnis fiir die
Umwelt. Fiir alles interessiert. Gibt gute und klare Antworten. Gute Zeugnisse.
Nicht reizbar, keine Verstimmung, leicht erziehbares, williges Kind ohne beson-
dere psychische Auffiilligkeiten. Korperlicher Befund: Keine Ubererregbarkeit
am Ulnaris r. und 1. Andeutung des Lippenphan. Kein Chvostek. Dem Alter
entsprechend entwickelt. Hereditat: 6 Geschwister Zahnkrampfe. Pat. ebenfalls.
Sch wester der Mutter 10 Jahre ,,Krampfe“, seitdem aufgehort. Diagnose? Pyknol.
Fall 6. Erich S.
Beobachlungszeit, Alter bei Anfallen: Polikl. 1912—1913. Nachunters. 1919 und
III. 1922. Anf. von 3i / 2 —11 J. (1912—1919). Frei seit 3 J.
Form der Anfalle: Bulbi starr nach oben oder einzelne klonische Zuckungen,
ebenso in Stirnmuskulatur. Sonst keine motorischen Reizerscheinungen. Kopf
nach hinten, Korperhaltung steif. Keine Verfarbung. Manehmal unartikulierte
Laute. Bewufitlosigkeit nicht immer gleich tief. IQt und singt manehmal weiter,
bleibt zuweilen vor Hindernissen stehen. Keine Reaktion auf Anruf. Dauer
kaum 1 Minute. Frequenz: Im Anfang 5—6 taglich, allmahlich Haufung auf
12—20. Im 7. Anfallsjahr erst tageweise, dann ganzliches Aufhoren nach Zu-
stand, bei dem es sich offenbar um hyclroc. Drucksteigerung handelte: 2 Tage
matt, 2mal Erbrechen, mehrstiindl. Oszillieren der Bulbi. Nie andere Zeichen
von hydroc. Drucksteigerung. Auslosende Momente: Ohne erkennbare Ursache
aufgetreten. Haufiger nach Arger und abends vor dem Schlafengehen.
Therapie: Wahrend 2jtihr. Bromkur einmal 4 Wochen ausgesetzt. Klinik¬
aufnahme und psychische Behandlung erfolglos. Plotzliches Aussetzen. Seit
1919 kein Anfall.
Psychische Konstitution: Als Kind keine Auffalligkeiten im Verlialten. Bis
1922 keine Wesensveranderung. Bescheiden, willig. Eigen im Essen. Kori>er-
licher Befund: 1912 (4jahrig) Schiidelurnfang 53 cm. Fac.-Phan. links neurol.
sonst o. B. 1919 korperlich o. B. 1922 dem Alter entsprechend entwickelt. Schiidel
hydroc. (von Geburt an). Umfang 55 cm (normal 52,5). Keinerlei Stauungs-
erscheinungen. Elektr. Erregbarkeit des Fac. normal. Hereditat: Mutter hypo-
manisch. Diagnose: Wahrscheinlich pyknol. Anfalle. Auffallend ist hydroc.
Schadelbildung und 1 Anfall von vielleicht hydroc. Drucksteigerung.
Fall 7. Doris M.
Beobachlungszeit, Alter bei Anfallen: Polikl. 1917—1919. Nachunters. 27. I.
1922. Anf. vom 5.-9. J. (1916—1920). Frei seit 2 J.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Zur Frage der Pvkno'epsie.
429
Form der Anfdlle: Blick starr geradeaus, Bulbi manchmal vereinzelte Zuckun-
gen. Leichtes Lidflattern und Zucken der Augenbrauen, keine weiteren motor.
Reizerscheinungen. Korperhaltung unverandert. Unterbricht Tatigkeit. Auf An-
ruf keine Reaktion, aber Abwekrbewegung bei Kneifen; sagt: „Au“. Gibt dann
an, gekniffen worden zu sein. Mutter glaubt, durch Bespritzen mit kaltem Wasser
Anfall coupiert zu haben. F&hrt sofort mit unterbrochener Tatigkeit fort. Gibt
oft spontan an: ,,Ich habe eben wieder geguckt. 11 Frequenz: Taglich von An-
fang an 4—5 Anfalle, sp&ter 6—7 taglich 4 Jahre hindureh. Dazwischen wochen-
weise ausgesetzt und mehrere Wochen 1—2mal taglich. Seit 1920 aufgehort.
Auslosende Momente: Erster Anfall ohne erkennbare Ursache. Anfalle besonders
haufig beim Schreiben.
Tkerajrie: Nach Luminal 2mal wochenlanges Aussetzen, dann seltener auch
ohne Luminal. Spater wieder 4—6mal tftglich. Seit 1920 Aufhoren ohne erk.
Ursache.
Psychische Konstitution: Einziges Kind. Intellektuell durchaus gut. Nie
sitzen geblieben. Quirlig, lebliaft, fliichtig. Nicht reizbar, nicht launisch, keine
Verstimmungen. Wahrend der ojahrigen Beobachtung (davon 4 Jahre Anfalle)
keine epil. Veriinderung. Korperlicher Befund: 1917 dem Alter entsprechend
entwickelt. K. 0. Z. > 5 M. A. Kein Fac.-Phan. 1922 zartes, etwas blasses
Kind. Fac.-Phfin. bds. K. 0. Z. > 7,5 M. A. (Fac.). Hereditat: o. B. Diagnose:
Pyknol.
Fall 8. Willi F.
Beobachtungszeit, Alter bei Anfalien: Polikl. 1917. Nachunters. 6. III. 1922.
Anf. vom 3.—11. J. (1912—1920). Frei seit 2 J.
Form der Anfdlle: Bleibt plotzlich stehen. Augapfel nach oben verdreht.
Zuckungen der Augapfel, Lidflattern. Sonst keine krampfhaften Zuckungen.
Keine V'erfarbung. Handluugen unterbrochen, fahrt dami gleich fort. Keine
Reaktion auf Anruf und Kneifen. Einmal beinahe von Pferd iiberfahren. Nach-
her zuweilen Verlegenheitsfragen. Anfangs mehrmals Urinabgang beim Anfall
(Bettnasser). Keine nachtlichen Anfalle. Frequenz: Anfangs mindestens 5—10
taglich, spater 20 und mehr, ganze Serien. Ohne. Pause 8 Jahre. Seit 1920 aus-
gesetzt. Auslosende Momente: 1. Anfall ohne erkennbare Ursache. Nach Aus-
sagen des Privatlehrers haufiger beim Schreiben. Mutter gibt an, auch beim
Ausschelten.
Therapie: Arsen und Brom erfolglos. Nach glaubwiirdiger genauer Schilde-
rung plotzliches Aussetzen seit der Feier der Kommunion. Stunden vorher nocli
Anffille. Seitdem (1920) vollig frei.
P.syrhisrhe KonMilution: Stark psychopathisches Kind. Muttersohnchen.
Friiher schlechter Schlaf. Bettnasser bis zum 5. J. Uberempfindlichkeit der Haut.
Maklig, eigenwillig, verwohnt, iingstlich, madchenhaft. Intellektuell gut. Eltern
konnten sich aus geschaftl. Griinden nicht um Erziehung kiiinmern. Wegen An-
falle bis 11. Jahr Privatunterricht. 10 Jahre nach dem ersten Anfall keine epil.
Verftnderung. Lebhaft, interessiert, altklug. Korjterlicher Befund: o. B. Here¬
ditat: Mutter nervos, macht hyjwmanischcn Eindruck. Bruder Stickhusten und
Schreikrampfe. Diagnose: Pyknol.
Fall 9. Helene O.
Beobachtungszeit, Alter bei Anfdllen: Polikl. 1912. Nachunters. 1922. Pyknol.
Anf. von 6 1 /*—9 J. (1912—1915). Frei seit 7 J.
Form der Anfdlle: 3 Anfallsformen. 1. Pyknol. Anfalle: Bulbi starr geradeaus
oder verdreht, einzelne automatische Armbewegungen, behiilt sonst Korperlml-
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
430
Kurt Pohlisch:
Digitized by
tung bei. Bleibt stehen, macht beim Schreiben langen Strich. Keinerlei krampf-
hafte Zuckungen. Keine Reaktion auf Anruf und Schiitteln. Amneeie. 2. Hy¬
sterische Anfalle, immer nur bei psych. Emotionen, besonders als Reaktion gegen
Ausschelten. Immer nur einzelne Zuckungen im 1. Bein. Lehnt sich vorher an.
Andere Form: Strauchelt, Augen bleiben geoffnet, sinkt „wie bewuBtlos“ zusam-
men. BewuBtsein erhalten. Der Schilderung nach bestimmt hysterisch. Frequenz:
1. Form vom 6.—9. Jahr. Im 1. Jahr nur vereinzelt, spater mehrmals taglich,
oder Tage frei. Seit dem 9. Jalir Auftreten der hyster. Anfalle. Vereinzelt vom
9.—15. J. Auslosende Moinente: Pyknol. Anfalle nur vereinzelt im 1. Anfalls-
jahr ohne erkennbare Ursache. Im 9. Jahr im AnschluB an Masem haufiger.
Hyster. Anfalle nur bei unangenehmen psychischen Emotionen.
Therapie: Angaben fehlen.
Psychische Konstitution: Einziges Kind. Flaschenkind. Seit Sauglingszeit
immer sehr verpappelt und viel gedoktert. Mit Sahne groB gezogen, konnte
Milch nicht vertragen“. AB auch spater immer nur bestimmte Speisen. Haut sehr
empfindlich. „Zu allem zu schwach 11 ; deshalb erst mit 7 Jahren zurSchule. Steht
im Mittelpunkt des hauslichen Interesses. Darf keinen Beruf ergreifen. Jetzt
17 J. Intell. durchaus gut. Menstr. (seit 2 J.) unregelmaBig, muB dann tagelang
im Bett bleiben. Korperlicher Befund: Sehr zart, schwachlich gebaut. BlaB.
Neurol, o. B. Hereditat: Vater Hypoehonder, Sonderling. Mutter stark hysterisch.
Diagnose: Pvknolept. Anfalle von (5 1 / 2 —9 J. Auffallig ist das nur vereinzelte
Auftreten im 1. Jahr. Vom 9.—15. J. einzelne hyster. Anfalle.
Fall 10. Vera M.
Beobachtungszeit, Alter bei Anfdlkn: Polikl. 1915. Nachunters. 14. I. 1922.
Pyknolept. Anf. vom 10.—14. J. (1911—1915). Frei seit 7 J.
Form der Anfalle: 2 Formen: 1. Pyknol. Anfalle: Bulbi starr, wird blaB.
Keine Reaktion auf Schiitteln und Anrufen. Bleibt stehen, fiihrt Loffel nicht
zum Mund weiter, kaut nicht weiter. Halt Gegenstande krampfhaft fest. Keine
Zuckungen. Je 1 mal mit Rad in Graben und Schaufenster gefahren, ohne sich
zu verletzen, 1 mal fast gegen Auto. Spricht nicht weiter, findet oft Faden nicht
mehr. Amnesie, weiB aber, daB Anfall war. Dauer 1 Sek. bis 1—2 Min. 2. Form.
Immer nur bei Menstr. Zuckt stundenlang angstlich zusammen. „Eigentiimliche
Gefuhle in Augen und Armen, dann mehrere Stunden weg.“ Beim Ausziehen
und Untersuchung in Polikl. ahnlicher Anfall, zweifellos hysterisch. Frequenz:
1. Form: Zahl anfangs unsicher. Spater 5—20 taglich. 1915 (14 J.) allmahlich
ausgesetzt. 2. Form: Bei den 3 ersten Menstruationen (15 J.), dann jahrelang
frei, in letzten Jahren nur noch zuweilen. Auslosende Moinente: 1. Form. Erster
Anfall beim Baden. Vielleicht haufiger abends nach langerem Aufbleiben. Sonst
unabhangig von exogenen Momenten. 2. Form. Immer nur bei Menstruation.
Therapie: 1915 3 Fla.sehen Brom erfolglos, ebenso andere Arzneimittel und
Elektrisieren. Aufhoren der pyknol. Anfalle ohne Therapie.
Psychische Konstitution: Von jeher zart, „blutarm“. Kunn kein Blut sehen,
keine Wolle vertragen. Schiichtern, nicht frisch wie andere Kinder. Schlechter
Appetit. Weinerlich, iibelnehmerisch. Vom 12. Jahr aus Schule, wegen der An¬
falle in Psychopathen-Heim. In letzten Jahren Besserung der psychischen Auf-
falligkeiten. Intellektuell gut. Keine epileptische Veranderung. Als Kontoristin
tatig. Korperlicher Befund: 1922 grazil. Anamisch. Fac.-Plmn. bdst. angedeutet.
Seit 15. J. Menstr. Hereditat : Mutter Schreikrampf und hysterische Zuckungen.
Eine Schwester debil. Eine Schwester „Gehirnhautentziindung“ nach Schlag der
Lehrerin, zart, „nervos“. Diagnose: Pyknolept. Anfalle vom 10.—14. J. Jetzt
7 Jahre frei. Seit 15. J. vereinzelte hysterische Anfalle.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Zur Frage der Pyknolepsie.
431
Fall 11. Franz B.
Beobachtungszeit, Alter bei Anfallen: Polikl. 1921—1922. Anf. vom 6.—8. J.
(Februar 1917—Weihnachten 1918). Frei seit 3 J.
Form der Anfalle: Einen Augenblick absent. Behalt Korperhaltung starr bei.
Unterbricht das Spiel oder bleibt beim Gehen plotzlich stehen ohne Versagen
der Motilitilt. Fahrt dann gleich mit Tatigkeit fort. Keine Zuckungen. Hin
und wieder Einnassen. Meist keine Erinnerung an den Verlauf. Frequenz: 2 bis
3mal taglich, ob von Anfang an ist unbestimmt. Nie mehr als 4—5mal. All-
m&hlich seltener, dann seit Ende 1918 giinzliches Aufhoren. Auslosende Mo¬
menta: 1. Anfall ohrie erkennbare Ursache. Anfalle gehauft durch Schlage.
Thera pie: Mehrere Medikamente erfolglos, wahrscheinlich auch Brom. Ebenso
Uindaufenthalt.
Psychische Konstitution: Einziges Kind. Immer schon yehr wild, bmtal,
egoistisch, agil. Berliner StraBenjunge. Laubendiebstahl. Keine Reue fiir Ver-
gehen. Bekonimt taglich von Vater, der sehr brutal ist, Schlage mit Klopfpeitsche.
(Wegen Ichthyosis herabgesetzte Schmerzempfindlichkeit.) Einsichtslos. Epil.
V’eranderung auszuschlieBen. Intellektuell gut. Korperlicher Befund: Ichthyosis
an Rumpf und Extremitaten von Geburt an. Korperlich im iibrigen o. B. K. 0. Z.
> 5 M. A. Hereditat: o. B. Diagnose: Wahrscheinlich pyknol. Anfalle bei einem
brutalen, egoistischen psychopathischen Kinde.
Fall 12. Lucie W.
Beobachtungszeit, Alter bei Anfallen: Polikl. 1914. Xachunters. 13. III. 1922.
Anf. vom 4.—13. J. (1913—1922). Frei seit 2 Monaten.
Form der Anfalle: Stiert plotzlich wie benommen vor sich hin; keine motor.
Reizersch. Keine Antwort auf Fragen. Behalt meist Korperhaltung bei, schwankt
manchmal leicht hin und her. Selten unwillkiirliche Fingerbewegung. aber nicht
krampfhaft. Unterbricht Handlungen, fahrt gleich nachher fort. Keine Verfar-
bung. Dauer einige Sek. Amnesie, weiB alter nachher, daB Anfall war. Frequenz:
In ersten Wochen 1—2mal taglich, vielleicht auch mehr. Spater 5—6 taglich.
Dazwischen Wochen mit tageweisem Aussetzen. Seit 1920 nur 1 Anfall monat-
lich, seit 2 Monaten frei. Auslosende Momente: Uber 1. Anfall keine Angabe.
Spater deutliche Haufung bei unliebsamen Erlebnissen und beim Rechnen. Dann
gleich 3—4 sonst nur vereinzelt.
Therapie: Nicht behandelt. Anfalle seltener seit 6wochiger Bettruhe bei
Knochenhautentziindung mit Fieber 1920.
Psychische Konstitution: Als Kind still, weich, lenksam. Spater „mehr Junge".
Nach Urteil der Lehrer gutes Gedachtnis und Auffassungsgabe. Lebhaft, frisch.
unterhaltsam, nicht reizbar. Keine epil. Veranderung 9 Jahre nach Anfallsbeginn.
Korperlicher Befund: Neurologisch o. B. Dem Alter entsprechend entwickelt.
Hereditat: o. B. Diagnose: Pyknol.
Fall 18. Lisbeth G.
Beobachtungszeit, Alter bei Anfallen: Polikl. 1913, 1920—1922. Anf. von
6 1 / 2 —16 J. (1912—1922). Zurzeit noch bestehend.
Form der Anfalle: Bulbi leicht verdreht, Lidflattern, einzelne nickende Be-
wegungen mit Kopf und Rumpf. Bleibt stehen. Auf Kneifen geleg. Abwehr-
Itewegung. Amnesie dafiir. Handlungen unterbrochen, aber auch Weiterkauen.
LaBt Gcgenstande nicht fallen, man kann sie aber aus der Hand nehmen. Am¬
nesie dafiir. Zuweilen Urinabgang. Vielleicht manchmal nachher etwas matt.
Dauer einige Sek. bis 1 Min. Frequenz: Am 1. Tag 2—3, seitdem regelmaBig
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
432
Kurt Pohlisch:
Digitized by
10 Jahre hindurch zun&chst 4—5, spilt er 20—30 taglich. Auslosende Momente:
1. Anfall ohne erkennbare Ursache. Morgens haufiger. RegeliniiBig Anfall, wenn
Pat. Willen nicht bekommt.
Therapie: 4 Wochen Brom, dabei hfiufiger. Honioop. ohne Erfolg.
Psyehische Konst tint ion: Unehelich, viel umhergeworfen. Wechselnde, schlechte
Erziehung. StraBenkind. 2 Delikte. Diebstahl, Betteln. Aus 1. Klasse als mittl.
Schiilerin abgeg. Konnte schlecht stillsitzen. Friiher eigensinnig, die letzten
Jahre umgiingiger geworden. Keine Stimmungsanomalien. Gutes Gedachtnis.
In Konfektionsgeschaft zur Zufriedenheit. Keine epil. Verftnd. Korperliclier Be-
fund: 1922 blaB, schlecht emfihrt, schw&chlich. Kyphoskoliose. Noch nicht
menstruiert (16 J.). Hereditat: Unehelich. Diagnose: Pyknol.
Fall 14. Grete R.
Beobachtungszeit, Alter bei Anfallen: Polikl. 1918, Miirz—Mai 1922. Anf. vom
7.—16. J. (1913—1922). Zurzeit nur noch vereinzelt.
Form <ler Anfdlle: In ersten Jahren schwerer: Bulbi starr, Korper „wie Wachs-
puppesteif“, manchmal leichte Schuttelbewegungen mit Armen, aber ohne Zuekun-
gen. Fuhrt sonst keine Bewegungen aus. LaBt Gegenstiinde selten fallen, stiert.
ins Leere. Lider bleiben geoffnet. Unterbricht Tatigkeit, naehher frisch. Dauer
6—8 Sek. Seit letztem Jahr nur Moment Unterbrechung der Tatigkeit. Fragt
dann: „Was ist los?“ Behftlt Gegenstftnde in der Hand. Merkt Anfall zuweilen
an der Liicke bei Untcrhaltung. Frequenz: Wahrsch. von Anfang an gehfiuft.
In letzten Schuljahren bestimmt 12—15 taglich, manchmal 80—100. Nach Schul-
entlassung allmahlich seltener, tageweise frei. Auslosende Momente: Bei Zank
und unangenehmen Schulerlebnissen ,,alle paar Minuten“ 1 Anfall. Seit Schul-
entlassung tageweise frei, „wennsie keinenArger hat“. 2mal durch Elektrisieren
in Polikl. ausgelost.
Therapie: 1918 Luminalwirkung fraglich. 1919 durch homoop. Mittel an-
geblich auf Hiilfte reduziert. 1922 bei 2monat. polikl. Sugestivbehandl. nur noch
vereinzelte Anfalle, jedoch schon Monate vorher seltener.
Psyehische Konstitution: Bis 6. Jahr Bettnassen. Unruhiger Schlaf. Uher¬
ein pfindlich gegen Wolle und Geriiche, maklig im Essen. Kommt auch jetzt noch
(16j.) leicht ins Weinen. Sehr quirlig. Es dauert ihr alles zu lange. Schnippisch,
sprunghaft, in Entschliissen hastig. Intellektuell gut. Keine epil. Veranderung
9 Jahre nach 1. Anfall. Hilft gut in fremdem Haushalt. Korperlicher Befund:
Grazil. Wegen korperl. Schwache erst mit 6 1 / 2 J. zur Schule. Menstruiert seit
14. J. K. 0. Z. > 5 M. A. (Fac.). Hereditat : Mutter hyster. Anfalle. Von 4 Ge-
schwistern 1 debil. Diagnose: Pyknol.
Fall 15. Ella D.
Beobachtungszeit, Alter bei Anfallen: Polikl. 1915 und Jan.—Mtirz 1922. Anf.
vom 7.—15. J. (1914—1922). Zurzeit noch bestehend.
Form der Anfalle: Bulbi starr geradeaus, kein Lidflattern. In ersten Jahren
manchmal Zusammenknicken, Schwanken und Hinfallen, Nicken des Kopfes,
Zungenbewegungen. Nio krampfh. Zuckungen. In Polikl. 1 Anfall mit leichter
Steifheit im 1. Arm und Bein. In letzten 2 Jahren keinerlei motor. Ersch. mehr.
Anfalle kiirzer und leichter: nur kurze Triibung des BewuBtseins. Keine Reaktion
auf auBere Reize. Unterbricht Handl. Dauer einige Sek. Pat. zahlt die Anftille
selbst: „Mir ist so eigentiimlich“. Frequenz: Wahrscheinlicli von Anfang an
3—4 tftglich, spater bis 10 ohne Pause seit 8 J. Auslosende Momente: 1. Anfall
ohne erkennbare Ursache. Mutter glaubt, daB bei Kalte haufiger Anfalle sind.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Zur Frage der Pyknolepsic.
433
Therapie: 1915 3 Bromkuren, 1, 2 Wochen und */ 4 J. ohne Erfolg. 1922
mehrere Wochen Kalzan ohne Erfolg.
Psychische Konstitution: Verwohntes Nesthakchen, nfichste Schwester 9 J.
alterT Aufgeweckt, geschickt. Frisches, gesundes Landmadchen, aber nicht so
robust wie die Schwestern. Will keine Landarbeit machen, liest lieber, laBt sich
verwohnen. Korperlicher Befund: 1915 Fac.-Phiin. 1922 groB, kraftig, neurol.
o. B. Menstr. regelmaBig seit 2 J. Hereditat: o. B. Diagnose: Pyknol.
Fall 16. Charlotte Kr.
Beobachtungszeit, Alter bei Anfallen: Polikl. 1917—1918 u. Marz 1922. Anf.
vom 5.—10. J. (1917—1922). Zurzeit noch bestehend.
Form der Anfdlle: Kopf langsam nach oben oder seitwiirts bewegt, Rumpf
langsam riickw. geneigt, dabei riickw. treten, wie, um Hinfallen zu verhindern.
Drehende Bewegung der anscheinend etwas steifen Arme (Polikl.). Bulbi starr
geradeaus, manchmal Lidflattem. Keine Verfarbung. Auf Kneifen manchmal
„Au“. Keine Abwehrbewegung, diese erst nach dem Anfall. Hort auf zu sprechen,
fahrt dann gleich fort. Dauer etwa 4 Sek. und 1 anger. Meist nur Moment absent
ohne motor. Ersch. Frequenz: Wahrsch. von Anfang an gehauft. Sicher schon
im 1. Jahr 4—20 taglich. 1919 Pause iiber 1 Monat. Seitdem 5—20 taglich.
Auslosende Momente: 1. Anfall wahrsch. nach harmlosem Sturz von der Schaukel.
Spater vielleicht haufiger bei Ausschelten.
Therapie: 1917 1 / 2 J. Brom erfolglos. 1919 nach Brom 1 Monat ausgesetzt.
Psychische Konstitution: Bis 4. Jahr bei GroBeltern erzogen, sehr verwohnt.
Dann bei Eltern schlechte Erziehung, da diese uneinig. Weinerlich iingstlich.
Lebhaft, sehr interessiert. Intell. sehr gut. Gutes Gedachtnis. Kommandiert gern
die jiingeren Geschwister. Kein epil. Veranderung 5 J. nach 1. Anfall. Korper¬
licher Befund: 1917. BlaB. Kein Fac.-Phiin. K. 0. Z. >6M. A. (Med. u. Pero-
naeus.) 1922. Grazil. Neurol, o. B. Hereditat: Vater Eigenbrodler. Mutter
„nervos hysterisch 44 . Diagnose: Pyknol.
Fall 17. Heinz E.
Beobachtungszeit, Alter bei Anfallen: Polikl. 1919—1921. Anf. vom 3.—8. J.
(1917—1922). Zurzeit noch bestehend.
Form der Anfdlle: Kurze Form, besonders im letzten Jahr: Blick starr, leichtes
Lidflattem, etwa 1 Sek. Triibung des BewuBtseins. Langere Form: Kopfnicken.
Zuckungen im Corrugator und Frontalis, Lidflattem. Reibt die Hande, klopft
auf die Hosen, macht Klatschbewegungen. LaBt sich Gegenstande aus der Hand
nehmen. Amnesie dafiir. Bleibt stehen oder geht weiter. 1 Anfall auf Baum,
ohne zu fallen. Keine Reaktion auf Kneifen. aber manchmal nachher Schmerz-
empfindung. Zuweilen leichte Verfarbung. WeiB nicht, daB Anfall war. Ant-
wortet in Polikl. auf Ansprechen mit unverst. Lallen. Frequenz: Vom 1. Tage an
mindestens 10. 1921 mehrmals tagoweise frei, seitdem auch seltener und kiirzer.
Tage frei. Auslosende Momente: Seltener an „ruhigen und gleichmiiBigen Tagen 44 .
Haufiger nach Aufregungen. In Polikl. nach sehr rasch zuriickgelegtem Weg
4 Anfalle in 1 Stunde.
Therapie: 3 Monate Brom erfolglos. Seit 1 Jahr ohne Therapie seltener und
kiirzer. Zurzeit auf Riigen weitcre Besserung.
Psychische Konstitution: ,,Kolossal lebhaft 44 . Lehrer tadelt seine Wildheit.
Weint leicht, wenn was nicht paBt, dann auch aufbrausend, wiitend. Von jeher
so. Im ganzen bescheiden, liebevoll. Sehr erfinderisch, konstruiert Autos. PaBt
sich neuen Situationen schnell an, aufgeweckt, interessiert. Gutes Gedachtnis.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
434
Kurt Pohli8ch:
Digitized by
Wegen Mangel an Aufmerksamkeit nur Mittelschiiler. Olierempfindlich gegen
Gerilche. Keine epil. Ver&nderung. Korperlicher Befund: Frische Gesichtsfarbe.
Krfiftig. Spur Strabism. div. (Vater auch). K. 0 . Z. > 5 M. A. Hereditat: Mutter
„blutarm“. Diagnose: Pyknol.
Fall 18. Charlotte S.
Beobachtungszeit, Alter bei Anfallen: Klinik 7. IX. 1915—20. II. 1916, Polikl.
1917—1922. Anf. vom 6.—15. J. (1913—1922). Zurzeit noch bestohend.
Form der AnfdUe: Plotzlich stierer Blick, Blinzeln, wird blasser, unterbricht
Tatigkeit, halt Gegenstande feet, Kippt manehmal Tasse aus. Geht auch in
entgegengesetzter Richtung weiter oder langsame Drehbewegungen rait Rumpf.
Kratzen mit Handen, bastelt mit Handen weiter, energische Abwehrbewegung
mit Kopf bei Kneifen, schlieBt Augen bei Pup.-Priifung. Unartikul. Laute. StoBt
Elektrode fort beim Elektrisieren. 1918 haufiger zusammengeknickt, dabei auch
harmlos v r erletzt. Nie krampfhafte Zuckungen. Amnesie fiir Einzelheiten, weiB
aber oft, daB Anfall war, „es war, als ob ich traumte 1 '. Kann beim Anfall Ge-
sprochenes nicht wiederholen, erkennt Taschenlampe nicht wieder. Anfalle meist
nur absenceartig. Unveranderte Korperhaltung. Dauer bis 3 / 4 Min., aber auch nur
1 Sek. Lachelt nachher zuweilen, sagt „Aha“, findet sich sofort in die Situation.
Vielleicht Anfalle aus deni Schlaf heraus. Mutter sah in 9 Jahren 5mal Zucken
der Lider im Schlaf. Auf Station jedoch nie beobachtet. Frequenz: Anfangs
wahrsch. 3—4, spater 5—10 und mehr, bis 30 t&glich. Zahl wechselnd, Monate
5—20. Im letzten Vierteljahr 5—6 taglich. Im ganzen Neigung zur Besserung.
Auslosende Momente: 1. Anfall einige Wochen nach Masern. 1922 in Polikl.
plotzl. Anfall, als beim Elektrisieren mit Knall KurzschluB entsteht. Spater
noch 2mal Anfall beim Elektrisieren. Anfalle meist morgens, abends bestimmt
seltener. Oft beim Rechnen. Schlaft gut.
Therapie: Zum 1. Mai ausgesetzt bei Anginarezidiv (38,2°), 1 Tag frei, seit-
dem 3 Monate lang nur noch 3—5, vorher 10 (in Klinik genau beobachtet). Da-
nach keinen Tag mehr frei. 6 Monate Brom, spater mehrere Monate Luminal
ohne Erfolg, ebenso 2 Calcium-Kuren (intravenos) und eingehende Smonatige
Sugg.-Therapie, vielleicht geringe Besserung.
Psychische Konstilution: Einziges Kind, bei GroBeltem erzogen. Unehelich.
angstlich, schuchtern, schreckhaft, iiberbescheiden. Darf wegen der Anfalle seit
Jahren nie allein ausgehen. Still, gleichmaBig, paBt sich allem an. Sehr suggestibel.
Nicht frisch wie gleichaltrige Kinder. Intell. nach Angaben des Rektors und
nach Binet durchaus gut. Keine epil. Verand. Mutter iibermaBig besorgt um
Pat., besonders um die Anfalle. Korperlicher Befund: 1915 blaB, maBiger Er-
nahrungszustand. Fac.-Phan. bds. -)—|-. Ulnaris mechanisch sehr leicht er-
regbar, K. 0 . Z. > 5 M. A. 1922. Auffallend groB und weit entwickelt. Seit
13. Jahr menstr. Fac.-Phan. bds. -f-. K. 0 . Z. > 5 M. A. (Fac.). Leichter Far-
benwechsel. Hereditat: Unehelich. Diagnose: Pyknol.
Fall 19. Herbert W.
Beobachtungmeit, Alter bei Anfallen: Polikl. 1916, EpiL-Anstalt Potsdam
15. VI. —15. IX. 1921, Polikl. 1921—1922, dazwischen in Klinik von 4. II.- —23. III.
1922. Anf. vom 6.—13. J. (1914—1922). Zurzeit noch bestehend.
Form der Anfalle: Form im wesentl. dieselbe, nur in ersten Jahren kiirzer.
spater hinger: 7—10 Sek. Bleibt starr stehen, setzt mit Beschaftigung aus, kritzelt
aber manehmal weiter. Halt Tasse fest, manehmal etwas ausgeschiittet. Keine
Reaktion auf auBere Reize, lieB sich 2mal Geld stehlen. Keine Verfarbung. Bulbi
starr oder verdreht. Kopf sinkt manehmal nach vorn, Mund steht zuweilen
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Zur Frage der Pyknolepsie.
435
offen, Zunge wolbt sich dann vor. Selten leichte Wackelbewegung der Arme,
nie Zuckungen. Atniet zuweilen bei Ende befreit auf, weiB aber nichts davon.
Merkt Anfall zuweilen daran, daB er Tatigkeit unterbrochen hat. In letzten
Monaten wieder kiirzer. Frequenz: Anfangs 2—5 taglich, spiiter 30, auch 50
und mehr. In ersten Jahren tageweise vielleicht frei. 1921 8 Tage ausgesetzt
(Luminal). In Klinik nur 1—3 taglich. Nach Entlassung wieder h&ufiger, aber
nur 5—10 taglich (vorher 20—30). Auslosende Momente: 1. Anfall ohne erkenn-
bare Ursache. Morgens haufiger. Bei Urlaub aus der Klinik Steigerung von
1 auf 10 und von 2 auf 7 t&glich.
Therapie: Nach Brom deutliche Haufung. 1921 8 Tage 0,1 Luminal, dabei
prompt ausgesetzt. Nach Aussetzen von Luminal zunfichst 2—-3, dann wieder
bis 30 taglich. Dann in Klinik durch Sugg.-Ther. reduziert auf 1—3, nach Ent¬
lassung 8—15. 1922 keine Besserung durch Luminal (3 Wochen lang). Seit
Entlassung auf 1 / 2 — 1 / 3 reduziert. Anfallsdauer kiirzer. Friiherer Land-und See-
aufenthalt erfolglos.
Psychische Konstiluiion: Immer etwas schwachlich, schiichtern. Pavor noctur-
nus. Cberempfindlich gegen Wolle. Bescheiden, still, Biicherwuim. Spielt am
liebsten mit sanften Kindern oder allein. Erfinderisch, „will hoch hinaus“. Nach
Angaben des Rektors sehr guter Schuler. Durch Anordnung des Schularztes monate-
lang dein Unterricht ferngeblieben und in Epileptiker-Anstalt gewesen. Keine
epil. Ver&nderung 7 Jahre nach 1. Anfall. Korperlicher Befund: 1922 r. leichtes
Fac.-Phan. K. 0. Z. > 5 M. A. (Fac.) blaB, Pubert&t noch nicht eingesetzt.
Hereditat: Eltem o. B. 1. Kind Pat. 2. K. typische spasmophile Krfimpfe. 3. K.
friiher Rachitis. 4. K. mit 10 Monaten Stimmritzenkrampf, bald danach gest.
Diagnose: Pyknol.
Fall 20. Margarete Sch.
Beobachhmgszeit, Alter bei Anfallen: Polikl. 1920, Klinik 11. I.—18. II. 1922.
Anf. von O 1 ^—8 J. (1920—1922). Zurzeit noch bestehend.
Form der Anfdlle: Kurze Anfalle: Lidflattem, Bulbi verdreht. Moment absent.
Liingere (selten) mit Kniebewegungen, unartikulierte Laute, lmal deutlich „Milch,
Milch“. Fiihrt Loffel weiter zum Mund, geht, an der Hand gefiihrt, weiter. LaBt
auch Gegenstande fallen und sich aus der Hand nehmen. Zieht Arm und Kopf
fort auf Stechen, kneift Lider zu auf Beriihrung. Reibt nachher die beriihrte
Stelle, aber Amnesie fiir Beriihrung. In Schule von Leiter gesturzt, ohne sich
zu verletzen, 1 mal gegen Tisch gerannt. Lichtreaktion der Pupillen 1 mal bei
Beginn deutlich aufgehoben, gegen Ende trfige (Dunkelzimmer). Dauer nach
Uhr: 3mal 1 / 2 Min., 1 mal D/ 8 Min., meist aber kiirzer. Keine Verffirbung. Findet
sofort Faden wieder. Frequenz: Am 1. Tage 6, spater wechselnd, 5, 10, 20 taglich,
manchmal Serien. Im letzten Vierteljahr 5—10 tfiglich. Auslosende Momente:
1. Anfall ohne erkennbare Ursache. Bei „Anschnauzen“ hiiufiger, ebenso bei
Schularbeiten. In Klinik experimentell durch Rechnen und Binetpriifung mehr-
mals Haufung.
Therapie: 4 Wochen Phosphor-Lebertran erfolglos, ebenso Pillen (?). Vor
Klinikaufnahme 4—6 Anf. taglich, dann Lumbalpunktion, danach starke psychog.
Beschwerden, am nftchsten Tage 11. Dann unter suggestiv. Ausnutzung der
L.-P. zum 1. Mal 6 Tage frei. Danach wieder Anfftlle so oft wie vorher. Gefallt.
sich als Kranke. Stationsverlegung, Bettruhe. Tinct. asa foetida. Calcium er¬
folglos. Nach Klinikentlassung nicht weiter verfolgt.
Psychische Konstitution: Einziges Kind. MaBlos verwohnt. Altklug, laBt
andere Kinder nicht zu Worte kommen. LfiBt sich beim Couplet-Singen und
Ballett-Tanzen bewundern. 1st gern krank, mochte gerne in Klinik bleiben, am
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
436
Kurt Pohliseh:
Digitized by
liebsten unter Erwachsenen. Strenge MaBnahmen scheitern am Unverstand der
Angehorigen. Keine Verstimmungen, nicht reizbar. Intell. gut. Keine epil.
Veriindening. Korperlieher Befund: Sehr blaB, Stubenkind. Grazil. Fac.-Phan.
Iks. K. 0 . Z. > 5 M. A. (Fac.). Lumbal-Punktat o. bes. Befund. Hereditat:
Keine Angaben. Diagnose: Pyknol.
Fall 21. Hilde L.
Beobachtunqszeit, Alter bei Anfallen: Polikl. 1921—1922, Klinik 15. III. bis
2. V. 1922. Anf. vom 5.—8. J. (1919—1922). Zurzeit noch besteliend.
Form der Anfalle: Meist einen Moment absent, Pupillen erweitert. Licht-
reaktion (mehrmaLs gepriift) gut, ganz leichtes Lidzucken. Seltener: Bulbi ver-
dreht mit Zuckungen, ebenso im Corrugator und Frontalis, Kopf sinkt manch-
mal nach hinten. LaBt Loffel sinken, schiittet Essen aus.' zieht Strich weiter beim
Schreiben, geht weiter, dreht sich um sich selbst, Tanzeln. Korper manchmal
nach vorn gebeugt oder Kopf nach hinten, leichtes Taumeln, halt sich fest. Kein
Tnumelgefiihl. Hort auf zu sprechen. Keine Reaktion auf Ansprechen. Meist
ohne jede motor. Ersch. Amnesie. Sagt „was ist los“, findpt sich sofort wieder
in Situation. Nach Anfall oft kongest. Gesicht. Dauer bis zu 10—15 Sek. Fre-
quenz: Am 1. Tag gleich 2—3, spiiter meist liber 10, zuweilen 30 und mehr. Zur¬
zeit 8—15. Auslosende Momente: 1. Anfall wahrend NehieBerei beim Kapp-
Putsch, bei weiteren Schiissen kein Anfall mehr. Spater vielleicht durch Aus-
schimpfen auslosbar.
Therapie: Arsen, Brom, Luminal je 14 Tage erfolglos. In Norwegen vielleicht
seltener (mehrere VVochen). In Klinik (7 Wochen) Suggestiv-Therapie, Bett-
ruhe durchschnittlich 5—10, also nur geringe Besserung.
Psychisclte Konstilution: Einziges Kind, unehelich, von GroBmutter und
Mutter sehr verwohnt. Altklug, sehr interessiert, neugierig. Fremden gegeniiber
unangenehmes Musterkind. Zu Hause befiehlt sie gern. Gute Auffassungsgabe,
aber fliichtig. Sehr anschmiegsam. Keine epil. Ver&nderung 3 J. nach erstem
Anfall. Korperlieher Befund: Sehr klein, grazil. Leichter Farbemveclisel. K. 0. Z.
> 5 M. A. Hereditat: Unehelich. Mutter Chorea. Diagnose: Pyknol.
Fall 22. Hildegard K.
Beobachtungszeit, Alter bei AnfaUen: Polikl. 1922, Klinik 20. II.—15. III. 1922.
Anf. von 8 x / 2 —lO 1 ^ J. (1920—1922). Zurzeit noch bestehend.
Form der AnfaUe: Blick plotzlich starr, manchmal leichtes Lidflattern, sonst
keinerlei motor. Ersch. bis auf seltenes leichtes Vorwiirtsbeugen des Rumpfes
und Kniebewegungen. Manchmal fallen Gegenstande aus der Hand. Keine Ver-
fiirbung (immer sehr blaB). Pupillen weit, Lichtreaktion 1 mal gepriift, wahr-
scheinlich aufgehoben. Fragt nach Anfall „was hatte ich gesagt? was ist denn?“
WciB oft, daB Anfall war. Dauer 1 Moment bis etwa 15 Sek. Frequenz: Anfangs
mehrere tiiglich, spater haufiger 10, 15, 30, oft Serien. Seit Klinikbehandlung
seltener. Auslosende Momente: 1. Anfall ohne erkennbare Ursache. In Klinik
1 mal bei Injektion, ein andermal beim Elektrisieren. Vor beiden groBe Angst.
In Scliule haufiger (bei Lese- und Rechenaufgaben). Von Mutter keine Haufung
bei Arger und Schreck beobachtet. Morgens mehr als abends.
Therapie: In Ferien auf dem Lande seltener. Eine Flasche Brom, dabei
haufiger. Pil. fen - , arsenic, und mehrere andere Medikamente erfolglos, ebenso
14 Tage 0,1 Luminal. In Klinik (Sugg.-Ther.) von 15—30 in 1. Wocho auf 8—10,
dann auf 4—6 reduziert. Vor Aufnahme oft Serien. Nach Entlassung (2 Monate)
nur 1 Serie. Besserung halt bei ambul. WeiterbeH. zuniichst an, tiiglich 5—10
Anfalle, spater wieder mehr.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Zur Frage der Pyknolepsie.
437
Psychi8che Konstitution: Wie einzigstes Kind aufgewachsen, Schwestern
6—8 J. alter. Sehr verwohnt, Nestliiikchen. Schwindel und Brechgefiihle in
StraBenbahn und beim Sehaukeln. Unruhiger Sehlaf. Zeitweise Kopfschmerzen.
Maklig im Essen. Phlegmatisch, spielt wenig, mehr hausfraulich, altklug, dabei
bescheiden. Manuell geschickt und erfinderisch. Es dreht sich zu Hause alles
um die Anf&lle, deshalb seit 1 / 2 J. aus der Schule. Nach Klinikbehandlung wieder
zur Schule. Intellektuell gut. Korperlicher Befund: BlaB, groB, schwammig.
Weit entwickelt. K. 0. Z. > 5 M. A. Hereditat: Eltern abnorm fiirsorglich. Alle
4 Geschwister leicht Brechreiz, eine Schwester Keuchhusten. Diagnose: Pyknol.
Fall 23. Fritz M.
Beobachtungszeit, Alter bei Anfallen: Polikl. 1919—1922, Klinik 13. III.—31.
III. 1922. Anf. von 5*/ 2 —8 J. (1919—1922). Zurzeit noch bestehend.
Form der Anfdlle: Ira 1. J. kiirzer, Bulbi nach obon verdreht, unterbricht
Tatigkeit einen Moment. Sp&ter langer, nickt manchraal mit Kopf nach vorn,
brach lmal zusammen. LieB 3mal unter sich. Geht raanchmal weiter, raehr-
raals dabei angerannt, Beulen geholt. Griff dem Verf. beim Anf all nach dem
Krankenblatt. Amnesie dafiir. Beim Sprechen lallt Pat. unverstandlich, auch
Wortneubildungen wie „Schneasalte“. WeiB nichts davon. Verschiittet Essen
aus dem Loffel, lmal mit Armen ins Essen gefallen. Wendet Kopf zu der ihn
ansprechenden Person, aber meist Korperhaltung beibehalten. Keine Reaktion
auf auBere Reize. Keine Verfarbung. Frequenz: Im 1. J. mehrero taglich, dann
lSnger und haufiger, bis 20mal. Im Sommer 1921 fast gar kein Anf all. Vor Klinik-
aufnahme 4—8, in Klinik vereinzelt, nach Entlassung wie vorher. Auslosende
Momente: 1. Anfall ohne erkennbare Ursache. Beim Elektrisieren haufig 1 An-
fall (sonst sehr selten in Klinik). Angst vor Elektr. Mehrmals vom Verf. Anfall
willktirLich ausgelost, indem Pat. um Querachse gedreht wurde, so daB Kopf
einen Augenblick unten stand. Mehrmals Versuch auch miBgliickt.
Therapie: 1921 8 Tage Luminal und Phosphor-Lebertran erfolglos. 1922
2mal bei je 14tagig. Luminal haufiger. In Klinik (Sugg.-Ther.) seltener, nach
Entlassung wie vorher.
Psychische Konstitution: Interessiert, untersucht was er sieht. Weichlich, an-
schmiegsam. Kommt leicht ins Weinen (8 J.). Muttersohnchen. Im iibrigen
unauffallig. Gute Schulleistungen. Keine psychische Veranderung. Korperlicher
Befund: 1919 bds. Fac.-Phan. 1922 Fac.-Phan. -f. K. 0. Z. > 8 M. A. (Fac.).
Klein, grazil. Hereditat: o. B. Diagnose: Pyknol.
Fall 24. Ernst K.
Beobachtungszeit, Alter bei Anfallen: Polikl. 1919—1922, Klinik 21. I.—22.
III. 1922. Anf. vom 11.—15. J. (1918—1922). Zurzeit noch bestehend.
Form der Anfdlle: In ersten Jahren mehrere Sek., zuletzt nur Moment. Meist
dieselbe Form. Stiert vor sich hin, zuweilen Lidflattern. Behalt jeweilige Hal-
tung bei, setzt aber auch Tasse langsam hin, geht langsam weiter, setzt aber
immer beim Sprechen aus. Keine Reaktion auf Ansprechen und Kneifen. Mancli-
mal nachher schwache Erinnerung an Kneifen, aber nicht an Ansprechen. Findet
meist sofort Faden wieder. Meist nur kurzes Aussetzen der Willkiixbewegungen.
Bulbi starr. Keinerlei motor. Ersch. 1 mal fast von Elektr. iiberfahren. Xie
Anfalle beim Schwimmen und Baden, deshalb von Eltern oft zum Baden ge¬
schickt. Frequenz: Anfangs unsicher, spater 5—10 4 Jahre ohne Pause. Seit
Klinikaufnahme seltener, nachher wieder mehr. Auslosende Momente: 1. Anfall
vielleicht 1 Stunde nach StoB einer Ziege. aber unsicher. Auslosbar durch Schelte,
Arger, Klavierspiel (unangenehm). Bei Urlaub deutliche Haufung, als er zu
Arcliiv fiir Paychiatrie. Bd. 67. 29
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
438
Kurt Pohlisch:
Hause mit Fragen bestiirmt wird. Auf Station 2 Tage nacheinander um 10 Uhr
je 1 Anfall voi Untersuch.-Zimmer (die einzigen Anfalle in 4 Tagen).
Therapie: 1921—1922 nach 1 Flasche Brom und 30 Tabletten Luminal eher
noch h&ufiger. Landaufenthalt erfolglos. 2 Monate in Klinik durehschn. taglich
1 Anfall, vorher 5—10. 3 Hypnosen, Elektr., Sugg.-Ther. Nach Entlassung
wochenlang nur vereinzelt, dann taglich 5 trotz Forts, der Elektr. Sugg.-Ther.,
Anfillle aber kiiizer.
Peychische Konstitulion: Bis 11. Jahr Bettnasser. Still, zart, empfindlich.
MuB vorsichtig behandelt werden, sonst mault er, wird auch aufbrausend, tragt
nach. Dickkopfig, aber sehr gewissenhaft und sauber. Sehr griindlich, aber nicht
umstAndlich. Schon als D/ 2 jahriger wiitend, ,,biB sich fest“. Jetzt als Kauf-
mannslehrling sehr geschatzt, weil intelligent und fix. 1st gleichmaBiger gewor-
den, paBt sich jetzt besser an. Korperlicher Befund: Sehr klein, grazil. Zarte
Haut. Kann keine Wolle vertragen. K. 0. Z. > 5 M. A. (Fac.). Hereditat: 6 Ge-
schwister, alle iiberempfindlich gegen Wolle. Eine Schwester Angstanfalle mit
Zittern. Eine andere sehr leicht erregt. Ein Bruder nachts Angstanfalle.
Diagnose: Pyknol.
Fall 25. Charlotte St.
Beobachtungszeit, Alter bei AnfaUen: Polikl. 1921, Klinik 2. II. 1922—27. II.
1922. Anf. vom 6.-8. J. (1920—1922).
Form der Anfalle: Verdreht Bulbi, Moment abwesend, keine Reaktion auf
Ansprechen oder Kneifen. Wird jedesmal blaB. Korperhaltung bleibt meist;
Tatigkeit unterbrochen. Zuweilen dreht sie sich um, lallt „tum, tum“. Zieht
Strich weiter beim Schreiben, verschiittet Tasseninhalt. 1 mal in Polikl. leichtes
Zucken im 1. Mundwinkel, sonst nie Zuckungen. Drehte lmal Halstuch planlos
bin und her. Sagt nachher „ach so“, setzt Tatigkeit sogleich fort. Dauer: Mo¬
ment bis mehrere Sek. Im ersten Jahr kiirzer als jetzt. Frequenz: Von Anfang
an 5—6. Seit 1921 starke Haufung, oft 100 und mehr. Erstes Aussetzen in Klinik.
Auslosende Momente: 1. Anfall einige Tage nach erstem Schulbesuch. Bei Schul-
arbeiten haufiger.
Therapie: Baldrian erfolglos. 14 Tage 0,1 Luminal, dabei unverandert, bis
100. Weihnachten 1921 4 Tage Fieber, Grippe, bettlagerig, auf 3—4 Anfalle
zuriick. Vor Klinikaufnahme oft bis 100, noch im Wartezimmer vor Aufnahme
3—4. 10 Tage in Klinik, Anfalle ohne besondere Therapie wie fortgeblasen, kein
einziger. Nach Entlassung 3 Tage verringert, dann wieder bis 100.
Psychische Konstitulion: Sehr verwohnt, tragt keine Wolle, weint sofort bei
rauhem Wort. Angstlich, schreckhaft, schlaft sehr schlecht seit Jahren (1 Jahr
vor 1. Anfall). Scheut kaltes Wasser, oft Hautjucken. Still, schiichtem, ver-
traumt, Intellektuell selir gut. Sehr interessiert, fragt viel. Gutes Gedachtnis.
Keine epileptische Veranderung 3 Jahre nach 1. Anfall. Korperlicher Befund:
Sehr zart. klein. K. 0. Z. > 7 M. A. (Fac.). Kein Fac.-Phan. Puls: Arythmie.
Hereditat: Vater ,,Gehirnhautentziindung“. Imraer nervos, kann keinen Larin
vertragen. Mutter ebenso. Pat. u. 1 Bruder sehr verwohnt. Diagnose: Pyknol.
Fall 26. Helene E.
Beobachtungszeit, Alter bei An fallen: Polikl. 1913—1914, I.—III. 1922; Klinik
30. III.—6. IV. 1914, 2. III.—15. III. 1922. Polikl. III.—V. 1922. Anf. vom
12.—22. J. (1912—1922). Zurzeit noch bestehend.
Form der Anfalle: Bulbi starr, selten verdieht oder leichte Zuckungen, Lid-
flattern, behalt Korperhaltung bei, halt Gegenstande fest. 1 mal Stuhl weiter
getragen, kaut manchmal mechaniseh weiter „wie benommen“. Halt Loffel
Digitized by Goe)gle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Zur Frage der Pyknolepsie.
439
oder Federhalter in der jeweiligen Haltung. Keine Reaktion auf iiuBere Reize.
Nachher frisch, nach rasch gehiiuften Anfallen vielleicht etwas miide. Sagt zu-
weilen nach Anfall „ja“, „was ist denn“. Manchmal leichtes BlaBwerden. Lichtr.
der Pupillen lmal anfangs wahrsch. erloschen, dann prompt. Mehrmals Monate
kiirzei und leichter: Bulbi starr, Lider fallen zuweilen zu, einen Augenblick absent.
Merkt oft Anfall an Unterbrechung der Tatigkeit. Amnesie, kann ein beim An¬
fall zugeworfenes Wort nicht wiederholen. Nie Anfalle anderer Art. Frequenz:
Anfangs unsicher, spater 30, 50 und mehr, meist 5—10. Mehrmals wochen- und
tageweise ausgesetzt. Zahl wechselnd. Auslosende Momente: Erste Anfalle etwa
zu Beginn der Menses. M. ohne besondere Beschwerden, kurz vorher oft H&u-
fung, ebenso vor Erkaltungen, UnpaBlichkeiten, so daB Eltern die Haufung als
Indikator ansehen. Friiher oft Serie gleich beim Aufstehen, auch nach gutem
Schlaf. Abends selten. Bei angestrengtem Stenographieren seltener, so daB Vor-
gesetzter seit Jahren noch keinen Anfall gesehen hat. Anfall aber nicht willkiir-
lich unterdruckbar.
Therapie: Nach wochenlangem Brom haufiger. Nach Luminal 2mal 8 Tage
ausgesetzt. C0 2 Bader, Duschen, Einwickelungen zuin Schwitzen, Homoopathie,
Wunderdoktor, 7 Arsenspritzen erfolglos. Von I.—IV. 1922 wahrend polikl. und
klinischer Behandlung (6 Kalk intrav., Kalktabletten, Elektr. Sugg.-Ther.) An¬
falle von 5 auf 1—2 zuriick, bei der wechselnden Zahl unsicher, ob Folge der
Therapie.
Psychische Konstitution: Psychisch unauffftlliges Madchen, lebhaft, aufgeweckt,
besonders gute Auffassungsgabe. Artig, hoflich, zuvorkommend. Jetzt seit Jahren
geschatzte Stenotypistin bei hoherer Behorde. Aus 1. Klasse abgegangen. Gutes
Gedachtnis. GleichmaBig, heiter. Liestgem. Intell. liber dem DurchschnittAvon
Madchen ihres Standes. 10 Jahre nach 1. Anfall keine epil. Verilnderung. Kor-
perlicher Befund: Im 3. Jahr (1903) Sturz von Treppe, wahrscheinl. harmlos.
Keine nachweisb. Schadelveranderungen. 1914 leichter Nvst.. im iibrigen o. B.
1922 Fac.-Phan. Keine galv. t v bererregb. (Fac.). Starkes Hautnachroten.'^Kraftig
entwickelt, sehr zarte Haut. H credit at: o. B. Diagnose: Pyknol. Spiitform.
Abnorm spates Einsetzen (bei Pubertat) und langes Fortbeetehen. Seltener nach
Luminal.
Fall 27. Georg G.
Beobachtuvgszeit, Alter bei An fallen: Polikl. 1912. Anf. vom 8.—15*/ 2 . J.
1904—1912). Nicht weiter verfolgt.
Form der Anfalle: 1. Form: Bulbi starr geradeaus. In Polikl. 3mal Licht-
starre. Gesichtsausdruck starr. Bleibt stehen, selten leichtes Taumeln. Keine
Steifheit der Glieder, keinerlei krampfh. Zuck. Keine Reaktion auf Kneifen.
Sehr selten (1—2mal im Jahr) Einnassen. Einmal auf Treppe umgefallen. Vor¬
her und nachher frisch. Amnesie, weiB aber zuweilen, daB Anfall war. 2. Form:
GroBe echte epil. Krampfanfalle. Frequenz: 1. Form Anfangszahl nicht bekannt.:
Spater 7 j / 2 J. lang 20—30, manchmal stiindlich 30. 2. Form: 5 Jahre nahc
Anfang der kleinen Anfalle. In 21 / 2 J. 5—8 groBe Anfalle. Auslosende Momente:
1. Form: Nach Meinung der Schwester bei Freude seltener, bei Arger haufiger.
2. Form: Unabhangig von Erlebnissen-
Therapie: Mehrere W 7 ochen Brom, Wirkung unsicher, zeitweise weniger An¬
falle. Andere Medikamente erfolglos. Luminal nicht versucht.
Psychische Konetitution: Bis zum 8. Jahr (Einsetzen der kl. Anfalle) intell.
gut, dann intell. Riiekgang. Nur bis 3. Volksschulklasse. Affektive Veranderung
nicht sicher. Korperlicher Befund: Staphyloma post. Fac. bdsts. mechanisch
iibererregbar. Hereditat: Mutter mit 16 Jahren Schreikrampfe, „nervos“.
29*
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
440
Kurt Pohlisch:
Digitized by
Diagnose: Gen. Epil., 5 Jnhre ausschlieBlich Petit-inal-Anfalle, derZahl und Form
nach wie pyknoleptische, aber friih eiasetzender intell. Riickgang und nach 5 Jahren
echte groBe epil. Anfalle.
Fall 28. Herta Schw.
Beobachtungszeit, Alter bei An fallen: Polikl. 1910—1918. Anf. vom 4.—12. J.
(1910—1918). Nicht weiter verfolgt.
Form der Anfalle: 1. Anfall 6 Mon. alt: sah starr zur Decke, bewuBtlos. Keine
genauen Angaben. Spater 2 Formen. 1. Form: Sagt „mir wird schlecht 11 , blin-
kert, verzielit den Mund, wird etwas blaB, faBt sich eigenartig an die Nase. Vor-
her und nachher frisch. LaBt manchmal Gegenstande fallen. Manchmal Ein-
nassen.l Riickerinnerung fiir Aura, die jedesmal eintritt, dann Amnesie. Dauer
bis zu 3 Min. „nach Uhr gemessen' 1 . 2. Form: groBe, echte epileptische Krampf-
anfalle. Frequenz: 1. Form anfangs ganz vereinzelt, spater oft mehrmals taglich.
aber Tage und VVochen Pausen. 2. Form: Einsetzen 7 Jahre nach den Petit-mal-
Anfallen. 5 Anfalle in 1 Jahr. Auslosende Momente: Beide Formen von An-
fallen ohne auBere Ursachen.
Therapie: Brom wochenlang erfolglos. Nach Luminal wesentl. Besserung
der kleinen und groBen Anfalle.
Psychische Konslilution: 7 Jahre nach Beginn der Anfalle keine epil. Ver-
anderung. Intell. gut. Nicht reizbar. Weichherzig, gutmiitig, leicht lenkbar.
Korperlicher Befund: Dem Alter entsprechend entwickelt. Hereditat: Vater
wahrsch. Tabes. Diagnose: Gen. Epil. 7 Jahre hindurch nur Petit-mal ohne
epil. Wesensveranderung, Form u. Zahl der Anfalle aber von der pyknoleptischen
abweichend: Aura, Mundzuckungen, mehrmaLs Einnassen, anfangs vereinzelt.
7 Jahre nach Beginn der kl. Anfalle groBe epil. Im 1. Jahr ein ungeklarter Anfall.
Fall 29. Johami Str.
Beobachtungszeit, Alter bei AnfaUen: Polikl. 1918. Nachunters. Mai 1922.
Anf. vom 7.—11. J. (1916—1920). Frei seit 2 Jahren.
Form der Anfalle: Bulbi verdreht, oft in seitlichen Endstell., manchmal
nystagm. Zuck., Kopf haufig krampfhaft seitlich gedreht, Arme leicht erhoben,
krainpfh. gestreckt, selten auch leichte Zuckungen. Anfalle aber meist ohne motor.
Reizersch., absenceartig. Bleibt stehen, kritzelt auch weiter. Keine Aura, weiB
oft, daB Anfall war, daB er angesprochen wurde, aber keine Reaktion darauf.
Im 3. Jahr 1 Anfall anderer Form: Lag steif und bewuBtlos im Bett. Frequenz:
Anfangs wahrsch. 5—6 taglich, spater 20—30 taglich. 1920 plotzliches Aussetzen
bei fieberhafter Erkrankung. Seitdem frei. Auslosende Momente: 1. Anfall ohne
erk. Ursache. Haufung bei Schularbeiten, bes. beim Rechnen. Bei Ermiidung
nicht haufiger.
Therapie: Melirere Monate Luminal, dabei haufiger. 1920 Erkaltung mit
41,4°, deliriert. Am Tage vorher noch 20—30 Anfalle. Mit Fieber plotzliches Aus¬
setzen. Noch 4 Wochen bettlagerig.
Psychische Konstilution: Muttersohnchen, zimperlieh, weichlich. Starke Haut*
iiberempfindlichkeit, wahlerisch im Essen. 1918 nach eingehenden Angaben des
Rektors intell. iiber dem Durchschnitt. In letzten Jahren aber deutliche epil.
Veranderung. Schwerfallig, umstandlich geworden. Gedachtnis und Auffassungs-
gabe verschlechtert. Eigenbrodlerisch, gedriickte Stimmung. Kann kein Unrecht
sehen. Korperlicher Befund: 1918 Chvostek. Starke mech. Dbererregbarkeit der
periph. Nerv., beim Druck auf Ulnaris Fingerbewegung. Fac.-Phan. -|—1~. K. 0. Z.
> 6 M. A. (Fac.). Zart, grazil. 1922 Neurol, o. B. Keine Nerv.-t)bererregbarkeit
mehr. Hereditat: Mutter „nervos“. Psychogene Beschwerden versch. Art.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Zur Frage der Pyknolepsie.
441
Diagnose: Wahrsch. gen. EpiJ. Fiir Epil. spricht 1 Streckkrampf im 3. Jahr.
H&ufige primitive motor. Reizerscheinungen bei den geh. kl. Anf. — Wesens-
ver&nderung. Ungewohnl. fiir Epil. ist: 1. 5jfthriges gehauftes Auftreten.
2. Haufung bei Schulaufgaben. 3. Hiiufung bei Luminal. 4. Aussetzen nach
fieberhafter Erkrank.
Fall 30. Toni Gr.
Beobachtungszeit, Alter bei Anfallen: Polikl. 1916, X. 1918, Klinik 9. I. 1922
bis 18.1. 1922. Anf. vom 5.—10i/ 2 J- (1916—1922). Seit i/ 2 J- frei.
Form der Anfalle: Blickt plotzlich abwesend vor sich bin, Bulbi geradeaus
oder nach oben verdreht, zuweilen Zuckungen in Brauen. Unterbricht Tatigkeit,
behalt Korperhaltung bei, Hande in ersten Jaliren manchmal geballt, nie krampfh.
Zuck. Keine Reaktion auf auBere Reize. Farbe unver&ndert. Nach Anfall
sofort frisch, fahrt in Beschaftigung richtig fort. MuB manchmal nachher Urin
lassen, nie Urinabgang im Anfall. Amnesie. Beachtet Anfalle nicht. In letzten
Jahren kiirzer und leichter, nur Moment abwesend. Jan. 1922 1 / 2 tiigiger Dam-
merzustand. Ratios, verwirrt, ging traumhaft planlos umher. Amnesie fiir viele
Einzelheiten. Mit 3 / 4 J. 3mal Anfalle: Krahender Laut „als ob die Luft weg-
blieb“. Keine Zuckungen, kein Blauwerden. 1 / 2 Min. Frequenz: Am 1. Tag be-
stimmt 2, seitdem taglich 3—10 und mehr. 3mal mehrmonatige Pause. AuBer-
halb der Pausen immer gehauft. Auslosende Momente: Unabhangig von iiuBeren
Einfliissen. 1918 und 1920 s / 4 Jahr Pause ohne erkennbare Ursache.
Therapie: 1916 6 Monate 3,0 Brom erfolglos, 1918 1,0 Brom und Bettruhe
erfolglos. Vom Tage der Klinikaufnahme ab ganzliches Aussetzen. Voiher 5—10
taglich. Seit Entlassung (4 Monate) nicht wieder aufgetreten.
Psychische Konstitulion: Bis 5. Jahr haufiges Bettnassen. Im iibrigen unauf-
fallig bis zum 5. J. nach dem Best, der kl. Anfalle. Seitdem (1920—1921) leichter
reizbar, pedantisch, sitzengeblieben wegen schlechten Rechnens. Gedachtnis
und intell. im iibrigen noch gut (1922). Korperliclier Befund: o. B. Hereditftt:
o. B. Diagnose: Gen. Epil.: 3 Anf. im 1.Iebensjahr. Wesensanderung im 10. Jahr
(erst 5 J. nach Best d. kl. Anfalle). 1 Dammerzust. im 10. J. Form u. Verlauf
der kl. Anf. 5 Jahre hindurch groBe Ahnlichkeit mit Pyknol.
Fall 31. Werner G.
Beobachlungszeit, Alter bei Anfallen: Polikl. 1920. Nachunters. 3. I. 1922.
Anf. vom 1.—6. J. (1916—1921). Frei seit 3 / i J.
Form der Anfalle: Rhythmische Armbewegungen ohne Zuckungen. Kopf
gebeugt. Bulbi nach oben verdreht. Korperhaltung im iibrigen beibehalten.
Handlungen unterbrochen. Anfalle immer in ders. Form. Dauer 1—3 Sek. Fre¬
quenz: 10, 20, 30 Anfalle taglich. Wahrsch. von Anfang an gehauft. Tageweise
seltener. Nie Pause. Juli 1921 plbtzliches Aussetzen nach Unfall. Auslosende
Momente: Die ersten Anfalle nicht beobachtet. Haufung bei Angst und Arger.
Therapie: Brom mehrere Jahre erfolglos, ebenso andere Medik. Plotzl. Aus¬
setzen nach Verletzung: Quetschung der gr. Zehe mit anschl. 14tag. Bettruhe.
Seitdem kein Anfall mehr.
Psychische Kovsliiution: Einziges Kind, interessiert, „zu lebhaft". Spielt
gem mit Kindern, ist meist vergniigt. Scheu gegen Fremde. Mit allern zufrieden.
Nicht reizbar, nicht launisch. Intellektuell gut. Keine psych. Verand. 6 Jahre
nach 1. Anf. Seit 1 Jahr in Schule. Gutes Gedachtnis, aber schlechtes Rechnen.
Korperhcher Befund: 1922 klein, dem Alter entsprechend entwickelt. Neurolo-
gisch o. B. Leichter hydrocephaler Schadel 51,5 (Norm 50,0). Hereditat: Mutter
eklamptische Krampfe bei Geburt des Pat. Diagnose: Pyknol.? Epil.? Auffallend
Digitized by Goe)gle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
442
Kurt Pohlisch:
Digitized by
friihea Einsetzen fiir Pyknol. (im 1. Jahr). Hydrocephalus! Diagn. trotz 5 jahr.
Anfallszeit nicht sicher.
Fall 82. Erika S.
BeobacMungazeit, Alter bet AnfaUeii: Polikl. 1918. Anf. vora 3.—8. J. (1903
bis 1908). Nicht weiter verfolgt.
Form der Anfdlle: Blinzeln, Bulbi verdreht, Pupillen (2mal in Polikl.) weit,
Lichtreakt. aufgehoben. Gesichtsfarbe unverandert. Korperhaltung bleibt; Mus-
kulatur nie gespannt. Selten leichtes Taumeln. Zuweilen Urinabgang, aber nicht,
wenn zu regelm&Biger Blasenentleerung angehalten. Seit Bestehen der Anfalle
wochentl. lmal Bettn&ssen nachts. Anfalle auch nachts. Keine Reaktion auf
Anruf. Gcgenst&nde fallen oft aus der Hand, nie Zerdriicken. WeiB nicht, daB
Anf all war. Dauer bis 10 Sek. Anf all im Schlaf: Bleibt liegen, Lidflattern, Bulbi
nach oben verdreht. Keine Verf&rb. Schl&ft weiter. Wahrsch. haufiger Ein-
nassen. Frequenz: Vom 1. Tag ab gehauft, durchschnittl. 20—30. Seit 5 Jahren
keine Pause. Auslosende Moment©: Haufiger vormittags und bei Schularbeiten.
Beim Spielen seltener. In einer Nacht 6—8 Anfftlle aus Schlaf heraus von Mutter
beobachtet.
Therapie: 3 Monate Sedobrol, 2 Monate 0,1 Luminal. Eisenpriiparate er-
folglos.
Psychische Konslitution: Mit 2 Jahren kurze Zeit gestottert. Sehr anhftng-
lich, brav, freundlich. In Schule 4. Platz. Intell. auch nach Binet gut. Nicht
reizbar, gute3 Gedachtnis. Korperlicher Befund: Sehr schwfichlich, grazil. Ha¬
bitus wie Bjfthrig (8 J.). Mit l 3 / 4 J. Rachitis. Rach. Z&hne. Kein Fac.-Phan.
K. 0. Z. > 5 M. A. (Uln. Med.). Hereditiit: GroBv. (vat.) epil. Krampfe. Tante
(miitt.) Krampfe. Diagnose: Pyknol.? Epil.? Fut Epil. sprechen nachtliche
Anfalle, haufiges Einnassen bei Anf alien u. Epil. in Aszond. Diagn. trotz 5ja.hr.
Anfallszeit nicht sicher.
Die in den beigeftigten Krankengeschichten angefiihrten Falle
weisen ohne weiteres auf das Fehlen irgendwelcher pathognomonischen
Merkmale bei der Pyknolepsie hin. Diese Erfalirung werden wir bei
Besprechung der einzelnen Symptome immer beriicksichtigen miissen.
Der Form der Anfalle nach sind von der Pyknolepsie alle mor-
phologischen Variationen auszuschlieBen, die nicht der nachstehend
geschilderten scharf umrissenen Ablaufsform zugehoren, die von Fried¬
mann im Gegensatz zu den krankhaften motorischen Entladungen als
,,passiver Vorgang“ bezeichnet wurde, d. h. als eine ohne motorische
Reize sich abspielende kurze Ausschaltung der hoheren Denk- und
Willenstatigkeit. Daher denn auch die viel groBere Monotonie der
pyknoleptischen Anfalle. Zwar kann sich die genuine Epilepsio Jahre
hindurch in derselben eintonigen Verlaufsform entwickeln, jedoch
pflegen fruiter oder spater andere Anfallsformen dieser vielgestaltigen
Krankheitsgruppe hinzuzutreten oder sind schon (Fall 28 und 29)
Jahre vor dem Einsetzen der gehauften kleinen Anfalle, oft ganz ver-
einzelt und anfangs nicht sicher als epileptisch zti deuten, vorange-
gangen. Der pyknoleptisehe Anfall dagegen bleibt dauernd in einem
eng umschriebenen Formenkreis. Aurasymptome wie Schwindel-,
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Zur Frage der Pyknolepsie.
443
Angst-, Beklemmungsgefiihle, Benommenheit fehlen, ebenso im Nach-
stadium des Anfalls psychische Alterationen wie Mattigkeit, Benom¬
menheit, Dammer- und Schlafzustande, selbst nicht nach einem „Status
pyknolepticus“ (Oppenheim). Miidigkeitsgefiihle habe ich, entgegen
den Friedmannschen und Stockerschen Mitteilungen, bis auf einen
einzigen, in diesem Punkte jedoch nicht sicher geklarten Fall (13), nicht
erlebt. Die BewuBtseinsstorung setzt ruckhaft ein und klingt fast
ebenso rasch wieder ab. Die Kinder setzen ihre Beschaftigung fort als
sei nichts vorgefallen, merken meist gar nichts von dem abgelaufenen
Anfall, oder sie gebrauchen, allerdings selten, einen Augenblick zur
Wiederorientierung, nach AuBerungen zu schlieBen wie „ach ja“, „was
habe ich gesagt?“, ,,was ist detm?“. Meist besteht Amnesie. Versuche,
vorgesprochene Worte nach dem Anfall wiederholen zu lassen, fielen
immer negativ aus, bestenfalls war eine dumpfe Ruckerinnerung fur
das Vorgesprochene feststellbar. Dagegen wurden nach dem Anfall
Hautreize wie Stechen und Kneifen haufiger richtig lokalisiert. Manche
Kinder lernen aus der Beobachtung, daB sie ihre Tatigkeit unter-
brochen haben, den SchluB ziehen, daB ein Anfall abgelaufen ist und
konnen auf diese Weise die tagliche Anfallszahl angeben. Eine Empfin-
dung fur die BewuBtseinsveranderung wahrend des Anfalls scheint
nicht zu bestehen, nur sehr selten hort man von den Kindern auf aus-
driickliches Befragen hin AuBerungen wie „mir war so komisch“. An-
dererseits ist die Bewu Btseinstriibung nie so stark, daB grobe Storuugen
im statischen Gleichgewicht auftreten. t)ber ein kurzes Schwanken,
Einknicken in die Knie, Verlust der Aufrechterhaltung des Kopfes,
Sinken der Arme geht die Tonusherabsetzung nicht hinaus. Meist
wird die jeweilige Korperhaltung beibehalten: der erhobene Arm ver-
harrt in seiner Lage, die Hand halt in natiirlicher Weise ohne krampf-
haftes Zusammenballen Gegenstande fest, das Mimikspiel ist erloschen,
der Gesichtsausdruck ist leer, inhaltslos. Neben einem automatischen
Ausweichen von Hindernissen und planlosen Sichumdrehen, Weiter-
gehen in anderer Richtung, finden sich traumhaft-delirante Tast-,
Greif-, Klatschbewegungen, Spreizen der Finger, Lallcn unverstand-
licher Worte oder Neubildungen wie „Schneesalte“ und Zungenbewe-
gungen. Vor dem Anfall eingeleitete Bewegungsimpulse konnen mecha-
nisch zur Ausfiihrung kommen; das Kind geht weiter, manchmal in
veranderter schleppender Gangart, der Loffel wird automatisch zum
Munde weitergefiihrt, der Bissen zu Ende gekaut.
Alle diese nicht krampfhaften motorischen Reizerscheinungen
komplizieren die Grundform, das einfache absenceartige Bild, nur ge-
legentlich oder phasenweise und finden sich, wie es scheint, sowohl in
den ersten wie in den letzten Anfallsjaliren seltener. Krampfhafte
Reizerscheinungen sind zwar nicht auszuschlieBen, bleiben aber an ein
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
444
Kurt Pohlisch:
engumschriebenes Gebiet gebunden und stellon nur einfachste mo-
torische Entladungen dar wie Lidflattern, Bulbiverdrehen, meist nach
oben, selten in seitlichen Entstellungen oder nystagmusartige Bewe-
gungen; gelegentlich aucb Zuckungen im Corrugator und Frontalis.
Dagegen bleiben erfahrungsgemaB andere Korperregionen verschont.
Krampfhaftes Kopfdrehen, streckkrampfahnliche Bewegungen der Ex-
tremitaten, Zuckungen ira Facialis sind von der Pyknolepsie auszu-
schlieBen, wie besonders deutlich Fall 28 u. 29 zeigen, bei denen Jahre
hindurch nur derartige rudimentare Anfallserscheinungen bei sonstiger
weitgehender Ahnlichkeit des Verlaufsbildes mit der Pyknolepsie be-
standen, die sich dann doch nach Jahr und Tag als sicher zur genuinen
Epilepsie gehorig herausstellten.
Vasomotorische Storungen treten recht haufig im Verlauf des An-
falls auf, doch nicht so gesetzmaBig, daB sie als zum Krankheitsbild
notwendig angesehen werden und einen pathogenetischen Hinweis
geben konnen. t)ber ein kurzes kaum merkliches Erblassen kommt es
meist nicht hinaus. Seltener tritt nach dem Anfall eine kurze Kon-
gestion auf.
Unfreiwilliger Urinabgang scheint nur bei gefiillter Blase vorzu-
kommen, wofiir neben dem sparlichen Auftreten die bei einem Kinde
gemachte Erfahrung sprieht, daB eine haufiger sich einstellende In-
kontinenz durch Anhalten zu regelmaBiger Blasenentleerung behoben
werden konnte. Als Unterscheidungsmerkmal zur genuinen Epilepsie
kann die Inkontinenz ebensowenig wie die Pupillenstarre verwertet
werden, die zwar nur selten, aber bei mehreren unserer Falle ein-
wandfrei (in der Dunkelkammer) nachweisbar war.
Der kaum veranderte Tonus der Korpermuskulatur, die w r enig tiefe
BewuBtseinstriibung und die kurze Anfallsdauer erklaren den harm-
losen Verlauf des einzelnen Anfalles, der sich ja auch meist so wenig
augenfallig abspielt, daB er nicht selten von Nichtkundigen, auch von
Arzten, iibersehen wird. Bei den fast 100000 im Laufe der Jahre bei
unsern Kindern abgelaufenen Anfallen ist bis auf einen ohne Folgen
abgegangenen Sturz vom Turngeriist und Anrennen gegen einen Baum
kein ZwLschenfall zu verzeichnen, trotz des Auftretens der Anfalle in
heiklen Situationen wie beim Schwimmen, Klettern auf Baumen, Trep-
pensteigen, im Getriebe der GroBstadtstraBe. Der AusschluB vom
Schulunterricht, standige Bewachung bei Ausgangen sind also iiber-
fliissige VorsichtsmaBregeln, um so mehr, als durch die damit ver-
bundene Absperrung vom Umgang mit Gleichaltrigen die psycho-
pathischen Eigenheiten der pyknoleptisehen Kinder anstatt abge-
schwacht nur noch verstarkt. werden. Unterbringnug in eine Epilep-
tiker-Anstalt ist nicht zu empfehlen. Die von den Angehorigen be-
obachtete iibergroBe Sorgfalt steht in eigentumlichem Gegensatz zu der
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Zur Frage der Pyknolepsie.
445
Sorglosigkeit, mit der oft schwere epileptische Anfalle unbeobachtet
bleiben. Hier muB der Arzt erzieherisch auf die Eltern einwirken und
zu verhindern suchen, daB pyknoleptische Kinder von Arzt zu Arzt
und schlieBlich zum Kurpfuscher und Wunderdoktor gebracht werden
und sich gerade bei diesen empfindsamen Psychopathen das BewuBt-
sein, krank zu sein, festsetzt und zu Riicksichten bei ErziehungsmaB-
nahmen fiihrt, die selbst bei einem schwer kranken Kinde unheilvoll
wirken miissen.
Das Lebensalter, die Krankheitsdauer und Anfallszahl
weisen im allgemeinen bestimmte GesetzmaBigkeiten auf. Die Krank-
heit ist im allgemeinen an die Zeit zwischen Schulbeginn und Einsetzen
der Pubertat gebunden und heilt dann restlos aus. Meist bestehen die
Anfalle unausgesetzt wahrend dieser Jahre; sie konneii aber auch von
mehrwochigen oder mehrmonatigen Pausen unterbrochen sein. Da-
gegen findet sich kein vereinzeltes, tageweises Aussetzen, es sei denn
in der Zeit des endgultigen Abklingens. Als Minimum der Krankheits¬
dauer ergibt sich nach unsern ausgeheilten Fallen eine 4jahrige, als
Maximum eine lOjahrige Anfallszeit. Bei Beginn der Anfalle sind die
Kinder durchschnittlich 4—6 Jahre alt, das jungste Kind der Falle
1—11 war 3 Jahre, das iilteste 9 Jahre alt. Das Aufhoren kann Jahre
vor oder nach dem Beginn der ersten Pubertatserscheinungen eintreten,
bei unsern Fallen wurde Aussetzen je einmal im 9. und 10. Jahre (frei
seit 5 bzw. 2 Jahren) und 3mal im 15. und 16. Jahr (1—2 Jahre nach
der ersten Menstruation) beobachtet.
Im Prinzip dieselben Ergebnisse liefern die noch nicht zum Ab-
schluB gekommenen Beobachtungen (Fall 12—26); hiernach scheinen
echte pyknoleptische Falle auch erst im 10.—11. Lebensjahr einzu-
setzen. Ein pedantisches zeitliches Fixieren des Auftretens und Aus-
setzens der Anfalle ist also zur Rechtfertigung der Diagnose Pyknolepsie
nicht angebracht, deshalb mochte ich den klinisch und polikliniscli
sehr eingehend beobachteten Fall 26 trotz des Bestehens der Anfalle
vom 12.—23. Jahr wegen der sonstigen Ubereinstimmung mit dem
pyknoleptischen Krankheitsbild nicht zur genuinen Epilepsie rechnen,
sondern als Spatform ansehen. Fraglicher durfte wegen Einsetzens
bereits im 1. Jahr trotz sonstiger 5 Jahre hindurch gehender "Cberein-
stimmung mit der Pyknolepsie Fall 31 sein.
Charakteristisch fur Pyknolepsie ist geliauftes Auftreten vom ersten
Anfallstage ab. 5—10 Anfalle taglich in der ersten Zeit trifft man so
regelmaBig an, daB bei einer geringeren Zahl an genuine Epilepsie zu
denken ist. Nach Monaten oder Jahren kommen sogar tage- und wochen-
lange Exacerbationen bis zu 100 und mehr am Tage vor, ohne daB da-
durch im Gesamtbild, besonders in der gunstigen Prognose, eine Ver-
anderung eintritt. Man hat den Eindruck, als ob der Anfallsmechanis-
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
446
Kurt Pohlisch:
mus, einmal eingespielt, ohne groberen AnstoB sich unaufhaltsam fort-
setzt. Dafiir spricht neben dem explosioiisartig gehauften Einsetzen
auch das Fehlen von Zeiten mit nur vereinzelten Anfallen, ausgenom-
raen in den Monaten des endgiiltigen Abklingens. Im iibrigen besteht
aber gehauftes Auftreten oder vollig freie Intervalle.
Die Abhangigkeit von exogenen Momenten ist zweifellos
groBer als bei der genuinen Epilepsie. Allerdings lauft das Gros der
pyknoleptischen Anfalle automatisch und unbeeinfluBt von Milieu -
einfliissen ab, jedoch horen wir in der Anamnese immer wieder, daB sich
Haufungen in bestimmten Situationen, besonders unangenehmen, ein-
stellen. Der von anderen Autoren geauBerten Meinung, wonach der
erste Anfall durch eine psychische Emotion ausgelost worden ist, kann
ich im allgemeinen nicht beitreten. Sicher nachweisbar ist bei den
vorstehenden Fallen eine erkennbare auBere auslosende Ursache beim
ersten Anfall nur bei Fall 21 (Schreck durch Schiisse beim Kapp-
Putsch), moglich bei Fall 2 und 16. Die Neigung der Angehorigen, in
auBeren Ursachen eine Erklarung fur das Zustandekommen der An¬
falle finden zu wollen, fiihrt, wie ich mehrmals nachweisen konnte,
leicht zu falschen anamnestischen Angaben, um so eher, als diese oft
erst nach Monaten oder Jahren gemacht werden. Retrospektiv wird
dann ein zeitlich dem Anfallsbeginn nicht fernliegendes besonderes Er-
lebnis als auslosendes Moment angegeben.
Auf das Zustandekommen von spateren Anfallen wirken jedoch
stark affektbetonte Erlebnisse wie Arger, Angst, Schreck nicht selten
begiinstigend ein.
Auffallige Haufung durch das bei der arztlichen Untersuchung her-
vorgerufene Spannungs- und Erwartungsgefiihl erlebte ich mehrmals,
ebenso beim Elektrisieren, beim Besuch der Kinder durch Angehorige
auf der Station und bei Beurlaubungen ins Elternhaus, in der Schule
bei Situationen wie Deklamieren, besonders haufig beim Rechnen, wie
dies auch in einem Fall (20) experimentell nachgewiesen werden konnte.
Eine Fahigkeit, die Anfalle willkiirlich zu unterdriicken, besteht, ent-
gegen den Beobachtungen anderer Autoren, bei unsern Fallen nicht.
Die Eltern berichten auch ubereinstimmend, daB alle padagogischen
MaBregeln scheitern.
Von Tageszeiten sind nicht selten die Vormittagsstunden und die
Zeit nach dem Aufstehen reicher an Anfallen als der Abend, eine Be-
obachtung, die gegen die Friedmannsche Annahme spricht, daB Er-
miidung begiinstigt,
Anfalle aus dem Schlaf heraus machen nach unseren Erfahrungen,
im Gegensatz zu der Friedmannschen Ansicht, die D'.agnose Pykno-
lepsie unwahrscheinlich. Nur in einem der 26 Falle (18) werden in der
Anamnese mehrere nachtliche, jedoch nicht genau beobachtete und
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Zur Frage der Pyknolepsie.
447
wahrend der Klinikbehandlung nicht bestatigte Anfalle angegeben,
dagegen konnten bei alien anderen Kindern durch eingehendes anam-
nestisches Nachforschen und teilweise auch durch Klinikbeobachtung
Anfalle aus dem Schlaf heraus ausgeschlossen werden.
Die Thera pie liefert auBerst undankbare Ergebnisse. Brom wurde
bei 21 Fallen langere Zeit hindurch gegeben, 7mal zeigte sich Haufung
der Anfalle, 12mal keinerlei BeeinfluCbarkeit und nur 2mal ein vor-
iibergehender nicht nennenswerter Erfolg. Die Nutzlosigkeit der Brom-
priiparate ist. nach diesen und nach vielen von anderer Seite gemachten
Erfahrungen so auffallend, daB man sie als eins der differentia ldiagnosti-
schen Merkmale gegen die genuine Epilepsie verwerten kann. Dagegen
kann ich dies beim Luminal nicht bestatigen. Bei 17 mit Luminal
behandelten Kindern wurde 6mal eine voriibergehende Besserung bei
Fallen erzielt, die gegen Brom wirkungslos geblieben waren, 8mal
blieb die Anfallszahl vollig unverandert, 3mal trat augenfallige Hau¬
fung ein. Eine Suggestivwirkung des Luminals ist bei der Nutzlosig¬
keit der bei diesen Fallen vorher angewandten anderen Medikamente
und SuggestivmaBnahmen auszuschlieBen.
Von dem Gedanken ausgehend, daB eine Verwandtschaft mit der
spasmophilen Diathese moglich sei, wurden mehrmals Kalkpr¶te
intravenos oder per os gegeben, jedoch vergeblich. Der grazile Korper-
bau und die blasse Gesichtsfarbe mancher Kinder legten den Versuch
nahe, mit Eisen, Arsenpraparaten und Phosphorlebertran auf dem
Wege der Verbesserung des Stoffwechsels die Anfalle zu bekampfen —
ebenfalls ohne Erfolg. Das Verfolgen des Krankheitsverlaufes einiger
alter Falle wies nun darauf hin, daB eine BeeinfluBbarkeit der Anfalle
durch exogene Momente nicht ohne weiteres abzulehnen ist. Bei einem
Knaben (8) horten sicher nachweisbar die Anfalle nach 8jahrigem Be-
stehen am Morgen der Kommunion von der Stunde der Feier ab plotz-
lich auf und haben seit nunmehr 2 Jahren ausgesetzt. Ein Madchen (5)
verlor nach 4jahrigem Bestehen im 11. Lebensjahr durch die Auf-
nahme in die Gottinger Klinik ohne besondere Behandlung die Anfalle
und ist seitdem — 3 Jahre lang — frei. Ein gleiches jahes Aussetzen
konnte bei 2 Fallen durch Aufnahme in unsere Klinik beobachtet
werden (25 und ein nur 1 Jahr hindurch beobachteter und deshalb
hier nicht besonders aufgefiihrt-er Fall). Wenn wir noch Fall 31 (Aus¬
setzen nach Schreck infolge Gberfahrens der groBen Zehe) hinzunehmen,
so ergeben sich gemigend Beweispunkte fiir die Annahme, daB stark
affektbetonte Erlebnisse die Anfalle coupieren konnen. Offenbar kann
lange Bettruhe ebenso wirken, nach Fall 12 zu schlieBen, bei dem nach
einer Anfallsdauer von vielen Jahren eine interkurrente Erkrankung —
Knochenhautentzundung — das Kind zu einer Gwochigen Bettruhe
zwang, in deren Verlauf die erste Anfallspause einsetzte mit anschlielk'ii-
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
448
Kurt Pohlisch:
dem vielleicht dauerndem Freibleiben. Fall 1 (Nierenentziindung)
und 6 (fieberhafte Erkrankung?) liefern weitere Beispiele zu dieser Be-
obachtung, die iibrigens auch von anderen Autoren gemacht worden ist.
Richtlinien fiir therapeutisches Handeln waren also gegeben: Bett-
ruhe und SuggestivmaBnahmen. Heilbronner und Engelhard sind
diesen Weg bereits gegangen und berichten iiber Erfolge. Bei der
Mehrzahl der 9 in unserer Klinik aufgenommenen Kinder konnte ich
ebenfalls eine Besserung beobachten. Die Anfallszahl ging durch-
schnittlich auf die Halfte bis ein Drittel zuriick, mehrmals setzten die
Anfalle sogar ganz aus; die Besserung hielt jedoch meist nicht langer
als nur Tage oder Wochen iiber die Dauer der Klinikzeit hinaus an,
auch wenn dieselbe Suggestivmethode ambulant weiter durchgefiihrt
wurde. Neben mehrtagiger Bettruhe und Isolierung habe ich wochen-
und monatelang den elektrischen Strom mit der notigen Verbalsug-
gestion angewandt, fast immer mit anfanglichem Erfolg, den ich wah-
rend der Klinikbehandlung selbst nachweisen konnte und den nach
der Entlassung auch die Angehorigen berichteten — bis dann iiber
kurz oder lang die alte Anfallszahl wieder auftrat und die anfangs
von der Wirksamkeit iiberzeugten Eltern ihre Kinder immer unregel-
maBiger zur Weiterbehandlung schickten. Der Erfolg des Klinik-
aufenthaltes ist also offenbar auf das geregeltere, ruhigere Leben zuriick-
zufiihren. Dafiir spricht auch die Beobachtung, daB psychische Emo-
tionen und anstrengende geistige Leistungen, die ja wahrend der Kran-
kenhauszeit bedeutend geringer sind, die Zahl der Anfalle zu steigern
pflegen. Klirna- und Ortswechsel, zu denen man so gern greift, wenn
alles andere versagt, iiben so gut wie keinen bessernden EinfluB aus —
bis auf den Klinikaufenthalt, den man also, wenn Epilepsiemedika-
mente versagt haben, fiir mehrere Wochen empfehlen kann.
Mit der Besprechung des psychischen Habitus kommen wir zu
einer der wichtigsten Seiten des pyknoleptischen Krankheitsbildes, da
einer der grundsatzlichen Unterschiede zwischen der genuinen Epilepsie
und Pyknolepsie in der Frage gipfelt: Ist bei der Pyknolepsie eine Er¬
krankung der Personlichkeit im Sinne einer fortschreitenden epilep-
tischen Wesensveranderung auszuschlieBen? Zur Entscheidung dieser
Frage halt Bolten trotz der allgemeinen Erfahrung, daB gerade die
Petit-mal-Formen in wenigen Jahren zu ausgesprochenen psychischen
Veranderungen fiihren, eine Wartezeit von 7 und mehr Jahren fiir not-
wendig. Solche psychischen Spatveranderungen kommen allerdings
beim epileptischen Petit-mal vor, z. B. Fall 28 (7 Jahrc nach Anfalls-
beginn noch unveriindert), sie sind jedoch seiten. Eine Beobachtungs-
zeit von 5 —14 Jahren (durchschnittlich 10 Jahren) bei 11 seit Jahren
abgeklungenen Fallen (1—11) diirfte geniigen, um eine noch spiiter
einsetzende psychische Alteration als unwahrscheinlich anzunehmen.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Zur Frage der Pyknolepsie.;
449
Psychische Auffalligkeiten bestehen allerdings bei pyknoleptischen
Kindem, aber durchaus anderer Art. Der psychische Habitus steht
raeist in so augenfalligem Gegensatz zu dem der Kinder mit jahre-
langen kleinen echten epileptischen Anfallen, daB dieser Unterschied
direkt differentialcliagnostisch zu verwerten ist: Bei den epileptischen
Kindem affektive Veranderungen, Reizbarkeit, Zorn- und Wutaus-
briiche, also tiefgehende Affekte, spater dann die charakteristische
intellektuelle Einengung, Diirftigkeit, das Schwerfallige, Pedantische,
Umstandliche. — Diesen psychischen Veranderungen, die so charak-
teristisch sind, daB man aus ihnen allein die Diagnose genuine Epi-
lepsie stellen kann, steht bei der Pyknolepsie ein gerade entgegen-
gesetzter psychischer Typus gegeniiber: Lebhafte, quirlige Kinder mit
rasch wechselnden, weniger tief gehenden Affekten, schneller Wechsel
zwischen Lachen und Weinen, in ihren Entschliissen eher sprunghaft;
geringe Aufmerksamkeit bei guten oder sehr guten intellektuellen An-
lagen. Die meisten stehen intellektuell iiber dem Durchschnitt ihres
Alters, sind altklug, sehr interessiert, erfassen sofort das Wesentliche
einer Sache, und haben nicht die harmlose Frische anderer Kinder.
Dazu kommen neuropathische Ziige wie Hautuberempfindlichkeit,
abnorm langes Bettnassen, unregelmaBiger Schlaf, Neigung zu krankeln,
wechselnder Appetit, iible Angewohnheiten. Frei von psychopathischen
Ziigen sind nur Fall 5, 6 und 26, jedoch lassen sich bis auf Fall 26 bei
Eltern und Gesclvwistern degenerative Ziige nachweisen. Abweichend
von dem iiberlebhaften, uberempfindlichen Typus ist der brutal-
egoistische Knabe Franz B. (Ichthyosis). Intellektuelle Minderwertig-
keit konnte ich in keinem Falle feststellen; 2 zu kurz beobachtete und
deshalb hier nicht mitgeteilte Falle mit Debilitat lieBen die Diagnose
Pyknolepsie bislang nicht ausschlieBen.
Unsere Kasuistik uberrascht durch den auffallend hohen Prozent-
satz von Kindern, die als einziges in der Familie aufgewachsen sind —
unter den 11 seit Jahren abgeklungenen Fallen nicht weniger als 5,
einschlieBlich eines sogenaimten ,,Nesthakchens“ (1), bei dem bis zur
nachstalteren Schwester ein Unterschied von 11 Jahren besteht. Hier
ist also ein Zuviel an Sorgfalt und Verkehr mit Erwachsenen, wie
dieser Fall besonders kraB zeigt, eher noch groBer als bei den ein-
zigen Kindern.
Die noch nicht ausgeheilten Falle (12—26) weisen ein ahnliches
Zahlenverhaltnis auf; unter 15 Kindern 7 einzeln erzogene, darunter
2 Nachkommlinge (6—9 Jahre jlinger als die nachsten Geschwister) und
3 Uneheliche. Bemerkenswerterweise sind 2 von diesen 3 unehelichen
Kindern in sozial geordneten Verhaltnissen aufgewachsen und gehoren
nicht zu der viel groBeren Gruppe der verwahrlosten unehelichen Kin¬
der. Beide sind von GroBeltern und Mutter verhatsehelt worden und
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
450
Kurt Pohlisch:
standen, wie die meisten der pyknoleptischen Kinder, unter dem un-
giinstigen EinfluB einer venveichlichenden, nicht energischen Erziehung.
Es sind also insgesamt unter 26 Kindern 12 als einzige Kinder
erzogen worden. Yon den restlichen 14 finden sich fast immer in der
Anamnese zahlreiche Hinweise auf ahnliche Erziehungsfehler. Die Kin¬
der entstammen zum groBten Teil Berufen wie: gelernter Arbeiter,
kleiner oder mittlerer Beamter, Gewerbetreibender, Kellner, Reisender,
Techniker, also einer Bevblkerungsschicht, die wahrend und vor der
Kriegszeit in der Lage war, ihr einziges Kind oder wenige Kinder iiber-
trieben sorgfaltig zu erziehen. Nur eins der 26 Kinder stammt aus einer
sozial tiefen Schicht (Fall 13, uneheliches verwahrlostes Madchen),
trotzdem gerade diese Kreise einen nicht geringen Teil der Besucher-
zahl unserer Poliklinik ausmachen.
So unverkennbar der EinfluB der Milieuwirkung auf das Zustande-
kommen der psychopathischen Ziige ist, die wir bei den Kindern an-
treffen,so liiBt sich andererseits bei nichtwenigen eine nervose hereditare
Belastung nachweisen, bemerkenswerterweise in keinem der 26 Falle
Epilepsie und Alkoholismus, eine gegen die epileptische Genese der
pyknoleptischen Anfalle sprechende Tatsache, wenn man berucksich-
tigt, wie oft sich beide Krankheitsformen in der Aszendenz der epilep-
tischen Kinder vorfinden. Bei der Halfte unserer Falle trafen wir
nervos-degenerative Ziige der Eltern an, besonders bei der Mutter
Neigung zu hysterischen Reaktionen und eine Reihe anderer psychi-
scher Auffalligkeiten, die meist auf eine abnorm gesteigerte Erregbar-
keit hinwiesen 1 )- Auch bei Geschwistem der von uns behandelten
Kinder Avaren nach den anamnestischen Angaben mehrmals derartige
Besonderheiten vorhanden. Pyknolepsie selbst konnte bei keinem
Aszendenten nachgeAviesen Averden.
Korperlich fiel oft der grazile Bau, die blasse Gesichtsfarbe und
der besonders bei den Madchen unter dem Durchschnitt stehende
Kraftezustand auf. Mehrere Kinder Avurden deshalb mit 6 Jahren vom
Schulbesuch zuriickgestellt. Arhythmie des Pulses fand sich mehrmals.
Der durch die vorstehenden Falle erbrachte NachAveis eines be-
stimmten psychopathischen Habitus der pyknoleptischen Kinder be-
rechtigt zu der Hoffnung, eine befriedigende Antwort auf die A'iel
diskutierte Frage nach der Pathogenese der Pyknolepsie zu geben.
Die A’on Mann angegebene enge Verwandtschaft mit der spasmo-
philen Diathese besteht sicherlich nicht; nur ein einziger Fall (.5)
x ) Stargardter und besonders Husler wiesen in kiirzlich erschienenen
Arbeiten, die mir erst nach Abfassung meiner Ausfuhrungen bekannt wurden,
eingehend auf die erbliche psychopathische Belastung hin. Beide kommen in
ihren Beobachtungen iiber die psychopathische Konstitution der pyknoleptischen
Kinder zu ahnlichen Ergebnissen wie Verf.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Zur Frage der Pykno’epsic.
451
bot einwandfrei als spasmophil anzusprechende Symptome (Zahn-
krampfe des Pat. selbst und der 6 Geschwister). Die von Mann als
Beweis der spasmophilen Genese angefiihrte elektrische Gbererregbar-
keit der peripheren Nerven war in keinem Fall nachweisbar; Werte
unter 5 M. A. bei der K. 0. Z. konnten niemals erhoben werden. Die
Untersuchung wurde an a / 3 der angefiihrten Falle, mei&t am Facialis,
mehrmals auch am Medianus und Ulnaris durchgefiihrt. Das nicht
selten beobachtete Facialis-Phanomen kann bei dem Fehlen jedes
anderen spasmophilen Anzeichens nur als neuropathisches Symptom
bewertet werden.
Auch zur Narkolepsie Gelineaus laBt sich eine Verwandtschaft
nicht nachweisen. Der pyknoleptische Anfall hat zu wenig Uberein-
stimmendes mit den langer dauernden, schlafahnlichen Zust&nden der
Narkolepsie, die uberdies bisher fast nur bei mannlichen Erwachsenen
beobachtet wurden. Die von Friedmann fur einen Teil seiner ge-
hauften kleinen Anf&lle angegebene Ahnlichkeit mit narkoleptischen
Zustanden bezieht sich auf Anfallsformen, deren ganzes Rrankheits-
bild nicht die scharf umrissene Einheitlichkeit darstellt, die nach un-
seren Erfahrungen fiir die Diagnose Pyknolepsie unbedingt gefordert
werden muB. Friedmann, von dem Gedanken geleitet, alle bei Kin-
dern und Erwachsenen gehauft auftretenden kleinen Anfalle, die nicht
epileptischer und nicht rein hysterischer Natur sind, zu klassifizieren,
bringt alle diese Formen unter die Bezeichnung ,,narkoleptische Absen-
cen“. Durch diese gezwungene Zusammenfassung von Anfallen ver-
schiedener Pathogenese zu einem einzigen Krankheitsbegriff wurde
viel Verwirrung in die Erkenntnis der pyknoleptischen Anfalle ge-
bracht. Die nosologische Einteilung mancher Anfallsformen, besonders
des Kindesalters, muB eben nach unsern heutigen noch zu geringen
Kenntnissen einer Zeit iiberlassen bleiben, die besser in dem groBen
Gebiet zwischen Epilepsie und Hysterie zu gruppieren versteht. Scharf
herausheben aber sollte man klinisch wie genetisch klar zu erfassende
Typen wie die Pyknolepsie, auf deren klinische Einheit Friedmann
— dies Verdienst bleibt ihm unbenommen — als erster, mehr intuitiv
als auf groBes Erfahrungsmaterial gestiitzt, hingewiesen hat. Vermen-
gungen mit anderen Anfallsformen flihren uns in die Zeit der Hystero-
Epilepsie-Diagnostik zuriick.
Auch Heilbronner und Engelhardt halten sich nicht frei von
Vermengungen der Pyknolepsie mit Anfallen anderen, besonders solchen
hysterischen Charakters. Aber auch Falle von zweifellos echter Pykno¬
lepsie, bei denen Besserungen durch SuggestivmaBnahmen und Ab-
hangigkeit von Erlebnissen beobachtet wurde, sehen beide Autoren
als auf hysterischer Basis entstanden an. Nach unseren Erfahrungen
sprechen eine Reihe triftiger Momente gegen eine hysterische Grand-
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
452
Kurt Pohlisch:
Digitized by
lage: Die GleichmaBigkeit und Umschriebenheit der Anfallsform, die
weitgehende Unabhangigkeit der einzelnen Anfalle von Erlebnissen.
Die Kinder sind iiberhaupt in einem Alter, in dem hysterische Reak-
tionen sebr selten sind; eine eigentliche hysterische Charakteranlage
laBt sich bei ihnen nicht nachweisen, auch fehlt beim einzelnen Anfall
jedes Demonstrative. Wie wenig es gelingt, pyknoleptische Anfalle
nachzubilden, geht aus folgender Beobachtung hervor. Die 9 klinisch
liehandelten Pyknoleptiker kamen auf unserer Sonderstation fiir ju-
gendliche Psychopathen in engste Beriihrung mit Kindern, die fiir
eine hysterische Nachformung und Fixierung der kleinen Anfalle als
besonders disponiert angesehen werden mixssen. Da aus auBerlichen
Griinden nur jeweils ein pyknoleptisches Kind unter 12 anderen lag,
bedeuteten die Anfalle imraer ein groBes Ereignis, wurden aufs ge-
naueste dem Arzt berichtet und immer wieder der Versuch gemacht,
sie nachzuahmen — ohne daB jemals bei den anderen Psychopathen
ein echter Anfall beobachtet worden ist, geschweige denn Anfalle sich
in gesetzmaBig ablaufender Weise fixiert ha ben. Naturlich konnen
pyknoleptische Kinder, ebenso wie epileptische und andere, gelegent-
lich hysterisch reagieren und hysterische Anfalle produzieren, die dami
aber der Form und Zahl nach durchaus nicht die geschlossene Gesetz-
maBigkeit der pyknoleptischen bieten und, nach Fall 9 und 10 zu
urteilen, in spaterem Alter als die pyknoleptischen einsetzen (bei diesen
beiden Fallen erst nach dem Aufhoren der Pyknolepsie im 14. und
9. Jahr). Die weitgehende Unabhangigkeit von exogenen Faktoren,
die Unfahigkeit, Anfalle willkurhch zu unterdriicken, das jahrelange
unaufhaltsame Ablaufen von gehauft auftretenden taglichen Anfalien
— dies alles spricht eher fiir eine organische Basis, ohne daB irgend-
eine genaue Erklarung liber den Anfallsmechanismus gegeben werden
konnte.
In der Erkennung des Krankheitsbildes sind wir jedoch einen Schritt
weiter gekommen durch den Nachweis einer diesen Anfallen zugrunde
liegenden einheithchen Pathogenese. Man lauft zu leicht Gefahr, die
Anfalle als das am leichtesten faBbare Symptom in den Mittelpunkt
der klinischen Beobachtung zu stellen und schwerer zu differenzierende
Symptomgruppen wie den psychischen Habitus eines Kindes weniger
eingehend zu klaren. Die Erhebung des psychischen Habitus stellt
aber einen wesentlichen Teil der Untersuchung dar. Die Diagnose-
stellung wird um so sicherer, je mehr eine fortschreitende epileptische
Wesensveranderung auszuschlieBen und je einwandfreier andererseits
der Nachweis einer bestimmten psychopathischen Konstitution ent-
sprechend dem vorstehend geschilderten Typus gelingt. Letzten Endes
sind die pyknoleptischen Anfalle als ein Symptom dieser besonderen,
klinisch faBbaren Form der Psychopathic aufzufassen.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Zur Frage tier Pyknolepsie.
453
Praktisch wird man bei der Diagnosestellung immer durch Aus-
schluB der genuinen Epilepsie und anderer Epilepsiegruppen vorgehen.
Dabei sind nach der bisherigen durch die vorstehenden 26 Falle wesent-
lich erweiterten Kasuistik von der Pyknolepsie Symptome auszu-
schlieBen wie: Polymorphe Anfalle, besonders solche mit motorischen
Reizerscheinungen, Auragefiihlen und psychischen Veranderungen im
Anschluli an den einzelnen Anfall; Anfallaquivalente aller Art; Anfalle
aus dem Schlaf heraus; vereinzelte und unregelmiilJig auftretende
Absencen; im allgemeinen auch Anfalle auBerhalb der Jahre von der
Schulzeit bis zur Pubertat; Erfolglosigkeit der Brompraparate, wahrend
nach unseren Erfahrungen Luminal voriibergehend wirken kann.
Die Diagnose ist wegen der oft jahrelangen Ahnlichkeit mit der
genuinen Epilepsie (27—32) hiiufig erst nach langer Beobachtung und
auch dann nur mit Wahrscheinlichkeit zu stellen. Als Beispiele solcher
Schwierigkeiten mogen besonders die Falle 31 /32 dienen, bei denen
Symptome wie niichtliche Anfalle, hiiufiges Einnassen bei den An-
fallen, Beginn im erstenLebensjahr trotz desFehlensandererepileptischer
Symptome 5 Jahre nach Anfallsbeginn die Diagnose Pyknolepsie un-
wahrscheinlich machen. Ebenso ist es mbglich, dad der eine oder
andere der noch nicht abgeklungenen unter ,,Pyknolepsie“ aufgefiihrten
Fiille (12—26) trotz raehrjahriger Beobachtung, eingehender anamnesti-
scher Erhebungen und anderer sorgfaltigster Beriicksichtigung aller
differcntialdiagnostischer Merkmale sich spater als epileptisch heraus-
stellen kann. Derartige diagnostische Irrtumer sind durch Unvollkom-
menheiten unserer klinischen Denk- und Beobachtungsmethoden be-
dingt, rechtfertigen aln-r nicht, den Krankheitsljegriff der Pyknolepsie
abzulehnen, der sich nach dem klinischen Verlaufsbilde und der Patho-
genese dieser Anfalle als abtrennungsberechtigt von der genuinen
Epilepsie erwiesen hat.
Li to rat urvcrzcich nis
findct sich ausfiihrlich Iwi Cohn, Monatsschr. f. Psydiiatr. u. Neurol. 41, S. 174,
1919. Diese Arbeit gibt neben mehreren anderen friiher erschienenen eine genauere
historisehe Darstellung der Pyknolepsie-Frage, auf die deshalb l>ei den vorstehen¬
den Ausfuhrungen verzichtct wurde.
Nach der Cohnschen Arlx'it erechien: ') Meyer, Max: ('her Pyknolepsie.
Zeitschr. f. Kinderheilk. 27, *S. 29.‘1, 1921. — 4 ) Stargardter: Jahrb. f. Kinder-
heilk. 95, S. 230, 1921. — 11 ) Husler: Ergebn. d. inn. Med. n. Kinderheilk. 19.
— 4 ) Husler: Zeitschr. f. Kinderheilk. 2<>.
Aruliiv tUr Psychiatric, ltd. r>7.
:io
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Bucherbesprechungen.
Karl Bartsch, Das psychologische Profll. Eine Auleitung zur Erforschung der
psychischen Funktionen des normalen und des anormalen Kindes. Mit 101 Ab-
bildungen im Text und auf einer Texttafel in zwei Excmplaren. Halle a. S.,
Carl Marhold, 1922.
Die Forderung nacli einer Auslese der Begabten, der Durchschnittskinder
und einer Auasonderung der ttbernormalen, die den Begabten-, Normal-, Nachhilfe-
oder Fhrderklassen zugewiesen sind, macht ein eingehendes Vertiefen in die ganze
geistige Veranlagung des Kindes notig. Der Unterricht verlangt eine besondere
Anpassung an die Abweichungen und Fehler der Kinder, die einer abnormen
Anlage entspringen.
Die von dem Lcipziger Hilfsschullchrer herausgegebene Schrift bringt eine
gute Anleitung zur Priifung der Intelligenz unter Anlehnung an die gebrauch-
lichen Methoden. Verfasser gibt der Methods nach Rossolimo den Vorzug, die
er durch eigene zweckmaBig ausgewahlte Versuche noeh vervollkommnet. Das
Ergebnis dieser Untersuchungen ergibt dann das psychologische Profil. S.
J. Bresler, Jenseits von klug und blOde. I. Bezuglehre (Kelativltiltstheorie),
II. Psychlatrle und Psychoanalyse. Mit 2 Abbildungen. Halle a. S., Carl
Marhold, 1922.
Kritische Auseinandersetzung mit der Relativitatstheorie und der Psycho¬
analyse. Scharfe Zuriickweisung der Psychoanalyse und besonders der Uber-
treibungen auf diesem Gebiet. S.
Robert Pollack-Rudin, Ing., Die tecbn. Maale als Nalurnlssenschaft.
Leipzig und Wien, Franz Deutieke, 1921.
Die kleine Schrift entwickelt ein Programm: die magischen Erscheinungen
mit Hilfe von einfachen Apparaten zu studieren, ausgehend von der Wiinschel-
rute, fur die ein besonderes Modell konstruiert ist. S.
Gougle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(Aus der Klinik fiir psychische und Nervenkrankhoiten zu Gottingen
[Direktor: Gekeimrat Professor Dr. Schultze].)
t’ber (lie nosologische Stellung und Differentialdiagnose der
sogenaiinten Meningitis serosa.
Von
Heinrich Ruhe-Magdeburg.
(Eingegangtn am 26. Okiober 1922).
Die serose Meningitis ist wohl diejenige Form der Hirnhautentzun-
dung, die dem Praktiker wegen ihres mannigfaltigen Verlaufs noch
am wenigsten gelaufig sein diirfte. In den Schwierigkeiten einer exak-
ten Diagnosenstellung, unter denen selbst der erfahrene Spezialist auch
heute noch zu leiden hat, liegt der Grund, weshalb die Meningitis serosa
erst in neuerer Zeit einer genaueren Erforschung zuganglich geworden
ist. Wahrend der Hydrocephalus als Endstadium einer Hirnhaut-
entziindung und die eitrige Meningitis den Arzten schon seit liingerer
Zeit bekannt sind, auch die tuberkulose Form schon 1830 als solche
erkannt wurde, ist die serose Meningitis zuerst im Jahre 1893 von
Quincke beschrieben. Nun sind bereits vorher in der deutschen wie
in der auslandischen Literatur zahlreiche Falle publiziert, deren Sympto-
menbild zunachst eine schwere Erkrankung des Hirns oder seiner Haute
wahrscheinlich machte, die aber schlieBlich in Heilung iibergingen (zit.
nach Bonninghaus 11 ). Man geht wohl nieht fehl, wenn man an-
nimmt, dad wenigstens in einem Teil dieser Falle das Krankheitsbild
der Meningitis serosa vorgelegen hat. Die ersten in der Literatur nieder-
gelegten Beobaehtungen, bei denen sich durch das Ergebnis der nach-
folgenden Sektion eine derartige Annahme schon eher begriinden liiBt,
staminen von franzosischen Aizten. Barthez und Rilliet (zit. nach
Bonninghaus) halKMi 1844 drei solcher Falle veroffentlicht. Es han-
delte sich um Kinder, die innerhalb weniger Tage unter m,eningitischen
Erscheinungen zugrunde gingen: die Sektion ergab aber nur einfach
entziindliche Veranderungen an den Hirnhauten, die zu einem serosen
Exsudat gefuhrt hatten (Fall 7, 8 und 15). Freilich inuB man bedenken,
dad 2 von den Fallen aus einer Zeit stammen, in der die tuberkulose
Form der Hirnhautentzundung noch nicht bekannt war, auch spricht
die kurze Dauer der Krankheit — Fall 7 mit 36 Stunden, Fall 8 mit
Archiv tilr Psychlntrie. Bd. 87. 31
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
460
H. Ruhe: Cber die nosologische Stcllung und Differential-
Digitized by
5 x / 2 Tagen, Fall 15 mit 7 Tagen,— nicht unbedingt gegen eine Meningitis
tuberculosa, wie Bonninghaus meint. Jedenfalls ist aber hervorzu-
heben, daB diese beiden Autoren zum erstenmal das Vorkommen eines
,,Hydrocephalus acutus idiopathicus“ betont habcn, dcr nicht durch
eine dcr bisher bekannten Forraen dcr Meningitis hervorgerufen wurde.
Die Bezeichnung ,,Meningitis serosa'* ist von Billroth 8 ) zuerst ge-
braucht (1869). Er berichtet uns, daB eine 59jiihrige Frau, die wegen
einer Ellbogencaries operiert war, 9 Monate spater unter den Erschei-
nungen eines akuten Hydrocephalus starb; in einem zweiten Fall han-
delte es sich um eine 27jahrige Frau, die einige Wochen nach einer
Amputatio supramalleolaris — wegen Caries des linken FuBgelenkes —
unter den gleichen Symptomen ad exitum kara. Beide Male lag der
Verdaeht einer tuberkulosen Meningitis nahe, die Sektion ergab aber
nur ein Hirnodem mit maBiger Ausdehnung der Ventrikel, nirgends
eine Spur von Tuberkeln. Mitteilungen liber eine mikroskopische Un-
tersuchung liegen allerdings nicht Vor, so daB auch diese beiden Falle
nicht unbedingt sicher als eine rein serose Meningitis anzusehen sind.
Immerhin erscheint die Bemerkung Billroths wichtig, daB die Er-
scheinungen und der Verlauf eines ,,Hydrocephalus acutus" mit und
ohne Tuberkcl vollig gleich sein konnen, und daB selbst. der Nachweis
von tuberkulosen Verftnderungen in der Lunge (wie im zweiten Fall)
die Annahme einer tuberkulosen Meningitis nicht notwendig macht.
DaB es in der Tat eine Form der Meningitis gibt, die von vornherein
seros ist und auch in ihrcni weiteren Verlauf seros bleibt, hat Eich-
horst (1887) zuerst betont (zit. nach Bonninghaus). Schon vor ihm
hatte Huguenin 68 ) cine entzundliche Affektion der Pia beschrielien,
die besonders im Kindesalter auftritt und zu einem schnell oder lang-
sam entstehenden ErguB in die Ventrikel fiihrt, und die jedenfalls mit
Tuberkulose nichts zu tun hat. Jedoch erst die Einfiihrung der Lumbal-
punktion in die Reihe der diagnostischen — und therapeutischen —
Hilfsmittel hat uns in den Stand versetzt, die serose Meningitis (sc. die
diffuse Form) schon intra vitam, wenn auch nicht immer mit absolute! -
Sicherheit, so doch mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erkennen.
Quincke selbst hat denn auch die ersten Erfahrungen auf diesem
Gebiet gesammelt, und mit Recht diirfen wir ihn als den eigentlichen
Begriinder der Lehre von der Meningitis serosa ansehen.
Seit der ersten Veroffentlichung Quinckes im Jahre 1893 105 ) sind
bis in die neueste Zeit hinein zahlreiehe Publikationen liber die serose
Meningitis erschienen. Trotzdem besteht, wie mir scheint, auch heute
noch durchaus nicht vbllige Klarheit liber das Krankheitsbild. Vor
allem werden Zustande mit der Bezeichnung ,,Meningitis serosa" be-
legt, die man nicht als dazu gehorig anerkennen kann. Von vorn¬
herein muB bemerkt werden, daB man nur dann berechtigt ist von
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
diagnose der sogenannten Meningitis serosa.
461
,,Meningitis serosa 1 * zu sprechen, wenn sich — abgesehen von dem
direkten pathologisch-anatomischen Nachweis einer entziindlichen Ver-
anderung der Meningen mit exsudativen bzw. infiltrativen Verande-
rungen — in dem vorliegenden Rrankbeitsbild als Ausdruck der Ent-
ziindung der Hirnhaute ein Liquor findet, der entziindliche Eigen-
schaften besitzt, sich also durch einen erhohten EiweiB- und Zellgchalt
auszeichnet und meist unter erhohtem Druck steht. Die tuberkulosen
und syphilitischen Meningitiden, die ebenfalls mit einem serosen Exsu-
dat einhergehen, werden als besondere (spezifische) Formen der Hirn-
hautentzundung betrachtet und von der einfach serosen Meningitis
abgetrennt. Aber gerade bei den circumscripten Formen der Meningitis
serosa diirfte ein derartiger Nachweis mitunter erst bei einer sich als
notwendig herausstellenden operativen MaBnahme zu erbringen sein.
Zustande jedoch, die als einziges objektives Merkmal flir die sich im
Zentralnervensystem bzw. den Meningen abspielenden Vorgange nur
eine Drucksteigerung im Subarachnoidalraum erkennen lassen, fallen
prinzipiell nicht unter den Begriff der serosen Meningitis. Es soil
jedoch nicht in Abrede gestellt werden (Quincke 107 und Matthes 81 )
daB Ubergange zwischen den entziindlichen Formen und den Zustanden
moglich sind, die man vielleicht als Ausdruck einer toxischen meningi-
tischen Reizung betrachten kann, wie denn aucli der pathologisch-
anatomische Begriff der ,,Entzundung“ noch keineswegs geklart ist.
Auch gegen die von einigen Autoren (Finkelnburg 36 , GroB 5(5 )
gebrauchte Bezcichnung ,,Meningitis serosa s. Hydrocephalus acqui-
situs (acutus oder chronicus)'* ist Stellung zu nehmen. Man soil sich
dariiber klar sein, daB man damit zwei vbllig verschiedene Begriffe ein-
ander gleichsetzt. Unter Meningitis seros;a verstelit man ein mehr oder
weniger wohlcharakterisiertes Krankheitsbild; der Hydroceplialus aber
ist nur ein pathologisch-anatomischer Begriff, ein Symptom fur eine
ganze Reihe von Erkrankungen, die alle zu einer vermehrten Fliissig-
keitsansammlung in den Gehirnventrikeln oder in den zwischen Hirn
und Sehadelkapsel gelegenen Subarachnoidalraumen fiihren.
Ferner miissen wir noch auf den vielumstrittenen Begriff des ^Hydro¬
cephalus idiopathicus** eingehen. Man bezeichnet damit einen Hydro¬
cephalus, fiir den man weder im Gehirn selbst noch in seinen Hauten
oder sonst irgendwo im Korper eine Entstehungsursache finden kann,
also einen Hydrocephalus (vorlaufig) unbekannten Ursprungs. Fiir
eine ganze Anzahl derartiger in der Literatur als ,,idiopathischer“
Hydrocephalus beschriebener Falle (Bresler 25 ), Kupferberg 75 ), Op-
pen heim 9 -) kommt, wie aus den Sektionsberichten hervorgeht, zweifel-
los ein entziindlicher ProzeB in den Meningen als Ursache in Be-
tracht. Bei verschiedenen anderen Fallen (Annuske 2 ), Heiden-
hain 61 ), Rosenstein 114 ) fehlen genaue mikroskopische Untersuchun-
31*
Digitized by Goe)gle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
462
H. Ruhe: Uber die nosologische Sfcellung und Differential-
Digitized by
gen, die eine Meningitis hatten ausschlieden konnen. Alle Falle von
idiopathischem Hydrocephalus als Endzustand einer Meningitis anzu-
sehen, wie Bonninghaus vorgeschlagen hat, oder gar den Begriff
,,Meningitis serosa" und ,.Hydrocephalus idiopathicus" gleichzusetzen
(Prince 103 ), Rothmann 115 ), ist nicht statthaft. Margulis 79 ) sagt
init Recht, dad, je exakter die pathologisch-anatomische Untersuchung
wiirde, desto geringer auch die Zahl der idiopathischen Wasserkopfe
wiirde, und dad ein primarer chronischer Hydrocephalus ohne anato-
mische Veranderungen nicht besteht*).
Endlich rniissen wir noch auf den Begriff des ,,Pseudotu in or"
kurz eingehen. Nonne 90 ) hat zuerst im Jahre 1904 Falle beschrieben,
die den Eindruck eines zum Teil wohlumschriebenen und lokalisier-
baren Hirntumors machten. Aber weder die operative Freilegung der
erkrankten Region noch die Sektion bei den todlich endigenden Fallen
gaben irgendeinen Anhaltspunkt fiir die Ursache der Erkrankung,
speziell fiir die Anwesenheit eines Tumors. Es sind darauf von den
verschiedensten Seiten (z. B. Eichelberg 31 ), Henneberg 62 ), Hoch-
haus 65 ), erst kiirzlich wieder von Pette 100 ) analoge Falle mitgeteilt,
ohne dad diese ratselhaft erscheinende Erkrankung dadurch an Klar-
heit gewonnen hatte. Offenbar handelt es sich dabei um ganz ver-
schiedene Krankheitsbilder. Nonne selbst 91 ) rat, die Diagnose auf
,,Pseudotumor" nur dann zu stellen, wenn sichere Infektion, schwere
Anarnie, physische und psychische Traumen auszuschlieden sind, der
Beginn kein ganz akuter war, keine Symptome vorhanden waren, die
erfahrungsgemad beim Hydrocephalus vorkommen, und die Heilung
restlos oder fast restlos ist. Endlich mud die mikroskopische Unter¬
suchung griindlichst durchgefiihrt sein und ein negatives Resultat
gehabt haben. In einer Reihe von Fallen sind Glia veranderungen
(Nonne 91 ) oder Veranderungen an den feinen Hirngefaden (Weber-
Schultz 137 ) festgestellt worden, ein anderer Teil der Fiille mag unter
den Begriff der Reichardtschen Hirnschwellung (s. auch Nonne 91 )
fallen; und schliedlich ist — was uns besonders interessiert — auch
die circumscripte serose Meningitis fiir eine Anzahl von Fallen verant-
wortlich zu machen. Diese Ansicht ist wiederholt geaudert worden,
z. B. von Higier 63 ), Muskens 86 ), Oppenheim 95 ), Redlich 110 ),
*) Als Ursache fiir diesen ,,primaren“ Hydrocephalus hat Margulis eine
Veranderung des Ependyms beschrieben, die er als kongenitale Entwicklungs-
storung betrachtet, eine Erschwerung des Abflusses der Ventrikelfliissigkeit (durch
die perivaskularen Lymphraume) soil zu gesteigertem Druck und dadurch zu
einer bestandigen Dehnung der Ventrikelwande, d. h. zu einem Hydrocephalus
intemus, Veranlassung geben 80 ). In diesem Zusammenhange berichtet M. iibcr
ein auffiillig haufiges Zusammentreffen des idiopathischen Hydrocephalus rnit
Syringomyelic, das durchaus im Sinne einer kongenitalen Entwicklungsstorung
des Gliagewebes sprechen wiirde.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
diagnose der sogenannten Meningitis serosa.
463
Schwartz 130 ), v. Wieg-Wickenthal 142 ). Eine besonders kritische
Beurteilung hat dcr Begriff des ,,Pseudotumor“ durch Muskens er-
fahren, der auf Grund von 3 bei der Operation erhobenen autoptischen
Befunden zu der Ansicht neigt, daB die meisten Falle von Pseudo-
tumor durch eine Meningitis serosa hervorgerufen seien.
Die Schwierigkeiten, die sich bei der Aufstellung des Krankheits-
begriffes der Meningitis serosa ergeben, sind von jeher betont worden.
So meint Bonhoff er 17 ), daB es sich wahrscheinlich um nicht einheit-
liche Prozesse handele; was ihr zugrunde lage, sei noch keineswegs aus-
reichend geklart, ,,obwohl mit dem Begriff vielfach umgegangen wird,
als ob es ganz klar ware, um was es sich handelt. Eine erwiesene ana-
tomische Anschauung daruber, was die Meningitis serosa eigentlich
ist, gibt es noch nicht, und es ist weder anatomisch noch klinisch noch
pathogenetisch eine Unterscheidung gegeniiber anderen akuten und
chronischen Hydrocephalusformen zu treffen.“ In ahnlicher Weise
spricht sich Payr 97 ) aus: ,,Der Krankheits be griff der Meningitis serosa
ist weder einheitlich geklart im Sinne der Pathogenese noch gesichtet
in seinen mannigfaltigen Formen . . . Der Name tragt der Pathogenese
nicht exakt Rechnung, denn klinisch werden auch Zustande hinzu-
gerechnet, die nicht entzundlichcr Art sind.“ Und weiterhin: nicht
der Ausdruck sei die Hauptsache, vielmehr miiBten die einzelnen For¬
men naeh ihrer Entstehung geschieden werden und dementsprechende
Bezeichnungen geschaffen werden. Auch Weigeldt 138 ) betont, daB
der Begriff ,,Meningitis serosa“ noch zicmlich unklar und sicher nicht
einheitlich ist, und von dem ,,idiopathischen Hydrocephalus 1 * nicht zu
trennen sei (s. das oben Gesagte im Gegensatz zu Weigeldts An¬
sicht).
Bei der Besprcchung der Atiologie der serosen Meningitis muB
zunachst hervorgehoben werden, daB man fur eine ganze Anzahl von
Erkrankungen vorlaufig gar keine Entstehungsursache feststellen kann.
So entwickelten sich bei 5 Patienten, die im vergangenen Jahr in der
hiesigen Nervenklinik unter Beobachtung standen, die Erscheinungen,
ohne daB die Anamnese irgendeinen Anhaltspunkt fur die Entstehung
der Krankheit hatte geben konnen (Fall 2, 3, 6, 8 und 9). In einer
anderen Reihe von Fallen dagegen konnen wir uns ein einigermaBen
klares Bild iiber die atiologischen Faktoren machen. Von verschie-
denen Seiten wird behauptet, daB man haufig eine besondere Dispo¬
sition nachweisen konne. Insbesondere sollen Kinder an der diffusen
Form der serosen Meningitis oftererkranken als Erwachsene (Qu i nc ke 105 ).
Goldstein 51 ). Quincke erblickt die Hauptursache dafiir in histolo-
gischen Eigentiimlichkeiten des kindlichen Gehirns, dessen Ventrikel-
wande einem durch eine serose Meningitis (sc. interna) gesteigerten
Innendruck weniger Widerstand zu leisten veimogen als das Gehirn
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
464
H. Ruhe: tlber die nosologische Stellung und Differential-
Digitized by
cines Erwachsenen (zit. nach Weber 136 ); daher wird es leichter zur
Dilatation der Ventrikel mit den entsprechenden klinischen Symptomen
kommen. Bei einigen Fallen ist es wahrscheinlich, daB die Meningitis
serosa nur die akute Exacerbation eines schon lange bestehenden (viel-
leicht kongenitalen) Hydrocephalus ist (Quincke 105 ). Darauf deutet
bisweilen schon die abnorme GroBe und Gestalt des Schadels hin (Op-
penheim 94 ); auch ergibt die Anamnese gar nicht selten, daB die Pa-
tienten schon friiher ahnliche Attacken meningitischer Reizung oder
gesteigerten Hirndrucks durchgemacht haben. Quincke glaubt, we-
nigstens in einem Teil dieser Falle die Manifestation einer Angioneurose
erblicken zu konnen, d. h. jenes Zustandes einer labilen GefaBinnervation,
der die Patienten auf alle moglichen auBeren Schiidlichkeiten mit
serosen Exsudationen der verschiedensten Organe reagieren laBt.
Auch v. Wieg-Wickenthal 142 ) nimmt eine bcsondere Konstitutions-
anomalie an, die sich in einer angeborenen verminderten Widerstands-
fiihigkeit des Ependyms, der Plexus chorioidei und des feinen Hirn-
gefaBapparates kundgeben soli, so daB die verschiedensten Schadlich-
keiten eine vermehrte Liquorproduktion anregen konnen. DaB die
Disposition bei der Entstehung der serosen Meningitis und der ihr
nahestehenden Krankheitsbilder eine groBe Rolle spielt, betont auch
Groer 65 ); und zwar soil sich diese Veranlagung bei Madchen haufiger
finden als bei Knaben, ferner soli sie durch Unterernahrung (Kriegszeit)
verstarkt werden konnen. Den gleichen Effekt sollen die Spasmophilie,
die Rachitis und die exsudative Diathese haben (Harke 59 ). Ob der-
artige Behauptungen bestatigt und allerseits anerkannt sind, entzieht
sich meiner Kenntnis. Bei dem heutigen Stand der Konstitutionslehre
empfiehlt es sich aber wohl, bei der Erklarung der Entstehung einer
Meningitis serosa der Disposition vorlaufig kein allzu groBes Gewicht
beizulegen, da man sonst Gefahr laufen wiirde, sich dabei allzusehr
ins Gebiet des Hypothetischen zu verlieren. lmmerhin scheint die
Mitteilung Gopperts 48 ) beachtenswert, der beobachtet hat, daB Kin¬
der, die im AnschluB an Infektionen— namentlich des Nasenrachen-
raumes — Zeichen einer meningitischen Reizung bieten, auch sonst
haufig konstitutioneli reizbar sind.
Als auslosende Momente fiir die serose Meningitis kommen in aller-
erster Linie die Infektionskrankheiten in Betracht, und zwar konnen
wohl ziemlich alle Infektionen zu einer serosen Entziindung der Hirn-
haute fiihren. Diese Entstehungsursache ist so haufig, daB einige
Autoren (Beck 7 ), Eichhorst zit. nach Bonninghaus 14 ), Miinzer 85 )
die Meningitis serosa direkt als Infektionskrankheit bezeichnen wollen.
In diesem Zusammenhang waren zu nennen Anginen, Influenza, Pneu-
monie, Masern, Scharlach, Diphthcrie, Keuchhusten, Typhus, Fleck-
tvphus (Kriegsbeobachtungen von Matthes 81 ) u. a. Als seltener vor-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
diagnose der sogenannten .Meningitis serosa.
465
kommende Ursache, die wenigstens in der deutschen Literatur nicht
so haufig erwahnt ist, mochte ich die Parotitis epideraica anfiihren.
So beschrieb noch vor kurzem Feer 35 ) einen derartigen Fall, der zu-
nachst durchaus den Eindruck einer tuberkulosen Meningitis machte
(iiu Lumbalpunktat leichte Fibringerinnselbildung, 215Zellen pro cmm,
Nonne —). Erst das sehnelle Verschwinden der raeningitischen Sym-
ptome und der rasche Fieberabfall lie Ben die Diagnose einer serosen
Meningitis wahrscheinlich werden, die nachtriiglich durch die Anamnese
— vor 8 Tagen doppelseitiger Mumps — gesichert wurde. Mitunter
konnen bei der Pyelocystitis der Sauglinge die meningitischen Symptome
derart in den Vordergrund treten, daB das ursachliche Leiden vollig
iil>ersehen wird (v. Bokay 16 ). Auch die Malaria ist zur Meningitis
serosa in Beziehung gebracht; so berichtet Lindbom 77 ) von einem
Patienten, der vor 6 Jahren eine Malariainfektion durchgemacht hatte
und nun irn AnschluB an eine Erkiiltung mit heftigen Hirndruck-
symptomen (Kopfschmerzen, Erbrechen, Druckpuls, doppelseitige
Stauungspapille, Lumbaldruck 220—240 mm), erkrankte, die jeden
Tag zu einer ganz bestimmten Stunde exacerbierten. Ein positiver
Blutbefund konnte nicht erhoben werden, doch soil Chitlin einen auf-
fallenden Effekt gehabt haben. Allerdings konnen in einem solchen
Falle auch diffuse encephalitische Vorgange nicht ausgeschlossen wer¬
den, wie sie z. B. Diirck (Munch, med. Wochenschr. Nr. 2, 1921) bei
der Malaria beschrieben hat. Endlich sind in letzter Zeit von Hart¬
mann 60 ) 4 Falle publiziert, bei denen sich noch monatelang nach dem
Abklingen einer akuten Encephalitis epidemica neben anderen fiir die
Annahme einer Affektion der Meningen verwertbaren Zeichen Verande-
rungen im Liquor fanden, die auf eine entziindliche Genese hinwiesen
— Drucke von mehr als 300 mm, zweimal positiver Nonne und etwas
erhdhter Zellgehalt (zwischen 2 und 15 Zellen im cmm). Bei 2 von
diesen Patienten fiel die Zunahme der Beschwerden jedesmal mit einer
Drucksteigerung im Subarachnoidalraum zusammen, so daB Hart¬
mann glaubt, wenigstens einen Teil der Spatsymptome der Encepha¬
litis epidemica auf diese Meningitis serosa zuriiekfuhren zu konnen.
Die Ansicht Hartmanns ist insofern nicht stichhaltig, als der Druck
im Sitzen gemessen wurde; und fiir die restierenden Erscheinungen der
Encephalitis sind in allererster Linie doch die Veranderungen in der
Hirnsubstanz selbst verantwortlich zu machen.
Man sollte annehmen, daB bei einer derartig reichhaltigen Atiologie
auch die Entziindungserreger im Liquor schon oft nachgewiesen sein
miissen. Das scheint aber keineswegs der Fall zu sein, so konnte Bon-
ninghaus noch keinen positiven Befund anfiihren. Auch Bliihdorn 12 )
gibt an, daB er bei seinen Fallen noch nie habe Erreger nachweisen
konnen. Von anderer Seite ist jedoeh der Nachweis der Bakterien ge-
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
4B6 H. Ruhe: Ober die nosologische !S tel lung und Differential-
fiihrt worden; so sind bisher nachgewiesen Staphylokokken, Strepto-
kokken, Pneumokokken, Influenza-, Coli-, Typhusbacillen u. a. (Thie-
raich 133 ), Finkelnburg 38 ). Miinzer 86 ) ist der Ansicht, dab die Me¬
ningitis serosa meist durch Tuberkelbacillen hervorgerufen werde;
folgerichtig wird man derartige Falle dann zur Meningitis tuberculosa
rechnen miissen. Beck 7 ) glaubt, daB jede Meningitis serosa acuta
durch irgendwelche Mikroben hervorgerufen werde, nur sei ihr Nach-
weis in vielen Fallen deshalb nicht moglich, weil die Bakteridn schon
kurze Zeit nach ihrem Chert ritt in den Liquor der Bakteriolyse ver-
fielen und nur noch die Toxinc im Blut kreisten. Auch in dem spiiter
uusfuhrlicher zu schildernden Fall eines Knaben, der unter dem Yer-
dacht einer tuberkulbsen Meningitis in die Nervenklinik eingeliefert
wurde, waren weder im Sediment des Liquors noch im Tierversuch
irgendwelche Erreger nachweisbar.
AnschlieBend waren die Falle von Meningitis serosa zu nennen,
die im Gefolge eines sich in der Nahe der Hirnhaute abspielenden
entziindlichen Prozesses cntstehen. Von l)esonderer praktischer Wieh-
tigkeit und schon seit langerer Zeit bekannt sind die serosen Meningi-
tiden bei Erkrankungen des Mittel- bzw. Innenohres und der Nasen-
nebenhohlen. Wendel 144 ) berichtet von einer eitrigen Conjunctival-
entziindung, die cine circumscripte serose Meningitis hervorrief. Aber
auch pathologische Prozesse im Hirn und Ruckenmark selbst (Abszesse,
Tumoren) konnen die Veranlassung zu einer meist umschriebenen
serosen Exsudation geben. Fischer 42 ) hat in 5°/ 0 aller von ihm se-
zierten Falle von progressiver Paralyse grubige, bis walnuBgroBe Ver-
tiefungen der Hirnoberfliiche gefunden, die nicht etwa durch lokale
Atrophien der Rinde odor des darunter lrefindlichen Markes entstanden
sind; sondern es sind wirkliche cystische Bildungen, die sich im Yer-
laufe einer chronischen Meningitis entwickelt haben. Auch ferngelegene
entziindliche Prozesse, Lymphangitis, Epityphlitis (zit. nach Wendel)
sollen gelegentlich eine Meningitis serosa hervorrufen konnen. Die
nach Ohr- und Naseneiterungen sich einstellenden serosen Exsuda-
tionen werden von den meisten Autoren nicht als wirkliche Entziin-
dungen, sondern als kollaterale entziindliche Odeme angesehen, analog
etwa den sj'mptomatischen Kniegelcnksergiissen bei Eiterungen in
den Gelenkepiphysen, als Folge der Reizwirkung von Bakterientoxinen.
Eine ganz besonders wichtige Rolle spielen die im AnschluB an ein
Kopftrauma entstehenden serosen Meningitiden. Schon von jeher
(Bonninghaus 14 ), Muskens 86 ), Quincke 107 ) ist das Trauma als eine
der Hauptursachen der Meningitis serosa bezeichnet worden; und die
zahlreichen Kopfverletzungen wahrend des Weltkrieges haben erneute
Gelegenheit geboten, in groBerem MaBstabe als je zuvor diese Form
der serosen Meningitis genau zu studieren. Fine gute Cbersicht liber
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
diagnose der sogenannten Meningitis serosa.
467
<lie verschiedenen Entstehungsmoglichkeiten und Forraen der trauma¬
tischen Meningitis serosa hat Payr 97 ) gegeben. Er unterscheidet die
Meningitis serosa traumatica comitans s. symptomatica, die bei infi-
zierter Schadelverletzung eintreten kann, von der Meningitis serosa
traumatica aseptica, die sich bei einer nur geringfugigen oberflach-
lichen Kopfwunde oder auch ohne jede sichtbare tin Re re Verletzung
entwickeln kann. Es gibt lokale und diffuse Formen. t)ber das Zu-
standekommen einer derartigen traumatischen Meningitis serosa hat
man sich etwa folgende Vorstellungen zu machen: Der Insult fiihrt
zu ZerreiBungen und Blutungen der Hirnhaute, in der Hirnsubstanz
selbst entstehen kleine Blutungsherde, eventuell Quetschungen und
Zertrummerungen des Gewebes und GefaBveranderungen (Payr,
SchultheiB 124 ); es erfolgt ein Blutaustritt in den Liquor, und dieser
wirkt im Verein mit dem traumatischen Odern der Hirnsubstanz auf
die Hirnhaute als Reiz. Derartige Befunde sind wicderholt durch die
Operation festgestellt worden. Payr berichtet iiber enorme Liquor-
ansa mmlungen — in einem Fall mindestens V 2 Liter —, die die Hemi-
spharen aufs auBerste komprimieren konnen, so daB die Zeichnung der
Gyri vollig verwischt werden kann. Positive Bakterienbefunde sind
auBerst gering; im allgemeinen kann man — was fiir den Operateur
natiirlich von groBer Wichtigkeit ist — den Liquor als steril betrachten
(Payr). Auch ein Obergang in die Meningitis infectiosa purulenta
gehort zu den seltenen Ereignissen. Die klinischen Erscheinungen ent¬
wickeln sich entweder unmittelbar nach dem Trauma, oder es kann ,
Wochen, Monate, ja sogar Jahre dauern, ehe sich entsprechende Sym-
ptome einstellen. Gerade l)ei diesen Fallen, die klinisch als selbstandige
Krankheit imponieren, ist der Zusammenhang zwischen Trauma und
Meningitis oft nicht mit volliger Sicherheit herzustellen. Auch das
Trauma kann zu Krankheitsbildern Veranlassung geben, die sicher
nicht auf eine Entziindung der Hirnhaute zuruckzufiihren sind, son-
dern hochstens auf eine einfache Reizung, die noch dazu hiiufig durch
funktionelle Erscheinungen iiberlagert wird. Wir werden spater noch
darauf zu sprechen konnnen. Mitunter scheint das Trauma nicht aus-
losend, sondern nur vorbereitend zu wirken (Weber 13 ' 1 ), indem es Ge-
faBalterationen— teilweise Verlegung der adventitiellen GefaBspalten —
und eine verringerte Elastizitat der Hirnsubstanz hinterlaBt, die spater
einer an sich unbedeutenden Storung gegenuber versagen konnen.
Es sind noch eine ganze Reihe weiterer Ursachen angefiihrt worden,
die teils auslosend, teils disponierend wirken sollen; ich nenne nur die
Insolation (Weber und unser Fall 1), chron. Alkoholismus, chronische
Nephritis (Quincke 107 ), sogar geistige Cberanstrengung (Eichhorst 32 )
und psychische Traumen wie Schreck (Nonne 90 ), Puerperium (Op-
penheim 92 ), Schwartz 130 ). Ob und wie weit derartige Angaben zu-
Digitized by Goe)gle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
468
H. Ruhe: Pber die nosologische S tel lung und Differential-
Digitized by
treffen, laBt sich nicht immer nachpriifen, da die Mitteilungen zum
Teil zu goring sind, um einen sicheren SchluB auf die Art des jeweiLs
vorliegenden Krankheitsbildes zu gestatten.
Endlich mag noch erwahnt werden, daB meningitisahnliche Zu-
stande auf rein funktioneller Basis vorkommen. So hat Starck 127 )
aus der franzosisclien Literatur 17 solcher Fade zusammengestellt und
einen selbstbeobachteten Fall hinzugefiigt. Es handelt sich fast aus-
schlieBlich um weiblithe Individuen in den Entvvicklungsjahren. Die
Diagnose war in den angefuhrten Fallen moist auf Meningitis tuberculosa
gestellt worden, und erst die weitere Beobaehtung ergab die funktionelle
Natur der Bosch werden undSymptome, die (lurch eine genaue Anamnese,
den Nachweis weiterer hysterischer Stigmata und eine entsprechende
erfolgreiche psychische Behandlung sichergestellt wurde. Von Knob¬
lauch 71 ) ist ein Fall beschrieben, der auf Grund von Anfallen des
Jacksonschen Typus den Verdacht eines Tumors der motorischen
Region erweekte und sogar zur Operation kam! DaB die Untersehei-
dung, ob organisch oder funktionell, mitunter in der Tat nicht leicht
ist, beweist die Diskussion iiber den von VoB 135 ) mitgeteilten Fall
einer linksseitigen Hemiplegie nach Kopftraurna auf der 3. Jahres-
versammlung der Gesellschaft deutscher Nervenarzte. Im allgemeinen
werden sich a her bei genauerer Beriicksichtigung aller Begleitumstande
diagnostische Irrtiimer in dieser Hinsicht vermeiden lassen.
Ehe wir die pathologische Anatomie der Meningitis serosa be-
sprechen, erscheint es angebracht, den augenblicklichen Stand der
Lehre von der Liquorsekretion vorher kurz zu schildern, da diese fiir
das Verstandnis der Pathogenese der scrosen Meningitis von Wichtigkeit
ist*). Ulier die Art und den Ort der Entstehung des Liquor cerebrospinalis
hat in der Literatur ein jahrzehntelanger Streit geherrscht, der auch
heute noch keineswegs endgiiltig entschieden ist (s. bei SchultheiB 124 ).
Soviel steht aber auf Grund experiraenteller Untersuchungen fest, daB
man dem Plexus chorioideus unbedingt eine sekretorische Funktion
zusprechen mull, und daB es sich nicht um eine einfache Transsudation
handelt. Denn dem Organismus einverleibte korperfremde Stoffe pas-
sieren die Plexusepithelien im allgemeinen nicht, mit Ausnahme sol¬
cher, die schadigend auf sie einwirken otler zum Zentralnervensystem
eine besondere Affinitat besitzen (z. B. die Narkotika). Fiir eine sekre¬
torische Tatigkeit des Plexus spricht auch seine Beeinflussung durch
die allgemeine Sekretion hemmende (z. B. Schilddrusenextrakt, Schlap-
fer 120 ) oder fdrdernde (z. B. Pilocarpin) Mittel. Endlich hat man die
*) Anm. b. d. Korrektur: Vgl. hierzu und zu dem Folgenden die kiirzlich
in den Mitteil. a. d. Grenzgeb. d. Med. u. Chir. (35. Bd. Heft 3) erschienene Arbeit
von E. Beeher: ..Untersuchungen iiber die Dynamik des Liquor cerebrospinalis.**
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
diagnose dor sogenannten Meningitis seiosa.
469
Bildung der Sekrettropfen in den Plexusepithelien mikroskopisch direkt
verfolgen konnen. Diesel be sekretorische Funktion soil auch das Ven-
trikelependym besitzen. Makoto Saito 78 ) erkliirt jedoch neuerdings,
dab er im groBen ganzen aus den histologischen Praparaten absolut
keinen Beweis fiir irgendeinen sekretorischen ProzeB des Ependyms
ableiten konne. Ob auch die Ner vensubstanz selbst und die GefaBe an
der Bildung des Liquors beteiligt sind, ist noch nicht sicher entschieden.
Sogar die Gliazellen hat man in Zusammenhang mit der Liquorproduk-
tion bringen wollen. Es erscheint also nicht ausgeschlossen, daB der
Liquor verschiedenen Quellen entstammt.
Bei der Beschreibung der pathologischen Anatomie und bei der
Besprechung der Differentialdiagnose der serosen Meningitis wollen wir
die diffusen Formen von den circumscripten trennen, da beide Formen
auch in klinischer und therapeutischer Hinsicht ganz verschiedene
Gberlegungen crfordern. Zweifellos ist die diffuse Form die haufigere.
SchultheiB findet diese Tatsache erklarlich, da sich der Liquor cerebro-
spinalis in einer bestandigen Stromung befindet, die durch die Atmung
(inspiratorisch und exspiratorisch verschieden gefiillte Venenplexus),
die Pulsation der arteriellen GefaBe und durch einen gewissen Sekre-
tionsdruck unterhalten wird. Infolgedessen werden Entziindungserreger
verhaltnismaBig rasch fortgeschleppt, ein akut entzundlicher ProzeB
neigt zu schneller Verbreitung in die Nachbarschaft. Dazu kommt,
daB der Liquor nur sehr wenig Fibrinogen e nth alt, wie denn der EiweiB-
gehalt des Liquors iiberhaupt sehr gering ist (nach Qu i nckeO, 2-0,5 °/ 00 );
<laher wird auch die Fibringerinnselbildung, die gewohnlich den ersten
AnstoB zur Abkapselung eines entzundlichen Prozesses gibt, nur spar-
lich sein. Bonninghaus hat die diffuse Form in eine Meningitis serosa
externa (= Meningoencephalitis) und eine Meningitis serosa interna
s. ventricularis geschieden. Ein prinzipieller Unterschied zwischen den
beiden Formen besteht wohl nicht (Finkelnburg 38 ), Miinzer 85 ),
Schultze 126 ), da ja auch der Plexus chorioideus, der bei der Meningitis
serosa interna die Hauptrolle spielt, nur ein schon in Fotalzeiten ver-
lagerter Teil der Leptomeninx ist. Die pathologisch-anatomischen
Befunde sind nicht sehr zahlreich, da bei dem relativ gutartigen Cha-
rakter dieser Erkrankung nur selten eine Autopsie moglich ist. In
den akuten Fallen ist die Dura gespannt und hyi>eramisch, in chroni-
sehen Fallen findet man diffuse oder partielle Yerdickungen und \'er-
wachsungen mit den weichen Htiuten. Die Arachnoidea kann makro-
skopisch vollig intakt erscheinen oder leichte Yerdickungen aufweisen,
in ihren Maschen findet sich ein klares oder wenig getriibtes, nur selten
ein gelatinoscs (Bonninghaus 14 ), NeiBer-Pollack 89 ) Exsudat. Die
Pia ist in den akuten Fallen ebenfalls entziindlich gerotet und odematos
(xler stellenweis leicht verdickt. Die Yentrikel konnen normal oder
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
470
H. Ruhe: Uber die nosologische Stellung und Differential-
Digitized by
erweitert sein, und gerade in chronischen Fallen kann der Ventrikel-
hydrops derart in die Augen fallen, dal3 die inikroskopisch nachweis-
baren Veranderungen der Meningen friiher vielfach iibersehen oder in
ihrer Bedeutung fiir die Entstehung des Hydrocephalus nicht erkannt
sind; derartige Fillle sind dann vielfach als ,,Hydrocephalus idiopathi-
cus“ bezeichnet (Margulis 79 ). In einem Teil der Fillle hat man an den
Hirnhauten gar keinen Befund erheben kbnnen: vielleicht handelt es
sich dabei gar nicht um eine Meningitis serosa, sondern es hatte ein
Krankheitsbild \ r orgelegen, das nur klinisch eine gewisse Ahnlichkeit
mit der serosen Meningitis besaB. Mikroskopisch sind als Zeichen der
Entziindung in den Meningen GefaBerweiterungen und peri vasculare
Zellanh auf ungen nachgewiesen, in chronischen Fallen Verdickungen der
Bindegewebsbalken, die durch Wucherungen der Bindegewebszellen und
Endothelien der Pia hervorgenifen sind (v. Hansemann 58 ). Die Be-
funde, die am Plexus und am Ventrikelependym erhoben sind, sind
nicht einheitlich. In einem Teil der Falle waren iiberhaupt keine Ver¬
anderungen nachweisbar (Beck 7 ), Finkelnburg 38 ), Grober 34 ),
Schultze 123 ), Raymond-Claude 109 ), oder alter man fand teils dif¬
fuse, teils warzige Verdickungen des Plexus und des Ependyms, die
rein odematos waren oder auf entziindliche Erscheinungen zuriick-
gefiihrt wurden. Es handelt sich im wesentlichen um Hyperamie,
perivasculare Infiltrate und Wucherungen der vcrschiedenen Gewebs-
teile des Plexus und um Veranderungen des Ependyms, die man als
,,Ependymitis granularis“ bezeichnet. Allerdings mull man sich daran
erinnern— worauf Makoto Saito besonders aufmerksam macht 78 ) —,
daII der Druck des gestauten Liquors reaktive Gewebsveranderungen
hervorrufen kann, sie bestehen in venoser Stauung, odematoser An-
schwellung des Bindegewebes, in Quellung, Bliihung und Wueherung
der Epithelien. Margulis 79 u. 80 ) dagegen hat als charakteristisch fiir
Stauungshydrocephalus eine Verdickung der subejiendymaren Gliafaser-
schicht und eine (unbedeutende) Hyperplasie der Ependymbekleidung
bezeichnet. Die ,,Ependymitis granularis“ will er als Zeichen einer
kongenitalen Entwicklungsstorung betrachten, die vielleicht auf der
Basis eines entziindlichen oder der Entziindung nahestehendeu Pro-
zesses im Ependym entsteht, und die um die entziindlichen Herde und
die verodeten GefaBe herum zu einer herdweisen Gliahyperplasie fiihrt.
Man sicht, daB die Befunde einer weiteren Klarung bediirfen: und es
wird im Einzclfall nicht immer leicht zu entseheiden sein, ob die
geschilderten Veranderungen nun primiVer oder sekundiirer Natur sind.
Auch die Entstehung des Hydrocephalus hat zu den verschie-
densten Gberlegungen Veranlassung gegeben. So miBt Makoto Saito
der Beteiligung des Plexus und des Ependyms beim Zustandekommen
und bei der Unterhaltung des Hydrocephalus iiberhaupt nur eine geringe
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
diagnose der sogenannten Meningitis serosa.
471
Rolle bei, er bezeichnet die Verlegnngen der AbfluBwege als maB-
gebend. Auch Weber 137 ) komrat auf Grand eines eingehenden Stu-
diums zu dem SchluB, daB zu der vermehrten Liquorproduktion stets
noch ein zweiter Faktor hinzutreten miisse, namlich entweder eine
Herabsetzung der Widerstandskraft der Ventrikelwande (durch ent-
ziindliche oder degenerative Veranderangen) oder irgendein AbfluB-
hindernis. Letzteres kann hergestellt werden durch eine Verlegung des
venosen Blutabflusses oder der lymphatischen AbfluBwege. Wahrend
der VerschluB der Vena magna cerebri — und eventuell der Sinus durae
matris — stets auf dem Wege der Stauung und Transsudation zu einem
Ventrikelhydrops fiihrt, sind bei der Behinderung des Liquorabflusses
verschiedene Entstehungsmoglichkeiten in Betracht zu ziehen. Zunachst
ist ein VerschluB des Foramen Magendie bzw. der Aperturae laterales
(Foramina Luschkae) durch direkte Anpressung der Decke des IV. Ven-
trikels gegen die Innenflache des Os occipitale oder den Gegendruck
der gefiillten Zisternen moglich (Bonninghaus), oder es sind Ver-
klebungen bzw. Verwachsungen der Meningen vorhanden. Nach Bbn-
ninghaus soli auch ein ,,aktiver“ VerschluB des Aquaeductus cerebri
vorkommen: die Tela chorioidea soli durch einen ErguB in den III. Ven-
trikel mitsamt den von ihr nach oben gezogenen und gedehnten Vier-
hiigeln und dem Pons gegen den Ausschnitt des Tentorium gepreBt
werden und dabei eine Verzerrang bzw. volligen VerschluB des Aquae¬
ductus hervorrafen. Goppert ist der Ansicht, daB durch den Drack
der erweiterten Hinterhorner von oben und seitlich auf das Kleinhirn
eine Anpressung dieses Organes gegen die Medulla oblongata herbei-
gefiihrt werden kann, wodurch die Kommunikation zwischen IV. Ven-
trikel und Subarachnoidalraum aufgehoben wurde. Ferner kann —
wenn vielleicht auch seltener — durch Verlegung der Liquor abfiihren-
den perivascularen Lymphraume der AbfluB des Liquors durch die
Spalten der Ventrikelwand unmoghch gemacht werden (Weber 138 ),
Margulis 79 ). Endlich konnen durch einen Ventrikelhydrops die
corticalen Subarachnoidalraume zwischen Hirn und Knochen platt-
gedriickt werden und dadurch der AbfluB des Liquors durch die Arach-
noidalzotten in die venosen Sinus vermindert oder gar aufgehoben
werden (Quincke 107 ). Ich habe die Ansichten der verschiedenen
Autoren nur registriert, um zu zeigen, wie verschieden man sich die
Entstehung eines Hydrocephalus vorstellen kann. Die Unsicherheit in
der Erklarung liegt zum Teil darin begriindet, daB man iiber die Re-
sorptionsverhaltnisse des Liquor cerebrospinalis nicht genau orientiert
ist. Doch scheint aus neueren, von Frazier mit Tuscheinjektionen
(in die Ventrikelraume) angestellten Versuchen (zit. nach Schlapfer 120 )
hervorzugehen, daB die perivascu laren Lymphraume bei der Resorption
des Liquors nur eine untergeordnete Rolle spielen. Es werden sich bei
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
472
H. lluhe: t'ber die nosologische Stellung und Differential-
Digitized by
del* Entstehung des Hydrocephalus ex meningitide also wohl entziind-
liche und mechanische Momente in wechselnder Weise kombinieren*).
Der Ventrikelhydrops bei Meningitis serosa kann so groB sein, dad
er das Infundibulum blasenartig vorwolbt. Derartige Befunde sind
mehrfach erhoben worden (Finkelnburg 36 ), Grober 54 ), Kupfer-
berg 75 ), Oppenheim 92 ) und haben zu interessanten Gberlegungen
gefiihrt. Zunachst hat Meltzer 83 ) einen derartigen Hydrocephalus e
meningitide serosa fiir die Entstehung des Turmschadels verantwortlich
gemacht. Er ist der Ansicht, <Ial3 der bestandige Druck eines Hydrops
ex meningitide auf die Nahtrander eines rachitischen Knoehens als
Ossifikationsreiz wirkt und so zu einer pramaturen Synostose der
Schadelbasisknochen fiiiire. Damit wiirde auch das verhaltnismaliig
haufige Zusammentreffen von Turmschadel und Opticusatrophie (nach
Uhthoff 134 ) in 65°/ 0 aller Falle) in Einklang zu bringen sein, die man
sich entweder auf Grund einer Stauungspapille — Druck des Infundi¬
bulum auf das Chiasma — oder einer Neuritis optica — Fortsetzung
der Entzundung auf die Scheide des N. opticus — entstanden denken
kann. Durch die Lumbalpunktion ist nachgewiesen, dab im Verlauf
des allmahlich zur Erblindung fiihrenden Prozesses intrakranielle Druck-
steigerungen vorkommen, die ebenfalls zu der Annahme einer ursach-
lichen Meningitis serosa passen wiirden. Eine weitere interessante
Feststellung hat Goldstein 49 )— 52 ) gemacht; dieser Autor hat ver-
schiedene Falle beschrieben, die zunachst durchaus den Eindruck eines
Hypophysistumors machten. Die weitere Beobachtung jedoch und
auffallige Abweichungen von dem sonstigen Verlauf einer derartigen Er-
krankung machten die Diagnose eines Tumors unwahrscheinlich.
Goldstein nimmt nun an, daB diese Falle auf eine Meningitis seroj-a
zuruckzufiihren seien; der Druck des vorgewolbten Infundibulum be-
*) In der ainerikanischen Literatur ist neuerdings ein Verfahren angegeben.
um den durch VentrikelverschluB bedingten Hydrocephalus“interims (= H.
„obstructivus“ der Amerikaner) bereits intra vitam zu erkennen: von einer Ven-
trikelpunktionsstelle aus wird Phenolsulfophthalcin in die Ventrikel injiziert.
Bei VerschluB der AbfluBwege ist die Substanz gar nicht oder erst spat im Lum-
balpunktat nachweisbar, wahrend sie bei offener Kommunikation sofort auftritt.
AuBor dieser Form unterscheiden die Amerikaner (Frazier) noch einen Hydro¬
cephalus ,,non absor])tus“, der durch Verkleinerung der resorbierenden Flachen
(infolge Entzundung oder Verwachsung), durch toxische Substanzen oder venose
Stauungen hervorgerufen wird (ebenfalls durch die Phthaleinprobe nachweisbar:
I ccm intralumbal und fortlaufende Urinkontrolle), einen Hydrocephalus ,,hyper-
secretivus" infolge pathologisch vermehrter Absonderung von Liquor cerebrospi-
nalis und einen Hydrocephalus „occultus", dessen Atiologie noch unklar ist. Die
letzte Form soil meist Kinder betreffen und sich durch eine moist nur ganz geringe
Erhohung des intrakraniellen Drucks auszeichnen. Nach der Mitteilung Schlaep-
fers 120 ) sind augenblicklich weitere ausgedehnte Untersuchungen im Gauge,
um die Atiologie des Hydrocephalus endlich klarzustcllen.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
diagnose der sogenannten Meningitis serosa.
473
wirke — genau wie ein Tumor — eine Schjidigung der Hypophyse mit
den entsprechenden Ausfallserscheinungen. Wie ein Fall von Gold¬
stein und unser Fall IV beweisen, kann der anhaltende Druck des prall-
gefullten Infundibulum im Laufe der Jahre sogar zu einer Knochenusur
der Selle turcica fiihren, die sich bereits intra vitam rontgenologisch
nachweisen lalit. Wir werden dieses interessante Krankheitsbild spater
noch ausfiihrlicher zu besprechen haben.
Es ist ohne weiteres verstandlich, da!3 durch den Druck des in den
Maschen der Arachnoidea angesammelten Exsudats die Hirnsubstanz
in Mitleidenschaft gezogen wird. So ist besonders in den akuten Stadien
die Gehirnoberfliiehe anamisch, die Gyri sind abgeplattet, das ganze
Gehirn kann sogar gegen die Schadelbasis zusammengepreBt werden
(Payr 97 ). Abgesehen von diesen rein mechanisch bedingten Verande-
rungen haben verschiedene Beobachter (Fuchs 43 ), Raymond-
Claude 109 ), Bonninghaus 14 ), Muskens 86 ), Schultze 125 ) in der Hirn¬
substanz selbst entziindliche Prozesse nachweisen konnen und vor-
geschlagen, derartige Zustande als ,,Meningoencephahtis“ zu bezeich-
nen. Bonninghaus ist der Ansicht, dab jcde Meningitis serosa externa
mit einer Entziindung der Hirnoberflache verbunden sei; nur sei diese
nicht so auffallig und daher weniger beachtet. Er fand ein entziind-
liches Odem und starkste Hyperamie der Hirnsubstanz, die GefaBe
vielfach von Rundzellen umgeben, aber auch mitten zwischen den ner-
vosen Elementen Herde von Rundzellen. Dieselben Veranderungen
hat Schultze beschrieben. Eine besonders sorgfaltige Untersuchung
des Gehirns bei einem Fall von Meningitis serosa circumscripta ver-
danken wir Raymond und Claude. Sie fanden die ganze Hemi-
sphare der betreffenden Seite hyperamisch und ungleichmaBig odematos,
in der niiheren Umgebung der Cyste befanden sich mihare encephali-
tische Herde, einige Male urn kleine Arterien gruppiert, meist aber
unabhangig von den GefaBen. Die Capillaren waren erweitert, ihre
Endothelien geschwollen, und von einem Leukocytenmantel umgeben.
Dazu traten ausgedehnte Veranderungen der nervosen Elemente: die
Ganglienzellen gewuchert, im Aussehen bisweilen den Langhansschen
Riesenzellen ahnlich. Die Gliafasern erschienen vermehrt; stellenweise
waren offenbar Cbergange zur Sklerose vorhanden. Alles also Ver¬
anderungen, wie wir sie auch sonst bei einer Encephalitis finden. End-
lich mag noch eine Beobachtung von Muskens erwahnt werden, der
bei der Operation eines vermeinthchen Hirntumors abgesehen von den
Zeichen einer Meningitis serosa circumscripta — lokale Liquoransamm-
lung und Triibung der Pia — eine starke Injektion der CorticalgefaBe
und eine erhdhte elektrische Erregbarkeit des betreffenden Rinden-
abschnittes feststellen konnte. Bei den innigen Beziehungen, die zwi¬
schen Pia und Hirnrinde bestehen, sind derartige Mitteilungen nicht
Digitized by Goe)gle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Digitized by
474 H. Ruhe: fiber die nosologische Stellung und Differential-
verwunderlich. Eine gleichzeitige Affektion tier Hirnrinde gehort ja
auch bei alien anderen Meningitiden zu den alltaglichen Erscheinungen,
ohne daB man klinisch immer in der Lage ware, die Encephalitis neben
der Meningitis zu erkennen. In den Fallen, in denen die encephalitische
Komponente schon klinisch feststellbar sein sollte, wiirde es keine Be-
denken haben, den Ausdruck einer Meningo-encephalitis zu gebrauchen.
Nun kann es vorkommen, daB sich im Verlaufe einer diffusen serosen
Meningitis der entziindliche ProzeB an einer umschriebenen Stelle
lokalisiert oder aber von vornherein circumscript auftritt. Schon
Strobe 131 ) hat zartwandige Cysten mit klarem serosen Inhalt beschrie-
ben, die sich im Aracknoidalraum des Gehirns und Riickenmarks finden
konnen und wahrscheinlich als Folge einer chronisch-entzundlichen
Abkapselung einzelner Bezirke der Arachnoidea zu deuten sind. Die
ersten klinischen Beobachtungen bezogen sich auf entziindliche Cysten
im Bereich des Riickenmarks, die einen extramedullaren Tumor vor-
getauscht hatten (Literatur bei SchultheiB 124 ). Placzek und
Krause 102 ) haben dann spater auch das Vorkommen cerebraler cir-
cumscripter seroser Meningitiden mit tumorartigem Symptomenkomplex
l>ewiesen. Wie haben wir uns die Entstehung derartiger entziindlicher
Cysten vorzustellen? Schon der anatomische Bau der Arachnoidea
bildet eine gewisse Predisposition. SchultheiB 124 ) weist auf die auBer-
ordentlich lockere Beschaffenheit der Arachnoidea hin, die mit ihren
zahlreichen feinen bindegewebigen Maschen ganz l)esonders geeignet
erscheint, Fliissigkeit in vermehrtem MaBe aufzunehmen. Dadurch,
daB die Arachnoidea die Hirnfurchen briickenartig iiberzieht, entstehen
zwischen Pia und Arachnoidea bereits normalerweise mehr oder minder
abgeschlossene Raume, die namentlich an der Hirnbasis in Form der
Zisternen stark ausgebildet sind. Und in der Tat finden wir die hintere
Schadelgrube als Pradilektionsort circumscripter Meningitiden ; vielleicht
tragen dazu auch die nahen Beziehungen des Gehbrapparates bei, von
dem aus sich gar nicht selten eine umschriebene serose Meningitis ent-
wickelt (Bara ny 5 ) u. 6 ). Besonders bevorzugt sind die Cisterna cere-
bello-medullaris und die Cisterna nervi acustico-facialis. Fiir die an
der Hirnkonvexitat sich entwickelnden circumscripten Meningitiden
konnen wir — abgesehen von den direkt traumatisch entstandenen —
im Einzelfall keine Erklarung abgeben, weshalb sich der ProzeB gerade
an dieser oder jener bestimmten Stelle lokalisiert hat. Die weiteren
Vorgange miissen war uns so denken, daB sich zunachst zwischen ein-
zelnen Maschen der Arachnoidea entziindliche Verklebungen bilden, die
allmahlich zum volligen AbschluB eines derartigen praformierten Rau-
mes fiihren. Gleichzeitig findet aus den die Cyste begrenzenden Ge-
faBen und Lymphscheiden eine Exsudation statt. Wenn nun die peri-
vasculiiren Lymphraume, die ja einen Teil der AbfluBwege des Liquors
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
diagnose der sogenannten Meningitis serosa.
475
darstellen, infolge der Entziindung ebenfalls mehr oder weniger verlegt
sind, so kann es leicht zu einer akuten Druckerhohung innerhalb der
Cyste kommen. Diese kann durch Druck auf die Hirnrinde lokale
Stauungserscheinungen und infolgedessen eine noch vermehrte Fliissig-
keitsabsonderung (Transsudation) hervorrufen (SchultheiB). Die
Moglichkeit, daB ein abgeschlo3sener Liquorbezirk bei vollig normaler
Beschaffenheit der angrenzenden Hirnteile und Hirnhaute allein durch
eine gesteigerte Liquorproduktion zu einer komprimierenden Cyste an-
wachst, wird von SchultheiB bestritten; es rniissen stets entziindliche
Prozesse hinzutreten. Bei den mikroskopisch niiher untersuchten
Fallen fanden sich denn auch bisher stets entweder frisch entziindliche
Veranderungen oder Residuen einer Entziindung (Axhausen 4 ), Op-
penheim-Borchardt 96 ), Placzek-Krause 102 ), Raymond-Clau-
de 109 ), SchultheiB 124 ), Schultze 125 ), also zellreiches, von zahl-
reichen Capillaren durchzogenes, neugebildetes Bindegewebe, bei voran-
gehenden Traumen als Reste einer Hamorrhagie teils intra- teils extra¬
cellular gelegenes Blutpigment. In spateren Stadien treten die akut
entziindlichen Erscheinungen zuriick; es finden sich derbe Strange aus
narbig umgewandeltem Bindegewebe, •Verdickungen der Arachnoidea,
die vollkommen derb und sehnig verandert sein kann (Oppenheim-
Borchardt). Der Inhalt der Cysten ist im allgemeinen steril (Wen-
del 144 ). Chemische Untersuchungen des Cysteninhaltes sind nach den
Angaben von SchultheiB und nach den eigenen Erfahrungen bisher
offenbar nicht ausgefiihrt, wohl aus dem Grunde, weil es sich meist
um iiberraschende Befunde handelte. Vielleicht ist es angebracht, in
Zukunft mehr darauf zu achten, darnit auch auf diese Weise die ent¬
ziindliche Natur des betreffenden Prozesses sichergestellt wird. Wie
stark der Druck ist, den soldi eine Cyste auf die Nachbarorgane aus-
iiben kann, laBt sich aus den Operationsberichten ersehen. Bei Eroff-
nung des Schadels wird die Dura meist pulslos und gespannt angetrof-
fen, der mechanische (und entziindliche) Reiz kann zu Verdickungen
der Dura und Verwachsungen mit dem Schadel und der Leptomeninx
fiihren. An den Hemispharen kann die Oberflache schiisselformig ein-
gedriickt (Schultze 126 ) und die Hirnsubstanz bis auf wenige Milli¬
meter — wie in dem von SchultheiB beschriebenen Fall — verdiinnt
sein. Wenn der ProzeB sich in einer der Zisternen an der Schadelbasis
lokalisiert hat, kann das Kleinhirn infolge des von der Cyste ausgeubten
Druckes mit groBer Gewalt prolabicren (Bonhoffer 18 ), Hildebrand 64 ),
Oppenheim-Borchardt 96 ), Payr 97 ) — im letzten Fall war das
Kleinhirn vollig gegen das Tentorium emporgedrangt, klinisch waren
schwere Atemstorungen vorhanden). Wiederholt wird berichtet, daB
liei Erbffnung der Cyste die FKissigkeit im Strahl hervorspritzte. So
erscheint es auch ohne weiteres verstandlich, wenn derartige — man
Archiv fiir Psychiatrie. Bd. 67 . 32
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Digitized by
47(5 H. ltuhe: Uber die nosologisehe Stellung und Differential-
konnte beinahe sagen — ,,Neubildungen" intra vitam dieselben allge-
raeinen und lokalen Symptome hervorrufen konnen wie jeder andere
raumbeschrankende Prozeb im Schadelinneren.
Das Symptomenbild der serosen Meningitis ist ungemein mannig-
faltig; und gerade dieser proteusartige Charakter, der wechselvolle Be-
ginn und Verlauf, bildet die Ursache fiir die Schwierigkeit der Erken-
nung dieser Krankheit. Wir werden sehen, dab der Ausspruch Schult-
zes 125 ), die Diagnose der Meningitis serosa sei — wie bei den Muttern
im ,,Faust' 1 — „Verlegenheit“, auch heute noch fiir uns nicht einer
gewissen Berechtigung entbehrt. Wir wollen zunachst die diffuse
Form der serosen Meningitis besprechen. Da waren zuerst die
Falle mit akutem Verlauf zu nennen. Der plotzliche Beginn mit
Schiittelfrost, wiederholtem Erbrechen, heftigen Naekenschmerzen und
bald auftretender Bewubtseinstr iibung bietet absolut nichts Charak-
teristisches. Das Fieber, das bis auf 40° steigen kann (Axhausen 4 ),
Eicbhorst 32 ), die hochgradige Nackensteifigkeit, dazu der fiir Menin¬
gitis typische Kahnbauch, die Hauthyperasthesie, das Auftreten von
Kriimpfen oder Lahmungen, der Ubergang in vollige Somnolenz und
eventuell der Tod im Koma nach wenigen Tagen oder gar Stunden, all
diese Erscheinungen begegnen uns in gleicher Weise auch bei den an-
deren Formen der Meningitis. Oft wird erst die Sektion Aufklarung
versehaffen (Beck 7 ). Man hat dieses Krankheitsbild mit dem nicht
gerade gliicklich gewahlten Namen der ,,Apoplexia serosa* 1 bezeichnet
(Heidenhain 61 ), Fcer 34 ). Die Differentialdiagnose wird meist eine
epidemische Cerebrospinalmeningitis (und zwar die als ,,Meningitis
siderans** (Lewandowsky 76 ) bezeichnete akute Form) oder eine eitrige
Meningitis anderer Herkunft autzuschalten haben. Ein wichtiges Hilfs-
mittel zur Unterscheidung ist die Lumbalpunktion, die wohl in den
meisten Fallen die Diagnose sichern wird, obgleich auch bei einer
Meningitis purulcnta ein klares Punktat ohne Mikroorganismen gefun-
den werden kann, wenn namlich der eitrige Prozeli irgendwie abgekap-
selt ist (Matthes 81 ). Kronig 73 ) bezeichnet als fiir die akute serose
Meningitis charakterischen Lumbalpunktionsbefund eine groliere Bei-
mengung roter Blutkorperchen (ebenso Bregman-Krukowski 23 ),
l)ei den infektiosen Formen ein mehr oder minder reichliches Vorhan-
densein von Leukocyten. Aber auch Lynrphocyten sind bei akuten
Fallen im Lumbalpunktat beobachtet (Bregman-Krukowski). Der
Liquor steht meist unter hohem Dmck, ist klar oder nur leicht getiiibt
und hat einen erhohten EiweiBgehalt (positive Globulinreaktionen);
spontane Gerinnung tritt nur selten ein (Bregman-Krukowski). Die
Mitteilungen iiber den Ausfall der Kolloidreaktionen bei Meningitis
serosa sind nicht sehr zahlreich. Aus einer Zusammenstellung von
Wcigeldt 139 ) ist zu ersehen, dab die Goldsolreaktion bei 3 Fallen von
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
diagnose der sogenannte 1 Meningitis serosa.
477
Meningitis serosa — im Gcgensatz zu den tibrigen For men der Meningitis
— negativ ausfiel. Andrerseits hat Stern 128 ) bei einer Meningitis serosa
nach Pneumonie, die mit starker Pleocytose und starker Globulinfallung
einherging, einen Unterschied im Ausfall der Reaktion gegeniiber der
eitrigen und tuberkulosen Meningitis nicht beobaehten konnen. Es
scheint demnach fraglich, ob die Koiloidreaktionen zur Sicherung der
Diagnose im Einzelfall beitragen konnen. Ein positiver Bakterien-
befund im Liquor scheint bisher nicht oft erhoben zu sein (s. o.)- Wenn
aber von vornherein oder im weiteren Yerlauf der Krankheit Bakterien
gefunden werden, so kann natiirlich auch das Resultat der Liquorunter-
suchung im Stieh lassen, wie ein Fall von Bliihdorn 12 ) beweist, bei
dem sich im AnschluB an eine Pneumonie eine Meningitis entwickelte,
die zunachst rein seros war — mit negativem Bakterienbefund — und
erst spiiter unter gleichzeitigem Auftreten von Frankclschen Diplo-
kokken in eine eitrige Pneumokokkenmeningitis iiberging. Vielleicht
kann tier Naehweis irgendeines der atiologischen Momente — besonders
Infektion oder Trauma — die Diagnose auf die rechte Bahn lenken,
vielleicht auch der schnelle Riickgang der Symptome, wie in dem
hereits erwahnten Fall von Feer 35 ). tTberhaupt ist es von Wiehtigkeit,
l>ei jedem Fall von Meningitis die Moglichkeit einer Meningitis serosa
in Betracht zu ziehen. Das hat auch Gbppert 48 ) erst kiirzlich wieder
betont. Er gibt an, da!3 er in den letzten .Tahren haufiger als sonst aus-
gepragte Meningitiden mit serosem Exsudat gesehen lmbe, die klinisch
vollig einer akut eitrigen oder einer tuberkulosen Meningitis glichen,
und er ist an diese Form der serosen Meningitis so gewohnt, daB er
unwillkurlich selbst bei der ausgesprochensten Hirnhautentzundung
stets zuerst an die serose Form dieser Erkrankung denkt. Einen ge-
wissen Anhaltspunkt fUr die Diagnose kann vielleicht auch die Anamnese
ergeben, wenn niimlich bereits friiher ahnliche Attacken von menin-
gitischer Reizung und Hirndrucksymptome vorgekommen sind oder
der Naehweis eines Hydrocephalus, der im gleiehen Sinne zu deuten
ist (Gerhardt 48 ), Rieboldt 111 ), Quincke 105 ), Schultze 125 ). Phniger-
maBen charakteristisch kann auch ein auffallend intermittierender Ycr-
lauf sein (Eichhorst 32 ), Gerhardt, Bregman-Krukowski, Miin-
zer 86 ), Quincke 105 , 106 ). Im allgemeinen soil nach Quincke eine
Meningitis purulenta akut beginnen, auch die einzelnen Symptome, wie
Kopfschmerz, Nackensteifigkeit, Fieber usw., sollen starker ausgepriigt
sein als l)ei der Meningitis serosa, die haufig einen Wechsel in der In-
tensitat der Symptome erkennen ljiBt. Die Angaben iiber die Stauungs-
papille lauten versehieden; man erhiilt aber den Eindruck, als sei sie
nicht sehr haufig (Brasch 22 ), Bregman-Krukowski 23 ), Eich¬
horst 32 ), Kampherstein 69 ), Blumenthal 13 ), Bonninghaus 14 ),
Quincke 10 ®); dagegen Beck 7 ), so daB also auch daraus kein Unter
32*
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
478
H. Ruhe: (Jber die nosologisehe Stellung und Differential-
Digitized by
scheidungsmerkmal gegeniiber anderen akut verlaufenden Formen der
Meningitis hergeleitet werden kann. Noch am wertvollsten fur die
Diagnosenstellung erscheint mir nach allem demnach das Ergebnis
der Lumbalpunktion. ,,Im iibrigen ist fur die akute Meningitis serosa
nicht ein Symptom oder ein Symptomenkomplex charakteristisch, son-
dern allein der Ausgang, und zwar der meist unerwartet giinstige Aus-
gang”, dieses Wort von Bonninghaus gilt auch fiir uns heute noch
in weitgehendem Mafic.
Als lehrreiches Beispiel fiir die akut verlaufende Meningitis serosa
mag folgender vor einiger Zeit in der Gottinger Nervenklinik beobachtete
Fall dienen.
Fall I: K. S., Schuler im Alter von 17 Jahren, hatte als Kind hin und wieder
an Kopfschmerzen gelitten, war aber sonst nie ernstlich krank. Nach den An-
gaben des Hausarztes ist K. etwas sensitiver Natur. Vor etwa 4 Wochen hat er
eine Grippe durchgemacht, fiihlte sich danach wieder vollig gesund.
Am ll.Juli 1921, einem ungewohnlich heiDen Tag, ging K. mittags zum
Baden; nach dem Bade saB er noch langere Zeit mit unbedecktem Kopf in der
Sonne. Als er nach Hause kam, klagte er iiber Kopfschmerzen und fiihlte sich
auch sonst nicht ganz wohl. Trotzdein ging er am folgenden Tag zur Schule.
Mittags kehrte er mit starken Kopfschmerzen heim und muBte sich bald zu Bett
legen. Am anderen Morgen fanden ihn die Eltern bewuBtlos mit zerbissener
Zunge im Bett liegend. Nach den Angaben der Eltern sind auch Krainpfe auf-
getreten, die sich anscheinend immer nur auf ein Glied beschriinkten; dabei er-
folgte mehrmals Erbrechen. Der herbeigerufene Arzt fand den Knaben in vollig
bewuBtlosem Zustand. Pat, fiihrte dauernd meist langsame, ganzlich arhyth-
niische, unkoordinierte Bewegungen mit den Gliedern aus, fuhr ziellos mit den
Armen in der Luft umher und bewegte die Beine hin und her. Krampfe wurden
nicht mehr beobachtet. Der Schadel war nirgends klopfempfindlich, die Pupillen
etwas erweitert. auf Licht und Konvergenz prompt reagierend. Erscheinungen
von seiten der Hirnnerven konnten nicht festgestellt werden. Die Zungenspitze
zeigte starke frische Quetschwunden. Kernig negativ. Die Bauchdecken waren
etwas eingezogen. Samtliche Reflexe in normaler Weise vorhanden, auch die
Motilitat war anscheinend nicht in groberer Weise gestort. Puls regelmaBig, kraftig,
84 Schlage pro Minute, Temperatur 37,2°. Auf arztlichen Rat wurde der Knabe
noch am selben Tag in die Nervenklinik verlegt.
Die BewuBtlosigkeit hielt den ganzen Tag iiber an; die Atmung war etwas
schnarchend. Auffallend waren die haufigen krampfhaften Flexionsstellungen
der Arme und Beine, die Muskelspannung war deutlich vermehrt. Noch am
Abend desselben Tages wurde die Lumbalpunktion vorgenommen. Der Druck
betrug (ohne Pressen!) 220 mm H 2 0, der Liquor war klar, Nonne —, 3 */ 8 Zellen
im cmm; es wurden 13 ccin abgelassen. Die Temperatur betrug am Abend 37,6°
und stieg am niichsten Morgen (14.) auf 39 = .
Auch am folgenden Tag hielt der komatose Zustand an; dabei fiel zeitweise
eine groBe, tiefe, etwas beschleunigte Atmung auf, bei der die Hilfsmuskeln in
Aktion traten, ohne daB jedoch anscheinend inspiratorische Hindemisse zu iiber-
winden waren. Die Patellarreflexe waren kaum noch auszulosen, die iibrigen
Reflexe waren in normaler Starke vorhanden. Bei einer nochmaligen Punktion
wurden lOccm Liquor abgelassen; der Druck war wesentlich niedriger als am
Tage vorher, er stieg wahrend des Liquorabflusses allmahlich bis auf 150 mm,
Nonne —, lg9 / 8 Zellen im cmm. Zahl der Lcukocyten im Blut 4900.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
diagnose der sogenannten Meningitis serosa.
470
Wahrend des folgenden Tages hielt .sich die Temperatur dauernd uin 38°,
die groBe Atmung verschwand, der Puls war anhaltend kraftig und regelmtiBig.
Allmahlich begann der Patient mehr und mehr zu reagieren; er stohnte und
machte Abwehrbewegungen, gegen Abend schlug er die Augen auf. Beim Vor-
wartsbeugen des Kopfes war ein deutlicher Widerstand der Nackenmuskulatur
ftihlbar, die Patellarreflexe fehlten fast vollig. Im Laufe der niichsten Nacht
(vom 15. auf 16.) kam der Patient allmahlich zu sich, anfangs noch leicht be-
nommen und schwerbesinnlich. Die Orientierung war nur mangelhaft, das Ver-
standnis fiir seinen Krankhcitszustand fehlte vollig. Der Gedankenablauf war
zunachst noch verlangsamt, die Auffassung erschwert. Anfangs klagtc der Patient
iiber heftige Kopfschmerzcn, die sich jedoch im Laufe des Tages besserten Die
Nackensteifigkeit w ar geringer geworden; die Patellarreflexe fehlten noch vollig.
Sonst konnte kein von der Norm abw'eichender neurologischer Befund erhoben
werden.
Am folgenden Tag (17.) war das BewuBtsein wieder vollig vorhanden, nur
eine leichte Unruhe und Erregbarkeit fiel noch auf. Der Patient fiihlte sich wohl
und verlangte autzustehen. Die Temperatur war noch immer erhoht und hielt
sich auch wahrend der niichsten beiden Tage zeitweise liber der Norm. In der
Folgezeit erholte sich der Knabe auffallend rasch, Sclilaf und Appetit waren gut,
das subjektive Befinden war ausgezeichnet. Irgcndwelche krankhaften Storungen
konnten nicht mehr nachgewicscn werden. Die Gesundheit hat, wie Bcrichte
der letzten Zeit ergeben (August 1922), angehalten.
Zusammenfassung: Ein bisher stets gesunder Knabe erkrankt ziern-
bch akut unter sell were n cerebralen Erscheinungen (BewuBtlosigkeit,
Erbrechen, Krampfe, groBe Atmung), denen sich meningitische Sym-
ptome (Kopfschmerzen, Nackensteifigkeit, erhohter Lumbaldruck mit
Pleocytose) beimengten. Bei der Beurteilung des Krankheitsbildes
muBte man anfangs sehr verschiedene Moglichkeiten in Betracht ziehen.
Zunachst lag — namentlich bei dem jugendlichen Alter des Patienten
— vielleicht der Gedanke am niichsten, dab eine Infektionskrankheit,
gleichgiiltig welcher Art, vorliegen konnte, die unter dcrartigen cere¬
bralen Erscheinungen manifest wurde. Doch sprach der weitere Ver-
lauf, das Fehlen aller sonstigen auf einen infektiosen ProzeB hindeuten-
den Symptome gegen eine solche Annahme. Eine Uramie konnte auf
Grund der sofort angestellten Urinuntersuchung mit Sicherheit aus-
geschlossen werden. Fiir eine sonstige Intoxikation lagen ebenfalls
keinerlei Anhaltspunkte vor. Der Gedanke, daB es sich uni eine akut
einsetzende Meningitis handelte, riickte damit immer mehr in den
Vordergrund; er wurde durch das Ergebnis der Lumbalpunktion be-
statigt. Gegen die Annahme einer epidemischen Cerebrospinalmenin-
gitis oder einer Meningitis tuberculosa konnte zunachst das Fehlen der
Erreger im Liquor verwertet werden, vor allem aber der weitere Ver-
lauf, das iiberraschend schnelle Verschwinden aller Symptome. Somit
gewann die Annahme einer Meningitis serosa mehr und mehr an Wahr-
scheinlichkeit und wurde durch den Verlauf bestatigt.
Ob die vor 4 Woehen iiberstandene Grippe fiir den Ausbruch der
Erkrankung verantwortlich zu machen ist, mag dahingestellt bleiben.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
480
H. Ruhe: Cber die nosologische Stellung und Differential-
Digitized by
Viol nahor liegt der Gedanke, da B die serose Meningitis durch die in-
tensive Besonnung hervorgerufen ist, wird doeh auch in der Literatur
die Insolation bei der Atiologie der Meningitis serosa erwahnt (We¬
ber 136 ). Vielleicht ist es angebracht, bei derartigen Fallen, bei denen
die cerebrale Komponente so stark in den Vordergrund tritt, zwecks
besserer Charakterisiening des Krankheitsbildes von einer Meningo¬
encephalitis zu sprechen. Besonders himveisen mochte ieh endlich noch
auf die Lumbalpunktion, <lie in derartigen anfangs unklaren Fallen zur
Sicherung der Diagnose ausschlaggebend sein kann, vor allera aber bei
den akuten Fallen von seroser Meningitis unser wichtigstes therapeu-
tisches Hilfsrnittel und mitunter von direkt lebensrettender Wir-
kung ist.
Noch schwieriger kann sich die Differentialdiagnose bei den chro-
nischen Fallen der serosen Meningitis gestalten, die mit ihrem all-
mahlichen Beginn und dein langsamen, oft wochenlangen Verlauf vor
allem gegen die tuberkulose Meningitis abzugrenzen ist, wenngleich
naturlieh auch bei den eitrigen Formen ein latenter und bei tuberku-
losen ein akuter Verlauf radghch ist. Ich halte daher die genaue Be-
schreibung eines solchen Fades fur wichtig, der im vergangenen Jalir
in der hiesigen Nervenklinik beobachtet wurde; cr mag diese Schwierig-
keiten erlautern.
Fall II: F. F. aus M., Knabe von 8 Jaliren. Abgesehen von einer Grippe,
die er vor 2 Jahren durchmaehte, war der Knabe bisher stets gesund. Die Mutter
ist vor 2 Jahren etwas „lungenleidend“ gewesen, eine kleine Schwester leidet
oft an ,.Lungenverschleimung“. Familienanamnese sonst o. B. Vor 7 Wochen
wurde dem Knaben, der kurz vorher eine doppelseitige Mittelohrentziindung
gehabt liatte, die Raehenmandel entfernt. Nach der Operation hat er sich vollig
gesund gefiihlt. Am 10. VI. 1921 erkrankte er plotzlich mit starken Kopfschmerzen
und haufigem Erbrechen; am folgenden Tage klagte er sehr iiber Xackenschmerzen,
heill soil er sich zu Haus nicht angefiihlt haben, doch soli zuletzt etwas Fieber
vorhanden gewesen sein. Das Kind wurde von der Mutter in die Ohrenklinik
gebracht und von dort nach 2 Tagen der Nervenklinik iiberwiesen.
Status am 14. VI. 21: Gut genahrter Junge mit gesunder Hautfarbe, aber
auffallend ernstem, leidendem Gesichtsausdruck. Er liegt regungslos und apa-
thisch. reagiert aber prompt auf Anruf. Es ist keine eigentliche Benommenheit.
dagegen eine Schwerfalligkeit im Gedankenablauf zu bemerken. Der Schadel
ist hinten angeblich starker druckempfindlich als vorn, auch der Warzenfortsatz
wird als klopfeinpfindlich bezeichnet. Die Austrittsstellen des 1. Trigeminusastes
sind beiderseits druckschmerzhaft. Pupillen o. B.; kein Nystagmus; Augenhinter-
grund normal. Nackensteifigkeit angedeutet. Reflexe normal; nur der Babinski-
sche Zehenreflex rechts ist zweifelhaft, mehrnmls positiv, links dauernd negativ.
Patient kann nicht stehen, die Wirbelsaule biegt sich durch, den Kopf kann er
nicht aufrecht halten. Schon beim Versuch, sich spontan aufzurichten, maclit.
er ganz ungeschickte ataktische Bewegungen. Die Ataxie hat cerebellaren Typus.
der Muskeltonus ist sehlaff, es ist aber keine eigentliche Hypotonic vorhanden.
Beim Fingernasenversuch beiderseits geringe. beim Kniehackenversuch aus-
gesprochene Ataxie. Adiadochokinesis ist links angedeutet, die Bewegungen
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
diagnose der sogenannten Meningitis serosa.
481
werden mit beiden Handen ungesehiekt ausgefuhrt. Beim Baranyschen Zeige-
vereuch ergeben sich keine deutlichen Abweichungen. die Bewegungen sind aber
gleiehfalls unsicher. Kernig positiv. Die Sensibilitat ist intakt. Temperatur
36,8°. Der Puls ist klein und regelmaBig, 132 Schliige pro Minute.
In den naehsten Tagen stieg die Temperatur allmahlich und erreichte am
17. VI. 38°, bewegte sich dann dauernd iiber 37°, erreichte mitunter 37,8°.
Am 15. wurde eine Lumbalpunktion ausgefuhrt: Druck 170 mm Wasser, Xonne + ,
Zellen 45 / s im cmm, Tuberkelbazillen nicht nachweisbar, VVa. —. Bei einer zweiten
Punktion am darauffolgenden Tage betrug der Druck nur 10—20 mm (Verkle-
bungen?). In den naehsten Tagen trat allmahlich Besserung ein; der Patient
wurde frischer (euphorisch), bewegte die Beine besser, der Kopf fiel dagegen
beim Aufrichten noch immer kraftlos nach vom oder hinten. Am 20. wurden
beiderseits hinter dem Ohr und Kopfnicker Lymphdriisenschwellungen fest-
gestellt, besonders rechts eine bohnengroBe druckschmerzhafte Druse. Der Ohren-
befund ist negativ, nur geringe Einziehungen des Trommelfells. Wegen des an-
fanglichen Verdachtes auf Meningitis tuberculosa wurde eine Tuberkulinkur
durchgefiihrt, beginnend mit 0,001 mg und mit mehrtagigen Abstanden bis auf
0,5 mg steigend, sie wurde ohne Beaktion vertragen. AuBerdem erhielt der Pa¬
tient IXa 10,0:300,0 3maltaglich 1 EBloffel, allmahlich steigend auf 6mal taglich
1 EBloffel. Eine am 20. ausgefiihrte Lumbalpunktion ergab einen Druck von
150 mm, Xonne —, 1# / 3 Zellen.
25. VI. Der Opisthotonus ist geringer. Die cerebellaren Svmptome gehen
allmahlich zurtick. Patient kann sich allein im Bett aufrichten und aufrecht
sitzen. Die Schwellung der Suboccipitaldriisen ist wieder vollig abgeklungen.
Samtliche Reflexe normal. Kernig noch positiv, 1 > r. Lumbalpunktion: Druck
von 150 mm.
1. VII. Die Besserung schreitet fort. Patient vermag sich aufrecht hinzu-
stellen. Die wiihrend des ganzen Krankheitsverlaufes auffallende Euphorie be-
steht auch fernerhin weiter*), die Psyche wird lebhafter, Patient nimmt an seiner
Umgebung mehr Anteil.
5. VII. Weitere Besserung. Kernig negativ. Opisthotonus nur noch an-
gedcutet. Die cerebellaren Erscheinungen sind beim Gehen nur noch gering;
der Gang ist tappend, etwas taumelnd.
Am 15. VII. hat Patient keine Beschwerden mehr. Es bestehen nur noch
geringe Gleichgewichtsstorungen. Die Schwache in den Kopfnickern halt an.
Am 17. VII. wurde der Patient als geheilt entlassen. Ein Tierversuch (tlber-
impfung von Liquor auf ein Meerschweinchen intra}>eritoneal) blieb erfolglos. Eine
Xachuntersuchung im April 1922 ergab anhaltende vollige Gesundheit bis auf
eine restierende doppelseitige Accessoriusparesc.
Zusammenfassung: Es handelt sich also um einen Sjahrigen Kna-
ben, der ziemlich plotzlich unter meningitischen Symptomen erkrankto.
Es bestand zunachst auf Grund des Cberwiegens cerebellarer Erschei¬
nungen der Verdacht, dab es sich um einen im Kleinhirn lokalisierten
Solitartuberkel mit reaktiver Meningitis serosa handeln konnte. Auch
die Familienanamnese machte einen tuberkulosen Prozeb wahrschein-
lich. Der auffallend rasche Riickgang der Symptome bis zur volligen
*) Gber iihnliche Stimmungsanomalien berichten ubrigens Qincke 105 ):
„Wechselnde Stimmung, zuweilen auffallend lustig“, und Weigeldt 138 ): ..Bes¬
serung, plotzlich klar, lacht unnaturlich vicl."
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
482
H. Ruhe: Dber die nosologisehe Stellung und Differential-
Digitized by
Restitutio ad integrum lieB jedoch eine einfache Meningitis serosa
(vielleicht mit besonderer Beteiligung der hinteren Schadelgrube) wahr-
scheinlicher werden. Irgendein greifbares atiologisches Moment hat
sich nicht finden lassen, man muBte denn die vor 7 Wochen durch-
gemachte Otitis media fur die Entstehung des Prozesses verantwortlich
machen. Gegen tuberkulose Meningitis diirfte der rasche giinstige Aus-
gang und das Fehlen von Tuberkelbazillen im Liquor, auch im Tier-
versuch, mit hinreichender Sicherheit sprechen. DaB es sich um eine
wirkliche Entziindung der Meningen handelte, geht aus dem entziind-
lichen Charakter des Liquors her vor.
Wie aus der Schilderung des vorliegenden Fades hervorgegangen
sein diirfte, ist die Differentialdiagnose einer derartigen Erkrankung,
besonders gegeniiber der tuberkulosen Meningitis, iiuBerst
schwer. Es bestand friiher die Anschauung, daB eine tuberkulose
Hirnhautentziindung prognostisch absolut infaust ware (Schultze 125 ).
Nun sind aber im Laufe der letzten 2—3 Jahrzehnte Heilungen von
Meningitis tuberculosa beobachtet worden; v. Bokay 15 ) konnte im
Jahre 1914 34 solcher geheilter Falle aus der Literatur zusammenstellen.
Die Diagnose war in samtlichen Fallen sichergestellt, teds durch po-
sitiven Bazillenbefund im Liquor (dem gegeniiber man sich noch bu¬
rner skeptisch wird verhalten konnen, da man nie genau wissen kann,
ob die im Ausstrich gefarbten Gebilde mit Tuberkelbazillen identisch
waren), teds durch den Tierversuch, durch den Nachweis von Cho-
rioidealtuberkeln, oder durch die Autopsie bei den Fallen, die spater
an einem Rezidiv oder an einer anderen Erkrankung zugrunde gingen,
wobei Residuen der tuberkulosen Affektion an den Meningen fest-
gestellt werden konnten. Immerhin gehoren derartige Mittedungen
entschieden zu den Seltenheiten, und trotz dieser Erfahrungen ist die
Prognose in jedem Fad als auBerst ernst zu stellen, denn die Menin¬
gitis tuberculosa ist jahaufig nur die Manifestation einer absolut tod-
lichen Miliartuberkulose (Matthes 81 ), Thiemich 133 ). Da nun die
Meningitis serosa eine relativ giinstige Prognose hat, muB uns daran
gelegen sein, beide Erkrankungen moglichst friihzeitig gegeneinander
abzugrenzen. Zunachst kann die Anamnese wertvolle Aufschliisse
geben (Matthes). Wenn in der Familie bereits tuberkulose Erkran¬
kungen vorgekommen sind — besonders ist auch auf den Gesund-
heitszustand der Dienstboten Gewicht zu legen — oder sonst die Mog-
lichkeit einer tuberkulosen Infektion (Arbeitsstatte) nahe lag, kann
damit von vornherein ein Hinweis auf die Moglichkeit einer tuber¬
kulosen Meningitis gegeben sein. DaB dies allerdings nicht immer
stimmt, lehrt der von mir beschriebene Fad. Noch wichtiger ist der
Nachweis tuberkuloser Stigmata am Korper des Patienten selbst.
Doch muB betont werden, daB selbst das Vorhandensein ausgepragter
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
diagnose der sogenannten Meningitis serosa.
483
tuberkuloser Veranderungen irgendwelcher Organe eine rein serose
Meningitis durchaus nicht ausschlieBt. Schon Billroth 8 ) hat, wie wir
anfangs sahen, darauf aufmerksam gemacht, und nach ihm sind wieder-
holt die gleichenErfahrungengemacht worden. So berichtet Quincke 105 )
von 2 Fallen, die intra vitam durchaus den Eindruck einer tuberku¬
losen Meningitis machten. Die Sektion ergab in dem einen Fall eine
Miliartuberkulose der Lungen, Pleuren und der Leber, im anderen
Falle eine beiderseitige Phthisis pulmonum, Pleuritis und Peritonitis
tuberculosa, Tuberkelknotchen in Leber und Milz. Beide Male fand
man die Hirnhaute vollstandig frei von tuberkulosen Veranderungen.
Selbstverstandlich muB eine genaueste mikroskopische Untersuchung
verlangt werden. Es sind ferner Falle beobachtet, wo friihcre Lungen-
erkrankungen vorhanden waren (Miinzer 85 ), Seiffer 118 ); besonders
verdachtig erscheinen Schwellungen der Halslymphdriisen. Ein dem
unsrigen ahnlicher Fall, bei dem wahrend des Ablaufs einer Meningitis
serosa ebenfalls eine nach kurzem Bestehen zurxickgehende Schwellung
der (rechten) Halslymphdriisen auftrat, ist von Miinzer publiziert.
ALs besonders charakteristisch soli ein von Brockmann 26 ) geschil-
derter Fall erwahnt werden. Es handelte sich um ein 9 Wochen altes
Kind, das wegen hartnackigen Fiebers in die Klinik eingeliefert war.
Auf der Haut fanden sich kleinpapulose Tuberkulide, Pirquet war
positiv, es heB sich eine Infiltration der obercn und mittleren Partien
der rechten Lunge feststellen. Das Kind bot dazu ausgesprochene
meningitische Erscheinungen; die Fontanelle war stark gespannt, der
Liquor war klar, stand unter hohem Druck (bis 400 mm) und wies
eine leichte Lymphocytose auf. Daraufhin wurde die Diagnose einer
Meningitis tuberculosa incipiens gestellt. Im Liquor waren jedoch
keine Tuberkelbazillen nachzuweisen, ein Meerschweinchenimpfversuch
blieb erfolglos. Das Kind ging zugrunde und bei der Sektion fanden
sich ausgedehnte tuberkulose Veranderungen an den Lungen, die
Bronchial- und Mesenterialdriisen waren verkast, Hirn und Hirnhaute
aber vollkommen intakt. Auch Groer 55 ) hat an tuberkulosen Kin-
dern — besonders solchen, die stark heruntergekommen waren —
vereinzelte leichte (unter 55 Kindern 15 Male), bisweilen (3mal) auch
ausgesprochene meningitische Symptome feststellen konnen, ohne daB
sich sonst irgendein Anhaltspunkt fiir eine tuberkulose Meningitis
finden lieB. Die angefiihrten Beispiele zeigen uns wohl zur Geniige,
daB die Anamnese, so wichtig sie auch ist, uns doch keineswegs stets
einen absolut sicheren Hinweis auf die Art der vorliegenden Krank-
heit gibt.
Und nun zum Krankheitsverlauf selbst. Das klinische Bild beider
Meningitisformen kann so vollig iibereinstimmen, daB es nicht ver-
wunderlich erscheint, wenn die Meningitis serosa so haufig verkannt
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
484
H. Ruhc: tH>er die nosologische Stellung und Differential-
Digitized by
wird. Erst die genaue Beobachtung gestattet oft eine einigermafien
sichere Diagnose (auCer den schon erwahnten Fallen noch die von
Beck 7 ), Bl iihdor n 12 ), v. Bokay 16 ),Eichhorst 32 ), Groer 55 ), Harke 59 ),
Matthes 81 ), Quincke 105 ) 106 ), Weigeldt 138 ). Der schleichende Be-
ginn, die zunehmende Blasse, die Verschlechterung des Allgemein-
befindens, die Veranderungen der Psyche, vor allem die Unruhe, Ixm
Kindern die Unlust zu spielen und das scheue gedriicktc Wesen, das
Eltern und Erziehern oft zuerst aufzufallen pflegt, die tveinerliche
Stimmung, dazu Appetitlosigkeit, allmahlich sich einstellende und
zunehmende Kopfschmerzen, Miidigkeit und Mattigkeit, gelegentliches
Erbrechen und die Triibung des Sensoriums, all diese fiir die Friih-
diagnose der Meningitis tuberculosa wichtigen Symptome komraen in
gleicher Weise bei der serosen Meningitis vor. Dasselbe gilt von den
manifesten meningitischen Erscheinungen: Hauthyperasthesie, Der-
mographismus (Weigeldt), Kahnbauch, Nackenstarre, positiver Ker-
nig, Druckpuls, Paresen der Augenmuskeln, Konvulsionen oder Liih-
mungen der Extremitaten, cerebellare Erscheinungen usw. Da die
tuberkulbse Meningitis gelegentlich einen akuteren Beginn aufweist
und die serose Meningitis gleichfalls ziemlich plotzlich in die Erschei-
nung treten kann, liegt also auch in der Art des Beginns beider Krank-
heiten kein Unterscheidungsmerkmal. Es wtirde zu weit fiihren, wenn
man nun all die bisher in der Literatur veroffentlichten Falle von
seroser Meningitis, die unter dem Bilde einer Meningitis tuberculosa
verliefen, aufziihlen wollte. Eine solche Zusammenstellung konnte
auBerdem auch nicht den Anspmch auf Vollstandigkeit erheben; denn
je weiter die Kenntnis dieses Krankheitsbildes in die Arztewelt ge-
drungen ist, um so eher wird auch die Moglichkeit einer Meningitis
serosa im Einzelfall erwogen werden, und um so geringer werden die
Beitrage zur Kasuistik werden, wie das ja auch auf alien anderen Ge-
bieten der Medizin der Fall ist, die der Erkenntnis erst erschlossen
werden. Ich will mich deshalb darauf beschranken, im folgenden all
die Tatsachen anzufiihren, die im Einzelfall zur Kliirung der Differen-
tialdiagnose vielleicht beitragen konnen, jedoch mit der Bemerkung,
daB man ihnen ein Reeht auf Allgemeingiiltigkeit nicht einraumen kann.
Zunachst kann man rein klinisch im Gesamtverlauf der Erkrankung
haufig ein abweichendes Verhalten feststellen. Die Meningitis tu¬
berculosa fiihrt gewohnlich im Laufe der drittcn Woche nach dem
Einsetzen der meningitischen Symptome zum Tode (Matthes 81 ), die
Benommenheit pflegt — wenigstens zu Zeiten — die hochsten Grade
zu erreichen, die Erscheinungen von seiten der Hirnnerven und der
peripheren Nerven sind entschieden haufiger und schwerer als bei der
serosen Meningitis. Die letztere hat einen mehr protrahierten Ver-
lauf, die BewuBtseinstriibung pflegt nicht so hochgradig zu sein
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
diagnose der scgenannten Meningitis serosa.
485
(Harke 59 ), Finkelnburg 38 ), auch die iibrigen Symptome sind ge-
wohnlich nicht so stark ausgepragt wie bei der tuberkulosen Meningitis.
Die StauungspapiUe bzw. Neuritis optica erreicht bei der Meningitis
serosa im weiteren Verlauf der Erkrankung oft die extremsten
Grade (Bonhoffer 17 ), Bregman-Krukowski 23 ), Finkelnburg 38 ),
Quincke 105 ); daB jedoch auch dabei Ausnahmen vorkommen, beweist
unser Krankheitsfall. Beiden Formen gemeinsam ist der remittierende
Verlauf. Die Remissionen bei der serosen Meningitis sind aber meist
vollstandiger und dauern langer an. Ein besonders charakteristisches
Beispiel dafiir bietet der Fall von Eichhorst 32 ), bei dem innerhalb
kurzer Zeit funfraal die allerschwersten meningitischen Erscheinungen
auftraten, uni nach einigen Tagen wieder zu verschwinden; der
Exitus erfolgte in einem derartigen Anfall. Die nach einer Lumbal-
punktion bisweilen auftretende Besserung des Allgemeinbefindens kann
ebenfalls nicht fiir eine serose Meningitis ausschlaggebend sein, wohl
aber vielleicht das auffallig rasche Verschwinden anfiinglicher bedroh-
licher Symptome — wenigstens in einer Anzahl von Fallen. Man darf
aber nie die bei der Meningitis tuberculosa so bekannten Remissionen
vergessen. Abgesehen von dem meist giinstigen Ausgang der serosen
Meningitis wird also die klinische Beobachtung nicht in alien Fallen
die Entscheidung herbeifuhren konnen. Es kann dann die Unter-
suchung des Liquor cerebrospinalis helfen. Absolut sicher fiir eine
Meningitis tuberculosa spricht ein positiver Tuberkelbazillenbefund,
dieser gelingt auch in den meisten Fallen (nach Holzmann in Krause
— siehe unterNr. 91 — in 75—80% ; Lenhartz (zit. nach Holzmann)
gibt sogar 90 -100% an). Auch nach den Erfalmingen der Gottinger
Xervenklinik werden wenigstens im Tierversuch die Erreger nie ver-
miBt. Es wird aber Falle geben, wo aus auBeren Griinden der Tierversuch
nicht moglich ist; auBerdem ist er ja fiir eine augenblickliche Entschei¬
dung unbrauchbar, da die Diagnose — wenn es sich wirklich urn eine
Meningitis tuberculosa handelt — in den meisten Fallen (Dauer 3 bis
G Wochen) zu spat kommen wird. Die iibrigen Eigenschaften des
Liquors sind weder in der einen noch in der anderen Richtung charak-
teristisch. Der erhohte Druck, der vermehrte EiweiBgehalt, der bei
der Meningitis serosa in den weitesten Grenzen schwanken kann, ist
beiden Formen gemeinsam. Der Zellbefund kann bei der Meningitis
serosa groBen Schwankungen unterliegen, teils ist er vollkommen
negativ (dann allerdings keine echte Meningitis), teils findet man mehr
oder weniger reichlich Lymphocyten. Diese letzte Feststellung ist
bereits von Kronig 73 ) gemacht und seitdem wiederholt bestatigt
worden (Beck, Bregman-Krukowski, Brockmann, Feer,
Quincke, Weigeldt, unser Fall), jedoch ohne daB mandarin irgend-
ein differentialdiagnostisch wichtiges Moment crblicken konnte. Die
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
486
H. Ruhe: Uber die nosologische Stellung und Differential
fiir eine Meningitis tuberculosa charakteristische Fibringerinnselbildung
im Liquor kann in seltenen Fallen auch bei der Meningitis serosa ein-
treten (Mayerhofer-Neubauer 82 ), ebenso \vie andrerseits die stau-
bige Triibung und die erhohte Gerinnbarkeit des Liquors bei Menin¬
gitis tuberculosa auch ausbleiben kann. Mayerhofer und Neubauer
haben versucht, durch die Bestimmung der Menge der organischen
und organisierten Substanzen im Liquor mittels Permanganattitration
die Meningitis serosa und tuberculosa gegeneinander abzugrenzen. Die
Resultate ihrer Untersuchungen haben ergeben, dab ein andauernd
tiefer Indexwert absolut gegen tuberkulose Meningitis spricht, und daB
bei den gutartigen Fallen von Meningitis serosa der Indexwert andauernd
tief oder nur voriibergehend erhoht ist. Die beiden Autoren miissen
allerdings selbst zugeben, daB in einem Fall von todlicher Meningitis
serosa ihre Untersuchungsmethode sie im Stich lieB, und erst die Sektion
Aufklarung verschaffen konnte. Mit Hilfe dieser Methode haben
Mayerhofer und Neubauer auch festgestellt, daB bei einer tuber¬
kulosen Meningitis der unterc Toil des im Reagenzglase befindlichen
Liquors — wohl infolge Sedimentiemng — reicher an organischen
Substanzen ist als die oberen Schichten; bei Meningitis serosa sollen
diese Unterschiede geringer sein. Nachuntersuchungen von Zalo-
ziecki 146 ) haben dann ergeben, daB der Titrationsindex abhangig ist
vom Zell- und EiweiBgehalt des Liquors und dem Gehalt an organi¬
schen Substanzen, deren Menge aber atich im normalen Liquor infolge
der engen Beziehungen zur Zusammensetzung des Blutes bereits er-
heblichen Schwankungen ausgesetzt ist, so daB ein erhohter Index
z. B. auch bei der Uramie und im Coma diabeticum vorkommt. Zalo-
ziecki kommt zu dem SchluB, daB die einfache Bestimmung des EiweiB-
und Zellgehaltes immer noch bessere Resultate liefert.
Weiterhin hat Matthes 81 ) neuerdings darauf aufmerksam gemacht.
daB bei der tuberkulosen Meningitis haufig eine Symptomentrias:
relative Pulsverlangsamung, Leukopenie im Blute und positive Diazo-
reaktion vorhanden ist, daB aber auch bei Bestehcn dieses Symptoraen-
komplexes eine Lymphocytose des Blutes sicher gegen tuberkulose
Meningitis spricht. Er berichtet von einem 9jiihrigcn Kind, dessen
Mutter vor 8 Tagen eine heftige fieberhafte Bronchitis durchgemacht
hatte, das Kind erkrankte ziemlich akut mit meningitischen Symptomen.
Die Spinalpunktion ergab ein klares, unter erhohtem Dmck stehendes
Lumbalpunktat mit einer Spur EiweiB und einigen Lymphocyten, so
daB der Verdacht einer tuberkulosen Meningitis nahelag. Bei der
Blutuntersuchung wurde neben einer mafiigen Leukocytose eine aus-
gesproehene relative Lymphocytose festgestellt. Darauf wurde eine
tuberkulose Meningitis ausgeschlossen; das Kind genas nach kurzer
Zeit. Es ist mir nicht bekannt, daB bisher Blutuntersuchungen in
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
diagnose der sogenannten Meningitis serosa.
487
groBerem MaBstabe bei Meningitis serosa und tuberculosa ausgefiihrt
sind; jedenfalls sind die Mitteilungen von Matthes einer weiteren
Nachpriifung wert*). Ob der Ausfall der Kolloidreaktionen des Liquors
im gegebenen Fall eine Entscheidung herbeifiihren kann, scheint naeh
dem, was oben dariiber ausgefiihrt wurde, zweifelhaft. Da — wie
schon erwahnt — die tuberkulose Meningitis haufig nur Teilerschei-
nung einer miliaren Tuberkulose ist, miiflte man aueh daran denken,
bei unklaren Fallen und ganz besonders dann, wenn es sich darum
handelt, eine moglichst friihzeitige Diagnose zu stellen, eine Rontgen-
durchleuchtung der Lungen vorzunehmen. Denn die miliaren Knotchen
lassen sich bekanntlich oft schon wochenlang vor dem Einsetzen des
eigentlichen Krankheitsbildes der Miliartuberkulose nachweisen. So
ist es Matthes gegliickt, mit Hilfe einer Rontgenaufnahme der Lungen
bei einem seiner Falle die Diagnose einer Miliartuberkulose bereits
2 Monate vor dem Tode mit Sicherheit zu stellen. Die Diagnose der
Meningitis tuberculosa wird auBerdem durch den Nachweis von Cho-
rioidaltuberkeln im Augenhintergrund gesichert. Zusammenfassend
kann man also sagen, daB wir — abgesehen von dem Nachweis von
Tuberkelbazillen im Liquor — nur wenig hinreichend sichere Rriterien
besitzen, die im Einzelfall den Verdacht einer serosen bzw. tuberku-
losen Meningitis ausschlieBen oder bestatigen. Um so melir sollte es
Pflicht des Arztes sein, auf jeden Fall die Prognose nicht absolut in-
faust zu stellen. Einem Arzt, der den Eltern den sicheren Toil ihres
Kindes voraussagt und dessen Prophezeiung dann nicht in Erfiillung
geht, werden diese nie verzeihen konnen.
Die diagnostischen Schwierigkeiten, die eine Meningitis serosa
chronica bereiten kann, sind damit aber noch nicht erschopft; und es
waren jetzt diejenigen Falle zu nennen, die einen Tumor vortauschen
konnen. Als pathologisch-anatomisches Substrat findet man einen
mehr oder weniger starken Hydrocephalus; eine Reihe derartiger Falle
ist, wie schon eingangs erwahnt wurde, als ,,Hydrocephalus idiopathi-
cus‘ : bezeichnet, weil die oft nur geringen Befunde an den Hirnbauten,
die wir als Ursache des ganzen Prozesses ansehen miissen, ganzlich
iibersehen wurden. Als der alteste in der Literatur veroffentlichte Fall,
bei dem eine Scktion ausgefiihrt wurde, ist wohl der im Jahre 1873
von Annuske 2 ) mitgeteilte Fall anzusehen. Da er ein fiir diese gauze
Gruppe von Krankheitsfalien auBcrst charakteristisches Symptomen-
biId bietet, mag er etwas ausfiihrlicher geschildert werden. Bei einem
*) Anm. b. d. Korrektur: Die Angabe von M. fand ich letzthin bei 3 in
der Mediz. Klinik des Krankenhauses Altstadt (Prof. Dr. Often) beobachteten
und autoptisch bestatigten Fallen von Meningitis tuberculosa — davon 2 mit
miliarer Aussaat — bestatigt. Es fand sich eine starke Lymphopenie von
6, 7 u. 4 Proz.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
488 H. Ruhe: Uber die nosologische Stellung und Differential-
bisher stets gesunden 31jahrigen Arbeiter entwickelten sich zu Beginn
des Jahres 1872 Kopfschmerzen, die vom Hinterhaupt nach der Stirn
zu ausatrahlten, dazu trat Schwindelgefiihl und eine rapide Abnahme
des Sehvcrmogens. Mitte Juni bemerkte der Patient eine Lahmung
und Gefiihllosigkeit der rechten Kopf- und Gesichtshalfte. Am 8. Juli
hatte er einen Anfall von tiefem Koma, deni ein plotzlich aufgetre¬
times Unwohlsein vorausging. Der Anfall dauerte eine Viertelstunde,
ihm folgte ein Zustand von starker Unruhe, Benommenheit, heftigen
Nacken- und rechtsseitigen Kopf- und Gesichtssclimerzen. Diese An-
falle wiederholten sich, es trat eine doppelseitige Abducensparese ein;
eine totale Amaurose mit starker Neuritis optica und zahllosen Blu-
tungsherden in der Retina, deutliche Ataxie, eine Facialisparese links,
Sprach- und Schluckbeschwerden vervollstandigten das Symptomen-
bild. Bemerkenswert waren die kurzen Remissionen, die wahrend
des ganzen Krankheitsverlaufes auftraten. Der Tod erfolgte in einem
plotz lichen Anfall von Dyspnoe. Bei der Sektion zeigte sich ein Hy¬
drops samtlicher Ventrikel mit starker Vorwolbung des Infundibulum;
eine mikroskopische Untersuchung der Meningen ist nicht ausgefuhrt.
Die Diagnose war zu Lebzeiten des Patienten auf einen intrakraniellen
Tumor gestellt worden. In der Epikrise hat Annuske die Ansicht
ausgesprochen, daB man bei genauer Beriicksichtigung samtlicher, ins-
besondere der die Augen betreffenden Symptome trotz der Seltenhcit
des Falles einen Tumor hatte ausschlicBen und die richtige Diagnose
hatte stellen konnen. Dieser Ansicht hat ein so erfahrener Neurologe
wie Oppenheim spater widersprochen. Und in der Tat kann die
Differentialdiagnose zwischen Tumor und Hydrocephalus interims
(infolge von Meningitis serosa) zu den schwierigsten gehoren, die es
iiberhaupt gibt.
Immerhin lassen sich doch verschiedene mit einer gewissen Kon¬
stanz vorhandene Momente hervorheben, die die Diagnose auf die
rechte Bahn lenken konnen. Zunachst laBt sich bei einer Reihe von
Fallen feststellen, daB die Patienten bereits friiher Anfalle von Hirn-
druckerscheinungen gehabt haben (Finkelnburg-Eschbaum 39 ), Hil¬
debrand 64 ), Kupferberg 75 ), Quincke 105 ), 10fl ), Schu ltze 125 ). Als
sichtbaren Ausdruck dieser Attacken kann man bisweilen eine auf-
fallige VergroBerung des Schiidels feststellen (Brasch 22 ), Finkeln-
burg 40 ), Gerhardt 46 ), Goldstein 50 ), 51 ), Quincke 108 ), Oppen¬
heim 94 ). Einen weiteren Anhaltspunkt kann die Anamnese geben,
wenn sich namlich die Erscheinungen im AnschluB an ein Kopftrauma
entwickelt haben. Es wird dann allerdings auch jedesmal die Moglich-
keit eines Hirnabszesses in den Kreis der diagnostischen Erwagungen
zu ziehen sein. Ferner imrde von jeher als typisch die Neigung zu
Remissionen und Intermissionen beschrieben, die eventuell jahrelang
Digitized by Got >gle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
diagnose der sogenan ..ten Meningitis serosa.
489
anhalten konnen, um dann einer neuen Exacerbation Platz zu machen
(Bresler 25 ), Brasch 22 ), Bregman - Krukowski 23 ), Fuchs 43 ), Ka-
lischer 68 ), Miinzer 85 ), Oppenheim 92 ), 94 ) u. a.). Diese sind zwar
auch bci Hirntumoren keineswegs selten, doch pflegen sie bci dem
Hydrocephalus ex meningitide anhaltender und vollstiindiger zu sein.
Man darf aber nie vergessen, da(3 auch bei Hirntumoren die allgemeinen
wie lokalen Erscheinungen fiir Jahre zuriickgehen konnen (Finkeln-
burg-Eschbaum 39 ). Das beweist der von Binswanger (siehe bei
Nonne 91 ) mitgeteilte Fall, bei dem ein an der Basis des linken Tcm-
porallappens befindlicher Tumor, der zu einer Hemiparese, Neuritis
optica, Hernianojjsie rechts, aphaeischen und psychischen Storungen
gefiihrt hatte, darauf 12 Jahre lang im Wachstum anhielt bis zu dem
infolge einer interkurrenten Erkrankung eintretenden Tode des Pa-
tienten. Besonders Lipome, Psammome und Cholesteatome konnen zu-
weilen stabil bleiben (Nonne 90 ). Ebenso konnen Solitartuberkel und
Gummcn, Cysticerken und Echinokokken sehrumpfen und verkalken,
cystische Ergiisse in echten Tumoron konnen resorbiert werden. Selbst
jahrelange Remissionen oder gar Spontanheilungen (im klinischen Sinn)
sprechen also nicht unbedingt gegen einen Tumor oder einen tumor-
artigen raumbeschrankenden ProzeB (Tuberkel, Gumma usw.) (Red-
1 ic-h 11 °), Schultze 125 ). Ein akuter Beginn deutet im allgemeinen auf
eine Meningitis serosa hin; doch berichtet sell on Gowers 53 ), dab —
wenn auch nur in seltenen Fallen — auch ein Tumor (Gliome des Pons)
lange Zeit latent bleiben und dann unter akuten und selbst stiirmi-
schen Erscheinungen schnell zum Tode fiihren kann. Auch die Tumoren
des IV. Ventrikels sollen zunachst vollig symptomlos bleiben konnen,
um dann plbtzlich einen ganz akuten Beginn zu zeigen (Bonhoffer 1 *);
und das gleiche gilt von kavernosen Angiomen (Finkelnburg 36 ). Auch
sonst sind — infolge Blutung aus den GefaBen des Tumorgewebes,
besonders bei den Gliomen (Striimpell 132 ), und bei Hinzutreten eines
sekundaren Hydrocephalus (Bonhoffer 18 ) — anfallsweise auftretende
Verschlimmerungen im Krankheitsvcrlauf bei Hirntumoren nicht seltcn.
Daher darf also auch aus dem Nachweis von akuten Exacerbationen
nicht immer mit Sicherheit auf eine Meningitis serosa geschlossen
werden.
Cber einen sehr interessanten Fall von diffuser seroser Meningitis
hat Fuchs 43 ) berichtet, bei dem auf Grund eines besonders liber dem
rechten Warzenfortsatz und Schlafenbein horbaren systobschen, hau-
ohenden Gerausches, das bei Kompression der Carotis dextra verschwand,
die Diagnose auf intrakranielles Aneurysma im GefaBgebiet tier A.
carotis gestellt war. Die Sektion ergab einen starken Hydrocephalus
aller Ventrikel, ohne sonstige Veranderungen am Gehirn oder an den
GefaBen. Das Gerausch laBt sich nur durch eine Kompression eines
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Digitized by
490 H. Ruhe: t)ber die nosologische S tel lung und Differertial-
Arterienastes cler Carotis interna von seiten des Gehirns erklaren*)- Ein
ahnlicher Fall ist von Oppenheim-Borchardt 98 ) und spater noch-
mals von Fuchs 44 ) mitgeteilt worden.
Wenn wir also noch einmal zusammenfassen diirfen: trotz all der
ebon gemachten Einschriinkungen kann man doch als einigermaBen
charakteristisch fur Meningitis serosa die Neigung zu hiiufigeren, an-
dauernderen und vollstandigeren Remissionen bezeichnen. Die Hirn-
tumoren zeigen im groBen und ganzen einen mehr protrahierten, kon-
stanteren Verlauf. Die Allgemeinsymptome unterscheiden sich bei der
Meningitis serosa und beim Hirntumor in nichts voneinander. Der
Beginn mit Kopfschmerzen, die Klopfempfindlichkeit des Schadels an
circumscripter Stelle, das psychische Verhalten, die zunehmende Trii-
bung des Sensoriums, gelegentlichfe Ohnmachtsanfalle, Schwindelgefiihl,
Pulsverlangsamung, cerebrales Erbrechen, epileptiforme Anfalle kom-
men bei beiden Erkrankungen vor. Dagegen hat man in dem friih-
zeitigen Auftreten der Stauungspapille und in den extremen Graden,
die sie erreichen kaim, ein fur die Diagnose der serosen Meningitis wich-
tiges Moment erblickt (Bonninghau s 14 ), Bonhoffer 17 ), Finkeln-
burg 40 ), Goldstein 80 ), Quincke 105 ). Einige Male ist berichtet, daB
die Patienten in auffalliger Weise iiber Riickenschmerzen klagten, und
es fand sich eine Druckschmerzhaftigkeit der Wirbelsaule, besonders
der Processus spinosi und des Cervicalanteils. Die Schmerzen strahlten
wohl auch in die Intercostalraume aus (Brasch 22 ), Oppenheim 92 ), 9S ).
Quincke 105 ), 106 ) will diese Sym}Dtome auf eine Durazerrung zuriick-
fiihren. Bonhoffer betrachtet sie in ahnlicher Weise als Ausdruck
der Liquorspannung, und in gleicher Weise macht Oppenheim eine
Flussigkeitsstauung im Duralsack dafiir verantwortlich. Irgendwelche
diagnostische Bedeutung darf man diesen Erscheinungen dann also nicht
zuspreehen. Herdsymptome konnen wahrend des ganzen Verlaufs der
Krankheit fehlen (Biro 10 ), Finkelnburg 40 ), GroB 66 ), oder sie konnen
in der verschiedensten Weise vorhanden sein und sind dann wohl durch
Kompression der betreffenden Zentren und Nerven zu erklaren (Biro,
Bonhoffer 17 ), Kalischer 68 ), Oppenheim 94 ). Aus der Art der Herd¬
symptome konnen irgendwelche diagnostischen Schliisse nicht gezogen
werden. Es kommen Hirnnervenlahmungen, Paresen der Extremitaten
— allmahlich eintretend oder von hemiplegischemCharakter —, Krampfe
in alien Kbrperteilen, Sensibilitatsstorungen, Zeichen einer Schiidigung
tier Pyramidenbahnen, Gesichtsfeldstorungen, bitcmporale Hcmianopsie
(Oppenheim 92 ), Bregman-Krukow'ski 23 ), Aphasien (Sanger 116 ),
*) Fuchs hat den Fall als „idiopathischen Hydrocephalus 14 bezeichnet, ob-
wohl sich in der Pia deutliche Zeichcn einer Entziindung fanden: strotzend ge-
fiillte Capillaren in Meningen und Hirnrinde, kleinzellige Infiltration der Pia,
die sich langs der Sulci tief in die Rinde hinein erstreekte, und Hirnddem.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
diagnose der sogenannten Meningitis serosa.
491
v r . Sarbo 117 ), Paraphasien (Miinzer 85 ), epileptiforme Anfalle, Jack-
sonsche Epilepsie (Oppenheim 93 ) usw. in gleicher Weise und in
gleicher Starke auch bei der Meningitis serosa vor. Diese Herdsymptome
konnen konstant vorhanden sein oder aber sich durch ihre Fliichtigkeit
auszeichnen. Muskens 86 ) hat auch einen migrierenden Charakter
beobachtet (ebenso Schwartz 130 ), wobei die Symptome auf die wech-
selnde Lokalisation eines raumbeschrankenden Prozesses hinzudeuten
scheinen.
Besonders das fliichtige Auftreten der Herdsymptome wird von ver-
schiedenen Autoren als charakteristisch angeseben (Biro 10 ), Bon¬
hoffer 18 ), GroB 58 ), Oppenheim 94 ). Endlich kann die Beobachtung
des weiteren Verlaufes der Krankheit noch insofern wichtige Anhalts-
punkte fiir das Vorliegen einer Meningitis serosa chronica bieten, als —
mit Beriicksichtigung der bereits betonten Einschrankungen — an-
haltende Besserung oder gar Heilung bei Tumoren doch relativ selten
sind.
Auch das Resultat der Lumbalpunktion kann die Diagnose unter-
stiitzen; denn ein zell- und eiweiBreicher Liquor spricht mehr fiir einen
entziindlichen ProzeB, wahrend fiir Tumor eventuell ein vermehrter
EiweiBgehalt bei fehlender Lymphocytose spricht. Die Mitteilung von
Kalischer 68 ), daB der Liquor zur Gerinnselbildung neigt, kann ich —
wenigstens auf Grund der Literatur, die mir zugangig war — nicht
bestatigen. Nur in einem von NeiBer und Pollack 89 ) erwahnten
Fall wurde durch Hirnpunktion eine schnell gerinnende Fliissigkeit
mit 3°/ 0 EiweiBgehalt gewonnen. Im iibrigen halt sich der EiweiB-
gehalt des Liquors meist in bescheidenen Grenzen (V 2 — 3 / 4 °/oo nach
Quincke und Bonhoffer). Ein erhohter Lumbaldruck kann bei
Meningitis serosa und bei Hirntumor in gleicher Starke vorkommen.
Auch die Ventrikelpunktion hat man zur Differentialdiagnose heran- .
gezogen (NeiBer-Pollack 89 ), Bonhoffer 18 ), Oppenheim 95 ), Fin-
kelnburg 37 ), dabei soli ein rascher Riickgang der Symptome nach der
Punktion fur eine Meningitis serosa sprechen. Vielleicht ist die neuer-
dings von Bingel empfohlene Lufteinblasung in den Subarachnoidal-
raum und die Ventrikel (Encephalographie) imstande, in Zukunft zur
Differentialdiagnose zwischen Meningitis serosa diffusa und Hirntumor
wichtige Beitrage zu liefern.
Wie schwer im Einzelfall die Entscheidung, ob es sich um einen
Tumor oder um eine Meningitis serosa handelt, werden kann, mag der
folgende Krankenbericht lehren.
Fall III: Berginann H. St. aus L., 38Jahre alt, wurde am 1. X. 1920 von
seinem Arzt der Nervenklinik iiberwiesen. Er gab an, seit 1917 an Kopfschmerzen
zu leiden; diese traten anfangs taglich auf und nur solange St. in der Grube
arbeitete. Als nach einem halben Jahr die Grube besser ventiliert wurde, sollten
Archiv fUr Psychiatric. Bd. 67. j 33
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
492
H. Ruhe: t)ber die nosologieclie Stellung und Differential-
Digitized by
die Kopfschmerzen seltener und weniger heftig geworden sein, stellten sich dann
aber nicht nur wahrend der Arbeit, sondern aueh zu Hause ein. Vor 17 Wochen
bemerkte St., der von jeher kurzsichtig war, daB er nicht rnehr so gut lesen konnte
wie friiher. Er hatte das Gefuhl, als ob ein Schleier vor den Augen ware, und
verspiirte ein Druckgefuhl liber den Augen. Vor 4 Wochen hat Pat. eine Angina
durchgemacht. Seit 2 Jahren soil das Geruchsvermogen gesc-hwunden sein; nie
Ohnmachten, nie Erbrechen, kein Doppelsehen. Der Sc-hlaf ist gut, tagsiiber
kein Schlafbediirfnis. Potus und venerische Infektion werden negiert. St. hat
im letzten Jahr 10 Pfd. an Gewicht zugenommen.
Status am 1. X. 1920. Kraftig gebauter Mann von gesunder Hautfarbe. Hera-
und Lungenbefund o. B. Puls regelmaBig, 80 Schlage pro Min. Kopf und Wirbel-
saule nirgends druckempfindlich. Augenbewegungen frei. Der Hornhautreflex
scheint rechts etwas schwacher zu sein als links. Die Prufung des X. olfactorius
ergibt, daB bei offenem Munde das Geruchsvermogen vielleicht abgeschwacht,
jedoch nicht ganzlich aufgehoben ist. Beide mittleren Muscheln sind verdickt
und legen sich in breiter Fliiehe dem Septum an, so daB die Riechstoffe durch die
Nase nicht wahrgenommen werden. Die Prufung der iibrigen Hirnnerven ergibt
keine Besonderheiten. Die Reflexe an den oberen Extremitaten sind beiderseits
sehr lebhaft. Bar&nvscher Zeigeversuch sicher. Bauchdeckenreflexe lebhaft.
Patellarreflexe beiderseits von der Tibiakante auslosbar, mit zahlreichen Xach-
zuckungen des Quadriceps. Achillessehnenreflexe beiderseits lebhaft. Kura an-
haltender FuBklonus, dabei tritt auf beiden Seiten leicht ein Klonus des ganzen
Beines auf. Babinski —, Romberg —. Motilitat und Sensibilitat intakt, Muskel-
tonus normal. Urin: E. —
Augenuntersuchung: Visus r. = 0,2; 1. =0,1. Anscheinend Gesichtsfeld-
einschrankung, besonders auf der temporalen Seite. Fundus: Beiderseits typisehe
S tauungspapille, an der Papille + 8 Di. Prominenz, an der Macula + 3 Di.
Eine Rontgenaufnahme des Schadels ergibt keine Besonderheiten. Sella
turcica nicht vergroBert. Lumbalpunktion: Der Druck betrug zunachst 180 mm
Wasser; wahrend der Liquor langsam und tropfenweise abfloB, stieg der Druck
allmahlich und betrug nach Entnahme von 5 ccm Liquor 330 mm. Liquor klar,
Nonne schwach positiv, 1(t / 3 Zcllen im emm, Wa —.
Angcsichts der drohenden Gefahr einer weiteren Verschlechterung bzw.
dauernden Verlustes seines Sehvermogens wurdc dem Patienten der dringende
Rat gegeben, eine druckentlastende Operation vornehmen zu lassen. Zwecks
Untcrredung mit seiner Frau wurde er am 16. nach Hause geschickt. Am 2d. X.
kehrte Pat. zuriick, er verweigerte hartnackig jeden operativen Eingriff und
zeigte sich Erklarungsversuchen gegeniiber einsichtslos.
t)ber das weitere Schicksal des Patienten war zunachst nichts bekannt, bis
auf eine Anfrage der behandelnde Arzt kiirzlich mitteilte, daB sich der Zustand
seit 1920 kaum geiindert habe, die einzelnen Symptome vielleicht etwas starker
ausgesprochen seien, das Sehvermogen und der Befund an der Papille sich da-
gegen bedeutend verschlechtert haben. Der Patient sei dem Trunk ergeben, setze
mitunter wochenlang die Arbeit aus und verbrauche seinen Arbeitslohn fiir die
eigenen Bediirfnisse ohne Riicksicht auf die Frau und seine 5 Kinder.
Zusammenfassung: Der vorliegende Fall bietet ein nicht gerade
sehr reichhaltiges Krankheitsbild. Von subjektiven Symptomen sind
nur die seit 1917 bestehenden Kopfschmerzen und die erst 3 Jahre
spater manifest gewordenen Sehstorungen zu erwahnen. Objektiv ist
das hervorstechendste Merkmal die Veranderung an den Papillen, die
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
diagnose der sogenannten Meningitis serosa.
493
extreme Stauungspapille, die unterdessen wohl zu einer Atrophie des
Sehnerven gefiihrt haben wird. I)azu treten die namentlich an den
unteren Extremitaten gesteigerten Reflexe, vielleicht eine Schadigung
des N. olfactorius, der Befund der Lumbalpunktion und die Verande-
rungen der Psyche. Die Diagnose schwankte zwischen einem Tumor
unbekannter Lokalisation, der vielleicht zu einem sekundaren Hydro¬
cephalus gefiihrt haben mochte, und einer Meningitis serosa. Eine
sichere Entscheidung war auf Grund des klinischen Befundes nicht zu
treffen. Das auffallige Verhalten des Liquordruckes wahrend der
Punktion deutet darauf hin, da 13 die Kommunikation zwischen Schadel-
innerem und Wirbelkanal irgendwie beeintrachtigt war. Doch kann
(bese Stoning sowohl durch entziindliche Verklebungen als auch durch
rein mechanischen Verschlul3 hervorgerufen werden; auch der Liquor-
befund selbst konnte nicht mit absoluter Sicherheit zur Klarung der
Diagnose hcrangezogcn werden. Der weitere Verlauf der Krankheit
macht nun die Diagnose einer Meningitis serosa immer wahrschein-
licher; denn ein derartig langdauernder Stillstand eines Krankheits-
prozesses wird bei Tumoren doch nur selten beobachtet. Es fehlen im
Krankheitsbild allerdings die bei seroser Meningitis sonst so hiiufigen
Remissionen; doch ist nicht ausgeschlossen, da!3 der meningitische
ProzeB zu einem Hydrocephalus, d. h. zu einem stationaren Endzustand
gefiihrt hat. Die Veranderungen der Psyche sind wohl nur zum Teil
als Folge des anhaltenden Hirndrucks zu deuten; es liegt viel eher nahe,
das unsoziale Verhalten des Patienten als Folge des — trotz der Ne-
giemng von seiten des Patienten vielleicht schon langer bestehenden —
Alkoholabusus anzusehen. Es ist allerdings nicht ausgeschlossen, da!3
die psychischen Veranderungen erst die Grundlage fiir die Entwicklung
des Alkoholismus abgegeben haben. Es ist zu bedauern, da!3 die Ein-
sichtslosigkeit des Patienten einen druckentlastenden Eingriff verhindert
hat. Denn eine Meningitis serosa bzw. ein daraus resultierender Hydro¬
cephalus ware vielleicht durch die Operation einer volligen Heilung
entgegengefiihrt; und selbst wenn es sich um einen Tumor handeln
sollte, ware Aussicht auf eine — wenn auch nur voriibergehende —
Besserung im Befinden des Patienten vorhanden gewesen.
Die Beurteilung des ganzen Krankheitsbildes der Meningitis serosa
chronica ist nicht leicht. Strumpell 132 ), der auch mehrere derartige
Falle zu beobachten Gelegenheit hatte, ist der Ansicht, da (3 ein Teil
der hierher gehdrigen Rrankheitsfalle — ,,Meningitis serosa chronica 41 ,
,,Hydrocephalus idiopathicus 44 , ,,Hydrocephalus acquisitus 44 — zur
disseminierten Encephalitis zu rechnen sind und der Hydrocephalus
nur eine sekundare Erscheinung ist. Ein solcher Verdacht liegt dann
besonders nahe, wenn eine Infektion vorhergegangen ist. Es handelt
sich also um ein Krankheitsbild, dessen Genese durcliaus noch nicht
33*
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
494 H. Ruhe: Uber die nosologische Stellung und Differential-
vollig erforscht ist; und es ist eine dringende Forderung, daB in Zukunft
alle derartigen zur Sektion komraenden Falle genau mikroskopisch unter-
sucht werden.
Zusammenfassung: Die unter dem Bilde des Hirntumors ver-
laufende serose Meningitis bietet keine ganz reinen Symptome. Fiir
Meningitis serosa diffusa spricht mehr ein remittierender bzw. inter-
mittierender Verlauf, die Flxichtigkeit oder das Fehlen der Herd-
syruptome, ein entzundlicher Liquor und endlich die Feststellung einer
infektiosen Atiologie, eventuell die Besserung des Krankheitszustandes
nach Punktionen oder eine erfolgreiche Jodtherapie.
Ein ganz besonderes Interesse bieten diejenigen Falle von Meningitis
serosa, die unter den Erscheinungen eines Hypophysentumors ver-
laufen. Die ersten Mitteilungen dariiber stammen von Sievert 119 ),
der von einem Geschwisterpaar, einem 9jahrigen Madchen und einem
lojahrigen Knaben berichtete, das durch eine ganz auBergewohnliche
Fettentwicklung am ganzen Korper auffiel. Die Untersuchung ergab,
daB beide eine Opticusatrophie mit hochgradiger Sehstorung und
konzentrischer Gesichtsfeldeinschrankung, Strabismus divergens und
Nystagmus hatten. Storungen von seiten der Genitalien oder Wachs-
tumsanomalien waren nicht vorhanden, auch die Intelligenz war einiger-
maBen gut entwickelt. In der Epikrise spricht sich Sievert dahin aus,
daB dem ganzen KrankheitsprozeB vielleicht eine umschriebene Me¬
ningitis zugrunde liegen konnte, die zu Druckatrophie der Nervi optici,
zu atrophischen Vorgangen in der Hypophyse und zu einem Hydro¬
cephalus gefuhrt habe. Mit voller Bestimmtheit hat aber erst Gold¬
stein 49 )— 61 ) darauf hiugewiesen, daB die Meningitis serosa zu einer
Hypophysenschadigung mit all ihren charakteristischen Merkmalen
fiihren konne. Er hat kurz hintereinander 5 Krankheitsfalle mitgeteilt,
die alle eine gewisse Ahnlichkeit untereinander aufweisen. Es handelt
sich um jugendliche Personen, die von jeher einen groBen Schadel
(z. T. Turmschadel) hatten. Die Anamnese ergab, daB die betreffenden
Individuen schon fruher von Zeit zu Zeit an Anfallen von Kopfschmerzen
mit Erbrechen, Schwindelgefiihl und Unsicherheit beim Gehen gelitten
hatten; gleichzeitig war auch das Sehvermogen schlechter geworden.
Zweimal lieB sich ein Schadeltrauma feststellen, das offenbar auf den
KrankheitsprozeB verschlimmernd eingewirkt hatte. Bei dem ersten
von Goldstein mitgeteilten Fall war eine Abnahme der sexuellen
Potenz bemerkenswert; die 3 im Jahre 1910 veroffentlichten Falle
wiesen Zeichen von hypophysarer Fettsucht und gestorter Entwicklung
der Geschlechtsorgane — bei Fall 2 vielleicht auch Andeutungen von
Akromegalie — auf. Im letzten Fall lag eine Beteiligung auch der
iibrigen Drii.sen mit innerer Sekretion (Insuffisance pluriglandulaire)
vor. Allen 5 Fallen gemeinsam war eine mehr oder weniger weit vor-
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
diagnose der sogenannten Meningitis serosa.
495
geschrittene Atrophie der Sehnerven. Es war von vornherein kein
Zweifel, daB es sich um einen raumbeschrankenden ProzeB im Schadel
handeln muBte, und der Verdacht, daB ein Hypophysentumor vorlag,
war begreiflich. Jedoch die Zeichen einer kongenitalen Anlage (Turm-
schadel), das anfallsweise Auftreten der Hirndruckerscheinungen, dazu
im Gegensatz die verhaltnismaBig geringen Erscheinungen von seiten
gestorter Hypophysenfunktion, das Fehlen sonstiger ausgesprochener
Herdsymptome, der wechselnde Verlauf und endlich der jahrelange
Stillstand des Prozesses machten einen Tumor unwahrscheinlich. Da-
gegen stimmt der ganze Verlauf der Krankheit durchaus mit dem einer
Meningitis serosa iiberein; und Goldstein ist der Ansicht, daB es sich
tatsachlich um eine deraitige Erkranknng gehandelt habe, die schon
in friiher Jugend -— vielleicht kongemtal— eingesetzt habe. In dem
einen Fall, bei dem eine Lumbalpunktion vorgenommen wurde, zeigte
sich ein Druck von liber 240 mm Wasser und eine betr&chtliche Lym-
phocytose, Nonne war negativ. Die Ausdehnung der Ventrikel hatte
wahrscheinlich zu einer Vorwolbung des Infundibulum — einem bei
Meningitis serosa gar nicht so seiten anzutreffenden Befund — und
dadurch zu einer Schadigung der Hypophyse gefuhrt*).
Einen ahnlichen Fall hat v. Jacksch 67 ) aus der Prager Klinik mit-
geteilt. Auffallend ist iibrigens, daB sich in den darauf untersuchten
Fallen oft nicht die fiir einen Hypophysentumor typische bitemporale
Hemianopsie fand, sondern eine konzentrische Gesichtsfeldeinschran-
kung. Goldstein betrachtet sie als Folge eines bei Meningitis serosa
in anderer Weise als beim Hypophysenturror auf das Chiasma und den
Tractus opticus einwirkenden Druckes. In diesem Zusammenhang
wird auch eine Mitteilung von Quincke 105 ) verstandlich, der bei einem
an Meningitis serosa chronica leidenden Knaben einen auffalligen Fett-
ansatz beobachtete. Eine ahnliche Beobachtung machte Bonhoffer 18 ),
der von einem an ,,idiopathischem Hydrocephalus 1 ' erkrankten Mad-
chen berichtet, das bis zu seinem Tode dauernd an Gewicht — inner -
halb 9 Wochen um 17 Pfund— zunahm. Bei der Sektion fand sich
ein stark vorgetriebenes Infundibulum, das zu einer Abplattung der
Hypophyse gefuhrt hatte. Es sei auch noch ein Fall von Hildebrand 84 )
erwahnt, bei dem die Diagnose auf Grund der Herdsymptome — es
*) Nach den Untersuchungen von Stump* (Virchows Arch. f. pathol. Anat.u.
Physiol. Bd. 209, 1912) inuB man iibrigens annchmen. daB der Druck des Infundibu¬
lum nicht etwa zu einer direkten Schadigung der Hypophyse in Form der Druck-
atrophie fiihrt, sondern daB es sich um eine Storung der Beziehungen zwischen
Hypophyse und Gehim handelt, und zwar entweder um eine Unterbrechung
der nervosen Bahnen oder um einen ungeniigenden Obertritt von Sekretions-
produkten des driisigen Anteils in den Stiel bzw. die nervose Substanz der Hy¬
pophyse.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
496
H. Ruhe: t)ber die nosologische Stellung und Difierential-
fand sich iibrigens eine typische bitemporale Hemianopsie — auf
Hypophysentumor gestellt war; die Operation war bereits in Aussicht
genommen, als die Erscheinungen spontan iiberraschend schnell zuriick-
gingen. Der Patient fuhlte sich nocli 2 1 / i Jahr darauf vbllig wohl.
Endlich hat Kron 71 ) kiirzlich von einer Patientin berichtet, bei der
ein Hypophysentumor (allgemeine Hirndrucksymptome, Adipositas
universalis, Sistieren der Menses) vermutet wurde; die Autopsie ergab
eine chronische Leptomeningitis mit Hydrops samtlicher Ventrikel
und stark vorgetriebenem Infundibulum. Die letzte Mitteilung iiber
einen Fall von Meningitis serosa unter dem Bilde eines Hypophysen-
tumors stammt von Gehrt 45 ). DaB auch eine tuberkulose Meningitis
alle charakteristischen Erscheinungen eines Hypophysentumors machen
kann, sei nur der Vollstandigkeit halber erwahnt (Matthes 81 ), StraB-
mann 129 ).
AnschlieBend soli iiber einen Fall von Dystrophia adiposo-genitalis
(auf meningitischer Grundlage) berichtet werden, der iiber einen Zeit-
raum von liinger als 3 Jahren in der Gottinger Nervenklinik beobachtet
wurde.
Fall IV: R. S. aus D., geb. am 5. V. 1901. Familienanamnese o. B. Von
friiheren Krankheiten sind zu erwahnen cine Pneumonie (1906) und eine Appen¬
dicitis (1912). Kinderkrankheiten sollen nicht vorgekominen scin.
Der Patient kam im November 1914 zum erstenmal in klinischc Bcobaehtung.
Die Eltem gaben an, daB R. seit einigcn Jahren an anfallsweise auftretcnden
Kopfschmerzcn litte. Vor 2 Jahren soli er ofter erbrochcn haben, angeblich jedoch
nur nach dera GcnuB gewisser Speisen. Seit etwa einem Jahr sollten die Bewe-
gungen in den Gelenken an Armen und Beinen unsieher geworden sein, so daB
das An- und Auskleiden Schwierigkeiten machte. Aueh beim Stehen und Gehen
fuhlte R. eine gewisse Unsicherheit in den Beinen. Der Knabe gab ferner an.
daB er vor einem halben Jahr eine Zeitlang doppelt gesehen habe, doeh soli diese
Storung nicht lange angehalten haben. In den letzten 3 Monaten fiel dem Pa-
tienten — zuerst in der Schule — auf, daB das Sehvermogen bestandig abnahm.
Erbrechen oder Brechneigung waren in der letzten Zeit nicht mehr aufgetreten,
dagcgen bestand eine ziemlich hartniickige Obstipation. Bemerkenswert ist
ferner, daB seit etwa 3 Monaten ein gesteigerter Harndrang anfangs alle Stunden.
s pater alle 2 Stunden auftrat; dabei ging der Harn, wenn das Bediirfnis nicht
befriedigt werden konnte, unwillkiirlicli ab. Die anfangs sich haufig einstellenden
Kopfschmerzcn waren in der letzten Zeit seltener geworden. Endlich klagten
die Eltern dariiber, daB seit kurzem das Gediichtnis des Knaben abgenommen
habe und infolgedessen die Leistungen in der Schule betrachtlich nachlieBen.
Wegen der Sehstorung brachten die Eltern den Knaben Anfang November
1914 zu einem Augenarzt, der folgenden Bcfund erhob:
Funktionsprufung: Beiderseits nur Fingerzahlen auf 1 m Entfernung. Peri-
metriseh maBige, beiderseits ungleichmaBige periphere Einschrtinkung des Ge-
sichtsfeldes, doppelseitiges zentrales Skotom, Aufhebung des Farberkennungsver-
mogens fur Grim.
Ophthalmoskopisch Ix'iderseits regressive Stauungspapille mit maBiger Pro-
minenz, die Papille von grauweiBer Farbe.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
diagnose der sogenannten Meningitis serosa.
497
Auf Veranlassung des Augenarztes wurde der Knabe der Xervenklinik iiber-
wiesen; eine Untersuchung am 9. XI. 1914 liatte folgendes Ergebnis:
Seinem Alter entsprechend korperlich entwickelter, gut genahrter Knabe.
Der Fettansatz ist fur das Alter des Knaben zu reichlich, auffallend starkes Fett-
polster an beiden Mammae und am Mons pubis. Genitalien wenig entwickelt.
Kopf auffallend groB (Umfang 61 cm), diffus klopfempfindlich; in der rechten
und linken Schlafengegend beim Beklopfen starkes bruit de pot fele. Die Aus-
trittsstellen der Occipitalnerven beiderseits sehr druckschmerzhaft. Die linke
Pupille reagiert gut auf Licht und Konvergenz, sie erscheint etwas weiter als
die rechte, die nur trage und wenig ausgiebig reagiert. Cornealreflex beiderseits
erhalten. Augenbewegungen frei, in den Endstellungen — besonders links — ganz
leichte Zuckungen. Bei der Geschmackspriifung wird salziger Geschmack nicht
erkannt, die iibrigen Geschmacksqualitaten erhalten. Die Bauchdeckenreflexe
sind nicht sicher auszulosen. Patellarreflexe lebhaft, Achillessehnenrcflcxc normal.
Babinski —, Oppenheim —, kein Klonus.
Starker Intentionstremor, die Handbewegungen sind hastig und zittrig.
Rechts Adiadochokinesis. Romberg deutlieh positiv, auch ohne LidschluB. Schon
bei offenen Augen Unsicherheit des Ganges, die bei LidschluB zunimmt, ohne
bestimmte Fallrichtung. Hautsensibilitat intakt. Ob Hypotonie vorhanden ist,
laBt sich bei dem jugendlichen Alter des Patienten schwer entscheiden. Puls
regelmaBig, 100 Schlage pro Min. Korpergewicht: 94 Pfund.
Wahrend der ganzen Dauer der Beobachtung (9. XI.—19. XII.) war zu
bemerken, daB das Betragen und die AuBerungcn des Knaben, der in der Schule
friiher Erster gesessen haben sollte, auffallend kindisch und lappisch waren. Ein
Traubenzuckerversuch ergab gesteigerte Toleranz fiir Kohlehydrate — bis zu
350 g. Die Korperbewegungen waren linkisch und ungeschickt, doch schien das
Gehen und Stehen allmahlich erheblich besser zu werden. Die Behandlung be-
schrankte sich auf die Darrcichung von Hypophysentabletten, ohne daB eine
erkennbare Wirkung zutage trat.
Der Knabe wurde weiterhin dauernd beobachtet. Bei einer Untersuchung
am 18.1.1915 wurde folgender Behind erhoben: Beiderseits—besonders rechts —
deutlieh entwickelte Mammae, Genitalien klein und wenig entwickelt, Scham-
und Achselhaare fehlen ganzlich, breit ausladendes Beckcn. Der Bereich des
•Schepperns beim Beklopfen des Schiidels hat beiderseits nacli vorn und nach
der Seite an GroBe zugenommen. Deutliche Ataxie der oberen Extremitaten,
liesonders links, Tremor der gespreizten Hiinde. Bauchdeckenreflexe vorhanden,
Patellarreflexe von der Tibiakante ausliisbar. FuBklonus angedeutet, kein Ba¬
binski. Ataxie der unteren Extremitaten nur gering, beim Rombergschen Ver-
such starkes Schwanken. Leichte Hypotonie der Muskulatur.
Eine augenarztliche Untersuchung am 10. II. 1915 ergab, daB die zentralen
Skotome an Ausdehnung zugenommen batten, auBerdem waren groBe sektoren-
formige periphere Skotome vorhanden. Die Papillenschwellung betrug beider¬
seits 1 Dioptrie.
Rontgenologisch wurde eine VergroBerung der Sella turcica festgestellt. Im
Februar wurde in der chirurgischen Klinik eine Punktion des rechten Seiten-
ventrikels vorgenommen. Die Punktionsnadel lieB sich leicht in die Tiefe ein-
fiihren. Es wurden unter ziemlich starkein Druck 25 ccm wasscrklaren Liquors
entleert, keine EiweiB-, keine Zellvermehrung, Wa. negativ.
Im Juli 1915 erlitt der Patient einen heftigen Schwindelanfall, der von Kopf-
schmerzen begleitet war, so daB er mehrere Tage das Bett hiiten muBte. Trotz
gemusereicher Emahrung nahm das Korpergewicht im letzten halben Jahr um
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
498
H. Ruhe: t)ber die nosologische Stellung und Differential-
10 Pfund zu. Die Schwindelanfalle wiederholten sich, es trat jedesmal fiir einige
Minuten BewuBtlosigkeit ein.
Der neurologische Befund im November 1915 war folgender: Starkes Zittem
in beiden Handen, ataktische Storungen in der rechten Hand, Schreiben unsicher.
Reflexe intakt. Allgemeinstatus unverandert.
Eine weitere Untersuchung im Mai 1916 hatte folgendes Resultat: Die Kor-
peretatur scheint etwas schmaler geworden zu sein, die Genitalien haben sich
bedeutend entwickelt, starker Haarwuchs in der Schamgegend. Der Knabe macht
einen psychisch viel agileren Eindruck als friiher und ist vergniigter Stimmung.
Die Kopfschmerzen sind ganzlich gcschwunden, das Sehvermogen soil etwas
zugenommen haben, jedoch Klagen liber Flimmem vor den Augen. Der Gang
hat sich inzwischen bedeutend gebessert. Am Kopf nur noch geringes Scheppem.
Geringe Ataxie der oberen Extremitaten, an den unteren GliedmaBen etwas deut-
licher. Der Tremor in den Handen ist noch vorhanden, aber bei weitem geringer
geworden. Geringe Adiadochokinesis. Hypotonie nicht mehr nachzuweisen.
Haut- und Sehnenreflexe in normaler Starke vorhanden.
Im Februar 1918 stellte sich der Patient abermals vor. Er war inzwischen
betrachtlich gewachsen, die Beckenpartien und Genitalien w'aren erheblich ent¬
wickelt. Schadelumfang 61,3 cm. Keine Klagen fiber Kopfschmerzen mehr, das
Gedachtnis soil sich gebessert haben. Neurologischer Befund o. B.
Resultat der augenarztlichen Untersuchung: Funktionspriifung: Links Visus
0,1, rechts Fingerzahlen in 20 cm Entfemung. Farben wurden nicht erkannt.
Perimetrisch kein hemianopischer Typus nachweisbar. Vertikaler Nystagmus,
r. > 1. Augenhintergrund: Beide Papillen grauweiB, links scharf begrenzt, rechts
etwas unscharf.
Uber das weitere Schicksal des Patienten ist leider nichts bekannt.
Zusammenfassung: Das eben bescbriebene Krankheitsbild ahnelt
den von Goldstein beobachteten Fallen in mancherlei Punkten.
Auch hier sind der eigentlichen Manifestation der Krankheit jahrelang
anfallsweise auftretende Kopfschmerzen vorausgegangen; auch hier
friihzeitig auffallende Unsicherheit beim Gehen. Relativ spat sind die
Sehstorungen hinzugetreten, die — wie bei den 2 von Sievert beschrie-
benen Fallen .— die erste Veranlassung zur arztlichen Konsultation
gaben. Der Augenbefund weicht auch hier von den bei Hypophysen-
tumoren iiblichen Befunden ab: Stauungspapille, die bei Hypophysen-
geschwiilsten doch verhaltnismaBig selten ist. Auch hier keinerlei An-
deutung von bitemporaler Hemianopsie, sondern — in Gbereinstim-
mung mit den meisten iibrigen in der Literatur mitgeteilten Fallen —
konzentrische Gesichtsfeldeinschrankung. Auffallend ist das zentrale
Skotom, das aber nicht unbedingt gegen eine Hypophysenaffektion
spricht. Die augenarztliche Untersuchung allein hot somit noch keinen
Verdacht auf einen die Hypophyse in Mitleidcnschaft ziehenden
ProzeB.
Dazu kommen nun aber Zeichen, die unmittelbar auf eine Hypo-
physenschadigung hinweisen (wenn auch bekanntlich die Frage noch
unentschieden ist, in welchem MaBe diese sogenannten Hypophysen-
symptome Folge einer Liision des Tuber cinereum sind [Erdheim,
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
diagnose der sogenannten Meningitis serosa.
499
Leechke]): der ausgesprochene Habitus im Sinne der von Frohlich
beschriebenen Dystrophia adiposogenitalis (breites Becken, starke Fett-
ablagerung an beiden Mammae, ausgepragter Mons pubis, fehlende Be-
haarung, hypoplastische Genitalien). Dazu die erhohte Toleranz gegen
Kohlehydrate, vieUeicht die auffallend geringen taglichen Temperatur-
schwankungen, vielleicht die auch bei Hypophysentumoren ganz selten
anzutreffenden Geschmacksstorungen, ferner die ziemlich haufig auf-
tretende Blaseninkontinenz. Eine Beeintrachtigung des Wasser- und
Salzstoffwechsels im Sinne eines Diabetes insipidus war nicht zu be-
obachten. Die taglichen Harnmengen schwankten zwischen 600 ccm
und 1300 ccm, die Konzentration war vollig hinreichend (spez. Gewicht
bis zu 1030). Bemerkenswert ist nur der gesteigerte Harndrang, der
— gleich der Inkontinenz -— mit dem KrankheitsprozeB wohl in Zu-
sammenhang gebracht werden darf. Als weitere Eigentiimhchkeit ist
• das starke Hervortreten cerebellarer Erscheinungen (Ataxie, positiver
Ausfall des Rombergschen Versuchs, Adiadochokinesis, Hypotonie,
Nystagmus) zu erwahnen, die bisweilen das gesamte Krankheitsbild
derart beherrschten, daB man unwillkurlich an einen Cerebellartumor
denken konnte. Doch wird positiver Romberg, Unsicherheit und Zit-
tern bei den Bewegungen der Extremitaten auch schon in den Mit-
teilungen von Goldstein und v. Jacksch erwahnt. Als Folge des
jahrelang anhaltend gesteigerten Hirndrucks ist — abgesehen von der
in Atrophie iibergegangenen Stauungspapille — der fur das Alter des
Patienten auffallige Schadelumfang, das Scheppern beim Beklopfen
des Schadels, ferner die rontgenologisch sichtbare VergroBerung der
Sella turcica und der Riickgang der psychischen Leistungsfahigkeit
anzusehen.
Wenn wir den Verlauf des ganzen Krankheitsprozesses bctrachten,
so geht zunachst aus der Anamnese hervor, daB die Krankheit all-
mahlich begonnen und unter zeitweiligen Exacerbationen einen ge-
wissen Hohepunkt. erreicht hat. Wahrend der ganzen Dauer der Be-
obachtung schwankte das Befinden, zunachst unter klinischer Be-
obachtung erhebliche Besserung der Symptome, darm wieder Ver-
schlechterung, und naeh einiger Zeit ganz allmahliche Besserung unter
zeitweise auftretenden Anzeichen gesteigerten Hirndrucks (Anfalle von
BewuBtlosigkeit, Kopfschmerzen und Schwindel). Auch die Ataxie war
wechselnd und trat nur zuweilen starker in den Vordergrund. Nun
sind zwar gerade bei Hypophysentumoren nicht selten Remissionen
beschrieben (Schuller, Dystrophia adiposogenitalis im Handbuch der
Neurologie, IV. Bd.). Auch konnen sich die Symptome bei echten
Geschwiilsten auBerst langsam entwickeln •—, so wurde der von Froh¬
lich beschriebene Fall, der uberhaupt erst die Veranlassung zur Auf-
stellung des Typus der Dystrophia adiposogenitalis gab, 8 Jahre be-
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
500 H. Ruhe: tlber die nosologische Stellung und Differential-
obachtet, ehe man sich zur Operation entschloB*). Ein derartig volliger
und -— soweit man urteilen darf — dauernder Riickgang aller Sym-
ptome, wie er in unserem Fall zu verzeichnen ist, spricht doch wohl mit
groBter Wahrscheinlichkeit gegen Tumor, vor allem auch gegen die
Annahme eines cerebellaren Tumors, der auf dem Wege eines sekun-
daren Hydrops ventriculi tertii zu einer Hypophysenschadigung hatte
fiihren konnen. Wir halten uns vielmehr auf Grand des in Analogic
zu den von Goldstein beschriebenen Fallen fast als typisch zu be-
zeichnenden Verlaufs zu der Diagnose einer Meningitis serosa berech-
tigt, die zeitweise exacerbierend im Laufe der Jahre zu einem Hydro¬
cephalus gefuhrt hat. Dieser hat — abgesehen von allgemeinen Hirn-
drackerscheinungen — die Symptome einer voriibergehenden Drack-
schadigung der Hypophyse und des Kleinhirns bzw. der Kleinhirn-
stiele hervorgerafen. Der ProzeB ist dann schlieBlich unter Hinter-
lassung einiger irreparabler Defekte (Opticusatrophie, vielleicht psy- •
chische Debilitat) allmahlich wieder abgeklungen.
Das oben beschriebene Krankheitsbild liegt bereits auf der Grenze
zwischen der diffusen und der circumscripten Form der Meningitis
serosa; denn ein zwar diffus verbreiteter Ventrikelhydrops fuhrt an
umschriebener Stelle durch Drackwirkung zu einer Schadigung von
Hirnsubstanz, die von entsprechenden Ausfallserscheinungen gefolgt ist.
Die Entscheidung, ob es sich gegebenenfalls uni cine diffuse oder eine
circu mscripte Meningitis serosa handelt, ist nicht immer leicht;
doch wird sie auf Grand der Herdsymptome insofern mit einer ge-
wissen Wahrscheinlichkeit zu treffen sein, als eine Konstanz der Sym¬
ptome stets mehr fiir einen lokalen ProzeB spricht. In diesem Zusam-
menhang darf wohl iiber folgenden Fall berichtet werden:
Fall V: Ein 51 jahriger Mann (H. F. aus H.), der friiker stets gesund war,
erlitt am 6. April 1921 einen Unfall, er stieB mit dem Kopf (Scheitelgegend) gegen
den Querbalken einer Drillmaschine. Es wurde ihm dabei schlecht zumute,
BewuBtlosigkeit und Erbrechen tratcn nicht ein. F. konnte seine Arbeit weiter
verrichten. muBte sich aber nach 10 Tagen wegen starker Kopfschmerzen, die
unmittelbar nach dem Unfall einsetzten, zu Bett legen. Am 22. April wurde er
von seinem Arzt der Nervenklinik zu Gottingen iiberwiesen; ein krankhafter
Befund am Nervensystem und Opticus konnte damals noch nicht erhoben werden.
Weiterhin hatte der Patient aber dauernd Temperaturen zwischen 37,3° und 39,3°,
war sehr miide und schlief viel. Beim Verlassen des Bettes bekam er Schwindel-
anfalle, auBerdem klagte er iiber Ohrensausen. In den letzten 4—5 Tagen war
*) Kiirzlich erst berichtete Anton (Med. Klinik, 1922, Nr. 35. Sitzung des
arztlichen Vereins in Halle a. S.) von einem 26jahrigen Patienten, der ganz all¬
mahlich unter den Symptomen eines Hvpophysentuinors erkrankte. Eine druck-
entlastende Operation (Balkenstich), die vor nunmehr 10 Jahren vorgenommen
wurde, hatte insofern Erfolg, als bis auf den heutigen Tag trotz rontgenologisch
nachweisbaren Wachstums des Tumors keine nennenswerten Anderungen im
Krankheitsbild festzustellen sind.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
diagnose der sogenannten Meningitis serosa.
501
er dauernd somnolent. Am 2. Mai wurde er wieder in die Xervenklinik geschickt,
da der Arzt einen HirnabszeC oder eine otogene Meningitis vermutete.
Status vom 2. V.: Der Patient ist stark abgemagert, die Gesichtsfarbe ist falil-
grau. Der Schadel ist in der rechten vorderen Scheitelgegend stark klopfempfind-
lich, die Kopfhaut weist keine Verletzung oder Narben auf. Der Gesichtsausdruck
ist etwas starr, maskenhaft; Patient ist benommen. Die Zunge ist troeken und
belegt. Motilitat intakt, keine Ataxie, Bar&nyscher Zeigeversuch sicher; Reflexe
ziemlich lebhaft, sonst o. B. Puls 120 Schlage pro Min., kraftig und regelmaBig.
Temperatur 38,2°. Blutbefund: 9400 Leukocyten pro emm. Ohren- und Nasen-
befund o. B,
6. V. Lumbalpunktion: Druck 180 mm Wasser, Xonne—, Zellen 9 / s , klar
und hell, Wa. —.
Unter Pyramidon sank die Temperatur in den nachsten Tagen zur Xorrn,
<las Sensorium hellte sich auf. Die Kopfsehmerzen und die Klopfempfindlichkeit
des Schadels lieBen erheblich naeh. Da der Patient sich sonst wieder vollig wohl
fiihlte, wurde er am 18. V. entlasscn. t)ber den weiteren Verlauf der Krankheit
konnte nichts ermittelt werden.
Zusammenfassung: Es handelt sich um einen Patienten, der im
AnschluB an ein Kopftrauma mit Fieber, Kopfsehmerzen und Schwin-
delgefiihl erkrankte. Auf Grand des schweren Allgemeinzustandes, des
Fiebers und der umschriebenen Klopfempfindlichkeit des Schadels lag
der Verdacht eines posttraumatischen Hirnabszesses nahe. Die uber-
raschend schnell eintretende Besserang spricht aber gegen einen AbszeB
und macht eine rasch abklingende circumscripte serose Meningitis
wahrscheinlicher.
Nicht immer klingen derartige umschriebene Entziindungen so
rasch ab wie in dem vorliegenden Fall, und erst eine anhaltende Drack-
wirkung auf die Hirnrinde fiihrt zu Ausfallserscheinungen, die auf den
Sitz der Erkrankung direkt hindeuten. Geht die Entzundung zuriick,
so kdnnen natiirUch auch die Symptome, die durch die lokale Schiidi-
gung der Hirnrinde hervorgerafen werden, wieder verschwinden. So
sind -wohl die von Oppenheim 93 ) und Muskens 86 ) mitgeteilten Falle
von ,,Pseudotumor cerebri" zu erklaren. Muskens, der selbst liber
8 Falle von ,,Meningoencephadtis“ serosa circumscripta berichtet hat,
Ijetont mit Recht, daB eine umschriebene Hj^peramie der Hirnhaute (die
er bei einem seiner Fade gelegentlich der wegen Tumorverdacht aus-
gefiihrten Operation intra vitam beobachten konnte) und eine lokale
Flussigkeitsansaramlung nach dem Tode verschwinden kann, so daB
eine Autopsie post mortem tatsachdch ein negatives Resultat haben
kann. Nonne 90 ) berichtet iibrigens bei einem seiner Fade von ,,Pseudo¬
tumor" selbst, daB die Hirnoberflache bei der Operation an der be-
treffenden Stelle stark injiziert war und reichdch Liquor abfloB.
Die Entscheidung, ob es sich gegebenenfnlls um einen Tumor oder
um eine circumscripte serose Meningitis handelt, kann in derartigen
Fallen unmoglich werden. Fruher hat meist erst der giinstige Ausgang
Digitized by Goe)gle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
502
H. Ruhe: t)ber die noeologische Stellung und Differential
eine Entscheidung herbeigefiihrt; so werden wohl — wenigstens zum
Teil — auch die Falle von Heilungen eines Hirntumors zu verstehen
sein, fiber die in der alteren Literatur gar nicht so selten berichtet
wurde (Bonninghaus 14 ), zu einer Zeit, als das Krankheitsbild der
Meningitis serosa circumscripta noch nicht bekannt war. Ein absolut
sicherer Beweis fur das Vorliegen einer umschriebenen serosen Menin¬
gitis bei einer Erkrankung mit tumorartigen Symptomen laBt sich
unter Beriicksichtigung der oben erwahnten Einschrankungen aus dem
giinstigen Ausgang allein natiirlich nicht fiihren. Eine wichtige Er-
ganzung in dieser Hinsicht bildet aber stets ein wenn auch schon jahre-
lang vorausgegangenes Schadeltrauma, an das sich in einem erheb-
lichen Prozentsatz der Fade die Erkrankung anschlieBt. Es wird aber
in diesen Fallen stets auch die Mogdchkeit eines Hirnabszesses zu er-
wagen sein; ist doch von Nauwerck die Entstehung eines Hirn¬
abszesses sogar noch 34 Jahre nach einem Trauma beobachtet worden
(zit. nach Rindfleisch 113 ). Doch wird die erhohte Temperatur, das
Blutbild, der Ausfall der Hirnpunktion und der Lumbalpunktion wohl
in jedem Fall Aufklarung verschaffen. Es gibt aber auch Fade von
Meningitis serosa, wo die Anamnese ganzlich im Stich laBt und keine
auBere Ursache nachzuweisen ist. Einer exakten Diagnose ganzlich
unzuganglich sind endlich diejenigen Fade von Meningitis serosa, bei
denen es zu einer vollkommenen Abkapselung des Prozesses kommt,
und wo sich durch andauernde Exsudation die entziindliche Cyste
immer mehr vergroBert, also ein progressives Wachstum zeigt, genau
wie ein Tumor (Oppenheim-Borchardt 96 ), SchultheiB 124 ), Wen-
del 144 ). Hier kann nur ein operativer Eingriff mit Freilegung der be-
treffenden Stelle Aufklarung bringen. Die Lumbalpunktion wird bei
dieser Form der Meningitis serosa natiirlich keine Aufklarung geben
konnen, es muBte denn gleichzeitig eine diffuse Erkrankung der Hirn-
haute vorhanden sein. Auch die kdnische Beobachtung wird — ab-
gesehen von den Fallen, bei denen die Ausfallserscheinungen schnell
und dauernd wieder zuriickgehen — keine Entscheidung in dem einen
oder anderen Sinne herbeifiihren konnen; denn die Herdsymptome
sind stets die gleichen, mag nun ein Tumor, ein AbszeB oder sonst
ein raumbeschrankender oder gewebszerstorender ProzeB die Ursache
sein. Auch der zeitweilige giinstige EinfluB einer Hg- oder Jodmedi-
kation kann nicht fur eine serose Meningitis sprechen, da auch Tu-
moren bisweilen scheinbar giinstig darauf reagieren (Oppenheim-
Borchardt 96 ), Striimpell 132 ), Wendel 144 ). Bei dem heutigen Stand
der Technik der Hirnoperationen und den relativ guten Dauerresul-
taten bei rechtzeitig diagnostizierten Fallen von Hirntumor sollte da-
her, wenn die klinischen Symptome auf ein progressives Wachstum des
raumbeschrankenden Prozesses hindeuten, in keinem Falle die Ex-
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
diagnose der sogenannten Meningitis serosa.
503
plorativtrepanation allzu lange hinausgeschoben werden. Denn, wie
die beiden F&lle von Raymond-Claude 109 ) und Schulthei B 124 ) ganz
besonders eindringlich lehren, kann auch bei der Meningitis serosa
circumscripta das Zentralnervensystem schlieBlich derart geschadigt
werden, daB auch eine druckentlastende Operation den ungiinstigen
Ausgang nicht aufzuhalten vermag. Die Operation wird — wenn
irgend moglich — in der vollstandigen Ausschalung der Cyste bestehen,
also im Prinzip die gleiche Therapie erfordern wie ein Tumor (Oppen-
heim-Borchardt 96 ), Wendel 144 ); denn nach unvollstandiger Ent-
fernung der Cystenwand sind Rezidive beobachtet (Bing 9 ), Hilde¬
brand 84 ), Oppenheim-Borchardt). Von chirurgisclier Seite w r ird
betont (Borchardt 19 ), Hildebrand; auch SchultheiB 124 ), daB man
gar nicht so selten bei einer Hirnoperation eine ausgepragte lokale
Fliissigkeitsansammlung findet, die aber doch nur eine sekundare Er-
scheinung ist und Zirkulationsstorungen ihre Entstehung verdankt, die
durch Tumoren verursacht werden. Auch Hirnabszesse oder Konglo-
merattuberkel konnen von circumscripten entzundlichen Odemen be-
gleitet sein. Daher soli sich der Operateur nach Ablassen der Flussig-
keit nicht mit einer einfachen Inspektion oder Palpation begniigen,
sondern er wird zur Sicherung der Diagnose gut tun, w’enn er die dar-
unter befindliche Hirnsubstanz inzidiert oder wenigstens durch die
Hirnpunktion Hirnsubstanz aspiriert, um diese eventuell vorhandenen
prim&ren Herde nicht zu tibersehen (Hildebrand, Oppenheim-
Borchardt, Oppenheim 95 ), Placzek-Krause 102 ), Wendel). Ohne
diesen harmlosen Eingriff kann auch eine primare, fur sich bestehende
Meningitis serosa selbst durch die Operation nicht sicher bestatigt
werden (Hildebrand).
Wie mannigfaltig die Herdsymptome sein konnen, die eine circura¬
se ripte serose Meningitis hervorrufen kann, leuchtet ohne weiteres
ein, wenn man bedenkt, daB der EntzundungsprozeB sich an jeder
beliebigen StelJe der Hirnoberflache lokalisieren kann; und es gilt
daher fur die Erkennung der Lokalisation einer Meningitis serosa
circumscripta all das, was aus der Lehre der topischen Hirndiagnostik
bekannt ist. Wie schwer die Diagnosenstellung sein kann, laBt der von
SchultheiB 124 ) mitgeteilte Fall erkennen, iiber den deshalb etwas
ausfiihrlicher berichtet werden mag:
Ein 44jahriger Mann, der bisher stets gesund war, erkrankte vor 2 1 / 2 Jahren
angeblich nach einem Schlag auf den Kopf mit Ziehen und heftigen Schmerzen
im linken Bein. Nach einiger Zeit bekam er epileptiforme Anfalle, die alle 6 bis
8 Wochen wiederkehrten. Sie begannen mit heftigen Zuckungcn im linken Bein
und linken Arm, der Patient wurde darauf schwindlig und verlor das BewuBt-
sein. In letzter Zeit litt er viel an Kopfschmerzen und Schwindel und zunehinender
ortlicher und zeitlicher Desorientierung. Im letzten halben Jahr wurde die Sprache
undeutlich und lallend, auch das Sehvermogen verschlechterte sich. Die Diagnose
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
504
H. Ruhe: t)ber die nosologische Stellung und Differential-
wurde damals auf Rindenepilepsie geatellt. Im AnschluB an einen schweren
epileptiformen Anfall stellte sich eine leichte Parese der linken oberen Extremitat
ein, dazu trat nach einiger Zeit eine Facialislahmung links und eine Parese auch
der linken unteren Extremitat. Die Anfalle hauften sich, der Allgemeinzustand
verschlechterte sich rapide. Mit kompletter linksseitiger Lahmung wurde der
Patient endlich ins Spital iiberfiihrt. Dort wurde eine peripapillare Schwellung
der Retina mit Venenerweiterung und zahlreichen kleinen Blutungen festgestellt.
Alle iibrigen Symptome — linksseitige Lahmung, Biceps-, Triceps- und Periost-
reflexe 1. > r, FuBklonus links, atypischer Babinski, Oppenheim links +, Patellar-
und Achillessehnenreflexe beiderseits schr lebhaft — deuteten auf einen Tumor
der rechten Zentralregion. Nach wenigen Tagen trat eine Schlucklahmung hinzu.
Die Lumbalpunktion ergab einen Druck von 220 mm, Nonne —, Wa. —, 4 Leuko-
cyten pro crnni. Nach 6tagigem Krankcnhausaufenthalt, noch ehe die Operation
erfolgen konnte, trat der Tod ein. Die Sektion ergab eine 6 cm lange, 3 cm breite
und 2 cm tiefe Cyste an der Innenseite der rechten GroBhirnhemisphare. die nach
auBen von Arachnoidea, nach innen von Pia begrenzt war. Der reehte Ventrikel
war stark komprimiert; die histologische Untersuchung der Cystenwand ergab
alle Zeichen einer Entziindung.
Derartige Lokalisationen an der GroBhirnrinde sind verhaltnismaBig
selten. Ein typisches Beispiel dafiir liefert auch der von Raymond
und Claude 109 ) mitgeteilte Fall, bei dem sich eine Cyste in der Ge-
gend der linken unteren Regio Rolando fand, ebenso der Fall von
Wendel 144 ), bei dem eine Cyste tiber dem linken Stirnhirn zu be-
drohlichen Erscheinungen gefiihrt hatte. SchultheiB 124 ) hat die ein-
schlagigen Falle erst vor kurzem zusammengestellt. Es sind ihrer nur
wenige (siehe auch bei Axhausen 4 ), Girard 47 ), Muskens 88 ), Mys-
slowskaja 87 ), Pitterlein 101 ), v. Sarbo 117 ), Schultze 126 ). Vielleicht
liegt der Grund dafiir zum Teil auch darin, daB die Berichte tiber der¬
artige Erkrankungen jetzt, wo die Kenntnis der Meningitis serosa in
weitere Kreise gedrungen ist, nicht mehr so hiiufig veroffentlicht wer-
den wie anfangs. Erst kiirzlich hat Pette") wieder von einem Pa-
tienten berichtet, bei dem 1 Jahr nach einem Kopftrauma • Jackson-
artige Anfalle auftraten. Bei der Operation — die Diagnose auf Menin¬
gitis serosa circumscripta war iibrigens schon vorher gestellt — fand
sich fiber dem rechten Scheitelliirn eine vermehrte Fliissigkeitsansamm-
lung, nach deren Ablassen Heilung eintrat. Auch die meist posttrau-
jnatisch entstehenden circumscripten Meningitiden im Wirl>elkanal, die
unter dem Bilde eines extramedullaren Tumors verlaufen, sind heut-
zutage den Neurologen und Chirurgen durchaus gelaufig (Literatur bei
SchultheiB).
Einer besonderen Besprechung bediirfen noch die umschriebenen
Meningitiden der hinteren Schadelgrube, die weit haufiger sind
als all die iibrigen Formen der Meningitis serosa circumscripta. Schon
bei der diffusen Form treten gar nicht selten Symptome auf, die auf
eine Schadigung des Kleinhirns himveisen. Wie stark diese sein kann,
lehrt einer der Krauseschen Falle 72 ), wo der ganze Hirnstamm dureh
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
diagnose der sogenam.ten Meningitis serosa.
505
den Druck der Fliissigkeit in das Foramen occipitale dermaBen hinein-
gepreBt wurde, daB an den benachbarten Abschnitten des Kleinhirns
entsprechend dem Rand des Foramen eine tiefe zirkulare Furche zu
sehen war. Ebenso berichtet No Ike 88 ) von einer starken zapfenartigen
Einpressung des Kleinhirns in das Foramen magnum bei einem Fall
von Meningitis serosa diffusa. Die cerebellaren Erscheinungen konnen
in dem ganzen Krankheitsbild so iiberwiegen, daB sogar die Diagnose
auf Kleinhirntumor gestellt wird (Bonhoffer 18 ), Diller 29 ), Finkeln-
burg 38 ), Oppenheim 95 ). Man hat naturlich auch hier nach differential-
diagnostisch wichtigen Momenten gesucht. So hat Schmidt 123 ) eine
Steigerung der Patellarreflexe als fur Meningitis serosa charakteristisch
ansehen wollen. Die Erfahrung hat aber gelehrt, daB einerseits bei
Meningitis serosa die Patellarreflexe auch normal oder gar herabgesetzt
sein konnen, andrerseits auch beim Cerebellartumor })athologische
Reflexsteigerungen vorkommen. Auch das Schmidtsche Symptom,
d. h. das Auftreten von Obelkeit, Erbrechen, Schwindelgefiihl und
Ohrensausen bei einer bestimmten Seitenlage — als Ausdruck eines
lokalisierten intrakraniellen Drucks —, das nach den Angaben des Ent-
deckers nur beim Kleinhirntumor vorkommen sollte, ist wiederholt
bei Meningitis serosa diffusa beobachtet worden (Fuchs 44 ), Finkeln-
burg 38 ), Oppenheim 92 ). Es kommt librigens auch bei Tumor mit
anderer Lokalisation vor (Tumor im Corpus striatum, Finkelnburg 36 ).
Der subakute Beginn, der wechselvolle Verlauf mit langdauernden
Remissionen, das fliichtige Auftreten von Herdsymptomen (Oppen¬
heim 93 ), die traumatische Genese und endlich eine andauernd spon-
tane Besserung kann bisweilen auf die richtige Diagnose hinlenken;
aber gerade bei diesen Fallen ist auch ein schneller progressiver Ver¬
lauf ohne irgendwelche Schwankungen beobachtet worden (Finkeln¬
bu rg 38 ). Bereits 1900 hat sich Krause 72 ) dahin ausgesprochen, daB
eine sichere Entscheidung zwischen Kleinhirntumor und Hydrocephalus
internus nicht immer moglich ist. Spater ist dann Hildebrand 64 ) •—
auf Grund der Erfahrungen, die er bei 51 wegen raumlreschrankender
Prozesse der hinteren Schadelgrube operierten Fallen gesammelt hat —-
ebenfalls zu dem SchluB gekommen, daB eine Differentialdiagnose
zwischen Kleinhirntumor und Hydrocephalus internus nicht moglich
ist. Es gibt eben kein Symptom, das mit einiger Sicherheit eine Ent¬
scheidung treffen lieBe.
Wenn schon die diffuse Meningitis der rechten Erkenntnis solche
Schwierigkeiten bereitet, wird naturlich bei den circumseripten For-
men eine Differentialdiagnose auf Grund des vorliegenden Symptomen-
komplexes erst recht nicht moglich sein. Es konnen alle Erscheinungen,
die fur die Kleinhirntumoren als charakteristisch bezeichnet werden,
auch bei der Meningitis serosa auftreten — die umschriebene Klopf-
Djgitizea by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
506
H. Ruhe: Dber die nosologische Stellung und Differential-
Digitized by
empfindlichkeit, der Hinterkopfschmerz, Nackensteifigkeit, Schwindel-
anfalle, Nystagmus, friihzeitige Stauungspapille oder andrerseits Fehlen
der Stauungspapille (Finkelnburg - Eschbaum 39 ), Placzek-
Krause 102 ), Asynergie cerebelleuse, Ataxie mit konstantem Verlust des
Gleichgewichts nach einer bestimmten Seite (Alexander 1 ), Bing 9 ),
Hildebrand 84 ), Oppenheim-Borchardt 96 ) u. a.), Adiadochokinesis,
Bdrdnysches Zeichen, Storungen in der Gewichtsschatzu ng und
Muskelempfindung (Goldstein-Reichmann 52 ) usw. Auch die durch
Druck auf die Nachbarorgane hervorgerufenen Symptome, wie Lah-
mungen oder Reizerscheinungen von seiten der hinteren Hirnnerven
oder Pyramidenschadigungen sind die gleichen. Bisweilen tritt die
Meningitis serosa mehr in Form eines Kleinhirnbruckenwinkeltumors
auf (Finkelstein 41 ), Dana- Elsberg 27 ), Bdrdny 5 ), 6 ), Bing 9 ),
Boucher-Bouget 21 ), Hildebrand 64 ), Oppenheim-Borchardt 96 )
u. a.). Auch bei der circumscripten Form konnen die geschilderten
Abweichungen — Fehlen schwerer Allgemeinerscheinungen, Remis-
sionen, fliichtige Herdsymptome — von dem normalen Krankheitsbild
des Tumors im Zweifelsfall bisweilen ausschlaggebend sein (Brasch 22 ),
Goldstein-Reichmann, Finkelnburg). Besonders oft lafit sich
in der Anamnese ein Trauma feststellen, in dessen Gefolge sich die
Erscheinungen entwickelt haben, wenngleich bekannt ist, daB auch
ein Hirntumor bisweilen erst im AnschluB an ein Trauma manifest
wird. Doch gibt es daneben auch Fade, bei denen das Krankheitsbild
spontan auftritt. Die Lumbalpunktion wird nur seiten eine Aufklarung
bringen. Oberhaupt mochten wir dringend davor warnen, bei dem
Verdacht auf Kleinhirntumor eine Lumbalpunktion vorzunehmen; die
Gefahrlichkeit dieses Eingriffes diirfte wohl jedem erfahrenen Neuro-
logen bekannt sein. Auch Bing 9 ), Bregman-Krukowski 23 ), Mat*
thes 81 ), Muskens 88 ) raten davon ab, da im AnschluB an die Punktion
bedrohliche Erscheinungen aufgetreten sind (Nolke 88 ), Oppenheim-
Borchardt 95 ), ja sogar der Tod durch eine Punktion herbeigefiihrt
wurde (GroB 58 ), Oppenheim 95 ) — wahrscheinlich infolge V T erlegung
des Foramen occipitale durch die Kleinhirntonsillen mit Kompression
der Medulla oblongata. Andrerseits berichtet Bdrany 5 ), daB er Pa-
tienten durch die Lumbalpunktion geheilt habe. Meist ist der Ein-
griff wohl aber ohne Erfolg (Eden 30 ); dies erscheint auch nicht ver-
wunderlich, da es sich eben um abgekapselte Prozesse handelt, die
durch druckentlastende MaBnahmen im Subarachnoidealraum des
Wirbelkanals nicht beeinfluBt werden. Ebenso ist die Ventrikelpunk-
tion meist ohne jeden Erfolg ausgefiihrt (Eden 30 ), Hildebrand 64 );
auch danach ist eine Zunahme der Beschwerden beobachtet worden
(Oppenheim-Borchardt 96 ). So wird in vielen Fallen nur die opera¬
tive Freilegung der hinteren Schadelgrube eine sichere Entscheidung
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
diagnose der sogenannten Meningitis serosa.
507
herbeifiihren konnen, die aueh schon aus therapeutischen Erwagungen
in all denjenigen Fallen anzuraten ist, bei denen eine standige Zunahme
der Symptome eine durckentlastende Operation erforderlich macht.
Die guten Resultate der bisher ausgefiihrten Operationen rechtfertigen
diese Forderung und ermoglichen es dem Arzt, auch dem Patienten
gegeniiber die Prognose des operativen Eingriffes durchaus giinstig
darzustellen, natiirlich nur unter der Voraussetzung, daB die Opera¬
tion zur rechten Zeit ausgefuhrt wird*).
Um die Schwierigkeiten der Diagnosenstellung noch einmal zu be-
leuchten, sollen nun noch mehrere Falle geschildert werden, die ira
Verlauf der letzten 2 Jahre in der Gottinger Nervenklinik unter Beobach-
tung standen.
Fall VI: Luise G. aus L., 15 Jahre alt, friiher nie ernstlich krank, litt seit An-
fang Juni 1921 an anfallsweise auftretenden Stirnkopfschmerzen, die etwa 1 Stunde
andauerten und ineist mit Schwindel und Erbrechen einhergingen. Wegen dieser
Beschwerden wurde sie im Juli 1921 kurze Zeit in einem Krankenhaus behandelt.
Dort wurde die Diagnose „Migrane“ gestellt; bei Bettrube trat zuniiohst eine
Besserung im Befinden ein. Dann aber stellten sich die Kopfschmerzen w r ieder
haufiger ein, seit August sollen in Armen und Beinen kurzdauernde schmerzhafte
Zuckungen aufgetreten sein, die alle paar Tage wiederkehrten. Wahrend dieser
Anfalle soil die Patientin mehrfach gebrochen und auch einige Male die Besinnung
verloren haben. Auf den Rat des Arztes wurde das Madchen von der Mutter in
die Nervenklinik gebracht.
Status vom 11. X. 1921: Die Patientin macht bei der Aufnahme einen apathi-
schen, leicht dementen Eindruck. Wenig entwickeltes Madchen von blasser
Hautfarbe. Schadel in der Scheitelgegend klopfempfindlich, die Angaben sind
jedoeh unsicher. Hirnnerven o. B., Muskeltonus und Motilitat intakt. Samtliche
Reflexe in normaler Starke vorhanden. Der Gang ist sicher, nur bei geschlossenen
Augen tritt bisweilen leichtes Abweichen nach rechts ein; jedoeh keine ausge-
sprochene Ataxie. Die augenarztliche Untersuchung ergibt am Fundus folgende
Einzelheiten: Die Gegend der rechten Papille ist infolge grauer Triibung der
Umgebung der Papille fast um das Doppelte vergrciBert; die Papille selbst, hy-
perami8ch, laBt sich innerhalb der Schwellung kaum noch erkennen. Die Venen
sind erweitert und geschlangelt, sie knicken am Rande der Schwellung ab; nach
■ I J ' *i ifl|
*) In der 20. Sitzung der Schweizer Neurologischen Gesellschaft im November
1921 hat Veraguth iiber eine seiner Ansicht nach besondere Form von Ence¬
phalomyelitis berichtet (ref. im Schweiz. Arch. f. Neurol, u. Psychiatr. 10, H. 1,
S. 143). Er hat 5 Falle mitgeteilt mit akuter Entstehung, evtl. leichter Neuritis
optica, vorwiegend schweren cerebellaren Erseheinungen der verscliiedensten Art,
gelegentlich auch spastischen Paresen (Spinalerscheinungen). Die Angaben iiber
den Liquorbefund sind mangelhaft. Lues ist wohl auszusehlieBen, nach Kalomel-
kuren trat Besserung ein. In einigen Fallen traten aber zeitweilig Rezidive auf.
Lothmar und Bing erinnern in der Diskussion an die Moglichkeit einer Menin¬
gitis. V. wendet ein, dab er nur eine Neuritis optica und keine Stauungspapille
sah, und daB er bei Meningitis serosa nur Stauungspapille fand, insbesondere
sprachen auch die spinalen Symptome gegen eine Meningitis serosa. Es ist nicht
nachzuweisen, daB alle Falle spinalmeningitisch sind; die Moglichkeit, daB einige
dieser Falle zur Meningitis serosa gehoren, bleibt trotzdem bestehen.
Archiv filr Psychiatric. Bd. 67. 34
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
508
H. Ruhe: t)ber die nosologische Stellung und Differencial-
Digitized by
der Macula zu einige frische Netzhautblutungen. Links findet sich ein dem rechten
sehr ahnliches Bild. Die Stauungspapille betragt rechts 5 Dioptrien, links 4 Diop-
trien.
Verlauf: Am 14. X. abends erbrach die Patientin, am folgenden Tage klagte
sie iiber Stirnkopfschmerzen. Die Lumbalpunktion ani 15. hatte folgendes Re-
sultat: Druck 330 mm Wasser, Nonne -f. Zellgehalt in der ersten Portion 18 / 3
Zellen, in der zweiten Portion 23 / 3 Zellen; Wa —. Im AnschluO an die Punktion
bemerkte die Patientin eine deutliche Abnahme der Kopfschmerzen.
Am 19. X. wurde die Patientin in die chirurgische Klinik verlegt. Dort wurde
der Suboccipitalstich ausgefiihrt, im AnschluB an die Operation trat raseh eine
erhebliche Besserung im Befinden ein.
Am 17. XI. wurde das Madchen in die Nervenklinik zuriiekverlegt. Es fiihlte
sich wohl, der Gang war vollig sicher. Ain Nacken fand sich entsprechend der
Operationswunde eine Xarbe mit leicht vorgcwolbter, cystisch gespannter Haut.
Der Schadel war nirgends klopfempfindlich, das Sehvermogen noch etwas lieein-
trachtigt (verschwommenes Sehen). Motilitat und Sensibilitat intakt, Reflexe
o. B. Beiin Fingernasenversucli links geringes Vorbeizeigen, Baranyscher Zeige-
versuch sicher. Riickgang dcr Stauungspapille.
Einige Tage darauf trat fiir kurze Zeit leichtes Fieber (bis zu 38°) auf, ohne
daB die Patientin iiber Beschwerden klagte oder die objektive Untersuchung
irgendwelche Anhaltspunkte fiir die Temjieraturerhohung gab.
In der Nacht vora 25. zum 26. XI. stieB das Madchen nach Angabe der \Yar-
terin plotzlich einen lauten Schrei aus, war dann ganz benommen und antwortete
auf Befragen nicht. Bei Ankunft des Arztes war es wieder klar und gab an, plotz¬
lich unter starker Atemnot gelitten zu haben. Eine Untersuchung ergab leichten
Opisthotonus, positiven Kernig, die Reflexe waren samtlich vorhanden.
Am nachsten Tage klagte die Patientin iiber Kopfschmerzen, war aber sonst
vollig klar.
Wenige Tage darauf fiihlte sie sich wieder vollig wohl; der neurologische
Befund war unverandert, nur beim Baranyschen Versuch fand sich eine leichte
Abweichung ohne Bevorzugung einer bestinimten Seite.
Am 11. XII. wurde das Madchen bei volligem Wohlbefinden auf Wunsch
der Mutter entlassen.
Aus einem Bcricht, den der Hausarzt kurzlich iibersandte, gelit hervor, daB
das Befinden sich seit der Entlassung nicht wesentlich geandert, seit der Operation
jedenfalls aber erheblich gebessert hat. Bemerkenswert sind vor allem Anfalle,
die in Pausen von etwa 4 Wochen — und zwar nur nachts — auftreten. Wahrend
dieser Anfalle, deren Dauer 2—3 Min. betragt, stohnt das Madchen und verzieht
das Gesieht, manchmal tritt Schaum vor den Mund; irgendwelche Zuckungen
oder tonische Krampfe sind nicht wieder beobachtet. Das Madchen selbst weiB
von diesen Anfallen nichts, wird erst auf Anruf munter und klagt dann iiber
leichte Kopfschmerzen. Dio Operationsnarbe ist fest und pulsiert nicht niehr.
Reflexe o. B., Pupillenreaktion auf Licht und Konvergenz prompt. Augenhinter-
grund rechts normal; die linke Papille ist nicht so scharf begrenzt wie die rechte,
aber nicht prominent. Psychiseh ist — abgesehen von der schon immer bestehenden
Debilitat — keine Veriinderung festzustellen. Das Sehvermogen ist wieder vollig
normal.
Zusammenfassung: Auch in diesem Fail war die Diagnose von
vornherein nicht mit Sicherheit zu stellen. Wie sehon im vorhergehen-
den Fall handelte es sich auch hier um die Frage, ob ein Tumor oder
eine Meningitis serosa vorlag. Eine sichere Entscheidung lieC sich auf
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
diagnose der sogenannten Meningitis serosa.
509
Grund der kurzen Beobachtungsdauer nicht treffen; doch sprach der
eigentumlich schwankende Symptomenkomplex und das anfallsweise
Auftreten der Hirndruckerscheinungen mehr fiir eine serose Meningitis.
Der ophthalmoskopische Befund und die beginnende Verschlechterung
des Sehverinogens lieBen eine sofortige druckentlastende Operation
ratsam erscheinen. Der Erfolg dieses Eingriffes ist unverkennbar, das
Befinden hat sich seit der Operation wesentlich gebessert, die Stauungs-
papille ist auf deni rechten Auge vollig geschwunden, auf dem linken
Auge sind vielleicht noch geringe Reste vorhanden. Die von Zeit zu
Zeit auftretenden Anfiille, die wohl in einem plotzlichen Anstieg des
Hirndrucks ihre Erklarung finden, deuten allerdings darauf hin, dab
der KrankheitsprozeB noch nicht endgiiltig zuin Stillstand gelangt
ist; doch gibt gerade das anfallsweise Auftreten der Erscheinungen,
deren Intensitat seit der Operation erheblich geringer geworden ist, der
Vermutungsdiagnose der Meningitis serosa eine neue kraftige Stiitze.
Wie wichtig es ist, einen druckentlastenden Eingriff zur rechten Zeit
vorzunehnien und von welchem therapeutischen Erfolg dieser begleitet
sein kann, mag noch besonders hervorgehoben werden.
Fall VII: Hermine H. aus Gr., 16 Jahre alt, hat schon seit friiher Kindheit
ein schiichternes und schreckhaftes Wesen an den Tag gelegt. In der Schule hat
sie nur miiCig gelernt. Nach den Angaben der Eltern ist das Miidchen, das friiher
stets gesund war, im Winter 1919/20 mit dem Hinterkopf „furchtbar' 1 auf das
Eis gefallen. Vierzehn Tage darauf habe sie einen Anfall gehabt, bei dem sie
plotzlieh zusammenbrach und einige Minuten bewuBtlos war, Zuckungen wurden
nicht beobachtet. Im Friihjahr 1921 habe sich ein derartiger Anfall wiederholt,
und vor kurzem sei er zum drittenmal aufgetreten. Dem Anfall ginge ein Gefiihl
von Kribbeln in den FiiBen voraus; kein ZungenbiB. H. leidet oft an Kopf-
schmerzen, die sich alle .‘3—4 Wochen einstellen, offenbar in menstruellem Typus.
Die Periode hat April 1921 eingesetzt, ist aber nur zweimal aufgetreten; erst
vor 14 Tagen ist die JBlutung wiedergekehrt. Seit kurzem klagt H. iiber Schmerzen
in der linken Brustseite. In den letzten 6 Wochen hat sie sich so schlecht gefiihlt,
daB sie dauernd im Bett liegen muBte. Einige Male will sie dop{)elt gesehen haben.
Status am 21. X. 1921: Seinem Alter entsprechend entwickeltes Madchen in
etwas benommenem, apathischem Zustand. Es verzieht oft schmerzhaft das
Gesicht und weint wegen der Schmerzen in der linken Brustseite. Der Schadel
ist iiber dem ganzen Hinterhaupt stark klopfempfindlich, die Wirbelsaule nicht
druckschmerzhaft. Die Pupillen reagieren prompt, Augenbewegungen frei. Fin-
gernasenversuch nicht ganz sicher, besonders links ataktische Storung. Die Be-
wegungen l)eim Bar&nvschen Versuch sind skandiert, besonders links, jedoch
kein eigentliches Vorbeizeigen. Patellarreflexe von der Tibiakante auslosbar.
Beim Rombergschen Versuch starke Ata.xie, schon bei offenen Augen, die Pa-
tientin fallt stiindig nach links. Hautsensibilitat, Motilitat und sonstige Reflexe
intakt.
Lungenbefund: Ober der rechten Spitze Diimpfung, das Atemgerausch da-
selbst etwas abgeschwjicht; iiber den seitlichen Lungenpartien vereinzelte klingende
Rasselgerauschc. Rontgenologiseh ist nichts festzustellen (Mcdiz. Poliklinik).
Puls regelmaBig, wenig kriiftig, 90 Schlage pro Min. Temperatur 36,4". Im
Blut 6900 Leukocyten pro cmm.
34*
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
510
H. Ruhe: t)ber die nosologische Stellung und Differential
Digitized by
Wiihrend der nachsten Tage klagte die I’atientin dauernd iiber Schmerzen
in der linken Seite. Es findet sick eine Druckempfindlichkeit in der Axillarlinie
in Hohe der untersten Intercostalraume, ebenso am Ansatz der untersten Rippen
neben der Wirbelsaule. Augenhintergrund o. B.
27. X. Lumbalpunktion: Druck 200 in in H 2 0, Liquor klar, Xonne —, 6 /s
Zellen im cram, Wa. —.
28. X. Bisher keine Besserung im Befinden; es besteht beim Stehen und
Gehen dauernd die Neigung nach links zu fallen. Beim B&rdnyschen Versuch
geringes Abweichen nach auBen. Beim Fingernasenversuch und Kniehacken-
versuch zweifellos geringe Ataxie.
5. XI. Pat. ereeheint etwaa benommen; Kopf diffus klopfempfindlich, dauernd
Kopfschmerzen und Schmerzen in der linken Seite. Beim Blick nach oben. sowie
nach rechts und links gibt Pat. an, doppelt zu sehen. Doch sind die Angaben
ungenau, so daB ein Versuch, die Doppelbilder zu lokalisieren, miBlingt. Bei
den Bewegungen der Bulbi keine Paresen der Augcnmuskeln bemerkbar; Fun¬
dus o. B.
In der folgenden Zeit trat allmahlich Besserung ein, die Kopfschmerzen
traten nur noch zeitweise auf. Am 1. XII. war kein krankhafter Befund (ins-
besondere keine Ataxie) mehr festzustellen.
Am 11. I. 1922 erschien die Patientin zur Xachuntersuchung, sie klagte noch
immer iiber Kopfschmerzen, ferner iiber Husten und Schmerzen in den Beinen.
Der Gang war vollig sicher, die Reflexe normal. Die Patientin machte einen
etwas debilen, schiichternen Eindruck.
Eine weitere Untersuchung am 18. VIII. 1922 ergab einen vollig normalen
neurologischen Befund. Auch subjektiv volliges Wohlbefinden. Die Kopfschmer¬
zen waren geschwunden, auch die Schmerzen in der Brust waren nicht mehr
aufgetreten.
Zusammenfassung: Ein lOjahriges psychisch etwas debiles Madchen
erlitt vor etwa 10 Monaten ein Kopftrauma, in dessen Gefolge sie er-
krankte. Die Hauptsymptome waren Kopfschmerzen, Anfalle von
Bewu Btlosigkeit und anscheinend voriibergehendes Doppelsehen. Bei
der Untersuchung fand sich — abgesehen von leichter Benommenheit
und einer Klopfempfindlichkeit des Schadels im Bereich des Hinter-
haupts — eine Ataxie in Armen und Beinen, namentlich links, beim
Rombergschen Versuch die Neigung nach links zu fallen und eine
Unsicherheit beim Bar&nyschen Versuch; die Patellarreflexe waren
gesteigert. Die Lumbalpunktion ergab an Her einer Druckerhohung
keinerlei abnorme Verhaltnisse. Nach dem klinischen Bild handelte es
sich offenbar um einen das Kleinhirn in Mitleidenschaft ziehenden
ProzeB. Auf Grund des Lungenbefundes, der eine tuberkulose Infektion
zum mindesten nicht ausschloB, konnte man an einen Solitartuberkel
denken. Auch ein AbszeB muBte in den Bereich der Moglichkeit ge-
zogen werden (wogegen allerdings das Fehlen jeglicher Temperatur-
steigerung und die normale Leukocytenzahl im Blut sprach); und end-
lich war zunachst naturlich auch ein Tumor nicht auszuschlieBen. Da
jedoch die lokalen Erscheinungen in kurzer Zeit vollig zurvickgingen,
gewann die Annahme, daB eine von Zeit zu Zeit exacerbierende Menin-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
diagnose der sogenannten Meningitis serosa.
511
gitis serosa circumscripta der hinteren Schadelgrube vorlag, die grdBte
Wahrscheinlichkeit. Diese Annahme kann auBerdem durch die Anam-
nese gestiitzt werden; denn offenbar steht das Schadeltrauma mit dem
Ausbruch der Krankheit in ursachlichem Zusammenhang. Auffallend
sind ubrigens die Klagen fiber Druckempfindlichkeit und Schmerzen
in den untersten Intercostalraumen; vielleicht darf man sie in Analogic
zu den von Brasch 22 ) und Oppenheim 95 ) mitgeteilten Beobachtungen
setzen, da sich eine sonstige organische Ursache nicht finden lieB.
Fall VIII: Ein 38jahriger Steinhauer, O. W. aus St., war von 1915—1918
im Felde. Er gab an, im Jahre 1916 einige Zeit an Schwindelgefiihl und Kopf-
schmerzen gelitten zu haben; 1917 lag er 2 Monate im Feldlazarett zu Laon,
weil er „auf Xierenentziindung verdachtig“ war. Am 24. April 1920 erkrankte
der Patient plotzlich mit Kopfschmerzen und Schwindel; sein Sehvermogen nahm
so rasch ab, daB er bereits am 26. mit dem reehten Auge nicht mehr sehen konnte,
mit dem linken auch nur wenig. Der Patient gab an. daB er gleichzeitig unsicher
in den Bewegungen geworden ware und stark hin- und hertaumelte. Er begab
sich zu einem Augenarzt in Behandlung. dieser schickte ihn am 26. in die Uni-
versitatsaugenklinik. Dort wurde eine VergroBerung und unscharfe Begrenzung
beider Papillen festgestellt, dazu eine deutlicho Prominenz, die rechts starker
war als links, enge Arterien und leicht gesehlangelte Venen. Die rechte Pupille
war weitcr als die linke, beide reagierten prompt auf Licht und Konvergenz.
Der Visus betrug r. =0,1 und 1. - 0,8. In den nachsten Tagen ging die Pro¬
minenz rechts rasch zuriick, links dagegen nahm sie noch etwas zu. Derncnt-
sprcchend ging die Sehkraft rechts herauf und betrug am 2. Mai 0,6; links ging
sie auf 0,3 herunter. Die Angaben des Patienten bei der Gesichtsfeldbestim-
mung waren so unbestimmt und wechselnd, da’ll sie nicht recht verwertet werden
konnten. Wahrend auf dem reehten Auge die Prominenz weiter zuriickging,
und der Visus bereits am 9. V. wieder normal war. blieb die Papillenschwellung
links zunachst noch bestehen, ging dann aber am 10. Mai auffallend rasch zuriick,
so daB der ProzeB am 11. bciderseits fast vollig zuriickgegangen war. De^ Visus
betrug damals auf dem reehten Auge 1,0, auf dem linken 0,8—0,9. Die Diagnose
war in der Augenklinik auf Papillitis (Stauungspapille?) gestellt. Am 28. April
wurde der Patient der Xervenklinik vorgestellt. Es wurden damals schwere
cerebellare Erscheinungen konstatiert: Ataktischer Gang, Kleinhirnasynei-gie,
Romberg -(-, beim Fingcrnasenversuch schwere Ataxie, und zwar rechts mehr
als links, ebenso Adiadochokinesis r.>l. Beim B&ranvschen Versuch in horizon-
taler Richtung starkes Abweichen nach unten, ebenfalls rechts mehr als links;
dazu positiver Babinski und Andeutung eines erschopfbaren FuBklonus beider-
seits, deutlicher Druckpuls. Urin o. B. Am 11. Mai wurde der Patient in die
Xervenklinik verlegt.
Status: Gesunder, kraftiger Mann. Schadel und Wirbelsaule — mit Aus-
nahme des Lumbalteils — nicht klopfempfindlich. Die Pupillen reagicren gut.
kein Xystagmus. Puls regelmaBig, 80 Schlage pro Min. Ziemlich starker Dermo-
graphismus. Reflexe: Kniereflexe selir lebhaft, bciderseits Patellarklonus. Achil-
Iessehnenreflex vorhanden. Romberg, Barany, Adiadochokinesis negativ. Keine
Ataxie, kein Intentionstremor. Der Gang ist normal. Die Reflexe der oberen
Extremitat o. B. — Abgesehen von einem unspezifischen Erythema urticatum
(Hautklinik) und einer sptustischen Obstipation (med. Poliklinik) bot der Patient
wahrend seines klinischen Aufenthaltes sonst keinerlei krankhafte Storungen.
Eine augenarztliche Untersuchung am 25. Mai ergab einen bciderseits normalen
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
512
H. Ruhe: Uber die nosologische Stellung und Differential-
Digitized by
Visns, das Gesichtsfeld war vollig normal; die Papillen zeigtcn beiderseite keine
Abblassung, keine Prominenz. Da der Patient sich vollig wohl fiihlte, wurde er
am 27. Mai mit Jod entlassen.
Bei einer Vorstellung am 6. Juni hatte sich der korperliche Zustand (auch
der Augenbefund) nicht geandert.
Bei einer Untersuchung am 24. August in der Augenklinik wurden „nur ge-
ringe Reste der ekemaligen Stauungspapille“ festgestellt; der Visus war normal.
Die neurologische Untersuchung hatte folgendes Resultat: Der Patient gibt an,
wahrend der heiBen Tage unter erheblichen Kopfschmerzen, manchmal auch
an Schwindel gelitten zu haben. Der Gang ist sicher. Beiin Rombergschen Ver-
such tritt nach LidsehluB geringes Riickwartssinken ohne Gleichgewichtsverlust
ein. BArany: vertikal sicher; horizontal etwas nach unten abweichend. Beiin
Fingernascnversuch geringes Abweichen nach auBen mit der rechten Hand. Gleich
schwere Gegenstande werden rechts schwerer geschatzt. Rechts deutliche Adia-
dochokinesis. Kniehackenversuch rechts unsicher, rechts gesteigerter Kniereflex.
Bauchdeckenreflexe o. B.
Am 14. Oktober stellte sich der Patient abermals vor. Er gab an, daB es
ihm seit 10 Tagen nicht gut ginge. Er klagte liber Kopfschmerzen, besonders in
der Stirn; sie wechselten an Intensitat stark, traten bald hier, bald da auf. AuBer-
dem litte er an anfallsweise auftretendem Drehschwindel, auch ware das Seh-
vermogen wieder schlechter geworden.
Status: Patient geht mit geschlossenen Augen vorsichtig, als ob er zu fallen
drohte; dabei taumelt er etwas. Beiin Beklopfcn des Schadels wird nirgends
Schmerzempfindung angegeben. BarAny vertikal und horizontal vollig sicher,
ebenso der Fingernasenversuch. Adiadochokinesis nicht ganz sicher. Hirnnerven
o. B. Keine Sprachstorung. Die Pupillen reagieren prompt. Beim Romberg¬
schen Versueh Gleichgewichtsverlust nach links hinten. Kniereflexe lebhaft.
Augenbefund: Visus beiderseits 1 / 10 . Papillen beiderseits normal, vielleicht
geringe temporale Abblassung. Ausgedehnte beiderseitige Gesichtsfelddefekte,
hauptsachlich in der Peripherie, r. > 1. Am 15. Oktober wurde eine Lumbal-
punktion vorgenommen: es wurden vorsichtig 2 ccm abgelassen, Druck 180 mm
Waaser, Nonne und Pandy —, Zellen 26 / 3 pro cmm. Das Sehvermogen nahm
allmiililich wieder zu und betrug am 28. Oktober rechts = 0,3, links = 0,2. Eine
am 25. vorgenommene Rontgenuntersuchung des Schadels ergab eine vollig nor-
male Sella turcica. Die temporale Abblassung nahm allmahlich zu, so daB sie
am 5. November als sicher pathologisch betrachtet wurde; eine Gcsichtsfeldauf-
nahme ergab beiderseits hauptsachlich periphere Dcfekte.
Wegen Nasenbeschwerden wurde der Patient der Ohren-, Nasen- und Hals-
klinik iiberwiesen. Dort wurde am 24. November wegen einer Septumdeviation
eine submukose Septumresektion ausgefiihrt, auBerdem wurde die hypertrophische
Schleimhaut der beiden unteren Muscheln abgetragen. An den Nebenhohlen
konnte kein pathologischer Befund erhoben werden.
Dor Visus stieg allmahlich und betrug am 10. Dezembcr r. = 0,9 und 1. = 0,7;
ophthalmoskopisch war keine Anderung festzustellen.
Auf eine Anfrage teilte mir der Patient am 6. Marz 1922 mit, daB er noch
immer an plotzlich auftretenden Schwindelanfallen und Stirnkopfschraerzen leide,
die an Intensitat sehr wechseln, meist aber heftig sind. Infolgedessen sei er immer
noch nicht recht arbeitsfahig. Der ophthalmoskopische Befund vom 6. III. (Dr.
N.) lautete: Pupillenreaktion o. B. Visus beiderseits nahezu 5 / 6 . Gesichtsfeld
und Farben normal. Beiderseits papillitische Atrophia nervi optici. Kein Ny¬
stagmus.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
diagnose der sogenannten Meningitis serosa.
513
Zusammenfassung: Ein bisher stets gesunder Mann erkrankt akut
unter schweren Erscheinungen cerebellarer Natur. Da sich fur einen
AbszeB, einen Solitartuberkel oder ein Gumma keine Anhaltspunkte
ergaben, wurde die Diagnose auf Tumor gestellt. Die augenarztliche
Untersuchung hat Veranderungen ergeben, von denen nicht sicher
ist, ob es sich um eine Stauungspapille oder um eine Neuritis optica
gehandelt hat. Vielleicht sprechen aber die starken Sehstorungen mehr
fur einen entzundlichen ProzeB. Der schnelle Ruckgang der Erschei¬
nungen, die auffallend rasch eintretende Besserung lieB die Diagnose
auf Tumor, wenn auch nicht unmoglich, so doch zweifelhaft erscheinen.
Es wurde daher an eine Meningitis serosa circumscripta gedacht, damit
konnte auch der Augenbefund ubereinstimmen, mag es sich nun um
eine Papillitis oder um eine Stauungspapille gehandelt haben. AuBer-
dem spricht auch der remittierende Verlauf — bisher 2 Anfalle —
dafiir. Der zweite Anfall ist offenbar weniger akut eingetreten, auch
waren die Ausfallserscheinungen von seiten des Cerebellum und die
ophthalmoskopischen Veranderungen bei weitem nicht so ausgepragt
wie ira ersten Anfall. DaB tatsachlich wahrend des zweiten Anfalls
eine intrakranielle Drucksteigerung vorlag, beweist der erhohte Lum-
baldruck. Die allcrdings nur geringe Zellvermehrung gibt doch einen
gewissen Hinweis auf einen entzundlichen ProzeB. Doch wissen wir,
daB ja auch bei Tumoren eine geringe Zellvermehrung vorhanden sein
kann. Man konnte vielleicht — sogar auf Grand des ophthalmoskopi-
schen Befundes — annehmen, daB sich der entzundliche ProzeB im
ersten Anfall mehr diffus ausgebreitet oder wenigstens auf den N.
opticus ubergegriffen hat, wahrend er im zweiten Anfall mehr lokali-
siert war. Fur eine von einer Erkrankung der Nebenhohlen ausgehende
Neuritis optica oder eine Neuritis ex nephritide lieBen sich keine An¬
haltspunkte finden. Die temporale Abblassung, die eine Zeitlang
sicher zu konstatieren war, konnte vielleicht an eine multiple Sklerose
denken lassen; der fast akute Ruckgang schwerster cerebellarer Herd-
symptome spricht aber in erheblichem MaBe dagegen. Remissionen sind
gewiB auch bei multipier Sklerose haufig, aber nicht derartig schlag-
artig einsetzende Besserangen so hochgradiger Herdsymptome. t)ber-
dies hat nach dem letzten Bericht die Atrophie den gesamten Nerven-
querschnitt ergriffen; und da das papillo-maculare Biindel bekanntlich
schadlichen Einfliissen gegenulx*r besonders empfindlich zu sein scheint,
ist es vielleicht auch erklarlich, daB dieser Teil zuerst der Atrophie
verfiel. Wir konnen unser Urteil also dahin zusammenfassen, daB es
sich in dem vorliegenden Fall wohl zweifellos um einen raumbeschran-
kenden ProzeB der (rechten) hinteren Schadelgrube handelt, der wohl
sicher entzundlichen Ursprungs ist, und der wegen seines remittieren-
den Verlaufes, wegen des Fehlens einer sonstigen Atiologie und wegen
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
514
H. Ruhe: Ober die nosologische Stellung und Differential-
seiner relativen Gutartigkeit — abgesehen von der leider in Atrophie
iibergegangenen Neuritis optica — mit groBer Wahrscheinlichkeit als
Meningitis serosa circumscripta anzusehen ist. Der Fall beansprucht
wegen der Wiederholung der Anfalle ein besonderes Interesse.
Noch schwicriger ist die Deutung des Krankheitsbildes im nachsten
Fall.
Fall IX: Klempner A. P. aus R., 35 Jahre alt. Familienanamnese o. B.
P. ist aeit 1917 verheiratet, hat ein gesundes Kind. Venerische Infektion wild
geleugnet. Im Februar 1918 wahrend des Feldzuges wurde P. versehiittet; es
wurde damals eine Quetschung der Brust und des rechten Beines festgestellt.
Der Patient behauptet neuerdings, damals bewuBtlos gewesen zu sein (im Kran-
kenblatt kein Anhalt dafiir); er hat darauf einen Monat im Lazarett gelegen.
August 1918 will P. mehrfach erbrochen habcn, damals stellte sich auch Schwin-
delgefiihl ein. Bis zur Demobilmaeliung will er sich dann in Krankensammel-
stellen aufgehalten haben (in den Akten nichts davon bekannt). Er behauptet,
damals unsicher in den Handen gewesen zu sein und an Schwindelanfallen ge-
litten zu haben. Seit seiner Entlassung — November 1918 — traten dann in
Pausen von einigen Wochen Anfalle auf, bei denen er das Bewu lit sein verlor;
nacli den Angaben der Ehefrau soil er dabei vom Stuhl gefallen sein und mit den
Beinen gesehlagen haben, einmal ist Urin abgegangen, manchmal hat er sich
w'ahrend der Anfalle an den Handen kleine Verletzungen zugezogen, kein Zungen-
biB, Dauer der Anfalle ca. 10 Minuten. Der erste derartige Anfall soil im Februar
1919 wahrend eines Spazierganges aufgetreten sein, mit Kopfdruck, plotzlichein
Schwindelgefiihl, Erbrechen und Drehsehwindel. Auf seinen Antrag kam P. in
militararztliche Behandlung (August 1919—Marz 1920 im Vereinslazarett W.).
Damals wurde „Xeurasthenie” diagnostiziert. Doch wurde schon damals zeit-
weise auftretender grobschlagiger Nystagmus in den Endstellungen beobachtet:
auBerdem wurde am 10. X. ein Anfall beobachtet, zu dem folgende Notiz gemacht
wurde: „Heftiges Zittern. krampfartiges Zucken des ganzen Korpers, Einbohren
des Kopfes in die Kissen, Daumen krampfhaft eingeschlagen. Dauer 3—4 Min.
Nach dem Anfall Schmerzen in alien Gliedern. besonders in den Nackenmuskeln.“
Nach seiner Entlassung aus dem Lazarett fiihltc sich der Patient zunachst vollig
wohl, die Anfalle traten nur vereinzelt auf. so dafi P. seine Arbeit wieder auf-
nehmen konnte. April 1921 warden die Anfalle haufiger — ein- bis zweimal in der
Woche —, Ende Mai traten starke Storungen hinzu: Der Gang wurde taumelig,
es stellte sich ein Gefiihl allgemeiner Mattigkeit ein. Anfalle sind aber nicht mehr
aufgetreten. Der Zustand des Patienten verschlimmerte sich allmiihlich so, daB
der behandelnde Arzt ihn am 11. VII. der Nervenklinik iiberwies mit der Diagnose:
Tumor? Sklerosis multiplex incipiens? Neurasthenia gravis?
Status am 11. VII. 1921: MittelgroBer Mann in maBigem Ernahrungszustand,
Haut blaB. Schleimhaute schlecht durchblutet. Schadel beiderseits iiber dem
Os occipitale klopfempfindlich, Wirbelsaule nirgends druckempfindlich. Pupillen
beiderseits gleich, mittelweit, reagieren prompt auf Lichteinfall und Konvergenz.
In den Endstellungen beim Blick nach rechts und links starker horizontaler
Nystagmus, beim Blick nach oben vertikaler Nystagmus. Kornealreflex prompt,
Konjunktivalreflex abgeschwiicht. Hirnnerven intakt. Reflexe der oberen Ex-
tremitat: Radiusperiost- und Tricepsreflex r. > 1.; Fingergiundgelenksreflex r.
negativ, links vorhanden, rechts geringe Hypertonie. Beim Fingernasenversuch
links starke Ataxie, rechts unsicher. Beim B&ranyschcn Versuch zeigt Patient
links nach auBen vorbei, rechts normal. Bei der Prvifung auf Adiadochokinesis
Ungeschicklichkeit in beiden Handen. Sensibibtat intakt. Bauchdeckenreflexe
Digitized by
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
diagnose der sogenannten Meningitis serosa.
515
beiderseits vorhanden. doch schwach und leicht erschopfbar. Untere Extremi-
taten: Kniereflex rechts etwas lebhafter als links. Gekreuzter Adduktorenreflex
von links nach rechts deutlich positiv. Achillessehnenreflex beiderseits vorhanden;
Babinski, Oppenheim, Mendel - Bee hterew, Rossolimo 0, doch Facherphanomen
r. >■ 1. Beim Kniehaekenversuch Ataxic links viel deutlicher als rechts. Patient
kann nicht allein stehen, taumelt sofort nach rechts hinten. Puls regelmaBig,
weich, 66 Schlage pro Min. Temperatur unter 37°. Augenhintergrundsbehind:
Beginnende Stauungspapille, links deutlicher als rechts — Patient hat seit einem
Jahr bemerkt, daB beim Lesen die Buchstaben oftcr vor seinen Augen verachwam-
men —. Der Patient klagt liber dauemden Schwindel, beim Transport vom
Untersuchungszimmer nach oben tritt Erbrechen ein.
Unter Jodkaliumtherapie trat in den nachsten Tagen cine auffallende Bes-
serung ein. Der Patient fiihlte sich bedeutend wohler, der Gang wurde besser.
Die ophthalmoskopische Untersuchung am 13. VII. hatte folgendes Resultat:
Keine Stauungspapille, Grenzen etwas unscharf, geringste (nicht pathologische)
Prominenz. Die Blutuntersuchung nach YVassermann fiel verdachtig aus, es
waren geringe Hemmungen mit 2 Antigenen vorhanden. Einer Lumbalpunktion
widersetzte sich der Patient auf das entschiedenste. Da der Patient nach Hause
drangte, wurde er am 15. VII. entlassen.
Aus einem Bericht, den mir der Hausarzt in freundlicher Weise zukomnien
lieB, geht hervor. daB die „nervdsen“ Beschwerden des Patienten — aufgeregtes
querulierendes Wesen, allgemeines Schwachegefiihl — seit seinem klinischen
Aufenthalt etwas zuriickgegangen sind. Dagegen bestehen die organischen Er-
scheinungen unverandert fort. Die Klagen des Patienten bestehen in Gedachtnis-
schwache, Herabsctzung der psychischen Leistungsfahigkeit, zeitweise auftreten-
dem starken Kopfdruck, Erschwerung des Spreehens und dauernder Obstipation.
Schwindelanfalle und Erbrechen sind nicht mehr aufgetreten. Der augenblick-
liche korperliche Zustand des Patienten laBt sich dahin zusammenfassen:
Schadel diffus klopfempfindlich. Pupillen o. B. In den Endstellungen der
Bulbi grobschliigiger horizontaler und vertikaler Nystagmus. Hirnnerven o. B.
Augenhintergrund: Rechte Papille eine Spur prominent, Papillengrenzen links
nicht ganz seharf. Beide Papillen blasser als normal. Rechts einige chorioiditische
Herde. Visus beiderseits mit + 0,75 D. = a / 5 . Bei kalorischer Labyrinthreizung
verstiirkt sich der Nystagmus, und es tritt ein bald voriibergehender subjektiver
Schwindel auf. Beim angeschlossenen B&r&nyschen Versuch verstiirkt sich das
spontane Abweichen nach aullen. Fingernascnversuch beiderseits grobschlagig
zitternd und ataktisch. Adiadochokinesis nicht ausgesprcchen. Grobe Kraft
links herabgesetzt; Handedruck mit dem Dynamometer rechts 60, links 25.
Romberg +, ohne bestimmte Fallrichtung. Gang etwas steif, breitbeinig und
wackelnd. Kniehaekenversuch beiderseits unter maBigem Wackeln. aber mit
guter Erreichung des Ziels. Grobe Kraft der Beine gut. Der Muskeltonus ist
nicht vermehrt, die Beweglichkeit der Muskulatur ist nach alien Richtungen
frei. Samtliche Sehnenreflexe lebhaft; keine pathologische Reflexsteigerung, nur
FuBklonus beiderseits, sehr schwach, plantar. Der Bauchdeckcnreflex soil fehlen.
Sensibilitiit intakt (Dr. N.: ,,Beriihrungsempfinden mit Pinsel in beiden Handen
ziemlich aufgehoben“), Sprache o. B. (Dr. N.: skandierend bei ,,zwitschernder
Schwalbenzwilling' 1 ). Der Patient lehnt auch jetzt sowohl Blutentnahme zur
Wassermami-Reaktion wie auch Lumbalpunktion schroff ab.
Zusammenfassung: Wir haben das Bild einer zweifellos organischen
Erkrankung des Zentralnervensystems mit chronischem Beginn (1918)
und chronischem Verlauf vor uns. Die objektiven Symptome deuten
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
516 H. Ruhe: tlber die noeologmche Stellung und Different ial-
auf eine vorwiegende Schadigung der Kleinhirnhemisphare hin, die
anfangs besonders in der linken Korperhalfte deutlich hervortraten,
jetzt aber — mit Ausnahme der groben Kraft — auf beiden Seiten
gleich stark zu sein scheinen, und zwar mit besonderer Bevorzugung
der oberen Extremitaten. Dazu traten anfangs Pyramidensymptome,
die jetzt nieht mehr vorhanden sind (Fehlen der Bauchdeckenreflexe,
FuBklonus?). Der Augenhintergrundbefund hat auch in diesem Fall
kein sicheres Resultat ergeben; es geht aus den Berichten nicht mit
voller Scharfe hervor, ob es sich um eine Neuritis optica oder um eine
Stauungspapille handelt. Dbrigens scheint sich auch hier der t)ber-
gang in Atrophie bereits zu vollziehen. Es handelt sich nun um die
Frage, wie das vorliegende Krankheitsbild zu deuten ist. Der Verdacht
auf einen Kleinhirntumor war zunachst vollkommen berechtigt. Doch
spricht die iiberaus langsame, mit Remissionen sich vollziehende Ent-
wicklung des Leidens und das Fehlen ausgesprochener Hirndruckerschei-
nungen wohl dagegen. In der Gottinger Nervenklinik wurde auf Grund
des damals vorhandenen Syraptomenkomplexes die Diagnose einer
circumscripten serosen Meningitis gestellt, die sich in der linken hin-
teren Schadelgrube lokalisiert haben sollte; und der weitere (chronische)
Verlauf spricht durchaus nicht gegen eine solche Annahme. Doch laBt
sich die Moglichkeit, daB es sich eventuell um einen spezifisch syphili-
tischen ProzeB handelt, nicht von der Hand weisen. Ebenso spricht
aber der Verlauf der Krankheit durchaus nicht gegen eine multiple
Sklerose, deren wechselvolles Krankheitsbild ja allgemein bekannt ist;
denn auch die Neuritis optica bzw. Stauungspapille kann — wenn auch
seiten — eine Begleiterscheinung der multiplen Sklerose sein (Le-
wandowsky 76 ), Striimpell 132 ). Ein weiteres erschwerendes Moment
liegt ferner darin, daB sich dem Krankheitsbild offenbar psychogene
Erscheinungen beimischen. Die Lumbalpunktion allein vermag hier
Aufklarung zu verschaffen, und es ist — auch im eigenen Interesse
des Patienten — zu bedauern, daB sie nicht ausgefiihrt werden kann.
Die Diagnose wird also vorlaufig in suspenso bleiben iniissen, zum
eigenen Schaden des Patienten; denn auch die Thera pie kann natur-
gemaB nur eine symptomatische sein.
Aus der Schilderung dieser Falle diirfte wohl mit aller Deutlichkeit
hervorgehen, wie schwierig, geradezu unmdglich es unter Umstanden
sein kann, den Verdacht einer serosen Meningitis zu rechtfertigen.
Trotzdem sollte es sich der Praktiker doch stets zur Pflicht machen,
bei den geeigneten Fallen wenigstens an die Moglichkeit des Vorliegens
einer Meningitis serosa zu denken. ,,Aber die Diagnose der Meningitis
serosa soli nicht zur Modediagnose bei alien mbglichen Gehirnkrank-
heiten mit gliicklichem Ausgang werden. Will man den Boden der
Tatsachen nicht verlassen, so wird man nur seiten zur sicheren Diagnose,
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
diagnose der sogenannten Meningitis serosa.
517
haufiger aber zur Wahrscheinlichkeitsdiagnose der Meningitis serosa
gelangen. Es ist moglich, wenn auch nicht wahrscheinlich, daB die
l>essere Erforschung der Meningitis serosa uns Merkmale zur Erken-
nung dieser Krankheit schon wahrend des Verlaufes und raeist erst
naeh ihrem Ablauf gibt.“ Dieser Ansicht, die Bonninghaus vor nun-
mehr 25 Jahren ausgesprochen hat, konnen wir uns auch heute noch
in vollem Umfange anschlieBen.
Wenn wir jetzt das gesamte Krankheitsbild der Meningitis serosa
noch einmal uberschauen, so konnen wir die ungeheure Mannigfaltig-
keit des Symptomenkomplexes, auf die wir schon anfangs hinwiesen,
nur wieder von neuem betonen. Bald unter stiirmischen Erscheinungen
innerhalb kiirzester Zeit zum Tode fuhrend, bald weniger heftig ver-
laufend oder gar mit schleichendem Beginn und Verlauf einer tuber-
kulosen Meningitis ahnlich, bald nur mit den Zeichen eines allgemeinen
Hirndrucks, bald mit ausgesprochenen Herdsymptomen, entweder in
standig progressivem Verlauf oder mit typischen Remissionen die aller-
schwersten Krankheitszustande hervorrufend oder aber spontan zu
einem giinstigen Ausgang fuhrend, teils mit infektioser oder trauma-
tischer Genese, teils ohne jede erkennbare Ursache — so tritt uns die
serose Meningitis als die variabelste und daher am schwersten zu er-
kennende Form der Hirnhautentzundung entgegen. Trotz dieser Ver-
schiedenheiten in Atiologie und Klinik wollen wir doch auf Grund
unserer pathologisch-anatomischen Erwagungen an dem einheitlichen
libergeordneten Begriff der ,,Meningitis serosa“ festhalten. Und selbst
wenn auch pathologisch-anatomisch Ubergange einerseits in die
eitrige Form der Meningitis, andererseits in einfach hyperamische Zu-
stande bestehen, so sollte man trotzdem den Begriff der serosen Menin¬
gitis nicht vollig ausschalten. Widal (zit. nach Danielopolu 28 ) hat
z. B. vorgeschlagen, statt dessen den allerdings ,,zu nichts verpflich-
tenden", aber auch ganzlich nichtssagenden Ausdruck des ,,Status
meningealis" einzufiihren, dessen Feststellung den Kliniker wohl ebenso-
wenig befriedigen diirfte wie die Diagnose eines ,,Status typhosus".
Es wird immer und auf alien Gebieten der Pathologie Grenzfalle geben.
Und so sehr es auch aus rein didaktischen Griinden erwiinscht ist, stets
an einer moglichst scharfen Formulierung der Begriffe festzuhalten,
so darf man doch auch nicht vergessen, daB sich die Natur noch nie
in ein Schema hat zwangen lassen, daB uberall flieBende Ubergange
bestehen. Gerade diese bunte Mannigfaltigkeit der Erscheinungen,
das wechselvolle Spiel der bald einander widerstrebenden, bald unter-
stutzenden Krafte fesselt unsere Beobachtung und laBt uns die Vor-
gange in der uns umgebenden Natur mit stets erneutem Interesse
miterleben.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
518
H. Iluhe: Cber die nosologische Stellung und Differential-
Digitized by
Die Unsicherheit und Unklarheit, die fiber den Begriff der serosen
Meningitis besteht, beruht zum Teil auch darauf, daB der Ausdruck
von den einzelnenAutoren in ganz verschiedenem Sinn angewendet wird;
und es sei nochmals betont, daB man nur dann von ,.Meningitis serosa “
sprechen soli, wenn auch wirklich ein EntziindungsprozeB in den Me-
ningen vorhanden ist. Vielfach werden jedoch auch solche Zustande
als ,,Meningitis serosa“ bezeichnet, bei denen es sich zwar — nach
dem klinischen Befund — zweifellos um eine Affektion der Meningen
bzw. des Zentralnervensystems handelt, bei denen die Lumbalpunktion
aber nur eine Druckerhohung ergibt. Diese Zustande konnen bei den
verschiedensten Infektionskrankheiten auftreten (Groer) (besonders
auch bei Darmerkrankungen, Ruhr, Typhus, Tuberkulose), ferner bei
Intoxikationen (Alkohol, Blei), bei Insolation, bei Verbrennungen, als
Teilerscheinung der ,,Serumkrankheit“, angeblich auch bei Helmin¬
thiasis*), (Matthes 81 ), Groer 55 ), bei der Menstruation (Quincke 106 ),
wahrend der Graviditat. Sie auBern sich in Mattigkeit, VerdrieBlich-
keit, Appetitlosigkeit, Kopfschmerzen, Nackensteifigkeit, Erbrechen,
BewuBtseinsstbrungen, die sich zu echten Psychosen steigern konnen,
auch in ausgesprochcnen meningitischen Symptomen. Wenn es sich
um eine Infektionskrankheit handelt, pflegen diese Erscheinungen ge-
wohnlich zur selben Zeit aufzutreten wie die betreffende Grundkrank-
heit. Sie konnen in deren weiterem Verlauf bald wieder in den Hinter-
grund treten oder aber eine derartige Steigerung erfahren, daB sie das
Krankheitsbild vollig beherrschen und von einer echten Meningitis
nicht zu unterscheiden sind (Groer 55 ). Die Lumbalpunktion ergibt
ein klares, meist unter erhohtem Dnick stehendes, sonst aber vollig
normales Punktat. Bei den zur Obduktion gelangenden Fallen kann
man hochstens eine Hyperamie und ein Odem des Gehirns und der
Meningen feststellen, oder der pathologisch-anatomische Befund ist
vollig negativ. Schultze 125 ) hat allerdings auch peri vasculare Zell-
anhaufungen in der Hirnsubstanz gefunden; und Groer 55 ) berichtet
von kleinen, flohstichartigen Hamorrhagien im Gehirn, fiigt aber hinzu,
daB man kein Recht habe, diese Veranderungen als primare Ursache
der klinischen Erscheinungen zu betrachten. t)ber die Bedeutung und Ent-
stehung dieses Krankheitsbildes gehen die Meinungen sehr auseinander.
Zunachst hat man vielfach von einer besondercn Disposition ge-
sprochen, und es kann liier auf das verwiesen werden, was bereits im
*) Von franzosischcr Seite (Guillain, Cardin: Contribution 4 l'etude des
m£ningites de riiehninthiaso. Bull, de l’aead. de m6<l. 87, Nr. 11, 1922) ist kiirz-
lich ein Fall mitgeteilt worden, bei dem eine Helminthiasis (Taenie) offenbar
im Zusannnenhang mit einer echten Meningitis serosa (EiweiBvermehrung. starke
Pleocytose, positive kolloidale Benzoereaktion) stand; denn nach Abtreibung
der Taenie trat innerhalb kurzer Zeit vollige Heilung ein.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
diagnose der sogenannten Meningitis serosa.
519
Anfang dariiber gesagt wurde. Was die Erkliirung des Zustandes selbst
anlangt, so hat Heidenhain 81 ) von einer ,,vasomotorischen Reflex-
neurose“ gesprochen. Quincke faBt ihn als Teilerscheinung des an-
gioneurotischen Symptomenkomplexes auf und setzt ihn in Analogie
zu den akuten Gelenkergiissen, den umschriebenen Hautodemen, den
urticariellen Hautefflorescenzen und dem seltenen pramenstruellen
Ascites. Finkelstein (zit. nach Bliihdorn 12 ) ist der Ansicht, dab
die Stoffwechselprodukte der Bakterien auf die Ganglienzellen und
HirngefaBe einwirken und die Sekretion des Plexus chorioideus an-
regen. Diese toxische Genese wird von den meisten Autoren befiir-
wortet (siehe auch bei Feer 35 ) und Kayser 70 ). Groer 55 ) halt aber
die Bedeutung der bakteriellen Invasion nicht fur ausschlaggebend;
er betraehtet das Krankheitsbild als cine Toxikose, als eine Teilerschei-
nung reaktiver Natur — etwa analog dem Fieber —, die wahrscheinlich
nicht durch Bakterientoxine, sondern durch endogene Noxen (Gewebs-
zerfall) hervorgerufen wird. l>a ein organischer ProzeB (Liquordruck-
erhohung, vermehrte Liquorsekretion usw.) auch bei diesen nicht ent-
ziindlicben Affektionen vorliegt, ist die Bezeichnung ,,Neurose“ nicht
sehr passend, vor allem nicht die Bezeichnung , ,Ref lexneurose'', wenn
auch in jenen Fallen wenigstens eine Verwandtschaft zum Quine ke-
schen Odem zweifellos bestehen diirfte. Doch spielen wohl cndotoxische
Vorgange die Hauptrolle. Dieses Krankheitsbild wird, wie schon mehr-
fach erwahnt, auch heute noch von verschiedenen Autoren dem Begriff
der ,,Meningitis serosa'* untergeordnet und schlechthin als ,,Meningitis
mit serosem Exsudat” bezeichnet, obwohl man gleichzeitig betont,
daB keine EiweiB- oder Zellvermehning, sondern allein eine Druck-
erhohung im Liquor nachzuweisen sei. Aber schon Quincke 108 ) hat
im Jahre 1897 offenbar die Empfindung gehabt, daB es sich in diesen
Fallen nicht um eine Entzundung der Hirnhaute handelt; denn er
wahlte als Titel fiir seinen damals veroffentlichten Aufsatz: ,,t)ber
Meningitis serosa und verwandte Zustande“. Im allgemeinen scheinen
wohl die meisten Autoren heutzutage diese beiden Krankheitsbilder
prinzipiell voneinander zu trennen (Feer 34 ), Groer 55 ), Matthes 81 ).
Der von F. Schultze auf Grund seiner pathologisch-anatomischen
Untersuchungen gewahlte Ausdruck ,,meningitis sine meningitide“ hat
wohl nirgends Anerkennung gefunden; auch die Bezeichnung ,,Pseudo-
meningitis“ hat sich — wenigstens nicht in Deutschland — eingebiir-
gert-. Die von Dupre gepragte Bezeichnung ,,Meningismus“ hat da-
gegen tlie verschiedenste Beurteilung erfahren. Man soil unter diesem
Ausdruck verstehen: ,,1’ensemble des symptomes eveilles par la souf-
france des zones meningo-corticales et independants de toute alteration
saisissable 1 *.. Der Name hatte zunachst rasch Anklang gefunden und
Avird aiich heute noch gebraucht (Feer, Kayser, Lewandowsky 78 ),
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Digitized by
520 H. Ruhe: Ober die nosologische Stellung und Differential-
Matthes). Ziehen (zit. nach Groer) hat ilin abgelehnt mit der Be-
griindung, daB die Falle von Meningismus nur leichte Falle von Me¬
ningitis serosa waren, und zwar seien es entweder zirkulatorische Sto-
rungen oder funktionelle Storungen auf infektioser, toxischer oder
autotoxischer Basis. Auch Thiemich 133 ) hat die Bezeichnung ,,Me-
ningismus“ fallen lassen mit der Angabe, daB man im Laufe der Zeit
ganzlich heterogene Krankheiten darunter zusammengefaBt habe. Ins-
besondere scheint man das Krankheitsbild von dem auf rein funk-
tioneller Basis sich aufbauenden meningitischen Symptomenkomplex
nicht immer scharf genug getrennt zu haben. Groer 55 ) hat den Aus-
druck ,,Meningoencephalismus“ empfohlen; er versteht darunter ,,die
Getamtheit der primaren meningo-corticalen Reizerscheinungen, die
im Verlauf, namentlich aber im Beginn einer jeden zur Allgemein-
reaktion fuhrenden Infektionskrankheit khnisch nachweisbar sein kon-
nen, die aber mit keiner der mit den jetzigen Methoden feststellbaren
entziindlichen Erscheinungen verbunden sein brauchen, und die eine
weitgehende Unabhangigkeit von dem pathologisch-anatomischen Be-
fund aufweisen. Die primare Xoxe, die das Zentralnervensystem be-
trifft und die klinischen Bilder hervorruft, kann sekundare —encephali-
tische und meningitische — Veranderungen hervorrufen.“ Ob sich diese
Bezeichnung einbiirgern wird, dariiber kann heute noch kein Urteil
abgegeben werden. Wir mochten jedoch empfehlen, den Ausdruck
„Meningismus < ‘ — wenn man ihn uberhaupt anwenden will — nur fiir
solche Zustande zu gebrauchen, die auf rein funktioneller Grundlage
entstehen und dementsprechend auch lediglich durch psychische Be-
handlung beeinfluBt werden konnen. Fiir den auf toxischer oder an-
gioneurotischer Grundlage sich aufbauenden Symptomenkomplex schla-
gen wir — nach dem Vorgang von Bossert 20 ) und nach Analogic des
in die Nierenpathologie eingefiihrten Begriffes der ,,Nephropathie“ —
die Bezeichnung ,,Meningopathie“ vor und trennen darnit dieses
Krankheitsbild prinzipiell einerseits von der auf entzundlicher Basis
beruhenden Meningitis serosa und andererseits den rein funktionellen
Zustiinden. Es wird Aufgabe der klinischen Beobachtung sein, zu ent-
scheiden, welches von diesen Krankheitsbildern im einzelnen Fall vor-
liegt, da sich die Therapie je nach dem Vorliegen des einen oder des
anderen Krankheitszustandes verschieden gestalten wird.
Eine besonders wichtige Rolle in der Atiologie der Meningopathie
spielt das Trauma. 3 Krankheitsfalle, aus denen die Bedeutung dieses
Momentes hervorgcht, mogen als Beispiel angefiihrt werden.
Fall X: F. K., Besitzer eines Erholungsheinis, 42 Jahre alt, hat sich als
Kind durch Sturz zweimal am Kopf verletzt. Wahrend cines Pfcrdetransportes
in RuBland, Herbst 1915, wurde K. durch den Hufschlag eines Pferdes mit dem
Kopf gegen eine Wand geschleudert. Er war sofort bewuCtlos und kam erst
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
diagnose der sogenannten Meningitis serosa.
521
nach einiger Zeit wieder zu sich. AuBer einer Kontusion der rechten Brustwand
(blutiger Auswurf, Rippenfraktur?) hatte K. cine erhebliche Wunde an der rechten
Stirnseite davongetragen. Von den Einzelheiten des Unfalls weiB er nichts; auch
ob Blut aus Xase oder Ohr ausgetreten ist, oder ob er erbrochen hat, kann er
nicht angeben. Der Patient hat dann ein halbes Jahr im Lazarett gelegen, die
Kopfwunde ist gut verheilt. Xachdem K. ein halbes Jahr Garnisondienst getan,
kam er wieder ins Feld.
Seit dieser Zeit litt der Patient an Kopfschmerzen, die bei bestimmten Kopf-
bewegungen, auch bei Erkaltungen an Heftigkeit zunahmen und besonders in
der rechten Schlafengegend auftraten. Zeitweise stellten sich auraahnliche Zu-
stande von BewuBtseinstriibung ein. Bemerkenswert war femer eine hochgradige
Gedachtnisschwache. Xach den Angaben der Ehefrau war K. seit dem Unfall
reizbar geworden, geistige Arbeit fiel ihm schwer, ab und an litt er an Depressio-
nen. Im Friihjahr 1919 erkrankte K. an einer schweren eitrigen Pansinuositis
rechts, die im Januar 1920 anlaBlich einer Grippe rezidivierte. Es bestand da-
inals hohes Fieber, die Kopfschmerzen waren betraehtlich, der eitrige Nasen-
ausfluB dauerte 2 Monate lang. Seit dieser letzten Erkrankung hatte sich der
Zustand des Patienten erheblich verschlechtert, so daB er auf den Rat seines
Arztes am 20. September 1920 die Xervenklinik zu Gottingen aufsuchte. K.
klagte iiber Schmerzen in der rechten Kopfhiilfte. die anfallsweise und z. T.
iiberaus heftig auftraten. Mitunter empfand der Patient Ubelkeit. einmal hat
er wahrend eines solchen Anfalls erbrochen. K. klagte auBerdem iiber die Ge¬
dachtnisschwache. Sehlaf und Apj>etit waren gut.
Status praesens: Gut gcnahrter Mann; Lungen und Herz o. B. An der rechten
Stirnseite im Kopfhaar verborgen findet sich eine alte reaktionslose Xarbe, unter
der der Knochen imprimiert ist. Die rechte Schadelhalfte ist an einigen Punkten
klopfempfindlich; die Wirbelsaule ist auf Druck nieht schmerzhaft. Die Pu-
pillen reagieren prompt auf Licht und Konvergenz, die Augenbewegungen sind
frei. Fundus o. B. Beim Rombergschen Versuch fiillt der Patient konstant nach
rechts vorn, das Stehen auf dem linken Bern ist etwas unsicher. Beim B&r&ny-
schen Zeigeversuch ergibt sich, daB Patient rechts beim Zeigeversuch in senk-
rechter Richtung nach auBen vorbeizeigt, in horizontaler Richtung ist keine
Abweichung festzustellen; BArAnv links o. B. AuBer etwas lebhaften Bauch-
deckenreflexen und beiderseits reduzierter Geschmacksempfindung konnte sonst
kein weiterer Befund erhoben werden.
Wa. im Blut und Liquor negativ.
Bei einer Luinbalpunktion (am 27. IX.) ergab sich ein Druck von 270 mm
Wasser, der Liquor war klar, 9 / s Zellen im cmm. Xonne —. Wahrend des klini-
schen Aufenthaltes (bis zum 13. X.) wechselte das Befinden des Patienten von
Zeit zu Zeit; es bestanden andauemd leichte Kopfschmerzen, ab und zu Ubelkeit.
Einmal klagte der Patient auch iiber Xackensteifigkeit; der Schadel blieb iiber
dem rechten Stirnbein klopfempfindlich. Der Bar&nysche Versuch hatte bei
wiederholten Priifungen stets das gleiche, oben enviihnte Ergebnis. Es fiel auch
eine leichte Sprachstorung (Stocken und geringes VerschleiBen) auf. Die Stim-
mung des Patienten war andauernd gchoben. Die Temperatur hielt sich wahrend
der ganzen Zeit des Aufenthaltes in normalen Grenzen.
Nach der Entlassung ging es dem Patienten zunachst gut; dann verschlim-
merte sich aber der Zustand wieder. Die Kopfschmerzen nahmen an Starke und
Haufigkeit zu, gelegentlich trat Ubelkeit und Schwindelgefiihl hinzu. K. hatte
unter Appetitlosigkcit und haufigen Durchfallen zu leiden. Das Gedachtnis
hatte sich etwas gebessert, war aber im Vergleich zu friiheren Zeiten noch immer
bedeutend herabgcsetzt. Auch zu Hause war die Stimmung des Patienten gleich-
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Digitized by
522 H. Ruhe: Uber die nosologische Stellung und Differential-
maCig gehoben. Auf arzt lichen Rat begab sich K. ain 15. I. 1921 abcrmals in
die Nervenklinik.
Status praesens: Die Gesichtsfarbe des Patienten ist frisch, das BewuBtsein
klar. Eine Verlangsamung iin Gedankenablauf ist nicht zu bemerken. Die rechte
vordere Schadelpartie ist klopfeinpfindlich, die Austrittsstellen dcs 1. und 2. rechten
Trigeminusastes sind etwas druckschmerzhaft. Beim B&r&nyschen Zeigeversuch
ist keine sichere Abweichung (vielleicht eine Spur) nach rechts nachzuweisen.
Beim Rombergschen Versuch findet ein geringes, aber deutliches Schwanken nach
rechts statt; cbcnso weicht der Patient beim Gehcn mit geschlossenen Lidern nocli
deutlich, wenn auch wonig, nach rechts ab. Die grobe Kraft in den Beinen bei
Widerstandsbewegungen ist auffallcnd gering. Sonst ist kein krankhafter Be¬
hind festzustellen.
Wahrend dcs klinischen Aufenthaltcs (vom 15. I.—25. II.) fiel wieder die
andauernd vergniigte. fast als hvpomanisch zu bezeichnende Stinimung des Pa¬
tienten auf. Das Taumeln beim Gehen besserte sich rasch. Der Augenhinter-
grund ivies normale Verhaltnisse auf; die mediale Seite der Papille war vielleicht
etwas prominent, jedoch war diese Prominenz nach Ansicht der Univ.-Augen-
klinik nicht als pathologisch zu bezeichnen. Der Babinskische Zehenreflex war
gelegentlich positiv, und zwar bald rechts, bald links, stets nach einigen Tagen
wieder verschwindend. Nach Feststellung der mediz. Klinik litt der Patient an
einer Garungsdyspepsie, die durch eine entsprechende EiweiBfettdiat gebessert
wurde. Eine Lumbalpunktion am 4. II. ergab einen Druck von 220 mm, Nonne
war negativ. Blutbild: 9000 Leukocyten pro cmm. Die Temperatur war an¬
dauernd normal, der Puls etwas beschleunigt, zeitweise bis zu 126 Sehlagen pro
Min. Die Klagcn des Patienten waren stets sehr allgemeiner Natur; besonders
haufig wurde liber Kopfschmerzen geklagt, die meist in der Stirn, aber auch im
Hinterhaupt auftraten. Das Befinden wechselte sehr; bisweilen fiihlte sich der
Patient vollig wohl. Hcrvorzuheben ware noch das MiBtrauen, das der Patient
gegen jede Medikation (Jodtherapie) zeigte. Im ganzen war der Zustand des
Patienten im Vergleich zu dem Befinden wahrend des ersten klinischen Aufent-
haltes erheblich besser. Herr K. erfreut sich nach einer Mitteilung, die er uns
kiirzlich zukommen lieB, jetzt wieder eines volligen Wohlbefindens.
Zusammenfassung: K. erkrankte im AnschluB an ein Kopftrauma
(Herbst 1915) mit Erscheinungen (Kopfschmerz, Schwindel, Reizbarkeit,
Gedachtnisschwache), die auf die Commotio cerebri, die anscheinend
damals bestanden bat, zuruckzufiihren sind. Dieser Zustand verschlim-
merte sich im AnschluB an eine eitrige Entziindung der Nasenneben-
hohlen; es gesellten sich Symptome hinzu, die unzweifelhaft auf eine
organischc Erkrankung des Zentralnervensystems hindeuteten. Eine
Rontgendurchleuchtung, die vielleicht eine Splitterung der Schadel-
kapsel (mit konsekutiver Verletzung der Hirnhaute oder des Hirns)
hatte aufdecken konnen, war ergebnislos. Auch die Konfiguration der
Nebenhohlen erwies sich auf dem Rontgenbild als normal. An einen
Tumor oder AbszeB (posttraumatisch oder von der Sinuitis frontalis
fortgeleitet) muBte naturlich ebenfalls gedacht werden. Gegen die An-
nahme eines Abszesses konntc der normale Leukocytengehalt im Blut,
das Fehlen jeglicher Temperatursteigerung und der Ausfall der Lumbal¬
punktion verwertet werden. Auch fiir die Diagnose eines Hirntumors
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
diagnose der sogenannten Meningitis serosa.
523
waren nicht hinreichend genug Anhaltspunkte v r orhanden; es fehlten —
abgesehen von dem erhohten Lumbaldruck — eigentliche konstante
Hirndrucksymptome, der Augenhintergrund war normal, Storungen
von seiten der Hirnnerven, ausgesprochene Motilit&ts- oder Sensibili-
tatsstorungen fehlten; vor allem war kein progressiver, sondern eher
ein regressiver Verlauf der Krankheit — mit Ausgang in Heilung —
festzustellen. Somit konnten AbszeB oder Tumor mit ziemlich iiber-
wiegender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden.
Die auffallende Euphorie konnte dazu verleiten, eine circu mscripte
Lokalisation des Prozesses in der Gegend des Stirnhirns anzunehmen.
Doch wird man mit dieser Annahme sehr vorsichtig sein mtissen, da
der Patient nach den Angaben der Angehorigen auch schon friiher zu
Scherz und Witz aufgelegt sein sollte, und die lokalisatorische Bedeu-
tung der ,,Witzelsucht“ iiberdies sehr problematisch ist. Fur die An¬
nahme einer in der Gegend des Kleinhirns lokalisierten Meningitis
serosa circumscripta besteht auf Grund der wenigen Symptome, die
darauf hindeuten konnten (Barany, Romberg), keine geniigende
Sicherheit. Dagegen sprechen Anamnese, Lumbalpunktionsbefund (er-
hohter Druck ohne EiweiB- und Zellvermehrung), der schwankende,
im allgemeinen aber doch als remittierend zu bezeichnende Verlauf und
<lie Veranderung der Psyche (leichte geistige Ermudbarkeit, Gedachtnis-
schwache, Reizbarkeit, Stimmungsanomalien) durchaus fur eine Me-
ningopathie, die sich ira AnschluB an das Schadeltrauma entwickelt
hat und dann spater durch die Erkrankung der Stirnhohle vielleicht
von neuem angeregt worden ist. Erscheinungen, die auf eine lokale
Schadigung der Hirnsubsta.nz hinweisen (Babinskischer Reflex,
Barany, Romberg!), sind ja auch bei der Meningopathie beschrieben
worden (Bittorf, Bossert), so daB man deshalb nicht eine strenge
Lokalisation des Krankheitsprozesses anzunehmen braucht. Ein Teil
der Symptome, wie Kopfschmerz und Ubelkeit, mag vielleicht auch —
wenigstens zum Teil — mit den gastrointestinalen Erscheinungen im
Zusammenhang gestanden haben, da sich wiederholt die allgemeinen
Beschwerden wie die letztgenannten Erscheinungen zu gleicher Zeit ver-
schlimmerten und durch eine entsprechende Diat wieder gebessert
wurden. Wir halten uns also zu der Diagnose einer traumatischen
Meningopathie berechtigt, die nach jahrelangem Bestehen und zeit-
weiligen Exacerbationen nunmehr endgiiltig abgeklungen zu sein scheint.
Ahnliche diagnostische Erwagungen, die im einzelnen wohl nicht
wiederholt zu werden brauchen, kommen den beiden folgenden Fallen zu.
Fall XI: Ein 47jahrig<*r I^andwirt (Chr. H. aus D.) erlitt im Marz 1921 einen
Radunfall. Der Patient gab an. daB ihm die Einzelheiten des Unfalls hinterher
nicht mehr bewuBt waren. Er wurde vom Wegewiirter aufgefnnden und kam
erst wieder zu sich, als er nach Hause geschafft war; dort hat er erbrochen. Im
Archlv fiir Pgychiatrle. Bd. 67. 35
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
524
H. Ruhe: tlber die nosologische Stellung und Differential-
Digitized by
AnschluB an das Trauma stellten sich starke Kopfschmerzen ein, die ihn fur
8 Tage arbcitsunfahig machten. AuBerdem hatte er in der rechten Schulter
starke Schrnerzen und klagte iiber Xachziehen und Mattigkeit des rechten Bei-
nes. Eine auBere Verletzung war nicht festzustellen, auch der rechte Arm hatte
keinen Schaden erlitten. Der Patient kam am 16. VII. in die Xervenklinik zu
Gottingen. Er klagte iiber dumpfe, ineist gleichmaBige Kopfschmerzen in der
rechten Kopfseite; das Gedachtnis habe seit dem Unfall nachgelassen. auch
kbnne er nicht mehr so gut denken wie friiher. Der Patient befand sich in einem
guten Ernahrungszustand. Kopf und Wirbelsaule waren nirgends klopfempfind-
lich, Pupillen und Hirnnerven o. B. An den oberen Extremitaten waren die
Reflexe links lebhafter als rechts; objektiv nachweisbare Sensibilitatsstorungen
waren jedoch nicht vorhanden. Auch die grobe Kraft und die Entwieklung der
Muskulatur waren links und rechts gleich gut. Motilitat und Sensibilitat der
unteren Extremitaten waren vollig normal; nur wurden die Bewegungen der
GroBzehe bei feinen Anschlagen nicht ganz sicher angegeben. Die gespreizten
Finger zeigten einen geringfiigigen Tremor. Die Temperatur war normal (unter
37°). Die Lumbalpunktion ergab einen Druek von 250 mm Wasser, Xonne —,
' i j 3 Zcllen im cmm. In den nachsten Tagen trat eine auffallende Besserung der
Kopfschmerzen ein. Da sich der Patient wieder vollig wohl fiihlte, wurdc er
am 22. VII. mit I K nach Hause entlassen. Auf eine Anfrage teilte mir der Pa¬
tient am 4. III. 1922 mit, daB er seit seinem klinischen Aufenthalt von seinen
friiheren Beschwerden nichts mehr verspiire und sich wieder vollig gesund und
leistungsfahig fiihle. Der Patient hat, wie er mitteilte. damals unter seinem Zu-
stand sehr gelitten; alle Versuche, sich „gesund zu stellen“, sich mit Gewalt auf-
zuraffen und in seinem Betrieb mit Hand anzulegen, sind damals gescheitert;
und er fiihlt sich gliicklich, wieder im vollen Besitz seiner Gesundheit zu sein.
Von einem funktionellen Einschlag kann also bei diesem Fall keine Rede sein.
Fall XII: R. Sehr. aus G. — 31jahriger Kaufmann — diente wahrend des
Krieges auf einem Torpedoboot, wo er 1918 ,,nervose Erscheinungen“ bekam;
er wurde unruhig und leicht aufgeregt. Am 6. III. 1919 wurde er im Kampf
gegen die Bolschewisten am Kopf verwundet. Der Patient wuBte von den Vor-
gangen damals nichts, er ist sofort umgefallen und war, als er wieder zu sich
kam, auf dem rechten Auge blind. Erbrcchen und Schwindelanfalle sind damals
nicht aufgetreten, nur hatte er iiber starke Kopfschmerzen zu klagen. tlber
Libau und Konigsberg, wo er jedesmal kurze Zeit im Lazarett zubrachte, wurde
der Patient nach Hamburg transportiert. Dort wurde im August das rechte
Auge enukleiert; Oktober 1919 wurde er nach Hause entlassen. Dort ging es
ihm meist gut; er hatte nur zeitweise bohrende Kopfschmerzen in den Schlafen,
wahrenddessen auch haufig Drehschwindel. Krampfe oder Schwachegefiihl traten
wahrend der Dauer der Koj)fschrnerzen nie ein, nur w r ar die Schrift beim Lesen
manchmal v r ollig verschwommen. Xach den Angaben der Ehefrau w r ar der Pa¬
tient seit seiner Verwundung sehr gereizt, traumte nachts sehr lebhaft, auBerte
wohl auch lebensiiberdriissige Ansichten. Mitte August 1921 erkrankte der Pa¬
tient plotzlich mit Appetitlosigkeit, tlbelkeit, bitterem Geschmack im Munde,
Kopfschmerzen und einem Gefiihl, „als ob er Schiittelfrost hatte“, so daB er
sich am 15. zu Bett legen muBte. Er war damn 28 Stunden tief benommen, er-
brach mehrfach, die Atmung wechselte stark, war bald schnell, bald langsam.
Er murmelte leise vor sich hin und erkannte die Umgebung nicht. Dann wurde
er allmahlich klar, klagte iiber Kopf- und Riickcnschmerzen und Schwindelgefuhl.
Wahrend der arztlichen Untersuchung war er noch so schlafrig. daB er die Vor-
giinge um sich herum kaum bemerkte. Die Temperatur wechselte damals stark,
war aber meist sehr niedrig (bis zu 34,5°); die Pulsfrequenz schwankte zwischen
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
diagnose der sogenannten Meningitis serosa.
525
48 und 60 Sohl&gen pro Min. Es schloB sich nun ein Erregungsstadium an,
wahrend dessen er sehr unruhig war, aus dem Bett ging, phantasierte und seine
Frau schlug, die er fur einen Hund hielt, den er verpriigeln wollte. Dann wurde
er allmahlich ruhiger. klagte aber liber dauernde Kopfschinerzen, (jbelkeit und
SchwindelgefiihJ. Auf arztlichen Rat begab sich der Patient am 24. VIII. in ein
Krankenhaus X. Aus dem Status, der damals aufgenommen wurde, ist folgendes
hervorzuheben:
Sehr guter Allgemeinzustand. Linke Hinterhauptsgegcnd klopfempfindlich,
zweiter Trigeminusast beiderseits etwas druckschmerzhaft. Pupille reagiert
prompt auf Lieht und Konvergenz. Leichter Nystagmus. Nach langem Stehen
mit geschlossenen Lidern tritt Schwanken ein (ohne Ataxie), Babinski schwach
positiv. Reflexe sonst o. B. In der ersten Naeht war Patient sehr unruhig, redete
wirr, war benommen; gegen Morgen trat Besserung ein. Temperatur normal.
60 Pulssehlage pro Min. Eine Lumbalpunktion am 26. ergab einen Druck von
180 mm, Nonne —, keine sichere Zellvermehrung. Der anfangs ausgesprochene
Verdacht auf SpatabszeB wurde auf Grund des Blutbildes — 7100 Leukocyten
mit nur 49°/ 0 Neutrophilen —, des Fehlens einer Temperaturerhohung (die aber
durehaus nicht immer vorhanden zu sein braucht!). des Lumbalpunktats und
der auffallend raschen Besserung fallen gelassen. Der Patient wurde, da er sich
wieder vollig wohl fiihlte, am 27. VIII. entlassen.
Am 29. VIII. iiberkam ihn jedoch plotzlich ein Gefiihl von Hammern im
Kopf, das mehrere Stundcn andauerte; ihm war gleichzeitig, als ob die FiiBe
angeschwollen waren, und er empfand ein Gefiihl von Ameisenlaufen an alien
Gliedern. auBerdem hatte er starkes Schwindelgefiihl. Er begab sich in die chirur-
gische Klinik in Gottingen, die ihn der Nervenklinik iiberwies.
Status vom 1. IX.: Patient macht einen schwer kranken Eindruck. Er ist
leicht benommen, stohnt vor Kopfschinerzen. Ins Bett gebracht, erholt er sich
bald. Kraftiger Mann mit fahler Gesichtsfarbe. Der Schiidel ist diffus klopf¬
empfindlich, besondcrs auf der linken Stimseite. Erster Trigeminusast druck-
empfindlich, 1. 3> r. Pupille o. B. Kein Nystagmus! Hirnnerven frei. Nach
dem Aufrichten nehmen die Kopfschinerzen schnell an Intensitiit zu, so daB
sich der Patient wieder liinlegen muB. Beim Rombergschen Versuch steht Pa¬
tient nach LidschluB zunachst ruhig, taumelt dann plotzlich nach hinten. Keine
Ataxie. Motilitat und Sensibilitat intakt. Reflexe o. B.. nur der Babinskische
Zehenreflex rechts ist (nicht sicher) positiv. Puls regolmiiBig; Temperatur nicht
erhoht, mcist um 36°, bisweilen unter 35°.
Unter Jodtherapie besserte sich das Befinden des Patienten erheblich, es
traten nur noch hin und wieder Kopfschinerzen verbunden mit Schwindelgefiihl
auf. Am If. war das Babinskische Phanomen rechts deutlich positiv; man hatte
den Eindruck, als ob der Reflex erst in letzter Zeit so deutlich geworden ist. Bei
einer in der chirurgischen Klinik vorgenommenen stereoskopischen Rontgen-
durchleuehtung konnten nirgends intrakraniale Splitter festgestellt werden. Am
24. IX. wurde der Patient in erheblich gebessertem Zustand entlassen.
Die Beschwerden des Patienten scheinen aber seitdem nicht ganzlich ge-
chwuntlen zu sein; denn im Februar wurde auf Veranlassung des Versorgungs-
lazarettes M. ein Gutachten eingefordert. In der Zuschrift wurde vom behan-
delnden Arzt — sicher vollig zu Unrecht — der Verdacht auf Simulation aus-
gesprochen.
Der vorliegende Fall ist ein typisches Beispiel fiir die nach Kopf-
trauma so hiiufig auftretende Mcningopathie, deren Symptome oft von
funktionellen Erscheinungen durchsetzt oder gar iiberlagert werden.
35*
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
526
H. Ruhe: t)ber die nosologische Stellung und Differential-
Digitized by
Schon Weitz 140 ) hat betont, dab man die Bezeichnung ,,Meningitis
serosa“ bei diesen Fallen vermeiden soil, da es sich nicht urn eine Exsu-
dation, sondern nur um eine Hypersekretion von Liquor handelt. Man
hat angenommen, dab das Trauma nur eine mittelbare Ursache fur die
vermehrte Absonderung des Liquors ist. Es sind von pathologisch-
anatomischer Seite leichte lokale Verdickungen oder kleinste aus Blu-
tungs- und Zertriimmerungsherden hervorgegangene Narben an der
Hirnoberflache nachgewiesen; und diese Veranderungen sollen — etwa
analog der Hypersekretion von Magensaft bei alten Ulcusnarben —
einen Reiz auf den Plexus und die Meningen ausiiben im Sinne einer
gesteigerten Liquorproduktion (Weitz, Bittorf 11 ). Andere nehmen
vasomotorische Storungen der Chorioidealgefabe an (Schlecht 121 ), 122 ).
Jedenfalls spielt aber die von Quincke 108 ) betonte Labilitat der Ge-
fabin nervation und Reizbarkeit der Hirnhaute eine grobe Rolle, das
beweist schon der durch anfallsweise auftretende Verschlimmerungen
gekennzeichnete Verlauf des Leidens. Eine eigenartige Theorie zur Er-
klarung des erhohten Lumbaldrucks hat Rinderspacher 112 ) auf-
gestellt. Er sieht ihn als einen Heilfaktor an zur Herbeifiihrung eines
Gleichgewichts ziwschen Sekretion und Resorption; wenn eine ver¬
mehrte Liquorabsonderung stattf&nde, wiirde ein Ansteigen des Drucks
so lange erfolgen, bis bei einer gewissen Hohe des Druckes eine ent-
sprechend hohere Resorption gewahrleistet und die vermehrte Sekre¬
tion entsprechend eingeschrankt wiirde. Und umgekehrt ware bei
einer Einschrankung der Resorption — durch Narbenbildung oder
Verkleinerung der resorbierenden Flachen — ein erhohter Druck notig,
um einerseits das iibrig bleibende resorbierende Gewebe in hoherem
Mafie als bisher zur Resorption anzuregen oder andererseits die Sekre¬
tion entsprechend einzuschranken. Diese Theorie klingt fast zu teleolo-
gisch; ob sich Liquorsekretion und -resorption von derartigen rein
mechanischen Momenten allein bestimmen und regeln lassen, erscheint
nach dem, was im Anfang iiber die Liquorresorption und -sekretion
gesagt wurde, mehr als fraglich. Die Anfalle von voriibergehend ge-
steigertem Hirndruck, die dem Krankheitsbild der traumatischen
Meningopathie so oft einen charakteristischen Stempel aufpragen,
deuten darauf hin, dab Sekretion und Resorption durchaus nicht immer
in so harmonischer Weise miteinander verkniipft sind*). Jedenfalls
ware es aber erstaunlich, wenn, wie berichtet wird, selbst jahrelang
*) Der Ausdruck ,,serose Hypertonie‘\ den R. fiir das Krankheitsbild der
traumatischen Meningopathie vorschlagt, diirfte abzulehnen sein, da — abge-
sehen von der nicht ganz verstandlichen Bezeichnung ..serose Drucksteigerung"
(im Gegensatz zu einein „ser6sen Xormaldruck“ oder im Gegensatz zu welcher
anderen (eitrigen usw.) Drucksteigerung?) — das Wort ,,Hypertonie“ von der
GefaB- und Kreislaufspathologie bereits vollig mit Beschlag belegt ist.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
diagnose der sogenannten Meningitis serosa.
527
anhaltende Steigerung des Druckes ohne irgendwelche Folgen fiir den
psychischen und physischen Zustand des betreffenden Organismus blei-
ben sollte.
In praxi kann die Beurteilung eines solchen Krankheitsbildes auf er-
hebliche Schwierigkeiten stoBen, da — wie nochmals hervorgehoben
werden mag — funktioneUe Symptome das reine Bild der trau matischen
Meningopathie verwischen konnen (Schlecht, Rinderspacher).
Schlecht und Weitz, auch Quincke 108 ) haben zunachst behauptet,
daB auch bei vollig normalem Liquorbefund die Beschwerden eines
Unfallpatienten nicht rein funktioneller Natur sein, sondern auf einer
organischen Hirnveranderung beruben konnen. Ohne die Feststellung
einer sicheren Liquordruckerhohung (und natiirlich sonstiger Verande-
rungen des Liquors) miissen wir aber eine Meningopathie irgendwel-
chen Charakters entschieden ablehnen. Es bleibt dann gewiB noch die
Moglichkeit, daB die Beschwerden des Kopfverletzten durch eine grobere
oder feinere Lasion des Gehirns selbst mitverursacht und nicht rein
psychogen sind. Doch steht diese Differentialdiagnose zvvischen der
psychogenen und der sogenannten Kommotionsneurose hier nicht zur
Diskussion. Ferner kommen nach Weitz 140 ), 141 ) auch bei Neurastheni-
kern und Hysterikern mit leicht erregbarem GefaBsystem infolge
Hyperamie des Hirns geringe Druckerhohungen vor (bis zu 220 mm
Wasser), eine Behauptung, die weit. eher auf ungeniigende Druck-
messung als auf tatsachlichen Befund zuriickzufiihren sein diirfte;
insbesondere wird man bei psychogenen Personen keine echte Druck-
erhohung erwarten konnen. Nephritis, chronischer Alkoholismus und
Arteriosklerose, die mit erhohtem Lumbaldruck einhergehen konnen,
miissen gleichfalls in Betracht gezogen werden. Und endlich ist die
Lumbalpunktion selbst mit aller Sorgfalt vorzunehmen. Vor allem
diirfen Druckschwankungen oder Drucksteigerungen, hervorgemfcn
durch forcierte Atmung und Pressen, beim Ablesen des Druckes nicht
vorhanden sein, der Patient muB absolut ruhig und gleichmaBig atmen
(Bo ssert 20 ), Rinderspacher 112 ). Schlecht 122 ) hat demgemaB mit
Recht empfohlen, man solle in jedem Falle 3—5 Minuten warten, ehe
man abliest, da sich der Flussigkeitsspiegel im Manometer erst nach
dieser Zeit auf eine konstante Hohe einstellt. Diese Kautelen, die im
iibrigen in der hiesigen Klinik stets poinlich beobachtet werden, sind
vielleicht nicht iramer geniigend beriicksichtigt worden. Die Punktion
hat selbstverstandlich in Seitenlage zu erfolgen. Die Angaben iiber die
normale Hohe des Liquordruckes schwanken bei den einzelnen Autoren
in weiten Grenzen. Wahrend bei Kindern ein Druck von 120 mm
Wasser schon als pathologisch gilt, bewegen sich die Angaben fiir den
Lumbaldruck bei Erwachsenen bis zu 200 mm Wasser auf warts (Le-
wandowsky 76 ). Werte von 250—300 mm — ja sogar bis 800 mm
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Digitized by
528 H. Ruhe: t)bcr die nosologische Stellung und Differential-
Bossert 20 ) — bei absolut mhiger Atmung!) — sind bei der trauma-
tischcn Meningopathie nicht selten. In sehr vielen Fallen ist der Nach-
weis nines erhohten Lumbaldrucks das einzige objektive Symptom,
das sich am Patienten nachweisen laBt. Angaben iiber Stauungspapille
oder andere Fundus veranderungen (retinale Hamorrhagien, Gefa ti¬
er weiteru ngen) sind sehr selten (Bossert, Weitz).
Auch die Mitteilungen, die auf ganz lokale Schadigungen der Hirn-
substanz (lurch den erhohten Druck hinweisen — also motorische,
sensible oder sensorisehe Reiz- oder Lahmungserscheinungen (in un-
seren Fallen X und XII war zeitweise Babinskischer Reflex vorhan-
den) — sind selten (Bittorf 11 ), Bossert 20 ). In den meisten Fallen
handelt es sich um Erscheinungen, die wohl auf den allgemein erhohten
Hirndruck zuriickzufuhren sind; von seiten der Psyche leichte geistige
Ermiidbarkeit, Gedankenschwache, Stumpfheit, aber auch Reizbar-
keit, Unlust zur Arbeit, Depressionszustande (Fall XII!); korperlich
vor allem Klopfempfindlichkeit des Schiidels, Kopfschmerzen und
Schwindelgefiihl, aulJerdem ist bisweilen eine auffallige Variabilitat der
Atemfrequenz, der Pulsfrequenz und des Blutdrucks, seltener der
Temperatur (Quincke 108 ), Schlecht) vorhanden. In unserem Fall XII
war die Neigung zu Untertemperaturen bemerkenswert. Die Intensitat
der Beschwerden steht in keinem Verhaltnis zur Schwere des Traumas,
das oft ganz geringfiigig zu sein schien. Hervorzuheben sind noch die
haufigen Exacerbationen, die entweder abhangig sind von auBeren
Einfliissen — korperlichen und geistigen Uberanstrengungen, Alkohol-
genuB, Wiirme, Wech-el der Korperlage, besonders Biicken — oder
ohne jede erkennbare Ursache auftreten. Es konnen sich dann plotz-
lich bedrohliche Erscheinungen einstellen, wie sie auch bei unserem
Patienten (XII) zu beobachten waren, schwerer Allgemeinzustand,
rasende Kopfschmerzen, hochgradiger Schwindel mit haufigem Er-
brechen, Triibung des Sensoriums bis zu vdlligem BewuBtseinsverlust.
All diese Symptome diirften wohl in einer akuten Steigerung des Hirn-
drucks ihre Erklaning finden.
Auffallig ist ferner, daB die traumatische Meningopathie jahrelang
— in einem Fall von Rinderspacher 11 Jahre, nach Quincke 108 )
sogar 18 Jahre — bestehen kann ohne weitere Folgen fiir den Pa¬
tienten; psychische Schadigungen im Sinne dauernder Intelligenzdefekte
sind angeblich noch nie beobachtet worden. Bei der Differential-
diagnose ttird auBer der entzundlichen serosen Meningitis, zu der Uber-
gange bestehen, ein in der Entwicklung begriffener traumatischer
HirnabszeB, ein langsam wachsender Tumor oder eine beginnende
Meningitis in Erwagung zu ziehen sein (Bossert, Schlecht); auf die
weiteren Einzelheiten der fiir die Abgrenzung dieser Kranklieiten in
Frage kommenden Momente brauchen Atir wohl hier nicht noch einmal
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
diagnose der sogenannten Meningitis serosa.
529
einzugehen. Die Lumbalpunktion wird ja in den meisten Fallen schon
einen Hinweis auf die Art des vorliegenden Krankheitsbildes geben,
besonders wenn der Eingriff eine inomentane subjektive Erleiehterung
verschaffte, manchmal schlieBt sich an eine einmalige Lumbalpunktion
die definitive Heilung an. Andererseits werden aber auch Nachwehen
in Gestalt von Kopfschmerz, Schwindel und Erbrechen gerade bei der
Meningopathie nicht selten beobachtet (Quincke 108 ), und wiihrend
der Punktion sollen die Druckschwankungen ausgiebiger sein als sonst.
Ein wichtiges Hilfsmittel kann die Lumbalpunktion ferner dann sein -—
mit den erwahnten Einschrankungen —, wenn es sich um die Frage
handelt, ob die Beschwcrden des Patienten tatsachlich Teilerscheinung
einer Meningopathie sind, oder ob sie nur psychisch bedingt sind. Die
psychogenen Unfallneurosen, die seit Einfiihrung der Unfallgesetz-
gesetzgebung in der Medizin eine so wichtige Rolle spielen, treten
gerade nach Kopftraumen so haufig auf, dafi man sich in jedem Fall
die Frage vorlegen muB, ob nicht ein Teil oder samtliche Klagen des
Patienten auf funktioncller Basis beruhen. Die Lumbalpunktion kann
in einer Reihe von Fallen sicherlich entscheidend sein, doch soli man
sich davor hiiten, nun jeden Patienten, der mit derartigen im An-
schluBan ein Kopftrauma zur Entwicklung gekommenen Beschwerden
in die Sprechstunde kommt, zu punktieren. Lewandowsky 78 ) hat
von Fallen berichtet, wo Patienten, die an einer psychogenen Unfall-
neurose litten, dann hinterher nicht mehr das Trauma, sondern die
Lumbalpunktion als Ausgangspunkt fiir die ihnen selbst oft unhe¬
wn Bten Rentenwiinsche nahmen. Man soil sich also bei der Begut-
achtung einerseits davor hiiten, wohlbegriindete und glaubhafte Be-
schwerden als funktionell oder gar simuliert zu betrachten, andrerseits
aber die psychisch bedingten Symptome bei der Einschrankung der
Erwerbsunfahigkeit nicht zu hoch zu bewerten — zum eigenen Vorteil
des Patienten, dem durch eine zu hoch bemessene Rente das BewuBt-
sein eines organischen Leidens (,,krank zu sein") nur um so langer
unterhalten wird. GewiB wird man in den Fallen, in denen aus auBeren
Griinden nicht punktiert werden darf, Anhaltspunkte fiir die meningo-
pathische Gnindlage aus der Feststcllung zeitweiliger fliichtiger an-
derer Hirndrucksymptome, aus der monotonen, unaffektierten Beto-
nung der subjektiven Beschwerden, aus dem Fehlen hysterischer Cha-
rakteranomalien gewinnen konnen. Aber die Entscheidung, ob es sich
nun im Einzelfall um eine traumatische Meningopathie, um eine ,,Kom-
motionsneuro.se" oder psychogene Unfallneurose handelt, oder um eine
Vermischung dieser Zustande, diirfte dem Ungeiibten oft schwer fallen.
Da bei der hohen sozialen Bedeutung der Unfallversicherung und
auch im eigenen Interesse des Patienten Irrtiimer bei der Begutachtung
nach Mdglichkeit zu vermeiden sind, sollten derartige Falle in Zu-
Digitized by Govigle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
530
H. Ruhe: t)ber die nosologische Stellung und Differential-
Digitized by
kunft von vornherein und nicht erst nach vielleicht jahrelangen Ren-
tenkampfen vor das Forum des fachmannisch ausgebildeten Neuro-
logen gebracht werden.
Z u samm en fassung.
1. Der Begriff der „Meningitis serosa“ ist ein rein pathologisch-
anatomischer Begriff und als soldier in Gegensatz zu stellen zu den ubrigen
Formen der Meningitis (purulenta, tuberculosa, syphilitica usw.).
2. Die Meningitis serosa kann diffus verbreitet sein oder sich an be-
stimmter Stelle — besonders in den Zisternen der Araclinoidea basalis —
lokalisieren. ,
3. Die Atiologie der serosen Meningitis ist nicht einheitlich. Am
hdufigsten tritt sie als Begleiterscheinung von Infektionskrankheiten auf;
daneben spielt das Trauma eine wichlige Rolle. Bei einer Reihe von
Fallen — besonders bei den im Kindesalter auftretenden — scheint erne
besondere Pradisposition den Ausbruch der Krankheit zu begiinstigen.
4. Der klinische Verlauf ist ungemein mannigfaltig und bietet im
allgemeinen wenig charakleristische Eigentumlichkeiten; er kann dem
Krankheitsbild einer Meningitis purulenta oder tuberculosa, dem Verlauf
eines Hirntumors oder sonst eines raumbeschrdnkenden intrakraniellen
Prozesses, eventuell auch einer multiplen Sklerose, vollkommen gleichen.
5. Besonders wichtig ist die Feststellung eines entzundlichen Liquor
cerebrospinalis, d. h. eines Liquors mil Zell- und Eiweiflvermehrung:
nur bei Feststellung einer solchen pathologischen Liquorveranderung soli
eine serose Meningitis klinisch anerkannt werden, wenigst-ens wenn ein
diffuser Krankheitsproze/3 anzunehmen ist. Bei umschriebenen meningi-
tischen Cystenbildungen kann der Liquor normal sein, auch wenn der
lokale cystische. Prozefl auf einer echten Entziindung der Meningen beruht.
6. Die Diagnose einer Meningitis serosa diffusa ist auf Grund einer
einmaligen Untersuchung bzw. einer kurzdauemden klinischen Beobach-
tung meist nicht mil Sicherheit zu stellen. Doch kann zuweilen die Ana-
mnese (friihere Anfdlle, infektiose Grundlage), das Ergebnis der Lumbal -
punktion (entzundlicher Liquor ohne spezifischen Befund) und der weiiere
Verlauf (fliichtige Herdsymptome, Remissionen oder lntermissionen) die
Diagnose sehr wahrscheinlich machen. Eine vollig sichere Diagnose lafit
sich aber erst auf Grund der pathologisch-anatomischen Untersuchung ,
d. h. post mortem, stellen. Die circumscripte Form der serosen Meningitis
ist — wenn sie nicht im Anschlu/3 an ein Trauma auf tritt — der Diagnose
noch schwerer zugdnglich, und auch bei der Explorativtrepanation mu/3
der Operateur der Mdglichkeit eines primaren, die Liquoransammlung
hervorrufenden Prozesses (Tumor) Rechnung tragen.
7. Abzutrennen von der serosen Meningitis sind diejenigen Affektionen
der Hirnhdute, die als toxisch oder traumatisch bedingte Reizzustande
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
diagnose der sogenannten Meningitis serosa.
531
zu erklaren sind, aber ohne klinisch feststellbare Entziindungsvorgange
verlaufen. Das Hauptkriterium dieser Affektionen besteht in einer ein-
wandfrei festgestellten Druckerhohung des Liquor cerebrospinalis oder an-
deren Hirndrucksymptomen. Dieser Zustand wurde als Meningopathie
bezeichnet. Er spielt in der Unfallpraxis eine grojie Rolle und darf nicht
mit rein funktionellen Zustanden verwechselt werden, wcnngleich die
psychogene Unfallneurose sich hdufig dem Krankheitsbild der Meningo¬
pathie beimengt.
Literatur.
’) Alexander: ..Hydrocephalus mit Herdsymptomen“. Vortrag ini Verein
fur innere Medizin in Berlin. Dtsch. med. Wochenschr. Jg. 34, S. 2292, 1908. —
2 ) Annuske: Die Neuritis optica bei Tumor cerebri. Arch. f. Ophthalmol. Jg. 19.
3. Abt., S. 260, 1873. — 3 ) Anton: im Handbuch der pathologischen Anatomie
des Nervensystems; herausgegeben von Flatau, Jakobsohn und Minor. Berlin:
Karger 1903, S. 452 (tlber Hydrocephalus). — 4 ) Axhausen: Zur Kenntnis der
Meningitis serosa acuta. Berl. klin. Wochenschr. Nr. 6, 1909. — 5 ) B4r&ny:
Spezielle Pathologic der Erkrankungen des Cochlear- u. Vestibularapparates usw.
Im Handbuch der Neurologie (herausgeg. v. Lewandowsky). Bd. III. Berlin: Julius
Springer 1911. — ®) Barany: Vestibularapparat und Zentralnervensystem. Med.
Klinik. Jg. 7, Nr. 47, 1911. — 7 ) Beck: Ein Beitrag zur Pathologie und patho¬
logischen Anatomie der Meningitis serosa (interna) acuta im Kindesalter. Jahrb.
f. Kinderheilk. 58, 1903. — 8 ) Billroth: tlber akute Meningitis serosa und
akutes Himodem nach chirurgischen Operationen. Wien. med. Wochenschr.
Jg. 19. 1869. — 9 ) Bing: Die Meningitis cystica serosa der hinteren Schadelgrube.
Med. Klinik. Jg. 7, Nr. 6, 1911. — 10 ) Biro: Die Hirntumoren: Herddiagnostik,
Differentialdiagnostik mit besonderer Beriieksichtigung der Meningitis serosa,
Behandlung. Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. 39, 1911. — n ) Bittorf: Zur
Kenntnis der traumatischen Meningitis, besonders der Meningitis serosa traumatica.
Miinch. med. Wochenschr. Jg. 63, Nr. 12, 1916. — I2 ) Bliihdorn: Meningitis
serosa und verwandte Zustande im Kindesalter. Berl. klin. Wochenschr. Jg. 49,
Nr. 38, 1912. — I3 ) Blumenthal: Serose Meningitis und Lumbalpunktion. Arch,
f. Kinderheilk. 88. 1904.— u ) Bonninghaus: Die Meningitis serosa acuta. (Eine
kritische Studie.) Wiesbaden: Bcrgmann 1897. — li ) v. Bokay: tlber die Hei-
lungsmoglichkeit der Meningitis tuberculosa. Jahrb. f. Kinderheilk. 80, 1914. —
1# ) v. Bokay: Gehirnsymptome bei der Pyelo-Cystitis des Sauglingsalters. Jahrb.
f. Kinderheilk. 87, 1918. — 17 ) Bonhoffer: Der erworbene Hydrocephalus. Im
Handbuch d. Neurologie. Bd. Ill, 1911. — ,8 ) Bonhoffer: Zur Diagnose der
Tumoren des IY T . Ventrikels u. des idiopathischen Hydrocephalus nebst einer
Bemerkung zurHirnpunktion. Arch. f. Psychiatr. u. Neurol. 49, 1912. — 10 ) Bor-
chardt: t)ber Ojicrationen in der hinteren Schadelgrube ink], der Operationen
der Tumoren am Kleinhirnbriickenwinkel. Arch. f. klin. Chir. 81, Tl. II, 1906. —
20 ) Bossert: Der traumatische Hydrocephalus. Jahrb. f. Kinderheilk. 88, 1918.
— 21 ) Boucher u. Bouget: Revue de m£decine 1912, Nr. 1. Ref. im Neurol.
Zentralbl. Nr. 8, 1912. — 22 ) Brasch: Erfolge der Lumbalpunktion bei Hydro¬
cephalus chronicus der Erwachsenen und Meningitis serosa. Zeitschr. f. klin.
Med. 36. 1899. — 23 ) Bregman, Krukowski: Beitrage zur Meningitis serosa.
Monatsschr. f. Psychiatr. u. Neurol. 33, 1913. — 2 *) Breslauer: Hirndruck und
Schadeltrauma. Mitt. a. d. Grenzgeb. d. Med. u. Chirurg. 29, 1917. — 2S ) Bres-
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Digitized by
532 H. Ruhe: Uber die nosologische Stellung und Differential-
ler: Ref. im Jahresbericht tiber die Leistungen und Fortschritte auf deni Gebiete
der Neurologic und Psychiatric. S. 557. 1898. (Hydrocephalus nach Trauma). —
2S ) Brockmann: Zwei Fiille von Pseudomeningitis bei tulierkulosen Kindem.
Jahrb. f. Kinderheilk. 81. 1915. — 2 ‘) Dana, Elsberg: Medical Record 1914.
Ref. im Neurol. Zentralbl. Nr. 10. 1915. (Meningitis serosa evstica.) — 28 ) Da-
nielopolu: Diagnostik der Meningitiden mittels der Tauroeholnatriumreaktion.
Wien. klin. Woehenschr. Nr. 40. 19 1 2. — 29 ) Diller: A case of serous (alcoholic)
meningitis simulating brain-tumor. Joum. of nerv. a. ment. dis. 1898. Ref. im
Jahresbericht iiber die Leistungen und Fortschritte auf dem Gebiete der Neuro¬
logic u. Psychiatric. 8. 557. 1898. — 30 ) Eden: Beobachtungen und Erfahrungen
mit dem Suboecipitalstich bei Himtumoren, Hydrocephalus, Meningitis serosa
traumatica und Meningitis purulenta. l)tsch. Zeitschr. f. Chirurg. 147, 1918. —
31 ) Eichelberg: Zur Diagnostik und Therapie der Gehirntumoren. Dtsch.
Zeitschr. f. Nervenheilk. 51. 1914. — 32 ) Eiehhorst: Uber den envorbenen
idiopathischen Hydrocephalus int. der Erwachsenen. Zeitschr. f. klin. Med. 19,
Suppl.-H., 1891. — 33 ) v. Eiselsberg: Bericht iiber operierte Fiille von Hirn-
tumoren in der Sitzung der K. K. Gesellschaft der Wiener Arzte vom 24. V. 1912.
Med. Klinik. Jg. 8, Nr. 35. 1912. — 34 ) Feer: Lehrbueh der Kinderheilkunde.
Jena: Fischer, 6. Aufl. 1920. — 3S ) Feer: Vortrag auf der Jahresversamnilung der
Gesellschaft schweizeriseher Piidiater vom 27. VI. 1920. Schweiz, med. Woehenschr.
Jg. 51. Nr. 1, 1921. (0l)er Meningitis serosa.) — 3a ) Finkelnburg: Zur Dif-
ferentialdiagnose zwischen Kleinhirntuinoren und ehronischem Hydrocephalus.
Dtsch. Zeitschr f. Nervenheilk. 29. 1905. — 3 ‘) Finkelnburg: Beitrag zur thera-
peutischen Anwendung der Hirnpunktion beim chronischen Hydrocephalus.
Miinch. med. Woehenschr. Nr. 36, 1910. — 38 ) Finkelnburg: Die Erkran-
kungen der Meningen. Im Handb. d. Neurol. Bd. II, 1912. — 39 ) Finkelnburg-
Eschbaum: Zur Kenntnis des sogenannten „Pseudotumor cerebri" mit anato-
mischem Befimd. Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. 38, 1910. — 40 ) Finkeln¬
burg: Beitrag zur Symptomatologie und Diagnostik der Gehirntumoren und
des chronischen Hydrocephalus. Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. 21. 1902. —
4l ) Finkelstein: Ref. iiber einen Fall von operativer Hcilung der Arachnitis
adhaesiva cerebralis (in Russki Wratsch 1908, Nr. 37). Zentralbl. f. Chirurg.
Jg. 35, S. 1475, 1908. — 42 ) Fischer: Ref. im Neurologischen Zentralblatt, Nr. 10,
8.359, 1915. (Zysten der weichen Hirnhaute.) — 43 ) Fuchs: Ein Fall von so-
genanntem idiopathischen Hydrocephalus chron. int. (beim Erwachsenen) und
Beitrag zur Lehre von den objektiven Kopfgeiauschen. Arbeiten aus dem neurol.
Inst. d. Wiener Univ. Bd. XI. 1904. — 44 ) Fuchs: Zur Klinik des idiopathischen
Hydrocephalus acquisitus. Wien. klin. Woehenschr. Jg. 30. Nr. 20, 1917. —
45 ) Gehrt: Sitzungsbericht des Vereins fiir innere Medizin u. Kinderheilkunde in
Berlin (vom 13. II. 1922). Miinch. med. Woehenschr. Nr. 8. 1922. (3 Fiille von
Meningitis serosa.) — 48 ) Gerhardt: Vortrag in der Wanderversammlung der
siidwestdeutschen Neurologen und Irrenarzte in Baden-Baden 1908. Berl. klin.
Woehenschr. 8. 1664. 1908. -— lT ) Girard: 4. Versammlung der Schweizerischen
Neurologischen Gesellschaft in Basel 1910. Ref. i. Neurol. Zentralbl. Nr. 4, 1911.
(Fall von Meningitis serosa circumscripta.) — 48 ) Goppert: Beteiligung der
Hirnhaute liei den fieberhaften Infektionen der oberen Luftwege. Klinische
Woehenschr. Jg. 1. Nr. 2, 1922. — 49 ) Goldstein: Vortrag im Verein fiir wissen-
schaftliche Heilkunde in Konigsberg am 17. V. 1909. Dtsch. med. Woehenschr.
Jg. 35, Nr. 44, 1909. (Meningitis serosa circumscripta.) — 50 ) Goldstein: Ein
Fall von Insuffisance pluriglandulaire; zugleich ein Beitrag zur Lehre von der
Meningitis serosa. Dtsch. Arch. f. klin. Med. 98. 1910. — 51 ) Goldstein: Me¬
ningitis serosa unter dem Bilde hypophysarer Erkrankung. Archiv f. Psychiatr.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
diagnose der sogenannten Meningitis serosa.
533
u. Nervenkrankh. 47, 19 10. — 52 ) Goldstein-Reichmann: Beitrage zur Ka-
.suistik und Symptomatologie der Kleinhirnerkrankungen. Arch. f. Psychiatr. u.
Nervenkrankh. 56, 1916. — 53 ) Gowers: Handbuch der Nervenkrankheiten.
Bonn 1892. —- 54 ) Grober: Herdsymptome bei Hydrocephalus acutus int. der
Erwachsenen. Mitt. a. d. Grenzgeb. d. Med. u. Chirurg. 11, 1903. — 55 ) Groer:
Zur Kenntnis des Meningoencephalismus. Zeitschr. f. Kinderheilk. 21, 1919. —
' 8 ) Grob: Kasuistischer Beitrag zur Differentialdiagnose des Tumor cerebri und
des chronischen Hydrocephalus. Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. 29, 1905. —
47 ) Halben: Hydrocephalus int. idiopathicus chron. mit Beteiligung des IV. Ven-
trikels. Dtsch. med. Wochenschr. Jg. 35, Nr. 10, 1909. — 68 ) v. Hansemann:
Uber serose Meningitis. Vortrag bei den Verhandlungen des 15. Kongresses fiir
innere Medizin iin Jahre 1897. — 59 ) Harke: Uber serose Meningitis im Kindes-
alter. Monatsschr. f. Kinderheilk. 15. — 80 ) Hartmann: Meningitis chronica
serosa als Rest- oder Spaterscheinung bei Encephalitis epidemica. Dtsch. Zeitschr.
f. Nervenheilk. 71, 1921. — 6l ) Hcidenhain: Hydrocephalus acutus acquisitus
internus (idiopathicus). Berk klin. Wochenschr. Jg. 36, 1899. — 82 ) Henneberg:
Fehldiagnose in operativ behandelten Fallen von Jacksonscher Epilepsie unbe-
kannten Ursprungs (Pseudotumor der motorischen Region) und Tumor cerebri.
Charite-Annalcn. Jg. 29, 1905. — 83 ) Higier: Rezidivierende Pseudotumoren des
Gehirns. Neurolog. Zentralbl. Nr. 7, 1910. — 84 ) Hildebrand: Beitrag zur
Chirurgie der hinteren Schadelgrube auf Grund von 51 Operationen. Arch. f.
klin. Chirurg. 100, 1913. — 65 ) Hoehhaus: Uber Hirnerkrankungen mit tod-
liohein Ausgang ohne anatomischen Befund. Dtsch. med. Wochenschr. Jg. 34,
Nr. 39, 1908. — 88 ) Huguenin: Allgemeine Pathologie der Krankheiten des
Nervensystems. In Ziemssens Handbuch der speziellen Pathologie u. Therapie
Bd. XI. 1878. (1. Halfte, S. 490.) — 6T ) v. Jacksch: Uber Adipositas cerebralis
und Adipositas cerebrogenitalis. Med. Klinik. Jg. 8, Nr. 48, 1912. — 88 ) Ka-
lischer: Der angeborene Hydrocephalus. Im Handbuch der Neurologie. Bd. Ill
1911. — fi9 ) Kampherstein: Beitrag zur Pathologie und Pathogenese der
Stauungspapillc. Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. 43. — 70 ) Kayser: Meningismus
(Ubersichtsreferat). Berk klin. Wochenschr. Jg. 50. S. 1021, 1913. — 71 ) Knob¬
lauch: Klinik und Atlas der chronischen Krankheiten des Zentralnervensvstems.
Berlin: Julius Springer 1909.— 72 )Krause: Operationen in der hinteren Schadelgrube.
Arch. f. klin. Chirurg. 81. Th 1, 1906. — 73 ) Kronig: Histologische und physi-
kalische Lumbalpunktionsbefunde und ihre Deutung. Vortrag bei den Verhand¬
lungen des 17. Kongresses fiir innere Medizin vom Jahre 1899. — 74 ) Kron:
Meningitis serosa traumatica (circumscripta u. diffusa). Zeitschr. f. d. ges. Neurol,
u. Psychiatr. 69. 1921. — 75 ) Kupfcrberg: Ein unter dem Bilde eines Gehirn-
tumors verlaufender F'all von chronischem idiopathischen Hydrocephalus internus,
kompliziert mit symptomloser Syringomyelie. Dtsch. Ztschr. f. Nervenheilk. 4,
1893. — 76 ) Lewandowsky: Praktische Neurologic fiir Arzte. Herausgeg. von
Hirschfeld. Berlin: Julius Springer 1919. — 77 ) Lind bom: Zur Kasuistik der serosen
Meningitis. Med. Klinik. Jg. 11, Nr. 49. 19 1 5. — 78 ) Makoto Saito: Zur Patho¬
logie des Plexus choriodeus. Arbeiten aus d. neurol. Inst. d. Wiener Univ. 23,
H. 2, 1921. — 79 ) Margulis: Pathologie und Pathogenese des priinaren chroni¬
schen Hydrocephalus. Arch. f. Psychiatr. u. Nervenkrankh. 50, 1913. — 80 ) Mar¬
gulis: Pathologische Anatomie und Pathogenese der Ependymitis granularis
Arch. f. Psychiatr. u Nervenkrankh. 52, 1913. — 81 ) Matthes: Lchrbuch der
Differentialdiagnose, innere Krankheiten. 2. Aufl. Berlin: Julius Springer 1921.—
9 -) Maverhofer-Neubauer: Uber Meningitis tuberculosa und Meningitis serosa.
Zeitschr. f. Kinderheilk. 3, 1912. — 83 ) Meltzer: Zur Pathogenese der Opticus-
atrophic und des sogenannten Turmschadels. Ncurolog. Zentralbl. S. 562ff.,
Digitized by Got >gle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
534
H. Ruhe: Uber die nosologische Stellung und Differential
Digitized by
1908. — 84 ) Mendel: Unfall in der Atiologie der Nervenkrankheiten. Berlin:
Karger 1908. — 8S ) Miinzer: Kasuistische Beitrage zur Lehre von der akuten
und chronischen Hirnhautentziindung. Prager med. Wochenschr. Jg. 24, Nr. 46
bis 48, 1899. — 8 *) Muskens: Encephalomeningitis serosa, ihre klinischen Unter-
formen und ihre Indikationen. Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. 89, 1910. —
87 ) Mysslowskaja: Zur Kasuistik der traumatisehen serosen Meningitis. Referat
im Zentralbl. f. Chirurg. Jg. 88, S. 471, 1911. — 88 ) Nolke: Beobachtungen zur
Pathologie des Hirndrucks. Dtsch. med. Wochenschr. Jg. 23, Nr. 39, 1897. —
89 ) Neisser-Pollack: Die Hirnpunktion. Mitt. a. d. Grenzgeb. d. Med. u.
Chirurg. 18, 1904. — #0 ) Nonne: t)ber Falle vom Symptomenkomplex ..Tumor
cerebri' 1 mit Ausgang in Heilung (Pseudotumor). Uber letal verlaufene Falle von
,,Pseudotumor cerebri" mit Sektionsbefund. Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilkrank.
27 (1904) und 83 (1907). — 91 ) Nonne: Der Pseudotumor cerebri. Im 12. Band
der Neuen deutschen Chirurgie (herausgeg. von v. Bruns): „Die allgemeine Chirur-
gie der Gehirnkrankheiten". Tl. II, red. von Krause. Stuttgart: Enke 1914. —
92 ) Oppenheim: Uber einen Fall von erworbenem idiopathisehen Hydrocephalus.
Charitd-Ann. Jg. 15, 1890. — 9S ) Oppenheim: Beitrag zur Prognose der Ge-
himkrankheiten im Kindesalter. (Uber ein dem Tumor der motorischen Hirn-
region entsprechendes Krankheitsbild init dem Ausgang in Heilung.) Berl. klin.
Wochenschr. Jg. 38, Nr. 12 u. 13, 1901. — 94 ) Oppenhoim: Lehrbuch der
Nervenkrankheiten. 5. Aufl. Berlin: Karger 1908. — 9S ) Oppenheim: Beitrage
zur Diagnostik des Tumor cerebri und der Meningitis serosa. Monatsschr. f.
Psychiatr. u. Neurol. 18, 1905. — 96 ) Oppenheim-Borchardt: Zur Meningitis
chronica serosa (cystica) des Gehirns. Dtsch. med. Wochenschr. Jg. 36, Nr. 2.
1910. — 97 ) Payr: Meningitis serosa bei und nach Schadelverletzungen (trau¬
matica). Med. Klinik. Jg. 12, Nr. 32, 33, 1916. — 98 ) Peritz: Die Nervenkrank¬
heiten des Kindesalters. Berlin: Fischers med. Buchhandlung 1912. — 99 ) Pette:
Vortrag im arztlichen Verein zu Hamburg in der Sitzung vom 28. VI. 1921:
Uber Meningitis serosa circumscripta. Dtsch. med. Wochenschr. Jg. 47, Nr. 42,
1921. — 10 °) Pette: Zur Symptomatologie und Differentialdiagnose der Klein-
hirnbriickenwinkeltumoren. Arch. f. Psychiatr. u. Nervenkrankh. 64, 1921. —
101 ) Pitterlein: Vortrag im arztlichen Verein zu Niirnberg in der Sitzung vom
15. IV. 1909: Uber Meningitis serosa circumscripta. Dtsch. med. Wochenschr.
Jg. 35, Nr. 40, 1909. — ,02 ) Plaezek-Krause: Zur Kenntnis der umschriebenen
Arachnitis adhaesira cerebralis. Berl. klin. Wochenschr. Jg. 44, Nr. 29,
1907. — ,03 ) Prince: Idiopathic internal Hydrocephalus (serous Meningitis) in
the adult with reporters of three cases, two with autopsies. Journ. of nerv. a.
ment. dis. 1897. Ref. in den Jahresberiehten liber die Leistungen u. Fortschritte
auf dem Gebiete der Neurologie u. Psychiatrie. S. 551, 1897. — 104 ) Pollack:
Weitere Beitrage zur Hirnpunktion. Mitteilungen a. d. Grenzgeb. d. Med. u.
Chirurg. 18. 1908. — 106 ) Quincke: Uber Meningitis serosa. Samml. klin. Vor-
triige (begr. v. Volkniann), Nr. 67. Leipzig: Breitkopf & Hartel 1893. — 106 )
Quincke: Uber Meningitis serosa und verwandte Zustande. Dtsch. Zeitschr. f.
Nervenheilk. 9, 1897. — 107 ) Quincke: Zur Pathologie der Meningcn. Dtsch.
Zeitschr. f. Nervenheilk. 36 (1909) u. 40(1910). — 108 ) Quincke: Kopftrauma
und Spinaldruck. Monatsschr. f. Unfallheilk. u. Invalidenw. Jg. 17, Nr. 10/11
1910. — 10 °) Ravmond-Claude: La m^ningite s^reuse circonscrite de la corti-
calite c6rebrale. La semaine nuklicale. Jg. 29, Nr. 49, 19(H). — no ) Redlich:
Himtumor. Im Handlmch der Neurologie. Bd. Ill, 1911. — 1U ) Riebold:
Uber serose Meningitis. Dtsch. med. Wochenschr. Jg. 32, S. 1859, 1906. —
112 ) R inderspacher: Uber Drucksteigerung im Cerebrospinalkanal nach Kopf-
verletzungen. Fortschr. d. Med. Jg. 33, 8. 119ff.. 1916. — 113 ) Rindfleisch:
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
diagnose der sogenannten Meningitis serosa.
535
Cber die Bedeutung der Hirnpunktion und der Lumbalpunktion fiir die Diagnose
und Prognose des Himabszesses. Dtsch. med. Wochenschr. Jg. 48, Nr. 9, 1922.
— 114 ) Rosenstein: Primarer Hydrocephalus. Berl.' klin. Wochenschr. Jg. 3,
1866. — 116 ) Rothmann: Erkrankungen des GroBhirns, des Kleinhirns, der
Briicke, des verlangerten Marks und der Hirnhaute. Im Handbuch der inneren
Medizin (herausgeg. von Mohr u. Staehelin). Bd. V. Berlin: Julius Springer 1911. —
11# ) Sanger: Cber circumscripte serose Meningitis. Munch, med. Wochenschr.
Nr. 23, 1903. — n? ) v. Sarb6: t)ber einen operierten Fall von Leptomeningitis
chronica circumscripta der Zentralregion. Dtsch. med. Wochenschr. Jg. 36, Nr. 1,
1910. — U8 ) Seiffer: Beitrag zur Frage der serosen Meningitis. Charit^-Ann.
Jg. 24, 1899. — 119 ) Sievert: Cber das Zusammentreffen von Sehnervenatrophie
mit Adipositas imiversalis bei einem Geschwisterpaar. Zeitschr. f. Augenheilk. 19.
— 12 °) Schlapfer: Gehirnchirurgische Beobachtungen auf einer Studienreise in
Nordamerika (Winter 1920/21). Mit ausfiihrlicher Literaturangabe. Dtsch.
Zeitschr. f. Chirurg. 168, 1922. — m ) Schlecht: Zur Frage der Meningitis serosa
traumatica. Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. 47/48, 1913. — 122 ) Schlecht:
Cber die Meningitis serosa traumatica, insbesondere bei Kriegsverletzten. Med.
Klinik. Jg. 14, Nr. 19, 1918. — I23 ) Schmidt: Zur genauen Lokalisation der
Kleinhirntumoren und ihrer Differentialdiagnose gegeniiber acquiriertem chroni-
schem Hydrocephalus internus. Wien. klin. Wochenschr. Nr. 51, 1898. —
124 ) SchultheiB: Cber Meningitis serosa chronica cystica cerebralis. Frankfurt.
Zeitschr. f. Pathol. 23, 1920. — 125 ) Schultze: Die Krankheiten der Hirnhaute.
NothnagelsHandb. d. spez. Pathol. u.Ther. Bd. IX,3, Wien 1901. — 12S ) Schultze:
Ein Fall von Meningitis serosa circumscripta traumatica. Dtsch. med. Wochenschr.
Jg. 43, Nr. 34, 1917. — 127 ) Starck: Die psychogene Pseudomeningitis. Dtsch.
Zeitschr. f. Nervenheilk. 21, 1902. — 128 ) Stern, Poensgen: Kolloidchemische
Untersuchungen am Liquor cerebrospinalis. Berl. klin. Wochenschr. Jg. 57,
Nr. 12 u. 13, 1920. — 12B ) StraBmann: Cber seltene, sehr chronische Verlaufs-
form tuberkuloser Meningitis. Mitt. a. d. Grenzgeb. d. Med. u. Chirurg. 23. 1911.
— 13 °) Schwartz: Cber die Meningitis serosa. Petersb. med. Zeitschr. Jg. 38,
Nr. 6 r 1913. — 131 ) Strobe: Im Handbuch der pathologischen Anatomic des Ner-
vensystems (herausgeg. von Flatau, Jacobsohn, Minor). S. 369 u. 806, Berlin,
Karger, 1903. (Mening. serosa cystica.) — 132 ) v. Striimpell: Lehrbuch der spe-
ziellen Pathologie und Therapie innerer Krankheiten. Leipzig: Vogel 1917. —
t33 ) Thiemich u. Zappert: Die Krankheiten des Nervensystems im Kindes-
alter. Sonderabdruck a. d. Handbuch der Kinderheilkunde (herausgeg. von
Pfaundler u. SchloBmann). Leipzig: Vogel, 2. Aufl. 1910. — 134 ) Uhthoff: In
Graefe-Samischs Handbuch der Ophthalmologic. 2. Aufl. Bd. XI, Tl. 2, Abtlg. II,
Kap. 22. — 135 ) VoB: Diskussion auf der Jahresversammlung der Gesellschaft
deutscher Nervenarzte. Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. 38, S. 263, 1910. —
i3«) Weber: Zur Symptomatology und Pathogenese des erworbenen Hydro¬
cephalus internus. Arch. f. Psychiatr. u. Nervenkrankh. 41, 1906. —* 37 ) Weber-
Schultz: Zwei Falle von „Pseudotumor cerebri" mit anatomischer Untersuchung.
Monatsschr. f. Psychiatr. u. Neurol. 23, Erg.-H. — 138 ) Weigeldt: Zur Kenntnis
der sogenannten Meningitis serosa. Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. 66, 1920. —
i39) Weigeldt: Die Goldsolreaktion im Liquor cerebrospinalis. Dtsch. Zeitschr.
f. Nervenheilk. 67, 1921. — 14 °) Weitz: Cber Liquordruckerhohung nach Kopf-
trauma. Neurol. Zentralbl. Nr. 19, 1910. — 141 ) Weitz: Vortrag im arztlichen
Verein zu Hamburg in der Sitzung vom 13. II. 1912. Ref. im Neurol. Zentralbl.
S. 662, 1912. (Mening. serosa traum.) — 142 ) v. Wieg-Wickenthal: Zur Klinik
und Differentialdiagnose der Hirntumoren. Jahrb. f. Psychiatr. u. Neurol. 36,
1914. — 143 ) Wilms: Vortrag in der medizinischen Gesellschaft zu Basel am
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
536
H. Ruhc: t'ber die nosologische Stellung usw.
27. V. 1909 (Hydrocephalus int. des IV. Ventrikels). Dtsch. med. Wochenschr.
Jg. 35, S. 2095, 1909. — 144 ) Wendel: Uber Meningitis serosa circumscripta cere-
bralis. Arch. f. klin. Chirurg. 99, 1912. — 14S ) Wendel: Vortrag bei den Verhand-
lungen der deutschen Gesellschaft ftir Chirurgie. 41. Kongr. Abt. 2, S. 433ff. —
148 ) Zaloziecki: T)ber den Eiweihgehalt der Cerebrospinalfliissigkeit. Dtsch.
Zeitschr. f. Nervenheilk. 47/48, 1913.
Digitized by
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(Aus der Psychiatrischen und Xervenklinik der Universitat Breslau [Geheimrat
Prof. Dr. Wollenberg].)
Dip sogpnannten BewulJtseinsstorungpii.
Eine psychopathologische Untersuchung.
von
Siegfried Fischer
Assistenzarzt der Klinik.
(Eingegangen am 8. November 192'!.)
In halt.
Einleitung.
I. Psychologisclie Bemerkungen.
Zur Psychologic der Aufmerksauikeit.
Undeutlich aufgefaBte Gegenstande.
II. Psychopathologie
1. der Benommenheitszustande,
a) reine Benommenheitszustande,
b) traumliafte Benommenheitszustande.
2. Zustande krankhafter Enge der Auffassungsfahigkeit oder des Gegen-
standsbewuBtseins.
III. tjber die Bedeutung des Ausdrucks BewuBtsein und die Berechtigung des
Ausdrucks Bewu Btseinsstorungen.
IV. Zusammenfassung.
Einleitung.
Mit dem Nanien Storungen des Bewu Btseins oder Bewulitseins-
storungen werden innerhalb der klinischen Psychiatrie Symptoraen-
bilder mannigfacher Art bezeichnet. Es soli hier untersucht werden,
ob diese Zustande mit Recht zu einer Gruppe zusamraengefaBt werden,
und ob ihnen die Bezeiehnung Storungen des BeimBtseins zu Recht
zukommt; d. h. ob tatsachlich bei alien diesen Zustanden und au.s-
schlieBlich bei ihnen eine krankhafte Veranderung dessen vorliegt, was
man unter BewuBtsein versteht.
Zu diesem Zwecke wird einmal festzustellen sein, was denn eigent-
lich unter dem BewuBtsein verstanden wird, das bei den in Rede stehen-
den Symptomenbildern gestort sein soil, und zweitens wird zu ent-
scheiden sein, welche psychischen Gmndfunktionen bei ihnen ver&ndert
sind, und in welcher Weise deren Ablauf vom gesunden Seelenleben
abweicht.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
538
S. Fischer:
Digitized by
Urn die Analyse dieser Zustandsbilder moglichst unbefangen in
Angriff zu nehmen, erscheint es zweckmaBig, die Definition des Be¬
wu Btseinsbegriffs vorlaufig zuriickzustellen, und zunachst einmal un-
voreingenoramen diese Zustande einer Betrachtung zu unterziehen.
Greifen wir irgendwelche Bilder aus der Gruppe, die man fur ge-
wohnlich BewuBtseinsstorungen nennt, heraus, etwa das Koma oder
die Delirien, so sind diese neben anderen Merkmalen dadurch charak-
terisiert, daB bei ihnen eine mehr oder weniger unvolistandige oder
fehlerhafte Orientierung gegeniiber der AuBenwelt vorliegt. Dieses
Symptom scheint mir eine Eingangspforte fiir eine analysierende Be¬
trachtung der in Frage kommenden Zustande zu bieten.
Storungen der Orientierung gegeniiber der AuBenwelt konnen, wie
die klinische Psychiatrie zeigt, auf den verschiedensten Veriinderungen
anderer einfacher psychischer Funktionen beruhen. So bewirkt z. B.
l>ei dem Korsakowschen Syndrom oder der senilen Demenz die Stoning
der Merkfahigkeit eine Desorientierung. Anders bei den sogenannten
Bewu Btseinsstorungen. Hier beruht nach klinischer Erfahrung die un¬
volistandige oder falsche Orientierung vor allem auf einer Storung der
Auffassung.
Es ist deshalb erforderlich, zunachst Einiges liber die Psycho¬
logic der Auffassung zu sagen.
I.
Psychologische Beinerkungen.
Zur Psychologie der Aufmerksamkeit. Undeutlich aufgefaBte
Gegenstande.
Wenn ich einen Gegenstand auffasse, so kann in gleichem Sinne
gesagt werden, ich beachte ihn, oder ich richte meine Aufmerksamkeit
auf ihn. (Davon zu unterscheiden ist das Erfassen eines Gegenstandes
a Is gerade diesen mit diesen bestimmten Eigenschaften, ein Erlebnis, das
nicht zum Bcachtungs- oder zum Auffassungsvorgang zu rechnen ist
s. S. 541). Von dem Gegenstande kann in gleichem Sinne gesagt werden,
er ist Gegenstand meiner Aufmerksamkeit oder meines Gegenstands-
bewuBtseins.
Der Ausdruck einen Gegenstand auffassen deckt sich mit dem,
was Wundt apperzipieren nennt. Er definiert Apperzeption als die
Erfassung einer Vorstellung durch die Aufmerksamkeit. Wundt ge-
braucht ein Bild aus der Optik, um seine Theorie klar zu machen, und
sagt, daB etwas im Brennpunkt der Aufmerksamkeit oder im Blick-
punkt des BewuBtseins stehe, wenn es apperzipiert sei; das nur Per-
zipierte stehe am Rande oder im Blickfeld des BewuBtseins. Biihler 1 )
x ) Ebbinghaus-Biihler, Grundziige der Psychologie. 4. Aufl. S. 654.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Die aogenannten BewuBtseinsstorungen.
539
hat darauf hingewiesen, daB gegen dieses Bild, solange es nichts an-
deres als eine Anschauungshilfe fur die Tatsache sei, daB die Aufmerk-
samkeit in jedem Augenblick nur einem relativ kleinen Kreis der tat-
sachlich vorhandenen Gegenstande zugute kommt, nichts einzuwenden,
daB aber eine erschopfende Definition damit noch nicht gegeben sei.
Er sucht die Frage der Apperzeption auf eine andere Weise als Wundt
zu losen, indera er namlich das Problem nicht in das Gebiet der Wil-
lensvorgange verschiebt, sondern andere Prozesse daftir in Anspruch
nimmt. Im AnschluB an seine kurzen, aber grundlegenden Bemer-
kungen sei unsere Ansicht von diesen Dingen hier klargelegt 1 ).
Apperzeption nennt Wundt, so hatten wir erwahnt, die Erfassung
einer Vorstellung durch die Aufmerksamkeit. Setzen wir zur Vermei-
dung einer Aquivokation statt erfassen auffassen, so konnen inner -
halb der Moglichkeiten, wie etwas aufgefaBt werden kann, verschiedene
Grade und Stufen der Klarheit und Lebhaftigkeit unterschieden wer¬
den. Worin besteht nun die bessere oder schlechtere Auffassung oder
die starkere oder geringere Apperzeption? Dieser scheinbare hohere
Grad, in dem etwas aufgefaBt wird, ist nach Biihler keine immanente
Eigenschaft der Bewu Btseinsinhalte; die BewuBtseinsinhalte sind
sozusagen nicht selbstleuchtend bald in hoherem bald in geringerem
Grade, sondern sie erhalten ihre Auszeichnung durch andere psychische
Prozesse, die sich um sie gruppieren.
Mit Biihler unterscheide ich bei der Auffassung zwischen der
Klarheit und der Lebhaftigkeit. Die Klarheit ihrerseits kann eine
sinnliche und eine Auffassungsklarheit sein.
Die sinnliche Klarheit hat mit der Intensitat nichts zu tun
und ist auch keine dem Be wm Btseinsinhalt immanente Eigenschaft.
Aber was ist sie dann? Fragen wir, wodurch sie zustande kommt,
oder besser, w'odurch sie gestort wird, so ergibt. sich leicht die Ant-
wort, daB die Wahrnehmung etw r a eines Tons dann um so klarer er-
scheint, je isolierter das Erlebnis und je weniger gestort von anderen
Erlebnissen es ist. Je scharfer also die ,,Auspragung“ ist, die ein Be¬
wu Btseinsinhalt erhalt, desto groBer ist seine sinnliche Klarheit. Wird
ein Bewu Btseinsinhalt durch einen anderen gleichzeitigen gest ort , so
leidet dadurch die Scharfe seiner Auspragung. Sinnlich klar und aus-
gepragt ist demnach 2 ) auch die Erscheinung einer leuchtenden Laterne
fiir einen hochgradig Kurzsichtigen, wenn er auch nur einen leuchtenden
Kreis sieht. Aber nur sinnlich klar. Mit der Auffassungsklarheit und
der Identifikation dieser Erscheinung mit derjenigen einer Laterne
') Vgl. dazu auch Biihler, Art. Aufmerksamkeit i. Handworterbuch d. Na-
turwissensch. 1912.
2 ) Ich zitiere hier ein Beispiel P. F. Linkes, Grundfragen der Wahrneh-
mungslehre, Miinchen 1918, S. 177, in anderem Zusammenhang.
Archiv ftir Psychiatrie. Btl. 67. 36
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
540
S. Fischer:
Digitized by
hat die sinnliche Klarheit nichts zu tun, nur die scharfbegrenzte Aus-
pragung gegeniiber anderen Erscheinungen ist hier maBgebend. Denn
stehen zwei leuchtende Laternen so dicht beieinander, daB fiir den
Kurzsichtigen die beiden Kreise ineinander iibergehen, so ist das Er-
lebnis jedes einzelnen der beiden Kreise nicht sinnlich klar. Das eine
Erlebnis ist gestort durch das andere und nicht vollig isoliert. In.
gleicher Weise wird etwa ein Ton c nicht ebenso klar aufgefaBt, wenn
ein cis gleichzeitig ertont; oder der Geschmack des Salzes tritt nicht
so sinnlich klar hervor, wenn etwa noch Spuren von Zucker sich auf
der Zunge befinden.
Je nachdem ein BewuBtseinsinhalt groBere oder geringere sinnliche
Klarheit besitzt, sprechen wir von einem hoheren oder niederen Grade
der sinnlichen Klarheit.
Wie E. Westphal 1 ) nachgewiesen hat, ist aber damit das Auf-
fassungserlebnis eines Gegenstandes nicht ausreichend besehrieben.
Das Beachten eines Gegenstandes und seine Auffassung besteht noch
in ganz andersartigen Erlebnissen, deren Erfolg seine Auffassungs-
klarheit (Biihler) ist. Innerhalb der Art, wie ein Gegenstand be-
achtet otier aufgefaBt werden kann, unterscheidet Westphal 4 Be-
wuBtseins- oder besser Beachtungs- oder Auffassungsstufen. Die
erste dieser Stufen ist das einfache Gegebensein eines BewuBtseins-
inhalts. Das Erlebnis ist durch das Fehlen jedes Gesichtspunkts einer
Aufgabe charakterisiert. Der Reiz wird einfach passiv hingenommen,
er wird links liegen gelassen, es wird keine Notiz von ihm genommen.
Andererseits ist er aber doch fiir das Subjekt da, und zwar kann er
bei vollcr sinnlicher Klarheit gegeben sein, also nur als sinnlicher
Eindruck, ohne daB mit ihm irgend etwas angefangen, ohne daB er
naher bestimmt wird. Der Reiz bleibt ohne Zusammenhang mit dem
ubrigen Erleben. Das Gegebensein ist Bedingung fiir alle hoheren
Stufen.
Die zweitc Beachtungsstufe nennt Westphal die der Beachtung.
Diese ist durch die Gegenwart eines bestimmten Gesichtspunktes cha¬
rakterisiert, unter dem der Gegenstand oder besser ,,das Ding da‘“
beachtet wird. Es wird etwa eineLinie als krumm aufgefaBt oder eine
Figur auf ihre Eckenzahl angesehen. Das Subjekt fiihrt hier schon
eine Leistung aus. Der Reiz ,,fallt nicht wie ein Stein ins Wasser,
sondern wie ein Ball in die ausgestreckte Hand“.
Diese Stufe ist wieder Voraussetzung fiir die dritte Stufe, das poten-
tielle Wissen, in die sie unmittelbar iibergehen kann. Es wird hier
nicht nur unter einem einschrankenden Gesichtspunkt beachtet, son-
') tlber Haupt- und Xel>enaufgaben bei Beaktionsversuchen. Arch. f. <1.
ges. Psych., 21, 1911.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Die sogenannten BewuBtseinsstorungen.
541
dern es wird gewuflt, daB etwa dieseKonturen krumm sind, und wie
der Eindruck hiernach zu bestimmen ist. Der Gesichtspunkt hat zu
einer Bestimmung oder Einordnung des Gegenstandes innerhalb einer
Ordnung gefiihrt. In vielen Fallen geniigt ein Beachten nicht zuin
potentiellen Wissen, z. B. werrn die Aufgabe, unter der beachtet wird,
zu schwer ist.
SchlieBlich kann auf der vierten Beachtungsstufe das gewuBte Er-
lebnis auch konstatiert oder ,,festgenagelt“ werden, etwa durch ein
Nicken mit dem Kopf oder durch eine sprachliche For mu lie rung.
Ubersehen wir diese Stufen und versuchen sie zu erklaren, so werden
wir annehmen dvirfen, daB beim einfachen Gegebensein eine Beziehung
gedacht oder hergestellt wird zu irgendeinem Ding da. Bei der zweiten
Stufe muB diese Beziehung auch gedacht werden; aber es wird ein
Gesichtspunkt liineingetragen, unter dem beachtet wird. Es richtet
siclx also neben dieser Intention auf das Ding noch ein bestimmt ge-
richtetes Denken auf ein Merkmal des Dinges, ohne daB dabei aber
schon der Gegenstand auf Grund eines erkannten Merkmals eingeordnet
wird, seinen Platz innerhalb einer Ordnung erhalt. Dies geschieht erst
auf der dritten Stufe. Bei dieser erst wird tatsachlich gewuBt, daB
dieses Ding dieses besondere Merkmal hat, wenn auch eine Konsta-
tierung, eine Feststellung dieses Sachverhalts nicht erfolgt. Aber es
wird dieser Sachverhalt gedacht und dadurch der Gegenstand in irgend-
einer Richtung bestimmt. Durch das Feststellen auf der vierten Stufe
tritt ein Bejahungsurteil, ein zustimmendes Urteil hinzu.
Je nachdem nun ein Gegenstand mehr oder weniger beachtet wird,
d. h. auf einer je hoheren oder niederen Beachtungsstufe er steht,
desto groBer oder geringer ist seine Auffassungsklarheit. Den Tat-
bestand oder die Ursache der Beachtungsstufen nenne ich Aufmerk-
samkeit. Es erscheint fraglich, ob auch die Grade der sinnlichen
Klarheit, von denen die Ausgepragtheit des Eindrucks abhangt, zur
Aufmerksamkeit zu rechnen sind.
Von der Auffassung eines Gegenstandes streng zu unterscheiden
ist das Erfassen eines Gegenstandes. Das Erfassen eines Gegen¬
standes ist eine Einordnung des Gegenstandes durch Herstellung von
Beziehungen der Ahnlichkeit und Verschiedenheit. Ich habe friiher 1 )
versucht, diesen ProzeB durch das Experiment zu erzeugen, und es
hat sicli dabei herausgestellt, daB ein Gegenstand desto besser erfaBt
ist oder desto mehr Struktur erhalt oder um so mehr logisch bestimmt
fiir mich ist, je mehr Attribute und Merkmale, die ihm zukommen
oder ihn ausmachen, ich erkenne, je enger also die Ordnung wird, in
1 ) l)ber das Entstehen und Verstehen von Xamen, mit einem Beitrage zur
Lehre von den transcorticalen Aphasien. Arch. f. <1. ges. Psychol. 42 u. 43. 1922.
36*
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
542
S. Fischer:
Digitized by
die ich ihn einordne, je mehr er sich deranach auch von anderen Gegen-
standen unterscheidet. Diese Bestimmung eines Gegenstandes durch
Einordnung oder dieses Erfassen des Gegenstandes kann erst auf einer
hoheren Beachtungsstufe einsetzen. Die dritte Beachtungsstufe, das
potentielle Wissen, in gewisser Weise auch vielleicht schon die zweite
Stufe, das Beachten, sind zwar auch Erfassungsprozesse des Gegen¬
standes: denn der Gegenstand wird durch ein Merkmal bestimmt.
A her das weitere Erfassen, die nahere Bestimmung des Gegenstandes
hat nur so weit mit der Auffassung oder Beachtung etwas zu tun, als
Voraussetzung dafiir mindestens die dritte Beachtungsstufe ist. Es
ist also verkehrt zu sagen, daB je mehr ein Gegenstand bestimmt, d. h.
crfaBt ist, er auch desto besser beachtet oder aufgefaBt ist. Nur das
ist richtig, daB die dritte Beachtungsstufe sich mit einer niederen
Erfassungsstufe deckt Die vierte Beachtungsstufe, die durch das
hinzutretende Bejahungsurteil gekennzeichnet ist, stellt keinen hoheren
Grad beim Erfassen eines Gegenstandes dar.
Die sinnliche Klarheit ihrerseits hat naturgemaB mit dem Erfassen
nur so weit etwas zu tun, als die Moglichkeit zum Erfassen um so eher
gegeben ist, wenn der Gegenstand sinnlich klar erscheint.
Nun ist es aber bekannt, daB Gegenstande, abgesehen von der
Art ihrer sinnlichen und Auffassungsklarheit auch lebhaft wirken
oder Lebhaftigkeit fur uns haben konnen. Diese Eigenschaft kann
in verschiedenem Grade von jedem Gegenstande ausgehen, unabhangig
von seiner sinnlichen oder Auffassungsklarheit. Mit Biihler 1 ) fasse
ich die Lebhaftigkeit nicht als eine immanente und statische, sondern als
eine dynamische Eigenschaft der Erlebnisse auf und meine, Lebhaftig¬
keit ist die Energie, mit der ein Inhalt die Auffassungsprozesse und
andere Reaktionen auslost. Statt Lebhaftigkeit kann in gleicher
Bedeutung der Ausdruck Eindringlichkeit gesetzt werden, der
nach G. E. Miiller 2 ) die Macht bezeichnet, mit der die Sinnes-
eindrucke unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. —
t)ber die sogenannte Enge des ,,BewuBtseins“ seien hier noch einige
Bemerkungen angeschlossen, die fiir die spateren Erorterungen iiber die
pathologischen Phanomene dieser Art von Wichtigkeit sind.
Spricht man in der Pathologie und haufig auch in der Psychologic
von der Enge des ,,BewuBtseins“, so ist meist der Tatbestand gemeint,
daB trotz der zahlreichen und mannigfaltigen Reize gleichzeitig immer
nur eine beschrankte Anzahl aufgefaBt wird. Man bezeichnet daher
diese Tatsache besser als Enge der Aufmerksamkeit oder Enge des
GegenstandsbewuBtseins. Es gibt wohl auch eine Enge des Bewuflt-
__ <
a. a. O., S. 655.
2 ) Zeitschr. f. Psychol. 10, S. 25.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Die sogenannten BewuBtseinsst orungen.
543
seins, worunter zu verstehen ist, daB gleichzeitig immer nur eine
beschrankte Anzahl von Bewu Btseinsinhalten, d. h. Erlebnissen vor-
handen ist; m. a. W. es kann gleichzeitig immer nur eine beschrankte
Anzahl von Empfindungen, Vorstellungen, Gedanken, Gefuhlen und
Wollungen erlebt werden. Fur unsere Fragen kommt dieser Begriff
nicht in Betracht.
Beziiglich der Enge der Aufmerksamkeit hat sich herausgestellt,
daB in einem Augenblick etwa 5—6 Einheiten gleichzeitig aufgefaBt
werden konnen.
Undeutlich aufgefaBte Gegenstande.
Das Attribut der Deutlichkcit kommt der Auffassung des Gegen-
standes und nicht dem BewuBtseinsinhalt zu. Ein Gegenstand ist dann
deutlich aufgefaBt oder kurz, jedoch ungenau, er ist deutlich, ,,wenn
er so gegeben ist, daB er mit einem bestimmten anderen als ,Ideal' oder
Norm betrachteten Gegenstande vollstandig iibereinstimmt"'). So ist
in dem friiher erwahntcn Beispiele, bei dem ein Kuizsichtiger bei der
Betrachtung einer Laterne nur die Erscheinung eines leuchtenden
Kreises hat, der Kreis deutlich gesehen, aber die Laterne ist nicht
deutlich gesehen. Das Bild als Gegenstand ist also im Vergleich zu
dem erwarteten Eindruck oder zu dem Idealbild undeutlich.
Ahnlich steht es, wenn man in der Psychologie von undeutlichen
Vorstellu ngen spricht. Vorstellungsbilder, wie wir sie dauernd erleben,
konnen mit Hilfe der ,,inneren Wahrnehmung" oder der Selbstbeobach-
tung aufgefaBt werden. In diesem Falle gilt beziiglich der Auffas-
sungsklarheit fiir sie dasselbe wie fiir die Auffassung der auBeren Ge¬
genstande. Sie konnen mehr oder weniger beachtet oder aufgefaBt
werden oder konnen mehr oder weniger sinnlich klar erscheinen. Als
Gegenstande des Gegenstandsbewu Btseins unterliegen sie also den-
selben Beachtungsstufen und -graden wie auBere Gegenstande. Das
Attribut der Undeutlichkeit, wie es im psychologischen Sprachgebrauch
Verwendung findet, hat jedoch mit diesen Beachtungsstufen ebenso-
wenig etwas zu tun, wie bei den Gegenstanden der Wahrnehmung.
Undeutliche V r orstellungsbilder nennt man vielmehr solche, die im
Vergleich mit dem Gegenstand, den sie darstellen, diesen unvollstandig
oder luckenhaft wiedergeben. Zum Erkennen dieses Attribute ist es
allerdings erforderlich, daB das Vorstellungsbild mit Hilfe der Selbst-
beobachtung betrachtet wird. Es muB hierzu jedoch noch ein Ver-
gleich mit dem Idealbild treten.
Wird also das Vorstellungsbild als Gegenstand nur einer Beachtung
unterzogen und nicht in Vergleich gesetzt zu dem Gegenstand, den es
x ) P. F. Linke, Grundfr. d. Wahrnehmungslehre. 1918, S. 178.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
544
S. Fischer:
Digitized by
darstellen soil, so hat tier Faktor der Undeutlichkeit hier keinen Platz.
Die undeutlichen Vorstellungsbilder sind auch nicht ,,dunkelbewuBV*
und stehen auch nicht auf einer niederen Stufe des GegenstandsbewuBt -
seins; die Undeutlichkeit hangt nicht von der sinnlichen oder Auf-
fassungsklarheit, und damit auch nicht von der Beachtungsstufe ab.
II.
1. Psychopathologie der Benoiiimenheitszustan<le.
Mit Hilfe dieses psychologischen Riistzeugs soil nunmehr eine
Analyse der pathologischen Zustande versucht werden.
Die psychischen Zustandsbilder, die man mit dem Ausdruck Be-
\vuBtseinsstbrungen zu bezeichnen pflegt, umfassen zu nachst eine
Clruppe, die ich am besten mit dem Ausdruck reine Benommenheits -
zustande charakterisieren zu konnen glaube. Es gehoren hierzu alle
die Zustandsbilder, die unter den Namen Somnolenz, Sopor, Koraa
bekannt sind, und zwar sind hier nur solche Zustande gemeint, die
keinerlei ,,delirante“ Symptome, wie motorische Unruhe, Halluzina-
tionen usw. neben der Benommenheit bieten.
Als 2. Gruppe unterscheide ich diejenige der traumhaften Be -
nommenheitszustande 1 ). Dazu gehoren die Delirien, die Zustands¬
bilder der Amentia und die meisten Dammerzustande, also alle Zu¬
stande, bei denen neben der Benommenheit noch die erwahnten deli-
ranten Symptome bestehen. — Von diesen Benommenheitszustanden
ist eine vollig andersartige Gru])pe von Zustanden zu trennen, die ich
als Zustande krankhaft eingeengten Gegenstandsbewu (itseins oder
krankhaft eingeengter Auffassungsfahigkeit bezeichne.
a) Reine Benommenheitszustande 2 ).
So offensichtlich in vielen Fallen schon bei der Inspektion ein Kran-
ker als benommen erkannt wird, so macht doch bei nicht ausgesproche-
nen Fallen die Feststellung der Benommenheit bedeutende Schwierig-
keiten. Aber auch in den Fallen, wo auf dem Wege der Einfiihlung
mit Hilfe dcr Beobachtung die Benommenheit erkannt wird, ist es
meist nicht ganz leicht, das einfiihlungsmaBig ErfaBte nun auch
begrifflich festzulegen.
1 ) Bumke (Diagnose der Geisteskrankheiten. Wiesbaden 1919, S. 358) falit
diese Zustande unter dem Namen „Traumhaftes BewuBtsein“ zusammen, ein
Ausdruck, der, wie im 3. Abschnitt zu zeigen sein wird, nicht das Wesentliche
dieser Zustande trifft.
2 ) Die in diesem Abschnitt gekennzeicluieten Zustande entstammen zumeist
Beobachtungen von Kranken im bzw. nach dem gioBen epileptischen Anfall und
von Moribunden.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Die sogenannten BewuBtseinsstorungen.
545
Tritt man an das Krankenbett eines Komatbsen, so vvird zuweilen
gar kein Zweifel dariiber auftauchen, ob der Kranke schlilft oder be-
nommen ist. Die halbgeoffneten Augen geben zuweilen einen Hinweis.
Ein anderes Mai ist die Atmung frequenter, als man sie etwa bei einem
Schlafenden beobachtet, oder das Inspirium ist im Vergleich zum
Exspirium wesentlich verlangert. Ist das Umgekehrte der Fall, was
zuweilen auch zu beobachten ist, so wird der Zustand noch leichter
erkannt.
Fehlen aber diese Symptome, so wird man zweifelhaft werden, ob
hier ein gewohnlicher Schlafzustand vorliegt, oder ob der Kranke be-
nommen ist. Einen AufschluB oder eine Bestatigung der Annahme,
daB ein Zustand von Benommenheit vorliegt, ergibt die Reaktions-
weise des Kranken auf auBere Reize. Findet es sich, daB der Kranke
auf akustische Reize, wie Handeklatschen uberhaupt nicht reagiert,
daB er bei greller Belichtung der halbgeoffneten Augen diese weder
schlieBt noch den Kopf wendet, daB auf intensive Geschmacks- oder
Geruchsreize wie auf starke Nadelstiche keine sichtbare Reaktion
erfolgt, ja daB Reize auf seine Gleichgewichts- und seine kinasthetischen
Organe, die durch kraftiges Schiitteln und ungewohnliche Korperlagen
bewirkt werden, ohne sichtbare Reaktion bleiben, so fragt es sich, was
liegt psychologisch hier vor? Eine Storung der Aufmerksamkeit ode-
des GegenstandsbewuBtseins? Ohne weiteres wird man das nicht ber
haupten diirfen. Voraussetzung dafur, daB etwas uberhaupt Gegen-
stand meines GegenstandsbewuBtseins werden kann, d. h. daB etwas
von mir aufgefaBt werden kann, ist, daB ich Empfindungen oder Wahr-
nehmungen habe, daB das psychische Erlebnis oder der BewuBtseins-
inhalt, der Empfindung oder Wahrnehmung genannt wird, vorhanden
ist, durch den ich uberhaupt erst dazu komine, von der AuBenwelt
Kenntnis zu nehmen 1 ). Ein Mensch etwa, dessen samtliche Sinnes-
organe nicht funktionsfahig wiiren, der infolgedessen auch keine Emp¬
findungen oder Wahrnehmungcn hatte, kbnnte auch kein Gegenstands-
bewuBtsein von den Gegenstanden haben 2 ).
Nun kbnnte es zunachst einmal der Fall sein, daB die Reize, die
hier angewendet werden, uberhaupt keinen Empfindungsvorgang ver-
ursacht haben. Eine zweite Moglichkeit besteht darin, daB wohl Emp-
1 ) Entsprechendes gilt naturgemaB fiir Dinge, auf die als Gegenstand sich
ein Gefiihl oder ein Wollen bezieht.
2 ) Den Ausdruck Wahrnehmung brauche ich hier in etwas anderem Sinne,
als er fiir gewohnlich Verwendung findet. Spricht der Psychologe von Wahrneh-
niung, so liegt darin auch schon der Begriff des Erfassens und Auffassens, also
nach dem oben Gezeigten im weitesten Sinne Denkprozesse. Ich konnte, um
dem auszuweichen, einfach von Empfindungen sprechen; dadurch wiirde aber
das Komplexe der Wahrnehmungserlebnisse, abgesehen von dem Er- und Auf-
fassungsvorgange, nicht zur Geltung kommen, das bei der Empfindung fehlt.
Digitized by
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
546
S. Fischer:
Digitized by
findungsmaterial da ist, ein Schmerz beira Nadelstich, eine optische
Erscheinung beini Belichten der Augen erlebt wird, aber eine Intention
auf die Erscheinungen nicht auftritt, daB also trotz des Erlebens der
Erapfindung kein Auffassungsvorgang stattfindet, daB die Reize so
wenig beachtet werden, wie der Gesunde etwa die Beriihrung des Kor-
pers durch seine Kleider beachtet. Es ware auch denkbar, daB die
Empfindung erlebt, der Reiz aufgefaBt wird, aber der Kranke damit
nichts anzufangen weiB. SchlieBlich konnte auch der Auffassungs-
prozeB und die intcllektuelle Verarbeitung vollig intakt sein, aber das
Motorium und gleichzeitig vielleicht das Wollen derart gelahmt, ge-
sperrt oder gehemmt sein, daB weder ein Wollen noch eine Willens-
handlung moglich ist. Oder schlieBlich, es konnte ein absichtliches
Nichtreagieren vorliegen.
Etwas Sicheres iiber die verschiedenen Annahmen auszusagen ist
zunachst nicht moglich. Denn Kenntnis von dem Seelenleben eines
anderen haben wir nur durch seine Ausdrucksbewegungen — im wei-
testen Sinne. Diese fehlen beim Komatosen vollig. Deswegen ist es
aber noch nicht berechtigt, von einem vollstandigen Daniederliegen
aller seelischen Erlebnisse zu sprechen. Auch im Schlaf seheint alles
psychische Erlebcn entweder zu fehlen oder abgeschwacht zu sein. Wir
schlieBen das u. a. daraus, daB der Schlafende keine Notiz von auBeren
Reizen — bis zu einem gewissen Schwellenwert wenigstens — nimmt,
und aus dem Fehlen von Ausdrucksbewegungen. Aber der Schlafende
hat haufig ein GegenstandsbewuBtsein, und zwar im Traume von den
Gegenstanden, deren Erscheinungen er in dem Traumbilde erlebt.
Wir betrachten einen anderen Kranken und wenden dieselben Reize
an. Auf das Klatschen der Hande erfolgt gar nichts. Der Kranke liegt
ebenso bewegungslos da wie vorher. Wir beleuchten seine halbgeoff-
neten Augen, und der Kranke schlieBt sie langsam. Jetzt stechen wir
ihn mit der Nadel in die Stirn; darauf wendet der Kranke langsam
den Kopf nach der anderen Seite und bleibt in dieser Stellung ruhig
liegen. — Hat der Kranke die Reize aufgefaBt, und welche Verande-
rungen liegen hier gegeniiber dem normalen Ablauf vor? DaB der
Kranke die Augen bei Lichteinfall schlieBt, kann ein reflektorischer
Vorgang sein. Die Frage, ob er den Reiz aufgefaBt hat, ist ohne wei-
teres nicht leicht zu entscheiden. Bei der Reaktion auf den Nadelstich
wird man die Kopfdrehung als einfachen Reflexvorgang ansprechen
konnen. Es kann jedoch auch die Schmerzempfindung irgendwie Be-
wuBtseinsinhalt gewesen und darauf die Kopfdrehung als Reaktion
erfolgt sein. Durch welche vorangegangenen Erlebnisse des Wollens
die Bewegung des Kopfes etwa stattfand, ist hier gleichgiiltig. Auch
bei Annahme dieser Moglichkeit wird man ein Erfassen des Reizes
als einen so und so gearteten und von einem spitzen Gegenstand her-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Die sogenannten BewuQtseinsstorungen.
547
ruhrenden ablehnen miissen. Aber wie steht es mit der Auffassung,
d. h. dem GegenstandsbewuBtsein, wenn die Schmerzempf indung Be-
wuBtseinsinhalt gewesen ist? Erinnern wir una an die vier Beachtungs-
stufen, so wird man sagen konnen, daB die erste oder hochstens die
zweite Beachtungsstufe hier vorliegen kann. Der Kranke ist voll-
kommen passiv, der Reiz wird einfach hingenommen; er erhalt viel-
leicht eine gewisse Bedeutung, ohne aber mit anderen Wissentdisposi-
tionen in Verbindung gebracht zu werden. AusschlieBen wird man
diirfen, daB hier ein unformuliertes Wissen vorliegt, das eine Benen-
nungsmoglichkeit enthalt. — Einen Grund dafiir anzunehmen, daB
der Grad der s inn lichen Klarheit, die Ausgepragtheit des Reizes
prinzipielle Abweichungen gegeniiber dem Gesunden aufweisen, liegt
nicht vor. — Wesentlich aber ist noch die Lebhaftigkeit, d. h. die
Energie, mit der die Prozesse der Auffassung sowohl wie andere Reak-
tionen ausgelost werden. Im Vergleich zu den anderen angewandten
Reizen ist die Lebhaftigkeit des Schmerzreizes, wie die Reaktion zeigt,
sicherlich groBer, im Vergleich zu derjenigen des Gesunden aber quan-
titativ herabgesetzt, und zwar zunachst beziiglich der Auffassung und
Erfassung des Reizes, dann aber auch anderer Reaktionsweisen, die
auf das Wollen und das Gefiihlsleben zuriickgehen. Alle Reize werden
mit einer stark verlangsamten und wenig ausgiebigen Bewegung beant-
wortet.
Es ist schlieBlich noch zu erwahnen, daB der Schwellenwert fiir
Reize hier gegeniiber dem des Normalen stark erhoht ist, eine Tat-
sache, die schon immer als wesentlich fiir diese Zustandsbilder an-
gesehen wurde. Die Erhohung der Reizschwelle wird daraus geschlos-
sen, daB geringere Reize keine Reaktion auslosen. Worauf beruht
aber die Erhohung der Reizschwelle? Es kann diese zunachst durch
eine organische Stoning des Sinnesorgans bewirkt werden. Das ist
hier nicht der Fall. Dagegen kommt in Betracht ein erschwertes und
erst bei starkeren Reizen zustande kommendes Auftreten des BewuBt,-
seinsinhalts einer Empfindung und zweitens eine Erschwerung der
Auffassung des Reizes als Gegenstand. Beide Erlebnisse scheinen hier
in gleichera MaBe in ihrem Auftreten erschwert zu sein. Nun kann
dies aber nur auf Grund der Reaktion geschlossen werden, die in irgend-
welchen willkiirlichen oder unwillkiirlichen Bewegungen besteht. Diese
wiedenim sind abhiingig einmal von irgendwelchen Erlebnissen des
Wollens und zweitens von der Umsetzung — wenn ich einmal so sagen
darf — dieser in Handlungen. Sind nun die Willenserlebnisse und die
Umsetzung in Handlungen wie der Ablauf der Handlungen selbst
ebenfalls erschwert, so ist nicht zu entscheiden, ob tatsachlich eine
Erhohung der Reizschwelle vorliegt. Denn es kann das Auftreten
der Empfindung und des Geriehtetseins auf den Reiz, diejenigen Pro-
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
548
S. Fischer:
Digitized by
zesse also, die in unseren Fallen die Hohe der Schwellemverte bestim-
men, prompt ablaufen, die Reaktion darauf aber erst bei sehr starken
Reizen erfolgen. Es scheint mir aber, wenn man alle anderen Symptome
dieser Zustandsbilder in Betracht zieht, da 13 hier samtliche Teilprozesse,
also diejenigen, die den Schwellenwert bestimmen sowohl wie die
Reaktionsprozesse, in iltrem Ablauf erschwert sind. Nach dieser Be-
trachtung wird es auch wahrscheinlich, daB es sich in dem erstbeschrie-
benen Zustandsbild um einen fast bis zur volligen Aufhebung ver-
langsamten und erschwerten Ablauf der psychischen Prozesse handeln
diirfte. Mit absoluter GewiBheit laBt sich dariiber natiirlich nichts
aussagen, da derartige Kranke keinerlei Selbstbeobachtungen vorneh-
men konnen.
Warten wir bei dem langsam erwachenden Kranken eine Weile und
priifen wiederum seine Aufmerksamkeit, so sehen wir, daB auf den
akustischen Reiz des Klatschens eine langsame Drehung des Kopfes
erfolgt, auf den Lichtreiz ein langsames AugenschlieBen. Stechen wir
ihn mit der Nadel, so wendet er diesmal schon etwas rascher den Kopf
ab, hebt langsam die Hand und fahrt iiber die Stichstelle. Jetzt sieht
der Kranke spontan seine Hand an, und legt sie dann wieder hin. Wir
beriihren sein Ohr, und er hebt langsam den Kopf, fiihrt die Hand
zum Ohr und legt sie wieder hin. Wir fordern ihn auf, die Hand zu
geben, es erfolgt keine Reaktion. Aber der Kranke erblickt einen Fleck
an seinem Rock und streicbt langsam dariiber, dann iiber die Bett-
deckc und legt sich wieder miide und langsam hin. — Fur die Auffassungs-
klarheit werden wir in diesem Falle die zweite Beachtungsstufe an-
nehmen diirfen; die Lebhaftigkeit des Eindrucks ist sicherlieh groBer
als vorher. Ein Erfassen der Gegenstande als diese bestimmten wird
man kaum vermuten diirfen, wie sich aus den ratlosen und unzweck-
maBigen Handlungen ergibt. Also auch hier ist die Beachtungsstufe
eine niedere und damit die Auffassungsklarheit, und ebenso ist das
Erfassen der Gegenstande und das Inbeziehungsetzen zueinander schwer
geschadigt. Der Fleck am Rock wird vielleicht als etwas irgendwie
Auffallendes erkannt, aber nieht als ein so und so gearteter Gegenstand.
Ziehen wir noeh in Betracht, daB das sprachliche Verstandnis offenbar
noch vollig fehlt, so wird aus alledem ein fast volliges Daniederliegen
von Denkprozessen angenommen werden diirfen. t)ber die Willens-
tatigkeit des Kranken ist etwas Sicheres infolge der schlechten Auf-
fassung der Umwelt nieht auszusagen. Dazu kommt die auBerordent-
liche V T erlangsamung der Bewegungen. Ganz ausschlieBen wird man
aber Willenserlebnisse nieht diirfen. Das Anfassen des Ohres nach der
Beriihrung setzt einen Willensakt voraus, ebenso das Streichen iiber
den Fleck. Die UnzweckmaBigkeit der Handlungen erklart sich aus
der Herabsetzung der Auffassung und dem Daniederliegen der iibrigen
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Die sogcnannten BewuBtseinsstorungen.
549
Denkprozesse. Entsprechend diesen Storungen ist die Lebhaftigkeit
oder Eindringlichkeit der ausgeiibten Reize, die ja in den dureh sie
ausgelosten Reaktionen besteht, naturgemaB stark hera bgesetzt. —
Die Erhohung der Reizschwelle, soweit eine solche nach dem friiher
Gesagten angenommen werden darf, ist auf das erschwerte Auftreten
von Empfindungsinhalten und das erschwerte Auffassen des Gegen-
standes zu setzen.
A Is Hauptsymptom dieses Zustandsbildes ergibt sich also eine Er-
schwerung und Verlangsamung im Ablauf der Prozesse der Auffassung,
also der Aufmerksamkeit, und der Erfassung der Umwelt. Das sind
diejenigen Denkprozesse, liber die wir einiges erschlieBen konnen. Ist
das richtig, so wird man in der Annahme nicht fehl gehen, dali die
Erschwerung den Ablauf samtlicher Denkprozesse l)etrifft; denn es ist
kein Grund einzusehen, warum nur gewisse Denkprozesse betroffen
sein sollen. Ja, zieht man auch die Verlangsamung im Ablauf der Hand-
lungen in Betracht, so wird man behaupten diirfen, daB die Grund-
storung in einem erschwerten und verlangsamten Ablauf aller psychi-
schen Funktionen zu suchen ist.
Wird der Kranke allmahlich freier, so laBt sich feststellen, daB der
Kranke auf die dargebotene Hand langsam die Hand reicht, auf die
sprachliche Aufforderung jedoch, wenn wir ihm die Hand nicht gleich-
zeitig entgegenstrecken, noch nicht. Das Sprachverstandnis fehlt, wie
aus anderen an ihn gerichteten Fragen und Aufforderungen geschlossen
werden darf, ebenso die Spontansprache. Richten wir nach einer Weile
wieder die Aufforderung an ihn, die Hand zu reichen, so blickt uns
der Kranke an, betrachtet dann seine Hand, hebt sie auf, streckt den
Arm langsam aus, aber auf halbem Wege wird die Handlung unter-
brochen, er faBt die Bettdecke, legt die Hand darunter und legt sich
mude hin. Spontan spricht der Kranke nicht. Auf Schmerz- und
Lichtreize reagiert er in derselben Weise wie vorher, jedoch bewirkt
einmal schon eine geringere Reizstarke eine Reaktion, und diese ist
alsdann lebhafter als vorher. Der Schwellenwert fiir Reize ist allmah¬
lich gesunken. Die Auffassungsklarheit ist gestiegen.
Bei der Anwendung von Reizen, auch bei dem Darbieten der aus-
gestreckten Hand, wie spater bei der Befolgung der Auffordening, die
Hand zu reichen, wird man eine Entscheidung nicht leicht treffen
konnen, ob die als zweite oder dritte Beachtungsstufe gekennzeichnete
Auffassungsstufe vorliegt. Bei der zweiten Beachtungsstufe findet eine
Richtung auf den Gegenstand statt, man wendet sieh ihm zu, der Ge-
genstand wird bloB hervorgehoben; er erhalt eine gewisse Bedeutung
fiir den Betreffenden im Sinne des gedankenlosen Hinstarrens. Auf
dieser Stufe stehen offenbar noch die meisten Eindriicke fiir den
Kranken.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
550
S. Fischer:
Digitized by
Zum Verstandnis der sprachlichen Aufforderung wird man aber
die dritte Beachtungsstufe oder eine zwischen der zweiten und dritten
stehende annehmen raiissen. Bei dieser dritten Stufe ist es nach der
Westphalschen Einteilung erforderlich, daB das Gegenwartigsein zu
eineru Wissen geworden ist, und zwar zu einem unformulierten Wissen.
Die Schwierigkeit der Entscheidung ist hier insbesondere deswegen
groB, weil der Ablauf der psychischen Geschehnisse, und damit die
Auffassungsfahigkeit stark verlangsamt ist. Jedenfalls wird man
aber sagen diirfen, daB auch hier die Auffassungsklarheit noch auf
einer niederen Stufe steht. Der Grand hierfiir liegt in der Verlang-
samung und Erschwerang im Ablauf der Denkprozesse. Dementsprechend
ist auch das Erfassen der Umwelt, unabhangig von der Beachtungs-
stufe, geschadigt. — Die Willenshandlungen zeigen hier ebenfalls schon
einen Fortschritt; es wird auf optischen oder sprachlichen Reiz eine
zweckmaBige Handlung angesetzt, aber sie kommt noch nicht zur
Ausfiihrang. Ohne auf eine. spezielle Analyse einzugehen, diirfen wir
annehmen, daB der Impuls zur Ausfiihrang der Handlung nicht stark
genug war. Das kann einerseits an der geringen Starke des Impulses
liegen, oder aber dieser ist an sich stark, bei der allgemeinen Erschwe¬
rang des Ablaufs aller psychischen Vorgange aber in seiner Wirkung
nicht ausreichend zur Vollendung der Handlung.
Wenn man die determinierende Tendenz als wirksam fiir den Ab¬
lauf einer Handlung anerkennt, — unter dieser versteht Ach 1 ) die
Wirkung, die vom Vorstellungsinhalte, der Zielvorstellung, ausgeht und
eine Determinierung im Sinne oder geraaB der Bedeutung dieser Ziel¬
vorstellung nach sich zieht — wird man auch sagen konnen, daB diese
hier nicht ausreichend gewesen ist. Beziiglich der Sprache ist festzu-
stellen, daB das Sprachverstandnis elier auftritt als die Spontansprache,
eine Erscheinung, die parallel geht der Sprachentwicklung beim Kinde-
Andrerseits treten zweckmaBige Handlungen auf vor dera Auftreten
der Spontansprache, ebenfalls ein Parallelvorgang zu der geistigen
Entwicklung des Kindes.
Die Grundstorang liegt auch hier in der Erschwerang und Verlang-
samung der psychischen Prozesse. Daraus resultiert die Hohe der
Reizschwelle, die herabgesetzte Auffassungsklarheit, das erschwerte
und noch sehr unvollkommene Erfassen der Umwelt . Beim Willensablauf
zeigt sich eine ungeniigende Wirkung oder Starke der determinierenden
Tendenzen.
Sind schon in den bisher geschilderten Zustanden die einzelnen
Symptome nicht so streng an die verschiedenen Grade der Benommen-
heit gebunden, wie es zur besseren Orientierang dargestellt wurde, so
') X. Ach, Ohei die Willenst&tigkeit und das Denken. Gottingen 1905.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Die sogenannten BewuBtseinsstorungen.
551
trifft das noch in erhohtem MaBe fur die leichteren Grade zu, da bei
ihnen infolge der schon regeren Geistestatigkeit die Variation der Aus-
falle und der Erschwerung ira Ablauf der einzelnen psychischen Funk-
tionen eine grollere Mannigfaltigkeit ermoglicht. Aus diesem Grunde
soli die weitere Beschreibung sich nicht mehr an einzelne Zustands-
bilder halten, sondern es sollen nur einige wesentliche Symptorae heraus-
gehoben werden, die in mannigfacher Kombination den leichteren Be-
nommenheitsgraden zukommt.
Bei der Betrachtung der Auffassung hatten wir in den bisher be-
schriebenen Krankheitsbildern ein durch den EinfluB der Reize wech-
selndes Verhalten feststellen konnen, das jedoch bisher kaum bis zur
dritten Beachtungsstufe, also zu dem potentiellen Wissen, das eine
Benennungsmoglichkeit enthalt, gelangte. In dem Augenblick, wo
die Spontansprache wieder auftritt, kann auch dies erreicht werden.
Doch ist das durchaus nicht erforderlich. So kann man etwa beobach-
ten, daB ein Kranker auf Befragen seinen Namen und gegebenenfalls
auch seinen Vornamen angibt, Gegenstande aber, die ihm gezeigt
werden, nicht benennt, gar nichts mit ihnen anzufangen weiB, insbeson-
dere aber sie vollkommen unbeachtet liegen oder aus der Hand fallen
laBt. Wahrend das Nichtbenennenkonnen eine geringe Auffassungsklar-
heit noch nicht notwendig voraussetzt, andrerseits der Umstand, daB der
Kranke mit dem Gegenstande nichts anzufangen weiB, auch auf Kosten
der Erfassungsfahigkeit und nicht allein der Auffassungsklarheit
gesetzt zu werden braucht, glaube ich, daB das geringe MaB von Be-
achtung, das den Gegenstanden geschenkt wird, als Folge einer
niederen Beachtungsstufe angesprochen werden muB. — Allmahlich
zeigt sich auch hier eine immer steigende Auffassungsklarheit und
damit eine vollige Funktionsfahigkeit der Aufmerksamkeit. Diese
steigende Tatigkeit ist im wesentlichen bedingt durch den besseren
und erleichterten Ablauf der Denkprozesse, und parallel damit tritt
dann auch ein besseres Erfassen der auBeren Gegenstande ein.
Nun kann voriibergehend einmal die vierte Beachtungsstufe er¬
reicht werden, also ein aktuelles Wissen und ausdriicklichcs Konsta-
tieren eines Sachverhalts. Meist tritt die vollkommene Auffassungs¬
klarheit nur bei intensiveren auBeren Reizen ein, z. B. sprachlicher,
oder optischer und sprachlicher Art gleichzeitig, etwa wenn demKran-
ken ein Gegenstand gezeigt wird mit der Aufforderung, ihn zu benennen.
Das liegt wiederum an der noch immer bestehenden Heraufsetzung der
Reizschwelle. Ist der Reiz voriiber, so sinkt der Kranke wieder in seine
passive Haltung zuriick, ohne wesenthche Notiz von der AuBenwelt zu
nehmen. Es kommt wohl auch vor, daB ein Gegenstand fur Augen-
blicke mit voller Aufmerksamkeit bcachtet wird, auch wenn die In¬
tensity des Reizes nicht besonders groB ist. Aber bald bietet der
Digitized by Got.)gle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
552
S. Fischer:
Digitized by
Kranke wieder dasselbe Bild der Verlangsamung und Erschwerung
wie zuvor.
Wenn spater die Auffassung keine deutliche Erschwerung mehr
zeigt, und auch einzelne Gegenstande als so und so beschaffene erfaBt
werden, so werden doch Zusammenhange zwischen ihnen nicht iminer
hergestellt. Entweder ist der Kranke dann uberhaupt nicht orien-
tiert, d. h. er weiB nicht, wo er ist, oder aber er ist desorientiert.
d. h. er verkennt seine Umgebung. Wie ist dieser Zustand zu erklaren
Ein Mangel an Auffassungsklarheit wird bei der jetzt bestehenden
geringen Schacligung dieser Funktion kaum in Anspruch genommen
werden konnen; andere, hohere Denkprosesse des unterscheidenden
und beziehenden Denkens sind hier die Ursachen der Stoning. Die
Denkprozesse verlaufen hier offenbar noch nicht geordnet. Burake
spricht von einer Inkoharenz, die hier vorliegen soil. Wenn man an die
geringe Wirksamkeit der determinierenden Tendenz denkt, die vorhcr
bei den Willenshandlungen festgestellt wurde, so wird es m. E. be-
rechtigt sein, auch bier bei den Denkprozessen eine ungeniigende Wir-
kung dieser Tendenz in Anspruch zu nehmen. Diese Inhokarenz un-
terscheidet sich aber — ohne auf eine weitere Analyse einzugehen —
von der bei der Schizophrenic zu beobachtenden dadurch, daB hier
durch die Erschwerung des Denkablaufs und die absolut oder relativ
geringe Kraft der determinierenden Tendenz diese sich nicht durch -
zusetzen vermag, und demgemaB ein Inbeziehungsetzen, ein Denken
uberhaupt nur unvollkommen statthat. Beim schizophrenen Denken
dagegen werden wohl Beziehungen hergestellt, es wird also gedacht,
aber es werden nicht zusammengehorige Dinge in Beziehung gesetzt;
der Denkverlauf ist daher ungeordnet. Aus diesem unvollkomnienen
Denkablauf — wie ich ihn nennen mochte, und wie er bei den Be-
nommenheitszustanden vorliegt — resultiert nun ein unvollkommenes
Erfassen der Umwelt und damit die Nichtorientierung.
Aus dem erschwerten Denkablauf, zu dem ja auch die Aktuali-
sierung von Wissenskomplexen und von Vorstellungen gehort, erkliirt
sich andrerseits die Schwerbesinnlichkcit. Die determinierenden
Tendenzen treten zuriick und die Perseverationstendenzen mehr hervor
und damit auch das zuweilen zu beobachtende Symptom des Perse-
verierens.
Von einer ausgesprochenen Stimmungslage ist meist nicht viel zu
bemerken. Zum Teil liegt das an dem erschwerten Ablauf der Hand-
lungcn und der Ausdrucksbewegungen.
Cher die Willenshandlungen ist oben schon das Wesentliche gesagt.
Anscheinend qualitativ, tatsachlich aber nur quantitativ andert sieli
insofern etwas bei den leichteren Zust&nden als die determinierenden
Tendenzen in ihrer Wirkung starker werden, und der Ablauf der Hand-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Die sogenannten BewuBtseinsstorungen.
553
lungen besser und mit der Erleichterung im Ablauf aller psychischen
Prozesse schneller vor sich geht.
Die nach diesen Zustanden vorhandene Amnesie fur die Erleb-
nisse wahrend des Zustandes crklart sich groBtenteils aus der schlechten
Auffassungs- und Erfassungstatigkeit. —
Die Symptome dieser Zustandsbilder, die wir unter dem Ausdrucke
reine Benommenheitszustande vereinigen, erkliiren sich alle aus einer
Erschwerung und Verlangsamung des Ablaufs samtlicher psychischer
Funktionen. Die auffallendsten in die Erscheinung tretenden, aus
diesem Defekt resultierenden Storungen sind: die Erhohung der
Reizschwelle, Verlangsamung und Herabsetzung der Auffassungstatig-
keit und der Lebhaftigkeit von Eindriicken, Herabsetzung und Ver¬
langsamung der Willenstatigkeit und der Willenshandlungen. Aus der
Verlangsamung der Denkprozesse und der ungeniigenden Wirksamkeit
der determinierenden Tendenzen resultiert eine besondere Art der
Inkoharenz, dann die Schwerbesinnlichkeit. Die Heraufsetzung der
Reizschwelle beruht auf dem erschwerten Auftreten eines BewuBt-
seinsinhalts bei Reizung des Sinnesorgans und der erschwerten Auf-
fassungstatigkeit. Aus der herabgesetzten Auffassungsklarheit resultieit
die Unfahigkeit zur Orientierung. Infolge der genannten Symptome
machen alle diese Kranken den Eindruck der Miidigkeit, und zwar der
verschiedensten Grade; sie konnen das Bild leichtester Schlaftnmken-
heit bieten bis hinab zu dem Eindruck tiefsten Schlafes.
b) Trail mhafte Benommenheitszustande.
1st bei den reinen Benommenheitszustanden die Mannigfaltigkeit
der Zustandsbilder infolge der wechselnden Zusammensetzung der ein-
zelnen Symptome und ihrer Ausgepragtheit schon auBerordentlich
groB, so wachst die Zahl fast ins Unubersehbare bei den traumhaften
Benommenheitszustanden. Unter diesen verstehe ich solche, bei
denen neben der Benommenheit noch andere Symptome v r orhan-
den sind, die am verstandlichsten als delirose bezeichnet werden. Die
Mannigfaltigkeit dieser letzteren (einfaches und Zusammenhalluzinieren,
Verwirrtheit, motorische Unruhe, haufig Desorientierung, Walinideen
usw.) ergibt in ihren verschiedenenKombinationen mit denverschiedenen
Graden der Benommenheit Krankheitsbilder wechselvoller Art. Ver-
treter der hier in Frage stehenden Zustande sind die Delirien, die
Amentia — wobei die Frage, ob diese als Krankheitseinheit oder nur
als Zustandsbild aufzufassen ist, der Untersuchung entsprechend auBer
Betracht bleibt — und die meisten Dammerzustande. Alle diese Zu¬
stande kommen aber an dieser Stelle nur so weit in Frage, alsbeiihnen
gleichzeitig auch eine Benommenheit vorhanden ist.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
554
S. Fischer:
Digitized by
Zuweilen weisen die hierher gehorigen Krankheitsbilder nur einen
geringen Grad von Benoramenheit auf. Doch finden sich auch bei
schweren Benommenheitszustanden delirose Symptome. So etwa wenn
ein im iibrigen schwer komatoser Kranker dauernd und langsam meist
undeutlich artikulierte, abgerissene Worte vor sich hinspricht, mit den
Armen allerlei Bewegungen, etwa ausfahrende oder Greifbewegungen
ausfiihrt, die fast als pseudospontan imponieren. Diese motorische
Unnihe gehort nicht mehr zum Zustandsbild der reinen Benommenheit.
Ja sie widerspricht geradezu nach dem im vorigen Abschnitt Gesagten
der Symptomatologie dieser Zustandsbilder. Schon in diesem Falle
steht die wenn auch noch relativ geringe Lebhaftigkeit und Schnellig-
keit der Bewegungen im Gegensatz zu dem, wie wir vermuten diirfen,
langsaraen und insbesondere erschwerten Ablauf der tibrigen psychischen
Prozesse, vor allem der hoheren Funktionen. Trotzdem wird aber kein
Zweifel dariiber bestehen konnen, daB der Kranke benommen ist; denn
die Hbhe der Reizschwelle fiir auBere Reize, die vollig aufgehobene
Auffassungsfahigkeit, und das Daniederliegen der Willenstatigkeit und
der Willenshandlungen lassen keinen Zweifel aufkommen. Die mo¬
torische Unruhe ihrerseits kann bei einem solchen Daniederhegen des
geistigen Lebens kaum als AusfluB von Denk- und Willenserlebnissen
anzusprechen sein. Sie muB demnach entweder als physische Reiz-
erscheinung gedeutet werden oder aber als AusfluB einer lebhaften
Reaktion auf halluzinatorische Erlebnisse, die selbst die Erschwerung
im Ablauf der Willensprozesse iiberwindet, aber auch hier Ixn dem
Daniederliegen der intellektuellen Funktionen nicht zu zweckmaBigen
Handlungen fiihrt.
Es fragt sich, wie steht der Kranke dieser Trugwelt gegeniiber, und
zweitens, wie gelangt er, falls es iiberhaupt moglich ist, in dieobjektiv
reale Welt, und wie steht er dieser dann gegeniiber? Bei dieser Analyse
werden sich die Storungen der einzelnen psychischen Funktionen und
ihr Ineinandergreifen aufweisen lassen konnen.
t)ber die sinnliche Klarheit der hal luzi natorischen Erlebnisse,
also liber den Beachtungsgrad wird kaum etwas Sicheres auszusagen
sein. Soweit man berechtigt ist, aus katamnestischen Angaben dieser
Kranken auf die sinnliche Klarheit zu schlieBen, zeigen sich hier die
verschiedensten Grade. Doch wird man diese Aussagen mit Vorsicht
bewerten miissen. Das ist aber nicht von so wesentlichem Belang.
Vielmehr interessiert hier die Auffassungsklarheit, also die Beachtungs-
stufe und die Lebhaftigkeit der Reaktion. Beobachtet man solche
Kranke, wie sie in ilirer Trugwelt leben, wie sie zuweilen auf zwei oder
noch mehr Sinnesgebieten zusammenhalluzinieren, wie sie sich mit den
Stimmen unterhalten, oder fragt man sie liber ihre Trugwahrnehmun-
gen aus, und erfahrt auf diese Weise von ihren Erlebnissen, so wird
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Die sogenannten BewuBtseinsstorungen.
555
man keinen Zweifel hegen, daB hier eine vollkommene Auffassungs-
klarheit, also die vierte Beachtungsstufe vorliegt.
Verschiedenartig ist aber die Reaktion auf die Sinnestauschungen
im Gebiete des Gefiihls- und Willenslebens und die daraus entspringen-
den Handlungen. Die Lebhaftigkeit dieser Prozesse ist zunachst ab-
hangig von dem Grade der Benommenheit. Je starker die Benommen-
heit ist, desto geringer und langsamer werden, nach den Erorterungen
des vorigen Abschnitts, diese Reaktionen sein. Andrerseits aber ist
die Starke der Benommenheit nicht allein maBgebend fiir die motori-
schen Entladungen. Es ist das Eigentiimliche dieser Zustande, claB
hier relativ rasche und haufige Bewegungen ablaufen konnen, die bei
entsprechenden Graden reiner Benommenheit nicht vorkommen.
Inwieweit das Gefiihlsleben durch die Trugwahrnehmungen angeregt
wird, ist auBerdem von vielerlei anderen Faktoren abhangig, die fiir
gewohnlich im einzelnen gar nicht feststellbar sind. Von Zustanden
schwerster affektiver Erregung laBt sich die Skala bis zu der voll-
kommen ruhigen und sachlichen Betrachtung fiirchterlichster Szenen
verfolgen. So beobachtete ich eine Kranke, deren Benommenheits-
zustand relativ geringfiigig war, die wahrend des Erlebens der Trug¬
wahrnehmungen mit vollig sachhcher Ruhe, als ob sie all dies gar
nichts anginge, erzahlte, jetzt wiirde von zweiMannern, die sie aufs ge-
naueste beschrieb, ein Galgen aufgerichtet, und sie wiirde jetzt gleich
gehangt werden.
Aus dem Gesagten geht schon hervor, daB das Erfassen der ein¬
zelnen Trugbilder vollig intakt sein kann, dagegen bestehen offenbar auch
bei den geringsten Graden von Benommenheit Storungen im Herstellen
von Beziehungen zwischen den einzelnen Trugwahrnehmungen und der
Einordnung derselben in ein zusammenhangendes geordnetes Ganze.
Ganz anders verhalten sich aber die Kranken gegeniiber den ob-
jektiv realen Reizen der AuBenwelt. Der Schwellenwert der Reize
ist gegeniiber dem Normalen haufig erhoht, allerdings bei weitem
nicht so stark und nicht so regelmaBig wie bei der reinen Benommen¬
heit. Ja, genauere Untersuchungen haben bei einzelnen Zustanden fast
normale Werte ergeben (Bonhoffer). Zunachst muB festgestellt wer¬
den, daB wenn in diesen Zustanden ein erhohter Sch wellenwert vor-
handen ist, dieser auf zweierlei Ursachen beruhen kann. Einmal auf
der Benommenheit 1 ); claim aber ist zu beriicksichtigen, daB die hallu-
zinatorischen Erlebnisse den Kranken derart intensiv beschaftigen
konnen, daB andere Reize ein gewisse Starke erreichen miissen, um
ihn aus der Tmgwelt herauszureiBen. — Ist der Schwellenwert fiir
iiuBere Reize nicht erhoht, so wird man daraus noch nicht das Fehlen
x ) t)ber die Ursachen cier Reizschwellenerhohung bei den reinen lienom-
menheitszustanden siehe S. 547.
Archiv fiir Psychiatrie. Bd. 67. 37
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
556
S. Fischer:
Digitized by
jeder Benommenheit schlieBen konnen, auch wenn gleichzeitig mo-
torische Unruhe besteht. Hier kann nur die Priifung der Auffassungs-
klarheit und die Feststellung, ob eine Erschwerung der Denk- und
Widensprozesse vorhanden ist, vielleicht auch gleichzeitig die Fest¬
stellung eines schlaffen, miiden Gesichtsausdrucks usw. AufschluB
dariiber geben. Die Schwierigkeit solcher Feststellung erklart die von
verschiedenen Autoren geauBerte Ansicht, daB z. B. beira Alkoholdelir
keine BewuBtseinstrubung — nach unserer Nomenklatur Benommen¬
heit — vorliege.
Die Auffassungsklarheit fiir auBere Gegenstande kann ent-
sprechend dem Grade der Benommenheit alle Stufen durchlaufen.
Bei den meisten Zustanden, die fiir gewohnlich nur leichtere Benom-
menheitsgrade aufweisen, besteht infolgedessen auch nur eine leichte
Stoning derselben. Allerdings ist das nur der Fall fiir die Zeit, in der
die Kranken ihrer Trugwelt vollkommen entrissen sind. Solange sie
in dieser leben und die Aufmerksamkeit nur von Trugerlebnissen in
Anspruch genommen ist, ist es durchaus verstandlich, daB die Auf-
fassungsfahigkeit fiir auBere Gegenstande herabgesetzt und die Be-
achtungsstufe fiir diese Gegenstande eine niedere ist. Die Storung der
Aufmerksamkeit ist also in solchen Fallen sekund&rer Art.
Komplizierend tritt andrerseits in vielen Fallen eine auBerordent-
lich leichte Ablenkbarkeit der Kranken sowohl durch von auBen be-
dingte Wahrnehmungen wie durch halluzinatorische Erlebnisse hinzu.
Das Erfassen der Uimvelt und das Erfassen sowohl einzelner Gegen¬
stande wie groBerer Zusammenhange kann hier in ganz eigenartiger
Weise gestort sein. Je nach der Starke der Benommenheit besteht eine
Erschwerung des Erfassens der Gegenstande und der Umwelt, also
eine Erschwerung im Ablauf des unterscheidenden und beziehenden
Denkens. Infolge dieser Denkerschwerung kann, wie oben ausgefiihrt,
eine eigenartige Inkoharenz und dadurch verursachte Nichtorientie-
rung entstehen. Hier aber findet sich meist eine Desorientierung.
Und diese ist auf zweierlei zuriickzufiihren. Der Denkverlauf ist w'ohl
in gewisser Weise erschwert, aber haufig nicht so stark, daB man eine
starkere Inkoharenz und Nichtorientierung als Folge derselben an-
nehmen miiBte. Hier besteht vielmehr eine Inkoharenz im Denk¬
verlauf primarer Art, die derjenigen bei der schizophrenen Zerfahren-
heit durchaus gleich sein kann. Worauf psychologisch diese Art des
ungeordneten Denkens beruht, soli hier nicht naher erortert werden.
Es geniigt hier, darauf hinzuweisen, daB beim schizophrenen Denk¬
verlauf nach meiner Ansicht Storungen in der determinierten Komplex-
erganzung 1 ) vorliegen. Jedenfalls beruhtdieser nicht auf einer Ersch we-
l ) Vgl. dazu Otto Selz, Cbcr die Gesetze des geordneten Denkverlaufs.
Stuttgart 1913.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Die sogenannten BewuBtseinsstorungen.
557
rung im Ablauf der Denkprozesse und nicht gewissermaBen in einer
dynarnischen Schwache der determinierenden Tendenz, wie es bei der
reinen Benommenheit der Fall ist. Infolge der Denkstorung kdnnen
auch falsche Beziehungen zwischen den Gegenstanden der Uruwelt
hergestellt werden, und daraus dann eine Desorientierung resultieren,
im Gegensatz zu der Nichtorientierung bei den reinen Benommenheits-
zustanden, bei denen ein falsches Erfassen oder falsches Inbeziehung-
setzen selten vorkommt. Als zweites kommt bier in Betracht,
daB auch infolge der Trugwahrnehmungen und illusionaren Umdeutung
der realen AuBenwelt das Erfassen derselben schwere Storungen erleidet.
So kommt es zu einer Desorientierung.
Bemerkt sei noch, daB die Aufmerksamkeit sich ebenso wie bei den
reinen Benommenheitszustanden, hier jedoch zuweilen auch fur lan-
gere Zeit, den Gegenstanden der AuBenwelt vollkommen zuwenden
kann. In solchen Augenblicken gibt manchmal die Verlang;amung
der Bewegungen und wohl auch der Denkprozesse bzw. der sprach-
lichen AuBerungen Kunde von der Benommenheit; doch kann auch
von den Symptomen, die wir als charakteristisch fiir die Benommenheit
bezeichnet haben, nur wenig zu bemerken sein. Die Kranken fallen
jedoch meist bald wieder in ihre traumhafte Benommenheit zuriick
und ihre Aufmerksamkeit wird von den Trugwahrnehmungen in An-
spruch genommen. Dieser Wechsel kann sich haufig vollziehen, ins-
besondere, wenn starkere auBere Reize auf die Kranken einwirken.
Dber den Denkverlauf ist schon das Wichtigite gesagt worden.
Hinzuzufiigen ist noch, daB infolge der Inkoharenz naturgemaB auch
das Urteil und die Kritikfahigkeit der Kranken stark beeintrachtigt
sind. Selbst wenn die Inkoharenz in solchen Zustanden nicht sehr
ausgesprochen ist, so wird man, wie ich friiher 1 ) dargelegt habe, schon
aus der Tatsache der Halluzination wenigstens haufig eine Schwache
des Urteils herleiten diirfen.
Ganz entgegengesetzt zu den reinen Benommenheitsstorungen zeigt
das affektive Erleben, wie schon erwahnt wurde, meist sehr starke
Ausschlage, wenn nicht gerade die Benommenheit sehr starke Grade
aufweist. Ausgelost werden die Gefiihlsqualitaten bezeichnenderweise
fast ausschlieBlich von den Gegenstanden der Trugwahrnehmungen und
viel seltener von solchen der realen AuBenwelt. Man darf auch das
wohl als Symptom dafiir ansehen, daB die Erscheinungen der Trug-
welt meist •wesentlich eindringlicher und lebhafter sind als die der
realen Umgebung.
Das Willensleben und die daraus resultierenden Handlungen sind
naturgemaB sowohl von dem Grade der Benommenheit als auch von
*) Kritische Muatorung d. neuer. Theor. iib. d. Unterschied zwischen Emp-
findung und Vorstellung. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 64, S. 280.
37*
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
558
S. Fischer:
Digitized by
den vielfachen anderen psychischen Faktoren wie dem Ablauf der
Denkprozesse, der affektiven Erregbarkeit und den halluzinatorischen
Erlebnissen abhangig. Dazu kommt noch die motorische Unruhe.
Sehr selten findet sich eine Bewegungsarmut wie bei den meisten Zu-
standen reiner Benommenheit; im tibrigen aber kann die Schnellig-
keit der willkiir lichen Spontanbewegungen die gauze Skala durch-
laufen bis zur heftigsten Gewalttatigkeit. Darait ist nicht gesagt, daB
die Handlungen auch unter Beriicksichtigung der Trugwahrnehnaungen
iramer zwcckmaBig, also subjektiv sinnvoll, verlaufen miissen. Eine
UnzweckmaBigkeit von Handlungen wird auf das Konto der Inkoha-
renz zu setzen sein. Uber die eigentlichen Willensakte liiBt sich nur
so weit etwas aussagen, als aus den Handlungen zu ersehen ist.
Entsprechend der jeweiligen Hohe der Reizschwelle, der Auffas-
sungsfahigkeit und der jeweiligen Abweichung vom geordneten Denk¬
prozesse leidet das Sprach verstandnis, wahrend von der Verande-
rung des Denkverlaufs und der Willenstatigkeit die Spontansprache
abhangig ist. Zuweilen findet sich ein auBcrordentlich starker Rede¬
flu B, der auch formal geordnet sein kann.
Soweit eine Schwerbesinnlichkeit vorliegt, wird sie als Folge der
vorhandenen Benommenheit anzusehen sein. •—
Bei einem Riickblick fiber die Grundsymptome dieser wechselvollen
Bilder ergibt sich als notwendig zu ihrer Diagnose einmal das Vor-
handensein von den sogenannten delirosen Symptomen, und zweitens
ein, wenn auch noch so geringer Grad von Benommenheit. Allerdings
braucht hier die Verlangsamung aller Funktionen, insbesondere von
seiten des Motoriums nicht vorhanden zu sein. Was in solchen Fallen
die Benommenheit erkennen laBt, ist die Verlangsamung imd Erschwe-
rung im Ablauf der hoheren psychischen Funktionen, vor allem des
Denkens und damit der Auffassung und eine gewisse Schwerbesinn-
lichkeit. Selbst wenn man noch besonders den miiden Ausdruck —
der auch trotz der motorischen Unruhe meist vorhanden ist — beachtet,
wird es manchmal nicht leicht sein, das Bestehen einer Benommenheit
festzustellen oder auszuschlieBen. Das kann so weit gehen, daB eine
Differentialdiagnose gegeniiber einem katatonen Erregungszustand allein
aus dem Zustandsbild zuweilen unmoglich werden kann.
Je nach der Starke der Benommenheit besteht nach dem friiher
Gesagten eine Schwache der Auffassung und damit eine niedere Stufe
des GegenstandsbewuBtseins gegeniiber den Gegenstanden der Au Ben-
welt. Andere Storungen, wie die starke psychische Inanspruchnahme
der Kranken durch ihre Tmgwelt konnen, wie beschrieben, auch zeit-
weise eine schlechtere Auffassung der realen AuBenwelt bewirken. Die
anderen Storungen aber ha ben keinen EinfluB auf den Grad der Auf-
fassungsklarheit. Durch die Inkoharenz im Gedankenverlauf wird
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Die Hogenannten BewuBtseinsatorungen.
559
ferner das Erfassen der Umwelt, also das Herstellen von Beziehungen,
das Unterscheiden und Vergleichen nnd damit das Inbeziehungsetzen
beeintrachtigt und durch illusionare und halluzinatorische Erlebnisse
die Orientierung verfalscht.
2 . Zustiinde krankliafter Enge der Auffassungsffihigkcit oder
des GegenstandsbewuBtseins.
Wie in dem psychologischen Toil erortert wurde, besteht die Enge
der Aufmerksamkeit oder des GegenstandsbewuBtseins darin, daB
trotz der zahlreichen und mannigfaltigen Reize und Erregungen gleich-
zeitig nur innner eine beschrankte Anzahl aufgefaBt wird. Das gilt
sowohl fiir Reize oder Gegenstande physischer wie auch fiir solche
psychischer Natur. Als psychische Gegenstande sind dann BewuBtseins-
inhalte oder Erlebnisse anzusehen, zu deren (innerer) Wahrnehmung
die Fahigkeit ebenso vorhanden ist, wie fiir Gegenstande der realen
AuBenwelt. DaB diese Gegenstande nicht immer beachtet oder auf¬
gefaBt und damit Gegenstande des GegenstandsbewuBtseins werden,
liegt an der Enge des GegenstandsbewuBtseins. In normaler Breite noch
findet sich ein besonders hoher Grad dieses Phanomens, wenn man
etwa in Gedanken versunken Personen seiner Umgebung vollig iiber-
sieht und bekannte Personen auf der StraBe nicht ,,sieht“, obwohl
vielleicht der Blick auf sie gerichtet ist. Prinzipiell genau so liegen die
Verhaltnisse, wenn durch die intensive Beschaftigung mit einem Problem
vielleicht stundenlang andere Gedanken iiberhaupt nicht ,,aufkom-
men“, d. h. andere Sachverhalte nicht Gegenstand des Gegenstands¬
bewuBtseins werden.
Das krankhaft eingeengte GegenstandsbewuBtsein unterscbcidet
sich davon durch wesentliche Momente. Es fehlt in diesen Zustanden
die Fahigkeit einer Intention auf gewisse Sachverhalte oder Gegen¬
stande iiberhaupt. Wahrend beim Normalen durch einen mehr oder
weniger starken Reiz irgendeiner Art jederzeit andere Sachverhalte
intendiert und damit Wissensdispositionen und Vorstellungen aktuali-
siert werden konnen, ist die Fahigkeit dazu beim krankhaft eingeengten
GegenstandsbewuBtsein naeh bestimmten Richtungen hin gewisser-
maBen abgebrochen. Gegenstande, die sonst. wahrgenommen, vor-
gestellt oder gedacht werden konnen, werden nicht mehr aufgefaBt;
es ist, als existierten sie gar nicht. Deshalb werden auch sekundar
die entsprechenden Wahrnehmungserscheinungen, Vorstellungen, Ge¬
danken nicht zu Erlebnissen. Es handelt sich also bei den krankhaften
Zustanden nicht um eine Enge, die in der Beschrankung der gleich-
zeitigen Auffassung von einzelnen Reizen besteht, sondern hier ist
die Fahigkeit, bestimmte Gegenstande zu intendieren, nicht vorhan-
Digitized by Goe)gle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
560
S. Fischer:
Digitized by
den. Der Umfang der Auffassungsfahigkeit oder des Gegenstands-
bewuBtseins, d. h. also die Fahigkeit, eine bestimrate Anzahl von
Reizen gleichzeitig aufzufassen, braucht nicht geschadigt zu sein.
Innerhalb der uberhaupt intendierten Sachverhalte braucht die Auf-
fassung nicht gestort zu sein, und deraentsprechend werden auch die
Gegenstande auf der 3. oder 4. Beachtungsstufe aufgefaBt. Selbst-
verstandlich kann neben dem krankhafteingeengtenGegenstandsbewuBt-
sein noch eine Benommenheit bestehen, und damit werden dann die
Gegenstande, deren Auffassung liberhaupt moglich ist, langsaraer und
auf einer niederen Beachtungsstufe aufgefaBt.
III. fiber die Bedeutung des Ausdrucks BewuBtsein und die
Berechtigung des Ausdrucks BewuBtseinsstorungen.
Besteht nun die Berechtigung, Zustande, die die genannten Sym-
ptome bieten, als BewuBtseinsstorungen zu bezcichnen? Zur Entschei-
dung dieser Frage ist es erforderlich, den Begriff BewuBtsein zu klaren.
Der Ausdruck ,,BewuBtsein“ wird ira taglichen Leben sowohl wie in
der Psychologie in mehrfacher Absicht gebraucht. Die mehrfache Be¬
deutung geht schon aus den verschiedenen Redewendungen hervor.
Man spricht z. B. davon, daB einem etwas bewuBt sei im Sinne von
,,wissen um“ oder davon, daB etwas ins BewuBtsein trate, oder man
redet von bewuBtlos oder bei BewuBtsein sein. Andererseits sagt man
wohl auch von dem Subjekt, es sei bewuBt, etwa, es habe etwas be¬
wuBt getan. SchlieBlich spricht man auch von Dunkel-, Unter- und
UnbewuBtem oder von Graden oder Stufen des Bewu Btseins.
Der Ausdruck BewuBtsein 1 ) kann zunachst in der Bedeutung von
psychisch gebraucht werden; es wtirde dann BewuBtsein = Psychisches
und bewuBt = psychisch sein. Alles was den Charakter des Psychischen
tragt, ist in dieser Bedeutung des Wortes „bcwuBt“, ,,unbewuBt“ da-
gegen alles Nichtpsychische, also z. B. alle raateriellen Dinge. Etwas
UnbewuBt-Psychisches gibt es hier nicht, denn das hie lie etwas Nicht-
]>sychisches Psychisches. Grade dieses BewuBtsein kann es natiirlich
nicht geben, da das Psychische keine Grade hat, und etwas nur ent-
weder psychisch oder nichtpsychisch sein kaim. — Man kann ferner
unter BewuBtsein das Ich oder das psychische Subjekt verstehen,
sofern es eines Wissens um etwas fahig ist. ,,BewuBt“ ist in diesem
Sinn jedes psychische Subjekt, das ein Wissen um oder von etwas hat,
,,unbewuBt“ ist alles dasjenige, das nicht ein um etwas wissendes
psychisches Subjekt ist. Das BewuBtsein in diesem Sinn hat keine
*) Die nachstehende Unterscheidung schlieflt sich insbe3ondere an die „Lo-
gischen Untersuehungen 11 von Husserl an. V T on EinfluB sind auch gewesen die
Bemerkungen A. Pfanders in seiner Einleitung in die Psychologie.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Die sogenannten BewuBtseinsstorungen.
561
Grade, da das wissende Ich auch keine Grade hat. Auch bei der Rede
von Storungen des BewuBtseins kann nicht Bewu Btsein in diesem
Sinn gemeint sein, da hier nicht eine Storung des psychischen Sub-
jekts, sofern es eines Wissens um etwas fahig ist, gemeint ist, sondern
es soil damitvielmehr gesagt sein, daB Storungen von einer oder mehreren
psychischen Funktionen vorliegen, zu denen das Ich befahigt ist,
die aber nicht das psychische Subjekt selbst sind.
Der Bedeutung, in der der Ausdruck BewuBtsein in der Psychiatric
gebraucht wird, kommt naher eine Begriffsbestimmung, dio, das Be¬
wu Bt sein bestimmt als ,,den gesamten reellen phanomenologischen
Bestand des empirischen Ich, als die Verwebung der psychischen Er-
lebnisse in der Einheit des Erlebnisstromes" 1 ). Alle Erlebnisse sind in
diesem Sinn Inhalte innerhalb der Einheit der BewuBtseinsinhalte.
Alle Erlebnisse, die ich habe, alle Wahrnehmungserscheinungen, Vor-
stellungen, Gefiihle, Denkprozesse, Willensakte usw., die ich erlebe,
sind in diesem Sinne bewuBt; unbewuBt ist dann alles, was nicht Erlebnis
ist. Erlebnis kann aber nur etwas Psychisches sein. Die Farbe, der
Ton, der Himmel und die Erde sind in diesem Sinne nicht bewuBt,
denn sie sind nichts Psychisches. BewuBt in diesem Sinn sind nur die
Wahrnehmungserscheinungen; denn nur diese sind Bestandstiicke
im phanomenologisch einheitlichen BewuBtseinsstrom. Grade oder
Stufen dieses BewuBtseins kann es nicht geben, da etwas entweder
erlebt oder nicht erlebt ist; aber es kann etwas nicht mehr oder weniger
erlebt sein. Denn es handelt sich nicht etwa um die Intensitat. Es
muBte vielmehr, falls es Grade dieses BewuBtseins geben sollte, moglich
sein, daB ein BewuBtseinsbestandteil oder ein Erlebnis trotz betracht-
licher Intensitat und langer Dauer dem Nichterleben naher stiinde,
als etwa ein ganz schwacher und fluchtiger BewuBtseinsbestandteil.
Daraus folgt aber nicht, das sei hier nebenbei bemerkt, daB z. B.
Vorstellungen und Gedanken nur eben dann Vorstellungen und Ge-
danken sind, wenn sie erlebt werden; denn in dem Begriff etwa der
Vorstellung ist noch nicht enthalten, daB sie nur als erlebt existiert,
als unmittelbar gegenwartiges Erlebnis. Es ist prinzipiell denkbar,
daB es Vorstellungen gibt, die nicht in dem Erlebnisstrom vorhanden
sind. A priori also ist es kein Widerspruch, wenn von nicht erlebten
oder — in diesem Sinn von Bewu Btsein — von unbewuBten Vorstel¬
lungen gesprochen wird; doch das sind Fragen, die hier zunachst auBer
Betracht bleiben.
Storungen des BewuBtseins in diesem Sinn waren also Storungen
von Erlebnissen oder Storungen der Verwebung der psychischen Er¬
lebnisse in der Einheit des Erlebnisstromes. Das heiBt aber nichts
anderes, als jedes krankhafte, namlich gestorte psychische Geschehen,
Husserl, Logische Untersuchungen. II., 1913, S. 346.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
562
8. Fischer:
Digitized by
worunter alles fallt, was Gegenstand der Psychiatric bzw. Psycho-
pathologic ist. Man sieht, daB der Ausdruck Bewu Btsein in diesem
Sinn nicht geraeint sein kann, wenn man in der Psychiatric von Be¬
wu Btseinsstorungen spricht.
In einem vierten Sinne wird der Ausdruck Bewu Btsein in der
Bedeutung von Gegenstand-sbewuBtsein gebraucht. Die Feststellung
der Bedeutung dieses Wortes erfordert eine ausfiihrlichere Erorte-
rung. Sage ich, ich sehe eine Farbe oder hore einen Ton, so bin
ich auf, die Farbe oder den Ton als Gegenstand gerichtet, ich
ziele auf ihn ab, indent ich ihn zum Gegenstand meines Gegen-
standsbewuBtseins mache. In diesem Fall ist der Ton oder die
Farbe Gegenstand meines Gegenstandsbewu Btseins. Inhalt mei¬
nes Bew r u Btseins (im Sinne von Erlebnis) sind die Empfindungen
und die die Gegenstande auffassenden Akte. Das will sagen: die Gegen-
stande, auf die ich gerichtet bin, werden wahrgenommen, aber sie
werden nicht erlebt, denn eine Farbe, ein Ton ist kein Erlebnis. Deut-
licher noch wird es, wenn ich sage, das TintenfaB oder die Uhr sind
keine Erlebnisse; erlebt werden die Empfindungen und die Akte, das
Hinstreben oder Hinzielen, das Auffassen des Gegenstandes. Aber
diese Inhalte wiederum erscheinen nicht gegenstandlich, sie sind nicht
Gegenstand meines GegenstandsbewuBtseins. Bezeichnen wir alles das,
was Gegenstand des GegenstandsbewuBtseins ist, statt als bewuBt
als beachtet, bemerkt oder aufgefaBt, so wird der Unterschied klarer.
Die Erlebnisse, die Bestandteile meines Bewu Btseins sind, sind in
diesem Sinn nicht bewuBt, sie sind nicht beachtet oder bemerkt. Sie
konnen wohl Gegenstand meines GegenstandsbewuBtseins w r erden,
wenn ich sie mit Hilfe der ,,inneren Wahrnehmung“ oder Selbstbeob-
achtung zu Gegenstanden meines GegenstandsbewuBtseins mache;
aber fin gewohnlich ist das ja nicht der Fall. Wo sollte es auch hin-
fiihren, wenn wir alles das, was wir erleben, zum Gegenstand unserer
Betrachtung machen wiirden?
Gegenstand des GegenstandsbewuBtseins kann alles werden, Psy-
chisches sowohl wie Physisches, und zwar dadurch, daB das Subjekt
auf den Gegenstand gerichtet ist, daB eine Beziehung zu diesem Gegen-
stand hergestellt. wild. In dieser Bedeutung des Wortes Bewu Btsein,
w'ofiir jetzt immer Gegenstandsbewu Btsein gesagt werden soil, ist alles
das, worauf ich im Augenblick gerichtet bin, oder um mit Wundt
zu reden, was ich geradc jetzt apperzipiere, bewuBt; unbewuBt oder
nicht Gegenstand meines GegenstandsbewuBtseins ist alles das, was
ich in diesem Augenblicke nicht beachte oder bemerke 1 ).
J ) Der Ausdruck, etwas zum Gegenstand seines GegenstandsbewuBtseins
machen, wird zuweilen in einer weiteren Bedeutung gebraucht, als es hier ge-
schieht. Man versteht dann nicht nur die Tatsache der Auffassung oder Beach-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Die sogenannten Be wuBtseinsstorungen.
563
Wir werden hier auch Grade oder Stufen des GegenstandsbewuBt-
seins erwarten diirfen; denn es kann ein Gegenstand melir oder we-
niger beachtet oder bemerkt werden.
Wenn ich sage, etwas ist Gegenstand des GegenstandsbewuBtseins,
so besagt das noch mehr, als daB ich Empfindungsinhalte habe; es
treten hier noch Erlebnisse liinzu, die erst be wir ken, daB der Gegen¬
stand fur mich zum Gegenstand wird. Diese Erlebnisse nennt Hus¬
serl ,,Akte“, Biihler ,,Gedanken“, Stumpf ,,Funktionen“; man
kann dafur auch Beziehungen sagen. Man sieht schon, daB es sich
bei dieser Bedeutung des Wortes BewuBtsein um etwas handelt, was
bei den Benommenheitszustanden verandert ist. Es ist namlich das
GegenstandsbewuBtsein nichts anderes als die Aufmerksamkeit oder
die Auffassungsprozesse. Und die Grade des GegenstandsbewuBtseins
sind identisch mit den Beachtungsstufen Westphals.
Sprechen wir also von GegenstandsbewuBtsein, so ist damit ein
Querschnitt gemeint, und zwar durch alle Akte oder Beziehungen, die
ich in einem Augenblick auf Gegenstande richte oder zu ihnen her-
stelle, ein Querschnitt also, der nicht den ganzen Erlebnisstrom oder
das gesamte BewuBtsein trifft, sondern nur einen Teil, namlich die die
Auffassung konstituierenden Prozesse. Das BewuBtsein dagegen ist ein
flieBender Zusammenhang, der zusammenhangende Verlauf der Er¬
lebnisse.
Es sei noch bemerkt, daB ein prinzipieller Unterschied zwischen
dem Beachten eines physischen Gegenstandes gegeniiber dem eines
psychischen nicht besteht. Nennen wir, w r enn auch ungenau, die eine
Tatigkeit die auBere, die andere die innere Wahrnehmung, so ist jedes-
mal wohl die Art der Wahrnehmung verschieden, namlich das eine
Mai mit Hilfe der Sinnesorgane, das andere Mai mit Hilfe der Selbst-
beobachtung; aber die Art des Auffassens, die Art des Bemerkens,
die Beziehung, die zu dem Gegenstand hergestellt wird, ist jedenfalls
dieselbe, und zwar ein auf den Gegenstand Hinzielen, ein Beachten
des Gegenstandes, sei er nun physisch oder psychisch. — SchlieBlich
ist es fiir das GegenstandsbewuBtsein auch gleichgiiltig, ob ich den
gemeinten Gegenstand wahrnehme oder vorstelle; in beiden Fallen
tung darunter, sondern auch dasErfassen des Gegenstandes als eben diesen, oder
auch die Wertung des Gegenstandes oder das Aufihnhinstreben. Ich meine, daB
in der Redewendung, einen Gegenstand zum Objekt seines GegenstandsbewuBt¬
seins machen, das Erfassen dieses Gegenstandes als eben diesen schon in dem
Wort Gegenstand ausgedriickt ist. Wenn andererseits ein Objekt, das Gegenstand
des GegenstandsbewuBtseins ist, etwa gewertet oder erstrebt wird, ist es durch-
aus nicht erforderlich, daB es auch erfaBt ist. Notwendige Voraussetzung dafur
ist aber, daB es beachtet oder bemerkt ist. Deshalb hat es die gleiche Bedeutung,
wenn ich sage, etwas ist Gegenstand meines GegenstandsbewuBtseins, oder ich
beachte etwas oder fasse es au f .
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
564
8. Fischer:
Digitized by
kann das GegenstandsbewuBtsein in gleicher Weise Stufen aufweisen.
— Von einer Landschaft, die ich betrachte, beobachte ich etwa einen
vor mir liegenden Hiigel und richte mein Augenmerk weniger auf einen
seitlich gelegenen Wald. Beide Gegenstande sind aufgefaBt und Gegen¬
stande meines GegenstandsbewuBtseins, jedoch der Hiigel auf einer
hoheren Stufe als der Wald. Stelle ich spater diese Landschaft in der
Erinnerung vor, so ist der Gegenstand meines Gegenstandsbewu Btseins
nicht die Vorstellung, ebensowenig wie bei der Wahrnehmung die
Wahrnehmungserscheinung, sondern der intentionale Gegenstand ist
derselbe Gegenstand w’ie bei der Wahrnehmung. Und in der Erinne¬
rung oder Vorstellung kann ich ebenfalls auf den Hiigel mehr gerichtet
sein als auf den Wald. Die BewuBtseinsinhalte mdgen bei der Wahr¬
nehmung und der Vorstellung verschieden sein — das ist hier gleicb-
giiltig; die Gegenstande sind es nicht. Solange diese Landschaft nicht
irgendwie wahrgenommen oder vorgestellt wird, ist sie nicht Gegenstand
meines GegenstandsbewuBtseins, also in diesem Sinn unbewuBt oder
nicht gegenstandsbewu Bt.
Was fiir die Vorstellung gilt, gilt in derselben Weise fiir Gedanken-
gange oder sogenannte ,,Komplexe“. Es sei etwa an einern bestimmten
Orte ein mir unliebsames Ereignis geschehen, und nun drangt sich die
Erinnerung an den Ort und dieses Ereignis ,,in mein BewuBtsein", d. h.
der Ort und der Sachverhalt werden Gegenstand meines Gegenstands¬
bewuBtseins. Wird nun, w r ie man zu sagen pflegt, dieser Komplex
,,verdrangt“, so ist der Sachverhalt und der Ort nicht mehr Gegenstand
meines GegenstandsbewuBtseins, und daher denke ich diesen Gedanken
nicht mehr und erlebe nicht mehr die Vorstellung des Ortes und den
Gedanken an den Sachverhalt. Aber nicht das Denken dieses Gedan-
kens verdrange ich, d. h. das Erlebnis dieses Denkejis als Teilinhalt
meines BewuBtseins — denn davon weiB ich ja gar nichts oder brauche
da von gar nichts zu wissen—, sondern der Gedanke an den Sach¬
verhalt, d. h. der Akt oder die Intention, das Gerichtetsein auf diesen
oder die Beziehung zu diesem Gegenstand oder diesem Sachverhalt
werden verdrangt, und damit schwindet auch das Denken dieses Ge-
dankens als Teilinhalt des Erlebnisstromes, meines BewuBtseins, also
als BewuBtseinsinhalt aus meinem BewuBtsein. —
Es erscheint mir wichtig, hier kurz die Frage des UnbewuBten zu
beleuchten.
Das UnbewuBte im Gegensatz zu dem BewuBten im Sinne von
Erlebtem oder Erlebnis in der Einheit des Erlebnisstromes enthalt
keinen logischen Widerspruch. DaB es etwas Derartiges gibt, lehrt das
Erleben und Vergessen von Vorstellungen und Gedanken, von denen
ich als erlebt durch die Selbstbeobachtung weiB, d. h. dadurch, daB
ich sie zu Gegenstanden des GegenstandsbewuBtseins raache, oder sie
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Die sogenannten BewuBtseinsstorungen.
565
auffasse. Zur Erklarung des Kommens und Gehens dieser Erlebnisse,
das ich durch die Selbstbeobachtung nachweisen kann, bedarf es einer
Hypothese. Als die einfachste fiir den Psychologen ist diejenige an-
zusehen, daB es eben auch unbewuBte Vorstelhingen und Gedanken
gibt, also solche, die jetzt nicht erlebt werden und infolgedessen nicht
zu Gegenstanden des GegenstandsbewuBtseins gemacht werden konnen.
Ob dieses UnbewuBte nur physisch oder psychisch existiert, geht den
Psychologen und Psychiater nichts an. Das auszumachen, ist Sache
der Metaphysik. Fiir den Psychologen ist es jedenfalls die einfachste
und beste Arbeitshypothese. Wohlgemerkt, es handelt sich hier nur
um das UnbewuBte ira Gegensatz zu dem BewuBten = Eriebten oder
Erlebnis.
Ganz anders liegt der psychologische Tatbestand bei dem Unbe-
wuBten als gewissermaBen dem Nullpunkt der Stufen des Gegenstands¬
bewuBtseins. Ist der Gegenstand nicht einmal in der Weise der ersten
Beachtungsstufe gegeben, so ist er iiberhaupt nicht gegenstandsbewuBt.
Das heiBt psychologisch, auch nicht die allergeringste Beziehung wird
zu dem Gegenstand hergestellt oder gedacht. In diesem Sinne fasse
ich, wahrend ich dies schreibe, nichts von all den Dingen auf, die hinter
rair liegen. Dasselbe trifft in gleicher Weise fiir Gegenstande zu, die
mit Hilfe der Selbstbeobachtung aufgefaBt werden. Alles das, was
ich in diesem Augenblicke nicht auffasse, auch nicht auf der niedersten
Stufe, sei es psychischer oder physischer Natur, ist in diesem Sinne
fiir mich „unbewuBt“. So ist also unbewuBt im Sinne von nicht gegen¬
standsbewuBt fiir mich etwa das Denken eines Gedankens, solange
ich ihn nicht zuin Gegenstand meines GegenstandsbewuBtseins
mache 1 ). —
Nachdem nunmehr der Begriff BewuBtsein bestimmt ist, wird es
moglich sein, die Frage zu beantworten, ob die Benommenheitszustande
bzw. die Zustiinde krankhaft eingeengter Aufmerksamkeit mit Recht
als BewuBtseinsstorungen zu bezeichnen sind.
Von den vier festgestellten Bedeutungen des Ausdrucks BewuBtsein
kommen iiberhaupt nur die an dritter und vierter Stelle genannten in
Betracht. Wenn BewuBtsein gleichgesetzt wird dem gesamten reellen
phanomenologischen Bestand des empirischen Ich, der Verwebung der
psychischen Erlebnisse in der Einheit des Erlebnisstromes, so sind, wie
schon oben ausgefiihrt, als Storungen des BewoiBtseins, also als Sto-
rungen der Gesamtheit der Erlebnisse alle psychischen Storungen an-
') Durch die Auseinanderhaltung dieser beiden Bedeutungen des Unbe-
wuBten hatte meines Erachtens in der Kontroverse Bleuler-Bumke-Kretsch-
raer (Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 46, 53 u. w.) manches MiBverstand-
nis vermieden werden konnen.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
566
S. Fischer:
Digitized by
zusehen; denn sie sind ja alle Storungen der Erlebnisse. Dieser Begriff
ist also zu weit 1 ).
Wie steht es nun mit der Bedeutung des Ausdrucks BewuBtsein im
Sinne von GegenstandsbewuBtsein ? — Als Kardinalstorung der reinen
Benommenheitszustande batten wir eine Erschwerung und Verlang-
samung im Ablauf der psychischen Funktionen festgestellt. Das Auf-
falligste durch diese Veranderung bedingte Symptom ist die Storung
der Aufmerksamkeit oder der Auffassung odor des GegenstandsbewuBt-
seins. Man konnte also hier wohl von einer Storung des Gegenstands¬
bewu Btseins sprechen; aber das Symptomenbild ist darnit nicht genii-
gend charakterisiert. Audi der Ausdruck xriibungen des Gegenstands¬
bewu Btseins, so vcrlockend er sein mag, scheint mir aus denselben
Griinden nicht passend. Dazu kommt noch, daB damit ein Bild hinein-
getragen wird, das den tatsachlichen Verhaltnissen nicht gerecht wild.
Ich glaube, daB der Name reine Benommenheitszustande die Sympto-
menbilder am besten kennzeichnet. Es hat dieser Name gleichzeitig
den Vorteil, daB der leicht irrefiihrende Ausdruck BewuBtsein ver-
mieden wird.
Dasselbe gilt fur die Zustande, die oben unter dem Namen traum-
hafte Benommenheitszustande beschrieben wurden. Dasjenige, was
diese Zustandsbilder von den reinen Benommenheitszustanden unter-
scheidet, ist das Hinzutreten der delirosen Symptome. Diese Tatsache
scheint mir durch das Adjektiv traumhaft gut charakterisiert zu sein,
da hier der Kranke ebenso wie der Normale im Traum zeitweilig in
einer Traum welt lebt, aus der er zuweilen erweckt werden kann oder
von selbst erwacht, um dann wieder in seine Traum welt zu versinken.—
Es sei noch einem Einwande entgegengetreten, der vielleicht er-
hoben werden konnte. Die Ansicht der fuhrenden Psychologen geht
heute dahin, daB in der Einheit des Erlebnisstroms die Einheit durch
das Miterleben des Ich in jedem Einzelerlebnis gewahrleistet wird.
Wenn nun behauptet wird, daB bei den Benommenheitszustanden das
Erlebnis dieses Ich oder die Beziehung des Ich auf die Gegenstande ge-
stort ist, und diese Zustande durch diese Grundstorung charakterisiert
seien, so ist dazu folgendes zu sagen. Es ist zugegeben, daB in jedem
Erlebnis das Ich irgendwie miterlebt wird; selbst bei gespanntester
Aufmerksamkeit, wenn jernand erst wieder ,,zu sich kommen muB“,
wird dieser Ichzug irgendwie im Erlebnis enthalten sein. Aber die
Behauptung, es sei in jeder psychischen Wirklichkeit immer ein psy-
chisches Subjekt oder Ich vorhanden, besagt durchaus nicht, daB in
') Xur in einem einzigen Falle, namlich bei der sog. BewuBtlosigkeit, ware
dieser Begriff zutreffend, da in diesem Zustand mit Wahrscheinlichkeit iiber-
haupt keine Erlebnisse oder Bewu(3tseinsinhalte erlebt werden.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Die sogenannten BewuBtseinsstorungen.
567
der psychischen Wirklichkeit immer ein Wissen um das eigene Ich
vorhanden sei, daB das Ich Gegenstand des GegenstandsbewuBtseins
sei (Pf ander). In jedem Erlebnis des Benommenen ist das Ich natiirlich
auch vorhanden und miterlebt. Es liegt auch nicht der geringste An-
laB vor, das zu bezweifeln. Nur die Beziehung auf die Gegenstande
wird in gewisser "Weise anders erlebt als beim Normalen, indem diese
Kranken die Umwelt nicht mit vollkommener Aufraerksamkeit auf-
fassen. Es liegt hier eben das vor, was wir als Stoning des Gegen¬
standsbewuBtseins bezeichnet haben. Aber darum ist die Einheit
des Erlebnisstromes in keiner Weise gestort. In dem Erlebnis, in dem
ich einen Gegenstand auf der ersten Beachtungsstufe etwa auffasse,
ist das Ich ebenso, zuweilen vielleicht noch lebhafter miterlebt, als da,
wo ich mit gespanntester Aufmerksamkeit. einer Handlung folge und
„mich selbst dariiber vergesse“. -—
SchlieBlich sei noch bemerkt, daB die Zustande, die als krankhafte
Enge der Aufmerksamkeit oder Auffassungsfahigkeit bezeichnet wur-
den, mit gleichem Rechte auch als Zustande krankhafter Enge des
GegenstandsbewuBtseins genannt werden diirfen. Es ist jedoch nicht
berechtigt, diese Symptomenbilder als solche krankhaft eingeengten
BewuBtseins zu bezeichnen; denn hier ist nur das GcgenstandsbcwuBt-
sein eingeengt, nicht aber andere psychische Funktionen oder Erleb-
nisse. Der Ausdruck krankhaft eingeengtes BewuBtsein wiirde also
einen zu weiten Begriff bezeichnen.
IV.
Zusaiiunenfassung.
1. Von den verschiedenen Bedeutungen des Ausdrucks BewuBtsein
haben sich als wichtig fur die Betrachtung ergeben:
A. BewuBtsein = gesamter reeller phanomenologischer Bestand des
empirischen Ich.
In diesem Sinne sind bewuBt alle Erlebnisse, d. h. bewuBt
ist gleich erlebt.
B. BewuBtsein = GegenstandsbewuBtsein.
In diesem Sinne ist alles das, was von mir beaehtet wird, mir
,,bewuBt“ oder besser von mir aufgefaBt, oder die von mir be-
achteten Dinge sind Gegenstand meines GegenstandsbewuBtseins.
2. Da Gegenstande mehr oder weniger beaehtet werden konnen, lassen
sich mit E. W T estphal 4 Beachtungsstufen oder Stufen des Gegen-
standsbewuBtseins u nterscheiden.
3. Bei den bisher mit dem Narnen BewuBtseinsstorungen bezeichneten
Zustanden werden zwei Gruppen unterschieden:
A. Die Benommenheitszustande.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Digitized by
568 S. Fischer: Die sogenannten BewuBtseinsstorungen.
Diese werden ihrerseits eingeteilt in
a) Reine Benommenheitszustande.
1)) Traumhafte Benommenheitszustande.
Die reinen Benommenheitszustande sind charakterisiert durch
eine Erschwerung und Verlangsamung im Ablauf der psychischen
Funktionen. Am augenfalligsten macht sich diese Veranderung
in einer Storung der Auffassung der Umwelt bemerkbar, also in
einer Storung des Gegenstandsbewu Btseins.
Die traumhaften Benommenheitszustande sind durch dieselben
Merkmale charakterisiert, allerdings treten hierzu noch ,,delirose“
Symptome (motor. Unruhe, Halluzinationen usw.), die in man-
nigfaltigster. Kombination mit den verschiedenen Graden der Er¬
schwerung und Verlangsamung im Ablauf des Seelenlebens die
verschiedensten Zustandsbilder hervorrufen.
B. Die Zustande krankhafter Enge der Auffassungsfahigkeit oder
des Gegenstandsbewu Btseins,
die dadurch charakterisiert sind, daB bestimmte Gegenstande
iiberhaupt nicht aufgefaBt, also nicht zu Gegenstanden des Ge¬
genstandsbewu Btseins gemacht werden konnen.
4. Der Ausdruck BewuBtseinsstorungen fur die unter 3 genannten
Symptomenbilder ist nicht treffend, da, wenn der Ausdruck Be-
wuBtsein in der ersten Bedeutung gemeint ist, unter dieser Bezeich-
nung dann alle Zustande krankhaften Seelenlebens iiberhaupt ver-
standen werden miiBten.
Soli in dem Wort BewuBtseinsstorungen BewuBtsein gleichbedeu-
tend mit Gegenstandsbewu Btsein sein, so ist bei den Benommen-
heitszustanden mit dieser Bezeichnung zwar ein wichtiges Symptom
herausgehoben, jedoch das Symptomenbild nicht geniigend charak¬
terisiert.
Bei den Zustiinden krankhafter Enge der Auffassungsfahigkeit
liegt eine krankhafte Enge des Gegenstandsbewu Btseins und nicht
des Bewai Btseins vor.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(Aus den Nervenheilanstalten der Stadt Frankfurt a. M.
[Dircktor Dr. Max Meyer].)
Kretschmers psycho-physische Typen und die Rassenfornien
in Deutschland.
Von
Dr. Ludwig Stern-Piper,
1. Assistenzarzt.
Mit 4 Textabbildungen.
(Eingegangen am 25. November 1922.)
Die erste Aufstellung eines Konstitutionstypus in der Medizin ge-
schah — von den pathologischen Sondertypen der Blutdriisenforschung
sehen wir hierbei vollig ab — durch Stiller mit dem Habitus asthenicus.
Stiller bewertete diesen jedoch als einen krankhaften; er sprach ja
auch direkt von einem Morbus asthenicus, also von einer Krankheit,
bzw. einer Gruppe von Krankheiten, die sich auf dem Boden dieser
Korperanlage entwickeln sollten.
Die Franzosen haben nun verschiedene Konstitutionstypen unter-
schieden. Sigaud und seine Schuler Chaillou und Macliff waren es,
die vier Korperbautypen in die Biologie einfuhrtcn. Sie stellten den Type
respiratoire, digestif, musculaire, cerebral, wie auch die Mischformen
dieser verschiedenen Korperbauformen auf. Viola unterschied einen
Habitus megalosplanchnicus oder apoplecticus, der sich mit dem Type
digestif der vorher genannten Autoren decken durfte, und einen Habitus
mikrosplanchnicus oder phtisicus, der mit dem Habitus asthenicus
Stillers identisch sein und mit dem Type cerebral Chaillous und Madiffs
groCe Ahnlichkeit haben durfte. Kretschmer kritisierte die Aufstellung
der Korperbautypen der Franzosen hauptsachlich wegen ihrer Bezeich-
nungen, da diese nach seiner Ansicht in zu naiver Weise eine Verbin-
dung des Korperbaues mit der besonderen Veranlagung eines Organes
bzw\ einer Organgruppe und deren Funktionen hervorhoben. Trotz-
dem rauB man der Aufstellung dieser Typen Berechtigung zuerkennen.
Kretschmer selber hat nun neuerdings in seinem ,,Korperbau und Cha-
rakter“ drei Konstitutionstypen unterschieden, die er, und das ist das
wesentlieh Neue daran, als psycho-physische Typen, d.h., als Formen,
die gesetzmaBige Beziehungen zwischen ihrem Korperbau und ihrer
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
570
L. Stern-Piper: Kretschmers psycho-physische Tvpen
Digitized by
psychischen Veranlagung zeigen, aufgefaBt wissen will. Die Idee, daB
sich in den anBeren Formen des Korpers die seelische Veranlagung
widerspiegele, ist ja gchon sehr alt, wurzelt tief im Volksglauben und
wird instinktiv bei der Bewertung eines jeden Menschen, besonders beirn
Kennenlernen eines neuen, zur Grundlage genonmien. Hierauf baute
sich ja auch die alte Physiognomik Galls und Lavaters auf, die sich aber
einseitig auf Schadel und Gesicht beschrankte, und zwar in der Haupt-
sache auf ersteren, und die in zu kleinlicher und differenzierter Weise
Beziehungen zwischen den verschiedensten seelischen Eigenschaften
und korperlichen Merkinalen am Schadel vermutete. Mobius erkannte
in neuerer Zeit den berechtigten Kern in dieser Physiognomik an und
er versuchte, einiges daraus, so Galls ,,mathematisches Organ 1 ', zu retten.
Vor kurzem glaubte Bauschenberger aus der Bildung der Nase bestimmte
charakterologische Schliisse ziehen zu kbnnen. Kretschmer faBt nun diese
Beziehungen viel weiter, er zieht den ganzcn Korperbau heran und
sucht Korrelationen zwischen den allgemeinen Kbrperbauformen und
seelischen Reaktionsarten aufzustellen, ohne sich dabei auf einzelne
Merkmale am Schadel zu beschranken, die doch nur als eine Art Lokali-
sation der seelischen Eigenschaften im Sinne der alten Physiognomik
aufgefaBt werden konnten.
Kretschmer unterscheidet nun folgende Typen: den pyknischen, der
dem zirkularen Irresein entspricht, ferner den asthenischen und athle-
tischen, die er bei Schizophrenen und Schizoiden gefunden hat. Da-
neben stellt er noch verschiedene kleinere Gmppen auf, die er als
dysplastische Spezialtypen zusammenfaBt, und die grobere Unterschiede
von der Norm im Sinne dysglandularer Storungen aufweisen. Letztere
sind daher wohl als pathologische Formen zu bezeichnen. Der asthe-
nische Typus K.s beriihrt sich mit dem von interner Seite aufgestellten,
wie ihn letzthin besonders eingehend J. Bauer in seinem Buclie geschil-
dert hat. Der pyknische Typus ahnelt dem aLs Arthritiker- oder Apo-
plektikertypus l)eschriebenen. Bei dem athletischen Typus handelt
es sich, wie der Name sagt, um einen Menschen von kraftigem Knochen-
und Muskelbau, breit ausladenden Schultern, langen Extremitaten,
derbem, hohem Kopf und einer nach unten sich etwas verjungenden
Rumpfform.
Stiller Viola Siqaud u. s. Sch. Kretschmer Bauer
I. H. asthenicus = H. phtisicus = T. cerebral- — T. asthenicus
respiratoire
II. H. apoplecticus= T. digestif = T. pyknicus = H. arthriticus
III. T. musculaire= T. athleticus
Die vorstehende Tafel zeigt, daB zwischen den einzelnen Konsti-
tutionsformen viele Parallelen bestehen, ja, daB sie sich alle weitgehend
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
und die Rassenformen in Deutschland.
571
aufeinander zuriickfiihren lassen. Die Kretschmer schen Typen sind
dabei die am besten charakterisierten.
Bevor wir uns eingehender mit den Typen Kretschmer's beschaftigen,
wollen wir zuerst unsere Auffassung des Konstitutionsbegriffes darlegen.
Wir verstehen unter Konstitution mit Siemens und Pfaundler den ge-
samten Phanotypus, d. h. alles, was bei einem Menschen in Erscheinung
tritt. Die Konstitution umfaBt also die anatomisch-anthropologische
Struktur wie auch die physisch-psychische Reaktionsweise. Der Phano¬
typus setzt sich aus dem Ererbten, dem Genotypus, und dem vom Zeit-
punkt der Befruchtung an Erworbenen zusammen. Kretschmer schrankt
mit Kahn den Begriff der Konstitution nach meiner Ansicht zu sehr ein;
die Konstitution ist beiden Autoren namlich nur gleich dem Ererbten,
dem Genotypus. Es ist wohl klar, daB das Ererbte eine viel groBere
Bedeutung fiir die Konstitution hat und fur sie eine hervorragendere
Rolle spielen muB, als das im Laufe der individuellen Entwicklung Er-
worbene. Wenn wir so viele gleiche Konstitutionsformen sehen, so ist
es doch beinahe selbstverstandlich, daB diese Gleichheit in der Haupt-
sache durch gleiche ererbte Anlagen bedingt sein muB und daB die vom
Zeitpunkt der Befruchtung an wirkenden Bedingungen lange nicht
so viel sich Gleichendes erzeugen werden. Das Ererbte zerfallt
ruin wieder in das rassenmaBig in der Ahnenreihe sich standig Fort-
vererbende und in die einmal in der Vorfahrenreihe entstandenen idioki-
netischen, d. h. Keim-Variationen. Letztere sind nun, nach Tierexperi-
menten und -Beobachtungen zu schlieBen, recht selten (Beobachtungen
Morgans an Drosophila). Wir kennen wohl einige, iibrigens noch teil-
weise umstrittene Faktoren, die in dieser Hinsicht wirken, wie Gifte,
so z. B. den Alkohol, ferner die Rontgenstrahlen. Nun werden ja wohl
bei den zivilisierten Menschenrassen mehr Keimvariationen auftreten,
als aus den vorliegenden Tier beobachtungen zu schlieBen ist, am wich-
tigsten aber ist es, daB sie bei ihnen nicht ausgemerzt werden, sondern
sich weiter erhalten und, moglicherweise durch Kontraselektion, weiter
verbreiten konnen. In der Bedeutung fur die Vererbung wird es ihnen
jedoch keinesfalLs moglich sein, die Rassenbestandteile zu uberwuchern,
ja wohl auch nicht, ihrten gleichzukommen. Wir unterscheiden darnach
eine allgemeine Rassenkonstkution und spezielle individuelle konstitu-
tionelle Varianten otler kurz individuelle Konstitutionsformen.
Kretschmer faBt seine Typen rein biologisch, ohne ein Werturteil
auf. Sie haben nach ihm wohl Beziehungen zur Pathologie im Sinne
einer Anlage, sind abcr an und fur sich nicht als krankhaft zu deuten,
da ihre Trager keineswegs unbedingt krank zu werden brauclien. Die
verschiedenen Korperbautypen Kretschmers sollen nun dem manisch-
depressiven, oder von ihm kurz genannt zirkularen, IiTesein und der
Schizophrenie entsprechen. Aber Kretschmer geht dann noch weiter:
Archiv ftir Paychiatrie. Bd. 07. 38
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
572
L. Stern-Piper: Kretschmers psycho-physische Typen
Digitized by
Er zeigt an der Hand der Durchforschung der Familien der Kranken
wie unter Zerlegung ihrer psychischen Eigensehaften und Zuriick-
fiihrung derselben auf normal-charakterologische Grundformen und
ferner unter Heranziehung ubernormaler, sog. genialer Personlichkeiten,
daB sowohl charakterologisch wie erbbiologisch Beziehungen zwischen
seinen aus pathologischem Material gewonnenen Typen und den Norma -
len bestehen, so daB wir es hier letzten Endes einfach mit Bestandteilen
unserer Bevolkerung iiberhaupt zu tun flatten.
Als ich die Abbildung 2 in K .s Buch 1 ), die einen asthenischen Tvp
darstellt, sah, gewann ich den Eindruck, daB dies ein gut ausgepragter
Rassentypus sei, und ich stellte mir daher die Frage, ob nicht die A.schen
Typen, zum mindesten teilweise, auf Rassenformen zuruckzufiihren
waren. Dies schien mir dann auch der Fall zu sein.
Es ist nun notwendig, dab wir vorerst eine ganz kurze Ubersicht
von den fur uns in Deutschland hauptsachlich in Betracht kommenden
Rassen geben. Zuerst die nordische Rasse: ihr Hauptsitz ist, wie der
Name sagt, in den nordischen Landern, also in Skandinavien und Eng¬
land, ferner in Mitteleuropa bis zu den Alpen hin. In den reinsten
Formen handelt es sich dabei um groB gewachsene, mit langen Glied-
maBen versehene, blondhaarige, blauaugige, w r eiBhautige Menschen mit
langem Schadel und langem Gesicht. Fernerhin die alpine Rasse: sie
sitzt am dichtesten in den Alpenlandern und Mittelfrankreich. Von da
aus strahlt sie, wenn auch stark gemischt, weiter nach Norden bis iiber
Mitteldeutschland, ferner nach Siiden bis Mittelitalien und auch nach
Osten und Siidosten aus. Der Homo alpinus ist ungcfahr mittelgroB,
hat dunkelbraune Haar- und Augenfarbe, die Statur ist etwas gedrun-
gen, das Gesicht breit und der Schadel kurz. Zum SchluB noch, wenn
auch am wenigsten in Betracht kommend, die dinarische Rasse: sie
besiedelt am starksten die Balkanlander und zieht von da aus ostlich
bzw. sudostlich nach Kleinasien und nordwestlich iiber Steiermark
und Tirol nach Slid- und wohl auch nach Mitteldeutschland. Mein
Anthropologielehrer, Prof. Eugen Fischer in Freiburg, dessen Unter-
weisung ich sehr vieles verdanke und dessen anthropologischen An-
schauungen ich in meinen Ausfiihrungen w r eitgehend folge, hat in seinen
Vorlesungen darauf hingewiesen, daB in Siidbaden die sog. Hotzen-
walder, die sich auch in politisch-kultureller Hinsicht. von ihrer Urn-
gebung friiher abgesondert verhalten haben, eine ziemlich geschlossene
Gruppe von dinarischen Rassevertretern darstellen. Ich selber habe
im Felde unter Siidbadenern sehr gute dinarische Menschen angetroffen.
__ •
’) Die Hinweise auf die Abbildungen in Kretschmers Buch gelten sowobl fiir
die 1., wie auch fiir die 2. Auflage. Fiir die vorliegende Arbeit benutzt wurde
nur die 1. Auflage, die zweite weist jedoch, wie ich mich nachtriiglich iiber/eugt
habe, keine grundlegenden Anderungen auf.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
und die Rassenformen in Deutschland.
573
Die dinarische Rasse ist groC, hat einen derben Korperbau, was sieh
besonders an der Gesichtsmodellierung zeigt, Haar und Augcn sind
dunkelbraun, die Nase ist groB und gebogen, der Schiidel sehr kurz
mit gerader Hinterhauptlinie, das Gesicht ausgesprochen lang.
Vorerst noch einiges iiber die Methode Kretschmers. AuBer der
somatoskopischen Beschreibung hat er in seinem Buche auch die Mes-
sung und bildliehe Darstellung angewandt. Nun sind gegen seine
Messungen, wie die Art der Verwertung seiner MaBzahlen, vom anthro-
pologischen Standpunkte aus weitgehende Bedenken zu erheben. Dies
hat der Anthropologe Scheidt auch vor kurzem getan. Ganz abgesehen
davon, daB K. sieh eine eigene Art der Messung gewahlt hat, sind
auch inehrere alte MaBe, die sieh als bewahrt eingeburgert haben,
falsch angegeben, so z. B. einige am Kopfe. Wir kommen hierauf gleich
noch zu sprechen. Scheidt hat recht, wenn er die alleinige Ver¬
wertung und Mitteilung der Mittelwerte aus den Zahlenreihen, die
z. T. wie bei den athletischen Formen nur wenige Nummern aufweisen,
bemangelt. Ich mochte hinzufiigen, daB man iiber die Variationsbreite
der einzelnen GroBen absolut kein Bild gewinnt bei der A.schen Methode,
im besonderen auch nicht iiber die Haufigkeitsquote der einzelnen
ZahlengroBen innerhalb der Variationsbreite; dies hatte sieh durcli
Mitteilung von Kurven vermeiden lassen. Besonders betonen miissen
wir hier noch, daB wir in K.h Angaben iiber die Kopfformen Zweifel
setzen miissen, da, abgesehen davon, daB er iiberhaupt keine Indices,
also keine zahlenmaBige Formulierung dafiir gibt, die fiir die Kopfform
in Betracht kommenden MaBe in seinem Konstitutionsschema falsch
angegeben sind, so sein sagittaler Kopfdurchmesser, der der Kopflange,
und sein frontaler, der der Kopfbreite entspricht. Ich kann mich daher
in den folgenden Darlegungen nicht auf die MaBzahlen K .s stiitzen,
sondern muB mich nach seiner Beschreibung und den Bildbeigaben
richten. Was nun die Beschreibung nach somatoskopischen Merk-
malen betrifft, so wolltc K. ja gewiB keine anthropologisch vblligexakte
Schilderung geben, sondern nur das mitteilen, was ihm zur Charakteri-
sierung seiner Korperbauformen wichtig erschien. So fehlcn die fiir
anthropologische Untersuchungen so wichtigen Angaben iiber die
Pigmentverhaltnisse, also die Haut-, Haar- und Augenfarbe. K. macht
nur einmal die kurze Anmerkung, daB er iiber die „biologische Be-
deutung“ der Haarfarbe nichts Eindeutiges habe feststellen kormen.
Trotz alledem rauB aber zugegeben werden, daB K. seine Typen, die
er mit intuitivem Blick erkannte, scharf umrissen hat, so daB sie deut-
lich faBbar erscheinen.
Wie K. bei seinem Material von konstitutionellen Legierungen
spricht, so diirfen auch wir keine reinen Rassentypen erwarten, und
um so mehr miissen wir Rassenkreuzungen annehmen, da K. ja seine
38*
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
574
L. Stern-Piper: Kretschmers psycho-physische Typen
Digitized by
Untersuchungen an dem schwabischen Volksstamm angestellt hat und
in Siiddeutschland noch eine starkere Rassenmischung wie z. B. in
Norddeutschland anzutreffen ist. Imraerhin aber diirfte doch hinsicht-
lich der Korperbauformen, worauf es hier besonders ankommt, bei den
meisten Fallen ein phanotypiach starkeres Durchschlagen einer Rassen
komponente festzustellen und es daher auch moglich sein, die JGschen
Typen mit dem angegebenen Vorbehalt rassen m a Big zu klassifizieren.
Auch miissen wir bedenken, daB K. seine Typen, selbst wenn er sie
nachher auf Gesunde ubertrug, aus einem Material von Schizophrenen
und Zirkularen unter Beriicksichtigung der einschlagigen Psychopathen
gewonnen hat, so daB wir mancheZuge rein pathologischer Natur, teils
durch die Anlage, teils mit durch den ProzeB bedingt, bei ihnen finden
werden. Wenn Beringer und Diise.r die Forderung aufstellen, daB die
Untersuchung ihr Augenmerk auch auf den vor Einsetzung der Erkran-
kung bestehenden Habitus, bzw. seine dadurch bewirkte Anderung
richten miisse, so liegt dem wohl ebenfalls dieser Gesichtspunkt zugrunde.
Die rassenmaBige Bedeutung dieser Merkmale kommt daher nicht in
Betracht. Aus diesen, wie den friiher angegebenen Griinden beziiglich
der Methodik der X.schen Arbeit, wie der starken Rassenmischungen
speziell in Siiddeutschland diirfte auch die Klassifizierung jedes ein-
zelnen von K. angegebenen Merkmals nicht moglich sein, und es er-
scheint uns daher zu geniigen, wenn wir die Identifikation der iGschen
Formen als Rassentypen nach den Hauptlinien, dem zugrunde liegenden
Bauplan und etwaigen als besonders pragnant anzusprechenden Merk-
malen vornehmen konnen. Wir befinden uns hier iibrigens mit K. in
Dbereinstimmung, der in seinem Buche sagt, daB in der Korperbau-
lehre die allgemeine diagnostische Regel gelte, ,,nicht das Einzelsymptom
zu pressen, sondern immer den Blick auf das Gesamtbild zu richten*'.
Bei der Ubertragung seiner Typen auf Gesunde scheint unsX. auch nicht
daran festhalten zu wollen, daB sich bei diesen gesunden Personlich-
keiten auch alle die einzelnen kleinen, von ihm bei den Kranken fest-
gestellten besonderen Bildungen finden, was auch a priori nicht wahr-
scheinlich ist. Es kommt ja hier nur auf den gemeinsamen GnindriB,
die allgemeinen biologischen Formen an.
Wir gehen nun im folgenden die einzelnen A”.schen Typen auf ihre
Rassenzugehorigkeit hin durch. Da bei betrachten w r ir hauptsachlich
die Manner, weil bei ihnen die Formen, besonders hinsichtlich der Rasse,
reiner zum Ausdnick kommen. K. hat die Manner bei der Beschrei-
bung seiner Typen ja auch weit mehr in Betracht gezogen, ihnen einen
groBeren Raum und viel mehr Abbildungen in seinem Buche gewidmet.
Was den asthenischen Typus anbelangt, so hat K. diese schon
friiher aufgestellte Konstitutionsform sehr erweitert, insbesondere da-
durch, daB er das Gesicht mit in den Bereich seiner Untersuc.hungen
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
und die Rassenformen in Deutschland.
575
gezogen hat, und gerade dadurch ist eine Rassenvergleichung moglieh.
Wir sehen in dem X.schen Astheniker einen Menschen, an dem alles
schmal ist, Schultern, Arrae, Beine und Brustkorb. Diese Schmalheit
als solche ist natiirlich nur als individuell-konstitutionelles Moment zu
bewerten. Es kommt auf die Cesamtform und die Bedeutung, die diese
Eigenschaft des Spitzen, Schmalen, nicht in die Breite Gehenden darin
einnimmt, an. Wir wollen dabei hervorheben, daB wir bei jeder Rasse
zwei verschiedene Typen unterscheiden, und zwar einen feineren und
einen derberen, groberen, die beide um die Mitteliage herum variieren
Abb. 1 1 ). Xordische Rasse,
asthenischer Typus.
und sich von dieser mehr oder
weniger weit entfernen. Nun scheint
mir der A.sche Asthenikertypus Be-
ziehungen zu dem feineren Schlage
der nordischen Rasse aufzuweisen.
Abb. 2. Xordische Rasse, Mittel-
typus. (Der Korperbau neigt nach
der asthenischen Seite hin, wah-
rend der Kopf durch seinen derb-
kriiftigen Knochenbau Anklange an
den athletischen Typus aufweist.)
Ein Merkmal der nordischen Rasse
ist ihre bedeutende KorpergroBe — im Mittel 1,73 m — nebst langen
Die abgebildeten Personen entstammen einer Reihe von mir nach anthro-
pologischen Methoden untersuchten nordischen und alpinen Menschen, die bei
darauf hinzielender Priifung auch die hauptsfichlichsten Korperbaunierkmale
Kretschmers im Sinne der Ausfulirungen dieser Arbeit aufwiesen.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
576
L. Stern-Piper: Kretschmers psycho-physische Typen
Digitized by
GliedmaBen. Nach J. Bauer sind die Astheniker hochgewachsen, haben
lange Extremitaten und einen langen, schmalen Brustkorb. Nach K.
sind sie nicht so sehr groB, sondern erscheinen nur groBer als sie sind.
Er gibt allerdings als Durchschnitt der KorpergroBe bei Mannern
168,4 cm an, also eine, anthropologisch gesprochen, schon recht erheb-
liche GroBe. Es ware nun wichtig zu wissen, auf welche Lebensalter
das A.sche Material sich verteilt, ob es sich dabei hauptsachlich um
schon ausgewachsene Individuen handelt, um so mehr, als sehr viele
der Abbildungen asthenischer Typen mannlich-jugendliche Personen zei-
gen. Zu einer genauen Beurteilung miiBte auch eine kurvenmaBige Dar-
stellung der KorpergroBe gefordert werden. K. erwahnt nun ferner an
einer anderen Stelle ausdriicklich das haufigere Vorkommen von ge-
steigertem Langenwachstum bei den Asthenikern. Je groBer iibrigens
ein Astheniker ist, desto reiner kommt der allgemein asthenische Habitus
bei ihm zum Vorschein und desto ausgesprochener gleicht er dem nordi-
schen Rassentypus. Die nordische Rasse besitzt allerdings im allgemeinen
breite Schultern und einen wohl langen, aber gut gewolbten Brustkorb.
Bei den Asthenikern sind beide jedoch schmal bzw. flach. Jedoch
habe ich gefunden, daB je feiner der nordische Typus ist, desto feiner
und schmaler gebaut auch diese Teile bei ihm sind, so daB es sich bei
den Asthenikern hier nur um extreme konstitutionelle Abarten dieser
Tendenz zu handeln scheint. Auch sagt K., daB seine Astheniker
sehr gerne Varianten und Vermischungen mit dem athletischen Typus
zeigten, so daB sogar ein Mitteltypus von sehnig-schlanker Figur mit
Schwankungen ,,nach der grazil mageren oder mehr nach der kraftig
muskulosen Seite hin“ entstehen konne. Diese Angabe laBt nun schon
deutlicher den nordischen Menschen vor unseren Augen erstehen.
Was den mangelnden Fettansatz betrifft, so ist wohl die geringere oder
starkere Fettausbildung beim Menschen bzw. die Neigung dazu mehr
eine individuelle konstitutionelle Funktion, jedoch scheint mir, daB auch
in dieser Hinsicht die Rassen verschieden veranlagt sind. So diirfte
die alpine Rasse mehr zum Fettansatz, und zwar am Bauch, hinneigen
als die nordische und im besonderen als die mediterrane, die die Kiisten
des Mittelmeeres bewohnt. Auch innerhalb des Volkes der Juden scheint
mir zwischen den beiden groBen Rassenkomponenten, aus denen sich
dieses Volk zusammensetzt, eine Verschiedenheit in der Anlage zur
Fettleibigkeit zu bestehen, und zwar ist diese bei dem armenoiden
Bestandteile der Juden weit starker vorhanden als bei dem orientali-
schen 1 ). Es besteht wohl auch eine Korrelation zwischen Korper-
groBe und Disposition zur Fettausbildung am Stamm insofern, als je
J ) Nachtraglich finde ich, daB auch Lenz Rassenunterschiede bei der konsti-
tutionellen Fettleibigkeit und Magerkeit annimmt.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
und die Rassenformen in Deutschland.
577
kleiner ein Mensch, bzw. eine Rasse ist, er, bzw. sie desto mehr zum
Fettansatz neigt. Im allgemeinen ist also naeh meinem Dafiirhalten
die nordische Rasse nicht sonderlich zum Fettansatz veranlagt, vollends
nicht ibr feinerer Typus. DaB letzterer eine zarte Entwicklung des
Knochen- und Muskelsystems besitzt, wodurch das Bild des Schlanken
entsteht, diirfte sich ja von selber verstehen. Beim Astheniker scheint
dies nur im UbermaB vorhanden zu sein.
Betrachten wir also die allgemeine Wachstumstendenz sowohl des
gesamten Korpers wie seiner einzelnen Teile, so finden wir bei dem
Astheniker wie bei dem feineren Typus der nordischen Rasse den Zug
ins Lange, Spitze, Schlanke und ebenso ist dies auch bei dem Schadel
der Fall. Der nordische Mensch hat einen langen Schadel, er ist dolicho-
cephal. Nun betont J. Bauer auch ausdriicklich die Dolichocephalic des
asthenischen Typus. K. will dies an seinem Material nicht bestatigt
gefunden haben, wir konnen aber seine Angaben in dieser Hinsicht,
wie auch die iiber die Kiirze, Niedrigkeit und mittlere Breite des Kopfes,
wobei er iibrigens auch mit absoluten MaBzahlen arbeitet, aus metho-
dischen Griinden, die wir schon oben angegeben haben, nicht verwerten.
I m iibrigen findet sich die Dolichocephahe in Siiddeutschland ebenso
wie die besondere KorpergroBe, die beide miteinander in Korrelation
stehen, bei sonst als nordisch anzusprechenden Individuen seltener als
in Norddeutschland. Man will ja auch festgcstellt haben, daB bei uns
in Deutschland die Langkopfigkeit immer mehr abnimmt, eine Tat-
sache, die manche, wie Wollmann und seine Anhanger als ein Ausster-
ben der nordischen Rasse bei uns deuten wollten und die Virchow
friiher mit der steigenden Intelligenz in Zusammenhang zu bringen
suchte, da nach seiner Ansicht die Rund- und Kurzkopfe intelligenter
seien. Es diirfte sich hier aber doch wohl um das Verdrangen und wahr-
scheinlich auch allmahliche Verschwinden eines Rassenmerkmales
handeln. Aus dem Angegebenen geht hervor, daB wir dieses Merkmal
bei suddeutschem Material nicht so hoch bewerten diirfen. Das vor-
springende Hinterhaupt des nordischen Schadels fand K. bei seinen
Asthenikern wohl nicht am haufigsten, ,,aber auch nicht selten“. Bei
der Abbildung 2 seines Buches, die wohl die fur den Astheniker typischste
ist, findet sich ein, wenn auch nicht weit vorspringendes, so doch sehr
gut gewolbtes Hinterhaupt, dabei scheint es sich eher um einen Lang-,
als um einen Breitschadel zu handeln, ohne dies nach der Photographic
entscheiden zu wollen. Der von K. angegebene geringe Schadelumfang
konnte mit der Feinheit des Typus zusammenhangen. K. beschaftigt
sich entsprechend seinen Ansichten, daB der ,,Gesichtsbau die psycho-
motorische Formel eines Menschen“ konzentriert darstelle, besonders
ausfuhrlich mit diesem. Und gerade hier ist eine Zuriickfuhrung des
konstitutionellen auf den Rassentypus in einzelnen sehr charakteristi-
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
578
L. Stern-Piper: Kretschmers psycho-phvsische Typen
Digitized by
schen Merkmalen moglich. Zuerst erwahncn wir an dieser Stelle die
Langgesichtigkeit sowohl des Asthenikers wie des nordisehen Men-
schen. Auf K. s Abbildungen komrat sie auch gut zum Ausdruck, so
hauptsachlich auf Abbildung 2, abgeschwachter auf Abbildung 1 und
auch auf Figur 16. K. gibt auch im Text an, dab er ,,ausgepragte
Langgesichter mit hohem Mittelgesicht“ offers beobachtete. Seine sog.
verkiirzte Eiform des Gesichtes diirfte eine dysplastische Abart des
Langgesichtes sein, wie ja auch die Abbildung 8, die diese demonstrieren
soli, einen ausgesprochenen Dysplastiker darstellt. Besonders typisch
findet K. ,,das MiBverhaltnis zwischen gesteigerter Nasenlange und
Hypoplasie des Unterkiefers“. Dadurch konnne ein besonders charak-
teristisches Profil zustande, das er als Winkelprofil l>ezeichnet. Er
spricht dabei von dem ,,alles beherrschenden Nasenriicken“, wie er
iiberhaupt die Nase ,,diinn, scharf und lang“ mit nicht gestiilpter, son-
dern etwas gezogener Spitze findet, den Nasenriicken gerade odergebogen.
Hier haben wir nun ein Hauptcharakteristikum der Nasenform des
nordisehen Menschen vor uns: scharf vorspringend, diinn, spitz, lang,
mit leichtem Hocker versehen oder gerade, bzw. leicht gebogen. K.
legt groBen Wert auf diese von ihm gekennzeichnete Nasenform, spricht
er doch davon, daB bei Auftreten sehr langer Nasen sich in anders-
artigen Psychosen Anklange an die Schizophrenic, wie auch in der
Verwandtschaft Falle von Schizophrenic und schizothyme Personlich-
keiten finden lieBen. Durch diese Nasenform scheint mir in erster Linie
K .s Winkelprofil hervorgerufen zu sein. Und es ist sehr bezeichnend,
daB K. als pragnante bildliche Darstellung dafiir den ProfilumriB des
Menzelschen Bildes des alten Fritz heranzieht, eines Schulbeipiels
eines nordisehen Gesichtes mit einer au Berordcntlich typischen nor-
dischen Nase. Hier komrat das Winkelprofil nur durch die scharf
vorspringende spitze Nase zustande. Von einer Hypoplasie des Unter-
kiefers ist hierbei nichts zu bemerken. Durch letztere soli nach K.
ein Zuriickspringen des Kinns hervorgerufen werden. Nun bietet der
Schizophrene und angeboren Schwachsinnige, den K. in seiner Ab¬
bildung 7 als Beispiel dafiir anfiihrt, und dessen Frontalansicht auf
Abbildung 8 die verkiirzte Eiform des Gesichtes demonstrieren soli, eine
solche Haufung von dysplastischen Merkmalen dar, Asymmetrie, kleiner,
stark miBbildeter Schadel, weitabstehende Ohren, vorstehende Unter-
lippe, dazu handelt es sich bei ihm noch uni einen angeboren Schwach-
sinnigen, so daB der zuriickfliehende Unterkiefer, w'odureh im Profil
eine Art Vogelgesicht erscheint, hier als rein dysplastisches Merkmal
gedeutet werden muB und dieser Kranke wohl nicht als Charakteristi-
kum der ganz<>n Gruppe angesehen werden diirfte. Die anderen in dem
Buch abgebildeten Asthenikertypen zeigen iibrigens nicht den zuriick-
springenden Unterkiefer. K. erwahnt auch seller, daB es nicht immer
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
und die Rassenformen in Deutschland.
579
zu dem letzteren karae, daB die Kinnhohe nicht stets erniedrigt zu sein
brauchte und die Unterkieferhypoplasie im Profil dann nicht in Erschei-
nung trate. Allerdings findet man ofters bei der nordischen Rasse eine
Variation der Kinnform, indem dieses weniger nach vorne als nach hinten
und auch nach unten springt; im Profil entsteht dadurch ein Zurlick-
fliehen des Unterkiefers, dabei sind aber Kinn wie Unterkiefer gut aus-
gebildet, so daB von einer Unterkieferhypoplasie nicht gesprochen wer-
den kann. Ein Beispiel hierfiir fiihre ich in Abb. 3 an, die einen gut
charakterisierten nordischen Rassevertreter aus dem Rheinland dar-
stellt. Die von K. angcfuhrte Schmalheit des Unterkiefers konnte z. T.
mit der Feinheit zu bewertenden
desTypusalssol-
chem zusammen-
hangen—eshan-
delt sich ja hier
um die feineren
nordischen Ras-
seformen—, z.T.
ein dysplasti-
sches Merkmal
darstellen. In
den Abbildungen
der Astheniker
finde ich, wie
schon angege-
ben,mit Ausnah-
me des einen
Falles das Kinn
sehr gut ausge-
bildet, ja es
springt sogar,
wie auf Abb. 2,
die wir immer als
sehr typisch her-
anziehen, und
auch auf Abb. 1
scharf und mar-
kant vor, wie es
bei der nordi¬
schen Rasse der
Fall ist.
Ich mochte
hier auch noch
stark dysplasti- Abb. 3. auf ein Merkmal
schen, besonders der nordischen
Rasse hinweisen, das sich bei A'.s Asthenikergesichtern, ohne daB er es
erwahnt hat, im Gegensatz zu denen der Pykniker ausgepragt findet
— auf Abb. 1 ist es besonders deutlich zu sehen —, namlich die etwas
zuriickliegenden Wangen. An einer spateren Stelle schreibt K.\ ,,Die
Gesichter hochwertiger Schizothymer aus gut gezuchteten Familien
wirken durch ihren sehr pragnanten Skelettbau, ihren bizarren Profil-
winkel, ihre scharfen, hervorspringenden Nasen oder die vornehme
Ruhe eines langgezogenen blassen Gesichts“ — hier haben wir eine
gute Beschreibung des Gesichtes der edleren Vertreter der nordischen
Rasse vor uns, und dieser Schilderung konnen wir in ihrer Pragnanz
kaum ein Wort mehr hinzufiigen. K .s Angaben fiber die Behaarung
der Astheniker konnen rassenanthropologisch nicht verwertet werden,
sondern nur von dem Standpunkt des speziell Konstitutionellen und
Dysplastischen aus. Ahnlich verhalt es sich mit der Hautbeschaffenheit.
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
580
L. Stern-Piper: Kretschmers psycho-physische Typen
Digitized by
Die geringe Rotung des Gesichtes der Schizophrenen diirfte iibrigens
auch durch den schizophrenen KrankheitsprozeB als solchen bedingt
sein, wissen wir doch durch die pletysmographischen Untersuchungen
von Bumke und Kehrer wie Kuppers und de Jong, daB bei der Schizo¬
phrenic ein Defekt in der vasomotorischen Erregbarkeit vorhanden ist,
was auch das Fehlen der Psychoreflexe bei einem groBen Teil dieser
Kranken nach Bumke. beweist. Ubrigens ware zur Rassendiagnostik
der Haut auch ihr Verhalten der Sonne gegeniiber zu untersuchen, um zu
sehen, ob hier im Gegensatz zur gleichmaBigen Braunung der alpinen
Rasse eine aUgemeine Rotung als Ausdruck einer Empfindlichkeit
gegen die Sonnenstrahlen eintritt.
Aber ziehen wir hier noch als vorziigliche Beraterin in Korperbau-
fragen die bildende Kunst zur Unterstutzung unserer Ansicht heran!
Wenn wir die Kunst der germanischen Lander wie die Italiens uns darauf-
hin anschauen, so finden wir, daB die von ihr dargestellten Astheniker
so gut wie durchweg dem feineren Typus der nordischen Rasse angehoren,
auf Botticelli und die Praraffaeliten wie den Rosetti-Kreis will ich hier
besonders hinweisen. Hier sind auch Haar-, Haut- und Augenfarbe
fast stets als nordisch dargestellt.
Der pyknische Typus, den ich an zweiter Stelle hier behandele,
scheint mir groBe Verwandtschaft mit der alpinen Rasse zu haben. Die
KorpergroBe der Pykniker ist allerdings etwas bedeutender als die der
alpinen Menschen. Nach Eugen Fischer betragt sie im Durchschnitt
fiir den alpinen Mann 1,63—1,64 m, wahrend der Pykniker nach
Kretschmer im MittelmaB 167,8 cm groB ist. Jedoch ist die Zahl der
pyknischen Manner bei K. fiir massenstatistische Untersuchungen, wie
sie eigentlich hier in Betracht kommen, nicht groB, niimlich gleich
43 Fallen. Die Pykniker sind kleiner als die Astheniker, wenn auch
der Unterschied im Durchschnitt nicht sehr bedeutend ist. Dabei miissen
wir aber unser oben angefiihrtes Bedenken beziiglich der Frage nach
dem Lebensalter der K.schen Astheniker wiederholen, denn haben wir
dort, wie es scheint, ziemlich reichlich noch nicht vollig ausgewachsene
Individuen vor uns, so diirfte der Unterschied zwischen beiden w'ohl noch
betrachtlicher werden. Eine kurvenmaBige Darstellung der Korper¬
groBe ware auch hier von Wichtigkeit. K. vermerkt nun auch aus-
driicklich das recht haufige Vorkommen kleiner untersetzter Figuren
bei den Pyknikern seines Materials. Ausgesprochenen Hochwuchs
hat er jedoch selten angetroffen und dabei eine Durchsetzung mit
athletischen Korperbaumerkmalen vorgefunden. Die Beschreibung
des ,,groben Eindrucksbildes 11 des Pyknikers als einer ,,mittelgroBen,
gedrungenen Figur mit weichem, breitem Gesicht auf kurzem Hals“
paBt sehr gut auch auf den alpinen Menschen. Die gute Umfangs-
entwicklung des Bauches wie eine Neigung zur Fettleibigkeit scheinen
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
und die Rassenformen in Deutschland.
581
mir, letztere mit gewissen Einschrankungen, wie friiher ausgefiihrt,
bei dem Alpinen ebenfalls vorhanden zu sein. Man betrachte nur die
zum Fettbauch neigenden und daher behabig wirkenden Personen in
Landern mit starkerem alpinen Einschlag, so in Siiddeutschland.
tTbrigens betont K. auch an anderer Stelle, daB diese Anlage bei Pyk-
nikern nicht immer deutlich ausgepragt zu sein brauche, und daB sich
deshalb die Diagnose des pyknischen Habitus nicht so sehr danach
richten diirfe. Die verhaltnismaBig geringe Schulterbreite des Pyk-
nikers trifft auch bei dem Alpinen zu, ferner die kurzen Extremitaten.
Wichtig finde
ich auch die
Betonung K. s,
daB die Brust
weniger breit
als tief ist, im
Gegensatz zu
dem breiten
Rumpfder spa-
ter zu bespre-
chenden Ath-
letiker. Der
pyknische
Mensch neigt
nach K. nicht
zu starker Vari-
antenbildung,
dysplastische
Merkmale sind
bei ihm auch
nur schwach
vorhanden, im
Gegensatz zu
den Astheni-
kern. AT.spricht
Abb. 4. Alpine Rasse, pyknischer
Typus.
auch von Le-
gierungen des
pyknischen Ty¬
pus mit den
beiden ande-
ren, so z. B.
mit dem asthe-
nischen, wobei
es sich wohlum
eine Rassen-
mischung han-
deln diirfte.
Auch Domi-
nanzwechsel
hat K. ofter bei
den Pyknikern
festgestellt; so
fiel es ihm auf,
daB altere Zir-
kulare, also
Pyknische, auf
Jugendphoto-
graphien in den
zwanziger Le-
bensjahren
langliches Gesicht und schmalen Korperbau zeigten, deren Entwick-
lung spater ganz nach der pyknischen Seite stattfand. Hier kommt
wohl ein Dominanzwechsel des nordischen mit dem alpinen Rassen-
typus in Betracht, wobei der letztere zum Schlusse als dominant die
Oberhand gewinnt, was auch mit der Vererbungsbiologie verschiedener
Merkmale dieser beiden Rassen ubereinstimmt. Die Anthropologie hat
ja schon langst einen Dominanzwechsel verschiedener Rassenkompo-
nenten betont und z. B. das Nachdunkeln von in der Kindheit blonden
Haaren darauf bezogen.
Digitized by
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
582
L. Stern-Piper: Kretschmers psycho-physische Typen
Digitized by
Was den Gesichts- und Schadelbau anbetrifft, so haben wir die
Beobachtung zu verwerten, daB der Schadel breit und nicht sehr hoch
ist. Der alpine Typus ist ja ausgesprochen kurz- oder breitschadelig.
Allerdings miissen wir hier wieder unsere friiheren Bedenken wegen der
Methode K .s erwahnen, aber die Betrachtung der Abbildungen von
K.s Pyknikern zeigt doch, wie Fig. 5 und 14, deutliche Brachycephalie,
das Hinterhaupt ist dabei wie bei den Alpinen leicht gerundet, ohne
irgendwie vorspringend zu sein. Die Gesichter der Pykniker sind, Avie
die der alpinen Menschen, ausgesprochene Breitgesichter. Dies geht
nicht nur aus K.s Beschreibung, sondern auch deutlich aus seinen
Abbildungen hervor. Bei beiden finden wir die ,,Tendenz ins Breite,
Weiche, Abgerundete', beide zeigen daher auch die vollen Wangen.
K. spricht von dem FrontalumriB der Gesichter der Pykniker als von
einem flachen Funfeck, dies veranschaulicht nur eine Form des Breit-
gesichtes. Das ,,ziernlich energische Umbiegen der Kontur“ an den
Kieferwinkeln kann man an typischen Breitgesichtern wahrnehmen
und stellt eine Eigenschaft dieser dar. Auch die in zweiter Linie von
K. bei den Pyknikern beobachtete ,,breite Schildform“, die sieh schon
dem Mittelgesichtstypus nahert, durfte noch bierher zu rechnen sein.
Das Kinn springt ebenso wie auch die Nase, bei den Pyknikern wie bei
den Alpinen nicht scharf und markant vor. K.s Beschreibung hieriiber
ist sehr anschaulich. Auch finde ich an den Abbildungen der Pykniker
wie bei dem Homo alpinus die Stirnhocker gut markiert. Typisch er-
scheint mir wie beim Astheniker die Nasenform in ihrer Bedeutung als
Rassenmerkmal. Sie ist ,,mittelgroB, von geradem bis eingezogenem
Riicken, mehr breit, die Spitze fleischig bis dick, die Nasenfliigel haufig
breit ausladend". Dies ist ganz die Nase der Alpinen, wo die Nasen-
beine breiter, nicht so steil aneinander gesetzt sind; die Beschreibung
des Nasenriickens ist besonders beweisend, ,,gerade bis eingezogen";
wir finden ja auch haufig eine leicht konkave Nasenriickenlinie bei den
Alpinen. Inwieweit die Nasen- und Wangenrotung rassendiagnostiseh
zu verwerten ist, kann ich nicht sagen. Dariiber liegen beziiglich der
alpinen Rasse keine Beobachtungen vor. Sie konnte rait der erwahnten
lebhafteren vasomotorischen Erregbarkeit und der gesteigerten Affektivi-
tat derZirkularen, bzw. der Pykniker zusammenhangen. Wir werden spa-
ter aber auch sehen, daBletztere auch bei der alpinen Rasse vorhanden
ist. Was die Behaarungsverhaltnisse anbetrifft, so habe ich den gleich-
maBig ausgebildeten, vollen Bart der Pyknischen, der ,,gegen Gesicht und
Hals tief hineinwachsen 1 kann, auch bei alpinen Menschen ofters ange-
troffen, ohnedies jedoch alsRegel hinstellen zu wollen.Fassen'wir kurz zu-
sammen, so findet sich bei den Pyknikern K.s wie dem alpinen Menschen
im Gegensatz zu dem Astheniker und dem nordischen Rassevertreter die
Neigung ins Breite, Kurze, Gedrungene, Voile, Weiche und Abgerundete.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
und die Rassenformen in Deutschland.
583
Als letzten Typus betrachten wir den athletischen, der eine starke
Entwicklung seiner samtlichen Teile, also des Skeletts, der Muskulatur
und der Haut zeigt. Hier ist die Rassenzuordnung schwieriger und
weniger eindeutig vorzunehraen als bei den beiden vorigen Typen.
Zudern ist K .s Material von dieser Korperbauforra nur klein — Manner
und Frauen umfassen zusanunen nur 30 Falle — und daher schwerer
verwertbar. Es ist fraglich, ob es sich hier uni einen einzigen, bzw. uni
einen einheitlichen Rassentypus handelt. Der kraftigere Typus der
dinarischen und auch der der nordischen Rasse scheinen hier in Betracht
zu kommen. Die KorpergroBe ist die betrachtlichste aller 3 Gruppen,
im Mittel 170,0 cm, aber auch MaBe iiber 180 cm kommen nicht selten
vor, die Extremitaten sind lang, Merkmale, wie sie sich bei beiden
Rassen finden. Den breiten Brustkorb und die breiten und ausladen-
den Schultern zeigen besonders die wohlausgebildeten, kraftigen Ver-
treter der nordischen Rasse. Das Becken und die Beine sollen durch
Verjungung des Rumpfes nach unten, den Schultern und Armen gegen-
liber, ,,zuweilen fast grazil erscheinen“ — leider ist keine Abbildung,
die dies veranschaulicht, beigefiigt 1 ) — und die Extremitaten mitunter
,,fast ans Akromegale anklingen“. Auch die Haut ist kraftig aus-
gebildet, derb, straff, das Fettgewebe dagcgen im Verhaltnis nicht sehr
stark entwickelt. Bei manchen dieser Eigenschaften, so bei der Ver¬
jungung des Rumpfes nach unten und dem haufig Akromegalenhaften
der Extremitaten scheint es sich um besondere dysplastische Merkmale
zu handeln. Im Gesicht finden wir das Skelett besonders scharf heraus-
modelliert. Nach K .s Angaben ist der Schadel hoch, schmal und mittel-
lang. Diese Beschreibung ist zu allgcmein gehalten, um daraus anthro-
pologische Schliisse ziehen zu konnen. Auch nach den Abbildungen ist
dies nicht sicher moglich. Die Form des Hinterhauptes ist wechselnd,
bald ausgesprochen steil (dinarisch), bald vorspringend (nordisch).
Aus der Beschreibung und den Abbildungen, abgesehen von Abb. 3,
ist ersichtlich, daB es sich in der Hauptsache um Langgesichter mit
stark nach unten springendem, massivem Kinn — daher die Aus-
ziehung des Kinnes nach unten und die ,,steile Eiform 1 ' K .s — handelt.
K. sagt auch selber, daB die athletischenGesichter haufig sehr hoch sind.
Langgesichtigkeit findet sich sowohl bei der nordischen wie der dinari¬
schen Rasse. Das Derbe und Massive in der Gesichtsbildung in Verbin-
dung mit der Formation des Kinns lassen besonders an die dinarische
Rasse denken. Auf Abb. 4 finden wir einen Typus, der sehr an den
dinarischen erinnert: Langgesichtigkeit, derbe Gesichtsmodellierung,
gekriimmte Nase, steil abfallender Hinterkopf, anscheinend bedeutende
KorpergroBe, langer Hals und lange Extremitaten. Der steil abfallende
*) Auch nicht in der 2. Autlagc.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
584
L. Stern-Piper: Kretschmers psycho-physische Typen
Digitized by
Hinterkopf und andere dinarische Merkmale sind auch auf Fig. 10, wo-
bei es sich jedoch um einen Akromegalen handelt, vorhanden. Durch
dieseForm desHinterkopfs entsteht inVerbindung mit derLanggesichtig-
keit und den massiven Formen der ,,derbe Hochkopf“ K. s, der tibrigens
eine gute Bezeichnung fiir die dinarische Gesichts- und Schadelbil-
dung ist.
DaB wir die dysplastiechen Spezialgruppen K. s, die viele Beziehun-
gen zur Schizophrenic aufweisen, anthropologisch im Sinne einer Deu-
tung von Rassenmerkmalen nicht verwenden konnen, ist ja klar. Ich
mochte hier nur darauf hinweisen, daB manche Rassen infolge ihrer
besonders entwickelten normalen Merkmale auch zu besonderen Dyspla-
sien neigen diirften, so die nordische Rasse und vielleicht auch die
dinarische durch ihre bedeutende KorpergroBe und ihre langen Extremi-
taten zu pathologischem Hoch- bzw. Langwuchs; der letztere ist ja
bei K .s dysplastischen und asthenischen Schizophrenen ziemlich haufig
vorhanden. Ferner konnte der brachycephale, mit steilem Hinter-
haupt versehene Schadel der dinarischen Rasse eine Disposition zum
Turmsehadel aufweisen, der eigentlich nur eine Abart davon darstellt,
und der sich auch bei K .s schizophrenen Dysplastikern findet. Die
vielen Dysplasien bei den Asthenikern K .s koimten tibrigens dafiir
sprechen, daB diese bei der nordischen Rasse haufiger sind, bzw. daB
bei letzterer die innere Sekretion und das autonome Nervensystem
eine besondcre Rolle spielen, vielleicht entsprechend der groBeren
seelischen Differenziertheit dieser Rasse und der Bedeutung, die die
erwahnten beiden Faktoren fiir die Psyche haben. Petersen nimmt ja
auch an, daB die innersekretorischen Driisen bei der Ausbildung der
Pigmentarmut dieser Rasse, die er sich gleich Fischer und Hahn, wie
iibrigens friiher schon Scfiopenhauer, durch Domestikation entstanden
denkt, von Bedeutung sind, und Kauffmann macht fiir die Abnahme des
Irispigmentes einen chronischen Reizzustand im Halssympathicus ver-
antwortlich.
Wir finden nun noch eine wichtige biologische Beziehung zwischen
Habitus asthenicus und nordischer Rasse. Dies ist die Anlage zur
Tuberkulose bei beiden. Sie wurde von der nordischen Rasse als solcher
behauptet, wie auch von ihrcn einzelnen Merkmalen, so der bedeuten-
deren KorpergroBe, der Dolichocephalic und der Blondhaarigkeit.
Ebenso wurde auch das Zusammcntreffen von Schizophrenic und Tuber¬
kulose ofters festgestellt, so daB dadurch nicht nur die Korrelation
zwischen dem asthenischen Typus und der Schizophrenic, sondern auch
die zwischen der nordischen Rasse und dem asthenischen Typus sowohl
wie auch den schizophrenen Erkrankungen weitere Beweiskraft ge-
winnen konnte. Die Frage, ob auch der pyknische Habitus wie das
zirkulare Irresein zu Stoffwechselerkrankungen (Fettsucht, Gicht,
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
und die Rassenformen in Deutschland.
585
Zuckerkrankheit, Arteriosklerose) neigt, laBt K. offen. Sie ward durch
die Ahnlichkeit seines pyknischen Typus mit dera Habitus apoplecticus
und arthriticus nahegelegt. Nach den vorstehenden Ausfuhrungen
miiBte auch untersucht werden, ob die alpine Rasse zu den angefuhrten
Stoffwechselerkrankungen neigt, falls die Beziehungen des pyknischen
Korperbaues zura zirkularen Irresein sich in der Folge durch genligend
zahlreiche Nachpriifungen als zu Recht bestehend erwiesen haben.
Unsere Resultate am Schlusse dieses ersten, des Korperbauteiles
vorlaufig kurz zusammengefaBt, sind also folgende: Sehen wir von den
reichlich vorhandenen dysplastischen Merkmalen, wie sie sich bei den
dem schizophrenen Formenkreis entsprechenden Vertretern finden, ab,
so durften den K.schen Typen nach ihrem Korperbau Rassenformen
zugrunde liegen, und zwar dem asthenischen der feinere Typus der nordi-
schen Rasse, dem pyknischen der homo alpinus. Bei dera athletischen
Typus, dessen Rassenzugehorigkeit nicht eindeutig beantwortet werden
kann, und fur den wahrscheinlich nicht eine Rasse allein in Bctracht
koramt, scheinen Beziehungen zu dera kraftigeren Vertreter der dinari-
schen und auch der norditchen Rasse vorzuliegen.
Neben den bei der asthenischen und auch der athletischen Korper-
bauform ziemlich zahlreich beobachteten dysplastischen Merkmalen
hat K. noch dysplastische Spezialgruppen aufgestellt. Die Tatsache
des Vorhandenseins von dysplastischen Veranderungen des Korper¬
baues bei der Schizophrenic, wohl im Sinne von Storungen der inneren
Sekretion, ist ja schon bekannt und von verschiedenen Untersuchern,
wie Rehm und Wuth, hervorgehoben worden. Gerade Rehm zeigte, daB
das raanisch-depressive Irresein viel weniger solche Veranderuugen
aufweist, als die schizophrenen und genuin epileptischen Erkrankungen.
Auch die letzthinerhobenenBefunde von Beringer und Diiser bei Schizo¬
phrenen laufen darauf hinaus. Ihre Feststellungen sind iibrigens insofern
abweichend von denen K. s, als sie auch reichlicheren Fettansatz am
Bauch bei Schizophrenen fanden.
Damit man raich nicht miBverstehe, will ich an dieser Stelle be-
tonen, daB ich wohl der Ansicht bin, daB es asthenische und athletische
Vertreter wie auch solche mit pyknischen Eigenschaften, so Fettansatz
am Stamm, bei alien Kulturrassen gibt. Denn letztere durften groBere
Variantenbildungen aufweisen. Hier kommt es jedoch darauf an, daB
bestimmten, viel weiter ausgedehnten Konstitutionstypen, namlich
denen K. s, bestimmte Rassenformen zugrunde liegen; und gerade die
Schadel- und Gesichtsformen, auf die K. so vielen Wert legt, sind
Rassenmerkmale.
Unsere Auffassung der K.schen Typen ware noch sehr liicken-
haft, wenn sie nicht auch von der psychologischen Seite aus eine Be-
statigung erfahren kbnnte. Und dies ist durch die charakterologischen
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
586
L. Stern-Piper: Kretschmers psycho-physische Typen
Digitized by
Ausftihrungen K .s sehr wohl moglich. K. geht auch hier von den Kran-
ken aus. Er analysiert zuerst in sehr klarer und tiefgreifender Weise
die Psyche der Zykloiden und Schizoiden. Er weist dann Beziehungen
zwischen ihren seelischen Eigenschaften und denen ihrer gesunden
Familienangehorigen nach; zum Schlusse zieht er noch geistig liber-
wertige Personlichkeiten heran und findet auch bei ihnen, seien sie nun
einmal seelisch erkrankt oder stets gesund gewesen, die gleichen, grund-
legenden charakterologischen Merkmale bei entsprechenden Korper-
formen. Er zeigt damit, dali von dera Charakter der Kranken eine fort-
laufende Linie zu dem der Gesunden fiihrt, dali es sich bei den seelischen
Erscheinungen also ebenfalls um biologische Einheiten handelt, die mit
bestimmten Korperbauformen verbunden sind, so daB letzten Endes
hier physisch-psychische Einheiten vorliegen. Zykloid und Schizoid
sind danach fur K. die zwischen gesund und krank stehenden Mittel-
formen; zyklothym und schizothym bezeichnen fiir ihn das Kranken
wie Gesunden Wesensgleiche, Gemeinsame, sind also rein biologische
Begriffe.
Das Temperament der Zykloiden wird nach K. durch die diathe-
tische oder Stimmungsproportion bestimmt, das heifit die Mischung
von hypomanischen und schwerbliitigen Elementen. Ich mochte dies
so ausdriicken, dali der ganze Charakter dieser Menschen unter der
Herrschaft des Affektiven 1 ) steht, dali dieses bei allem mitschwingt,
es reguliert. und ihm eine gewisse Farbung gibt. K. hat auch in sehr
geistvoller Art die sozialc Einstellung der Zykloiden als dadurch be-
dingt gekennzeichnet. Sie sind „gesellig, gutmutig, menschenfreundlich
und anpassungsfahig“. Ein weiches und warmes Wesen zeichnet sie
aus. Selbst die mehr schwerfallig-depressiven, mehr fiir sich lebenden
Menschen unter ihnen erweisen sich, sobald man mit ihnen in naheren
Verkehr kommt, als ,,freundlich, naturlich und zuganglich“. Ich mochte
sagcn, die Zykloiden leben nicht wie die Schizoiden neben oder unter
den Menschen, sondern mit ihnen, sie sind mit ihnen verbunden und
fiihlen auch mit ihnen. Dies kommt wohl daher, dafi sie geinaB ihrer
seelischen Anlage Reize brauchen, die ihren Affekt in Schwingung ver-
setzen. Sie konnen nicht abgesondert bestehen, daher suchen sie auch
den Verkehr mit andern Menschen. Die Zykloiden gchen in ihrer Um-
gebung, in der Wirklichkeit auf, sie sind, wie K. sagt, realistisch ge-
stimmt. Damit hangt es zusammen, dali sie auch die Gaben des Lebens
in natiirlicher Weise annehmen und sich daran erfreuen, eine Neigung
zum Stofflichen, zum GenieBen, z. B. des Essens und Trinkens, haben.
Da gibt es keine scharfe Gegeniiberstellung von Ich und AuBenwelt,
1 ) Affektiv hier in jenem besonderen Sinne des Gemiitslebens aufgefaOt,
wie er auch in dem Xamen der Affektpsychosen zum Ausdruck kommt.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
und die Rassenformen in Deutschland.
587
keine tragischen Konflikte, keine festgefaBten Meinungen, koine Prin-
zipien, ebenso kein Schematisieren, keine feststehenden ausgekliigelten
Systeme, kein starres Bis-zu-Ende-gehen, kein kaltes gefiiklsbefreites
Waltenlassen der Logik; sondern diese Menschen passen sich an, sie
fiihlen sich in andere hinein und suchen daher abzuwagen, zu vermitteln.
Sehr treffend sagt K., sie haben Gemiit, und er findet gerade den Volks-
ausdruck Gemiitlichkeit sehr bezeichnend. Das Wort Humor scheint
ihm enge Beziehungen dazu zu haben. Der Ausdruck behabig kenn-
zeichnet fur K. sehr anschaulich das Zusammentreffen des pyknischen
Korperbaues mit der langsamen Reaktions- und Handlungsweise und
der ,,gutherzigcn Gemiitlichkeit der Stimmungslage“ bei den Schwer-
bliitigen der Gruppe. Diese lieben es auch, in behaglich-beschaulicher
Weise in ihren kleinen Weinkneipen zu sitzen. Soweit sich andersartige
C'haraktereigenschaften bei den Zykloiden nachweisen lassen, finden
sich auch im Korperbau fremde, und zwar schizoide Komponenten,
ebenso in der Hereditat und den auf solcher konstitutioneller Gruncllage
entstehenden Psychosen; also auch hier Legierungen und Kreuzungen,
wie wir sie schon friiher besprochen und deren Erklarung als Vorhanden-
sein von verschiedenen Rassebestandteilen wir moglich gemacht haben.
Nun der Gegensatz dazu, die schizoiden Charaktereigenschaften:
Die seelische Analyse K .s ist hier besonders lichtvoll und das innerste
Wesen treffend. Allerdings muB erst noch bestatigt werden, ob sich
eine solche stetig fortlaufende Verbindung mit dem Gesunden vorfindet
und das Kranke nur eine Vergroberung der normalen seelischen Eigenart
gewisser Menschengruppen bildet. Die erbbiologischen Untersuchungen
und Unterscheidungen Kahns von zwei getrennt sich vererbenden
Anlagen der Schizophrenic, dem Schizoid und der schizophrenen ProzeB-
anlage, die erst zum ersteren hinzukommen muB, damit die mani-
feste Krankheit der Schizophrenic entsteht, konnten als Stiitze der
A.schen Anschauungen verwertet werden. Danach muBte aber erst
noch untersucht werden, ob das Zusammentreffen des schizoiden und
des prozeB-schizophrenen Faktors zum Zustandekommen des Krank-
heitsprozesses der Schizophrenic notwendig ist, oder ob nicht der
letztere allein dazu geniigt. Dann muB auch betont werden, daB K.
den Begriff des Schizoids sehr weit gefaBt hat, im Grunde gehort dazu
beinahe alles, was nicht manisch-depressiv ist. Die einzelnen Psycho-
pathengruppen werden dadurch in die beiden groBen Abteilungen des
Zykloids und des Schizoids eingereiht, was auch in Bleulers Sinn liegt.
Wir iibernehmen fiir unsere Untersuchungen diesen Schizoid-Begriff,
* ohne uns verheimlichen zu wollen, daB er vielleicht nur in negativer
Hinsicht etwas Einheitliches darstellt 1 ). Halten wir, da es uns auch
l ) Ganz ahnliche Bedenken hat Eivald in einer mir nach Fertigstellung meines
Manuskriptes vor Augen gekommenen Arbeit geauBert und sie weiter ausgefiihrt.
Archiv tUr Psychiatric. Bd. 67. 39
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
588
L. Stern-Piper: Kretschmers psycho-physische Typen
Digitized by
hier um das iiber das Pathologische hinausstrebende, zugrunde liegende
allgemein Biologische ankommt, fest, daB K. sagt, das Gesunde konne
beim schizophrenen Formenkreis noch weniger als beim zirkularen
vom Kranken gesondert werden, und ,,der SchliLssel zum schizophrenen
Innenleben sei zugleich der Schliissel zu groBen Teilgebieten normalen
menschlichen Fiihlens und Handelns“.
Die Grundformel des Seelenlebens der Schizoiden driickt nach K.
die psychasthetische Proportion aus. K. findet namlich als Wichtigstes
in dem Charakter des Schizoiden die Zusammensetzung aus hyper¬
asthetischen, d. b. reizbar-iiberempfindlichen und anasthetischen, d. h.
unempfindlich-kuhlen Bestandteilen. Das Verhaltnis der Mischung
beider in einem Menschen nennt er nun die psychasthetische. Proportion
dieser Personlichkeit.
Wie nun der Zykloide meist heitere und traurige Elemente zugleicli
hat, so ist der Schizoide gleichzeitig uberempfindlich-reizbar und kiihl.
Die seelische Uberreizbarkeit glaubt K. dabei besonders hervorheben
zu miissen. Holderlintypen nennt er jene zarten, empfindlichen, leicht
verwundbaren Wesen, und auch bei ihnen ist nach seinen Ausfuhrungen
noch eine gewisse leise, vornehme ,,Kuhle und Distanz, eine autistische
Einengung des Gefiihlsverm6gens“ auf gewisse Dinge und Menschen
zu verspiiren. Strindberg, der spatere Schizophrene, wird als noch
deutlicheres Beispiel als Holderlin hierfiir angefiihrt. Auf der anderen
Seite stehen die stumpfen und kalten Naturen, wie sie als auBerstes
Extrem, als Endzustande der Dementia praecox beobachtet werden.
Ich mochte dies so ausdriicken: in dem Gefiihlsleben der Schizoiden
herrscht das rein Nervenreaktive, EmpfindungsmaBige vor, ungeleitet
durch das Affektiv-StimmungsmaBige; also anf der einen Seite, der
zykloiden und zyklothymen, das Reich der Affektivitat, auf der
anderen, der schizoiden und schizothymen, das der Sensibilitat. Von
elementarer Bedeutung fiir die Gestaltung der schizoiden Psyche scheint
mir der Mangel des zyklothymen Faktors zu sein. Denn durch die Ele¬
mente des Gemiitslebens entsteht die Tonung, wie auch Dampfung,
Lenkung und die flieBende Vcrbindung der einzelnen seelischen Eigen-
schaften. Entweder fehlt der Antrieb durch das Gemiitsleben, wie lx>i
den anasthetischen Personlichkciten oder die Dampfung und Hemmung
dadurch, w r ie bei den hyperasthetischen. Losgelost herrschen dann die
verschiedenen seelischen Faktoren, so das Personlichkeitsgefuhl, der
Wille und das Logisch-Intellektuelle. Und vielleicht beruht auf diesem
Negativen, diesem Fehlen des zyklothymen Bestandteils, auch die
psychasthetische Proportion K. s, das Vorherrschen der Sensibilitat, .
teils von anasthetischen, teils von hyperasthetischen Elementen. Die
psychasthetische Proportion verschiebt sich nun im Laufe des Lebens
meist nach dem anasthetischen Pol hin. Aus ihr leitet sich auch die
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
und die Rassenformen in Deutschland.
589
Stellung des Schizoiden zur AuBenwelt ab. Kennzeichnend hierfiir ist
eine seelische Erscheinungsform, die Bleuler Autismus nennt, d. h. das
Fiir-sich-, das In-sich-hinein-Leben. Daher ziehen diese Menschen sich
von den anderen ab, teils aus Uberempfindlichkeit, um sich noch mehr
in ihr eigenes Inneres zu verkriechen, teils aus gemiitlichem Mangel,
aus fehlendem gefiihlsmaBigem Gebundensein an die Urawelt. Aber
auch hier sind meistens beide Elemente gemischt, Gleichgiiltigkeit
und sehnlichstes Ruhebediirfnis. Der sich absondernde Hyperasthe-
tiker liebt gem eine gewisse Kuhle, gefiihlsmaBig indifferente Um-
gebung: aristokratische Salons, das mechanische GleichmaB des Bureau-
(lienstes, ,,einsame, schone Natur, Altertum, feme Zeiten und Gelehrten-
stuben“. Unter den Schizoiden findet man daher haufig stille Biicher-
und Naturfreunde aus Uberempfindlichkeit und Flucht vor den Men¬
schen, femer gibt es darunter die verschrobenen Sonderlinge und Quer-
kopfe, die fiir ihre Systeme, teils gesundheitlicher, teils philosophisch-
metaphysischer Natur, werben (Gesundheitsapostel, Rohkostler, Maz-
daznan-Anhanger). Manche Schizoidc bzw. Schizothyme zeigen als
Ungeselligkeitssymptome nur eine groBartige Gemiitsruhe und Stumm-
heit, die ,,groBen Schweiger“ Moltke und Uhland dienen als Beispiele
hierfiir. Bezeichnend ist ferner ein kuhl-aristokratischer Zug mit Nei-
gung zu au s gewahlter Geselligkeit in kleinem, abgegrenztem Kreise;
dieser Zug artet bei den direkt Kranken in eine ,,karikiert-vomebme
Gespreiztheit in Sprache und Bewegungsmanier“ aus. Die Religiositat
der Schizoiden hat etwas Mystisch-Gbersinnliches oder Frommelndes,
SektenmaBiges. Als ,,oberflachlich-geselliges Mitleben“ wird die Art
mancher glatt-gewandter, hart-egoistischer oder geschaftsmannisch-
berechnendcr Naturen angefiilirt. Immer aber ist eine gewisse Distanz
der Umgebung gegeniiber vorhanden, es entsteht dadurch eine Problem-
stellung des Ichs zur AuBenwelt und ein tragischer Konflikt aus Mangel
an Anpassungsfahigkeit. Der Schizothyme Feuerbach und der Zyklo-
thyme Thoma, also ein mehr nordischer und ein mehr alpiner Mensch,
werden hier als gegensatzliche Beispiele angefiihrt. Gleich der egoisti-
schen Harte riihrt auch das ernst und tief genommene Streben nach all-
gemeinen altruistischen Idealen und nach allem Prinzipienhaften, streng
Schematischen aus dem Autismus her. Betonen wollen wir, weil fiir
unsere spateren Ausfiihrungen von Bedeutung, K .s Worte von den
,,praehtvollen Charakterkopfen, die an unpersonlicher Rechtlichkeit
und Sachlichkeit, unbeugsamer Gberzeugungstreue, Adel und Reinheit
der Gesinnung, wie an zielfester Zahigkeit im Kampf um ihre Ideale
auch die hochstwertigen Zyklothymen weit hinter sich lassen“. K.
schildert nun noch verschiedene Spielarten der hyperasthetischen und
anasthetischen Schizoiden. Unter letzteren sind besonders die Affekt-
lahmen hervorzuheben. Sie scheinen ihm, und zwar in der Form der
39*
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
590
L. Stern-Piper: Kretschmers psycho-physische Typen
Digitized by
Empfindsam-Affektlahmen der haufigste psychologische Typus unter
den Schizoiden zu sein. Das Affektlahme bedeutet. ein Nachhinken des
Affekts, wie uberhaupt das Auseinanderfallen von Gemiitsreiz und von
diesem ausgeloster Reaktion. Diese Empfindsam-Affektlahmen sind,
wie die Schizoiden uberhaupt, humorlos, ernst, sprechen wenig auf
Trauriges und Heiteres an, neigen dagegen zur Ekstase und Schwar-
merei. Von der Affektstumpfheit, die ein Teil der Affektlahmheit ist,
wird die Affektkalte unterschieden. Erstere bedeutet die passive und
letztere die aktive Gefuhllosigkeit. Einen leichteren Grad der Affekt-
stumpfheit bildet die unerschiitterliche Seelenruhe, das Phlegma. Zu
den Affektkalten gehoren die ,,Trockenen“, wie uberhaupt die Schizoi¬
den im Durchschnitt ihrem Temperament nach, gegentiber den gemiits-
warmen Zykloiden, ktihl sind; und besonders die ,,stilvoll-aristokratischen
Schizoiden" machen durch Beimengung von aktiver Kalte zur Affekt¬
lahmheit oft einen kalten Eindruck. K. fiilirt verschiedene negative
Varianten der Affektkalte an, die in der Hauptsache extreme Steigerun-
gen von riicksichtslosem Egoismus darstellen. Auf der positiven Seite
konnen jedoch aus dieser Kalte gegen die Einzelmenschen in Verbindung
mit dem ebenfalls schizoiden Hang zum Schematischen, Konsequenten,
Gerecht-Strengen Naturcn von eiserner Energie und Hartnackigkeit
erwachsen, wie Friedrich der GroBe ,,mit seinen gehauften und inge-
ziichteten schizoiden Erbmassen aus dem Welfenhause", also eintypisch
nordischer Mensch aus einer rein nordischen Sippe. Am andern Endc
steht als Gegensatz zu dieser Willensstarke die vollige Willensschwache
und Aktionslosigkeit, dienurmehrcine rein pathologischeErscheinung ist.
Beziiglich der Psychomotilitat ist hier noch die Affektsteifigkeit
Bleulers oder, wie K. sagt, die Steifigkeit der Ausdrucksbewegungen
anzufiihren. Er fand sie sowohl bei den aristokratisch zuruckhaltenden
wie bei den pathetischen Naturen. Sie kann nach ihm als ,,Gespreizt-
heit, Geschraubtheit, Formlichkeit, Pose“, oder als ,,Feierlichkeit oder
Pedanterie" erscheinen. Bei den lebhafteren Schizoiden zeigt sich
dagegen eine nervose Hastigkeit. Die Verbindung von Abgemessenheit
und Zuriickhaltung in den iiuBeren Ausdrucksformen mit Feinfuhlig-
keit nennt K. den aristokratischen Symptomenkomplex. Fiir sehr
erwahnenswert halte ich auch, daB ihm ,,eine eigentumliche militarische
Straffheit als vererbbare Eigentumlichkeit“ in schizoiden Familien
aufgefallen ist, auch ohne daB beruflich Wert darauf gelegt wor-
tlen ware. ,,Aufrecht“ scheint ihm die beste kdrperliche wie seeli-
sche Kennzeichnung dieser Menschen zu sein, die haufig ,,Herren-
naturen von ausgesprochener Zahigkeit und Charakterstarke" darstellen.
Zur Erklarung gewisser Denkeigentiimlichkeiten der Schizoiden dient
K. die zwischen zah und siminghaft wechselnde schizoide Tempera-
mentskurve. So kommt es, daB sich in manchen ihrer Schriftstucke
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
und die Rassenforinen in Deutschland.
591
neben dem Unsteten, Sprunghaften eine Neigung zur Ubergenauigkeit
und Pedanterie findet, die sich im Aufzahlen von Narnen und Zahlen,
im Scheruatisieren, Systembilden und in der Abstraktion auBert. Fur
wichtig und bedeutungsvoll halte ich K .s alternative Einstellung des
Gefiihlslebens bei den Schizoiden. Da gibt es nur ein entweder-oder,
keinen Mittelweg, kein Abwagen, Ausgleichen und Vermitteln. A'.s
Ansicht, daB sich dieser Zug deutlich bei Normalen und in ausgespro-
chener Weise bei den genialen Personlichkeiten vorfindet, mochte ich
besonders unterstreichen.
In den geschilderten Ziigen der Zykloiden und Schizoiden haben wir,
wenn wir noch eine Abmilderung des teilweise vorhandenen patholo-
gisch Vergroberten vornehmen, schon die Wesensart von normalen
Personlichkcitsgruppen, die wir mit K. zyklothyme und schizothyme
nennen wollcn, vor uns. K. hat nun auch einzelne Gruppen von zyklo¬
thymen und schizothymen Durchschnittsmenschen aufgestellt, d. h.
von Menschen, bei denen sich die einzelnen zyklothymen und schizo-
thymen Charakterbestandteile in verschiedener Auspragung und Zu-
sammensetzung vorfinden. Dieser Teil ist sowohl bezuglich Aufstellung
wie Schilderung der Gruppen etwas kurz und skizzenartig gchalten und
wohl als Versuch und Hinweis zu betrachten. Ganz besonders trifft
dies bei den Schizothymen zu; hier diirften sich bei der Vielfaltigkeit
und Kompliziertheit der Einzelbestandteile viel zahlreichere Formen
aufstellen lassen. Auch finde ich die Einteilung und Bezeichnung der
schizothymen Gruppen nicht charakteristisch genug. K. unterscheidet
jeweils vier Abteilungen, und zwar bei den Zyklothymen die geschwatzig
Heiteren, die ruhigen Humoristen, die stillen Gemutsmenschen und die
bequemen GenieBer; bei den Schizothymen die vornehm Feinsinnigen,
(be weltfremden Idealisten, die kiihlen Herrennaturen und Egoisten.
Die Abteilung der weltfremden Idealisten bezeichnet man besser nur
als die der Idealisten allcin, da die weltfremden ja doch nur eine kleine
Unterabteilung von ihnen darstellen. Hinzufugen mochte ich noch
die Gruppe der Korrekt-Hoflichen. Die Abteilung der kalten Herren¬
naturen und Egoisten diirfte nur eine Unterabteilung der Ziih-Energi-
schen, wie ich sic nennen mochte, darstellen. Der Korperbau dieser
zyklothymen und schizothymen Durchschnittsmenschen soli nun wie
bei den psychisch Kranken den seelischen Eigenschaften korrespondieren,
also toils pyknisch, toils asthenisch und athletisch sein. Schwere Dyspla-
sien kommen hier wie auch bei den von ihm spatcr besprochenen Genia¬
len nach K. nicht in Betracht. Dieses dient zur Unterstiitzung unserer
Ansicht, daB bei den von K. an krankem Material aufgestellten Korper-
bautypen das Dysplastisehe von dem Typ als solchem gctrennt werden
muB und letzterer dann als Rassentyp angesprochen werden kann.
Wir glauben nun, daB auf die geschilderten seelischen Eigenschaften
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
592
L. Stern-Piper: Kretschmers psycho-physische Typen
Digitized by
sich, dem Korperbau entsprechend, die psychischen Eigen tiimlichkei ten
der nordischen und der alpinen Rasse zuriickfiihren lassen. Selbstver-
standlich kann keine Rasse ausschlieBlich zyklothym oder schizothym
sein, auch ist absolut nicht daran zu denken, daB sich nun diese beiden
Rassen allein so verhalten, und sich nicht schizothyme und zyklothyme
Ziige, vielleicht in anderer Auspragung und Zusammensetzung, bei
anderen Rassen finden lieBen. Und wieder vergegenwartige man sich,
daB es hier auf die groBen Linien, den Grand und UmriB ankommt,
und daB wir Rassenmischungen vor uns haben. Wie jetzt schon ver-
wenden wir auch in folgendem die Begriffe zyklothym und schizothym
im Sinne von normal-charakterologischen Einheiten und decken uns
dabei mit der Auffassung K. s.
Stellen wir nun einmal Volker oder Volksbestandteile mit starkerem
alpinem Rasseeinschlag solchen mit mehr nordischem gegemiber.
Zuerst wollen wir als Beispiele in dieser Hinsicht die Siiddeutschen und
die Norddeutschen gegensatzlich behandeln. Zur Kennzeichnung des
Wesens der Siiddeutschen verwendet man gewohnlich dasselbe Wort,
das K. zur Charakteristik der Zyklothymen so treffend findet, namlich
Gemiitlichkeit. Und auch das Wort Humor, das nach K. enge Bezie-
hungen dazu hat, wird gerade in Siiddeutschland in ahnlicher WeLse
gebraucht, namlich zur Bezeichnung der gemiitlichen Stimmung, be-
sonders in Bayern, wo es dialektisch ,,Hamur“ lautet. In Siiddeutsch-
land finden wir diesen behabigen Typus des Zyklothymen mit seiner
realistischen Gestimmtheit, seinem behaglich-bequemen GenieBen des
Lebens, besonders seiner materiellen Gaben, wofiir ich den Ausdrack
Vesperer in Schwa ben gleich K. sehr bezeichnend finde. Das sind die
sog. bequemen GenieBer K .s mit ihrer Vorliebe fiir den Wirtshaus-
tisch, zu deren Illustrierang K. ein Gedicht Morikes anfuhrt. Somracr-
westen nennt Morike hierin diese Naturen und sagt, daB ihr Vaterland
Schwaben ware. Hier ist alles auf das Stofflich-Siunliche, Anschau-
liche eingestellt, hier gibt es keine zwiespaltigen Wesen, keine Kon-
flikte, nichts Problematisches, aber auch nichts Gekunsteltes, Unnatiir-
liches. Bci den Schwaben ist mehr das schwerbliitig-depressive Element
vertreten, wie bei den jetzigen Alemannen iiberhaupt, bei den Bayern
herrscht dagegen der hypomanische Stimmungsbestandteil mit Reiz-
barkeit vor. Man denke an die derb-naive, hypomanisch-frbhliche
Lebhaftigkeit, die Art, ihre Feste zu feiern wie ihre sonstigen Sitten.
Besonders komrnt die hypomanische Reizbarkeit zum Ausdrack, wenn
sie in ihrer Bequemlichkeit, ihrer behaglich-genieBerischen Ruhe ge-
stort werden. Verschiedene bekannte bayerische Kraftausdriicke ver-
anschaulichen dies sehr treffend. Eine gewisse derb-polternde Grobheit
wie eine ungebundene Natiirlichkeit und Urwiichsigkeit sind iibrigens
den Schwaben und Alemannen auch zu eigen. Ihr Gefiihlsleben drangt
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
und die Rassenformen in Deutschland.
593
sie namlich dazu, alien ihren emotionalen Regungen ohne Zuriickhaltung
Luft zu machen. Siiddeutschland ist ferner das Land des Ausgleichs, hier
herrschen keine so groBen Klassengegensatze. Die Norddeutschen finden
es ja so bezeichnend, daB die Menschen hier sich ohne Reserve ein-
ander gegenubertreten, gleich bekannt und warm werden, und daB
am Biertisch sich alle, Hoch- wie Niedergestellte zu gemeinsamer Unter-
haltung und gemeinsamem GenuB zusammenfinden. Auch in der Politik
haben wir hier mehr ein gegenseitiges aneinander Anpassen, weniger
Radikales. Man lasse sich durch solche Zeit- und Massenstromungen,
wie die Revolution sie gebracht hat, nicht irre machen. So wie der
Siiddeutsche als eine nicht so komplizierte Natur erscheint, in die
man sich leicht einfiihlen kann, hat er selber ein gutes Einfiihlungs-
vermogen, ein natiirliches Verstandnis fiir die Art des anderen, dem
er gefiihlsmaBig, nicht fremd, kalt und unpersonlich gegenuber steht.
Mit alle dem soli natiirlich nicht gesagt sein, daB wir in den Siiddeut-
schen und Schweizern alpine Menschen vor uns hatten, wir wollen
damit nur zeigcn, wie ihre Psyche gegeniiber der norddeutschen durch
den starker alpinen Einschlag eine besondere, bestimmte Farbung er-
halten hat.
Dem gegenuber wirkt der echte Norddeutsche, wie der Nord-
lander iiberhaupt, kalt, steif, formell, abgemessen. Auch daB er einen
langweiligen oder faden Eindruck mache, wird haufig von Siiddeutschen
behauptet. Er gibt sich nicht so frei, hat immer etwas Zuriickhaltendes,
eine gewisse Reserve. Auch ist ihm seiner ganzen Haltung nach sehr
haufig etwas Straffes, Militarisch.es zu eigen. Man erinnere sich hierbei
an die militarische Straffheit, die K. als besondere Eigentiimlichkeit in
schizoiden Familien fand. Der Norddeutsche ist in seinen Bewegungen
nicht so natiirlich und rund wie der Siiddeutsche, sondern wirkt, wie
schon angegeben, eckig, steif und formlich. Man denke hier auch ganz
besonders an Skandinavier, Hollander und Englander. Eine gewisse
Kiihle geht immer von ihnen aus, sie geben schwer ihre Reserve auf,
und man wird nicht so leicht warm mit ihnen. So ist auch ihre Gesellig-
keit abgeschlossener, sich in kleinen, abgegrenzten Kreisen bewegend.
Das Sich-AbschlieBen der einzelnen Kreise voneinander trifft man in
Norddeutschland und den nordischen Landern ausgepragter, die Ibsen-
schen Dramen, besonders der Volksfeind, bieten Belege hierfiir. In
den Menschen dieser Dramen sehen wir iibrigens prachtvolle Reinge-
gewhchse schizothymer Charaktere vor uns. Der Individualismus ist
als Lebensform und Richtung ein spczielles Erzeugnis der Volker nor-
discher Rasse, bei ihnen finden wir auch die ganz besonders weitgehende
Zersplitterung in einzelne sich riicksichtslos bekampfende Stamme.
Damit hangt es ferner zusammen, daB die rasseerhaltenden Instinkte
bei der nordischen gegenuber anderen Rassen gering sind, so daB da-
Digitized by Got >gle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
594
L. Stern-Piper: Kretschmers psycho-physische Typen
Digitized by
durch moglicherwei.se die Erhaltung der Rasse liberhaupt gefahrdet ist.
Von anasthetischen Eleraenten ist hier auch noch die ,,unerschutterliche
groBe Seelenruhe" K. s, wofiir er ja als Beispiele die groBen nordischen
Schweigcr Moltke und Uhland anfuhrt, und das Phlegma, wie es den
Hollandern und auch Englandern eignet, zu erwahnen. Man halte
sich hierbei die treffende, wenn auch etwas karikierte Beschreibung
der Hollander in Heines ,,Schnabelewopski“, besonders des van Moeulen
vor Augen. Auch in dem Spleen der Englander ist eine gewisse Sturnpf-
heit bemerkbar. Die nordischen Menschen ha ben ferner die Recht-
lichkeit, Strenge, Pflicht- und t)berzeugungstreue, die Gewissenhaftig-
keit, die bis zur Pedanterie und dem Bureaukratismus des preu Bischen
Beamten ausarten kann, und die Willensstarke der ,,prachtvollen
Charakterkopfe“ K .s in begabten schizoiden Familien. Man denke
auch an ihr Organisationstalent, ihre Eignung zu militarischem Wesen
und Zucht. Dann halte man sich wieder die kuhl berechnende Geschafts-
tuchtigkeit von Englandern, Hollandern und Norwegern vor Augen.
Durch diese kiihle Berechnung ersetzen die Englander in der Diplo¬
matic das warme Sicheinfuhlen, und ihr verdanken sie auch ihre Erfolge
darin. Kein nihiges, bebagliches die Welt betrachten und genieBen
Wollen finden wir bei den nordischen Menschen, sondern ein Ringen und
Kiimpfen, einen Schaffenstrieb und eine Sucht, die eigene Personlichkeit
mit eisemer Energie, ziihcr Ausdauer und auch Riicksiclitslosigkeit
durchzusetzen, gleich den kalten Herrcnnaturen und Egoisten der
schizothymen Durchschnittsmenschen K. s. Hier besteht ferner die
Neigung zum Prinzipiellen, zur Abstraktion, zum Systematisieren;
wurden doch die vielen metaphysisch-philosophischen Systeme fast nur
von nordischen Menschen ausgearbeitet. DaB die Idealisten bei ihnen
zu Hause sind, ist ja auch bekannt, wie daB der Idealismus liberhaupt
hier seinen Ursprung hat. Die Betrachtung der genialen Personlichkeitcn
nordischer Rasse gibt hierfiir, wie fiir die meisten anderen Eigen-
schaften, die besten Beweise. Damit hiingt eszusammen, daB die vielen
Schwarmer und Sonderlinge sich unter den nordischen Volkern finden,
ebenso aber auch die vielen Querkopfe, Schrullenhaften und Sektierer.
Deutschland diirfte hier ivieder vornean stehen: Rohkostler und ahn-
liche Sonderlinge zahlen auch hier ihre groBte Anhangerschaft. Das
Entweder-Oiler turn und die Neigung zum Extremen sind iibrigens nur
Folgen aus dem Hang zum Prinzipiellen. Wir erwahnen noch die vielen
tragischen Konfliktnaturen, die immer in Problemstellung zur AuBen-
welt leben, wie ja in den Landern nordischer Rasse die groBen Probleme
immer zuerst aufgeworfen wurden und die groBen Ideen daher von da
aus ihren Ausgang nahmen. Wenn K. das Drama mit Recht als typisch
schizothyme Dichtungsgattung bezeichnet, so ist darauf hinzuweisen,
daB die Volker nordischer Rasse das Drama mit Vor lie be gepflegt
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
und die Rassenformen in Deutschland.
595
und die groBcn Dramatiker hervorgebracht haben. Auch den hypcr-
asthetisch-feinsinnigen Typus finden wir hier ausgepriigt. Viele Beispiele
lassen sich hierfiir aus der skandinavischen, besonders der danischen,
tier englisehen und der deutschen Literatur wie Kunst anfiihren. Auch
zeigen die nordischen Marchengestalten, ich erinnere nur an die Elfen,
sehr hiiufig diesen Typus. Die Religiositat der Nordischen neigt eben-
falls zum Mystischen (Ekkehard, Bohrae, Suso und die Romantiker)
oder Sektenhaften. Dali die Sektenbildung bei diesen Volkern, beson¬
ders den anglo-amerikanischen, bliiht, ist ja eine bekannte Tatsache.
K. spricht von dem aristokratischen Symptomenkomplex als schizo-
thymem Kennzeichen und ich'finde, daB der nordischeMensch durch seine
vornehmwirkende, kiihle Zuriickhaltung, das Formliche, Steif-Korrekte,
wie auch durch dasMilit&risch-Straffc, ZielbcwuBte in seinera Wesen schon
von vornherein den Eindruck des Aristokraten macht, ganz abgesehen
davon, daB er durch seinen Verstand und seine Widens- und Schaffens-
kraft dazu berufen erscheint. DaB die Adelsschicht, zum mindesten der
europaischen Kulturvolker, von der nordischen Rasse gebildet wurde,
ist zwar eine viel angegriffene, aber noch nicht widerlegte Behauptung.
Erwahnen wollen wir noch den Ernst und eine gewisse Huinorlosigkeit
dieser Rasseangehorigen. Ihr Humor wirkt gegenuber dem sudlicherer
Rassen meist schr trocken. Man vergegenwartige sich in dieser Hinsicht
die steifen, eckigen und fad-trockenen Bewegungen eines englisehen
Clowns. Und damit hangt wieder die gcringe Begabung dieser Rasse
zur Musik zusammen. Fritz Lenz fiihrt sehr treffend hierfiir das Sprich-
wort ,,Frisia non cantat“ an, sowie daB bei den germanischen Volkern
selber andere Volker, wie Italiener, Ungarn, Juden und Zigeuner im
Rufe musikalischer Begabung standen. Worte Nietzsches besagen
das gleiche. Nationen mit weitgehend reiner nordischer Rasse wie
Englander, Hollander und Skandinavier weisen ja auch auBerst wenig
groBe Tonschopfer auf, andererseits wurden die genialen musikali-
schen Leistungen gerade in Landern geschaffen, wo die nordische Rasse
sich schon starker vermischt hat wie in Osterreich und Deutschland,
in letzterein hinwiederum vorwiegend in Sachsen-Thiiringen (Bach.
Handel, Schumann, Wagner). Hier war also die Rassenmischung von
besonderer Bedeutung. Charakteristisch finde ich auch in diesem Zu-
sammenhang, abgesehen von der starken Begabung fiir die bildende
Kunst iiberhaupt, die ganz besondere Anlage zur Grapliik, zur Linie.
Sehr treffend charakterisiert diese Oscur Hagen in seinein ,,Deutschen
Sehen“. Mir scheint dieser Zug zum Linearen durch das ganze seelische
Wesen, so das Pravalieren des Gedanklichen vor dem Gemiitsleben
und den Hang zum Abstraktcn und Schematischen, im Sinne der
anasthetischen Elemente K .s und in Analogic mit dem sebizothymen
Charakter bedingt zu sein. Das lineare Geprage, das die bildnerischen
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
596
L. Stern-Piper: Kretschmers psycho-physische Typen
Digitized by
Darstellungen der Schizophrenen so haufig zeigen, durfte wohl nicht
damit inBeziehung zu bringen sein. Es ist femer gewiB keinZufall, daBiT.
bei der Ableitung und Schilderung der schizoiden bzw. schizothymen
Charaktereigenschaften als Beispiele rein nordische oder stark nordischen'
Einschlag aufweisende Personlichkeiten anftihrt, so Holderbn, Strind¬
berg, Uhland, Moltke, Ludwig II. von Bayern, Feuerbach, Tasso,
Michel Angelo, den Dichter Lenz, Schiller und Platen. Von seinen
angefuhrten speziellen Fallen ist der der Irene Hertel, die er als fein-
sinnig-kiihlen Aristokratentypus bezeichnet, fur unsere Auffassung
sehr verwertbar, da es sich bei ihr wie ihren beiden Briidern, einer
schizophrenen und zwei schizothymen Personlichkeiten, wohl um eine
ausgepragt nordische Geschwisterreihe handelt. Von Irene Hertel
heiBt es, daB sie ,,eine atherisch durchsichtige, hell blonde Erscheinung
mit schmaler Nase und blaugeaderten Schlafen“ ist, ihre Bewegungen
sind ,,langsam, fein, aristokratisch, mit einzelnen eingestreuten Eckig-
keiten . . . Sie hat etwas Fremdes und sehr Traumhaftes. Ihre Hand
ist schmal, lang und allzu biegsam“. Also eine elfenhafte Gestalt wie
aus einem nordischen Marchen oder einer Jakobsenschen Novelle. Der
altere Bruder ist schlank, mit ,,langem, blassem, kiihlem Gesicht, pedan-
tisch zugekndpft, formell, trocken, korrekt, sehr hdflich“, der jiingere
Bruder gleich der Schwester hellblond, ,,von durehsichtigem Teint
und zarten Gesichtsziigen, feinfuhlig, verbindlich“. Bei dem Madchen
wie ihrem jiingeren Bruder finden sich also auch die Rassenmerkmale
der blonden Haarfarbe und der weiBen durchsichtigcn Haut. DaB die
Hellblonden, besonders wenn sie zugleich eine weiBe zart-durckschim-
mernde Haut (nordische Eigenschaften) haben, im allgemeinen sen-
si bier, hyperasthetischer sind, durfte ja wohl feststehen.
Wir sehen aus dem Vorstehenden, daft 'parallel den Korperbau-
formen die zyklothymen und schizothymen Charakterziige, so wie sie K.
als normale seelische Gruppenmerkmale aus der zykloiden und schizoiden
Wesensart entwickelt, mit der seelischen Eigenlumlichkeii der alpinen
und nordischen Basse viel Beruhrungspunkte aufweisen, so daft es wohl
moglich erscheint, die betreffenden psychophysischen Typen als Bassen-
formen anzusprechen. Zykloid und schizoid sind danach nur Vergrobe-
rungen der seelischen Eigenschaften verschiedener Rassen. Einen guten
Beweis hierfiir durfte auch die Betrachtung der genialen Personlich-
keiten abgeben, der K. in seinem Buche ein besonderes Kapitel ge
widmet hat. Auf diese ubernormalen Personlichkeiten einzugehen,
wiirde uns jedoch zu weit fiihren, auch besitze ich dazu zu wenig verschie-
dene und einwandfreie Bildnisse. DaB unsere Darlegungen aber auch
fiir sie zutreffen, gilt mir als gewiB, so z. B. das starkere Vertretensein
von alpinen Bestandteilen bei denpyknisch-zyklothymenErzahlern, wie
das Vorherrschen von nordischen bei den asthenisch-schizothymen
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
und die Rassenformen in Deutschland.
597
Romantikern und Dramatikern. Man wird dies auch bei der rassenmaBi-
gen Betrachtung der einzelnen Volker und Volksteile, die hier in
Betracht kommen, finden. Im vorhergehenden hatten wir iibrigens schon
Gelegenheit, auf einzelne Geniale von diesem Gesichtspunkt aus hinzu-
weisen; wir erinnern auch an die Gegemiberstellung von Hans Thorua und
Anselm Feuerbach. Wenn wir kurz als Beispiel hier Schiller und Goethe
anfuhren, so sehen wir auf der einen Seite einen asthenisch-schizothymen
und zugleich sebr reinen nordischen Menschen, auf der anderen den
schizothym-zyklothym stark gemischten, wie auch rassenmaBig weit-
gehend legierten Goethe.
Das Problem ist damit ein rassenpsychiatrisches geworden. Es
muBte dem nach, falls K .s Behauptungen von den Beziehungen seiner
Typen zu der Schizophrenic, bzw. dem Schizoid und dem manisch-
depressiven Irresein durch geniigend zahlreiche Nachpriifungen an
groBem Material sich als richtig erwiesen haben, untersucht werden, ob
die alpine Basse sich zum manisch-depressiven Irresein besonders dis-
poniert zeigt und andererseits die nordische zu dem Schizoid und viel-
leicht auch zur Schizophrenic. Kloth, A. Meyer und Sioli haben an
Bonner Material inzwischen if.s Resultate bestatigt 1 ). Einige, aller-
dings nur sehr wenige Beobachtungen hegen vor, die fiir unsere Fragen
im positiven Sinne verwertet werden konnten. So erwahnt Popper
die starke Neigung der Deutsch-Bohmen zur Schizophrenic. Ganz be¬
sonders sind hier aber Ausfiihrungen von Rittershaus heranzuziehen.
Dieser Autor beobachtete namlich zu seiner groBen Verwunderung bei
seiner Gbersiedelung von Siid- nach Norddeutschland vor iiber 12
Jahren eine nur geringe Zahl von Manisch-Depressiven in letzterer
Gegend, und dabei waren diese Kranken haufig noch Siiddeutsche
oder Polen. Eine wesentliche Anderung ist darin nach seiner Meinung
auch jetzt nicht eingetreten, und er glaubt, daB ,,rassenbiologische
Einfliis8e“ in Betracht kommen konnten, die ,,vielleicht nicht nur die
Erscheinungsform, sondern auch die Art der Psychose zu beeinflussen"
vermochten. Rittershaus halt es auch fiir moglich, daB die Kraepelin-
schen Anschauungen aus diesem Grunde bei vielen norddeutschen
Psychiatern erst nach langer Zeit Zustimmung fanden, und es ist ferner
nach seiner Ansicht von Bedeutung, daB Heidelberg der Ausgangspunkt
dieser Lehre war, und daB die Autoren, die sich ihr anschlossen, ihre
Falle aus der siiddeutschen Bevolkerung nahmen. Goldstein hat laut
miindlicher Mitteilung wahrend seiner Konigsberger Tatigkeit ganz
ahnliche Erfahrungen wie Rittershaus gemacht.
Eine Disposition der alpinen Basse zum manisch-depressiven Irre-
-- I _ I L*1 T.
J ) EuxUd fand an der Erlanger Klinik ein haufiges Zusamnientreffen von
pyknischem Habitus und manisch-depressivem Irresein.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
598
L. Stern-Piper: Kretschmers psycho-physische Typeu
sein liegt nach alledem nahe 1 ); verschiedeneBeobachtungen lassen ferner
darauf schlieBen, daB auch andere pigmentierte, sog. melanochrorue
Rassen eine besondere Anlage zum manisch-depressiven Irresein be-
sitzen. Auf der anderen Seite scheint die pigmentarme nordische Basse
nicht zu dieser Erkrankung zu ncigen. Die normalen seelischen Eigen-
schaften der beiden Rassen stehen nach unseren friiheren Betraeh-
tungen damit in Einklang. Es miiBte daraus ein Zusammenhang
zwischen Affektivitat und Pigmentierung gefolgert werden, wobei man
nach den heute bestehenden Anschauungen als Bindeglied an die
Leistung von innersekretorischen Driisen denken konnte. GeruaB der
seelischen Eigenart der nordischen Rasse durften sich bei ihr besonder.s
hiiufig schizoide Personlichkeiten vorfinden, wofiir auch das Vorhanden-
sein der vielen schizoiden Genialen nordischer Rasse, wie sie auch K.
in scinem Buche anfiihrt, zu sprechen scheint. Eine Neigung der nor¬
dischen Rasse, auBer zum Schizoid, auch zur Schizophrenic konnte
inoglicherweise eine nur relative, scheinbar vorhandcne sein, bedingt
(lurch das geringe Vertretensein des zirkularen IiTeseins bei ihr. A her
ganz abgeschen von der Fragc nach der Schizophreniedisposition der
nordischen Rasse durften die Krankheitsbilder ihrer Schizophrenien
starker und in reinerer Form die schizoiden Merkmale zeigen, bei der
alpinen Rasse dagegen die Beimengung des zyklothymen Faktors ver-
schleiernd wirken. Daher scheint es auch zu kommen, daB so zahlreiche
schizophrene Dichter und Kiinstler nordischer Rasse, wie Strindberg,
Holderlin und van Gogh — die Schizophrenic des letzteren wire! aller-
clings von Birnbaum bestritten — in der Literatur der letzten Zeit,
so von Kretschmer, Storch und besonders von Jaspers, als besonders
gut ausgepragte schizophrene Tyj)en analysiert wurdeit.
Dadurch, daB wir unsere Bevolkeiung, v r ie die der europaischen
Volker uberhaupt, in ihre einzelnen rassenmaBigen Bestandteile sondern
und diese getrennt betrachten, haben wir gute Forschungsobjekte vor
uns, um die Frage nach der Becleutung der Rasse fiir die Art der geistigen
Erkrankung zu beantworten. Die zwei Wege, die methodisch dabei
eingeschlagen werden konnen, sind folgende: Erstens konnen Volker
oder Volksteile, die rassenmaBig nach bestimmten Seiten stark
abweichen, und zweitens einzelne durcli ihre Rasse gut gekennzeichnete
Personlichkeiten Ijetraehtet und miteinander vergliehen werden. DaB
es sich dabei um !Massenuntersuchungen, um groBe Zahlen liandeln
muB, ist selbstverstandlich. Durch ein gleiches oder ahnliches Ver-
') Nach meinen, sich allerdings auf noch keine sehr grolie Anzahl von Fallen
erstreckcnden Beobachtungen an dem Material der hiesigen Anstalt handelt, es
sich bei den Manisch-Depressiven, abgesehen von Juden, groBenteils um alpine
Menschen und besondere um alpin-nordische Mischlinge. Ich behalte mir vor,
spater ausfuhrlich dariilrer zu berichten.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
und die Rassenformen in Deutschland.
599
halten mancher Rassen, wie es bei der zykloiden Reaktion der pigmen-
tierten zu bestehen scheint, licCe sich aucb die Aufstellung von einzelnen
Grappen ermoglichen. Die Bedeutung der Rassenmischung kbnnte
dabei ebenfalls gewiirdigt werden. Hier haben wir es auch in der Hand,
die einzelnen Faktoren des Kulturkreises auszuschalten.
Literatur.
Bauer: Konstitutionelle Disposition zu inneren Erkrankungen. Berlin 1917.
— Baur, Fischer, Lenz: Menscldiche Erbliclikeitslehre. Miinchen 1921. — Birn-
baum: Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 77, 3. u. 4. H. 1922. — Bleuler:
Dementia praecox im Handbueh d. Psychiatrie. Leipzig 1911. — Bleuler: Be-
sprechung von Kretschmers ,,Korperbau und Charakter". Miinch. med. Wochen-
schr. 1921, Nr. 33. — Beringer u. Diiser: Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr.
69. 1921. — Burnke: tlber nervose Entartung. Berlin 1912. — Bumke: Die Pupillen-
storungen bei Geistes- u. Nervenkrankheiten. 2. Aufl. Jena 1911. — Bumke
u. Kekrer: Archiv f. Psychiatrie. 47. 1910. — Ewald: Zeitschr. f. d. ges.
Neurol, u. Psychiatr. 77, 3. u. 4. H. 1922. — Fischer: Zeitschr. f. Morphol.
u. Anthropol. 18. 1914. — Frets: Heredity of Headform in Man. 1921. — Hagen:
Deutsches Sehen. Miinchen 1920. — Jaspers: Strindberg u. van Gogh. Leipzig
1922. — de Jong: Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 69. 1921. — Kahn:
Bemerkungen zur Frage des Schizoids, ref. Zentralbl. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr.
26, 567. 1921. - - Kahn: Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 57. 1920. —
Kauffmann: Klin. Wochenschr. 1922, Nr. 39. — Klolh, A. Meyer u. Sioli: Vers,
d. psych. Ver. d. Rheinprov. 19. XI. 21. Autoreferat. — Kretschmer: Korperbau
u. Charakter. Berlin 1921, 2. Aufl. 1922. — Kretschmer: Miinch. med. Wochenschr.
1922, Nr. 4. — Kretschmer: Klin. Wochenschr. 1922, Nr. 13. — Kiippers: Zeitschr.
f. cL ges. Neurol, u. Psychiatr. 16. 1913. — Martin: Lehrbuch der Anthropologie.
Jena 1914. — Mbbius: t)ber die Anlage zur Mathematik. Leipzig 1900. — Paulsen-.
Korrespbl. d. dtsch. Ges. f. Anthropol., Ethnol. u. Urgesch. XLIX. Jg. Nr. 1/4.
1918. — Pfaundler: Klin. Wochenschr. Nr. 17. 1922. — Popper: Zeitschr. f. d. ges.
Neurol, u. Psychiatr. 62. 1920. — Ranschenberger: Die charakterologische u.
Rasse-Bedeutung der Adlernase. Frankfurt a. M. 1922. — Rehni: Das manisch-
melancholische Irresein. Berlin 1919. — Ripley: The races of Europe. 2. Aufl.
London 1912. — Rittershaus: Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 72. 1921. —
Scheldt: Miinch. med. Wochenschr. Nr. 51. 1921. — Siemens: Einfiihrung in d.
allg. Konstitutions- u. Vererbungspathologie. Berlin 1921. — Stern: Kulturkreis
u. Form der geistigen Erkrankung. Halle 1913. — Storch: Strindberg im Lichte
seiner Selbstbiographie. Miinchen 1921. — Strohmayer: Zeitschr. f. d. ges. Neurol,
u. Psychiatr. 77, 4. H. 1922. — Wuth: Konstitution u. endokrines System. Miinch.
med. Wochenschr. Nr. 11. 1922.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Zur Frage fiber den Mechanismus der (sogenannten Wurzel-)
Neuralgie des N. ischiadicus.
Digitized by
(Stormigen der Sensibilitat, der Re !exe, der motorischen und trophischen Sphare
unter dem Einflusse hemmender und anbahnender Stimuli, we.che von den Or-
ganen des ldeinen Beckens herriihren.)
Von
Ordentl. Prof. Michael Lapinsky,
in Zagreb (Agram) (vormals in Kiew, RuBland).
Mit 8 Textabbildungen.
(Eingegangen am 24. Oktober 1922.)
Mit dem Worte Neuralgie sind wir gewohnt die Schmerzen zu be-
zeichnen, die auf das Gebiet eines gewissen Nervs begrenzt sind. Diese
Schmerzen zeigen sich in Anf&llen, erreichen in denselben ihren Hohe-
punkt, zeichnen sich durch eine Steigerung, durch ein Stadium des
Nachlastens und einen schmerzen,sfreien Interval! aus.
Nach den Angaben, die von Hardy* 6 ), Valleix 107 ), Fernet 3 *),
Axdnfeld 1 ), Huchard 1 ), Romberg 63 ) und anderen f estgestellt wurden,
bleibt (bei der objektiven Untersuchung) die grobe Kraft, die Reflexe,
die Sensibilitat und die Ernahrung der Muskulatur im Gebiete des be-
troffenen Nervs intakt. Die von der Neuralgie befallenen Nerven-
st&mme zeigen bei dem Drucke auf gewisse Stellen eine groBe Empfind-
lichkeit (die Punkte von Valleix). Dabei sind keine organischen Ver-
anderungen der Nervenfasern gefunden worden, infolgedessen wird die
Neuralgie zu den funktionellen Neurosen gerechnet.
I.
Was die Neuralgie des N. ischiadicus betrifft, — das Leiden, das
nach Cotugno M ) ,,Ischias“ (1764) genannt wird, — so werden mit
diesem Ausdruck mehrere typische Symptome gemeint.
Dazu gehoren namlich: erstens, Schmerzen, die in Anfallen ver-
laufen und sich hauptsachlich auf der inneren Flache der unteren
Extremitat entwickeln. Zweitens wird die Empfindlichkeit beim
Drucke a) neben Spina ilei posterior., b) an der Stelle, wo der N. ischia¬
dicus aus Incisura ischiadica major heraustritt, c) auf dem Stamme des
N. ischiadici entlang, am unteren Rande des M. gluteus maximus,
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechaniamus usw.
601
d) im Verlaufe desselben Stammes zwischen dem Trochanter major
und dem Tuber ischii, e)*unter dem Capitulum fibulae, f) neben dem
Malleolus internus usw. fur die Ischias charakteristisch betrachtet.
Drittens ist fiir die Ischias der Schmerz, der in der unteren Extremi¬
tat beim Hinaufheben des ausgestreckten Being hervorgebracht wird,
maOgebend. (Symptom Lasegue.)
Viertens wird zu den Ischiassymptomen die skoliotische Kriimmung
des Riickgrates (zwar eine nicht selten vorkommende Komplikation)
gerechnet.
AuBer diesen Symptomen finden wir in der franzosischen Literatur
den Versuch, ein weiteres Symptom fiir Ischias in Betracht zu ziehen,
namlich die Schmerzen im Ischiadicus beim Niesen (symptom de
l’eternuement von Sicard 91 ), ein Symptom, das sich iibrigens auch bei
jeder anderen Neuralgie (z. B. bei intercostaler, Trigeminus-Neuralgie
usw.) vorfindet. Spater stand Sicard selbst von seinem Symptom ab,
da er fand, daB beim Niesen und Husten nicht der N. ischiadicus,
sondern Nervenbiindel und Cerebrospinalfliissigkeit erschiittert werden
(,,Le reveil aigue de la douleur sous l’influence de la secousse de toux,
de l’eternuement, n’a pas de valeur specifique, puisque le choc de la
masse intestinalle sur les troncs funiculaires peut etre responsable de
ce reveil paroxismatique aussi bien que le choc du liquide cephalo-
rachidieux sur les racines.“ p. 288).
Die elektrische Reaktion des N. ischiadici, die Reflexe, sowie die
raotorische Sphaera, die Ernahrung der Muskeln und die Sensibilitat
bleilxen in den typischen Fallen unverandert, so daB man die Ischias
zu den Neurosen, d. h. den Morbi sine materia rechnet.
Diese Behauptungen, die noch vor kurzem als unbestreitbar ge-
golten hatten, wurden in den letzten Jahren einer Priifung unterzogen,
wobei von mehreren Autoren im klinischen Bilde der Ischias neue
Symptome notiert wurden, — Symptome sog. Ischias radicularis, die
danach streben, das neue klinische Bild aus der Reihe der Neurosen
auszuschlieBen und sie unter die organischen Leiden einzureihen.
Lortat, Jacob, Sabareanu 63 ), 64 ), 65 ) behaupten namlich, nachdem
sie bei ihren Ischiaskranken Sensibilitatsstorungen festgestellt hatten,
daB die Lokalisation dieser Storungen bei Ischias eine atiologische
Beziehung zu den Wurzeln des Riickenmarkes hat. Darum schlagen
sie solche Falle vor (zum Unterschied von der ,,Stamm-“, oder ,,Biindel-
ischias“) als ,,Wurzelischias“ zu bezeichnen.
Diese Autoren finden, daB in solchen Fallen der Ischias die Anasthe-
sie- oder Hyperasthesieflachen eine Form von langen Streifen haben,
die die vordere oder riickwartige Flache der unteren Extremitat ein-
nehmen, wobei die Achse dieser Flachen mit der langlichen Achse der
Extremitat zusammenfallt. Sie betonen, daB die Konturen veranderter
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
602
M. La pi ns ky: Zur Frage iiber den Mechanismus der
Digitized by
Sensibilitat der Form und der Ausdehnung einzelner Zweige des N.
ischiadicus nicht entsprechen. Diese Flache unterscheidet sich ebenfalls
auch von den Anasthesiefiguren, die sich bei der Neuritis entwickeln;
bei derselben erscheint namlich die Sensibilitat nur in den Distalteilen
herabgesetzt, die Proximalgebiete dagegen konnen aber ganz unver-
andert bleiben. Lariat, Jacob, Sabareanu iiberzeugten sich auch, daB
die Topographie einer solchen veranderten Sensibilitat den Schemen
Thornburns, Kochers, Ross' und anderer genau entspricht. In ihrem
ersten Falle der Ischias haben Lortat, Jacob , Sabareanu die Beeintrach-
tigung der Sensibilitat iin 1., II., III., IV. und V. L. und im I., II. S.
beobachtet, wahrend die Sensibilitat am III. S. normal blieb. Im zweiten
Falle der Ischias finden sie Stoning der Sensibilitat in den Flachen des
V. L. und I., II., III. S.
Gaucler-Roussy 40 ) beschreiben einen Ischiasfall, bei dem die Sen¬
sibilitat in den Gebieten des II., IV. und V. L. zerstort. war. Im 5. und
6. Ischiasfalle dieser Autoren war die Sensibilitat in den Gebieten des
V. L. und I., II., III. S. beeintrachtigt. In den Fallen von Cavazenni 21 )
ist die Sensibilitat bei der bchias in den Gebieten des I. und II. S. ge-
schwacht. Das Gebiet des V. L. befand sich in normalem Zustande,
das des II., III. und IV. L. war aber mil Big herabgesetzt. Das Gebiet
des I. L. befand sich dagegen im Zustande einer Hyperasthesie. Im
8. Falle von Cavazenni war die Sensibilitat im Gebiete des IV. und V. L.
herabgesetzt. Im 9. Falle desselben Forschers fand man die Sensibili¬
tat in den Gebieten des IV. und V. L. verandert.
Bousset 3 ) fand bei seinen Ischiasfallen nicht nur eine Herabsetzung,
sondern ein vollkommenes Ausbleiben der Sensibilitat an der leidenden
Extremitat. Martinet 1 ' 1 ) beobachtete ebenfalls eine Verminderung der
Sensibilitat bei der Ischias.
Notta 16 ) fand bei dreien seiner Patienten eine Verminderung der
Sensibilitat in Form einzelner, unregelmaBig geformten Flachen; dabei
konstatierte er aber den Ausfall der Empfindlichkeit nicht auf dem
ganzen Ausbreitungsgebiete des N. ischiadicus, sondern nur an einigen
Stellen seiner Ausdehnung. Trousseau ") betont in seinen Vortragen
iiber die Neuralgic wiederholt Stoningen der Sensibilitat bei der Ischias
gefunden zu haben. Er beobachtet in seinen Fallen eine Hyperasthesie,
die sich spater in eine Anasthesie verwandelte.
Hubert-Valleroux**), die sich auf ihre eigenen Beobachtungen und
auf literarische Angaben stiitzten, auBerten sich ziemlich ausdriicklich,
daB bei der Ischias die Sensibilitat „immer“ verandert sei.
Homolle 45 ) findet bei Ischias die Sensibilitiitsstbrung in Form einer
Anasthesie. Doch erstreckte sich diese Verminderung der Empfind¬
lichkeit nicht auf die hintere Flache des Beines, auch nicht auf das
Grenzgebiet des N. ischiadicus, sondern auf die vordere und innere
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des N. ischiadicus.
603
Flache des Oberschenkels, im Gebiete also, das von den NN. cruralis
und obturatorius versorgt wird.
Phulpin 87 ) findet bei seinen Ischiasfallen eine Storung der Sensi¬
bilitat in einzelnen Flachen, wobei sich neben den Flachen, die sich
durch vollige Anasthesie auszeichnen, Flachen mit Hypasthesie oder
ganz normaler Sensibilitat vorfinden. Der Unterschied zwischen dieser
Anasthesie und jener hysterisehen Urspmngs zeigt sich, der Meinung
dieses Autors nach, dadurch, dab diese Flachen mit veranderter
Sensibilitat sehr unregelmabige Formen haben und sich durch un-
bestimmte Umrisse charakterisieren.
Dubarry 24 ), 25 ) behauptet, dab die Sensibilitatsstorungen bei
Ischias nicht in den Rah men der topograph ischen Grenzen peripherischer
Nerven hineinpassen, sich aber als einzelne Inseln ausbreiten, oder ein
gewisses Segment der Extremitat oder dessen ganze Oberflache ein-
nehmen. Dieser Forscher iiberzeugte sich, dab der Ausfall der Sensibili¬
tat ohne Veranderung der Muskulatur und ohne Storung der reflek-
torischen Tatigkeit verlaufen kann. Offenbar stimmte in diesen Fallen
die Herabsetzung der Empfindlichkeit mit dem Ausbreitungsgebiete
des N. ischiadicus nicht iiberein.
Brouadel, Gilbert , Pitres, Vaillard *) behaupteten, dab bei der Ischias
die Sensibilitat der Haut an der leidenden Extremitat Storungen von
verschiedener Intensitat und dabei von verschiedener Topographie
und Ausdehnung, von den kleinsten Inseln bis zu den grobten Flachen,
die oft die ganze Oberflache der Extremitat umfassen, zeigen kann.
Haitian* 3 ) findet, dab die Hautsensibilitat bei der Ischias sehr
oft gestort ist. Manchmal finden sich Flecken einer tiefsten Anasthesie
vor; seltener dagegen trifft man eine Hyperasthesie.
In ersteren Fallen der Ischias breitet sich die Anasthesie auf grobere
Flhchen aus. Usw. usw.
Auf Grund solcher Befunde entstand eine Meinung, dab die Ur-
sache der Ischias in einem Leiden der Wurzeln zu suchen ist.
Krahulick 28 ) nimmt an, dab die Ischias eine Erkrankung der
Wurzeln sei. Romberg 31 ) ist der Meinung, dab bei der Ischias nicht der
Stamm, sondern seine Wurzeln leidend sind.
Die Ursache der Sensibilitatsstorung findet Strusberg 96 ) in der
organischen Veranderung der Wurzeln oder der peripherischen Nerven
(und schliebt in solehen Fallen jeden Anted des Riickenmarkes aus,
S. 1779).
In den Beschreibungen dieser Autoren wird erwahnt, dab gleich-
zeitig mit der Storung der Hautempfindlichkeit bei der Ischias radicularis
sich auch die Sehnen- und Hautreflexe, die entweder gesteigert oder
beeintrachtigt sind, oder ganz fehlen, verandern konnen. Ofters kenn-
zeichnen sich solche Fade durch Abmagerung der Extremitat und Ab-
Archlv fiir Psychiatric-. Bd. 67. 40
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
604
M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechanismua der
nehmen der groben Kraft. Alle diese verschiedenen Symptome werden
von den Forschern zu einem der Ischias gehorigen Bilde vereinigt.
Die Ursache dieser Storungen, d. h. der Ischias radicularis, wird in
einer organischen Erkrankung der Wurzeln (gewohnlich Lepto-pachi-
meningitis caudae equinae oder raedullae spinalis) gesucht.
Dieser Meinung ist z. B. auch Dobrocholoff 28 ), der in alien seinen
Ischiasf alien ein Leiden der Riickenrnarkhullen sieht. Dobrochotoff
beruft sich dabei auf Nageotle 7B ), 81 ) und Sinel 7 ), die behaupten, daB
die Tunica arachnoidea, indem sie auf die Wurzeln iibergeht, um dieselbe
herum eine Duplikatur, eine tiefe Falte oder gar einen Sack, bildet,
der an der hinteren Wurzel tiefer und langer ist als an der vorderen,
wobei die in diesem Sacke sich ansammelnde cerebrospinale Fliissigkeit
die Wurzeln vergiftet und zu ihrer Erkrankung beitragt.
Sicard 76b ), der die Ischias radicularis ebenso anerkennt, unter-
scheidet sich von diesen Autoren dadurch, daB er vora Standpunkte
der pathologischen Anatomie an einer intrameningealen Erkrankung
der Wurzeln zweifelt, schreibt aber eine groBe Bedeutung in dieser
Beziehung der extrameningealen Erkrankung zu, welchen ProzeB er
mit der Benennung ,,funiculitis“ belegt.
Dejerine 31 ) (S. 94) sieht die Ursache der Ischias radicularis in einer
Erkrankung der Wurzeln im Inneren der Dura mater. Auf andere Weise
ware, seiner Meinung nach, schwer zu erklaren, warum die motorischen
nicht g'leichzeitig mit den sensorischen Fasern, sondern nur die senso-
rischen allein, angegriffen sind. In seinem Vorworte zu der Arbeit
von Camus setzt Dejerine seine Betrachtungsweise iiber die Radiculitis
als einen materiellen ProzeB auseinander. Er hielt diese Erkrankung
fur eine organische Veranderung der Riickenmarkwurzel, die durch eine
primare Erkrankung der Ruckenmarkshiillen hauptsachlich bei den
Luetikern verursacht sind (siehe S. 3).
Dufourt 32 ) hat einen Fall der Radiculitis beobachtet, der sich
infolge der Tuberkulose der Wirbelsaule entwickelte.
Laignel-Lavastinc et Verliac") sahen einen Fall von sklerotischer,
syphilitischer Meningitis, infolge derer eine Einklemmung und Ent-
ziindung der Wurzeln an der Stelle des Durchganges durch die Dura
mater stattfand. Die Querschnitte dieser Wurzeln zeigten unter dem
Miskroskop eine Zelleninfiltration, Entziindung.sherde, Riesenzellen,
Myellinschwund, Erscheinungen von Endo- und Periarteriitis. Im
Riickenmarke selbst entwickelten sich in diesem Falle sekundare resp.
konsekutive aufsteigende Fasernentartungcn.
Uber sekundare Veranderungen im Riickenmarke bei Radiculitis
besteht eine griindliche Untersuchung von Thomas 101 ), 102 ) und Na-
geotte 79 ), 80 ), die bei Radiculitis diese Veranderungen in den Strangen
von Burdach und Gall in Medulla oblongata konstatierten.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(sogenannten Wurzel-)Neuralgic des N. ischiadicus.
605
Camus 22 ) findet, daB die Lues die haufigste Ursache der Radicu¬
litis, und zwar in ihrem tertiellen Stadium (S. 107) ist. Fast immer fin-
dot in diesem Falle die Syphilis ihren Vermittler in den Hiillen des
Riickenmarkes, die, indem sie entziindlich infiltriert und sklerosiert
sind, die Wurzeln zerstoren. Die zweite Ursache, nach Beispielen haufi-
gen Vorkommens, ist die Tuberkulose, wobei ohne primare Veranderun-
gen der Knochen zuerst die Riickenmarkhaute von der kaseosen oder
fibroken Pachimeningitis oder Leptomeningitis getroffen sind.
Ellinger 30 ) hat sich iiberzeugt, daB bei Syphilis und bei Tuberkulose
eine skler&e Leptomeningitis, Arachnoiditis und Verdickung der Dura
mater stattfindet. Die Verdickung und Infiltration der Riickenmark¬
haute erscheint als haufigste Folge von Tuberkulose und Syphilis.
Nach den Forschungen 32 ) von Lanceraux, Westfall, Eisenlohr, Charcot-
Joffroy, William und Osier ist auch eine solche Pachimeningitis die Ur¬
sache der entziindlichen Veranderungen in den Wurzeln.
Klippel und Dainiille") haben in einem Falle akuter Meningitis,
im Laufe derer die Wurzeln durch die bindegewebigen Umschnurungen
zusammengepreBt waren, die Infiltration der Wurzeln durch junge
Gewebe gesehen.
Man beobachtete auBerdem ein isoliertes Betroffensein der Spinal-
wurzeln, ohne daB auch Riickenmarkshiillen infiltriert waren. So z. B.
sahen Widal und Le Sourd 109 ) bei normalen Riickenmarkshauten eine
Wurzelinfiltration, ein entziindliches Exsudat innerhalb der betrcffen-
den Wurzeln, Sklerose und Degeneration der Achsencylinder.
Die dritte Stelle in der Atiologie von Radiculitis nimmt die Gruppe
solcher Krankheiten, wie: Rheumatismus, Gonorrhoea, puerperale
Krankheiten, Influenza, Dysenterie, Parotitis, Erisipelas, epidemische
Cerebrospinalmeningitis. Bei Bleivergiftungen ist auch Radiculitis
beobachtet worden.
Wahrend des infektiosen Betroffenseins der Spinalwuirzeln erschei-
nen diese roscnkranzartig angeschwollen. Der entzundliche ProzeB
verbreitet sich da bei im Endonervium der Wurzel, wachst durch
den Querschnitt derselben und dehnt dabei ilire Hiillen ungleichmaBig
aus ( Nageotte-Richet 8l ). Auf den Querschnitten solcher Wurzeln sieht
man dann Leukocyteninfiltration des Wurzelgewebes, Entwicklung des
embryonalen Gewebes, und andererseits Myelinbrocken, Schwellungen
und Zerstorungen der Achsencylinder. Die Perinerviumschichten sind
an diesen Stellen ebenso stark verdickt. AuBerdem sieht man manchmal
GefaBveranderungen in Form von Endoarteriitis und Endophlebitis,
Wucherungen des embryonalen Gewebes den Gef&Ben entlang (DeMas-
sory 70 ) usw.
Camus 22 ) findet, daB die Muskelatrophie bei Radiculitis an eine
solche bei Erkrankungen der Spinalzentren erinnert. Manchmal kann
40*
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
606
M. Lapinsky: Zur Frage tiber den MeehanLsraus der
Digitized by
sich dabei z. B. Mai perforant, Knochenhypertrophie usw. entwickeln.
Camus- 0 ) glaubt, dab die Radiculitis vom pathologisch-anatomischen
Standpunkte aus viel Allgemeines mit den Polyneuritiden hat
(S. 98). Von anderer Seite aber zeigen die auf die pathologische Anatomie
fuBenden Beobachtungen dieses Autors, dab die Symptome von Radi¬
culitis sich auch bei lokalem Betroffensein der Hinterhorner entwickeln
konnen (L'Anatomie pathologique . . . montre . . . des syndromes radi-
culaires purs par lesions, limitees aux cornes posterieures, p. 103), infolge-
dessen ist in den Fallen, wo die klinische Diagnose auf Radiculitis
lautete, in Wirklichkeit nichts anderes, als eine Affektion der Hinter¬
horner gewesen. Gbrigens zeigen auch die pathologo-anatomischen
Forschungen anderer Autoren, dab bei Radiculitis folgerichtige Ver¬
anderungen im Riickenmarke — namlich in den sensorischen resp.
zentripetalen Bahnen — beobachtet worden sind ( Laignel-Lavastine 69a ),
Nageotte 72 ), So ), Thomas 101 ), 102 ). Demzufolge wird das reine klinische
Bild von Radiculitis durch die sich hier hinzufiigenden Veranderungen
im Riickenmarke verwischt.
Auf diese Weise wollen die Autoren aus der allgemeinen Gmppe
der Ischiadicusneuralgie eine Wurzelneuralgie desselben Nervs ab-
sondern, die man keinesfalls als Neurose betrachten kann, sondern selbe
in die Zahl der organischen Erkrankungen rechnen mub. In atiolo-
gischer Beziehung steht diese Form in nachster Verbindung mit Lues,
Tuberkulose, Meningitis und verschiedenen infektiosen Erkrankungen,
die von den plastischen Prozessen begleitet werden. Vom Gesichts-
punkte der pathologischen Anatomie aus entwickeln sich diese Erkran¬
kungen in den Wurzeln des Plexus lumbo-sacralis. Das klinische Bild
dieser radicularen Neuralgie charakterisiert sich subjektiv durch typi-
sche Schmerzen, objektiv durch eine Veranderung der Sensibilitat,
der Reflexe, der inotorischen und trophischen Sphare. In therapeu-
tischer Beziehung erreicht man vorziigliche Erfolge durch Anwendung
spezifischer, d. h. antiluetischer Thera pie.
Diese neue Anschauung unterscheidet sich wesentlich von den in
dieser Beziehung jetzt herrschenden Betrachtungen. Indem man bis
jetzt die Lschias fur eine peripherische Neurose ohne pathologo-anato-
mische Veranderungen der Nervenstamme hielt, wird die radiculare
Neuralgie fur die Folge einer organischen Veranderung derselben ge-
halten. Dieser Prozeb als solcher entwickelt sich aber nicht mehr in
der Peripherie und iiberhaupt nicht mehr im Gebiete einer Extremitat,
sondern innerhalbdesRiickgratkanals. Die Autoren, dieeinenorganischen
Prozeb im Grunde dieser Erkrankung anerkennen, lokalisieren diesen
letzteren sehr genau in den spinalen Wurzeln und sehen dessen erste
Ursache in der Erkrankung der weichen oder liarten Hiillen des Riicken-
markes. Da dieser crganische Prozeb entweder die Nervenfasern in den
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des X. ischiadicus.
607
Wurzeln vollkoramen vernichtet oder nur bis auf Verlust ihrer Funk-
tion zusammenschnurt, auBern sich die Folgen dieser Erkrankung
auBer den Schmerzen, die sich in die Peripherie projizieren, noch auch
in anderen Symptomen, die von dem Verlaufe der zentripetalen und
zentrifugalen Fasern in den Wurzeln abhangig sind. Die Erkrankung
der ersteren bringt den Verlust der Reflexe und der Sensibilitat mit sich,
weil erstens in den hinteren Wurzeln dor zentripetale Teil des Reflex-
bogens verlauft, und zweitens ebenda auch Fasern liegen, die dem
BewuBtsein Mitteilungen iiber Schmerzen, Temperatur, Druck, Beriih-
rungsempfindungen, Muskelgefuhl usw. bringen. Eine Erkrankung
der zentripetalen und zentrifugalen Fasern wird aber also von einer
Veranderung der Reflexe, der Motilitat, der Muskelatrophie und der
elektrischen Reaktion begleitet, weil der zentrifugale Teil des Reflex-
begens durch vordere Spinal wurzeln verlauft, und da sich eben da jene
Fasern befinden, die willkiirliche Beweguncen verrichten und trophische
Impulse erzeugen. Da die vermutete Erkrankung der Riickenmarks-
htillen zum Betroffensein einzelner Wurzeln fiihrt, muB sich das
klinische Bild durch den Ausfall samtlicher soeben aufgezahlter Funk-
tionen, aber nur im Verbreitungsgebiete dieser Wurzeln, iiuBern. Was
aber die Sensibilitat betrifft, so massen infolgedessen Streifen auf der
Haut der Extremitaten entstehen, auf denen die Sensibilitat vollkommen
fehlt oder bloB herabgesetzt ist, namlich den Schemen von Kocher,
Thomburn, Seifert, Strieker 9 *) und anderer entsprechend, die solche
Streifen und Figuren des Sensibilitatsausfalles beim Betroffensein ein¬
zelner Riickenmarkssegmente, oder ihrer Vertreter, d. h. einzelner
Wurzeln, gefunden und begriindet haben.
Indem die Autoren ein neues Krankheitsbild schufen, befriedigten
sic nicht jene Anspriiche, die an dieses neue Syndrom gestellt werden
konnten und losten nicht die Zweifel, die auch schon vor der Schopfung
der neuen Lehre bestanden. Da die Autoren auf das alte klinische Bild
der Ischias nicht verzicliteten, so ware es vom anatomischen Stand-
punkte aus moglich, je nach denAusbreitungsgebieten dreiLschiasformen,
und zwar eine Neuralgie des Nervenstammes, eine Neuralgie der Zweige
des N. ischiadicus und eine Ischias radicularis abzugrenzen.
Am naturlichsten ware also in dieser Beziehung die Behauptung,
daB die Neuralgie des Ischiadicusstammes eine Erkrankung einer Strecke
des Stammes N. ischiadici sei, und zwar von dem Punkte dieses Nervs
oberhalb des Knies an, wo seine peripherischen Zw r eige bereits in den
Stamm getreten sind, bis oberhalb des Collum femoris, wo dieser Stamm
sich in seine Wurzeln ergieBt. Bei den Schmerzen auf dem Unterschenkel
sollte man von der (Peroneus oder Tibialis) Neuralgie der Zw'eige
sprechen. Die schmerzhaften Empfindungen, die sich oberhalb des
Collum femoris lokalisieren, d. h. dort, wo der Stamm des Ischiadicus
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
8
M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechanistnus der
Digitized by
seine einzelnen Wurzeln aufnimmt, sollten als Wurzelneuralgie be-
zeichnet werden.
Da die Wurzeln dieses Nerven sich in breiter Facherform frei in das
Gebiet des kleinen Beckons vertiefen und dann in das Gebiet des Riick-
gratkanales wetter in den Sack der Dura mater treten, hatte man die
Moglichkeit, iiber die Neuralgie der Ischiadicuswurzeln in den Grenzen
des kleinen Beckens, iiber eine solche in den Foramina intervertebralia,
iiber die Wurzelneuralgie des N. ischiadicus im Gebiete des Riickgrat-
kanales, der Lange der Dura et Pia mater nach usw. zu sprechen. Bei
tier Diagnose der Wurzelneuralgie miiBte man also verschiedene Lokali-
sationen dieses Prozesses seiner Lange nach, vom Collum femoris an
bis zum Riickenmarke, d. h. im Gebiete des kleinen Beckens, in den
Foramina intervertebralia, in dem Ruckgratkanale und in den Sacken
der Dura et Pia mater zu differenzieren verstehen.
Gegen eine solche Annahme sprechen aber Untersuchungen Stoffels,
die zeigten, daB N. ischiadicus nicht seiner Lange, sondern seines Quer-
schnittes nach in einzelne Teile zerlegbar ist. Stoffel 960 ) wendete nam-
lich an Leichen ein besonderes Mittel der Nervenpraparierung an, indem
er einen Glasring auf einzelne sensible Hautzweige der hinteren Extremi-
tat zog, und diesen Ring der ganzen Lange des N. ischiadicus nach
hinaufschob. Er iiberzeugte sich dabei, daB die sensiblen Faden dieses
Nervs uberall von den motorischen Fasern getrennt sind. Was die
sensiblen (Haut-) Zweige des N. ischiadicus anbelangt, so bildet jeder
derselben, da er iiber eine eigene Lokalisation im Querschnitt des Nervs
und in der Haut an der Peripherie verfiigt, ein selbstiindiges Biindel,
das man von dem angegebenen Hautgebiete der unteren Extremitat-
iiber den ganzen Plexus sacralis bis zu dem Riickenmarke verfolgen
kann.
Dies findet Stoffel auch in bezug auf die Nervenzweige, die nicht
Bestandteile des N. ischiadicus sind. Man kann sie ebenfalls als einzelne
Biindel durch verschiedene Wurzelgeflechte bis zu dem Riickenmarke
verfolgen; ebensolche selbstandige Biindel stellen z. B. infolgedessen
dar: die NN. clunei inferior et medius, die die Haut des GesaBes ver-
sorgcn, und N. cutaneus femoris posterior, der iiber die Hautempfind-
lichkeit der hinteren Hiiftenflache verfiigt, wie auch N. cutaneus
surae medialis, N. cutaneus surae lateralis, N. suralis, die letzten Zweige
der NN. peronei profundi et superficialis und NN. plantares.
Stoffel behauptet, daB nur die sensiblen Fasern, keinesfalls aber die
motorischen Faden des N. ischiadicus, im Ischiasprozesse einen Anted
haben. Seiner Meinung nach'bildet der N. ischiadicus keinen fest zu-
sammenhangenden Nervenstamm, sondern ein loses Geflecht einzelner
Biindel, und zwar von verschiedenen Funktionen, die nur mechanisch
zu einem Ganzen verbunden sind. Infolgedessen gibt es, seiner Behaup-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des N. ischiadicus.
609
tung nach, keine Neuralgie des ganzen Ischiadicusstammes, sondern nur
die Neuralgie einzelner Biindel, die diesen Nerv bilden.
Das Abgrenzen der Ischias stellte vom anatomischen Standpunkte
aus auch friiher manche Schwierigkeiten dar.
Cotugno 20 ), der das Bild der Ischias feststellte und sich dabei haupt-
sachlich auf die Klagen der Patienten stiitzte, gab eine vorziigliche Be-
schreibung des Laidens, vermochte aber weder in anatomischer Be-
ziehung noch bei der Feststellung der Lokalisation des Ioidens genauere
Daten anzugeben. Dieser Umstand veranlaBte seine Zeitgenossen und
Nachfolger zu einer Anzahl Auseinandersetzungen des zu behandelnden
Leidens, — Auseinandersetzungen, die nicht immer der Wirklichkeit
entsprachen. So z. B. erkennen einige Autoren (Biro 1 *), Talma 9 *) und
andere) zwei Typen der Ischias an. Erstens Ischias posterior, die
ihrer Meinung nach eine Anzahl von Schmerzen, unangenehraen Empfin-
dungen, Parasthesien und anderen verscliiedenen Storungen anderhin-
teren Seite des Beines, in den Grenzen des Kreuzplexus hervorbringt;
zweitens Ischias anterior (die vordere Form), die sich durch dieselben
Storungen an der auBeren und inneren Flache der unteren Extremitat,
d. h. in deni Gebiete des Lenden-Wurzelplexus charakterisiert.
Da die an Ischias Leidenden oft fiber Schmerzen in der Lenden-
gegend oder an den Seitenteilen des Korpers (oberhalb der Crista
iliaca) klagen, so schreiben einige Arzte auch diese letzteren Schmerzen
und auch Lumbago dem Bilde der Ischias zu. Obwohl diese Schmerzen
nicht immer mit dem Gebiete des N. ischiadicus ubereinstimmen, weil
die genannten Stellen von den Brustnerven versorgt werden, schienen
sie doch den Autoren zu der Ischias gehorig, weil die Lendengegend
teilweise auch von den Wurzeln aus dem Kreuz-Lsndengeflechte, dessen
unterer Teil ein Bestandteil des N. ischiadicus ist, bedient werden.
Um so leichter konnten diese Gelehrten das Lumbago der Ischias bei-
legen, da eine objektive Untersuchung in solchen Fallen gewohnlich
eine Sehmerzhaftigkeit beim Drucke der Nervenstamme, die aus den
Lendenwurzeln entspringen (N. iliohypogastricus und besonders des N.
ischiadicus selbst) zeigt.
Es gibt einige Autoren, die bestrebt sind, sich von alien anatomischen
Schranken zu befreien. So behauptet z. B. Biingner' 1 ), daB die Ischias
zu den diffusen Leiden gehore, die sich nur wenig auf ein bestimmtes
Territorium beschriinken. ,,Die Ischias ist eine im Kbrper schon 1angst
verbreitete Erkrankung" (S. 833).
Andere Forscher halten es fur mdglich, das Bild der Ischias liber die
Greuze des N. ischiadicus hinaus zu erweitern. So findet Strusberg 91 ), daB
die Ischias nicht nur eine Erkrankung des N. ischiadicus ist, sondern
sich auch auf mehrere Nerven, die aus dem Riickenmarke oberhalb
oder unterhalb des N. ischiadicus hervorgehen, ausbreitet. (,,Als
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
610
M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechanismus der
Digitized by
lschias bezeichnete Erkrankung be&chrankt sich nicht immerauf das
Gebiet der Hiiftennerven, sondern kann auf ausgedehnte Nerven-
gebiete, die sowohl hoher wie tiefer am Riickenmark ihren. Ursprung
haben, iibergreifen“, S. 1779.)
Andererseits stellt Sicard 92 ), die Mannigfaltigkeit der kliiiischen
Bilder bei der ,,lschias essentialis“ in Betracht ziehend, ein klinisches
Kriterium nur fur einen Symptomenkomplex fest, der der lschias ent-
spricht. Seiner Meinung nach mussen folgende Symptome aus dem
Bilde der ,,Lschias essentialis“ ausgeschlossen werden: 1. Doppel-
seitige Schmerzen, 2. Schmerzen bei Verwickelung der Geschlechts-
organe, des Rectums und der Sphincterstdrungen, 3. ausstrahlende
Schmerzen in das Bauchgebiet oder in die Regio inguinalis, 4. Schmerzen
bei Storungen der vasomotorischen Spharen (Varices, Odern, Mai per-
forant), 5. Schmerzen bei Storungen der motorischen Spharen, die mit
Paralysen verkniipft sind u. dergl., und schlieBlich: 6. werrn das Leiden
im Alter von 12 bis 15 Jahren erscheint. Dagegen rauB die Skoliose,
nach Sicards Ansicht, als charakteristisches Symptom der Lschias l)e-
trachtet werden.
Diese Schwierigkeiten in der Abgrenzung der Ischiasform sind auch
bis jetzt noch nicht gelost und werden in der neuen Lehre von ,,lschias
radicularis 11 nicht beriicksichtigt. Sehr wenig erklart das neue Krank-
heitsbild auch die Eigentumlichkeit der objektiven Untersuchung in den
Ischiasfalien, bei welcher der Schmerz beim Druck auf den Nerv sich
nicht mit den Grenzen subjektiver Schmerzempfindung deckt. Infolge-
dessen konnen sich z. B. willkiirliche Schmerzen auf der hinteren Ober-
flache des Beines konzentrieren, und sind infolgedessen alle Griinde
dazu gegeben, eine Neuralgie desStammes desN. ischiadicus zu diagno-
stizieren, erweisen sich aber bei der objektiven Untersuchung sehr
schraerzhaft NN. peroneus sujxrficialis, surae posterior et lateralis,
als ob nicht der Stamm des N. ischiadicus, sondern diese seine Zweige
von der Neuralgie befallen waren. Indessen mu3 aber vom Standpunkte
einer radicularen Neuralgie aus auch der Stamm des N. ischiadicus
druckempfindlich sein, wenn seine Zweige infolge Erkrankung ihrer
Wurzeln beim Drucke schmerzhaft sind, und zwar aus dem Grunde,
weil dieser Stamm die Fasern der betroffenen Zweige in sich enthalt, —
weil diesem Stamme auch dieselben Wurzeln angehoren, die an der Bil-
dung seiner Hauptzweige teilnchmen.
Autoren, indem sic organische Veranderungen der Wurzeln in ihren
Ischiasfallen annehmen, und indem sie die Ursache dieser Erkrankung
am haufigsten in der Erkrankung der Riickenmarkshullen lokalisieren,
glauben den pathologischen Tatbestand der lschias gefunden zu haben,
der, wenn auch nicht fiir die ganze ungeheuere Kasuistik dieses Leidens
maBgebend, so doch mindestens fiir die Kranken gilt, bei denen sich
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(sogenannten Wurzel-)Xeuralgie des X. ischiadicus.
611
bei objektiver Untersu chung eine Stoning der Sensibilitat, der Reflexe-
tatigkeit usw. herausstellt. Bedauerlicherweise gibt es in diesera Ver-
suche — den Tatbestand der Ischias zu ergriinden — nichts Neues,
weil die Erkrankung der Riickenmarkshaute nicht nur vom pathologo-
anatoinischen Standpunkte aus, sondern auch in klinischer Beziehung
sehr gut bekannt ist. Von diesem Standpunkte aus haben die Autoren
keinRecht, die Falle von Pachi-lepto-meningitis, in denen das Symptom
Lasegues oder der Valleixschen Druckpunkte vorhanden ist, als Ischias
zu betrachten; ebenso hatten sie auch kein Recht gehabt, die Falle von
Tabes fur Ischias zu halten, weil bei diesen Fallen solche Symptome
konstatiert worden waren.
Anderseits treten jene Gelehrten, die das klinische Bild der Ischias
als eine Neurose ohne pathologo-anatomische Unterlage darstellen,
vollkoramen aus den Grenzen der Ischiaslehre heraus.
Das Erforschen der Ischias veranlaBt uns infolgedessen schon jetzt
mehrere Fragen und Einzelheiten im Gebiete des Ischiasbildes, die schon
von anderen Autoren auf eine oder andere Weise gelost worden waren,
nochmals zu durchmustern.
Sehr interessant ist z. B. die Frage der Atiologie der Ischias, d. h.
des Mechanismus, der bei alien gleichen Bcdingungen eine Erkrankung
bloB jener Nervenfasern begiinstigt, die in den Stamm des N. ischiadicus
eintreten. Sehr wichtig scheint es auch zu entscheiden, warum bei der
Ischias Zweige desselben Plexus lumbosacralis, die einen geinein-
samen Ursprung mit dem N. ischiadicus haben — namlich NN. cruralis
et obturatorius —, dabei vollkommen verschont bleiben konnen und
warum NN. clunei, gluteus inferior, cutaneus femoris posterior, gluteus
superior dabei viel seltener oder viel weniger betroffen worden sind.
Wie bekannt, bilden ein Teil der Fasern der XII. Brustwurzel und
die Wurzeln des Lenden- und Kreuzteiles des Riickenmarkes, indem
sie sich miteinander verschlingen, den Plexus lumbosacralis. Der Ober-
teil des Plexus lumbosacralis, der den Plexus lumbalis bildet, nimmt
einen Teil der Fasern der XII. Brustwurzel, Lendemvurzel I, II, III
und einen Teil der IV. Lendemvurzel ein. In das Kreuzgeflecht treten
die iibrigen Teile der vierten, die ganze V. Lendenwurzel und samtliche
Kreuzwurzeln ein.
Diese zwei Geflechte bilden den Ursprung folgender peripherischen Xerv r en
der unteren Extremit&t. 1. X. ilio hypogastricus entspringt der XII. Brust- und
der I. Lendenwurzel. 2. X. ilio inguinalis zweigt sich von der I. Lendenwurzel ab.
3. N. genito cruralis geht aus der I. u. II. Lendenwurzel hervor und teilt sich in
zwei Zweige: X. spermaticus externus u. X". lumboinguinalis. 4. N. cutaneus
femoris lateralis entspringt aus der II. Lendenwurzel. ;>. X. cruralis aus den I., II.,
III. und IV. Lendenwairzeln. 6. X. obturatorius aus der II. u. III. Lendenwurzel.
Das Kreuzgeflecht, das aus der IV. u. V. Lenden- und aus der I., II., III., IV.
und V. Kreuzwurzel hervorgeht, bildet mehrere Xervenstamme, nfimlich: I. Der
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
612
M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechauismus dor
Digitized by
motorische Zweig zum N. pyriformis aus der II. Kreuzwurzel. 2. N. gluteus su¬
perior entspringt den Wurzeln der V. L. und I., II. S. 3. N. gluteus inferior ent-
springt der I. und II. Kreuzwurzel. 4. N. cutaneus femoris posterior gekt aus
der I. und II. Kreuzwurzel hervor und zerf&llt in folgende Zweige: a) NN. clunii
inferiores gehen zu der Haut des unteren Teiles des GesaBes; b) NN. perineales
verzweigen sich ini Perineum; c) NN. cutanei femoris posteriores gehen als einzelne
St&mme unter der Fascie, dann unter der Haut bis zu der Mitte des Oberschenkels,
wobei einzelne Zweige bis zu der Mitte der Wade hinabreichen. 5. N. isckiadicus
stammt aus alien Wurzeln des Plexus sacralis — also ist dieser Nerv aus IV. und
V. L. und I., II., III., IV. und V. S. gebildet. Die sensiblen Zweige dieses Nervs
teilen sich in der Haut der hinteren, auBeren und antero-lateralen Oberflache des
Unterschenkels und des FuBes.
Einer Erkliirung bedurfen auch Bedingungen, die bei alien gleichen
Umstanden die Druckempfindlichkeit nicht des ganzen N. ischiadicus
saint seinen skmtlichen peripherischen Zweigen verursachen, sondern
solche Schmerzhaftigkeit entweder bei den peripherischen Zweigen
allein oder nur bei dem Stamme dieses Nerven oder nur l>ei einer
Abzweigung desselben, z. B. N. cutaneus femoris posterior, begiinstigen.
Dadurch auBern sich diese objektiven Symptome der Neuralgie in solchen
Fallen nur bei einzelnen Teilen des N. ischiadicus, dagegen bleiben
andere Teile desselben Nerven beim Drucke unempfindlich und mussen
infolgedessen fiir ganz gesund gehalten werden.
Die Unordnung im Gebiete der reflektorischen Tiitigkeit verdient
ebenso erwahnt zu werden: in einigen Fallen sind die Reflexe erhciht,
bei anderen sind sie dagegen verloren gegangen oder konnen auch normal
bleiben. Diese verschiedenen Zustande konnen entweder durch eine
organische Erkrankung verursacht werden, oder sind sie von den
funktionellen Einfliissen (Hemmung — Anbahnung) abhangig. Von
diesem Standpunkte aus muB man jedesmal fiir jene Schwankung der
Reflexe eine spezielle Erklarung suchen.
Der Zustand der Sensibilitat in der befallenen Extremitat laBt sich
auch in Erwagung ziehen. In diesem Falle muB man nicht nur den
Stand der Sensibilitat im Gebiete des Nerven Ischiadicus und fruker
aufgezahlter Zweige, die mit dem N. ischiadicus gemeinsamen Stamm
haben, feststellen, sondern die Sensibilitat soil auch im Gebiete von
NN. cruralis, obturatorius und von unteren Brustnerven in Betracht
gezogen werden. Bei der Untersuchung der Hautsensibilitat muB man
auf alle ihre Eigenschaften, d. h. auf Beruhrungsgefiihl, Schmerzempfin-
dung, Kalte-, Warme-, Dnick- und Muskelgefiihl usw. genaueste Auf-
merksamkeit zuwenden. Weiter muB man auch beriicksichtigen, ob alle
Arten der Sensibilitat infolge der erkrankten jx'ripherischen Nerven
(oder ihrer Wurzeln) sich gegen die Peripherie gleichmaBig und all-
mahlich (sog. distaler Typus) herabsetzen; oder ob sich bloB einzelne,
resp. besondere Arten derselben mit Auswahl (sog. Sensibilitatsstorungs-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des N. ischiadicus.
613
typus intraspinalen Ursprunges) verandern. Endlich muB man darauf
achten, ob die Sensibilitatsveranderung sich diffus oder bandartig,
inselformig, in Form einzelner geometrischer Figuren (Rhomben,
Kreise, Strange) auBert (sog. radicularer oder segmentarer Typus der
Sen si bi litatsstoru ngen).
Auf diese Punkte Riicksicht nehmend, erlaube ich mir einigeF&lle
von Ischias mit den SchluBfolgerungen, die diese Beobachtungen ziehen
lassen, zu veroffentlichen.
II.
I. Sc hi.man, 42 Jahre alt, Kontrolleur in der Frauenabteilung einer
Tabakfabrik, klagt letzte zwei Monate iiber intensive Schmerzen an der hinteren
Seite seines linken Beines, die ihn weder gehen, noch sitzen, noch schlafen lassen.
Bei genauem Ausfragen gibt er an. daB er auBer Schmerzen im Beine noch Schwere-
gefiihl im Kreuze und Perineum cmpfindet
Bei deni systematischen und ausfiihrlichen Ausfragen stel'.t es sich heraus,
daB die Symptome dieser Erkrankung sich schon vor 20—25 Jahren fiihlbar
machten. Diese Symptome iluBerten sich in einem unangenehmen Schweregefiihl
im Kreuze und in den Schmerzen nach Pollutionen in der linken Ges&Bgegend
Diese Empfindungen vergingen gewohnlich im Laufe eines Tages und besonders
dann, wenn der Patient eine gute Strecke zu EuB zuriicklegen muBte. Seitdem
er vor 8 Jahren seinen Dienst verandert hatte und der Kontrolleur in erw&hnter
Frauenabteilung der Tabakfabrik geworden ist, wiederholten sich bei ihm PoJlu-
tionen, weil er sehr empfindlich gegen die Erauenwelt war. Gleichzeitig sind die
erw&hnten unangenehmen Empfindungen im Kreuze, im Beine und im Perineum
wieder erschienen. Bald bemerkte Sch.. ., daB diese Empfindungen auch ohne
Pollutionen, uber immer in den Nachmittagsstunden sich zeigten, — nachdem er
dienstlich als Kontrolleur die Arbeiterinnen, wie es in solchen Eabriken iiblich ist,
,,untersuchen“ muBte. Diese Arbeiterinnen, die um die Mittagszeit die Eabrik
vcrlieBen, verhielten sich wahrend dieser Untersuchung, um die Gunst des Kon-
trolleurs zu gewinnen, sehr herausfordernd, infolge dessen regte sich bei dieser
Kontrolle Herr Sch .... auf und dabei „traufelte bei ihm der Saft aus dem Gl>ede“
usw. Im Alter von 35 Jahren erkrankte er an Gonorrhoea mit Orchitis. Zwei Jahre
sp&ter entstanden bei ihm zum ersten Male heftige Schmerzen im Beine, die sich
nach 3—5 tagiger Bettruhe beruhigten. Seitdem beginnt or sein Bein immer nach
dem „stiirmischen Coitus 11 zu fiihlen. Zum zweiten Male bekam Herr Sch . . .
einen Anfall von neuralgischen Schmerzen, nachdem er eine schwere Last auf-
gehoben hatte: zu dieser Zeit entstanden bei ihm auBer Schmerzen im Beine noch
Schmerzen im Kreuze und schwoll ihm die linke Hodo an. Bettruhe und heiBe
U mschlage auf die erkrankte Hode beruhigten dieselben; gleichzeitig schwanden
die Schmerzen im Kreuze und Beine. Die jetzige letzte Attacke entstand bei ihm.
nachdem er eine Nacht in einer starken, aber erfolglosen Aufregung verbrachte,
weil die betreffende Frau sehr widerspenstig und unnachgiebig war. Dabei hat
er viol Wein getrunkeu und hat sich moglicherweise crkiiltet. Nachsten Morgen
erschienen bei ihm unertragliche Schmerzen im Kreuze, Perineum und in dem
linken Beine. Gleichzeitig schwoll bei ihm auch die linke Hode an. Von dieser
Zeit an hat der Patient sich der Bettruhe unterzogen; auBerdem wandte er Wftrme,
Galvanisation, Massage an, aber ohne groBen Nutzen.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
614
M. Lapinsky: Zur Frage liber den Meohanismus der
Digitized by
Bei objektiver Untersuchung merkt man folgendes: das linke Bein hat normale
Konturen nnd ist nicht angeschwollen. Beim Betasten ist aber dieses Bein kalter
als das rechte. Der Patient halt das linke Bein in dem Knie- und Hiiftengelenke
gebeugt. Beim Herausstreckon des Beines empfindet er eine Schwere, und ein
Ameisenlaufengefiihl im Beine. Aktive Bewegungen in alien Gelenken und Muskel-
gmppen des linken Beines sind leicht moglich. Der Umfang des linken Beines ist
dem des rechten im Chopartschen Gelenke, 4 Querfinger unter Tuberositas
tibiae, in dem unteren Viertel des Oberschenkels und in der Beinwurzel
gleich. Passive Bewegungen sind in alien Gelenken leicht moglich; aber die Beugung
des ausgestreckten Beines im Huftgelenke erzeugt ein starkes Schmerzgefiihl,
dem N. ischiadicus entlang. Die Ge¬
lenke fluktuieren nicht und . geben
keine Empfindung der Crepitation bei
passiver Bewegung. Beim Drucke ge-
gen den N. tibialis auf seinem ganzen
Verlaufe im Wadengebiete empfindet
der Patient starke Schmerzen; NN.
peroneus, popliteus und ischiadicus
(im Gebiete des Oberschenkels, an
Tuber ischii und in der N&he von
Spina ilei posterior) sind gar nicht
druckeinpfindlich; NN. clunei inferior,
superior et lateralis, N. cruralis mit
seinen Hauptzweigen und N. obtura-
torius sind ebenso beim Drucke nicht
schmerzhaft. Plexus liypogastricus
sehr druckempfindlich. Die Unter¬
suchung der Sensibilit&t fiir Be-
riihrungs-, Schmerz- und fiir Tempera -
turempfindungen zeigte auf dem gan¬
zen Fu Be, dem Unterschenkel, der hin-
teren und auBeren Oberflache des
Oberschenkels ganz normale Verhalt-
nisse. Dagegen lieB sich eine starke
Empfindlichkeit fiir Nadelstiche auf
der linken Seite des Scrotum, Peri¬
neum, im Gebiete des XII. D. am
Riicken beiderseits und auf der vor-
deren Oberflache des Oberschenkels
im Gebiete des I. und II. L. konsta-
tieren (Zeichnung 1). Der Kitzelreflex
links fehlt, rechts ist er normal. Cremasterreflex ist beiderseits normal. Der
Achillessehnenreflex fehlt auf der linken Seite, rechts ist er normal. Die Patellar -
reflexe sind beiderseits normal. Die Bauchref'exe, der obere und der mittlere
sind normal, beide unteren fehlen. Dio linke Hode ist angeschwollen. Epididymis
ist sehr schmerzhaft. Die Untersuchung per rectum rief einen heftigen Schmerz an
tier vorderen Oberflache des Kreuzbeines hervor. Die Prostatadriise ist sehr groB,
weich, mit einigen groBen Erwoiterungsherden und beim Betasten sehr schmerz¬
haft. Bei vorsichtiger Massage dieser Druse, auch der Samenblasen, die auch
sehr verdickt erscheinen, entleeren sich diese Herde, dabei lauft aus Urethra unge-
fahr ein Teeloffel eitriger blutgefiirbter Fliissigkeit.
Den ersten Tag nach der Prostata massage hat der Patient Urindrang empfun-
Abb. 1. Schema Krowers. Hvperasthesie
im Gebiete XII. D. auf beiden Seiten
(nur von hinten). I., II., L. und am Scro¬
tum links.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des N. ischiadicus.
615
den, aber die Schmerzen im Beine sind schon im Laufe der Nacht so sehr Under ge-
viorden, daB der Patient den nachstenTag aufstehen und den Arzt besuchen konnte.
Drei Tage nach der Prostatamassage stellte die Untersuchung das Symptom
von Lasegue, wie friiher, fest. Auch war der N. tibialis beim Drucke schmerzhaft;
dagegen ist die Hyperasthesie der Hode, des Perineum, des XII. D. und I., II. L.
vollkommen verschwunden. Kitzelreflex und Achillesreflex am linken Beine normal.
Die Hode ist nicht mehr vergroBert, aber der Epididymis ist beim Drucke noch maBig
schmerzhaft. Keine Ver&nderung der galvanischen Reaktion an den NN. ischia¬
dicus, cruralis, obturatorius beiderseits.
Diagnosis: Ischias, Prostatitis,
Spermatocystis. Behandlung: Ther-
raohydrotherapie und Massage der
Prostata, resp. Spermatocysten. Nach
einem Monate solcher Behandlung sind
die spontanen Schmerzen verschwun¬
den. Bei objektiver Untersuchung
fand man folgendes: Der N. tibialis ist
maBig beim Drucke empfindlich.
Lasegues Symptom negativ. Der Kitzel¬
reflex, der Achillessehnenreflex und die
Hautsensibilitat iiberall normal. Die
Prostatadriise maBig empfindlich.
Nach drei Monaten hat der Patient
wieder diesel ben Schmerzen im linken
Beine bekommen. Wieder ist das
Lasegue-Symptom vorhanden. N. tibia¬
lis ist dieses Mai nicht schmerzhaft
beim Drucke; dagegen ist der Stamm
vom N. ischiadicus nicht nur an den
typischen Stellen, d. h. an Incisura
ischiadica, an Collum femoris, sondern
auch auf seinem ganzen Verlaufe vom
unteren Rande des M. glutei bis zur
Kniekehle druckempfindlich. Die Sen-
sibilitat ist am linken Beine fiir Warme.
Kalte und Beriihrung ganz normal,
dagegen fur Nadelstiche am Unter-
schenkel (Zeichnung 2), im Gebiete S lf
S,, L s und an der vorderen Oberflache
Abb. 2. Drei Monate spiiter; Herab-
setzung der Schmerzempfindlichkeit im
Gebiete L. I, II, auf beiden Seiten und
L. V, S. I, II am linken Beine.
Schema Kochers.
des Oberschenkels im Gebiete L lf 2 herabgesetzt. Der rechte Ischiadicusnerv an
der Hohe der Glutealfalte beim Drucke sehr schmerzhaft. Patellar- und Achilles-
sehnen-, auch Kitzel- und Cremasterreflex sind normal. Samtliche Bauchreflexe
weichen von der Norm nicht ab. Kein Symptom Lasegues ist auf dem rechten Beine
zu konstatieren. Die Empfindlichkeit fur Nadelstiche ist aber auch auf dem rechten
Beine im Gebiete L,, 2 herabgesetzt. Linke Hode ist hart und angeschwollen;
Epididymis ist sehr empfindlich. Auch die rechte Hode und Epididymis sind beim
Betasten schmerzhaft, hart und angeschwollen. Untersuchung und Massage der
Prostatadriise sind fiir den Patienten sehr schmerzhaft. Die linke und rechte Hiilfte
der Prostata sind vergroBert, und beide enthalten Erweichungsherde. Sehr emp¬
findlich ist Vesicula seminalis auf der linken Seite. Wahrend der Massage der
Prostatadriise und beim Drucke auf Vas deferens floB beinahe ein Teeloffel rot-
licher eitriger Fliissigkeit heraus.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
616
M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechanism us der
Digitized by
Der Patient behauptet, daB die Verscharfung der Schmerzen in seinen Beinen
von der Zeit begann, als er die Arbeiterinnen in der Fabrik anting zu untersuchen.
Jedesmal regte er sich dabei auf, und fiihlte gleichzeitig ein Schwere- und W&rme-
gefiihl im Perineum, im Riicken und leichte Schmerzen im linken Beine. Diesen
Anfall von Schmerzen erklart er durch Ereignisso einer Nacht, drei Tage vorher,
,,die er sehr stiirmisch von geschlechtlichem Standpunkte verbracht hatte“.
Es wurden dem Patienten drei Kerzen (Ergotin Bonjeani 0,3 Ext. belladonna
0,015, Ext. opii 0,02) tfiglich und Bettruhe verschrieben. AuBerdem wurdo ihm
die Notwendigkeit klargemacht, die „Frauenkontrolleurstelle“ zu verlassen, das
Trinken zu vermeiden, und ein maBiges Geschlechtsleben zu fiihren.
Xach einer Woche teilte der Patient dem Arzte mit, daB die verschriebenen
Kerzen ihm sehr gut geholfen und er jetzt keine Schmerzen mehr habe. Bei
objektiver Untersuchung ist die Hautsensibilit&t auf dem rechten und linken
Beine normal gefunden. Die rechte und die linke Hode haben eine normale Kon-
aistenz, aber beide Epididymiden sind maBig empfindlich.
. Der angefiihrte Fall ist in vielen Beziehungen interessant.
Bei erster objektiver Untersuchung ist eine Reihe von Symptoinen
konstatiert worden, die zugunsten einer organischen Veranderung des
Nervensystems gesprochen haben. Nftmlich, trotzdem die Hautsensi¬
bilitat normal erschien, fehlten die Kitzel- und Achillessehnenreflexe;
da aber diese Reflexe zwei Tage s pater sich wieder zeigten, da auBerdem
auch die Hyperasthesie verschwunden, iiberdies die Motilitat nicht
betroffen und keine Muskelatrophie zu konstatieren war, muBte infolge
einer solchen Unbestandigkeit der Symptome eine organische Lasion
ausgeschlossen, dagegen eine funktionelle Erkrankung angenommen
werden.
Die Sensibilitats veranderung stellte eine segmentare oder radiculare
Topographic und einigermaBen eine Dissoziation dar. Die Sehinerz-
empfindliehkeit zeigte sich namlich das erstemal an gewissen Stellen
sehr erhoht, zur Zeit der Rezidive aber war dieselbe herabgesetzt.
Temperatur- und Beruhrungiigefuhl zeigten sich an denselben Stellen
ganz normal.
(In Wirklichkeit deckten sich einige Figuren von Kocher nicht voll-
kommen mit denen der Hautsensibilitatsveranderung bei unserem Kran-
ken: z. B. auf der Abb. 1 zeigt sich die Hautsensibilitat im Gebiete
des XII. D. ganz normal, aber nur von vorne; auf der Abb. 2 ist
die Hautsensibilitat im Gebiete des I. und II. L. unverandert, aber nur
von hinten.)
Eine besondere Erwagung in dieser Topographie verdient der
Umstand, daB die Sensibilitat bei der linken Ischias sich nicht nur links,
sondern auch auf dem rechten Beine verandert zeigte (Abb. 1, D. XII.,
Abb. 2, L. I., II.). Andererseits zeigte sich die Sensibilitatveranderung
bei der Neuralgie des Nervus ischiadicus nicht nur im Gebiete der
Wurzeln, die den N. ischiadicus bilden, z. B. L. V., S. I., II. (Abb. 1),
sondern auch im Gebiete solcher Wurzeln, die an der Bildung des X.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
( 80 genannten YVurzel-)Neuralgie des N. ischiadicus.
617
ischiadicus keinen Anted nehmen (z. B. D. XII. und L. I., II. Abb. 1
Oder L. I., II. Abb. 2).
Zu bemerken ist, daB die Kitzel- und Achillesselinenreflexe zur
Zeit des Rezidivs normal waren, die Schmerzempfindlichkeit (fiir
die Nadclstiche) aber im Gebiete des S. I. und L. V., die diese Reflexe
bedienen, zu derselben Zeit vermindert war. Auf diese Weise lieB sich
also ein Bctroffensein der zentripetalen Leitung, und zwar mit einer
gewissen Auswahl konstatieren; die Schmerzleitung war namlich ge-
hemmt, die Beruhrungs- und Temperaturempfindung und el)enso die
zentripetalen Teile der Reflexbogen sind dagegen vollkommen intakt
geblieben.
Die Druckempfindlichkeit des N. ischiadicus zieht auch die Auf-
merksamkeit auf sich. Der Nervenstamm war bei der ersten Unter-
suchung nicht druckempfindlich, obwohl der Patient die Schmerzen
im ganzen Beine fiihlte. Dagegen erschien der Stamm des N. ischiadicus
wahrend der Rezidive sehr empfindlich. In der zweiten Krankheits-
periode war dagegen der Nervenstamm druckempfindlich, ohne
daB der Patient spontane Schmerzen fiihlte. Dagegen N. tibialis auf
dem linken Beine, der in der ersten Krankheitsperiode druckempfind¬
lich war, hatte jetzt wahrend der Rezidive seine Druckempfindlichkeit
verloren. Merkwurdigerweise war zu dieser Zeit der Nervus ischiadicus
nicht auf der kranken, sondern auch auf der gesunden Seite druck¬
empfindlich. Vom atiologischen Standpunkte tritt die Erkrankung der
Organe des kleinen Bee kens sehr deutlich hervor.
Aus der Anamnese, aus den subjektiven Beschwerden und bei
objektiver Untersuchung sieht man, daB der Patient eine chronische
Prostatitis hatte.
Eine Prostataerkrankung laBt sich auch aus den Klagen des Pa-
tienten iiber oftere Pollutionen in den jugendlichen Jahren, und aus
dessen Erwahnungen von prostatischem ,,Safte“ vermuten, der bei der
,,Frauenkontrolle“ traufelte. Gleichzeitig mit diesem chronischen
Leiden des Genitalapparates tritt auch der oft wiederkehrende Schmerz
in dem linken Beine hervor.
Der atiologische Zusammenhang zwischen diesen beiden Leiden
scheint sehr iiberzeugend zu sein. Aus den Erzahlungen des Patienten
selbst, der sich sehr genau beobachtete, laBt sich diese Abhangigkeit
der Schmerzen, die sich zum ersten Male im Beine fiihlbar machten,
von dem Zustande der Prostatisdruse konstatieren. Dieselbe geriet
augenscheinlich jedesmal bei der Kontrolle und der Untersuchung der
Arbeiterinnen in einen Zustand der Hyperamie und Hypersekretion.
Ebenso spricht zugunsten dieses Zusammenhanges die Verscharfung
der Schmerzen nach einem nicht gelungenen Coitus oder nach einem
,,zu stiirmischen Geschlechtsakte“ usw. Endlich bestatigt diese Ver.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
618
M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechanismus der
Digitized by
mutung der Erfolg der Prostatamassage (mit Entleerung aus dieser
Druse eitriger, blutgefarbter Fliissigkeit), nach der eine Beruhigung
der Schmerzen im Beine eingetreten ist. Da diese Schmerzen schon
nach der ersten Massage sich beruhigten und nachlieBen, beweist das
den atiologischen Zusanimenhang der beiden Leiden.
Diesel be Massage verursachte auch die Wiederhcrstellung der
normalen Empfindlichkeit auch an den Stellen, wo sich vorher eine
Hyperasthesie oder Hypalgesie konstatieren lieB. Dieselbe Wirkung
hatte die Massage auch auf den Zustand der Reflexe und auf die Hoden-
schwellung.
Dieser Umstand drangt die SchluBfolgerung auf, daB eine Ver-
anderung der Prostatadriise, ihre Hypersekretion oder eine Retentio
ihres Sekretes, eine Reibe krankhafter Symptorae bei unserem Patienten
zur Folge hatte. Dadurch namlich konnten: a) die Schmerzen im Ge-
biete des linken Nervus ischiadicus entstehen, b)infolgedessenveranderte
sich die Empfindlichkeit fur Nadelstiche auch auBerhalb dieses Nervs,
namlich am Rucken und in den unteren Extremitaten, c) durch die
Erkrankung dieser Druse konnten die Kitzel-, die Achillessehnen- und
die unteren Bauchreflexe gehemmt werden, d) endlich konnte auch
dadurch die Blutzirkulation in der Hode verandert werden.
Von diesen Zustandsveranderungen waren (abgesehen von der
Konsistenz der Hoden) nur die Veranderungen der Reflexe und die
Konturen der Gebiete mit veranderter Sensibilitat einer objektiven
Kontrolle zuganglich.
Das Schmerzgefiihl an und fiir sich ist zu den subjektiven BewuBt-
seinszustanden zu rechnen, die bei gewohnlichen objektiven MeB-
methoden schwer zu ermessen sind; daher ist es schwer nach der Massage
der Prostata eine wirkliche Veranderung dieser Schmerzen, d. h.,
ihre Verminderung oder VergroBerung unter dem Einflusse dieses
Eingriffes feststellen zu konnen. (Obwohl immer auf eine wohltuende
Wirkung der Massage zu schlieBen ware, weim man den subjektiven
Empfindungen des Patienten glauben konnte.)
Zugunsten der Ischiasdiagnose sprachen in diesem Falle dasLasegue-
Symptom, die Dmckempfindlichkeit des Nervenstammes und die typi-
schen subjektiven Beschwerden. Ausgeschlossen waren Neuritis, Arthritis,
Rheumatismus, Erkrankungen der Riickenmarkshullen, Radiculitis usw.
Die Sensibilitatsstorungen entsprachen in diesem Falle den Typen,
die von Kocher, Thornburn und anderen Autoren fiir die Beteiligung
der einzelnen Wurzeln oder Segmente festgestellt worden sind. Infolge-
dessen konnte man hier von einer radicularen Ischias im Sinne von Camus,
Dejerine und anderen reden, hatte aber mit demlypus genannter Autoren
nur durch die Figuren der veranderten Sensibilitat Ahnlichkeit, aber
auch diese Figuren bewahrten ihre Grenzen nur eine kurze Zeit, um selbe
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(sogenannten Wurzel-)Neuralgie dcs N. ischiadicus.
619
sp&ter nach einer ganz kurzen Periocle zu verlieren, weil die Storungen
der Sensibilitftt, die sie hervorgebracht, wieder verschwanden. Aus
diesem letzten Umstand laBt sich der SchluB ziehen, daB man in diesem
Falle der radicularen Ischias von einer funkticnellen Erkrankung reden
konnte; eine organische Erkrankung der Wurzeln war aber wie gesagt
in diesem Fade infolge einer # schneden Wiederherstedung der verander-
ten Spharen vodkommen ausgeschlossen.
II. Th. Ko .... sski, 44 Jahre alt, tritt in die Univereitatsnervenklinik ein
< Arzt-Kurator E. 0. Pobyvanetz) und klagt iiber Schmerzen ini rechten Beine den N.
ischiadicus entlang. Dieser Schmerz
entstand ziemlich akut, Mitte August,
in Form sehr unangenehmer Empfin-
dungen imGesaBe, blitzartiger Schmer¬
zen auf der rechten Seite im Scapular-
gebiete und im rechten FuBe. Einen
Monat vorher lieB sich der Patient
von Dr. Varavka kurieren, der ihm
unter anderen auch nasse Umsehlfige
und Flatten mit dem Biigeleisen ver-
ordnete, aber leider ohne jeden Erfolg.
Vor mehreren Jahren litt Herr K...s-
ski an Urethritis 'gonorrhoica und
wurde damals mit Injektionen be-
handelt. Lues ist in Abrede gestellt.
Bei objektiver Untersuchung lieB
sich die Skoliose des unteren Brust-
teiles konkav nach rechts feststellen.
Die rechte gluteale und Wadengegend
hatten im Vergleiche mit denselben
Teilen links einen verkleinerten Um-
fang. Die Huftgelenke der beiden
FuBe waren fur passive Bewegungen
ganz frei und nicht schmerzhaft. Das
linke Kniegelenk war ganz normal;
das rechte Kniegelenk ist vor 15 Jahren
infolge einer traumatischen Lasion
reseziert worden. Die Sprung- und
Zehengelenke beiderseits waren ganz
normal.
Die aktive Motilitat im rechten
Beine war gut erhalten. Die elektrische Reaktion (der faradische und galvanische
Strom) wich nicht von der normalen ab.
Das Symptom Lasegue war am rechten Beine sehr ausgepragt. Der rechte
N. ischiadicus war bei in Drucke in der Glutealgegend, auf der Hohe von Spina
sehiadica posterior, Collum femoris und in der Glutealfalte sehr empfindlich.
NN. tibilialis und peroneus waren weniger druckempfindlich. Die Hautcmpfind-
liehkeit fur Warme, Kalte, Beriihrung und Schmerz an beiden Beinen, am Bauche,
am Riicken, an der Brust, und an den beiden oberen Extremit&ten weicht im
ganzen nicht von der Norm ab, aber einzelne Gebiete, namlich XI., XII. D. und
I., II., III. L. (Abb. 3, Kochers Schema) vorne rechts, und von hintenXI., XII. D.,
Archlv filr Psychlatrie. Bd. 67. 41
Abb. 3. Eine Hyperalgcsie im Gebiete
D. XI, XII, L. I, II, III und S. Ill,
IV, vor der Massage der Prostata-
druse.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
620
M. Lapinsky: Zur Frage liber den Meehanismus der
Digitized by
I., II., III. L. und III., IV. S. rechts hinten zeigten eine Hypalgesie. Am st&rk-
sten war die Hyperalgesie in der Nfihe von Spina anterior, inferior ausgeprftgt.
Die Kitzel-, Cremaster- und Bauchreflexe verhielten sich normal; auch Achilles-
sehnenreflexe wichen von der Norm nicht ab; der linke Patellareflex verhielt sich
in den normalen Grenzen. (Der rechte Patellarrcflex war infolge der Resektion
des rechten Kniegelenkes nicht moglich hervorzubringen.) Die Untersuchung
der Kleinbeckenorgane per rectum lieB eine groBe, sehr empfindliche Prostata
mit einigen Erweichungsherden feststellen. Die vordere Oberflache des Kreuz-
beines war bei dem Drucke mit dem Finger sehr empfindlich; Regio promontoria bei
dem Drucke sehr schmerzhaft; ebenso
der Plexus hypogastricus superior.
Diagnose: Ischias, Prostatitis.
Die verordnete Behandlung be-
stand aus HeiBluftbadem und Massage
der Prostatadriise. Nach drei Mas-
sagen dieser Druse (Dr. A. B. Brovrin-
ski) haben die Schmerzen im Beine
nachgelassen. Die Prostata, die wah-
rend dieser drei Massagen auch sehr
schmerzhaft war, war wahrend der
vierten Massage schon weniger emp¬
findlich und die Erweichungsherde in
ilirem Inneren verschwanden.
Die Untersuchung der Sensibilitat
eine Woche nach dem Beginn der Be¬
handlung hat dieses Mai festgestellt,
daB die Hypalgesie im Gebiete D.
XI., XII., L. I., II., III. und S. III.,
IV. rechts verschwunden ist, dagegen
eine noch starkere Hypalgesie (Abb. 4)
an SegmentenL. I., 11 sich entwickelte.
Die Kitzel-, Cremaster-, Bauch- und
Achillessehnenreflexe waren beider-
seits normal.
Nach der zehnten Massage der
Prostata war die Hautsensibilitat auf
der vorderen und liinteren Oberflache
des rechten Beines, des Riickens und
des Bauches wieder vollkommen lier-
gestellt. Eine Ausnahme in dieser Be -
ziehung, aber nur im Gebiete des L.
II., in der Nahe des Spina anterior
inferior, zeigte jetzt das rechte Bein,
wo sich eine starke Hyperalgesie kon-
statieren lieB.
Nach den zwei folgenden Massagen der Prostata sind die Schmerzen im rechten
Beine noch schwaclier geworden. Die Sensibilit&tsuntersuchung stellte am rechten
Beine ganz normale Verhaltnisse fest; was aber das linke Bein anbelangt, das der
Patient als ganz gesund betrachtete, zeigte sich jetzt an demselben eine bedeutende
Hyperalgesie im Gebiete des L. I. (Thomburns Schema, Abb. 5). Plexus hypo¬
gastricus ist auf Druck ebenso schmerzhaft wic friiher. Dagegen ist die Prostata
weniger schmerzhaft geworden. Im weiteren Verlaufe der Krankheit ist auch
Abb. 4. Nach der 4. Massage der
Prostata: Hyperalgesie ist verschwun¬
den, statt dessen entwickelte sich eine
Hypalgesie in L. I, II rechts.
Abb. 5. Eine hyperalgetische Zone in
L. I am linkcn Beine nach wiederholten
Massagen der Prostatadriise.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des N. ischiadicus.
621
diese Hyperalgesie verschwunden. Die Hautsensibilit&t war an beiden Beinen
wieder vollkomraen hergestellt. Die Prostatadriise und Plexus hvpogastricus
sind fiir den Druck weniger schmerzhaft geworden. Nach einem Monate wurde
der Patient aus der Klinik gesund entlassen. Die spontanen Schmerzen waren
vollkommen verschwunden. das Lasegue stark vermindert. Die Hautsensibilitat
wich von der Norm nicht ab.
Auch in diesem Falle ist Ischias konstatiert worden. Zugunsten
dieser Diagnose sprachen spontane typische Schmerzen, starke Empfind-
lichkeit der Nerven beim Drucke, Skliose und das Symptom Lasegues.
AuBerdem lie Ben sich die den Schemen Thornburns, Kochera u. a.
entsprechende Sensibilitatsstorungen im Gebiete einzelner Segmente,
resp. Wurzeln, feststellen, infolgedessen ware auch dieser Fall als
Ischias radicularis zu betrachten. Diese Beobachtung ist insofern
interessant, da die Hautempfindlichkeit in diesem Falle nicht nur im
Bereiche des erkrankten N. ischiadicus, sondern auch auBerhalb des-
selben auf der vorderen Oberflache des Bauches und Oberschenkels
im Gebiete der Wurzeln D. XI., XII. und L. I., II., III., die an der
Zusammenstellung des X. ischiadicus keinen Anteil nehmen, veriin-
dert war.
Die Sensibilitatsstorungen hatten keinen bestandigen Charaktcr
und waren von sehr unsteter Lokalisation; dabei veranderte sich die
Sensibilitatsfarbung gerade in einer diametral entgegengesetzten
Richtung, infolgedessen wurde z. B. Hyperalgesie durch Hypalgesie
abgelost, spater aber zeigte sich wieder Hyperasthesie auf der Stelle,
wo friiher Hypalgesie war. Die Unstetigkeit und Beweglichkeit dieses
Bildes der Sensibilitatsstorungen auBerto sich endlich darin, daB das
Gebiet erhohter Empfindlichkeit von der erkrankten rechten auf
die gesunde linke Seite iiberging. Nicht samtliche Arten der Sen¬
sibilitat, sondern nur jene Empfindlichkeit fur Nadelstiche waren
verandert; dagegen waren Beriihrungs-, Temperatur- und andere
Arten der Sensibilitat unverandert. Eine interessante Eigentiimlichkeit
zeigten hier die Reflexe. Cremasterreflex z. B. reagierte auf Hautreizung,
trotzdem die Schmerzempfindlichkeit im Gebiete der I., II. und III.
Lendenwurzeln, die diesen Reflex bedienen, herabgesetzt war. Ebenso
verhielt sich auch der Patellarreflex, der vorhanden war, trotzdem
die Schmerzleitung im Gebiete der II., III. und IV. Lendenwurzeln,
die diesen Reflex vermitteln, vermindert war. Auch tier Achillessehnen-
reflex war vorhanden, trotzdem die Wadenmuskulatur atrophisch
aussah.
Diese Tatsachen lassen den SchluB ziehen, daB die zentripetale
Leitung in diesem Falle mit einer gewissen Auswahl betroffen war,
infolgedessen die Sensibilitat fiir Nadelstiche gelitten hatte, dagegen
die Beriihrungs- und Temperaturempfindung und zentripetale Bahnen,
41*
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Digitized by
{522 M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechanismus der
die die Reflexbogen bedienen, unverandert geblieben sind. Auch in
diesem Falle lafit sich ein chronischer ProzeB (Prostatitis) in den Organen
des kleinen Beckens konstatieren. Ebenso kann man hier einen atiolo-
gischen Zusammenliang des eben behandelten Symptomenkomplexes,
besonders der Schmerzen im Beine, der Schmerzhaftigkeit des Plexus
hypogastrici beim Drucke und der Hautsensibilitatsstbrungen mit
dem Verlaufe dieses Prozesses im kleinen Bee ken feststellen. Besonders
scharf tritt dieser Zusammenhang hervor, wenn man auch den nach der
Massage der Prostata erreichten therapeutischen Effekt in Betracht
zieht. Nachdem sich da infolge dieser Massage die Schmerzhaftigkeit
der Prostatadriise verminderte, haben sich auch die Schmerzen im
Beine und die Druckempfindlichkeit des Plexus hypogastricus ver-
mindert und hat sich die Hautsensibilitat des Beines verandert.
Auch in diesem Falle kann man also von einer Ischias radicularen
Typus reden, die gleich der friiheren Beobachtung eine funktionelle
Erkrankung darstellt, weil alle Symptome sehr schnell verschwinden
und wieder die normalen Verhaltnisse eintreten.
III. Go.. . man, 52 Jahre alt, klagte iiber Schmerzen im rechten Beine,
den N. ischiadicus entlang, die nach seiner Aussage sich infolge von „Ermiidun-
gen und sitzender Lebenswoise einstellten und schon lange dauerten“. Die letzten
6 Monate wandte der Patient mehrmals — zweeks Behandlung seines Leidens —
Galvanisation seines Beines, Bader, Massage und ahnliches, aber ohne groBen Erfolg
an. Vor 2 Monaten verbog sich bei ihm das Riickgrat nach einer Seite, und die
Arzte stellten ihm die Diagnose „Ischias scoliotica“.
Vor 15 Jahren hatte der Patient ahnliche Schmerzen, aber auf der linken Seite,
namlich im hnken Beine, im Gebiete des linken Hiiftgelenkes und im Kreuze
gehabt, die mit einigen Intervallen ein paar Jahre dauerten. Als Folge dieser
Schmerzen veranderte sich die Funktion des linken Hiiftgelenkes. Bei passiven
Bewegungen konnte man den Oberschenkel in diesem Gelenke nicht iiber 60—65°
beugen. Gleichzeitig anderte sich auch der Gang bei ihm. Der Patient begann
etwas zu hinken, sich beim Vorwartsbewegen nach der linken Seite zu beugen.
AuBerdem tritt aus der Anamnese hervor, daB er vor 25—30 Jahren ein Leiden
des genitalen Apparatus (Urethritis) gehabt hatte.
Bei objektiver Untersuchung wichen die passiven und aktiven Bewegungen
im FuBe, im Unterschenkel und im Kniegelenke des linken Beines nicht von der
Norm ab; was das linke Hiiftgelenk betrifft, gingen in demselben die aktiven und
passiven Bewegungen bloB in den Grenzen 55—60° vonstatten; bei weiterem
Biegen des Beines entsteht eine Anspannung im hinteren Teile der Hiiftgelenks-
hiillen, dabei erzeugon aber alle Arten von aktiven und passiven Bewegungen keine
Schmerzen — weder im Hiiftgelenke, noch im Kreuze, noch iiberhaupt im linken
Beine.
Das Hiiftgelenk ist in seiner auBeren Gestalt etwas verandert worden, zeigte
aber keine starke Abweichung von den normalen Verhaltnissen. Die Muskulatur
ist am linken GesaBe etwas atrophisch. AuBorhalb dieser Veranderung im Hiift-
gelenke erscheint das linke Bein in bezug auf Hautsensibilitat, Reflexe, Druck¬
empfindlichkeit der Nervenstamme usw. ganz normal.
Was das rechte Bern betrifft, wichen die grobe Kraft und die passiven Be¬
wegungen in samtlichen Gelenken von den normalen Verhaltnissen nicht ab.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des N. ischiadicus.
62a
Das Lascgues-Symptom ist sehr deutlich ausgepragt. Der rechte N. ischiadicus
ist beim Drucke auf der Hohe des Collum femoris in der Glutealfalte und oberhalb
des Knies sehr schmerzhaft. Ebenso sind der N. peroneus beim Drucke am Capi-
tulum fibulae und N. tibialis in der Kniekehle und an der FuBsohle schmerzhaft.
Die Patellar-Achillessehnen, Kitzel- und Cremasterreflexe sind normal. Die
Bauchreflexe sind sehr deutlich. Das Riickgrat ist m&Big skoliotisch nach rechts
gekriimmt. Plexus hypogastricus, renalis et Solaris'sind beim Drucke sehr schmerz-
haft.
Dio Untersuchung der Hautsensibilit&t fur Nadelstiche, Beriihrung, Warme
und Kalte zeigte bei dem Patienten eine Herabsetzung aller Empfindungsarten im
Gebiete L. II., III., IV. und V.
auf der inneren und vorderen Seite
des rechten Beines und eine Hyper-
asthesie im Gebiete D. XII. und L. I.
an der vorderen Oberflache des-
selben (Abb. 6). Die Untersuchung
per rectum stellte eine vergrdBerte
und sehr empfindliche Prostatadriise
fest. Beim Urethroskopieren (Dr. S.
S. Rei*e) wurden eine starke Schwel-
lung imd Hyperamie des Colliculum
seminale und auf der vorderen Ober¬
flache der Prostata kleine fibrose
Auswiichse und Granulationen kon-
statiert. Bei der Untersuchung per
rectum wurde auch Massage der
Prostata ausgefuhrt, wahrend derer
ein halber Teeloffel eitriger blut-
gefarbter Fliissigkeit aus Urethra
herausfloB. Bei dieser Gelegenheit
wurde auch mit der elektrother-
mische.n Nadel eine Kaustik der Pro¬
stata ausgefuhrt und dabei wurden
aus der Pars prostatioa urethrae
finige fibrose Auswiichse und Granu¬
lationen weggeschnitten. Als Folge
dieses operativen Eingriffes entstand
eine ziemlich starke Blutung aus
dem Penis, die beinahe 24 Stunden
dauerte. Nach dieser Blutung haben
nach der Aussage des Patienten die
Schmerzen im Beino nachgelassen
und der Lendenteil des Riickgrats, der bis jetzt skoliotisch gekriimmt war, ist ge.
rade geworden.
Bei der zweiten Untersuchung im Ambulatorium, 2 Tage spater, klagte der
Patient iiber Schmerzen, wio vorher, nur das Lasegue-Symptom und die Skoliose
waren weniger ausgeprftgt. Die Hyper&sthesie im Gebiete D. XII. und L. I. ist
vollkommen versehwunden.
Vier Monate spater tritt der Patient wieder zweeks Behandlung seiner
Ischias in die Nervenklinik ein.
Bei der Untersuchung der Spinalfliissigkeit ist Nonne-, Alpert- und Wasser-
mann-Reaktion negativ ausgefallen. Das Punktat war vollkommen durchsichtig;
Abb. 6. Hvpasthesie am L. Ill, IV, V,
Hyperalgesie an D. XII, L. I, II.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
624
M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechanismus der
Digitized by
auch unter den Mikroskopeu zeigten sich keine Formenelemente. Spezifisches
Gewicht 0,2. Das iibrige klinische Bild unterschied sich vom friiheren Status
nur durch das Verschwinden der Hauthyperastkesie im Gebiete D. XII und L. I.
Hypalgesie aber blieb wie friiher bestehen. Denselben Tag wurde eine Acu-
punctura Colliculi seininalis und das Absclineiden noch einiger fibrosen Auswiichse
an demselben vorgenommen. Nach diesem Eingriffe trat eine starke Blutung ein.
Bald nach der Acupunctur begann der Patient grolle Erleichterung im rechten
Beine zu fiihlen. Jede 10 Tage wurde eine solche Acupunctur wiederholt. Nach
der funften Acupunctur und einer taglichen Prostatamassage, ohne daB noch
irgendwelche Behandlung vorgenommen wurde, zeigte sich die Hautsensibilitat
im Gebiete L. II., III., IV. und V. weniger analgetisch. Das Symptom Lasegue
hat nachgelassen. Die Prostata war bei der Massage sehr wenig empfindlich. Der
Patient klagte nicht mehr iiber spontane Schmerzen, aber der N. ischiadicus war
beim Drucke noch empfindlich. Sechs Wochen spater erklarte der Patient im
Moment* des Einstiches mit elektrischer Nadel (wahrend einer Acupunctur), ein
besonders angenehmes Gefiihl erapfunden zu lmben. Seit diesem Tage fiihlt er
sich ganz gesund. Keine spontanen Schmerzen, keine Druckempfindlichkeit am
rechten N. ischiadicus, kein Lasegue; die Hautsensibilitat, die Refloxe usw. wichen
von der Norm nicht ab. Die faradische und galvanische Beaktion auf beiden
Beinen zeigt keine Abweichung von der Norm.
Die Behandlung des Patienten bestand hauptsachlicit aus Massage
und Acupunctura mit elektrotkermischer Nadel des Colliculum semi-
nalis. Unter dieser Kur stellte sich die Hautsensibilitat wieder her,
Schmerzen und Skoliose verschwanden.
Diese Beobachtung, die auch einen Fall von dem sog. radicularen
Typus der Ischias darstellt, zeigt sich in manchen Beziehungen sehr
interessant. Die Vermutung, dafi in diesem Falle eine (luetische) Er-
krankung der Spinalhiillen (im Sinne Dejerins) vorlag, ist. nicht nur
aufGrund der therapeutischenErfolge, sondern auch durch die negativen
Untersuchungsresultate der Spinalfliissigkeit vollkommenausgeschlossen.
In diesem Falle waren gleich den friiheren Beobachtungen die Sen-
sibilitatsstorungen nicht nur im Bereiche des N. ischiadicus, sondern
auBerhalb seines Ausbreitungsgebietes vorhanden. Diese Stoning hatte
zweifachen Charakter: auf dem Bauche und in der Inguinalfalte —
im Gebiete D. XII. und L. I. war die Sensibilitat erhoht, dagegen am
Beine im Territorium L. II., III., IV., V. dieselbe herabgesetzt.
Diese Sensibilitatsstorungen waren aber nicht bestandig und w'echselten
sich ziemlich schnell ab. Im vollen Gegensatze zu den friiheren Beobach¬
tungen, wo eine Auswahl der Sensibilitatsverandemng fe.stgestellt
wurde, gibt es in diesem Falle keine Dissoziation, und samtliche Sensibili-
tatsarten sind dabei gleichmaBig veriindert. Da diese Herabsetzung
oder Erhohung der Empfindlichkeit sich durch ihre Unbestandigkeit
unterschieden, muB man dieselbe als eine funktionelle Stoning betrach-
ten, die sich ohne Unterbrechung der zentripetalen Leitung entwickelte.
Eine interessante Eigentiimlichkeit boten hier die Haut- und Sehnen-
reflexe — namlich Achilles-, Patellar- und Cremasterreflexe. Diese reflek-
Gotigle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des N. ischiadicus. 625
torischen Mechanismen, die von den I., II., III., IV. und V. Lumbal-
wurzeln bedient werden, sollten herabgesetzt sein oder voilkommen
fehlen, wenn man die Verminderung der Hautsensibilitat im Gebiete
dieser Wurzeln beriicksichtigt; dagegen wichen diese Reflexe von der
Norm nicht ab. Dieser Umstand bedeutet, daB eine Dissoziation oder
einc Auswahl in der Erkrankung der zentripetalen Leitung im rechten
Beine doch vorhanden war, infolgedessen die Leitung zum BewuBtsein
der Schmerzen, der Beruhrung und anderer Empfindungen gehemmt
war, dagegen die zentripetale Leitung der reflektorischen Verrichtungen
ohne irgendein Hindernis funktionierte. Die Veranderung der Sensibili-
tat wurde in einzelne Segmente — oder Wurzelgebiete — verteilt,
infolgedessen dieser Fall dem radicularen Typus der Neuralgie ent-
spricht; die radiculare Verteilung der Sensibilitatsstorung zeigte sich
aber hauptsachlich auBerhalb des Ausbreitungsgebietes des Ischiadicus
(D. XII. und L. I., II., III., IV.), infolgedessen man auch in diesem
Falle keinen Grund hat, von einer radicularen Erkrankung des
N. ischiadicus, d. h.von einer radicularen Ischias zu reden.
Es ist sehr wichtig zu konstatieren, daB ein mit der Ischias gleich-
zeitiges Leiden in den Organen des kleinen Beckens vorhanden war.
Die in diesem Falle, laut der Anamnese und laut des objektiven Befundes
\ orhandene Prostatitis gehorte zu den alten inveterierten Prozessen,
die sich jedenfalls friiher als die hier zu betrachtende Neuralgie des N.
ischiadicus entwickelte. Anderseits gehorte aber die hier zu besprechende
Ischias auch zu alten und vernachlassigten Leiden. Ihren Beginn muB
man in der Erkrankung suchen, die vor 15 Jahren im linken Beine an¬
ting und mit der Veranderung des linken Hiiftgelenkes endigte.
Auch dieses letztere Leiden muB man in Anbetracht einiger Beobach-
tungen*) als Folgeerscheinung einer Erkrankung der Organe im kleinen
Becken betracbten. Sicherlich waren auch damals Prostatitis und
Colliculitis vorhanden, weil, wie bekannt, diese Leiden sich durcheinen
chronischen Verlauf unterscheiden und jeder Behandlung Trotz bieten.
Diese Vermutung ist desto glaubwiirdiger, weil sich eine dunkle An-
deutung iiber Urethritis in der Anamnese findet, und weil der objektive
jetzige Befund eine Prostatitis und Colliculitis festgestellt hat.
Was jetzt das rechte Bein — das heiBt die Neuralgie in demselben —
betrifft, so muB man auch dieses Leiden mit dem sich im kleinen
Becken schon mehrere Jahre hinziehenden Prozesse in Zusammenhang
bringen. Trotzdem das rechte Bein friiher gesund war, muB man seine
jetzige Erkrankung als ein Rezidiv der friiher schon dagewesenen
*) Lapinsky: Zur Frage der als Begleiterscheinung bei Leiden der Visceral -
organe auftretenden Knie- und Hiiftgelenkserkrankungen. Dtsch. Arch. f. klin .
Med. 114 .
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Digitized by
626 M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechanismus der
Erkrankung betrachten. Man muB namlich eine aus den Kleinbecken-
organen wiederholt aus&trahlende Attacke der Schmerzen vermuten,
die infolge einer Erkrankung dieser Organe entstanden ist. Diese Organe,
nachdem sie durch die Erkrankung das Gleichgewicht verloren haben,
auBerten ihren abnormalen Zustand durch Schmerzausstrahlungen in
der Peripherie.
Eine atiologische Abhangigkeit der Ischias von der Prostata-
erkrankung wird auf mehrere Tatsachen begriindet, z. B.: Hyper-
iisthesie im Gebiete des XII. D. und I. L. verschwand gleich, nachdem
Dr. Rtist fibrose Auswxichse vom Colliculum seminale entfernt und eine
starke, durch die Elektropunktur ins Colliculum seminale, Ableitung
von der Prostata gemacht hatte. Dieser therapeutische Eingriff, der
fruher als eine richtige Therapie des Ischias vorgenommen wurde, hatte
sofort auch eine wohltuende — auf das subjektive Befinden, namlich
auf die spontanen Schmerzen ausiibende — Wirkung gehabt. Dagegen
hat der Patient von der richtigen Ischias therapie — Galvanisation,
Bader usw. —, die er fruher angewandt hatte, keine Erleichterung ver-
spiirt.
Die im weiteren Verlaufe der Erkrankung weiter angewandte
Prostatabehandlung hatte ein und dasselbe Resultat — das Wiederher-
stellen der Sensibihtat und Verschwinden der spontanen Schmerzen.
Auch die Skoliose und das Lasegue-Symptom sind dadurch beeinfluBt
worden, so daB die Besserung der Ischias in diesem Falle durch die
Prostatabehandlung bewirkt wurde. Anderseits, in Anbetracht dieses
therapeutischen Erfolges, muB man die Ursache der Schmerzen und der
Sensibilitatsveriinderung im Beine und in den Hoften in der primaren
Erkrankung der Prostata ersehen.
IV. Frau N. P. P .... s, 34 Jahre alt, schon 15 Jahre verkeiratet, hat
uur einmal, und zwar vor I2Jahren geboren. Sie leidet an Schmerzen denlinken
N. ischiadicus entlang und im Kreuze. Die letzten 3 Monate verbog sich bei ihr
das Riickgrat nach rechts und veranderte sich ihr Gang. Die letzten 2 Jahre sind
die Menstruationen sehr reichlich und schmerzhaft geworden. Bei gyniikologischer
Untersuchung wurden ein kleiner RiB des Gebarmuttercollums und heftige starke
Blutstauungen im kleinen Becken festgestellt.
Boi obiektiver Untersuchung wurde eine rechtsseitige Skoliose und ein
stark ausgeprftgtes Lasegue-Symptom links konstatiert. Elektrische Reaktion ist
an beiden Beinen fiir galvanischen und faradischen Strom normal. Am linkeu
Beine waren typische Ihinkte am Ischiadicus-Stamme, besonders in der Gluteal-
falteund in der Kniekehle, beim Drucke sehr schmerzhaft; der Achilles- und der
Patellarreflex war am linken Beine sehr erhoht. Der Kitzelreflex an derselben
Seite von normaler Kraft und normalem Umfang; samtliche Bauchreflexe an der
linken Seite fehlten. Die Hautsensibilitkt war fiir Nadelsticho am linken Beine
im Gebiete D. XI., XII., L. V., S. 1, II., III., V. (Abb. 7) herabgesetzt. Andere Sensi-
bilitatsartcn, namlich Beriihrungs-, Warme- und Ijagegefiihl wichen von der Norm
nicht ab. Dagegen waren dieselben Gebiete fiir die Kalte sehr hyperasthetisch.
Plexi hypogastricus, renales et Solaris waren beim Drucke sehr empfindlich. Bei
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des N. isehiadicus. 627
der Untersuchung per rectum wurde festgestellt, daB die vordere Oberflache des
Kreuzbeines und besonders Promontorium fiir den Druck sehr empfindlich waren.
Das rechte Bein war in alien Beziehungen normal. Diagnose: Ischias scoliotica.
Hyperaemia genitalium, laceratio colli uteri.
Die Behandlung, die aus heiBen Bauch-, Bein- und Krouzprozeduren bestand,
brachte eine Verminderung der Hyper&mie im kleinen Becken und Herabsetzung
der Druckempfindlichkeit der vorderen Oberflache des Kreuzbeines, der sympa-
thischen Bauchgeflechte, des N. isehiadicus und der spontanen Schmerzen, infolge-
dessen konnte sich die Patientin schon zwei Wochen nach dem Kurbeginn gerade
halten; die Schmerzen, die sie friiher, besonders nachts, beunruhigten, storten den
Schlaf jetzt nicht mehr. Die objektive
Untersuchung stellte dabei fest, daB
die in den vorher erwahnten Seg-
menten verminderte Schmerzempfind-
lichkeitsich jetzt weniger herabgesetzt
zeigte, auch die Bauchreflexe auf der
linken Seite sich jetzt wieder ein-
stellten.
Drei Wochen spater erschien die
Patientin mit den friiheren Klagen
iiber die Ischiasschmerzen und be-
richtete dabei, daB die Menses bei
ihr 5 Tage vor der normalen Zeit
begonnen, sehr reichlich und sehr
schmerzhaft war. Dieses vorzeitige
Eintreten der Menses erkl&rte die
Patientin durch die UnmaBigkeit des
Sexuallebens, die letzte Tage statt-
gefunden hatte. Die Schmerzen wfth-
rend dieser Menstrualperiode waren
nicht nur im Bauche, sondem auch
im Kreuze und im kranken Beine, den
Isehiadicus entlang. Objektiv stellte
man jetzt wieder die friiher dage-
wesene (das letztemal aber nicht
mehr vorhandene) Skoliose, Sym¬
ptom Lasegues, erhohte Patellar- und
Achillessehnenreflexe und Herab¬
setzung der Schmerzempfindung im
Gebiete D. XI., XII., L. V., S. I., IL, III., V. fest. Die Empfindlichkeit fiir
Warme, Kalte und Beriihrung wich auf den Beinen und am Korper nicht von der
Norm ab. Dagegen setzten sich jetzt die FuBsohlenreflexe, die friiher normal waren,
herab, und die Bauchreflexe verschwanden beiderseits wieder vollkommen.
Wieder lieB sich eine starke Druckempfindlichkeit an der vorderen Flftche
des Kreuzbeines konstatieren, die das letztemal nicht vorhanden war.
Nach 7 Tagen einer Behandlung mit Belladonna-Ergotinzapfen stellte sich
die Schmerzempfindlichkeit am Beine wieder her. Die Skoliose und das Las6gue-
Symptom verschwanden. FuBsohlen-, Bauch-, Achillessehnen- und Patellarreflexe
zeigten sich normal. Die Druckempfindlichkeit an der vorderen Oberflache de»
Kreuzbeines verschwand. Die Schmerzhaftigkeit des Plexus hypogastricus beim
Drucke setzte sich sehr herab. In weiterer Behandlung verschwanden, dank der
heiBen Prozeduren, die Hyperftmie im kleinen Becken und gleichzeitig auch die
letzten Erscheinungen der Ischias.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
628
M. Lapinsky: Zur Frage liber den Mechanismus der
Digitized by
Die Ischiasdiagnose wurde hier auf den typischen spontanen
Schmerzen der Druckempfindlichkeit des N. ischiadicus, deni Symptom
Lasegues und Skoliose begriindet.
Auch diesen Fall muBte man zu den Neuralgien segmentaren oder
radicularen Typs rechnen, der auBerdem mit einer funktionellen
Skoliose verbunden war.
Als Zeichen der segmentaren resp. radicularen Ischias waren hier
Sensibilitatsstorungen, die mit Segmentgrenzen D. XI., D. XII.,
L. V., S., I., II., III. zusammenfielen.
Auch in diesem Falle, gleich dem friiheren, war die Sensibilitat
mit einer Auswahl zerstort. Nicht alle Arten der Sensibilitat, sondern
nur die Schmerzempfindungen waren herabgesetzt, dagegen blieben
die Beriihrungs- und die Temperatursensibilitat ganz normal.
Der Kitzel- und Achillessehnenreflex ziehen auch in diesem Falle
die Aufmerksamkeit auf sich. In Anbetracht der Sensibilitatsherab-
setzung (fur die Schmerzempfindung) im Gebiete L. V., S. II., S. I.
sollten diese Reflexe in diesem Falle vollkommen gefehlt haben oder
mindestens herabgesetzt sein; in Wirklichkeit aber verhielten sich hier
die Reflexe unverandert. Da in diesem Falle die zentripetalen Leitungen
fiir diese Reflexe und auch der taktilen und der Temperaturempfindun-
gen ohne Stoning vonstatten gingen, die Schmerzleitungsbahnen da¬
gegen gehemmt waren, muB man auch in diesem Falle eine dissoziative
Stoning im Riickemnarke annehmen.
Gleich den friiheren Fallen zeigten sich auch eigentiimliche Haut-
flecken im Gebiete der Wurzeln, die nicht an der Ischiadicusgestaltung
teilnahmen, z. B. D. XI. und XII. Die Unstetheit der Sensibilitats-
und Reflexstorungen, anderseits auch die schnelle Wiederherstellung der
veranderten Funktionen des Nervensystems sprechen gegen Annahme
einer organischen Stoning jener Gebiete der Nervenzentren, wo diese
Storungen konstatiert wurden. Infolgedessen muB man in diesem Falle
eine organische Verandening der Spinalwurzeln ausschlieBen. Auch
bei dieser Patienten fand gleich den friiher erwahnten Kranken im
kleinen Becken ein chronischer ProzeB statt, der sich lange vor der
Ischias entwickelte: Laceratio colli konnte also ihren Ursprung in der
einzigen Geburt, d. i. vor 12 Jaliren haben. Ein Zusammenhang der
Ischiasentwicklung mit dem Zustande der Kleinbeckenorgane laBt
sich aus den klinischen Veranderungen im Beine schlieBen, die in Ab-
hangigkeit von dem Zustande jener Organe wechselten. Z. B. eine
Verscharfung der Schmerzen im Beine, das Wiedererscheinen von Sko¬
liose, — Herabsetzung der Schmerzempfindung und des Lasegues-
Symptomes fielen mit der zu friih eingetretenen Menstrualperiode und
mit dem stiirmisch verbrachten Geschlechtsverkehr zusammen. Ander¬
seits aber konnte man sich mit bloBem Auge iiberzeugen, daB die Hyper-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des X. ischiadicus.
629
iimie der Genitalorgane die nachste Ursache dieser Veranderungen
war, weil Schmerzen und andere Erscheinungen zuriickgegangen sind,
nachdem die Hyperamie der Beckenorgane nachgelassen hat. Die Be-
nxhigung der Schmerzen imBeine und im Kreuze ging mit der Hyperamie-
verminderung im Genitalapparate, mit der Herabsetzung der Druck-
empfindlichkeit der sympathischen Geflechte im Bauche und der vor-
deren Seite des Kreuzbeines parallel.
Liu. 2
U-
V. Herr S. J. P. tritt in die Nervenklinik mit einer ihm vor 4 Monaten
gestellten dunklen Diagnose beginnender Tabes oder Myelitis disseminata ein.
Diese beiden Diagnosen wur-
den auf der klinischen Unter.
suchung begriindet, weil die
Achillessehnenreflexe bei der
Untersuchung des Patienten
von einern Spezialisten nicht
gefunden wurden, und die Sen-
sibilitat in den unteren Extre-
mitaten nach segmentar. resp.
radicular. Typus verandert war.
Eine Woche s pater fand ein
anderer Neurologe bei dem
Herm S. J. P. eine starke Ver-
minderung der groben Kraft
in den Beinen. eine diffuse
Herabsetzung der Sensibilitat
in denselben und eine starke
Erhohung der Sehnenreflexe in
den unteren Extremitfiten, und
zwar Achilles-Klonus -Reflexe.
AuBerdem fand eine Blasen-
storung statt. Vor 3—4 Jahren
hatte der Patient neuralgische
Schmerzen im linken Beine, ein
Spannungsgefiihl in beiden Bei¬
nen, Schwache in denselben und
Urindrang. Geschlechtsfunk-
tion war vorhanden, aber die
Ejaculation war immer pracox.
Jetzt klagte der Patient iiber Schwache in den beiden Beinen und iiber kon-
stante Schmerzen im linken Beine. Diese Schmerzen und die Schwache wurden
mit iiberfiilltem und mit ganz ausgedehntem Bauche immer starker. Dagegen
verminderten sich und verschwanden sogar die Schwache und die Schmerzen
jedesmal nach den Abfiihrmitteln. Lues, Potus, Gonorrhoe wurden in Abrede
gestellt. Im Alter von 15—18 Jahren hatte der Patient maBig onaniert.
Bei der Untersuchung in der Klinik wurde folgendes gefunden: Aktive Be-
wegungen in den Beinen waren vorhanden, die Muskelkraft in den Beinen aber
herabgesetzt. Keine Muskelatrophie und iiberhaupt keine trophische Veranderun¬
gen in den unteren Extremitaten. Das Lasegue-Syinptom war beiderseits sehr
tark ausgepragt. Beide NN. ischiadici waren beim Drucke in der Gluteal-
alte sehr schmerzhaft. Plexi hypogastrici, superior et inferior ebenso beira Drucke
Abb. 8. Hypalgesie an L. I, II, III, IV, V
links, L. IV, V, S. Ill, V rechts.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
630
M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechanismus der
Digitized by
sekr scbmerzhaft. Der linke N. tibialis in seinem ganzen Verlaufe auf Druck sehr
empfindlich. Die Patellar- und Achillessehnenreflexe waren bis zum Klonusgrade
erhoht. Die Hautsensibilitftt fiir Nadelstiche war im Gebiete einzelner Dermato-
mere herabgesetzt, und zwar am linken Beine im Gebiete L. I., II., III., IV., V.
(Abb. 8), am rechten Beine im Gebiete L. IV., V. und S. III., V. Das Beriih-
rungs- und Teraperaturgefiihl und der Puls in beiden AA. tibiales antica waren
normal. Bauch, Riicken, Brust, die oberen Extremit&ten, Hals, Gesicht und
Schfidel wichen in bezug auf Hautsensibilitat, grobe Kraft, Ernahrung, Reflexe
und elektrische Reaktion nicht von der Norm ab. Bei der Untersuchung per Rectum
lieB sich folgendes feststellen: m&Bige Erweiterung der Hamorrhoidalvenen; sehr
groBe Druckempfindlichkeit des Rectum. Die vordere Flache des Kreuzbeines
war beim Drucke sehr scbmerzhaft. Dio Prostatadriise war nicht vergroBert,
aber etwas verdickt und beim Drucke ebenfalls sehr schmerzhaft. Beim Drucke
auf die rechte Halfte der Prostata empfand der Patient intensive Schmerzen in der
rechten Wade. Der Druck auf die linke Halfte der Prostata erregte starke Schmer-
im linken GesaBgebiete und in der linken Wade. Bei urethroskopischerUntersuchung
(Dr. Reise) wurden Urethritis posterior, Colliculitis, fibrose Auswiichse und Granu-
lationen am Colliculum seminale und ein eitriger AusfluB aus Vas deferens fest-
gestellt. Diagnose: Ischias bilateralis, Hyperaesthesia Recti, Prostatitis, Colliculitis.
Die Behandlung bestand taglich aus Massage und Erwarmen der
Prostatadriise ( Arzpergcr , lokale Dampf- oder HeiBwasserdusche),
aus warmen Vollbadern und lokalen (im Perineum) Injektionen einer
Novokainlosung und nacb jedem 7. oder 10. Tage — Acupunctur in
Colliculum seminale.
Nacb 15 Tagen einer solchen Behandlung lieBen sich subjektiv
und objektiv groBe Veranderungen feststellen: Die spontanen Schmer-
zenhaben sehr nachgelassen und die grobe Kraft hat so sehr zugenommen,
daB der Patient, der vor 2 Wochen mit Miihe 200—300 Schritte machen
konnte, jetzt den ganzen Tag auf den FiiBen war und die Treppen
mehrmals am Tage ohne Schmerzen oder eine Ermiidungzu spiiren stieg.
Bei der objektiven Untersuchung war die Schmerzhaftigkeit der
NN. ischiadici beiderseits sehr vermindert. Die Patellar- und Achilles¬
sehnenreflexe wurden normal, die Hypalgesie am linken Beine war
verschwunden und dieselbe auf dem rechten Beine durch Hyperalgesie,
und zwar im Gebiete L. IV. ersetzt.
Der Patient muBte plotzlich die Klinik verlassen. Sechs Monate
spate r erhielt ich von ihm einen Brief, in dem er iiber die vollkommene
Wiederherstellung seiner Gesundheit berichtete. Wahrend dieser sechs
Monate war er in der Behandlung eines Spezialisten fiir Prostata-
krankheiten, der seine Prostata mit Thermopenetration, Massage und
Acupuncturen weiterbehandelt hatte. Jedesmal nach dem Stich mit
der elektrothermischen Nadel hatte der Patient stark geblutet., aber
diese Blutung brachte ihm in bezug auf spontane Schmerzen, Urin-
drang und grobe Kraft in den beiden Beinen groBe Besserung.
Auch in diesem Falle handelte es sich, gleich den vorhererwahnten
Kranken, um eine Ischias. Zugunsten dieser Diagnose sprachen das
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des X. ischiadic us.
631
Lasegue-Syinptom, die Druckempfindlichkeit des N. ischiadicus und
die spontanen Schmerzen. Die vermutete Tabes und Myelitis disse¬
minata waren vollkommen ausgeschlossen. Da auBerdem noch eine
Hypalgesie in einzelnen Gebieten, die mit den Schemen der radicularen
Sensibilitatsstorung nach Kocher, Thornburn u. a. zusammenfiel, fest-
gestellt war, konnte man hier von einer radicularen oder segmentaren
Ischias sprechen.
In voller Analogic mit den friihererwahnten Kranken war die
Sensibilitat nicht in alien ihren Arten, sondern nur in bezug auf die
Schmerzempfindung verandert, konstatiert worden. Dagegen war das
Beruhrungs-, Temperatur- und Lasegue-Gefuhl ganz normal. Diese
Sensibilitatsstorungen wurden in den Wurzelgebieten L.II., III., IV., V.
und S. I. links und L. IV., V. und S. III. rechts festgestellt. Da diese
Wurzeln an der Verrichtung der Cremaster-, Patellar- und Achilles-
seknenreflexe teilnehmen, sollte man erwarten, daB diese Reflexe ent-
weder vollkommen fehlen oder wenigstens herabgesetzt seien. Dagegen
waren sie in der Klinik erhoht oder ganz normal. Diese Tatsache lieB
den SchluB ziehen, daB auch hier die Sensibilitatsleitungsbahnen im
Riickenmarke mit einer Auswahl befallen wurden, die Schmerzleitung
war namlich gehemmt, dagegen waren die zentripetalen Leitungen fiir
die genannten Reflexe und fiir Beruhrungs- und Temperatur-Gefulile
ganz normal.
Da diese Sensibilitats- und Reflexveranderung'sich durch eine groBe
Unstetheit und durch einen schnellen Wechsel des Grundtones und des
Grades unterschied, so muB man diese Leitungsveranderung nicht zu
den organischen, sondern zu den funktionellen Storungen rechnen.
In voller Gbereinstiminung mit den friiher beschriebenen Kranken
wandten folgende Umstande die Aufmerksamkeit auf sich: gleichzeitig
mit den Schmerzen und anderen Erscheinungen in den Beinen war
noch eine griindliche Stoning in den Organen des kleinen Beckens
vorhanden: eine Erkrankung des Dickdarmes (in Form der hamorrhoi-
dalen Erweiterung und erhohter Empfindlichkeit der Schleimhaut
dieses Darmes), eine chronische Entziindung der Prostatadrilse, verbun-
den mit Hyperasthesie. Die iitiologische Bedeutung dieser Prozesse
beziiglich der Ischias folgte in diesem Falle aus der Aussage des Patienten
und aus dem objektiven Befunde. Das allgemeine Krankheitsbild
stellte namlich groBe Schwankungen dar, und auch einzelne Symptome
charakterisierten sich durch eine groBe Unstetigkeit, die von dem Zu-
stande der Kleinbeckenorgane abhing. Sogar das Hauptsymptom,
namlich die spontanen Schmerzen und andere subjektive Empfindungen
in den Beinen, stellte unter dem Einflusse der Oberfiillung mit Gasen
usw. des Darmtractus die groBten Schwankungen dar; dies lieB sich
aus dem Umstande, daB die Schmerzen sich nach der Darmentleerung
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
632
M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechaniaraus der
beruhigten, schlieBen. Dieselben Schmerzen nahmen eine andere Far-
bung an und entstanden sogar an anderen Stellen unter der Druck-
wirkung auf die Prostatadriise. Die Erscheinungen in der Motilitats-
sphare stellten je nach dem Zustande der Prostatadriisen ebenso starke
Schwankungen dar. Jedenfalls konnte man sich durch diesen Zustand
der Prostata — und iiberhaupt durch eine Erkrankung der Organe
im kleinen Becken — verschiedene krankhafte Symptome in den Beinen
erklaren, die aus der Anamnese bekannt waren. GewiB zeigten Erschei¬
nungen in der Motilitatssphare je nach dem Zustande der Prostata-
druse groBe Schwankungen. So muBte man sich jedenfalls die Besserung
der aktiven Beweglichkeit, die sich binnen 15 Tagen nach der An-
wendung ableitender Therapie, Ther mother a pie und Massage der Pro-
statadriisen zeigte, erklaren. Eine groBe Unstetigkeit wurde auch im
Zustande der Sehnenreflexe konstatiert. Im Laufe von 8 Tagen kamen
die Reflexe in einen normalen Zustand; dagegen waren sie vorher bis
zum Klonuszustande erhoht, 3 Monate friiher haben sie vollstandig
gefehlt und nach weiteren 2 Wochen waren sie wieder erhoht.
Ahnliche Unstetigkeit lieB sich auch im Gebiete der Hautsensibili-
tat konstatieren: bei der ersten Untcrsuchung wurde hier Hypalgesie
segmentaren Type festgestellt; ahnliche Sensibilitatsstorungen hatte
sicherlich auch jener Neurologe gefunden, der auf Grund dieses Be-
fundes die Diagnose der Tabes gestellt hatte. Eine Woche spater,
als die Diagnose auf Myelitis lautete, zeigte die Hautsensibilitat
keinen segmentaren Typus, sondern eine diffuse Herabsetzung. Aclit
Tage spater, nach dem Eintritt in die Klinik, stellte sich die Haut¬
sensibilitat wieder her, und es erschien sogar die Hyperasthesie radicu-
liiren Typus.
Eine solehe Unstetigkeit der Symptome sprach gegen eine mate-
rielle Erkrankung des Nervensystems und bewies dagegen die funk-
tionelle Natur der Riickenmarksstorung.
Indem ich bloB iiber diese fiinf Falle ohne besondere Aus wall 1
berichtete, die aber meinen Grundgedanken klar genug darlegen, halte
ich es nicht fiir notig, zahlreiche andere analoge Beobachtungen meiner
Kasuistik anzufiihren und gehe jetzt zu der weiteren ausfiihrlicheren
Betrachtung der hier beschriebenen Kranken iiber.
III.
Die Diagnose einer Ischias i\nrde hier durch mehrere Standpunkte
begriindet. Zugunsten dieser Diagnose sprachen subjektive Empfin-
dungen, und zwar die Schmerzen den N. ischiadicus entlang. Weiter
berechtigten mich nocli verschiedene objektive Erscheinungen eine
solehe Diagnose zu stellen, namlich: Skoliose, Druckempfindlichkeit des
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(sogenannten Wurzel-JNeuralgie des N. ischiadicus.
633
N. ischiadicus in den Punkten Valleix und das Symptom Lasegues.
Als eine Anomalie oder eine Eigentumlichkeit ware die Veranderung der
Motilitat bei dem Herra P. (Fall V) zu erwahnen, der infolge groBer
Schwache in den Bcinen z. B. kaum 200—300 Schritte zu FuB zu machen
vermochte. Bei demselbenKranken war auch eine Storung der Reflexe,
und zwar der Haut- wie auch der Sehnenreflexe beobachtet.
Erwahnt. zu werden verdient der Umst&nd, daB die Pruckempfind-
lichkeit des N. ischiadicus sich durch eine besondere Auswahl unter-
schied, namlich: schmerzhaft waren die Nerven im Wadengebiete;
dagegen blieben die Nervenstamme am Oberschenkel beim Drucke
schmerzlos oder umgekehrt. Durch eine besondere Topographie unter-
schieden sich die Sensibilitatsstorungen nicht nur im Gebiete des N.
ischiadicus, sondern auch auBerhalb desselben.
Diese Sensibilitatsstorungen, denen die Autoren ihre Aufmerksam-
keit schon mehrmals zuwandten, veranlassen, jeden Fall mit solchen
Empfindungsverandcrungen zu der sog. radicularen Neuralgie zu
rechnen. Xach den im ersten Kapitel angefiihrten literarischen An-
gaben beurteilend, konnte man auch diese hier angefiihrten Falle fiir
radiculare Ischias betrachten.
In alien meinen Fallen waren Plexi sympathici hypogastrici superio-
res et inferiores und bei einigen auch die vordere Oberflache des Kreuz-
beines druckempfindlich.
Endlich waren in alien meinen Fallen stabile chronische Storungen
in den Organen des kleinen Beckens nachweisbar: bei Mannern wurden
Prostatitis, Spermatocystitis, Hamorrhoidalknoten, Hamorrhoidal-
phlebitis usw., bei Frauen Erkrankungen der Gebarmutter, der Eier-
stocke, Peri-, Parametritis und verschiedene Storungen anderer Teile
der Genitalsphare, des Rectum und iiberhaupt der Kleinbeckenorgane.
Sehr wichtig erscheint der Umstand, daB verschiedene therapeu-
tische MaBregeln, die fiir die Behandlung der Organe des Kleinbeckens
angewandt wurden, eine Erleiehterung |der Schmerzen und YVieder-
herstellung der Sensibilitat, der reflektorischen Tatigkeit usw. zur
Folge hatten.
Einige klinische Symptome verdienen, einer besonderen Erwagung
unterzogen zu werden.
In dieser Beziehung lenken besonders Veranderungen der groben
Kraft, der reflektorischen Tatigkeit, des Umfanges der Extremitat
infolge allgemeiner Abmagerung oder infolge der Atrophie der Muskel-
massen die Aufmerksamkeit auf sich.
Sensibilitatsstorungen liefien sich durch mehrere Eigentiiinlich-
keiten unterscheiden. Erstens fielen Territorien mit veranderter Sensi¬
bilitat nicht ihrer Richtung nach, wie manche Autoren dies beobach-
teten, weder mit dem Verlaufe des Stanimes N. ischiadici, noch seiner
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
634
M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechanismus der
Digitized by
Zweige zusammen. Diese Gebiete mit veranderter Sensibilitat
hatten eine spitzwinkligo Form und waren nicht nur im Bereiche des
Verzweigungsraumes des N. ischiadici, sondern auch auBerhalb des-
selben konstatiert worden. Zweitens hatten diese Territorien mit ver¬
anderter Sensibilitat keine rhomboide Gestalt, infolgedessen keine
Ahnlichkeit mit den an&sthetischen Figuren, die bei der Erkrankung
peripherischer Nerven beobachtet werden (Strieker 9 *). Dieselben Figuren
verliefen bei meinen Kranken nicht zirkular- oder spiralartig, wie es
nach Strieker 9 *, Flalau 87 ), Dobrochotoff 96 ) und anderen fiir die Wurzel-
erkrankung charakteristisch gehalten wird. Sie unterschieden sich auch
von den Figuren der Sensibilitatsstorungen bei Hysterie oder bei
Rindenherden. Anderseits erinnerten diese Territorien veranderter
Sensibilitat bei meinen Kranken durch ihre Lokalisation, wie auch
durch ihre Konturen an die segmentare Verteilung der Sensibilitat
nach Thornburn, Allen-Starr u. a.
Drittens verdient die Unstetigkeit der Sensibilitatsstorungen in
unseren Fallen einer Erwahnung. Der Storungsgrad schwankte sehr
stark; auch wechselte der Charakter dieser Stoning; ein und dasselbe
Gebiet an der Hautoberflache warin einer Krankheitsperiodeanasthetisch,
in einer anderen unterschied sie sich durch eine erhohte Sensibilitat.
Viertens scheint es auBerordenthch wichtig, daB die Sensibilitat,
resp. die zentripetale Leitung im Rtickenmarke mit einer besonderen
Auswahl gestort wird. Die Schmerzleitung war z. B. herabgesetzt,
dagegen zeigte sich das Beriihrungsgefiihl unverandert, oder umgekehrt;
oder es waren z. B. alle Arten der Empfindung herabgesetzt, dagegen
zeigten sich Haut- und Sehnenreflexe, die mit den Segmenten, wo die
Sensibilitat verdorben war, verbunden w T aren, erhoht, d. h. zentripetale
Fasern leiteten nicht die Impulse, insofern dieselben zum BewuBtsein
aufsteigen sollten, dagegen leiteten sie ganz gut, wenn sie die Reflex-
bogen im Rtickenmarke bedienen sollten.
Fiinftens muBte man auch eine gewisse Auswahl in der Erkran¬
kung der zentripetalen Leitungsfahigkeit in der Tatsache ersehen, daB
die Hautsensibilitat nicht dort verandert war, wo der Patient spontane
Schmerzen empfunden hat, sondern andorwarts, manchmal sogar auBer¬
halb des Verbreitungsgebietes des N. ischiadicus, -— im Riicken, an
der inneren Oberflache des Oberschenkels, am Bauche usw. Eine Aus-
wahl oder eine Dissoziation auBerte sich in diesem Falle darin, daB ein
Teil der zentripetalleitcnden Fasern funktionierte und Schmerzempfin-
dungen dem BewuBtsein zufuhrte, dagegen der andere Teil derselben
ausgeschaltet war und nichts mehr leitete; infolgedessen verspiirte der
Patient die Erkrankung dieses anderen Gebietes gar nicht, weil dasselbe
ihr Gleichgewicht in bezug auf Schmerzleiten verloren hatte, trotz-
•dem dieses Gebiet spontane Schmerzen erzeugen konnte.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des X. ischiadicus.
635
Diese Eigentumlichkeit der zentripetalen Leitungsfahigkeit wurde
bei ahnlichen Krankeu auch von anderen Autoren beobachtet, blieb
aber aus unbekannten Griinden von den Gelehrten, die die Ischia#
radicularis griindeten bis jetzt unaufgeklart. Um ein kleines Beispiel
davon zu geben, fiihre ich hier einige Daten aus zufallig genommener
Literatur an.
Bertheol 1 ) sah in seinem III. Falle (S. 69) der radicularen Ischias
Hyperasthesie fiir Kalte, Warme und fur Schmerz, dagegen blieb
die Beriihrungsempfindung unverandert. Dasselbe zeigte sich auch
in anderen Fallen desselben Autors (S. 73), wo mehrere, aber nicht alle
Sensibilitatsarten am Beine herabgesetzt waren („hypaesthesies aux
divers modes de la sensibilite"), dagegen wurden die Achillessehnen-
reflexe, die von denselben Wurzeln bedient werden, als normal vermerkt.
Im VII. Falle Bertheol s wurde in dem von Ischias befallenen Bein ein
Streif des segmentaren Typs herabgesetzter Empfindung nur fiir
Schmerz notiert (S. 81), an einer anderen Stelle desselben Beines wurde
eine Verminderung der Beruhrungs- und Schmerzempfindung konsta-
tiert (,,Sur la face posterieure du membre inferieur droit existe une
zone d’hypaesthesie profonde specialment pour la sensibilite a la dou-
leur sous la forme d’un ruban“, S. 83). Andere Teile desselben Beines
zeigten auch eine Sensibilitatsherabsetzung mit einer besonderen
Auswahl (,,. . . le reste de la jambe et la cuisse presente lui aussi . . .
une diminution des differentes formes de la sensibilite", S. 84, d. h.
eine Veranderung nicht aller, sondern nur einiger Empfindungsmodali-
taten). Gleichzeitig waren die Patellar- und Achillessehnenreflexe er-
erhoht, Cremaster- und Sphincterreflexe waren aber normal.
Dasselbe trifft man auch bei Bonola 9 ). Im I. Falle dieses Autors
(S. 372) fand sich ein hyperasthetischer Streifen im Gebiete der L. V.
und S. I., II. Wurzeln vor nur fur Schmerz und Temperatur;
gleichzeitig wurden aber Kitzel- und Achillessehnenreflexe, die von
denselben Wurzeln bedient waren, als abgeschwacht notiert. ■— Im
II. Falle desselben Autors (S. 372) zeigte sich das Gebiet ungefahr
S. I., II., III. und L. V. hyperasthetisch, trotzdem Kitzel- undAchilles-
sehnenreflexe vorhanden waren. Dagegen fehlte der Patellarreflex;
ebenso ist die motorische und die trophische Sphare normal. Im
IV. Falle war die Sensibilitat nur fiir Schmerz und Warme herabgesetzt.
Strussberg 97 *) beobachtete bei Ischias Herabsetzung des Beriih-
rungsgefiihles; in seinen meisten Fallen fand er auch die Schmerz- und
Temperaturempfindliehkeit herabgesetzt (S. 1176). In seinem IV. Falle
wurde eine starkc Herabsetzung samtlicher Sensibilitatsarten im Ge¬
biete L. I., II., III., IV., V. und S. I., II., III. konstatiert, trotzdem
Patellar- und Kitzelreflex normal waren. Im V. Falle war die Sensibili¬
tat im Gebiete S. I., II., III., IV., V. und L. V. herabgesetzt; trotzdem
Archiv fiir Psychlatrle. Bd. 67. 42
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
636
M. Lapinsky: Zur Frage liber den Mechanismus der
Digitized by
der Achillessehnenreflex auf der kranken Seite ebensogut war wie auf
der normalen Seite; auch andere Reflexe wichen von der Norm nicht ab.
Hierher gehort auch der II. Fall Biros 18b ), der eine Frau, 25 Jahre
alt, betrifft. Bei dieser Patientin mit rechtsseitiger Ischias warden
Lasegues-Symptom, Herabsetzung der Sensibilitat im Gebiete des
N. peroneus und das Fehlen des Achillessehnenreflexes festgestellt.
Zu guns ten der Ischiasdiagnose sprachen die normale elektrische Reak-
tion, das Fehlen aller paralytischen Symptome und ■— nachdem die
Schmerzen aufgehort haben ■— die Wiederherstellung des fehlenden
Reflexes. Interessant war in diesem Falle die Unempfindlichkeit des
N. techiadicus beim Drucke. Im III. Falle Biros, in dem das Lasegue-
Symptom positiv konstatiert wurde, war der Stamm des N. ischiadicus
nicht druckempfindlich. Die Sensibilitat im Gebiete N. peronei war
herabgesetzt und der Achillessehnenreflex fehlte, stellte sich aber nach
dem Aufhoren der Schmerzen wieder her. Eine Dissoziation zeigte sich
in diesem Falle darin, daB der Achillesreflex fehlte, trotz normaler Sen¬
sibilitat im Gebiete des Tendo Achillis.
Jaboulay 62 ) beschreibt einen Patienten, bei dem Motilitat, Reflexe,
Temperatur und Schmerzempfindung normal waren, dagegen die Be-
ruhrungsempfindung auf dem kranken Beine herabgesetzt war (S. 208).
Im X. Falle Dobrochotov s 28 ) (S. 51) wird ein 44jahriger Patient
mit rechtsseitiger Ischias beschrieben, bei dem das ganze rechte Bein
und der Riicken von der X. Wurzel abwarts in bezug auf Beruhrungs-
und Schmerzempfindung unempfindlich waren, dagegen das Temperatur-
gefiihl ganz normal war. An demselben Beine fand man einen Streifen
vor, an dem die Empfindung fiir Schmerz, Beriihrung, Kalte und Warrue
vollkommen verschwunden war. Dobrochotov sieht in dieser Tatsaebe
den Beweis fiir eine organische Erkrankung der Lu mbosa kralwurzel 1 1 ;
mit dieser SchluBfolgerung kann man aber nicht ubereinstimmen.
Gegen die Erkrankung der hinteren und vorderen Wurzeln V. und
S. I., II. spricht in seinem Falle das Vorhandensein der Achillessehnen-
reflexe und ihre Gleichheit mit denselben auf der gesunden Seite,
ebenso spricht der normale Patellarreflex gegen die Erkrankung der
II., III. und IV. Lumbalwurzeln.
Dasselbe laBt sich auch iiber den Fall Lortat-Jakob-Sabarreanu 6 *)
sagen. Bei ihren Patienten mit der linksseitigen radicularen Ischias
war das Gebiet L. I., II., III., IV. undV. hyperasthetisch, S. I. und II.
dagegen vollkommen anasthetisch, trotzdem die Achillessebnen-,
Patellarreflexe gesteigert und Cremasterreflexe sogar stark erhoht
waren. Der elektrische Strom zeigte keine Degenerations -
erscheinungen. In Anbetracht dessen, daB die Achilles- und Cremaster¬
reflexe erhoht waren, trotzdem die Sensibilitat im Gebiete S. I.,
II. und L. I., II., III. gestort war, laBt sich daraus scblieBen,
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des X. ischiadicus.
637
daB die zentripetale Leitung mit einer Auswahl verandert
Avar: die reflektorischen Bogen haben ihre Funktionsfahigkeit auf-
bewahrt, dagegen waren die Bahnen von denselben Wurzeln, die sen¬
sible Erupfindungen leiten, in ihxem Aveiteren Verlaufe zum Gehirne
gehemmt. Die Autoren hielten ihren Fall fur eine radiculare Ischias
organischen Ursprungs (,,I1 s’agit done bien ici dune sciatique organi-
que,“ S. 634), deren Ursache sie in einer Meningitis radicularis luetica
sehen. Im zweiten Falle derselben Autoren handelt es sich ebenso urn
eine linksseitige radiculare Ischias. Auch in diesem Falle blieb die
Beruhrungssensibilitat normal, dagegen Schmerz-, Kalte- und Warme-
empfindungen gestort waren (S. 921). Usav. usav.
Diese Daten anfuhrend, mochte ich zeigen, da 13 bei der radicularen
Ischias eine Dissoziation in der spinalen Leitungsfahigkeit auch von
anderen Autoren mehrfach beobachtet Avurde. Anderseits aber in An-
betracht dessen, da!3 diese Ischiasart durch eine Dissociation charakteri-
siert wird, da!3 bei dieser Erkrankung entweder der Reflexbogen
oder irgendeine Sensibilitatsempfindung \ r erschont bleibt, sprechen
solche klinische Befunde gegen eine Wurzelerkrankung organischen
Charakters, d. h. gegen Pachileptomeningitis, gegen Einklemmung
oder Umschnurung der Wurzeln, gegen parenchymatose oder inter-
stitielle Entziindung derselben usw. Eine Wurzeleinklemmung im
Riickgrate hatte sich durch ein Bild von Anaesthesia dolorosa geau Bert;
bei diesem Bilde sollten im vollen Gegensatze zu dem, was hier beobach¬
tet Avurde, die Sensibilitat und die Reflexe fehlen, und die Nerven beim
Drucke nicht schmerzhaft sein. Eine parenchymatose oder interstitielle
Wurzelerkrankung sollte auch ein ganz anderes Bild darstellen: Radi¬
culitis anterior sollte sich in der Veranderung der Motilitat und der
elektrischen Reaktion auBern; eine solche Erkrankung der hinteren
Wurzeln hatte sich in Sensibilitatsveranderungen distalen Types
auBern sollen. Aber beim distalen Typus werden, wie bekannt, alle
Sensibilitatsarten gleichmaBig, ohne AusAvahl, und zAvar desto mehr,
je weiter von den zentralen Teilen die zu untersuchende Stelle liegt,
betroffen.
Diese Erscheinungen haben desto mehr Bedeutung, als die ob-
jektiven Symptome einer Radiculitis (nicht aber radicularen Ischias)
Jiicht kompliziert und sehr gut bekannt sind. Nach den Beobachtungen
von Camus 22 ), Dejerine-Boduin 2 “), Dejerine-Thomas w ), auBern sich
die objektiven Symptome der Sensibilitatsveranderungen bei spinalen
Radiculitiden in der Herabsetzung samtlicher Sensibilitatsarten. Nur
in den leichtesten Fallen beschrankt sich die Sensibilitatsveranderung
nach den Erfahrungen dieser Autoren mit einer Herabsetzung, dagegen
wird in alien mehr ausgepragten Fallen eine vollkoramene Vernichtung
der Schmerz-, Beruhrungs- und Temperaturempfindungen beobachtet.
♦ 42*
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
638
M. Lapinsky: Zur Frage des Mechanisinus der
Digitized by
(„Dans les cas les plus legers il s'agit d une simple hypaesthesie; dans
les cas plus accentues, il y a perte complete des sensibilites tactile,
douloureuse, thermique," 25 ) S. 389.) Die Stoning der Motilitat auBert
sich in einer schlaffen Paralyse (,.Trouble de motilite . . . evoluent
asscz vite vers une paralysie flasque accentue,“ 27 ) S. 389). Gleichzeitig
mit der Paralyse schwachen sich allmahlich die Haut- und Sehnen-
reflexe ab und gelien bald vollkommen verloren. (,,En meme temps
qu’apparaissent les troubles moteurs. les reflexes tendineux et cutanes
s’affaiblissent et disparaissent,“ 27 ) S. 390.) Der Nervenstamm scheint
weniger druckempfindlich als bei der pcripherischen Erkrankung, d. h.
weniger als bei gewohnlichcr Neuralgic oder bei Neuritis (,,La douleur
a la pression des troncs nerveux y est moins marquee, que dans les formes
peripheriques,“ 27 ) ibidem). Einzelne Beobachtungen der Wurzel-
verhnderung bei tuberkuloser Meningitis zeigen 23 ) (S. 402), daB die
Wurzeln in ihrcn Hiillen eingeklemmt werden, daB sich in ihrem Inneren
echte Cysten entwickeln konnen usw., was mit der Stoning samtlicher
Fasern ohne Auswahl verbunden sein soil.
Die Versuche einiger Klinizisten, die Erkrankung der Riicken-
markshullen und auch die parenchymatose oder interstitielle Wurzel-
erkrankung zu der Ischias zu rechnen und dadurcli die eigentiimliche
Verteilung der Hyper- und Anasthesien zu erklaren, scheinen in manchen
Beziehungen nicht sehr begriindet, weil samtliche Autoren bis dahin
jegliche organische Veranderungen des Nervensystems bei Ischias
verneint und dieses Leiden in das Kapitel der funktionellen Neurosen
einregistriert haben. Das ist der Grund, weshalb man alle organischen
Veranderungen bei Ischias ausschlieBen muB, und desto mehr, weil
einige organische Erkrankungen des Riickenmarks und auch des
pcripherischen Systems eine Quelle der in die Peripherie aus-
strahlenden Schmerzen sein konnen. Diese Schmerzen kann man
aber gewiB nicht zu den neuralgischen rechnen. Von diesem Stand-
jiunkte aus scheint es erstens ganz unlogisch zu sein, eine organische
Wurzelerkrankung fiir Neuralgia zu halten, und zweitens muB man
iiberhaupt eine organische Wurzelerkrankung vollkommen dort aus¬
schlieBen, wo die Sensibilitatsveranderungen, Motilitats- und Reflex-
stdrungen einen, wenn auch radieularen, Typus darstellen, aber doch
nicht standig oder andauernd, sondern wechselnder Natur sind, wo auch
andere Zeichen funktioneller Erscheinungen vorhanden sind und wo
die Sensibilitat nicht gleichmaBig, sondern mit einer Auswahl beein-
triichtigt ist.
Was aber die Sensibilitatsstbrung pcripherischen Typus mit
subjektiven Klagen liber Schmerzen betrifft, welches Bild die Autoren
zu der radieularen Ischias rechnen, und ihre Ursache in der Erkrankung
der Riickenmarkshullen sehen, kann man nicht mit einer solchen Auf-
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(80genannten Wurzel-)Neura]gie des N. ischiadieus.
B39
fassung der Krankheit einverstanden sein und mu 15 solche Falle ein-
fach fur Pachileptomeningitis oder ahnliches halten.
Aber wenn man schon eine Dissoziation in den zentripetalen
Leitungen nieht durch eine organische Wurzclerkrankung erklaren kann,
so konnten wir dieselben noch weniger durch ein organisches Leiden
der peripheren Nervenstamme erlautern. Gegen eine solche Deutung
hatten vor alien Dingen die Sensibilitatsstorungen gesprochen, die sich
bei Erkrankung der Nervenstamme durch einen eigentiimlichen
Charakter, das ist durch eine diffuse Beeintrachtigung samtlicher
Sensibilitatsarten mit Zunehmen ihrer Intensitat gegen die Peripherie
unterscheiden; auBerdem verandert sich die Sensibilitat in diesen
Fallen nur im Gebiete eines bestimmten Nervs, und zwar entsprechend
seinem Ausbreitungsgebiete; niemals geschieht es, daB die Hautsensibili-
tat dagegen in dem Verzweigungsraume des N. cruralis oder des N.
obturatorius, die an und fur sich keine in diesem Falle subjektiven
Symptome zeigen kbnnen, verandert ware (was namlich in den friiher
angefuhrten Fallen bei den verschiedenen Autoren und auch in meinem
Falle beobachtet wurde) usw.
Da diesc Dissoziation weder durch eine Erkrankung der Riicken-
markshullen noch durch das Befallensein der Wurzeln und noch weniger
durch Storungen der peripherischen Nerven erklart werden kann-
bleibt nichts iibrig, als die Ursache der Sensibilitats- und Reflexverande,
rung irgendwo hoher, d. h. im Ruckenmarke selbst zu suchen.
Meine eigenen Falle nenne ich ,,Ischias“, aber aus den Griinden,
die ich in den weiteren Teilen meines Artikels erlautern werde, ver-
meide ich im vollen Gegensatze zu anderen Autoreii den Zusatz ,,radi-
cularis".
Gegen eine mechanische oder eine andere organische Wurzel-
erkrankung spricht in meinen Fallen die Unvereinbarkeit der
Sensibilitatsstorungen mit Reflexveranderungen. In Antracht dessen,
daB die Reflexe von denselben Wurzeln wie die Hautsensibilitat bedient
werden, niuBte man erwarten, daB die Reflexe im Gebiete der lierab-
gesetzten Sensibilitat vollkommen fehlen oder mindestens herab-
gesetzt sein sollen. Diese Erwartung lieB sich aber in meinen Fallen
nicht bestatigen. In denselben waren z. B. die Achillessehnen- und
Patellarreflexe IkI herabgesetzter Sensibilitat fur Schmerzempfindung
im Gebiete der L. II., III., IV. und S. I. bis zur Klonusstufe erhoht.
Eine solche Erhohung der Reflexe bezeichnet, daB weder der periphe-
rische, noch der zentrale Teil des reflektorischen Bogens beschadigt
wurde. Daraus laBt sich der SchluB ziehen, daB die Erkrankung in
diesem Falle sich durch eine Auswahl unterschied, daB die Schmerz-
leitung zum BewuBtsein gehemmt, dagegen die Leitung der reflek¬
torischen Impulse sogar erleichtert war. Anderseits bedeutet eine solche
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
640
M. Lapinsky: Zur Frage iiber don Mechanisraus der
Digitized by
Auswahl in dem klinischen Bilde, daB deren Ursache auBerhalb der
Wurzeln, moglicherweise in der Mitte des Riickenmarks liegt.
Diese letzte Vermutung scheint desto glaubwiirdiger, weil die Sensibili-
tatsstbrungen infolge einer Erkrankung einzelner Spinalsegmente sich
durch ahnliche Lokalisation unterscheiden konnen.
Was die Bedeutung der Erkrankungen des Genitalapparates, des
Urintraktus und des unteren Teiles des Darmes, die in alien meinen
Fallen beobachtet wurden, betrifft, war ihre ursachliche Wichtigkeit
in diesem Symptomenkomplexe besonders in Anbetracht der therapeu-
tischen Erfolge demonstrativ. Die Heilmittel, die als ihr Ziel die Organe
des kleinen Beckens hatten, trugen zu einer schnellen Erleichterung
der Schmerzen, einer Wiederherstellung der Motilitat, der Reflexe
und der Sensibilitat bei. Mit anderen Worten gesagt, lieB sich zwischen
der Organerkrankung im Kleinbecken und der Entwickelung der Ischias
ein gewisser kausaler Zusammenhang feststellen. In diesem Zusammen-
hang kann man nichts anderes ersehen, als die Beziehung einer Ursache
zur Folgerung, als cine tttiologische Folgeerseheinung der Ischias-
entwicklung durch eine primare Organerkrankung im Kleinbecken, und
zwar nicht nur in bezug auf Schmerzmechanismus, sondern auch in bezug
auf Motilitatsstbrung, auf Veranderang der Sensibilitat und der Reflexe.
Jedenfalls konnte man hier eine primare, lange vor der Ischias entstan-
dene Erkrankung dieser Organe in alien Fallen feststellen.
Die Schmerzen in der unteren Extremit&t, und zwar in der Form
der Ischias, als eine Folgeerseheinung der Organerkrankung im Klein¬
becken, stellen keine absolute Neuigkeit dar. Viele Autoren erwiihnen
sie als Folge einer primaren Organerkrankung im Kleinbecken nicht nur
von Schmerzen, sondern auch sogar von Abmagcrung der unteren
Extremitaten. Z. B.:
Talma 98 ) (S. 238) sah bei Gebarmuttererkrankung eine Ischias
antica et postica, GefaBspasmus im Beine und Kiilte desselben, und
eine Abmagerung der Beinmuskulatur.
Schultze 96d ) raeint, daB Retroflexio uteri sich in Form einer Ischias
auBern konne.
Jaboulay 52 ) (S. 213) beobachtete einen Patienten mit Ischias,
deren Entwickelung die Anfalle starker Schmerzen im Gebiete des N.
genitocruralis wahrend der Ejaculationis seminis bei Coitus mehrere
Jahre lang vorangingen. Diese Anfalle waren so heftig, daB der Patient
sich von dem Eheleben vollkommen zuriickhalten muBte. Sicher hatte
der Patient Colliculitis, Prostatitis oder Spermatocystitis, welche Er¬
krankungen sich lange Zeit vor der Ischias entwickelten. Derselbe Autor
beschrieb in seinem X. Falle (S. 220) eine Frau, 37 Jahre alt, die an Ischias
litt. Auch bei ihr ging der Ischiasentwicklung ein chronischer entziind-
lieher ProzeB im Kleinbecken, der mit Hiimatosalpings endigte, voraus.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(sogenannten YVurzel-)Neuralgie des N. ischiadicus.
641
BertheoP) erwahnt in seinem I. Falle der Ischias (S. 67), daB die
linke Hode bei diesem Patienten auBerordentlich grofi und hart war.
Sein zweiter Patient litt nach Trauma und Gonorrhoea an Hamatocele
die sich lange Zeit vor der Ischias entwickelte'. GewiB muB man Er-
krankungen dieser Organe, wenn diese auch auBerhalb der Bauchhohle
liegen, als Prozesse im Kleinbecken betrachten. Der vierte an Ischias
leidende Patient Bertheoh, 58 Jahre alt, hatte im 40. Jahre (S. 72)
eine akute Prostatitis gehabt.
Der Patient Nr. 3 Dobrochotov s 25 ) (S. 51), der ebenfalls an Ischias
litt, hatte gleichzeitig eine chronische Urethritis langen Datums. An
derselben Erkrankung litt auch sein Patient Nr. 22 (S. 88). Notthaf 11 )
sah bei Prostatitis sehr oft Ischiaserscheinungen. Wossidlo 66 ) beobach-
tete dasselbe. Fournier 63 ) und auch Lesser -12 ) beobachteten sehr oft
Ischias nach Gonorrhoea. Offergeld 62 ) behandelte Ischias sehr oft bei
Retroflexio uteri. Oppenheim 77 ) meint, daB die lange Zeit zuriick-
gehaltenen Fakalmassen eine Ischiasneuralgie hervorrufen konnen. Der-
selbe Autor (ebenda S. 762) konstatierte sehr oft Ischias bei entziind-
lichen Prozessen im Kleinbecken, besonders bei Perimetritiden. Usw.
Man sieht also, trotzdem niemand diese Frage speziell bearbeitete,
Andeutungen iiber atiologische Beziehung dieser beiden Erkrankungen
zueinander.
Meine jetzigen fiinf Falle publizierend, muB ich vorausschicken,
daB sich in meinen sehr vielen anderen Beobachtungen der Ischias,
und zwar bei den Frauen wie auch bei den Mannern, die ich hier an-
zufiihren fiir iiberflussig halte, mich stets fiber die Existenz eines
atiologischen Zusammenhanges zwischen der Organerkranku ng im
Kleinbecken und der Ischiasentwicklung iiberzeugen konnte.
Diese meine Beobachtungen zeigten, daB in alien meinen Fallen
eine Erkrankung in einer oder anderen Etage des Kleinbeckens, resp.
eines Organes in demselben der Ischiasentwicklung vorausging, und
zur Zeit des Aufbliihens der Ischias stets sehr stark ausgepragt war.
Eine Behandlung dieser primaren Erkrankung im Kleinbecken hatte
immer unbestreitbaren EinfluB auf den Zustand der Schmerzen im Ge-
biete des N. ischiadicus. Ebenso wie in den hier angefiihrten, wurde
z. B. auch in den meisten anderen Fallen konstatiert, daB der patholo-
gische EinfluB der Prostatadriise oder des Eierstockes oder irgend-
eines anderen Organes im Kleinbecken sich nicht nur auf das Gebiet
des N. ischiadicus, sondem auch auBerhalb des Sakralplexus ausbreitet,
daB ein pathologischer ProzeB in einer Kleinbeckenetage den Sen-
si bilitatszustand im Gebiete der L. I., II. und D. XI., XII. undnoch
hoher, z. B. die Bogen unterer Bauchreflexe beeinflussen kann. Da alle
diese Vorrichtungen und Mechanismen von der Prostatadriise, dem
Eierstocke usw. weit entfernt liegen, so muB man, um diesen EinfluB
Digitized by Got >gle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
642
M. Lapimky: Zur Frage iibcr den Mechanismus der
Digitized by
direkt durch unvermittelte Nachbarschaft, z. B. durch den Druck
dieser Organe auf die bcnachbarten Nerven, rebp. Wurzeln, die aus dem
Kleinbecken ausgelien (z. B. D. XII. und L. I., II), zu erklaren, diese
Erscheinung auf cine andere Weise deuten; augenscheinlich \virkt dieser
unanfechtbare EinfluB durch Vermittlung eines nervosen Apparates,
der von der Prostata, Gebarmutter, Tuba Fallopiae usw. aus in Tatigkeit
gebracht wird und dessen Erregung jenen Nervenmcchanismen und
Vorrichtungen durch Mitwirkung des Riickenmarkes vermittelt wird.
Zugunsten dieser Vermutung spricht der Umstand, daB viscerale
Organe ihre eigenen zentripetalen Bahnen haben, die aus einem, dem
bestimmten Segmente des Riickenmarkes, die zentripetalen Impulse
zufuhrenden Neurone bestehen. Diese Impulse konnen im Riicken-
marke, je nach dem, bald den Hemmungs-, bald den Erregungseffekt
erzeugen; einmal konnen sie das ganze Leitungsvermogen und dabei
auch die intraspinale Sensibilitatsleitung vermindern, ein anderes Mai
dagegen diesel be steigern usw.
Der Umstand, daB die Sensibilitat, die Reflexe und sogar die
Schmerzenspannung selbst durch die Gebarmutter-, Eierstock- und
Prostatabehandlung beeinfluBt wird, scheint sehr wichtig, und zwar in
zwei Beziehungen. Erstens sprechen die Unstetigkeit der klinischen
Erseheinungen und ihre sehnelle Wiederherstellung ad normam dafiir,
daB die Ursache der Gleichgewichtsstorung des Nervensystems nieht
in den organischen Veranderungen, sondern in funktionellen Stbrungen
zu suchen ist. Zweitens, zeigt uns dieser Umstand, daB diese funktio¬
nellen Schwankungen von dem Zustande des Organs, das zum N.
ischiadicus keine direkte Beziehung hat, abhangt, daB diese Organe
nieht auf seinen Wurzeln liegen, letztere nieht driieken und iiberhaupt
auf keine Weise direkt den Nervenstamm beeinflussen konnen.
Die Bedeutung der Organerkrankungen des Kleinbeckens in dem
Mechanismus der Schmerzentstehung wurde am Krankenbette schon
mehrmals 57 ), 59 ), 82 ) bei anderen Angelegenheiten notiert. Auch hier,
ebenso wie in jenen Artikeln, liiBt sich das Prinzip der metamerischen
Verteilung der Sensibilitatsstoru ng und der Schmerzentwicklung fest-
stellen. Dies ist namlich der Verteilungstypus der Anasthesien resp.
Hyperasthesien, die in solchen Fallen die radiculare Erkrankung bei
Ischias ersehen liiBt; derselbe Erkrankungstypus zwingt die Autoren
zur SchluBfolgerung, daB die Ischiasursache in solchen Fallen in der
organischen Erkrankung der Spinalwurzeln, die an der Bildung des
Ischiasplexus teilhaben, liegt.
Im vollen Gegensatze zu den friiher zitierten Autoren rechne ieli
meine Ischiasfalle, die alle Zeichen einer Radiculitis haben, zu der
Neuralgie des N. ischiadicus und schlieBe hier jede organische Erkran-
kung der Nervenfasern iiberhaupt, einschlieBlich auch derjenigen in den
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(sogenannten \Vurzel-)Neuralgie ties X. ischiadicus.
643
Wurzeln, aus; in der Lagerung der Anasthesie-, resp. Hyperiisthesie-
streifen erseheich hier das Prinzip nicht radicularer, sondern segruentarer
oder metamerischer Verteilung der Anasthesien oder Hyperasthesicn.
Da jeder Metamer seine Wurzeln hat, unterscheidet sich meine
Auffassung, insofern es die klinieche Symptomatologie betrifft, in nichts
von derjenigen anderer Autoren, die in ihren Fallen eine Radiculitis
ersehen. Das inetamerische Prinzip unterscheidet sich von der radi-
culitischen Auffassung nur in bezug auf Lokalisation der pathogno-
mischen Storungen: die Anhanger der Radiculitis suchen den Grund
des klinischen Bildes in den Wurzelerkrankungen, dagegen findet man
vom metamerischen Standpunkte aus diesen ProzeB in der Tiefe des
Riickenmarkes, in den Gebieten einzelner Ncuromeren vor.
Diesen Unterschied zwischen meiner Auffassung liber sog. Ischias
radicularis und den hier angefuhrten Anschauungen anderer Autoren
auffiihrend, mochte ich anderseits den Unterschied dieser verschiedenen
Betrachtungsweisen noch in anderer Beziehung, und zvvar in bezug auf
Auffassung der Ischiasatiologie betonen. Die Anhanger des Radiculitis-
prinzipes sehen die Ischiasursache in der Erkrankung der harten und
we'chen Riickenmarkshullen, und zwar in der Riickgratshbhle oder in
Foramina intervertebralia, dagegen laBt sich die Ursache der Ischias
in meinen Fallen auBerhalb dieser Hohle suchen. Diese Ursache, und
zwar nicht nur diejenige der Entstehung, sondern auch diejenige einer
gewissen Lokalisation (besser gesagt: Projektion) in der Peripherie,
muB man in der Organerkrankung des Kleinbeckens suchen; da die dort
sich entwickelnden Prozesse weit von N. ischiadicus liegen, da sich
dieeelben gewohnlich auf diesen Nerv nicht per continuitatem aus-
breiten konnen, da weiter dieselben auf die Nervenstamme mittels
Beriihrung oder Druck ihre Unversehrtheit nicht storen und iiberhaupt
zur organisehen Veranderung derselben nicht beitragen, so laBt sich
der schadliche EinfluB der erwahnten Prozesse in den Kleinbecken-
organen auf die entfernten Nervenstamme durch einen Meehanismus er-
klaren, der zu den konsensuellen oder sympathischen gerechnet
werden soil. Solehe Mechanismen, popular gesagt, wirken aus der
Entfernung, storen nur Leistung und Funktion, vernichten aber
niemals das Gewebe, infolgedessen man Ischias solchen Ursprungs
als ein funktionelles Leiden, als — wie es bis jetzt gehalten wurde —
eine Neurose betrachten muB.
Was das Primurn movens dieser Erkrankung betrifft, so muB
man dasselbc in der primarenStorung derProstatadruse,des Rectums, der
Gebarmutter, des Eierstockes usw. suchen. Ein solcher SchluB laBt sich
schon aus den Erzahlungen der Patienten ziehen, die z. B. eine Yer-
schlechterung in ihrem Zustande bei Verstopfung, nach sturmischeni
Coitus, infolge einer Stoning der Menstruation usw. verspiirten. Objek-
Djgitizea by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
644
M. Lapinsky : Zur Frage iiber den Mechanismus der
Digitized by
tiv konnte man dasselbe nach einem Drucke auf die Gebarmutter, Tuba
Fallopiae, Prostatadriise usw. beobachten, infolgedessen z. B. zum
Stillstand gekommene Schmerzen in den Beinen wieder heftig auf-
traten. Diese Anschauung wird auch durch die Resultate der Therapie
bestatigt. So hatten z. B. heiBe Prozeduren auf Perineum oder die
untere Bauchgegend oder die Massage der Prostatadriise groBe Wechsel
in der Sphare der Sensibilitat, der Reflexe, der Motilitat und der sub-
jektiven Empfindungen zur Folge.
Solche Erwagungen und Ergebnisse lassen den SchluB ziehen,
daB man die Ischiadicusneuralgie fiir ein Symptom einer Dickdarm-
erkrankung, einer Prostatitis, einer Spermatocystitis, einer Oophoritis
oder dergl., und iiberhaupt fiir eine Schmerzprojektion aus dem
Kleinbecken halten muB.
Was die Verteilung der veranderten Sensibilitat im Gebiete ein-
zelner Segmente an den unteren Extremitaten und den benachbarten
TeiJen betrifft, so kann man diejenige durch segmentaren, resp.
metameren Bau des Riickenmarkes. d. h. durch segmentare Verteilung
der Hautsensibilitat im Riickenmarke erklaren.
Die auBerordentliche Kompliziertheit des klinischen Bildes der
sog. Ischias radicularis vereinfacht sich bedeutend, wenn man die
mannigfaltigen Symptome dieses Leidens in zwei Gruppen zerlegt,
von welchen jede ihre bestimmte anatomische Topographie und einen
speziellen pathognomonischen Mechanismus hat.
In die erste Gruppe muB man die eigenartigen Sensibilitatsstorun-
gen in Form von Hyperasthesie oder Anasthesie fiir alle oder nur fiir
einige Sensibilitatsarten, die Veranderungen der aktiven Motilitat
sowie der reflektorischen Beweglichkeit und endlich auch den Ernah-
rungszustand der von der Neuralgie befallenen Extremitat, speziell
die Atrophie der Muskel, einreihen.
Zur zweiten Gruppe kann man aus diesen komplizierten Sympto-
men verschiedene Schmerzerscheinungen, und zwar erstens den
spontan entstandenen Schmerz und zweitens die Schmerzen, die
sich bei objektiver Untersuchung, namlich beim Drucke auf den Nerven-
stamm, entwickeln, rechnen.
DemgemaB sind zwei verschiedene Erkrankungslokalisationen in
dem Symptomenkomplexe dieser Ischias zu unterscheiden. Eine dersel-
ben ist eine peripherische; eine Erkrankungslokalisation in der Peripherie
verursacht spontane Schmerzen und solche beim Drucke auf den Nerven-
stamm und soli sich in dem Nervenstamm selbst vorfinden. Eine andere
ist eine spinale; sie soli sich im Riickenmarke, und zwar dort vorfinden,
wo die zentripetalen Fasern sich schon auf dem Riickenmarkquerschnitte
facherartig ausbreiten, indent sie sich ihren Funktionen nach in einzelne
Strange verteilen.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(sogenannten Wurze l-)Neuralgie des N. ischiadicus.
645
Wenn diese zu vermutende, im Riickenmarke zu lokalisierende
Ursache imstande ist, die zentripetale Leitung des einen oder des
anderen Stranges zu hemraen, so kann dieser intraspinale ProzeB, wie
es namlich bei intraspinalen Storungen beobachtet wird, den Ausfall
einzelner Sensibilitatsarten bewirken, d. h. verschiedene sensorische
Spharen, und zwar im Gebiete einzelner Segmente, werden dadurch
mit einer besonderen Auswahl betroffen. Diese zweite spinale Erkran-
kungs-, resp. iiberhaupt Storung. lokalisation kann auch eine Reflex-
storung zur Folge haben, resp. eine solche erklaren. Wenn z. B. diese
Ursache in der Hohe eines Reflexbogens liegt, so soli der durch diesen
Bogen bedingte Reflex fehlen. Dagegen sollen die Reflexe gesteigert
sein, wenn sich dieselbe Unache oberhalb des Reflexbogens vorfindet,
trotzdem die Sensibilitat in dem Gebiete, das die reflexogene Zone dar-
stellt, vollkommen fehlen kann.
Zugunsten dessen, daB eine doppelte Storungslokalisation hier
vorlag, daB hier zwei parallel verlaufende Storungen vorhanden
waren, dessen Symptome, wenn auch gleichzeitig aufgetreten, bestanden,
doch jede an und fur sich unabhangig von zwei verschiedenen Quellen
abhingen, sprach der Umstand, daB sich kein Parallelismus zwischen
den Symptomen des einen und des anderen Ursprungs bemerkbar
machte, und das — anderseits — verschiedene Symptome spinalen
Ursprungs mit denjenigen des jieripherischen im Widerspruch standen
oder umgekehrt. Infolgedessen fielen die spontanen Schmerzen terri¬
torial nicht mit den bei objektiver Untersuchung entstandenen Schmer¬
zen (beim Drucke z. B.) zusammen, ebenso konnten infolgedessen die
gesteigerten Reflexe bei vollkommener Anasthesie, oder das Fehlen
derselben bei gesteigerter Sensibilitat beobachtet werden.
Dieselbe zweifache Ursache macht verstandlich, daB die Reflexe
und die Sensibilitat nicht nur im Gebiete des von Neuralgie befallenen
Nervs verandert waren, sondern auch auBerhalb desselben, daB
anderseits die Reflexe, trotz Fehlens der Sensibilitat und der Atrophie
der Muskeln, die den Bogen dieser Reflexe bedienen, gesteigert
waren.
Die periphere Erkrankungslokalisation — im Nervenstamme
selb.st — ruft die spontanen Schmerzen und diejenigen beim Drucke
hervor, dagegen trug die intraspinale Storung zur Sensibilitatsverande-
ning segmentaren oder radicularen Typs oder Dissoziation der Sensi¬
bilitat bei.
Diese nach ihrer Atiologie, ihrem Ursprunge, nach der Zeit ihres
ersten Erscheinens, vielleicht auch nach anderen Griinden verschie¬
denen Symptomenkomplexe, die bei einem und demselben Kranken
gleichzeitig vorhanden waren, mtissen doch eine, und zwar gemeinschaft-
liche Entstehungsursache, aber vielleicht verschiedene vermittelnde
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
646
M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechanismus der
Digitized by
Mechanismen, die zum Erscheinen dieser verschiedenen Symptomen-
komplexe beitragen, haben.
Fruher, 1km der Erw&gung der Atiologie der hier angefuhrten klini-
schen Falle, wnrde nantlich schon erwahnt, daB die Ver&nderungen
der Sensibilitat, sowie die Reflexe usw. zu den funktionellen Storungen
gerechnet werden sollen, die infolge der printaren Erkrankung der Klein-
beckenorgane entstehen.
Ebendaselbst vturde erwahnt, daB diese erkrankten Organe einen
pathognomoni&chen EinfluB nicht durch direkte Nachbarschaft an die
peripheren Nervenstamme der unteren Extremitat entwickeln konnten,
indent sie etwa solche driickten oder sogar zerstorten; sonderndie patho-
gnomonische Wirkung dieser Prozesse entwickelt sieh bei der voll-
konnnenen Unversehrtheit zentripetaler Bahnen, und auBerte sieh in der
bloB voriibergehenden Veranderung einer oder der anderen Funktion.
Ebendaselbst wurde auch erwahnt, daB dieser EinfluB aus der
Entfernung durch eine besondere Vorrichtung, durcli deren Erregung
die Verrichtungen der entferntliegenden Organe gestort werden konnen,
bedient werden muB. Dieser ProzeB, der bloB auf die Verrichtung
wirkt, diesel be unterdriickt, aber keinesfalls die Gesamtheit der Nerven-
elemente vernichtet oder diejenigen Organe zerstort, muB zu der Kate-
gorie der hemmenden Mechanismen gerechnet werden.
Was die Mechanismen anbelangt, die die spontanen und die
beint Drucke walirend objektiver Untersuchung entstehenden Schmer-
zen hervorrufen, so miissen diese eben nach der Analogic mit dem
Schmerzmeehanismus in anderen Organen ihren Anfang in der
lokalen Blutzirkulationsveranderung resp. n der GefaBluntenstbning
haben. Eine lange dauernde Erweiterung oder Verengerung der Blut-
capillaren ntuB hier unter die nachsten Ursaehen, die die Schmerz-
entpfindungen bedingen, gestellt werden.
IV.
Prozesse, die man zu der Zahl der hemmenden Mechanismen rech-
net, spielen sieh stets intraspinal ab, d. h. sie entwickeln ihren EinfluB
immer in den Zellen der Zentren selbst oder in den Zellenfortsetzungen,
die diese Zellen miteinander verbinden, entwickeln sieh aber nie in den
lK?ripherischen Nervcnfasern. Die Heramungserscheinungen der Motili-
tatsakte, und zwar in bezug auf die Kontraktilitat der glatten und quer-
gestreiften Muskelfasern, werden nun am besten studiert gehalten.
Nach Setschenovs Lehre gehort die hemmende Verrichtung nicht
dem Riickenmarke, sondern nur der grauen Masse des Gehirns an.
Schiff anderte dieselbe, indem er die Hemmungsfahigkeit iiberhaupt
der grauen Masse des Gehirns und des Rtickenmarkes, und zwar gleich-
maBig zusehrieb.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(sogcnannten YVurzel-)Neuralgie des N. ischiadicus.
647
Goltz Meinung 6 ), 41 ), 42 ) nach bestelvt der Hemmungsmechanismus
eines gegebenen reflektorischen Aktes in dem Kampfe zwischen zwei
— und zwar der reflexerregenden und reflexhemmenden — Stimularten.
In diesem Kampfe muB ein von einem gewissen Pnnkte ausgehender
Stimul den Muskel — und zwar vermittelst einer gewissen Faser -—
erreichen. Der andere Stimul aber, von einem anderen Punkte
beginnend, kreuzt intraspinal die Bahn des ersteren und hemmt in den
Zellen des Riickenmarkes einen dynamischen Akt in seiner Entwicklung.
Dadurch werden aber blob die aktiv gespannten Muskeln gehemmt,
dagegen werden die Muskeln, die bis dahin in Ruhe waren, durch diesen
zweiten Stimul in Tatigkeit gebracht.
Bethe 6 ) (S. 373) ist der Meinung, daB die gcgenseitige Vernichtung
der dynamogenen Impulse sich durch die hemmenden oder umgekehrt
sich in der fibrillaren Umhullung der Nervenzelle abspielen muB; da
diese einander vernichtenden Impulse — einer von dem anderen —
noch in der Zellbekleidung unterdriickt werden, so bleibt die Zelle
selbst trotz dieser aufsteigenden Erregungen ganz teilnahmslos.
Goltz (1. c.) behauptet, daB der Reflexakt dann gehemmt wird,
wenn dessen Reflexbogen, resp. Reflexzentrum gleichzeitig auch von
irgendeinem anderen Reize getroffen wird, und zwar muB dieser letzte
Reiz ganz anderen Ursprunges sein, muB von einer ganz anderen Richtung,
resp. einem anderen Organe kommen und auf diesem Wege eine Bahn
benutzen, die in diesem reflektorischen Akte bisher nicht teilgenommen
hatte. Dieser Hemmungsakt geschieht infolgedessen stets intraspinal.
(,,DieHemmung bestehtdarin, daB die Tatigkeit eines in Erregung befind-
lichen Organes durch Erregungen, die ihm von einem zweiten Organe
auf dem Wege intrazentraler Bahnen zukommen, aufgehoben wird,“ 1. c.)
Ein Beispiel einer solchen Hemmung kann man in der Hemmung
der Atmungsverrichtung wahrend der Reizung des N. laringeus superior
ersehen. Hering 48 ) hat bewiesen, daB die Atmung ein ganz automatisch
zu regulierender reflektorischer Akt ist, bei dem zentripetale Reizungen,
via N. vagus, von dem Lungenparcnchym hinaufsteigen. Das Zusammen-
fallen der Lungen beim Ausatmen erregt das Inspirium und hemmt
gleichzeitig das Exspirium, dagegen erregt die Lungenausdehnung beim
Einatmen das Exspirium und hemmt das Inspirium.
Rosenthal") zeigte, daB man den Atmungsakt zum Stillstand
bringen kann, wenn man das zentrale Stuck des N. laringei superioris
reizt. Dasselbe beobachtete Wegeli 106 ) beim Reizen des N. trigeminus.
Goltz* 1 ), 42 ) vermutete in dem Hemmungsprozesse eines reflektori¬
schen Aktes zw r ei verschiedene anatomische Substrate, womit andere
Gelehrte einverstanden sind. Eines dieser Substrate macht die ganze
Bahn eines reflektorischen normalen Aktes aus, besteht aus zwei Neu-
ronen und hat die Aufgabe, diesen Akt vonstatten gehen zu lassen.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
648
M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechanismus der
Digitized by
Das andere hat zuru Ziele, diese reflektorische Bahn zu hemmen und
besteht aus einem Neuron. Was das erste anatomische Substrat,
d. h. den normalen zu hemmenden Reflexbogen betrifft, so glaubten
einige Autoren, zu denen Ramon-y-Cajal, Kolliker , Lenhossek u. a. geho-
ren, da6 dasselbe aus zwei Neuronen, und zwar aus dem zentripetalen
Schenkel, d. h. aus dem Spinalganglionneuron und dem zentrifugalen
Schenkel, d. h. aus der motornchen Zelle der Vorderhorner mit ihrem
Achsencylinder gebildet wird. Die Untersuchung der Querleitung des
Riickenmarkes bei den Tieren, bei denen die sentorische Zellensubstanz
des Riickenmarkes durch vert chit dene chemitche Agenten vergiftet
wairde, zeigte aber, dafi der Reflexbogen mindestens aus drei Teilen
besteht; von diesen gehort bloB einer zu den zentrifugalleitenden Ap-
paraten, die iibrigen Teile •— zweites und drittes Glied — leiten die
Impulse zentripetal.
Der intraspinale Teil des Reflexbogens muB nach Tiedemann 10 °)
(S. 201) in sich einen oder sogar mehrere endogene Neuronen der Hinter-
horner enthalten. Die Verkettung dieser einzelnen Teile vollendet.
sich mit Hilfe sog. Synapse, dank derer der Nervenvorsatz eines Neu¬
rons mit dem Zelleibe des zweiten zusammengelotet wird. Der erste
Neuron — der zentripetale Schenkel des Reflexbogens —, der sein
trophisches Zentrum in dem Spinalganglion und seine Endung im
Riickenmarke hat, sendet seine Forttatze zwischen Nervenzellen
der grauen Masse des Hinteihorns. Dcr zentrifugale Schenkel des
Reflexbogens beginnt in der Zellmasse des Riickenmarkes und endigt
in dem Exekutivorgan in der Peripherie. Zwischen den Zellenmassen
des zentrifugalen Schenkels dieser Bahn und den Endungen des zentri¬
petalen Neurones aus dem Spinalganglion liegen mehrere Ketten der
Zellen mit den faserartigen Fortsetzungen, sog. Zwischenneurone
des Reflexbogens. Manche Autoren halten diese Zellen und motorische
Zellen des Vorderhornes fiir das Zentrum eines normalen Reflexbogens,
das, ihrer Meinung nach, bestimmte Grenzen hat.
Das zweite anatomische Substrat in dem Hemmungsprozesse ist
namlich — Goltz' Meinung nach — dasjenige, durch elas der hemmende
Impuls zu einem Reflexakte hinauf; teigt. Dieser anatomische Apparat
besteht nur aus einem zentripetalen Neurone, der sein trophitches Zen¬
trum in dem Spinalganglion und teine Endungen in Form eines
Biischels oder Baumchens in dem Riickenmarke hat, in dem dieser
Neuron irgendwo, den zu hemmenden normalen Reflexbogen entlang,
endigt. Goltz glaubt, claB dieses zweite anatomische Substrat mit
dem ersteren in dem friiher erwahnten Zellenzentrum des normalen
Reflexbogens zusammentrifft.
Die Stelle, wo die hemmenden Impulse mit dem zu hemmenden
Reflexbogen zusammentreffen sollen, bildete fur mehrere Autoren einen
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des N. ischiadicus.
649
Gegenstaml der speziellen Untersuchung. Da der Achsencylinder eines
Neurones — nach den Ansichten englischer Schule — sich durch
sog. Synapse mit dem Zellenleibe cipes anderen Neurones vereinigt, so
entstand die Frage, ob die Hemmung des Reflexbogens nicht in der
Synapse selbst zustande koramen konne, und zwar entweder in der
hinteren Synapse, die das Spinalganglion mit den Zellen des Hinter-
homs, oder in derjenigen, die die Hinterhornzellen mit denjenigen des
Vorderhorns vereinigt.
Tiedemann 100 ) (S. 208) entscheidet diese Frage iiber die Hemmungs-
moglichkeit in den Synapsen ganz negativ; er ist zu dem Schlusse ge-
kommen, daB man Hemmung oder Ermudung des Reflexbogens in
diesen Fallen in der ersten Station des Hinterhornes suchen muB
(S. 239).
Frolich 35 ) (S.239), der sich fur dieses Thema besonders interessierte,
stellt sich einige Stationen, in denen sich der Hemmungsmechanismus
abspielen kann, vor: erstens kann eine solche Hemmung, seiner Mei-
nung nach, in denEndungen des sensorischen Nervs, d.h. in der ersten
Synapse, zweitens in dem Zellzentrum des Reflexbogens, drittens
an der Grenze dieses Zentrums, d. h. in der zweiten Synapse, in den
motorischen Zellen des Vorderhorns und viertens in den Nerven-
leitern, die in dem exekutiven Organe zu suchen sind, entstehen. Nach
der Meinung dieses Autors spielen die Hauptrolle in dem Hemmungs¬
mechanismus nicht so viel die zahlreichen zentripetalen Fasern, und zwar
ihre Endungen, sondern die Nervenzellensubstanz, mit der alle diese
Endungen verbunden sind, und in die sich verschiedene, manchmal
ganz gegensatzliche Impulse gleichzeitig ergieBen. Die Qualitat und die
Bedeutung dieser Impulse werden zwar durch die Reaktion dieser
intrazentralen Zellensubstanz genauer bestimmt. Die Empfindlichkeit
dieser intraspinalen Zellen, die gleichzeitig verschiedene einander ver-
nichtende Impulse erreichen, haben also in dem Hemmungsprozesse
eine wesentlicbe Bedeutung. Die Eigentumlichkeit und der Charakter
dieser Impulse und ihr hemmender Effekt kann sich erst nach der
Verarbeitung dieser Impulse durch diese intraspinale Zellen kundgebeu.
Der HemmungsprozeB entwickelt sich also nach Frolich (ebenda S. 240)
nicht in den Endungen der Nervenfasern, sondern in der mit ihnen zu-
sammengeloteten Nervenzellensubstanz des Riickenmarkes.
Auf Grund seiner Untersuchungen glaubt Frolich, daB die Reizung
eines Punktes an der Peripherie einen gewissen reflektorischen Akt
nur dadurch hemnien kann, weil die aus diesem Punkte ausgehenden
zentripetalen Impulse jene Nervenzellensubstanz erreichen, die ein
Zwischenglied zwischen den Vorderhornzellen und den letzten Endungen
der Hinterwurzelfasern darstellt, und durch die der zu hemmende
Reflexbogen lauft. Nur der zentripetale Teil der Reflexbogen, und zwar
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
650
M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechanismus der
Digitized by
die zelligen Einschaltungen, d. h. die sensorischen Zellen der Hinter-
horner wird unter diesen Bedingungen der Heraraung untenvorfen.
Diese Zellen, indent sie die auf sie fallenden Impulse aufnehmen und auf
eine besondere Weise verarbeiten, verlieren dadurch die Fahigkeit,
verschiedene Reize weiterzuleiten.
Da aus diesen Untersuchungen hervorgeht, daB die Leitungen der
reflektorischen Akte infolge der gleichzeitigen peripherischen Reizungen
gehemmt werden, so konnte man anderseits erwarten, daB auch andere
zentripetale Innervationen — fur andere Verrichtungen —, und zwar
dann, wenn dieselben dureh die erwiihnte Nerve nzellensubstanz
gleichzeitig mit den Reizungen anderen Ursprungs aufsteigen, gehemmt
werden konnen; diese anderen zentripetalen Leitungen wiirden also
dann verhindert werden, wenn die Zellen in die diese sich ergieBen, auf
der Bahn der hemmenden Impulse liegen.
Diese Vermutung einer unter solchen Bedingungen moglichen
Hemmung der motorischen Akte oder der Empfindungen, die von den
Hinterwurzeln aus in die Zellen der endogenen Neuronen in dem Riicken-
marke (z. B. Gowersehe Biindel) aufsteigen, scheint ganz annehmbar,
wenn man die allgemeine Eigentumlichkeit des Nervenzellgewebes und
einige Analogiett in Betracht zieht, z. B.: Es ist namlich bekannt, daB
die Nervenzellen ein Organ darstellen, das die iiber die sog. Schwelle
des inneren Widerstandes der Nervenzentren durchdringenden Stimule
sehr langsam leitet und ihnen auf ihrem Wege groBe Schwierigkeiten
entgegenstellt (Biddermann 11 ). Dieser innere Widerstand bedarf, um
ihn zu tiberwinden, einer gewissen Zeit, wahrend der sich in diesen
Zellen das sog. refraktare Stadium entwickelt.
Dieser Widerstand wird aber anderseits noch starker, wenn das
betreffende Zentrum, d. h. gcwisse Nervenzellen vorher schon auf
irgendeine Weise gereizt wurden. Infolgedessen beobachteten z. B.
Broca und Bichet 12 ), indent sie motorischc Zentren der Gehirnrinde mit
Hilfe des faradischen Stromes reizten, keine Bewegung der Extremitat,
wenn diese Rindenzentren des Gehirnes gleich vorher dureh denselben
Strom gereizt wurden.
Zwadermacker 2h ), X1 ) beobachtete an denMenschen den blinzelnden
Reflex am Auge, indem er starke Lichtaufblitze vor den Augejt machte.
Dieser Blinzelreflex horte aber sofort auf, wenn die Aufblitze schneller
als eine halbe Sekunde vor sich gingen. Offenkundig hemmte die vorher-
gegangene Lichtreizung die Bahn fiir eine neue Erregung mit Hilfe
des Lichtes.
Man kann bei der Katze Schluckbewegungen reflektorischen Ur-
sprungss hervorbringen, wenn man den N. laryngeus superior reizt; diese
Schluckbewegungen fehlten aber, wenn die Reizung dieses Nerves in
einem zu schnellen Tempo vonstatten ging; dabei entwickelte sich die
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(sogenannten Wurzel-JNeuralgie des N. ischiadicus.
651
Hemmung dieses reflektorischen Aktes durch den inneren Widerstand
in den Nervenzentren, der infolge des zu schnellen Reizungstempos
entstand. Solche Beobachtungen veranlaBten die Autoren ( Schiff )
zu schlieBen, daB die Erschopfung der Nervenzentren im Grunde des
Hemmungsmechanismus liegt.
Setschenof 9311 ) rief beim Frosche mehrere Muskelzuckungen hervor,
wahrend er ihm eine Hinterwurzel mit leichtem faradischem Strome
reizte; dieselben Muskeln blieben aber vollkommen bewegungslos, wenn
er den faradischen Strom etwas starkte. Der Autor erklart diese Ver-
sagung des Reizes durch eine Hemmung des reflektorischen Bogens
infolge eines starkeren Reizes.
Biddermann n ) bemerkte, daB man sofort den Motilitatsakt in den
untergeordneten Muskeln erreicht, wenn man die betreffende Hinter-
wurzel erregt; dieser Autor beobachtete aber sehr starke Verzogerung
dieser motorischen Reaktion und eine veranderte Form derselben, werm
er einen Elektrod an den proximalen Abschnitt des N. ischiadicus legte.
Daraus zog der Autor den SchluB, daB die auf dem Wege zur motorischen
Wurzel liegenden Nervenzellen im Riickenmarke den Impulsen, die
durch dieselben laufen, einen sehr starken Widerstand entgegen-
bringen.
Baglioni' 13 ) wollte auseinandersetzen, welche Nervenzellen des
Riickenmarkes — motorische odor sensorische —■ imstande sind, die
betreffende Gbermittelung der Stimule zu hemmen, besser gesagt,
welche Nervenzellen sich durch die Fahigkeit auszeichnen, unter det
Wirkung der zentripetalen Reizung gehemmt zu werden; um das zu
erklaren, reizte Baglioni mit Hilfe des faradischen Stromes den zen-
tralen Stumpf des M. ischiadicus eines Frosches und beobachtete dabei
nur einzelne Muskelzuckungen, trotzdem die Reizung der Zentripetal-
fasern ununterbrochen dauerte und infolgedessen eine dauerhafte,
u nunterbrochette, d. h. tetanische Muskelspannung zu erwarten gewesen
ware. Da Baglioni vermutete, daB die Ursache einer solchen Um-
wandlung der zu erwartenden Resultate in der Eigenschaft der Arbeit,
resp. Funktion, der grauen Masse des Riickenmarkes zu suchen war,
fiihrte er einige Versuche an den Froschen, die fur diese Zwecke ent-
weder mit Fenol oder mit Strychnin vergiftet wurden. Wahrend dieser
Versuche ist Baglioni zum Schlusse gekommen, daB das Fehlen der
tetanischen Muskelzusammenziehung bei der mit dem faradischen
Strome ununterbrochener Reizung‘der zentripetalen Fasern im N.
ischiadicus durch das Beharrungsvermbgen der Nervenzellen im Riicken-
marke zu erklaren war. Diese Zellen summierten gewohnlich die Reize,
um dieselben weiter zu befordern; infolgedessen entstand eine Leitungs-
hemmung der zentripetalen Impulse in den intrazentralen Teilen der
zu besprechenden Nervenbahn.
Archiv fiir Psychiatric. Bd. 67. 43
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
6 52
M. Lapinskv: Zur Frage tiber den Mechanismus der
Digitized by
Raglioni wahlte fiir seine Versuche Fenol und Strychnin aus dem
Gninde, weil diese chemischen Mittel sich durch eine elektiv-erregende
Wirkung — Fenol auf die Vorderhorner, besonders auf die moto-
rischen Teile der Nervenzentren, und Strychnin auf die hinteren
Teile des Riickenmarkes, l)esonders auf die sensorischen Teile des Nerven-
systerns ■— auszeichnen. Als dieser Autor bei seinen Versuchen an dem
Frosche jedes dieser erwahnten Mittel fiir sich allein amvandte, und dabei
dessen Hinterwurzeln oder dessen zentralen Stumpf des N. ischiadicus
reizte, konnte er sich iiberzeugen, daB die Leitung verscbiedener zentri-
petalen Impulse nur in dem sensorischen Abschnitte des intrazentralen
Teiles, d. h. in den Hinterhornzellen, gehemmt werden kann. Nach-
dem Baglioni sein Tier mit Fenol vergiftet und dadurch die Leitung
in den motorischen Teilen des Riickenmarkes leichter gemacht hatte,
beobachtete er bei der Reizung seines Frosches — an dessen Hinter¬
wurzeln — nur einzelne klonische Zuckungen. Wenn man diese durch
Fenol vergifteten Tiere, bei denen folglich die Nervenzellen der Hinter-
horner intakt bleiben, lange Zeit ununterbrochen mit dem faradischen
Strome reizte, so zeigten sich iiberhaupt keine Muskelkontraktionen,
trotzdem die elektrischen Entladungen ohne Zweifel ins Riickenmark
drangen. Offenkundig werden diese Entladungen in den sensorischen
Zellen gehemmt und annulliext. In einer anderen Versuchsreihe ver-
giftete Baglioni seine Frosche mit Strychnin; bei dieser Versuchsanord-
nung beobachtete der Experimentator bei Reizung der hinteren Riicken-
markswurzeln einen unu nterbrochenen Tetanus der entsprechenden
Muskeln, trotzdem Strychnin nicht auf die Vorderhornzellen, sondern
nur auf die Zellen des Hinterhorns wirkt; aus diesen Beobachtungen
schloB Baglioni, daB die Hemmung der zentripetalen Impulse in den
Zellen der Hinterhorner entsteht, weil diese durch Strychnin vergifteten
Zellen die Hemmungsfahigkeit fiir zentripetale Leitungen verloren.
Um zu entscheiden, ob die Ursache der Abwesetiheit der Muskel¬
kontraktionen bei den durch Fenol vergifteten Froschen nicht in der
Storung der Vorderhornzellen lag, gab Baglioni solchen Tieren noch
eine entsprechende Dosis Strychnin, die wie bekannt auf die Hinter¬
hornzellen wirkt, dieselben vergiftet und auf diese Weise die Leitungen
erleichtert, und beobachtete dann bei der Reizung der betreffenden
Hinterwurzeln eine tetanische Muskelkontraktion. Auch iiberzeugten
diese Kontrollversuche also den Autor, daB die Hemmung der zentri¬
petalen Impulse in dem Hinterhorne, und zwar in seinen Zellen entsteht.
Die Versuche Raglionix zeigten also, daB die Hemmung eines ge-
gebenen Reflexbogens nur in seinem zentripetalen Schelikel, und zwar
in den sensorischen Zellen des Riickenmarkes vorkommt, die allein die
Fahigkeit besitzen, die zentripetalen, aus der Peripherie herkommenden
Leitungen zu hemmen.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(sogenannten Wurzel-)Xeuralgie clea X. isehiadieus.
653
Wedemky 108 ) (S. 30) unternahm mit Strychnin ahnliche Versuche
und iiberzeugte sich dabei, daB Strychnin den sensorischen Teil des
Reflexbogens ermudet, dagegen bewahrt dabei die motorische Halfte
ihre normale Kraft.
In den Versuchen Verworns 103b ) und Beritoffs lb ) fand dieses Gc-
setz auch eine Best&tigung.
Dusser de Barcnnes J * a ) meint, daB Strychnin anf den Leib der sen¬
sorischen Nervenzellen in den Hinterhornern wirkt, derselben vergiftet
und seine Leistungsfahigkeit hemmt.
Was die Hemmungsbedingungen und die Eigenschaft der Hem-
mungsimpulse anbelangt, so ist Baglioni zura Schhisse gekommen, daB
jede Reizungsart, die Hemmungsvermogen enverben kann, wenn der
Reiz eine gewisse Spannungshohe erreicht und seine Welle der
Impulse sich mit bedeutender Geschwindigkeit in das Riickenmark
ergieBen kann. Diese Bedingungen der Hemmung hangen von der
Eigenschaft der sensorischen Zellen des Riickenmarkes ab; diese Zellen
treten namlich in ein sehr langwieriges, refraktares Stadium, wenn die
Reizungen zu schnell vonstatten gehen, treten aber in dies Stadium
nicht, wenn die Reize ein langsames Tempo haben. Die Impulse,
die ins Gehirn oder ins Riickenmark mit groBen Intervallen eintreten,
werden ohne irgendeine Schwierigkeit den motorischen Zentreo iiber-
mittelt; dagegen bringt ein zu schnelles Tempo der Erregung die sen¬
sorischen Zellen in einen solchen refraktaren Zustand, der nur mit
deren Erschopfung oder Paralyse zu vergleichen ist; ihre Verrichtungen
werden dabei gehemmt.
Baglioni brachte wahrend seiner Versuche Muskelkontraktionen
hervor, wenn er den zentripetalen Schenkel eines Reflexbogens 4-—12 mal
in einer Sekunde reizte, und dabei Pausen 0,25—0,108 von einer Sekunde
machte; diese Muskelkontraktionen waren besonders dann deutlich,
wenn die Zahl der Reize nicht zwei in einer Sekunde iiberschritt, und wenn
die Pause zwischen zwei Erregungen um 0,5—1,0 Sekunde schwankte.
Wenn Baglioni die Zahl der Reize auf 20—48 in einer Sekunde ver-
mehrte, so waren mehrere Muskelzuckungen, aber bloB im Anfange des
Versuches sichtbar; im weiteren Verlaufe des Versuches entwickelte
sich eine vollkommene Muskelruhe, offenkundig aus dem Grande, weil
die sensorischen Nervenzellen unter dem Einflusse der ununterbrochenen
Stromungen der zulaufenden Erregungen deren weitere Leitungen zu
den Vorderhornzellen hemmten.
Derselben Meinung ist auch Wedensky 108 ) (S. 41). In seinen V T er-
suchen offenbarte sich die hemmende Wirkung des faradischen Stromes
nur bei der Unterbrechungf-zahl 20—1(K) in der Sekunde; bei einem
langsameren Rhythmus war keine Stoning der Muskelzuckungen zu
liemerken. AuBerdem fand er, daB die Strome von hoherer Spannung
43*
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
654
M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechanismus der
Digitized by
hemmender wirken als die niedriger gespauntep elektrischen Reize.
Besonders wichtig wies sich bei seinen Hemmungsversuchen der Er-
miidungszustand der sensiblen Nerven auf; die Hemmung gelingt nicht,
wenn der betreffende sensible Nerv erschopft ist.
Dank dieser Versuche kann man also fur bewiesen halten, daB erstens
eine Erregung, die zentripetal bis zum Riickenmark aufsteigt, ihre eigene
weitere Leitung hemmen kajin, und zwar im Gebiete der sens orb chen
Zellen des Riickenmarkes, wenn sie ein zu schnelles Tempo hat; zweitens
vermag diese Reizung auch andere zentripetale Leitungen, die dieselbe
Riickenmarksetage von einem anderen Punkte aus erreichen, hemmen.
Die fur beide Falle einzige Bedingung ist die ununterbrochene Stro-
muug der Reize; dadurch werden namlich die Ketten der Nerven-
zellen, und zwar im Gebiete des Hinterhornes, gehemmt.
Was den Hemmungsmechanisinus selbst anbelangt, so kommt
Ticdemann 100 ), der sich sehr fur diese Frage interessierte, zu dem
.Schlusse, daB derselbe in der Entwicklung eines absoluten refraktaren
Stadiums besteht, das durch eine geniigend schnelle Stromung in
den zentripetalen Bahnen der hinaufsteigenden Reize entwickelt
und von derselben Stromung unterstiitzt wird. Die Versuche, die Tiede-
mann ausgefiihrt hat, uberzeugten ihn, daB die Reize, die den N. ischia-
dicus entlang aufsteigen, zum Entstehen des refraktaren Stadiums in
den Nervenzellen der Hinterhorner bei gewissen Bedingungen beitragen
(S. 203); ganz teilnahmslos dagegen verhalten sich dabei die Zellen in
den Spinalganglien. Ticdemann iiberzeugte sich darin, nachdem er
die Spinalganglien bei seinen Versuchstieren abschnitt; die Reizung
des zentralen Ischiadicusstumpfes rief bei solchen Tieren die Hemmung
der zentripetalen Leitung hervor. Dabei lieB sich konstatieren, daB
sich der hochste Dekrementszustand im Ruckenmarke oberhalb der
Eintrittsstelle des Reizes, unterhalb derselben und auf der gegeniiber-
liegenden Seite des Riickenmarkes entwickelte. Da die sorgfiiltige
Durchforschung dieses Autors und anderer Gelehrten jede Entstehungs-
moglichkeit des Dekrements in der Peripherie, d. h. in der Nervenfaser
ausschloB, so leuchtete es ein, daB das Stadium decrementi bei solchen
Bedingungen sich nur in den Zentren, und zwar in den sensorischen
Zellen des Riickenmarkes eines einzigen oder mehrerer endogenen
Neuronen entwickelt.
Was die Frage anbelangt, ob die sensorischen Impulse, d. h.
Schmerz-, Temperatur-, Beruhrungs- usw. Empfinduugen im Riicken-
marke gehemmt werden konnen, ob dafiir gewisse anatomische Daten
oder uberzeugendc physiologische Experimente sprechen konnen, so
muB man gestehen, daB die beweisenden Griinde fiir diese Vermutuug
ohne Zweifel in der Literatur vorhanden sind.
Erstens sind alle Griinde vorhanden, zu denken, daB diesel ben
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(sogenannten WurzeI-)Neuralgie des X. ischiadicus.
655
sensoriechen Nervenzellen, aus denen die Zellenkette des zentripetalen
Schenkels eines Reflexbogens zusammengesetzt ist, auch die verschie-
denen peripherischen Empfindungen in den speziellen Riickenmarks-
bahnen, und zwar fiir Temperatur-, Schmerz-, Beriihrungs- usw. Wahr-
nehmungen ein- und umschalten. Anders gesagt, unterwerfen sich jene
Zellen der endogenen Neuronen, aus denen die Strange von Gowers ,
Goll, Burdach usw. entstehen, dem Hemmungsmechanismus. Zugunsten
dieses Urteils sprechen viele experimentelle Beobachtungeu, obwohl
sie nicht speziell fiir dieses Thema, sondern fiir ganz andere Zwecke
gemacht wurden. Z. B.:
Goltz 42 ) uberzeugte sich, daB der sog. Quackreflex beira Frosche,
der bei leichtem Streicheln (taktile Reizung) des Riickens entsteht,
verschwindet, wenn man gleichzeitig einen sensiblen Nerv reizt. Aus
diesem Versuche folgt also, da6 die taktilen Empfindungen im Riicken-
marke sicher gehemmt werden konnen, wenn man gleichzeitig einen
starken Strom ununterbrochener Erregungen von einer anderen peri¬
pherischen Quelle in das Riickenmark einfiihrt.
Dasselbe wurde auch in bezug auf die Schmerzempfindungen, d. li.
von den durch Schmerzreizung der Haut (z. B. mit Schwefelsaure)
konstatiert. Setschenoff und Paschulin 93 ) behaupteten auf Grund ihrer
Versuche, daB die taktilen Reflexe, und zwar jene, die durch leichte
mechanische Hautreizungen hervorgerufen werden, sich nicht hemmen
lassen, d. h., daB man die Leitung taktiler Empfindungen im Riicken-
marke nicht hemmen kann. Indem Danilewsky 29 ) diese Frage weiter
durchforschte, ist er zu dem Schlusse gekommen, daB auch die durch
die leichten chemischen (schmerzerzeugenden) Agenzien und die durch
thermische Reizungen hervorgerufenen Reflexe nicht gehemmt werden
konnen; mit anderen Worten gesagt, lassen sich die Schmerz- und Tem-
peraturleitungen nicht hemmen. Diese Erwagungen beider Autoreu
wurden aber nicht bestatigt.
Lewisson 66 ) und Freunsberg 37 ) fiihrten folgenden Versuch aus.
Nachdem sie einen gekbpften Frosch auf die Weise liber einem GefaBe
mit der Schwefelsaurelo^ung aufgehangt hatten, daB seine HinterfuBe
in diese Losung tauchen konnten, beobaehteteu diese Autoren eine
Reihe rhythmischer automatischer Bewegungen dieser Glieder; sobald
die Pfote des herabhangenden FuBes bis zum Kuie in die saure Losung
tauchte, begann sofort die reflektorische Zusammenziehung der Flexoren
des Oberf chenkels und der FuB ging in die Hohe, aber nach kurzer Zeit,
d. h. nach Entfernung der erregenden Fliissigkeit hingen sie wieder
herab. Dieses Hochheben und Herabziehen vollzog sich von selbst
solange der so angeordnete Versuch dauerte. Diese Bewegungen horteu
aber sofort auf, und die Pfote hing unbeweglicb in die Saure, wenn man
wahrend des Versuches den oberen Teil des Kbrpers mit Hilfe des elek-
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
656
M. Lapinsky: Zur Frage fiber den Meehanismus der
Digitized by
trischen Stromes reizte, oder wenn man einen sensiblen Nerv, am besten
der vordereu Extremitat, in der Pinzette zusammenpreBte. Dieser Ver-
such zeigte also, daB die Schmerzempfindungen ihren reflexerregenden
EinfluB dank der Einschaltung einer neueu Reizung verloren, daB
folglich die Schmerzleitung unter der Wirkung einer anderen, sich in
das Riickenmark, und zwar aus einer anderen Quelle hereindrangenden
Reizung gehemmt wurde 58 ).
Schischova 96b ) hemmte diese reflektorische Bewegung beim Frosche,
indem sic einen N. ischiadicus bei dem Versuchstier reizte.
Schliefer 98c ) (S. 7) rnachte ahnliche Versuche und meinte, daB hier
eine Hemmung der Schmerzleitung stattfand.
Ich selbst machte vor mehreren Jahren iiber die Empfindlichkeit
der Reflexbogen fiir die hohen Temperaturen an den Froschen folgenden
Versuch. Ich hing einen gekbpften Frosch am Unterkiefer auf cin
Stativ so, daB seine Pfoten in ein mit warmem (45° R.) Wasser gefiilltes
Glas herabsinken und in diese Fliissigkeit bis zum Knie tauchen konnten.
Die Wirkung des heiBen Wassers machte sich in der Haut der liinteren
Beine des Froschcs sofort fiihlbar, und zwar dadurch, daB die Beine,
sobald die Pfoten in heiBes Wasser tauchten, sofort in Bewegung ge-
rieten. Wenn man aber wahrend dieses Versuches die Haut am Riicken
mit einer Pinzette zusammenpreBte oder den schon vorher praparierten
X. brachialis zukniff, so horte diese Reflexbewegung sofort auf, und die
Beine muBten hilflos in das heiBe Wasser sinken. Nach meinem Vor-
schlage wiederholte denselben Versuch Dr. Zamkow, der Assistant
des physiologischen Instituts in Kiew, und erreichte analoge Re-
sultate. Die reflektorischen Bewegungen in den unteren Extremi-
taten des Frosches horten ebenfalls auf, und die Beine blieben im heiBen
Wasser hangen, wenn er an dem oberen Korperteile des Frosches einen
intensiven Strom anwandte. Die Temperaturempfindungen wurden
also im Riickenmarke bei Tieren gehemmt. In einer anderen Reihe
von Experimenter; mit lauem VV T asser ohne irgendein chemisches Agens
vermiBte Dr. Zamkov jede reflektorische Bewegung. Usw. usw.
W edensky 109 ) reizte in seinen Versuchen an Froschen Plex. lum-
balis — also ein viscerales Nervengebilde •— und fand dabei, daB das
experimentierte Tier an einigen Stellen der Hautoberflache eine starke
Hyperiisthesie aufwies; auf anderen Stellen aber war die Haut voll-
kommen anasthetisch.
Aus diesen, wie auch aus den fruher erwahnten Versuchen von
Leivisson, Goltz, Freunsberg u. a., lassen sich zwei SchluBfolgerungen
ziehen.
Erstens zeigen diese Versuche, daB es reflektorische Bewegungen
gibt, an denen die sensorischen Zellen in den Hinterhornern des Riicken-
markes teilnehmen, die die differenzierten Empfindungen empfangen
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(sogenaimten Wurzel-)Neuralgie des N. iscliiadicus.
657
und sie umschalten. Das geht daraus hervor, daB eine farblose und
indifferente Empfindung, und /war das Eintauchen der Beine in das
Wasser von neutraler Reaktion oder von indifferenter Temperatur
keine reflektorische Bewegung hervorzurufen imstande war. Diese
letzte tritt erst dann ein, wenn die sensiblen Zellen der intraspinalen
Kette wahrend dieses reflektorischen Aktes in ihre differenzierende
und umschaltende Tatigkeit treten. Diese intraspinale Zellenkette
nahm in diesem Falle verschiedene Reizungen von der Saure, Beruh-
rungs- und Temperaturempfindungen wahr, unterschied dieselben von
anderen Gefiihlen, und schaltete sie in spezielle Bahnen um. Diese
Zellen liegen, wie bekannt, in den Hinterhornern des Riickenmarkes,
und zwar in den sog. Nucleus sensibilis spinalis proprius et Nucleus
basalis raagnocellularis und nehmen an Leitungsumschaltung der Emp-
findungen von den hinteren Wurzeln auf die Strange von Gowers, Goll,
Burdach usw. teil. Um eine reflektorische Bewegung in diesen Fallen
hervorzurufen, sollte man folglich in die reflektorische Bahn die sen¬
siblen Zellen fur Temperatur-, Schmerz- und Beriihrungsempfindungen
einechalten.
Die zweite SchluBfolgerung, die aus diesen Versuchen hervorgeht,
betrifft dieselben Zellen, die zwei verschiedene Ziele zu verrichten
ha ben, und zwar ihre Fahigkeit, einerseits differenzierte Wahrnehmungen
dem Gehirne zuzuleiten, und — anderseits den reflektorischen Akt im
Riickemnarke zu vermitteln. Diese Versuche zeigten also, daB diese Zellen
zwei oder mehrere Funktionen verrichten koirnen, w r enn aber dies gleich-
zeitig geschieht und differenzierte Empfindungen eine gewisse Hohe iiber-
treffen, so leiden daran ihre reflektorischen Verrichtungen. Infolgedessen
werden durch diese hochgespannten Empfindungen die genannten Zellen
in ihrer Leitungstatigkeit und Wahrnehmungsfahigkeit fiir verschiedene
Empfindungen gehemmt. Beisolchen Bedingungen werden die differen-
zierten Reize keine Reflex be wegungen hervorrufen, und der erregende
Apparat (heiBes Wasser, Saure usw.) wiirde seine spezifische Qualitat
verlieren; unter solchen Umstanden werden die Beine in einer schmerz-
erzeugenden Fliissigkeit, ebenso wie im Wasser von indifferenter
Temperatur und neutraler Reaktion, hilflos herabsinken, w’eil die
empfindenden Zellen die betreffenden Reize nicht mehr w T ahrnehmen
konnen, da sie fiir jene gehemmt sind. Es leuchtet ein, daB man die
durch die taktilen, schmerzerzeugenden oder durch die thermischen
Reize hervorgerufenen Reflexakte hemmen kann, wenn man gleich-
zeitig in dasselbe Riickenmarkssegment eine Welle anderer starken Reize
sendet. Da diese differenzierten Empfindungen fiir Temperatur, Schmerz
und Beriihrung vermittelst Gow'erscher, Gollscher und Burdachscher
Strange, d. h. endogener Neuronen, w'ahrgenommen werden, da weiter
diese Neuronen wahrend der reflektorischen Akte gehemmt w'erden.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
658
M. Lapinsky: Zur Frage liber den Mechanismus der
so ware zu erwarten, daft dieselben Neuronen auch auBerhalb des reflek-
torischen Aktes gehemmt werden konnen. Dies sind namlich Zellen,
die Fabritius’ Meinung nach 330 ) (S. 277, 381) eine sehr groBe Rolle
in der Umschaltung der Temperatur- und Schmerzleitungen im Hinter-
horne spielen. Hier beginnen verschiedene spezifische Bahnen, die auch
dein BewuBtsein verschieden gefarbte Empfindungen iibertragen. Da
aber dieselben Neuronen, die wahrend der Reflexakte in ihrer Tatigkeit,
differenzierte Empfindungen zu leiten, resp. zu differenzieren, gehemmt.
werden, tragen sie zur Obermittlung dieser Empfindungen in das Gehirn,
resp. in das BewuBtsein bei, so konnen dieselben Zellen auch in dieser
letzterenTatigkeit verhindert werden; infolgedessen wird unter solchen
Bedingungen die eine oder die andere Wahrnehmung fiir hohe Sinnes-
zentren vollkommen verloren gehen. Es soli also unter solchen Be¬
dingungen eine Art von Hyp- oder Anasthesie entstehen.
Diese Erwagungen lassen uns zu dem Schlusse kommen, daB die
Leitungen der Temperatur-, Beruhrungs- und Schmerzempfindungen
iiberhaupt im Riickenmarke sicher gehemmt w'erden konnen, wenn an¬
dere starkere Reizungen, und zwar in schnellerem Rhythmus, gleieh-
zeitig in das Riickenmark eintreten.
Das alltagliche Leben lehrt uns ebenso, daB z. B. der Schmerz
andere Wahrnebmungen hemmen kann, daB sogar die Schmerzempfin¬
dungen hoherer Spannung — andere gleichzeitige Schmerzempfin¬
dungen leicbteren Grades schmerzlos machen, d. h. sie hemmen die
Bahn, auf der diese zum Gehirn hinaufsteigen. Wahrend der Kindes-
wehen z. B. kann das ReiBen des Perineums oder dessen Zerschneiden
unfiihlbar bleiben. Wahrend des stenokardischen Anfalls verschwin-
den Ischiasschmerzen. Wahrend der Gallensteinkolik horen alle anderen
Schmerzen auf. Usw.
Claude Bernard 103 ), die Frage iiber die recurrent^ Sensibilitat
durchforschend (sensibilite recurrente), ist zu dem Schlusse gekommen,
daB der Schmerz das Nervensystem erschopft, infolgedessen entsteht
mehr oder weniger eine tiefe Anasthesie (,,La doulcur amene un epuise-
ment nerveux, qui se traduit par une insensibilite plus ou moins com¬
plete"). Diese SchluBfolgerungen des beriihmten Physiologen lassen
sich am leichtesten durch den Hemmungsmechanismus erklaren;
man kann namlich die von Claude Bernard beobachteten Sensibilitats-
stonmgen durch Entstehen des absoluten refraktaren Stadiums in den
zenlripetalen Zellenketten deuten und die nachste Ursache dessen
Entstehens in einer anderen peripherischen Storung, die starke Reizung
erzeugt, ersehen.
Diese SchluBfolgerung laBt sich auch aus den Hemmungsversuchen
der reflektorischen Bogen, und zwar vermittelst Reizungen der Klein-
beckenorgane ziehen. Z. B. Lemsson 66 ) sah wahrend der Versuche an
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(sogenannten WurzeI-)Neuralgie des N. ischiadicus.
659
Kaninchen und Hunden betreffs der Haut- und Sehnenreflexe das
sofortige Aufhoren derselben, sobald der Autor die Blase oder die Gebar-
mutter bei seinen Tieren quetschte oder einklemmte.
Freunsberg 37 ) beobachtete, indem er an den Hunden das Riicken-
mark durchtrennte und die auf diese Weise experimentierten Tiere frei in
der Luft aufhing, an den HinterfiiBen eine Reihe rhythmischer Be¬
wegungen, rein reflektorischen Ursprangs, die an den Schritt oder
Lauf eines Tieres auf horizontaler Flache erinnerten. Diese Bewegungen
der Hinterbeine horten aber sofort auf, als sich in der Blase eine ge-
niigende Urinmenge samraelte, dagegen kehrten die automatischen
Bewegungen wieder zuriick, nachdem sich die Blase entleert hatte.
Gad und Flatau 39 ) machten ahnliche Beobachtungen. Uchtomsky
(,,Uber Abhangigkeit . . . motorischer Effekte von nebensachlichen
zentralen Erscheinungen.“ Arbeiten aus dem Physiologischen Institut zu
Petrograd. Bd. IV/V S. 184, 1909—1910) stellte bei den Hunden
starke Herabsetzung der Sehnenreflexe in den hinteren Beinen fest,
wenn er gleichzeitig in den Diekdarm seiner Versuchstiere das kalte
Wasser einflieBen lie 6 . Bodon 10 ) konstatierte bei Untersuchung der
Bauchreflexe bei Frauen das Fehlen derselben bei chronischer Pelveo-
peritonitis. Man muB dieses Ausfalien der Reflexe als eine Hemmungs-
erscheinung der Reflexbogen von den Kleinbeckenorganenen aus be-
trachten. Anders gesagt, wurde die Hemmung der intraspinalen zentri-
petalen Bahnen in den Hinterhornern nicht nur bei den akut angestellten
Versuchen an den Tieren, sondern auch am Krankenbette bei chroni-
schen Erkrankungen der Genitalorgane beobachtet.
Obwohl in diesen angefuhrten Versuchen bloB Reflexe gehemmt
wurden, aber auf Grand der Analogie mit den Hemmungsergebnissen
thermischer und schmerzhafter Reflexe (Versuche von Goltz, Lewisson,
Freunsberg, Lapinsky, Zamkoff und anderen) muB man mit voller
Uberzeugung annehmen, daB die Reizung der Kleinbeckenorgane
nicht nur die indifferenten, reflexogenen Impulse, sondern auch ver-
schiedene Empfindungen, wie Kalte, Warme, Beruhrang, Schmerz usw.,
die in den Sinneszentren wahrgenommen werden, hemmen kann.
Einer meiner Patienten, der an Prostatitis, Verenguug Urethrae
und an einer sehr starken Hypcrasthesie der Blase litt, war gezwungen,
seine Blase sehr oft, besonders in der Nacht zu entleeren. Eimnal, als
er die Nacht bei seinen Bekannten verbrachte, fand er in seinem Zimmer
keinen Nachttopf und muBte infolgedessen mehrmals drauBen sein
Bedurfnis verrichten. Zufalligerweise waren auch seine Stiefel, die der
Diener zum Putzen weggetrageu hatte, nicht da, und dem Ungliiek-
lichen blieb weiter nichts anders iibrig, als die Nacht fiinfmal barfuli
liber den kalten FuBboden seines Zimmers und die kalten nassen Granit-
stufen der Gartenterrasse zu laufen. Von einem unertraglichen Bediirf-
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
660
M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechanismus der
Digitized by
nisse getrieben, verlieB der Patient sein warrnes Bett, lief in den Garten,
fiihlte aber in den FuBsohlen weder Kalte noch irgendeine unangenehme
Empfindung, solange die Exurination dauerte; seine FuBsohlen be-
gannen aber die Kalte beiin Auftreten auf die kalte Erde und den
naBkalten Granit sofort sehr unangenehm zu empfinden, als er nach
Verrichtung seines Bedurfnisses zuriicklaufen muBte. Offenkundig
hemmten die von dem Kleinbeckenorgane (Blase) hinaufsteigenden
imperativen Impulse die Hinterhornzellen und verhinderten ihre Fahig-
keit, das Kaltegefiihl zu differenzieren, dieses Gefiihl auf die betreffen-
den Bahnen einzuschalten und jene weiter zum Bewu Btsein zu be-
fordern. Usw.
Was die Nervenfasern, auf denen die Reizungen aus dem Klein-
becken zum Riickenmarke aufsteigen, anbelangt, so ist in der Literatur
dieser Apparat sehr gut studiert 57 ), 57a ), 59 ), 82 ). Hier muB man ganz
kurz erwahnen, daB diese von dem Kleinbecken aus zum Riickenmark
leitenden zentripetalen Fasem, die Verrichtungen der eiulogeuen Neu-
ronen der hinteren und Seitenstrange hemmen sollen, aus einem Neu¬
ron bestehen. Dieser Neuron hat seine sensible Endung in einem
visceralen Organe, tritt in den sympathischen Grenzstrang durch sym-
pathisches und intervertebrales Ganglion, um weiter zusammen mit der
Hinterwurzel in dem Riickenmarke einzutreffen.
Was den weiteren Verlauf dieser zentripetalen sympathischen
Fasem im Riickenmark anbelangt, so konnen die Untersuchungen
Michailoivs 74 ) ein Licht in dieser Beziehung ergieBen. Dieser Autor
verfolgte im Riickenmarke den Gang der Fasern, die aus visceralen
Organen durch Ganglion stellatum und durch sympathischen Grenz¬
strang verlaufen. GemaB seinen Untersuchungen schneiden die zentri¬
petalen Fasern, die z. B. aus Ganglion stellatum in das Hinterhorn des
Riickeumarkes eintreten, dasselbe in mehreren Richtungen durch. Er-
stens, ist ihrLauf in denStrangen von Goll undLowenthal undinderMitte
der grauen Substanz des Hinterhorns festgestellt. Michailow sah auBer-
dem zentripetale sympathische Fasern auch in der vorderen Randzone
der Burdachschen Strange. Zweitens richten sich die sympathischen
zentripetalen Fasern weiter in der Mitte der Pyramidenbahnen und in der
Dicke der Burdachschen Strange hinauf, und zwar auf beiden Seiten,
nachdem sie die innere Randzone des Hinterhorns durchgegangen waren.
Drittens gehen die betrcffenden Fasern das Hinterhorn in dessen
auBerer Randzone durch und steigen nachher in der Mitte der direkten
cerebralen Fasern hinauf.
Man kann mit vollern Rechte gelten lassen, daB den gleichen Ver¬
lauf auch jene sympathischen zentripetalen Fasern haben, die von dem
Kleinbecken aus durch den sympathischen Grenzstrang verlaufen und
schon auf der Hohe des Kreuz- und Lumbalmarkes in das Riickenmark
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des N. ischiadicus.
661
eintreten. Der Gang dieser Fasern im Hinterhorne des Riickenruarkes
ist einem Facher ahnlich. Diese in der Hinterwurzel in ein scbmales
Biindel zusammengebundenen Fasern breiten sich in dera Hinterhorne
aus, indem sie sich in die Hinter- und die Seitenstrange, und zwar nicht
nur auf ihre Seite, sondern auch auf die gegenuberliegende richten.
Dieser Facher liegt in naclister Nachbarschaft mit den sensorischen
Zellen, die an dem zentripetalen Schenkel des reflektorischen Bogens
teilnehmen. Dieser Facher geht nach dem Eintritt in das Hinterhorn
durch Nucleus sensibilis proprius (Jakobsonii), der, wie bekannt, aus
sehr kleinen Zellen besteht und stellt eine ununterbrochene konstante
Zellensaule, die in dem Kreuzmarke beginnt und sich in der sensiblen
Wurzel Nervi trigemini, und zwar in dem Halsmarke, in dem verlanger-
ten Marke und in Pons varolii endet. Diese Zellensaule, die in dem
hintersten Teile des Hinterhorns liegt, hat ausschliefilich sensitive
Tatigkeit. In dieser Saule liegen jene Zellen, die ihre Nervenfortsatze
in die Strange von Burdach und von Goll schicken ( Jakobson 53 ), 59 ).
Derselbe Facher der centripetalen sympathischen Fasern, die Reizungen
aus den sympathischen Gebilden des Kleinbeckens iibertragen, geht auch
durch deu Kern Nuclei magnocellularis basalis s. spino-cerebellaris.
Dieser letzte Kern liegt ebenso in dem Hinterhorne und dessen Fasern
treten in den Seitenstrang, und zwar teilweise auf die gleichnamige
Seite, teilweise auf die gegenuberliegende, namlich durch die hintere
Commissur, in das Biindel direkter cerebraler Bahnen. Dieselben
sympathischen Fasern des genannten Biindels dringen auch durch den
Kern von N. nucleus magnocellu laris centralis cornu posterioris,
der im sog. Kopfe und Halse des Hinterhorns zwischen Substantia
Rolando und Basis cornu posterioris liegt und, obwohl diese Zellen zu
der Kategorie der sensorischen Gebilde gerechnet sind, ist die Richtung
ihrer zentripetalen Achsencylinder bis jetzt noch nicht bestimmt worden.
Die zentripetalen in den Organen des Kleinbeckens beginnenden
Fasern lehnen sich also, nachdem sie die Hinterwurzel passiert und
sich im Ruckenmarke in Form eines breiten Fachers aufgeschlagen
hatten, gegen jene Zellen der Hinterwurzeln, die die reflektorischen
Akte vermitteln, verschiedene differenzierte Empfindungen aufnehmen
und dieselben auf die endogenen Fasern Gowerscher, Gollscher und
Burdachscher Strange umschalten. Diese Fasern gehen auBerdem auch
zwischen den Pyramiden- und Cerebellarbahnen, die, wie bekannt, in
direkter Beziehung zu den spontanen und reflektorischen Bewegungen
stelien.
V.
Die hier angefiihrten Versuche mehrerer Autoren, die dieHemmungs-
moglichkeit der Schmerz-, Beriihrungs- und Temperaturempfindungen
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
662
M. Lapinsky: Zur Frage Uber den Mechanismus der
durch Reizungen zeigen, wenn man diese Reizungen von einem anderen
Organe aus gleichzeitig mit diesen Wahmehmungen in das Riickcn-
mark einfiihrt, erklaren das Zustandekommen jener Sensibilitats-
veranderungen, die in meinen Fallen und von anderen Autoren bei
sog. radicularer Ischias beobachtet wurden.
Da die Kleinbeckenorgane bei unseren Patienten sich im Zustande
einer starken Reizung befanden, die eine ununterbrochene zentripetale
Welle erregen nnd durch die Hinterwurzel in das Riickenmark senden
sollten, so konnten diese Reizungen, auf Grund Baglionis u. a. Versuche,
jene interzentralen Zellen der endogenen Neuronen hemmen, die Warme-,
Khlte-, Beriihrungs- und Schmerzempfindungen umschalten und
weiterbefordern.
Auf Grund dieser Erwagungen ist es ganz logisch zu schlieBen,
daB die Reizungen von dem kranken Kleinbeckenorgan aus Wahr-
nehmungen von Temperatur, Beriihrung und Schmerz, und zwar im
Gebiete einzelner Metameren, nicht nur hemmen konnten, sondern
muBten, und daB diese Hemmungsresultate sich also in Form anasthe-
tischer Streifen auBern sollten. Die anasthetischen Streifen, die bei
meinen bereits angefiihrten Kranken ihrer Lokalisation nach den Figuren
Thornburns, Kochers u. a. entsprechen, sind also nichts anderes, als
Resultate einer Hemmung der intraspinalen Zellen einzelner Neu-
romere, sind also keine Folge einer organischen Stoning der Spinal-
wurzeln, keine organicche Lasion, sondern eine funktionelle Erschei-
nung. Dieses Phanomen gehort also zu den intraspinalen Ereignissen.
stellt keinen peripherischeu ProzeB dar, ist kein Resultat der Erkrankung
der Riickenmarkshiillen, sondern erscheint als Folge einer Erkrankung
der Kleinbeckenorgane, die schon friiher vorhanden war.
Was die feinen Einzelheiten des Heinmungsmechanismus anbelangt,
so muB man, ohne in die der experimentellen Analyse unzulanglichen
Kleinigkeiten einzugehen, den Satz aufstellen, daB die Aufgabe der
Hemmung in der Verlangerung des refraktaren Stadiums des Leitungs-
vermogens in der Zelle bis zum Stadium eines absoluten Unvermogens
besteht. Dieses letzte Stadium ist nichts anderes, als eine Verrichtung
der Selbstverteidigung des Organismus — seiner Nervenzentren —
gegen Uberbiirdung von Wahmehmungen; diese Bedingungen der
Selbstverteidigung konnen in jeder sensiblen Zelle. und zwar in dem
Falle entstehen, wenn sich sehr intensive und sehr schnell gehende
Reizungen auf diese Zelle ergieBen. Bei solchen Umstanden fallt diese
Zelle in das refraktare Stadium, das ihr Leitungsvermogen hemmt.
Ebenso wie die Streifen der Anasthesie resp. Hypalgesie durch
Hemmungsreizungcn, die von einem anderen Organe aus aufsteigen,
erkliirt werden konnen, kann man auch das Entstehen der Hyperasthesien
im Gebiete einzelner Metamere durch denselben Mechanismus auslegen.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des N. ischiadicus.
663
Es gibt sehr viele Beobachtungen, die zeigen, daB eine Reizung
eines zentripetalen Nerves einen reflektorischen Akt manchmal hemmt,
manchmal denselben aber auffrischen und verstarken kann, z. B.:
Frohlich 36 ) hat sich iiberzeugen konnen, daB Aplysia limacina
ein sehr gunstiges Objekt fur Demonstration der Hemmungtgesetze
darstellt; bei diesem Tiere kann man z. B. denVerlust des Tonus durch
Reizung seiner Hautoberflache vermittelst eines schwachen Stromes
hervorrufen; dasselbe Tier reagiert aber mit sehr starken, aus-
gebreiteten rhythmischen Beweguiigen auf Reizung mittelst eines
starkeren Stromes. Anderseits aber bringt eine leichte Beriihrung
seines Kopfes diese rhythmischen Schlage der Flossen zum Stehen und
hemmt dieselben.
Schiff ist der Meinung, daB jede Reizung, wenn sie sich auf eine
groBe Oberflache ausbreitet, die Reflexe hemmt, dagegen dieselben
aufregt, wenn sie sich auf ein kleines Gebiet beschrankt.
Bubnoff und Haydenhayn 1 *) sind auf Grand ihrer Experimente
zu folgenden Schliissen gekommen: ,,Vergleicht man die Entwick-
lung schwacher sensibler Reizung auf die rahende und tatige Ganglien-
zelle, so ergibt sich als gemeinsamer Gesichtspunkt, daB jede Reizung
jedesmal Vorgange im hoheren Grade verstarkt, die im Augenblicke
weniger entwickelt sind, — in der rahenden Zelle — die der Erregung,
— in der tatigen — die der Hemmung zugrunde liegenden Prozesse.
Dadurch wird der jedesmal bestehende Zustand der Zelle aufgehoben
und in den gegenteiligen verwandelt." Das heiBt: der Effekt der Rei¬
zung ist yon dem Zustande, der durch die zentripetalen Impulse zu
erregenden Zelle abhangig. Wenn diese Zelle sich im Ruhezustande
befindet, so regt dieser Iinpuls sie zur Tatigkeit an; wenn aber diese
Zelle in diesem Momente eine besondere Tatigkeit entwickelt, so bringt
die neue Reizung sie jetzt zum Stillstand. Eine bestimmte Reizung
kann also die Verrichtung einer Zelle verandern und dieselbe sogar in
den gegenteiligen Zustand versetzen.
Zyon nob ) (S. 197) fand dasselbe in bezug auf Herz und GefaB-
innervation. Jede Reizung hemmt die vasomotorischen Zentren, wenn
dieselben sich in einer tonischen Erregung befinden (infolgedessen
erweitern sich die von ihnen verordneten GefaBe). Dagegen regt diese
Reizung vasomotorische Zentren auf und zieht dadurch die betreffen-
den GefaBe zusammen, wenn die vasomotorischen Zentren sich vorher
in einem Ruhezustande befanden.
Zu demselben Schlusse kommt auch Goltz, indem er zugibt, daB die
hemmenden Impulse sich ihrer Natur nach in nichts von den anbahnen-
den und auffrischenden unterscheiden, infolgedessen kann eine und
dieselbe Reizung in einem Falle einen Akt heramen und in einem
anderen dagegen denselben anbahnen und auffrischen.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
664 M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechanismua tier
Genau auf diese Weise mufl man den Fall Nottaa' 6 ) auffassen,
der viele Klinizisten durch das ratselhafte Aufleben der Empfindlich-
keit bei seinen Kranken in Verlegenheit gebracht hat. Notta beobach-
tete namlich einen typischen Fall der Ischiadicusneuralgie, wahrend
der die Hautempfindlichkeit auf einem bestimmten Gebiete der hinteren
Oberflache des Beines herabgesetzt gefunden wurde. Die Hautempfind-
lichkeit stellte sich aber wieder her, nachdem die benachbarten, im
Sinne der Sensibilitat ganz normalen Hautterritorien einem speziellen
Reize (vermittelst faradischen Strdmes) unterzogen worden waren. Die
Ursache der Sensibilitatsherabsetzung sah der Autor in einer organisehen
Lasion des peripherischen Neurons und infolgedessen war fur ihn die
Wiederherstellung der Sensibilitat unter solchen Bedingungen ganz unbe-
greiflich. Fine solche Wiederherstellung war aber durch Verschwinden
eines organisehen Prozesses im Stamme des N. ischiadicus oder in dessen
Wurzeln schwer zu erklaren, ohne daO dafiir besondere therapeutische
MaBregeln an dem kranken Nerv selbst getroffen wurden. Wenn die
Sensibilitatsherabsetzung durch einen organisehen ProzeB in dem
peripherischen Nerv hervorgerufen worden ware, so ware diese Wieder¬
herstellung nur nach Regeneration der verfallenen Fasern zu erwarten
gewesen. Wenn diese Verhinderung der Sensibilitatsleitung eine Folge
des Zusammendruckens des ganzen Stammes durch irgendeinen peri¬
pherischen ProzeB ware, so ware das ganze klinische Bild in die Grenzen
einer Anesthesia dolorosa eingetreten. Eine zu vermutende Einklem-
raung des peripherischen Nervs muBte aber sehr stark sein, damit
sich eine Anasthesia dolorosa entwickeln konnte, wie dies aus den Ver-
suchen Neugebauers 75 ) zu ersehen ist. Aber weder eine Einklemmung
noch eine Degeneration des Nervs konnen nach irgendeiner Reizung
desselben, und zwar auBerhalb seines Gebietes so plotzlich zum Ver¬
schwinden gebracht warden. Eine Einklemmung des Nervenstammes
muBte auBerdem noch von Motilitatsstorungen begleitet werden, was
aber im Falle Nottas nicht beobachtet wurde. Eine provisorische vor-
ubergehende Stoning der Blutzirkulation, und zwar in Form von Ge-
faBspasmus, wie z. B. bei doigt mort, konnte eine kurzdauernde Er-
scheinung von Hautaniisthesie hervorrufen, doch kann ein solcher
ProzeB weder subjektiv noch objektiv unbemerkt bleiben und hatte
in der Krankengeschichte von Notta notiert werden mussen, w'ovon aber
in der Beschreibung der Erkrankung keine Rede ist. Die einzige Er-
klarung dieser Wiederherstellung der Sensibilitat im Falle Nottas ist
in dem Verschwinden des langdauernden refraktaren Stadiums oder
anders gesagt des Verhindenmgstonus, der die Zellenkette des Hinter-
horns uberbiirdete, zu suchen. Das Aufhoren dieses Stadiums ist ge-
maB der Lehre von Haydenhayn-Bubnoff nach dem Hervorbringen neuer
Reizungen an denselben Zellenketten vermittelst anderer Hautnerven
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des N. ischiadicus.
665
in benachbarten Gebieten und mit Hilfe elektrischen Stromes zustande
gebracht worden.
Faber 33 lj ) (S. 333) beobachtete eine starke Hauthyperasthesie der
rechten Bauchhalfte bei einer Patientin, wahrend sie Blut erbrach. Mit
der Wiederherst^llung der normalen Verdauungstatigkeit kehrte auch
normale und gleichmaBige Empfindlichkeit an der Bauchoberflache
wieder.
Mansel-Moulin 10h ) stellte in mehreren Fallen eine Hyperalgesie
an der Bauchoberflache wahrend der AbsceBreifung bei Appendicitis
fest. Nachdem sich der AbceB entleerte, verschwand gewohnlich diese
Hyperalgesie. Diesen Befund bestatigte auch James Sherren 90b ) in
40 Fallen rait AbsceBbildung bei Appendicitis.
Derselbe Mechanismus der zentripetalen Reizungen, die von den
erkrankten Visceralorganen aus geleitet werden, muB wahrschein-
lich auch im Grunde jener Hauthyperasthesien liegen, die besonders
von den englischen Autoren studiert wurden. Dieser Mechanismus
stellt sich also entweder in dem Beleben der Hautperzeptionen oder in
der Anbahnung derselben. Lange, Boss, Head, u. a. zeigten z. B., daB
nach verschiedenen Visceralerkrankungen eine Erhohung der Empfind¬
lichkeit fur Sfich und Beriihrung in verschiedenen Korpergebieten folgen;
die Erkrankung bestimmter Organe auBert sich immer auf einer be-
stimmten Stelle dutch eine Sensibilitatserhohung, welche Erscheinung
von Head ,,Zona“ genannt wurde.
Ebensolche hyperasthetische Zonen wurden auch von anderen
Autoren bei verschiedenen Visceralerkrankungen festgestellt, infolge-
dessen das Bestehen der Headschen Zonen jetzt von alien Seiten an-
erkannt ist.
Die Beobachtungen Willamowskis 101 ) haben in dieser Beziehung
eine sehr groBe Bedeutung, weil es diesem Autor gclungen ist, zu be-
w'eisen, daB die Headschen Zonen nicht nur hyperasthetisch, sondern
auch anasthetisch gefarbt sein konnen. Dieser Umstand wurde aber
auch schon friiher von Head selbst beobachtet, der sich iiberzeugte,
daB einzelne Territorien. die sich von ihrer Umgebung durch eine Hyper-
asthesie unterscheiden, in manchen Fallen anasthetisch vorkommeu
konnen. Wcnn man also in dem ersten Falle von einer Auffrischung
der Zellenleitung, infolgedessen die eine oder die andere Wahrnehmung
scharfer zum BewuBtsein hinaufsteigt, sprechen kann, muB man
im anderen Falle eine Verhinderung der zentripetalen Leitungen an-
erkennen. Diese Erwiigungen erlauben bei Ischias in meinen Fallen das
Vorkommen der Hypalgesie des Beines, die Ablosung der Hyperasthe-
sien durch Anasthcsien (nach Massage der Prostata) usw. zu erklaren.
Wenn in der Hyperasthesie der Hautzonen cin Mechanismus der
Belebung zu vermuten ist, so muB man in der Herabsetzung der Sensi-
Digitized by Goe)gle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
666
M. Lapinsky: Zur Frage liber den Mechanismus der
Digitized by
bilitat ein Hemmungsresultat, keinesfalls aber eine organische Erkran-
kung der Leitungsbahnen ersehen, weil diese Herabsetzung der Sensibili-
tat von einer sehr kurzen Dauer war, und die Fahigkeit besaB, sich sehr
schnell wiederherzustellen und sogar durch eine Hyperasthesie auf-
gelost zu werden.
Die angefiihrten, wenn auch aus ganz verschiedener Veranlassung
gemachten Beobachtungen anderer Autoren sind fur unsere Falle voll-
kommen brauchbar und raachen die Entstehungsmoglichkeit der
Hyperasthesien im Gebiete einzelner Metamere an den unteren Extremi-
taten, am Bauche und am Kreuze, als Folge einiger krankhaften Rei-
zungen in den Kleinbeckenorganen ganz verstandlich. Diese Prozesse
erzeugen eine Welle der zentripetalen Reizungen, die zum Riickenmark
hinaufsteigen und im Gebiete einzelner Riickenmarkssegmente oder
Neuromere jene Summe von Erregungen entwickeln, die den vorher-
bestehenden negativen Tonus in den Zellenketten zum Verschwinden
brachte, die Leitungen erleichterte, und die Hyperasthesien im Gebiete
einzelner Metameren des Korpers hervorrief. Infolgedessen mu6 man
die Streifen hyperasthetischen metameren Typs an den unteren Extre-
mitaten ebenso fur ein Zeichen der Erkrankung der Kleinbeckenorgane
halten, nicht als organisation, und zwar peripherischen Ursprungs, son-
dern eine funktionelle und intraspinale Erscheinung betrachten.
VI.
Der Zustand der erhohten oder herabgesetzten Reflexe bei angefiihr-
ten Kranken, die Veranderung ihrer groben Kraft, die Stoning der
Muskelernahrung und die Atrophie derselben laBt sich durch denselben
entfernten EinfluB, d. h. durch den Mechanismus der Hemmungen
oder Anbahnung, keineswegs aber durch organische Erkrankung der
Wurzeln erklaren.
Die Frage iiber Hemmung der Sehnen-, Haut-, vegetativen und
anderen Reflexe ist sehr gut erforscht. Head* 9 ) (S. 27) beobachtete
an dem Hunde eine Unterbrechung des Urinierens wahrend der Reizung
des Perineums. Ewald beobachtete dasselbe, als er an dem Hunde mit
dem durschnittenen Riickenmarke den Schwanz in dem Moment zu
ziehen anfing, als die Exurinatio bei diesem Hunde begann. Mit Hilfe
dieses Eingriffs konnte dieser Experimentator die Exurinatio zum
Stillstand bringen. Goltz 42 ) beobachtete an dem Hunde mit durch-
schnittenem Riickenmarke koordinierte Bewegungen der hinteree Ex-
tremitaten, die einen bestimmten Rhythmus, eine gewisse RegebnaBig-
keit hatten und ihrem Charakter nach an einen regelrechten Schritt
oder Marsch erinnerten. Die Ursache dieser automatischen Bewegung
liegt nach Goltz' 1 Meinung in einem Mechanismus, der durch eine passive
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des N. ischiadicus.
667
Ausdehnung der Muskeln der hinteren Extremitaten angebahnt und
reguliert wird. Dieser rhythmische Schritt horte aber sofort auf, wenn
man das Tier an dem Schwanz zu ziehen anfing. Derselbe Mechanismus
ist auch in den Versuchen N othnagete 16 ) an den gehirnlosen Frbschen
zu ersehen. Wenn namlich Nothnagel den N. ischiadicus auf einem Beine
mittelst faradischen Stromes reizte, horte die reflektorische Erregbarkeit
auf dem Kontrollbeine sofort auf, stellte sich aber nach dem Aufhoren
der Reizung wieder her. Man kann also die reflektorischen Akte hemmen,
wenn man gleichzeitig mit denselben einigc intensive Impulse in das
Riickenmark einfuhrt.
Es sind alle Griinde vorhanden zu glauben, daB die Organe des
Kleinbeckens durch ihre zentripetalen sympathischen Fasern fort-
wahrend die Impulse, die den Muskeltonus der unteren Extremitaten
und dadurch auch ihre reflektorische Tatigkeit auf eine oder die andere
Weise beeinflussen, zum Riickenmark senden.
Es ist ganz am Platze, auch die friiher zitierten Versuche Lewissons
mitEinklemmung der Blase und derGebarmutter und dieBeobachtungen
Freunsbergs, Gad-Flataua liber die Hemmungen der Reflexe der Hinter-
extremitaten von der mit dem Urin uberfullten Blase aus zu erwahnen.
De Boer 16 ) erfuhr aus dem Artikel Botazzis, indem er die Literatur
des Muskeltonus studierte, daB zwei Stoffe in dem Muskel vorhanden
sein miissen, die die Schnelligkeit einzelner Muskelzuckungen liervor-
rufen und den Muskeltonus uuterstiitzen. In derselben Literatur fand
sich vor, daB Pekelharing. s 85 ) Meinung nach der Muskeltonus und die
Geschwindigkeit einzelner Muskelzuckungen eine Folge verschiedener
chemischer Reaktionen sind, daB Perrocinto 86 ) in den Muskelzellen
zwei Arten nervoser Endungen, von denen einige mit dem sympathi¬
schen und andere mit dem cerebrospinalen Nerveusystem in Verbin-
dung stehen, entdeckte, wobei Mossos Meinung nach das cerebro-
spinale Nervensystem einzelne schnelle Muskelzuckungen bedient und
das sympathische den Muskeltonus unterstiitzt. De Boer 16 ), indem
er die Vermutung Mossos und anderer erwiihnter Autoren priifen wollte,
inachte die Versuche am Frosche, bei dem er Rami communicantes des
sympathischen Bauchgrenzstranges zum N. ischiadicus durchschnitt;
das Resultat dieser Operation war, daB die experimentierte Extremitat
infolge der Abschwachung der Muskulatur des Beines und des Tonus-
verlustes derselben langer wurde. Als dieser Autor spater noch den
N. ischiadicus durchschnitt, wurde die Extremitat nicht mehr langer.
De Boer stellte dasselbe auch an dem isolierten Muskel, M. gastrocne¬
mius, feat. Auf Grund solcher Versuche kam der Autor zu dem Schlusse,
daB der Muskeltonus durch das sympathische System, dessen Bauchteil
nicht nur die Visceralorgane, sondern auch die quergestreiften Muskeln
und ihren Tonus durch das Verbrennen der EiweiBstoffe in dem Sarko-
Arcliiv fiir Psychiatrie. Bd. 07. 44
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
668
M. Lapinsky: Zur Frage liber den Mechaniamus der
Digitized by
plasma verwaltet, reguliert wird. Die einzelnen, und zwar schnellen
Muskelzuckimgen, resp. Bewegungen, werden dagegen von dem cere-
brospinalen Nervensystem stimuliert, und sind nichts weiter, als das
Resultat der Verbrennung der Kohlenhydratstof f e.
Indem De Boer 17 ) seine SchluBfolgerungen an warmbliitigen Tiereu
priifen wollte, machte er verschiedene Versuche an Katzen, bei denen
er einen Teil des rechten Bauchsympathicus ausschnitt. Als Folge
dieses Eingriffes ergab sich folgendes: 1. die rechte hintere Extremitat
wurde infolge des Muskeltonusverlustes an dieser Extremitat 1 anger,
wenn man das Tier auf das Stativ hing. 2. Die Passivbewegungen
an demselben Beine wurden freier. 3. Die Muskeln des rechten Beines
wurden beim Vergleiche mit denselben an der liuken Seite viel weicher.
4. Die Sehnenreflexe am rechten Beine wurden hoher. 5. Der Schwanz
bei dem so operierten Tiere neigte sich nach der gesunden Seite.
6. Irgendeine Ataxie bei den experimentierten Tieren war nicht zu be-
merken.
De Boer erklart die Reflexerhohung bei seinen Tieren dutch den
Tonusverlust der Muskulatur an der experimentierten Seite, infolge-
dessen die betreffenden Muskeln einen viel groBeren und hoheren
Schwung machten, als die Muskeln, die ihren Tonus aufbewahrt haben;
er sah also bei seinen Tieren ganz dasselbe, was nach der Kleinhirn-
exstirpation beobachtet wurde, wobei namlich die Reflexe in den Muskeln
mit verlorenetn Tonus hoher wurden. Der Autor konnte sich den Muskel-
tonusverlust in der experimentierten Extremitat durch GefaBerweiterung
in derselben nicht erklaren, weil der Tonus der Muskel fruiter verloren-
ging, als die GefaBerweiterung entstand. De Boer glaubt deshalb, daB
er mittelst seiner Operation, die die Herabsetzung des Muskeltonus
und die Veranderung der Reflexe zur Folge hatte, die zentripetalen
Fasern, die von den Visceralorganen aus zum Riickenmarke auf-
steigen, vernichtete; die Folge da von war eine Veranderung des Muskel¬
tonus und der Reflexe.
Diese Arbeit De Boers laBt den SchluB ziehen, daB die Impulse,
die von dem Kleinbecken aus durch das sympathische Nervensystem
fortgepflanzt werden, die Reflexe in den klinischen von mir angeftihrten
Fallen entweder vollkommen hentmen oder dieselben im Gegenteil
auffrischen und bis zum Klonus (Fall V) beleben konnten.
Dieselben Versuche De Boers konnen anderseits auch die Verandc-
ruttg der groben Kraft in den unteren Extremitaten (Fall V) bei Er-
krankung der Kleinbeckenorgane •— infolge eventuellen Verfallens
des Muskeltonus oder dank einer Hemmung der Verbrennung, resp.
Aneignung der Kohlenhydrate und der EiweiBstoffe — verstandlich
machen.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(sogenanntcn Wurzel-)Neuralgie des X. ischiadicus.
669
Hier ist es vollkommen am Platze zu bemerken, da 6 die Ergebnisse
dieser Versuche im vollen Einklange mit den Beobachtungen anderer
Autoren stehen, die einige Storungen der aktiven Bewegungen nach
Verletzungen der Kleinbeckenorgane oder in der Bauchhohle beobach-
teten, und welche Stoningen nach Rombergs Vorschlag Reflexlahmungen
genannt wurden. Z. B.:
Comhaire h0 ) beobachtete eine Lahmung der hinteren Extremitat
auf der operierten Seite an einem Hunde, bei dem eine Niere exstirpiert
wurde, ohne daB irgendwelche Veranderungen in den Nervenzentren
oder in den peripheren Nerven vorhanden waren, wo aber statt dessen
die Lasion des Nierengcflechtes und eine groBe Welle der zentripetalen
Reizungen, die von demselben zum Ruckenmarke emporstiegen, und
auf eine oder auf die andere Weise die Verrichtungen im Ruckenmarke
verandern konnten, zu erwarten waren. Lewisson 66 ) (1. c. S. 264) zer-
driickte die Gebarmutter beim Kaninchenweibchen und beobachtete
eine Lahmung beider hinteren Extremitaten als Folge dieses Eingriffes.
Dieselbe Lahmung beobachtete der Autor, wenn er die Gebarmutter
aus ihrer normalen Lage in die Hohe brachte und entweder iliren Korper
oder nur ein Horn derselben in die vordere Bauch wand fixierte. Lewisson
beobachtete auch die gleiche Erscheinung beim Zusammendriicken der
Blase am Kaninchen, die vor dem Experimente entleert wurde.
Mackensie 70a ) erwahnt, daB nach dem Zusammenpresseu des Testi-
culums ein starker Kraftverfall entsteht, der einer Lahmung, die nach
der Einklemmung der Niere oder des Eierstockes entsteht, lihnlich ist.
Stenley, Graves, Stockes, Leyden 6S ) u. a. 50 ) machten ahnliche Beobach¬
tungen. Usw. usw.
Alle diese Ergebnisse lassen die Klagen der angefuhrten Kranken
iiber die Kraftherabsetzung in den Beinen, liber die Unmoglichkeit,
lange Zeit zu FuB zu gehen usw. fiir glaubwiirdig gelten. Es scheint
aber anderseits auch ganz begreiflich, daB die hier beschriebenen Pa-
tienten (Beobachtungen I. und V.) nach der Prostatamassage usw.
eine Kraftvermehrung verspurten und infolgedessen eine gewisse
Strecke zu FuB zuriicklegen konnten.
Richet 87 ) machte eine sehr interessante Beobachtung an sich selbst.
Nachdem er sich seiner Handschuhe entledigt hatte, setzte er beide
Hande der Wirkung des kalten Windes aus und stellte in denselben
bald eine Herabsetzung der Sensibilitat, und zwar hauptsachlich fiir
Beruhrung, und eine Verminderung der groben Kraft bis zu einer voll-
kommenen Lahmung fest. Biese Storungen der Sensibilitat und der
motorischen Sphare zeichneten sich aber durch besondere Eigentiiin-
lichkeitcn aus. Sie breiteten sich z. B. auf beiden Extremitaten aus,
wenn auch nur eine Hand dem Einflusse des Windes ausgesetzt wurde.
Bas Ausbreitungsgebiet dieser Storungen entspraeh entweder dem
44*
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
670
M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechanismus der
Digitized by
Verzweigu ngsgebiete des N. radialis oder seltener jenem des N. ulnaris; die
Grenze der verlorenen Sensibilitat auf der Hand fiel mehrmals mit den
Grenzen des N. radialis so genau zusammen, dab dieselbe in der Mitte
der Dorsalseite des Mittelfingers zwischen der normalen und der ver-
iinderten Hautempfindlichkeit zu liegen kam. Die Hautoberflache
wurde an solchen Stellen cyanotisch. In einem Falle konnte Richet
den GefaBspasmus (doigt mort) am Zeigefinger feststellen, dagegen
behauptete der Daumen seine normale Zirkulation, war aber ebenso
unempfindlich wie der Zeigefinger. Der GefaBspasmus wurde nicht
nur auf der entbloBten, sondern auch auf der bekleideten Hand beob-
achtet. Der Autor schlieBt in diesem Falle aus den Ursachen der Lah-
mungserscheinungen in der Hand und der Gefiihllosigkeit den lokalen
EinfluB der Kalte aus. In diesen Lahmungserscheinungen und in der
Gefiihllosigkeit sieht Richet Folgeerscheinungen eines gewissen Reflex-
mechanismus, in dem die Kalte, indem sie die peripherisehen Nerven-
endungen beeinfluBt, die Ruckenmarkszentren erreicht und dieselben
erregt. Als Resultat einer solchen Reizung entsteht der GefaBspasmus,
und zwar jener der Capillaje und als Folge da von entwickeln sich An¬
asthesien und Lahmungen.
Indem Richet die Schwache des Armes und seine Gefiihllosigkeit
sich durch Spasmus der Capillare zu erklaren suchte, vergaB er nach den
Griinden zu suchen, warura dieser Spasmus sich nur im Gebiete der
einzelnen peripherisehen Nerven entwickelte, warum die Grenze dieses
Spasmus gerade in der Mitte des Mittelfingers verlief, warum dieser
Spasmus bloB auf der Radialisseite dieses Mittelfingers zum Vorschein
kam und auf der Ulnarisseite aber feklte? Der Autor setzt auch nicht
auseinander, warum sein Daumen seine normale Blutzirkulationbewahrte,
seine Hautsensibilitat dagegen ebenso wie sein Zeigefinger, an dem
ein absoluter GefaBspasmus (doigt mort) notiert wurde, verlor.
Er sucht auch nicht nach Erklarungen, warum der GefaBspasmus
sich auch auf die behandschuhte Hand ausgebreitet hatte. Usw. In
Anbetracht solcher Vernachl&ssigung kann man mit Richet, mit
seinem Bestreben, Anasthesien und Lahmungen durch Storung der
peripherisehen Blutzirkulation zu erklaren, nicht einverstanden
sein. Das von ihm beobachtete Bild fordert eine ganz andere Deutung,
und zwar: da die Lahmungen und Anasthesien nicht mitdem Versorgungs-
gebiete der A. radialis oder A. ulnaris zusammenfallen, sondern den Ge-
bieten einzelner Metameren entsprechen, deren genaue Grenze nach
einigen Autoren durch die Mitte des Mittelfingers verlaufen kann, so
muB man annehmen, daB die Ursache dieses klinischen Bildes nicht in
der Blutversorgung und nicht in der Peripherie, sondern in der meta¬
meren Verteilung, und zwar im Ruckenmarke zu suchen ist. Man muB
namlich annehmen, daB die Kalte eine Hemmung im Ruckenmarke
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(sogenannten Wurzel-)Neuralgie ties N. ischiadicus.
671
zustande brachte, die die Motilitatsimpulse und Sensibilitatsleitungen
in dem siebenten Neuromere des Halsmarkes verhinderte.
Eine analoge Beobachtung wurde auch von mir an einem Kran-
ken wahrend der hydropat hie chen Kur gemacht. Dieser Kranke, der
an Tabes litt, muBte jede Minute abwechselnd warme und kalte FuB-
bader nehmen; als er diese Kur begann, fiel ihm sofort auf, daB es ihm
sehr schwer fiel, seine FiiBe aus dem warmen Wasser (32° R) heraus-
zuziehen, und dies war eine Folge der Schwache in den Muskeln des
Oberschenkels, die sich momentan unter der Wirkung des heiBen
Wassers entwickelte. Kaltes (12° R) Wasser hatte eine ganz entgegen-
gesetzte Wirkung; und der Patient, der eine Minute vorher seine Beine
nur mit groBer Mtihe aus dem warmen Wasser heben konnte, hob seine
FiiBe sehr leicht und miihelos aus dem kalten Wasser. Das warme Wasser
wirkte auf die motorische Sphare in diesem Falle hemmend, kaltes
dagegen brachte die motorischen Zentren des Riickenmarkes mehr in
Tatigkeit.
Eine analoge Erscheinung, und zwar im Gebiete der Motilitat der
unteren Extremitaten zeigte auch ein anderer Patient der Nervenklinik,
der spater wegen der Cystome in dem VIII. Halssegmente des Riicken-
markes operiert wurde. Dieser Kranke, bei dem beide Beine stark
paretisch waren und Patellar- und Achillesreflex vollkommen fehlten,
konnte sein ausgestrecktes Bein nicht in die Hohe heben (Beugung im
Hiiftgelenk), wenn die FiiBe eine Zeitlang unbedeckt waren und infolge-
dessen kalt wurden; diese Bewegung ging aber leicht und prompt vor
sich, wenn die Beine unter der Decke sich erwarmt hatten. Man muB
hinzufiigen, daB keine Steifheit in den kalt gewordenen Beinen fest-
gestellt wurde und daB auch die Reflexe ebenso fehlten wie friiher.
Die Schwacheerscheinungen muBten also in diesen Fallen ebenso wie
im Falle Rickets, durch Hemmung der spinalen motorischen Zentren
von den sensiblen Hautnerven aus und durch Einwirkung der Kalte
erldart werden.
Ein anderer Patient derselben Klinik, der ein typisches Bild der
Lues spinalis Erbs darstellte und sehr scharf ausgepragte spastisebe
Symptome in den Beinen zeigte, empfand jedesmal nach der Exurina¬
tion eine so groBe Schwache in den Beinen, daB er kaum sein Bett
wieder erreichen konnte; diese Mudigkeitssymptome fehlten aber voll¬
kommen und der Kranke konnte ziemlich leicht und frei geben, wenn
seine Blase durch den Urin ausgedehnt -wurde. Es ist ganz logisch zu
schlieBen, daB die Reizwellen, die die reflektorischen Bogen fur die
unteren Extremitaten im Riickenmarke hemmten und infolgedessen
spastische Erscheinungen sich in denselben so verminderten, daB
der Patient seine FiiBe bei iiberfullter Blase freier und leichter bewegen
konnte, von der Blase aus emporstiegen.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
672
M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechanismus der
Digitized by
Soldier Falle habe ich noch zwei:
Die klinischen Assistenten A. K.Browtschinsky und A. R. Kiritschin-
sky studierten den Stand der Achillesreflexe vor und wahrend der
Massage der Prostatadriise bei einem Patienten, der an einer links-
seitigen Ischias, einer sehr starken Hyperasthesie der Prostata und
an einer deutlichen Herabsetzung des Achillesreflexes, der Sensibilitat
und der groben Kraft in dem linken Beine litt. Nachdern sie ihre Ver-
suche 20 mal wiederholt hatten, fiel ihnen auf, daB der Achillesreflex
an dem linken Beine 4 mal, und zwar bei dem ziemlich starken Drucke
auf die Prostata wahrend der Massage derselben gesteigert war. Die
Einwirkung der Prostatareizung auf die Sensibilitat lernten die Autoren
an demselben Kranken mit Hilfe des Freyschen Algesimeters; es
stellte sich wahrend dieser Versuche heraus, daB der Kranke wahrend
und nach der Massage der Prostata den Schmerz schon bei viel weniger
tiefem Eindringen des Stifles in die Haut (um V 2 —2 mm seichter als
vor der Massage) empfand. Nach der Massage der Prostata beobachtete
der Patient jedesmal auch eine Erhohung der groben Kraft und ein
besonderes Gefiihl der Erfrischung in dem linken Beine. Aus ihren
Experimenten zogen die Autoren den SchluB, daB der Druck auf die
Prostata die Hemmungsfolgen in dem Riickenmarke, die durch die
Reizungen von den Kleinbeckenorganen aus in den spinalen Zentren
entstanden und die Schmerzleitungen, Reflexe und die motorischen
Impulse hemmten, aufzuheben pflegte.
Ich beobachtete noch zwei Patienten mit solchen stark ausgeprag-
ten spastischen Symptomen in beiden Beinen, die jedesmal voll-
kommen weich wurden, wenn die Blase sich entleerte. Einer von diesen
Kranken war ein Mann, der nach einer Luxation des VI. Dorsalwirbels
fiinf Jahre im Bette lag; spater, als er aufstand, blieb er doch parapare-
tisch. Der zweite Patient war eine Frau, 55 Jahre alt, mit einer inve-
terierten rechtsseitigen Hemiplegie. Das rechte Bein versagte ihr
immer, wenn die Blase mit Urin uberfullt war.
Ein sehr groBes Interesse erregen die Falle der Ischias, in denen die
Muskeln des von Neuralgie befallenen Beines eine deutliche Atrophie
zeigen. Das Interesse an diesem klinischen Ereignisse erscheint um
so erklarlicher, weil die Atrophie oder die Abmagenxng der Muskeln
mit der Annahme eines organischen Befallenseins der spinalen Zentren
oder peripherischen Nerven, denen diese Muskeln untergeordnetsind, ver-
bunden ist. Infolgedessen drangt sich dem Kliniker jedesmal, wenn er
der Muskelatrophie imVerlaufe der Ischias begegnet, dieVermutungauf,
daB die betreffende Erkrankung kein funktionelles Leiden ist, und nicht
zu den Neurosen gerech net werden kann, sonderneine organische Verande-
rung der Riickenmarkszentren oder der peripherischen Nerven darstellt.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(sogennnnten Wurzel-)Neuralgie des N. ischiadicus.
673
Man kann die Muskelatrophie und die infolgedessen sich entwik-
kelnde Verminderung des Umfanges des betroffenen Korperteiles teil-
Aveise aufGrund von De Boers Versuchen erklaren. In derTat, naralich
da zwei Nervensysteme, und zwar das myelinische und das arayeli-
nische bestehen und beide sich der quergestreiften Muskulatur unter-
ordnen, wobei der EinfluB des ersten Systems in der Entwicklung der
groben Kraft und uberhaupt in der Bewegung, resp. in der Arbeit,
und jener des zweiten sich in der Unterstiitzung des Muskeltonus und
dessen Ernahrung auBert, so scheint es ganz natiirlich anzunehmen,
daB die gleichzeitige Wirkung auf eine Extremitat beider Systeme
unter normalen Bedingungen sich in einer vorziiglichen Ernahrung
dieses Beines, in dem normalen Muskeltonus, einer angeeigneten Arbeit
und in der passenden Kraft auBern muB; in dem Falle aber, wenn bloB
das eine oder wenn sogar beide Nervensysteme gehemmt werden, ist
der Kraftabfall der betreffenden Extremitat, die Herabsetzung des
Muskeltonus und die verminderte Aneignung des Nahrungsmaterials
eine natiirliche Folge, und an der betreffenden Extremitat werden
ganz andere verminderte Massen konstatiert werden.
Es ist hier ganz am Platze, an Versuche Gardes 36 ) zu erinnern,
der die trophische Funktion des Nervensystems als eine reflektorische
Tatigkeit betrachtet, deren Erreger in der uns umgebenden Natur mit
ihren samtlichen Kraften zu suchen ist. Es ist ihm gelungen zu be-
weisen, daB die Nervenzellensubstanz das Hauptagens ist, das die tro¬
phische reflektorische Tatigkeit vermittelt, da er in den Versuchen be-
zuglich der trophischen Tatigkeit des N. trigemini eine Stoning der
Hornhaut nur in dem Falle erreichte, wenn die Nervenzellen auch in
dem Ganglion Gasseri ladiert wurden. Einen ganz anderen Effekt bei
diesen Versuchen beobachtete dieser Autor, wenn er nur den peripheri-
schen Nerv ladierte. Anderseits glaubt Gaule, daB der trophische Ein¬
fluB auf Gewebe sich in den Driisen, den glatten Muskelfasern, den
BlutgefaBen, in den Wanden des Verdauungstraktus usw. durch
eine direkte ortliche Einwirkung des Nervensystems verwirklicht.
Gaule, indem er die Bahn der reflektorischen Beeinflussung des
Nervensystems auf die Muskulatur bestimmen wollte, machte eine Reihe
von Versuchen amFrosche, in denen er entweder das sympathischeGan¬
glion oder den Ramus communicans, der im Inneren der hinteren Wurzel
von dem Ganglion zum Ruckenmarke verlauft, reizte. Als der Autor mit
Hilfe des elektrischen Stromes oder auf irgendeine andere Weise das Gan¬
glion cervicale superius oder das Ganghon thoracicum primum reizte, ent-
wickelten sich sehr ausgesprochene dystrophische Veranderungen in den
einzelnen Muskeln, und zwar nicht nur auf der Seite, wo das Ganglion
gereizt wurde, sondern auch auf der gegeniiberliegenden. Dieser letzte
Umstand brachte den Autor zu der SchluBfolgerung, daB die trophischen
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
674
M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechanismus der
Digitized by
Impulse nicht eiufach direkt von dem Ganglion zentrifugalwarts auf die
Mu skein stromen, sondern diese trophische Beeinflussung durch einen
Umweg zuerst zentripetalwarts das Riickenmark erreichen und erst
von da ab eine zentrifugale Richtung annehmen. GaiUe s Meinung nach
geht also die dystrophische Beeinflussung vom sympathischen Ganglion
aus durch den Ramus sommunicans und durch das Ganglion spinale
in das Riickenmark und breitet sich dort weit aus. Das Wesen dieser
Wirkung ersieht der Autor in den hemmenden und anderer Art Pro-
zessen, die sich in dem sympathischen Ganglion entwickeln und sich
in das Riickenmark ergieBen.
Gaule iiberzeugte sich, daB das sympathische Ganglion fiir alle
Reize unerregbar wird, wenn man es vorher abkiihlt oder es der Wirkung
des elektrischen Stromes aussetzt oder auf irgendeine andere Weise
reizt. Dasselbe beobachtete er auch dann, wenn er den besonderen
sympathischen, dem Ganglion zufiihrenden Zw r eig reizte; auf diese Weise
konnte der Autor die trophische Funktion des sympathischen Ganglions
zum Stillstand bringen, dagegen erhohte er sehr diese Fahigkeit und
iiberhaupt seine Empfindlichkeit, wenn er diesen Zweig durchschnitt.
Nachdem Gaule sich iiberzeugt hatte, daB man die trophische Wirkung
des sympathischen Ganglion auf die Muskulatur hemmen kann, wenn
man dasselbe reizt, fiihrte er unter diesen Bedingungen eine Reihe von
Versuchen iiber den Ernahrungszustand des M. bicpitis aus. Als der
Autor die unpolarisierten, an das Ganglion angesetzten Elektroden
einschaltete oder ausschaltete, iiberzeugte er sich, daB der Strom dem
Riickenmarke iiberreicht wird, und daB das Tier, das ihm als Versuchs-
objekt diente, infolgedessen jedesmal mit Zusammenzucken reagierte.
Gleichzeitig bemerkte Gaule , daB die Muskelsubstanz in einzelnen Ab-
schnitten des betreffenden Muskels vers-ellwand, daB an diesen Stellen
hohle Raume entstanden, die sich mit der, aus den gerissenen Capillaren
geronnenen Fliissigkeit und mit Blut fiillten. Die Muskelfasern sind an
diesen Stellen zugrunde gegangen, indem sie entweder sich in eine
Fliissigkeit verwandelten oder gerannen, sich auseinanderschoben,
Liicken enthielten und den ihnen angeeigneten Tonus und die Festigkeit
vollkommen verloren. Eine gewisse Rolle muBten in diesem Prozesse
Gaule s Meinung nach auch die BlutgefaBe spielen.
Gaule, indem er anerkennt, daB die trophische Beeinflussung des
Nervensystems in Verteidigung gegen die aufleren Einfliisse der Korper-
gewebe, und zwar auf dem Wege der Entwicklung verschiedener Prozesse
der Aneignung in denselben begriffen, ist iiberzeugt, daB die auBereu
Einfliisse das Ubergewicht erreichen und die Korperteile in dem Falle
zum Verschwinden bringen konnen, wenn die trophische Tatigkeit
des Nervensystems gehemmt wird. Auf diese Weise faBt der Verfasser
die Ergebnisse seiner Versuche auf, wahrend der er Schmelzung und
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des N. ischi^dicus.
675
Verschwinden der Muskeln beobachtete, als er die sympathischen
Ganglien reizte. Durch diese Reizungen wurde, seiner Meinung nach,
die Tatigkeit jener Nervenzellen (in den Vorderhornern) des Riicken-
markes, die fur die Unterstiitzung der Prozesse der Aneignung und der
Umgestaltung in den Muskelfasern sorgen muBten, gehemmt, infolge-
dessen zergingen und verwandelten sich diese letzteren in eine fliissige
Masse. Es ist klar, daB jener chemische ProzeB, der deni Mechanismus
der Muskelernahrung zugrunde liegt, und zu dessen Unterstiitzung
auch gewisse sympathische Ganglien beitragen, zu dieser Zeit zum
Stillstande gebracht wurde. Diese Arbeit Gaule s zeigt also, daB die
Impulse, die in den visceralen Organen entstehen, in der Ernahrung
der Muskelgewebe eine groBe Rolle spielen, und zwar deshalb,
weil die visceralen Organe von dem sympathischen System bedient
werden und die Nerve nstrome von den visceralen Raumen aus nur
mit Hilfe dieses Systems das Riickenmark erreichen konnen.
Wenn als von diesen Raumen sehr scharfe Impulse zum Riicken-
marke hinaufzusteigen beginnen, so wird infolgedessen die Tatigkeit
der Nervenzellen in den Vorderhornern, die die Aneignung des Ernali-
rungsmaterials und dessen Umwandlung in das Muskelgewebe regulieren,
gehemmt. Da einzelne Muskeln eine segmentare Bildung haben und
deren einzelne Segmente mit den ihnen entsprechenden, einzelnen
Riickenmarkssegmenten zusammengebunden sind, so wird sich die
Veranderung eines Muskels unter der Hemmung der spinalen trophischen
Funktionen auf seiner ganzen Lange nicht gleichzeitig und gleichmaBig
entwickeln, sondern wird sich nur in seinen einzelnen Biindeln und
Abschnitten starker auBern, und zwar in jenen, die mit den Neuromeren,
resp. spinalen Segmenten, auf die sich die hemmenden Impulse von
einem entsprechenden Splanchnomere ergieBen, zusammengefugt
werden.
Hier ist vollkommen passend, die Meinung Mackenzies 10 *) iiber
die Bedeutung fur allgemeine Ernahrung der Erregungswellen, die von
inneren Organen aus zum Riickenmarke hinaufsteigen, zu erwahnen.
Mackenzie glaubt namlich, daBein ununterbrochenerStromder Reizungen
zum Riickenmarke durch das sympathische System lauft und dort die
Nervenzellen, die Muskeln, GefaBe usw. verwalten, beeinfluBt. Hier muB
man ebenso an einige klinische Beobachtungen erinnern, bei denen man
bei den Erkrankungen der Visceralorgane eine Atrophie der Muskeln, und
zwar nicht nur in der Nahe, sondern auch in groBer Entfernung von dem
erkrankten Organe fand. Aouis 90 ) z.B. beobachtete eine Atrophie des Mus¬
kels Deltoideus wahrend der Abscesse der Leber. Wolkowitsch 109 *)
beschrieb eine Atrophie einzelner Abschnitte der MM. obliqui und
transversi abdominis an der vorderen Bauchwand bei chronischen
Entziindungen des Blinddarmes.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
676
M. Lapineky: Zur Frage iiber den Mechanismus der
Digitized by
R. Remack wollte (0*terr. Zeitschr. f. pract. Heilkunde. Nr. 2,
S. 35, 1862) das ratselhafte Leiden (Atrophie usw.) des Muskelsystems
bei Saturnismus durch eine primare Erkrankung des visceralen sym-
pathischen Systems erklaren. Durch die therapeutischen Erfolge, die
er bei seinen bleigelahmten Kranken erhielt, kam er zu dem Schlusse,
daB Bleilahmung zu den Erkrankungen des sympathischen Nerven-
systems gerechnet werden mu 6.
Kussmaul-Meyer (Zur pathologischen Anatomie des chronischen
Saturnismus. Arch. f. klin. Med. 9, S. 385, 1872) bestiitigten diese Mei-
nung Remacks, nachdem sie in dem Plex. coeliacus, cervicalis superior
und in den anderen sympathischen visceralen Gebilden bei einem blei-
vergifteten Kranken sklerotische Erscheinungen samt dem Zugrunde-
gehen der Nervenzellen festgestellt hatten.
Diese Beobachtungen finden ihre Erklarung in den Versuchen
Gavle s und erlauben gleichzeitig, den atrophischen ProzeB in solchen
Fallen als Folge einer funktionellen Storung in den Nervenzentren,
als eine Hemmungsfolge der trophischen Impulse, die von den
visceralen Organen herstannnen, zu deuten.
Die Beobachtungen Gaule s, die mit den friiher angefiihrten Unter-
suchuilgen von Botazzi, Pekelharing, Perrocinto und De Boer voll-
kommen iibereinstimmen, konnen auch die Abmagerung der Muskeln
bei meinen hier beschriebenen und aus der Literatur angefiihrten
Kranken durch funktionelle Storungen in dem Lenden- undKreuzmarke
unter dem Einflusse der aus dem Kleinbecken sich dahin ausbreitenden
Reizungen verstandlich machen.
Diese funktionellen Storungen sind aber gar nichts anderes, als
eine Hemmungserscheinung der trophischen Mechanismen, die in
diesen Riickenmarksabschnitten liegen und deren Bestimmung in der
steten Sorge besteht, daB die Muskeln der unteren Extremitaten sich
das Ernahrungsmaterial aneignen und fiir seinen Aufbau verarbeiten.
Dadurch laBt sich die Tatsache erklaren, warum die Reflexe bei meinen
hier angefiihrten Patienten und in den aus der Literatur entnommenen
Fallen sich trotz des atrophischen Ausseliens der Muskulatur als erhoht
erwiesen. Dieses Verhalten der Reflexe spricht • namlich gegen eine
organische Erkrankung der Vorderhornzellen und gegen materielle
Veranderung der vorderen Spinahvurzeln, resp. der motorischen peri-
pheren Nerven, was man aus der Abmagerung der Muskeln schlieBen
konnte. Eine funktionelle Ursache dieser trophischen Storung laBt sich
aber anderseits daraus ersehen, daB die normale Ausmessung der be-
fallenen Muskeln sofort nach dem Aufhoren der Schmerzen, d. h. nach¬
dem die Erkrankung im Kleinbecken, die die Schmerzen verursacht
und die trophischen Impulse gehemmt hatte, ausgeheilt wiirde, sich
rasch und vollkommen wieder herstellte.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(sogenannten Wurzel-)Neuralgie dcs N. ischiadicus.
677
Das wenig erklarte Skoliosesymptom bei der Ischias verdient auch
crwahnt zu werden. Dieses Symptom wird, wie bekannt, inzwei Formen,
und zwar entweder als Einbuchtung des Riickgrates oder als Ausbuch-
tung desselben nach derlschiasseite, also in konkaver oder konvexer Form
beobachtet, wobei die Muskeln im ersten Falle auf der kranken Seite
sehr stark angespannt und verkurzt und im zweiten dagegen entspannt
und verlangert gefunden werden. Da die Skoliose bei meinen angefuhr-
ten Kranken ohne besondere MaBregeln und jedenfalls ohne Anwendung
spezieller gymnastischer Dbungen und verschiedener orthopadischer
Apparate zu verschwinden pflegte, da weiter die Skoliose sich nur
als eine Komplikation der Ischias entwickelte und bloB unter der
Wirkung der warmen, und zwar am Bauch z. B. applizierten Proze-
duren geheilt wurde, so liegt es an der Hand, daB auch dieses Symptom,
d. h. die Skoliose, in voller Analogic mit anderen Zeichen des zu
betrachtenden Symptomenkomplexes, der radicularen Ischias, und zwar
in der Analogic mit jener Serie der Symptome, zu der die Stoning der
groben Kraft und der Muskelernahrung zu rechnen sind, nichts weiter
als eine periphere Projektion des Leidens des einen oder des anderen
Organes im kleinen Becken ist.
Ein solcher SchluB laBt sich jedenfalls auch aus jenen Versuchen
De Boers ziehen, bei denen der Schwanz bei seinen experimentierteu
Tieren nach Durchschneidung sympathischer Zweige, die von dem
kleinen Becken emporsteigen, so zu liegen kam, daB er nach der Seite
der durchschnittenen Fasern ausgebogen war. Wenn man diesen
SchluB uoch weiter ausdehnen wollte, miiBte man sagen, daB bei meinen
Patienten unter der Wirkung der Reizungen im Kleinbecken ein refrak-
tares Stadium in den Zellen der Hinterhorner, die die Reizungen auf-
nehmen, entstand. Infolgedessen gerieten die motorischen Nerven-
zellen, die vor ihnen liegen, in dieselbe Lage, wie auch nach der Durch¬
schneidung der zentripetalen, resp. sensorischen Fasern in den Ver¬
suchen De Boers, wo diese Zellen aufhorten, die entsprechenden
Reizungen aufzunehmen, daher der Tonus der ihnen untergeordneten
Muskeln herabfiel. Auf diese Weise konnte das klinische Bild de :
Scoliosis homologa bei den Ischiaskranken zustande komrnen.
Damit eine Ischias scoliotica heterologa sich entwickeln konnte,
muBte dazu ein anderer Mechanismus beitragen, und zwar muBten
die motorischen Zellen der Vorderhorner durch die Reizungen, die
von den Organen des Kleinbeckens aus zum Riickenmarke hinauf-
steigen, in den Erregungszustand geraten. Diese Annahme. die
voraussetzt, daB ein und dasselbe Organ in einem Falle die Zellen
des Vorderhorns erregen, in einem anderen aber dieselben in eine
passive Inertie bringen kann, scheint auf den ersten Blick unlo-
gisch zu sein und einen inneren Widerspruch in sich selbst zu ent-
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
678
M. Lapinskv: Zur Frage iiber den Mechanismus der
halten; bei genauer Prufung dieses Grundsatzes sieht man aber, dab er
vollkommen und gut motiviert ist, weil schon aus dem fruher Gesagten
ganz klar hervorgeht, dab die starken und dabei in einem schnellen
Rhythmus verlaufenden Reizungen die sensorischen Zellen ermiiden
und sie in das refraktare Stadium bringen, dagegen leichte Reizungen in
einem langsamen Tempo diese Zellen erregen und ihre Tatigkeit er-
leichtern; anders gesagt, die verschiedenen Reizungen, die aus einer
und derselben Quelle hervorgehen, in vollkommener Abhangigkeit
davon, ob sie stark und von welcher Spannung sie sind, konnen in
einem Falle das absolute refraktare Stadium in den Zellen der Hinter-
horner hervorrufen, infolgedessen entsteht eine vollstandige Ruhe in den
Zellen der Vorderhorner und tritt eine Erschlaffung der untergeordneten
quergestreiften Muskulatur ein; — im anderen Falle aber geht der
Strom der von derselben Quelle hergeleiteten Impulse ohne irgendein
Hindernis durch die Zellen der Hinterhorner durch; als Folge davon
aber entsteht eine sehr starke Aufregung der Vorderhornzellen und
entwickeln sich dadurch sehr kraftige Zusammenziehungen der ihnen
untergeordneten Muskeln.
Zugunsten der Annahme, dab den sympathischen Fasern entlang,
die aus dem Kleinbecken und uberhaupt von visceralen Organen aus
zum Riickenmarke hinaufsteigen, die Impulse solcher Art laufen konnen,
die die tonische Spannung in den, auberhalb visceraler Hohlen liegenden,
quergestreiften Muskeln erzeugen konnen, spricht z. B. der folgende
Versuch von Sherrington 70 ) (S. 55). Nachdem Sherrington einen feinen
Zweig. der vom Darm zu dem Plexus Solaris geht, herausprapariert
und durchschnitten hatte, begann er den zentralen Stumpf dieses
Zweiges mit Hilfe des faradischen Stromes zu reizen. Als Folge dieses
Eingriffes, resp. dieser zentripetalen Reizung, entwickelte sich sofort
eine starke tonische Zusammenziehung der breiten Muskeln der vorderen
Bauch wand. In der Absicht, die Bahn festzustellen, durch welche diese
Reizung in das Riickenmark drang, durchschnitt Sherrington aufein-
ander folgend die hinteren Wurzeln auf die Weise, dab zuletzt nur eine
einzige Wurzel unverletzt blieb. Indem Sherrington aber das Reizen
desselben Zweiges mit Hilfe faradischen Stromes immer weiter fort-
setzte, iiberzeugte er sich, dab die Zahl der dabei sich zusammen-
ziehenden Muskeln abhangig von der Zahl der durchschnittenen Wur¬
zeln sich verminderte, und am Ende, als blob eine einzige unladierte
Wurzel iibrig geblieben war, nun sich einige Muskelfasern in der Bauch-
wand anspannten.
Mackenzie 7ia ) beschreibt eine Dame, bei der Appendicitis rechts
eine starke Spaunung der vorderen Bauchwand, eine tonische Spannung
der M. psoatis, eine Beugung nach vorne des ganzen Korpers
und eine starke Schmerzhaftigkeit der Lendenmuskeln verursachte.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des N. ischiadicus.
679
Dank der rechtzeitig gemachten Appendektomie verschwanden diese Er-
scheinungen. Bei der Besichtigung der iibrigen Visceralorgane und
der Bauchwand wahrend der Operation wurden dieselben ganz nor¬
mal gefunden. Mackenzie (ibidem S. 52) uberzeugte sich auch an
anderen Fallen, da6 die Muskelspannungen infolge einer Erkrankung
der visceralen Organe lange dauern konnen.
Talma 98b ) beobachtete motorische Storungen in mehreren Fallen
infolge einer primaren Erkrankung visceraler Organe resp. sympathischen
Systems.
Popehki (Spital-Zeitung Botkins. 18, 1900) rief bei einem Hunde
mit durchschnittenem Riickenmarke starke Krampfe in den Rumpf-
muskeln hervor. jedesmal wenn er ganz leicht den Plexus hypogastricus
beriihrte.
Claude-Bernard (physiologie et pathologie dusysteme nerveux. 1858)
berichtet, dab er bei dem Reiben der aus dem Plexus coeliacus heraus-
tretenden Zweige bei Hunden eine unwillkurliche Bewegung und einzelne
Muskelzuckungen in den Beinen beobachtete.
DaB tonische Zusammenziehung der Muskeln bei der Er¬
krankung der Organe im kleinen Becken vorkommen konnen, folgert
aus den alltaglichen Beobachtungen am Krankenbette, aus den
Anspannungen der Bauchwand bei der Erkrankung der Gallenblase,
bei Ulcus rotundum ventriculi, bei Appendicitis, aus der Contractur
der Brustmuskeln bei Entziindung der Pleura (signe de defense) usw.
Diese und ahnliche Erwagungen lassen den SchluB ziehen, daB das
klinische Bild der Scoliosis homologa und der Scoliosis heterologa durch
Reizungen hervorgerufen sein miissen, die in den Organen des Klein-
beckens entstehen und zu den hinteren Hornern zentripetal hinauf-
steigen, wobei sie in einem Falle die Leistung.-fahigkeit derselben hemmen
und im anderen sie anbahnen und ihr Spiel in dieser Beziehung auf-
f rischen.
Sehr interessante Erscheinungen wurden in den hier zu beschrei-
benden Ischiasfallen bei dem Drucke auf die erkrankten Nerven fest-
gestellt.
Wie bekannt, sind einige typische Punkte vorhanden, auf denen
der Druck auf den Nervenstamm bei Ischias sehr schmerzhaft ist. Solche
Punkte sind in der Nahe von Spina ilei posterior, von Foramen ischia-
dicum majus, wo der N. ischiadicus aus dem Kleinbecken herausgeht;
der Stamm dieses Nervs ist druckempfindlich — am unteren Rande des
M. gluteus maximus, — zwischen Trochanter major und Tuber ischii, —
unterhalb des Capitulum tibiae und — an dem Malleolus internus et
externus. Auch in unseren Fallen warcn diese Punkte, aber nicht alle und
nicht immer, sondern bloB in einigen Fallen, und selbst dann nicht iiber-
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Digitized by
680 M. Lapinsky: Zur Frage iibcr den Meehanismus der
all gleichmaCig — bei deni Drucke auf den N. ischiadicus ■—schmerzhaft.
Fast in alien Fallen aber war der Stamm desNervs, und zwar nicht nurder
N. ischiadicus, sondern auch NN. tibialis, peroneus und plantaris auch
auBerhalb dieser Punkte seiner ganzen Lange nach druckempfindlieh.
In mehreren raeiner Falle mit Plantarisneuralgie rief der Druck auf den
Nervenstamm keine Schmerzen hervor, wenn man an der FuBsohle oder
am Unterschenkel oder am unteren Rande des M. gluteus maximus
driickte, dersellie Eingriff erzeugte aber sehr starke Schmerzen, wenn
man bei demselben Kranken den Nervenstamm oberhalb der Knie-
kehle driickte.
Es sind auch anderseits solche Falle vorgekommen, wo der Nerven¬
stamm oberhalb der Kniekehle sehr druckempfindlieh war, die NN.
peroneus und tibialis dagegen beim Drucke ganz schmerzlos blieben.
Es kam sehr oft vor, daB der Nervenstamm auf einer Strecke seines
Verlaufes sehr druckempfindlieh war, aber seine Schmerzhaftigkeit
verlor, sobald er diese Stelle verlieB.
Diese merkwiirdige Auswahl der Stellen, an denen der Nerv auf
Druck mit Schmerzen reagiert, die Unterschiede in der Druckempfind-
lichkeit des Nervenstammes, die nur auf einer ziemlich kleinen Strecke
erscheinen, sind beim ersten Blicke sehr schwer erklarlich. Wenn man
annimmt, daB die Druckempfindlichkeit eines Nervenstammes von einer
Hyperasthesie der erkrankten sensorischen Nervenfasern abhangig i>t r
so ware zu erwarten, daB die erkrankten Fasern auf ihrer ganzen Lange
druckempfindlieh sind, und z. B. im Falle einer Neuralgie des N. plan¬
taris auch der Stamm des N. ischiadicus seinem ganzen Verlaufe entlang
beim Drucke schmerzhaft sein muB, was aber nicht in jedem Falle
beobachtet wird, sogar ganz im Gegenteil sehr selten vorkommt.
In mehreren Fallen, wo man tiefere Einspritzungen in den Nerven¬
stamm auf der Hdhe des Collum femoris gemacht hatte, wurde fest-
gestellt, daB der Stich gar nicht schmerzhaft empfunden wurde, land
zwar besonders dann, wenn der Nerv an dieser Stelle nicht druck¬
empfindlieh war, dagegen veranlaBte dieser Eingriff starke Schmerzen,
wenn der Druck an dieser Stelle den Schmerz ausloste. Dieser Umstand,
der in einigen Fallen besonders demonstrativ hervortrat, kann darauf
deuten, daB der Nervenstamm bei der Ischiasneuralgie nur stellenweise,
resp. streckenweise befallen ist, daB sein oberes Achtel z. B. von der
Neuralgie betroffen ist und dem Kranken groBe Schmerzen verursacht;
seine iibrigen sieben Teile dagegen konnen gleichzeitig weder beim
Drucke, noch spontan schmerzhaft sein. Wenn man die Punkte, wo
der N. ischiadicus beim Drucke empfindlich ist, mit den Schemen von
Thornburn, Kocher u. a. nebeneinander stellt, so kann man sich in einigen
Fallen iiberzeugen, daB die Territorien, wo der Nerv druckempfindlieh
ist, gerade in das Gebiet einzelner Metamere zu liegen kommen, daB
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(sogenannten \Vurzel-)Neuralgie des X. ischiadicus.
681
die Ischias also in einigen Fallen eine metamere Lokalisation der Schmer-
zen, resp. der Ursachen derselben zeigt.
In bezug auf die Mogliehkeit, den Schmerz streckemveise, d. h.
in einzelnen Abschnitten des Nervenstammes beim Drucke zu erzeugen,
konnen nicht die Nervenfasern, sondern die Nervenhiillen in Betracht
kommen. Das liiBt sich schon daraus schlieBen, daB die Nervenfasern
bei den organischen Erkrankungen der peripheren Nerven, z. B. bci
den parenchynmtbsen Neuritiden ihrer ganzen Lange nach druck-
empfindlich sind. Bei solchen funktionellen Erkrankungen, wie die
Ischias, soil man also das leidende Substrat nicht in den Nervenfasern
suchen, wie sie in diesem Falle auf ihrer ganzen Lange druckempfind-
lich sein miiBten, sondern in den Nervenhiillen, die, um verschiedene
Reizungen aufzunehmen, mit speziellen Endungen versehen sind.
Solche Erwagungen erlauben noch weitere SchluBfolgeningen zu
ziehen, und zwar beziiglich der Druckempfindlichkeit und vielleiclit
auch desSchmerzes selbst. Die Schmerzhaftigkeit beim Drucke und auch
der neuralgische Schmerz sind moglicherweise nichts anderes, als ein
Produkt mehrerer zusammenflieBender Bcdingungen, z. B. einer Hy-
periimie des mit Neuralgic befallenen Nervenstammes oder seiner Hiillen
usw., und zwar an einer bestimmten Stelle seines Verlaufes. Da der
Nerv, resp. seine Hiille ihre eigenen sensorisch.cn empfindenden Apparate
hat, so kann der betreffende Nerv diese veranderten Lebensbcdingun-
gen entweder beim Drucke oder spontan, wie es bei der Ischias zu
geschehen pflegt, aufnehmen, auf dieselben reagieren und durch das
BewuBtsein als Schmerzgefiihl kundgeben.
Die pathologischen Befunde bei der Ischias widersprechen dieser
Annahme, daB die Ursache der Schmerzen nicht in der Erkrankung
der Nervenfasern, sondern in dem Betroffensein der Hiillen des Nerven¬
stammes zu suchen ist, gar nicht. Die mikroskopischen Untersuchungeu
der mit Ischias befallenen Nerven zcigten namlich, daB die Nerven¬
fasern ganz normal, dagegen das Epinervium und sogar auch das Peri-
nervium verandert waren; in diesen Fallen lieBen sich schon makro-
skopisch eine Anschwellung, eine Verdickung und eine Infiltration fest-
stellen, und diese Veranderungen wurden mikroskopisch bestatigt
( Hunt 51 ), Sicard 92 ), Thomas 101 ), 102 ), Lapinsky 61 ).
Wenn man sich jetzt an die friiher erwahnten Hemmungen und
Anbahnungen der zentripetalen Leitungen, d. h. an die Mechanismen,
die in den Zelleneinschaltungen der Hinterhorner unter der Einwirkung
der aus dem Kleinbecken zum Riickenmarke aufsteigenden Reizungen
entstehen, erinnert, so liiBt sich die Druckempfindlichkeit des Nerven¬
stammes, und zwar in den Valleixschen Punkten, resp. im Gebiete ein-
zelner Metameren auf eine ganz einfache Weise erkliiren. Es ist namlich
fast mit Bestimmtheit anzunehmen, daB der an Neuralgic befallene
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
682
M. Lapinsky: Zur Frage iibcr den Mechanismus der
Nerv deshalb auf einzelne Strecken seines Verlaufes beim Drucke un-
empfindlich ist, und die Schmerzen nicht kundgibt, weil seine Hiillen
an diesen Strecken ganz normal sind. Die Nervenstamme blieben an
diesen Abschnitten beim Drucke schmerzlos, weil die besonderen Be-
dingungen, die zur Druckempfindlichkeit des Nervenstammes in den
Nervenhiillen selbst beitragen iniiBten, sich gar nicht entwickelten;
diese Reizungen, die von dem Kleinbecken aus hinaufstiegen, trafen das
Riickenmark nicht an alien Stellen, sondern lieBen einzelne Liicken frei,
infolgedessen waren einzelne Riickenmarksetagen aus dem Wirkungs-
kreise solcher Reizungen ausgeschaltet. Daher blieben auch die
Nervenhiillen an einzelnen Strecken, diesen Liicken im Riicken-
marke entsprechend, beim Drucke vollkommen unempfindlich, dagegen
zeigten sich an anderen Stellen unter der Wirkung ihrer gereizten Riicken¬
marksetagen sehr schmerzhaft. Da diese Symptome der Druckempfind¬
lichkeit sich durch eine Standhaftigkeit und Dauerhaftigkeit auszeicli-
nen, so laBt sich aus diesem Umstande der SchluB ziehen, daB tlieser
Erkrankung eine standige metamere Verteilung zugrunde liegt, daB die
gauze Erkrankung sich in den Bahnen einzelner Korpermetamere ent-
wickelt, daB die Ischiasneuralgie in manchen Fallen nichts weiter ist, als
eine Ausstrahlung einer gewissen Erkrankung bestimmter Beckenorgane,
die aus einzelnen Metameren, resp. Splanchnomeren bestehen. Wenn
man sich weiter vorstellt, daB die Prostata, die Gebarmutter, der
Eierstock und verschiedene andere Beckenorgane phylogenetisch aus
mehreren Korpermetameren entstanden sind, so folgt. daraus, daB die
Erkrankung einzelner solcher Splanchnomeren der Gebarmutter, der
Prostata usw. sich durch die Ausstrahlung in dem Gebiete einiger
ihnen entsprechender Metamere peripheriewarts auBern muB.
Zu demselben Schlusse, daB die Ischias eine metamerisch ent-
standene Erkrankung ist, fxihren uns auch die Beobachtungen an dem
Krankenbette. Bei der Behandlung der Ischias vermittelst tiefer In-
jektionen (z. B. einer Novokainlosung) in den Stamm des N. ischiadicus
zeigt es sich manchmal, daB der Erfolg einer solchen Thera pie in einigen
Fallen nicht von der Leitungsunterbrechung in einem zentralliegenden
Punkte, sondern von derZahl der druckempfindlichenStellen, die mit der
Nadel, resp. mit der Novokainlosung injiziert werden muB, abhangig ist;
die wiederholten Einspritzungen in den Stamm auf der Hohe des Collum
femoris verbiirgen infolgedessen gar nicht das Aufhoren der Schmerzen.
obwohl eine solche Einspritzung die Leitungsunterbrechung in dem
Nervenstamme verursachen und einStillen der Schmerzen in dem Beine
herbeifiihren sollte. Aus diesen Griinden machen die Autoren, die diese
Heilmethode empfehlen, mehrcre Einspritzungen in den Nervenstamm,
vom Collum femoris bis zum Vade herab, den N. ischiadicus entlang.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(sogenannten Wurzel-)Xeuralgie des X. iachiadicus.
683
so daB durch dieselben einzelne druckempfindliche Stellen mit der
Novokainlosung durchdrungen werden. Diese druckempfindlichen
Stellen muB man als Folge des metamerischen Aufbaues der Nerven-
hiillen betrachten; man muB sie fur die Folge der metamerischen
Lokalisation der Ischias selbst halten, welch letztere, indem sie sich
in mehreren Metameren gleichzeitig entwickelt, fur einen jeden Neben-
abschnitt, resp. Metamer an und fiir sich eine besondere Therapie
erfordert.
Man muB aber eine einfache. wie aucli eine radiculare Ischias, sogar
diejenige, die mit dem Ausfall resp. der Steigerung der Reflexe, mit
der veranderten Sensibilitat oder mit der Muskelatrophie einhergeht,
nicht als ein organisches, sondern als ein funktionelles Leiden, als
eine Neurose betrachten. Indem man einerseits eine primare chro-
nische Erkrankung der Organe in dem Kleinbecken, und anderseits
den Hemmungs-, resp. Anbahnungsmechanismus inAnbetracht nimmt,
kann man sehr leicht eine Herabsetzung oder eine Steigerung derSehnen-
und Hautreflexe, eine Verminderung der groben Kraft, eine Abmagerung
der unteren Extremitat, eine Veranderung der Sensibilitat verschiedener
Art usw. vermitbelst des Mechanismus einer intraspinalen Dissoziation
erklaren.
Wenn man aber weiter in Betracht zieht, daB die Erkrankungen
der inneren Organe — die Organe in dem Kleinbecken inbegriffen —
mit den Schmerzausstrahlungen in der Peripherie,und z war im Gebiet ein-
zelner Metamere reagieren 67 ) ist dasEntstehen derNeuralgie imGebiete
des X. ischiadicus ganz verstandlich. Die Verteilung derAnasthesie oder
Hyperasthesie in Form der Streifen oder anderer Art Flecken wahrend
der Ischias, und zwar nicht nur im Gebiete des X. ischiadicus, sondern
auch in dem Ausbreitungsraum der XX. cruralis, obturatorius, inter-
costalium usw., wird durch die von dem Kleinbecken aus aufsteigen-
den und die Zellenketten der Hinterhorner hemmenden oder anbahnen-
den Reizungen erklarlich.
Vermittelst derselben Prinzipien der Anbahnung und der Hemmung
des Riickenmarkes, aber nur im Gebiete einzelner Segmente, laBt sich
die Schmerzhaftigkeit des X. ischiadicus beim Drucke streckenweise,
d. h. in den Grenzen der gehemmten oder angebahnten Neuromeren
erklaren.
SchluBfolger ungen.
1. In der Mehrzahl der Falle ist die Ischias eine Folge der Organ-
erkrankungen in dem kleinen Becken.
2. In vielen Fallen der Xeuralgie des X. ischiadicus erweist sich die
Sensibilitat fiir Beriihrung, Stich und Temperatur, und zwar in den
Grenzen, die den Figuren von Thornburn , Kocker, Seifert u. a. der spina-
Archlv fiir Psychiatrle. Bd. 07 . 45
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
684
M. Lapinsky: Zur Frage liber den Mechanisnius der
len Hautsensibilitatsprojektion entsprechen, verandert und zwar herab-
gesetzt oder gesteigert oder sogar vollkommen ausgefallen.
Wenn diese Sensibilitatsveranderung sich durch eine Unstetheit
und eine Beweglichkeit des Bildes auszeichnet, kann man in solchen
Fallen der Ischias eine organische Erkrankung des Nervenstammes oder
seiner Wurzeln ausschlieBen.
Wenn sich dabei in der Veranderungsweise der Sensibilitat eine
Auswahl oder eine Dissoziation feststellen laBt, so dafi nicht alle
Arten der Sensibilitat, und zwar nicht gleichzeitig und gleichmaBig,
sondern nur einige, und zwar mit einer gewissen Auswahl befallen wer-
den, so kann die Erkrankung der peripheren Nerven und ihrer Wurzeln
vollkommen ausgeschlossen, und die Ursache des klinischen Bildes
intraspinal gesucht werden.
Der Mechanismus der Sensibilitatsveranderungen kann bei solchen
funktionellen Erkrankungen in der Hemmung oder Anbahnung der
Nervenzellen in den Hinterhornern liegen; die dazu notigen Impulse
konnen aus den erkrankten Organen des kleinen Beckens herruhren.
Die auBergewdhnliche Ausbreitung der Sensibilitatsveranderung bei
Ischias, die sich auBerhalb des N. ischiadicus, nicht nur an den beiden
Beinen (bei einseitiger Ischias), sondern auch am Bauche oder an der
Kreuz- und Lendengegend, erweist, laBt sich durch eine sehr kompli-
zierte Metamerie der Organe des kleinen Beckens erklaren, die durch
zahlreiche zentripetale Verbindungen einzelner Splanchnomere des
Kleinbeckens mit samtlichen Neuromeren bis zu oberen Dorsal-
segmenten des Ruckenmarkes hinauf verbunden sind; infolgedessen
konnen die Erkrankungen im Kleinbecken sich nicht nur in den beiden
Beinen, sondern auch in den oberen Teilen des Kbrpers, und zwar beider-
seitig durch verschiedene Ausstrahlungen auBern.
3. Das Ausbleiben der Haut- und Sehnenreflexe in mehreren Fallen
der Ischias, was als ein Beweis des organischen Betroffenseins der
spinalen Wurzeln und als ein sicheres Symptom der radicularen Ischias
gilt, beansprucht jedesmal ein genaues Studium. In einigen Fallen kann
dies Ausbleiben der Reflexe sich durch eine Unstetheit auszeichnen;
die erwahnten Reflexe konnen z. B. unter der Wirkung irgendwelcher
therapeutischer MaBregeln im Inneren des Kleinbeckens wiedererscheinen,
sogar gesteigert werden usw. In solchen Fallen, und besonders dann,
wenn noch dazu die Sensibilitat und andere klinische Symptome mit
dem Zustande der Reflexe in keiner Parallele stehen, kann man eine
organische Erkrankung der Wurzeln ausschlieBen und einen funktionel¬
len intraspinalen ProzcB annehmen, der seinen Ursprung den anbahnen-
den und hemmenden, von dem Kleinbecken aus zum Riickenmarke
ansteigenden Impulsen (von erkrankten Organen im Kleinbecken)
zu verdanken hat.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(sogenannten \Vurzel-)Neuralgie des N. ischiadicus.
685
4. Wenn sich bei Erkrankung der Kleinbeckenorgane ein Sympto-
menkomplex der Ischiasneuralgie mit Veranderung der Sensibilitat
radicularen oder segmentaren Typus, mit einer besonderen Auswahl
der veranderten Sensibilitat marten entwickelt, wenn sich da bei eine
Herabsetzung des Muskeltonus und sogar eine Muskelatrophie, ohne
aber die elektrische Reaktion der Degeneration zu zeigen, bemerkbar
macht, so muB man die Entstehungsart dieser Storungen der Muskel-
ernahrung und des Muskeltonus ebenso wie jene der sie begleitenden
Sensibilitatsstorungen betrachten. Die Verminderung des Muskel-
umfanges muB man fur eine funktionelle Erscheinung halten, man muB
sie als eine Folge der Hemmung der entsprechenden Verrichtungen durch
Impulse, die zum Riickenmarke von den Kleinbeckenorganen aus hinauf-
steigen, erklaren. Man darf nicht immer in diesen klinischen Symptomen
eine organische Erkrankung der Wurzeln ersehen und aus derselben
eine traurige Prognose folgern; die Muskeln werden sich sehr schnell
wiederherstellen, nachdem die Impulse, die den Tonus und die Muskel-
ernahrung hemmen, verschwinden.
5. Die Prozesse, die zur Dnickempfindlichkeit des Nervenstammes
und seiner Zweige beitragen, finden sich wahrscheinlich in den Nerven-
hiillen vor ; diesc Prozesse machen die Nervenendungcn, die sich in dem
Epinervium vorfinden sollen, beim Drucke sehr schmerzhaft. Die
launenhafte Verteilung der Dnickempfindlichkeit, z. B. Empfindlichkeit
der Zweige bei den spontanen Schmerzen im Stamme des N. ischiadicus
oder umgekehrt, oder Schmerz beim Dmcke anderer Nerven am Beine
wahrend der Neuralgie des N. ischiadicus, ebeaso wie Sensibilitats-
veranderungen, die ihrer Lokalisation nach den Typen Thonibum,
Seifert u. a. entsprechen, lassen sich durch die Abhangigkeit dieser
Symptome von dem Befallensein einzelner Splanchnomere im kleinen
Becken erklaren. *
6. Die Benennung ,,Ischias“, die Cotugno dieser Erkrankung ohne
Riicksicht auf genaue anatomische Daten gegeben hatte, kann fiir die
Benennung der spontanen Schmerzen in den unteren Extremitaten als
passend auch w r eiter beibehalten warden. Wenn man aber die objek-
tiven Symptome der Ischias, die in der Empfindlichkeit des Nerven beim
Drucke besteht, feststellen will, muB man sich doch an die anatomischen
Angaben halten. Vom Standpunkte des anatomischen Denkens muB
man in solchen Fallen eine Neuralgie des Stammes des N. ischiadicus,
eine solche seiner Zweige und seiner Wurzeln unterscheiden, in
Abhangigkeit davon, ob der Stamm des N. ischiadicus selbst, und
zwar von dem unteren Viertel des Oberschenkels an bis oberhalb Collum
femoris, oder seine Zw'eige, oder seine einzelnen Wurzeln, namlich
in der Hohle des kleinen oder des groBen Beckens beim Drucke schmerz¬
haft sind. Auf dieser Dnickempfindlichkeit des Stammes, der kleinen
45*
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
B8() M. Lapinskv: Zur Fragc iibor den Meohanismus der
Zweigc odcr der spinalen Wurzeln fuBend, kann man zum Unterschiede
von einer Neuralgie des Stammcs, der Biindel, und einzelner Zweige
des N. ischiadici mit einem gewissen wissenschaftlichen Vorteile den
Namen der radicularen Ischias beibehalten. Eine oder die andere Lokali-
sation der Schmerzen und iiberhaupt der Neuralgieerkrarikung wird
in den meisten Fallen von dem erkrankten Organe, resp. von seinem
Splanchnomer in dem Kleinbecken und von dem metamerischen Aufbau
unseres Korpers genauer bestimmt.
7. In manchen Fallen der sog. radicularen Lschias mu R man zweierlei
Leiden vermuten, und zwar das eine in der Peripherie und das andere
im Riickenmarke selbst. Das peripherische entwickelt sich hochst
wahrscheinlich in den Hiillen des Nerven und auBert sich in deren
Hyperamie (und in der Infiltration [?] derselben), und zeichnet sich durch
die spontanen Schmerzen und durch die Druckempfindlichkeit aus.
Das intraspinale Leiden liegt in den hinteren Hornern des Riicken-
markes, besteht in den Hemmungs- und Anbahnungsprozessen und zeigt
sich in den Vcranderungen der Sensibilitat, der Reflexe, der
Motilitat, derBlutzirkulation im betreffenden Beine und des Ernahrungs-
zustandes der Beinmuskulatur.
Man muB die Ischias radicularen Type in solchen Fallen zu den
Neurosen rechnen, vveil der peripherische, wie auch der intraspinale
ProzeB ohne organischc Veranderungen der Nervenelemente ver-
laufen kann.
Die doppelte Lokalisation des Prozesses wird besonders in jenen
Fallen deraonstrativ, in denen die Storungen der Sensibilitat, der
Reflexe usw. mit dem Gebiete des betreffenden Nervs nicht zusammen-
fallcn.
8. Die objektive Untersuchung muB durch die Exploration der Or¬
gane des Kleinbeckens per Rectum, per Vaginam und per Urethram
erganzt werden. In alien Fallen muB man auBerdem die Bauchorgane
und die sympathischen Geflechte in bezug auf ihre Lage und Dmck-
empfindlichkeit in Betracht nehmen.
Literatur.
l ) Axenfeld-Hur-hard: Traite <le nevroses. 1874. — 2 ) Biingner: Ober Ischias.
Chnrite-Ann. 1910, S. 833. — 3 ) Roussel: La sciatiquo nerveuse. These de Paris.
1834. — 4 a ) Brouadel-Gilberl-Pitres- C aillard: Traite de medecine. 1894. —
4 ’) Beritof: Lokalc V T ergiftung. Arb. a. d. physiolog. Inst. Petersburg. 4—5,
1909—1910. — 6 ) Bernhardt: Erkrankungen peripher. Nerven. 1904. Taf. IV. —
B ) Bethe: Allgemeine Anatomie und Physiologie das Nervensystems. 1903. S. 373.
-— 7 ) Bertheol: Sciatique radiculaire. These dc Paris. 1906, S. 69, 73, 81, 83. 84. —
*) Botazzi: Wirkung Veratrins auf die quergestreifte und glatte Muskulatur. Arch,
f. Physiol. 1901, S. 377. — *) Bonola: Les reflexes du tendon d'Achille et du tenseur
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des N. ischiadicus.
687
fascia lata dans la sciatique radiculaire. Rev. neurol. 1912, N. 18, S. 324, 327. —
10 ) Bodon: Zentralbl. f. Gyn&kol. 1898, Nr. 5. — ll ) Biddermann: Elektrophysiolo-
gie. Ergebn. d. Physiol. 1. Jg.. 11. Abt. — 12 ) Broca-Richet: Periode refractaire
dans les centres nerveux. Cpt. rendus de l’Acad. 1897. — 13 ) Baglioni: Physiolo-
gische Eigenschaften der sensiblen und der motorischen Riickenniarkselemente.
Zeitschr. f. allg. Physiol., 4 1904. — 14 ) Bubnof u. Haydenhayn: Erregung u.
Hemmungsvorgiinge. Pflugers Arch. f. d. ges. Physiol. 26. — ls ) Burdock u. (loll:
siehe Jakobsohn, 8. 59. — 1S ) De Boer: Thorakales autonomes System. Folia
neurobiologica. 7, S. 378, 1913. — 17 ) De Boer: Die tonische Innervation der
quergestreiften Muskeln bei Warmbliitem. Folia neurobiologica. 7, S. 837. —
18 ) Biro: Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. 19. — 19 ) Biro: Dtsch. Zeitschr. f.
Nervenheilk. 39. — *°) Cotugno: De ischiade nervosa commentarius. 1764. —
21 ) Cavazenni: Un cas de sciatique radiculaire. II policlinico. 1905. — 22 ) Camus;
Les radiculites. These de Paris. 1908, S. 107. — 23 ) Camus: Les lesions radiculaires
chez les tuberculeux. Rev. neurol. 1911. N. 6, S. 402. — 24 ) Dubarry: Contribution a
1’etude de la sensibilite cutanee dans la sciatique. These de Paris. 1913. —
2& ) Dubarry: Troubles de la sensibilite* dans la sciatique. Paris. — 2Sa ) Dussere
de Barennes: Strychninwirkung. Fol. neurobiol. 4, 1910. — 28 tj ) Dobrocholofs:
Ischias radicularis. 1913. — 27 ) Dejerine-Bodouin: La patologie radiculaire. Paris
med. 1911, N. 45, S. 389. — 28 ) Dejerine-T homos: Les maladies de la moelle.
Paris medical. 1911, S. 389, 390. — 29 ) Danilevsky: Untersuchungen zur Physio¬
logic des Zentralnervensystems. Arch. f. Anat. u. Physiol. 1866, S. 677. —
J0 ) Dejerine-Camus: Les radiculites. Paris. Balliere 1908. — 31 ) Dejerine: Rev.
neurol. 1912. — 32 ) Dufour: Contribution . .. lesions de la queue... These de
Paris. 1896. — 33a ) Etlinger: Societe de biologie. 1, 11. 1896. — 33l) ) Faber:
Reflexhyperasthesien bei Verdauungskrankheiten. Dtsch. Arch. f. klin. Med.
65, 8. 333, 1900. — 33 e ) Fabritius: Sensible Leitungen. Monatsschr. f. Psychiatr.
u. Neurol. 31, S. 297, 191 2. — 34 ) Fernet: M6moire de la nature de la sciatique.
1860. — 35 ) Frbhlich: Der Mechanismus der nervosen Hemmungsorgane. Med.-
naturwiss. Arch. 1, 1908. — * 8 ) Frbhlich: Summation, Bahnung, Tonus, Hemmung
von Aplysia limacina. Zeitschr. f. allg. Physiol. 11, 1910. — 37 ) Freunsberg:
Uber die Erregung und Hemmung tier T&tigkeit der nervosen Zentralorgane.
Pflugers Arch. f. d. ges. Physiol. 10, 8. 174. — 38 ) Gaule: Die trophischen Eigen¬
schaften der Nerven. Berl. klin. Wochenschr. 1893, Nr. 44, S. 1066. — 39 ) Gad -
Flatau: Die Reflextatigkeit bei hohen Quertrennungen des Riickenmarks. Neurol.
Zentralbl. 1896. — 40 ) Gaucler-Roussy: Un cas de sciatique aveo trouble de la
sensibility a topographie radiculaire. Rev. neurol. 1904, S. 617. — 4l ) Goltz:
Beitriige zur Lehre von den Funktionen der Nervencentra der Frosche. Berlin
1869. — 42 ) Goltz: Funktionen des Lendenmarkes der Hunde. Pflugers Arch. f.
d. ges. Physiol. 8. — 43 ) Haitian: Traitede Med. par Bouchard, Brissaud, Charcot.
Vol. X. 8ec. Edition. Article sciatique. — 44 ) Hubert-Yalleroux: Des alterations
de la sensibilite cutanee dans la sciatique. These de Paris. 1869. — 45 ) Homolle:
Nouveau dictionnaire de medecine et de chirurgie pratiques. Article sciatique. —
48 ) Hardy: Nevralgie sciatique. Gaz. des hop, civ. et milit. 1886. — 47 ) Hallion;
Sciatique. Traite de med. par Charcot. 10. — 48 ) Hering: Selbststeuerung der
Atmung durch den N. vagus. Wien. Akad. d. Wiss. 58. — 49 ) Head: Zitiert nach
Snegireff. Uber die Schmerzen bei der Frau. Moskau. 1909. — 50 ) Hennoch: Ver-
gleichende Pathologie der Bewegungsnervenkrankheiten. 1845. — 51 ) Hunt:
Americ. med. journ. 1905. — 62 ) Jaboulay: Chirurgie du giand-
sympatique et du corps thyroide. S. 208. Paris 1900. — 43 ) Jakobsohn: Uber
pie Kerne des menschlich. Riickenmarkes. Kgl. preuB. Akad. d. Wiss. 1908. —
s4 ) Krause: Die Neuralgie des N. trigeminus. 1896, S. 123. — M ) Klippel et Dain-
viile: Rev. neurol. 11, 28, S. 141. 1908. — 56 ) Lapinsky: Uber die Herabsetzung
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
688
M. Lapinsky: Zur Frage iibcr den Mechanismus der
der reflektorischen Vorgange. Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. 30, 1906. —
57 ) Lapinsky: Cber den 8chmerz. Prakt. Med. 1913. — 57a ) Lapinsky: Cber die
metamere Verteilung der 8chmerzen. Arch. f. Physiatr. u. Nervenheilk. 1914. —■
s8 ) Lajn?isky: Die Bedeutung hyperasthetischer Zonen. Fall 1. Neurol. Zentralbl.
1913, Nr. 11. Pycekiu Bparc. 1913, Nr. 45. — S9 ) Lapinsky: Zur Frage der als
Begleiterscheinung bei Leiden der Visceralorgane auftretenden Knie- u. Hiift-
gelenkerkrankungen. Dtsch. Arch. f. klin. Med. 114. — 60 ) Lapinsky: Spinale
Lokalisation d. motorischen Funktionen. Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. 1905.
— 81 ) Lapinsky: Ischias bei Nephritis. Neurol. Zentralbl. 1898, 8.940. —
82 ) Lapinsky: Die latente Form der Neuralgie des N. cruralis u. ihre diagnostische
Bedeutung bei den Erkrankungen der Organe des kleinen Beckens. Zeitschr. f.
d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 1913. Pycckiw Bparc. 1913. — 83 ) Lortat-Jakob et
Sabareanue: Sciatique radiculaire. Presse med. 1904, Nr. 80, 8. 633. — 61 ) Lortal-
Jakob: Valeur diagnostique et prognostique de la sciatique radiculaire. La trib.
med. 1906. — 8S ) Lortat-Jakob-Sabareanue: Les sciatiques radiculaires. Rev. de
med. 1905, Nr. 11, 8. 921. — 86 ) Lewisson: Cb. die Hemmung der Tatigkeit durch
Reizung sensibler Nerven. Dubois-Reymonds Arch. 1889, 8. 255. — 67 ) Leivan-
dowsky: Handbuch der Neurologie. 4. 8. 623. — 68 ) Leyden: De paraplegiis urinarii.
Konigsberg 1865. — 69 ) Laignel-Lavastine-Verliac: 8oc. de Neurol. 6, 11. 1908. —
70 a ) Mackenzie: Krankheitszeichen und ihre Auslesung. VViirzburg 1911. —
70| >) Mansel-Moulin: Clinical Lecture of signification of pain. Lancet 1903. —
70c ) Massary: 8oc. de Biolog. 12, 21. 1895. — 71 ) Martinet: Traitement de la
sciatique et de quelque nevralgies par l’huile de therebentine. Bull. gen. de therap.
1832. — 72 ) Marchand et Alix: 8. 40. — 73 ) Mosso: Arch. ital. di biol. 41, 1904. —
74 ) Michailow: Vcrsuch einer systematischen Untersuchung. . . des sympathised
Nervensysterns. Pfliigers Arch. f. d. ges. Physiol. 128. — 7S ) Neugebauer: Lah-
mungen nach Umschniirung. Zeitschr. f. Heilk. 1896. — 78 ) Nolta: Etude sur les
troubles de la sensibilite et de motolite dans la nevralgie. Arch, gener. 1854. —
77 ) v. Nottha/t: Cber scheinbar mit Prostata nicht zusammenhiingende Schmerzen.
Arch. f. Dermatol, u. Syphilis. 70, 8. 77, 1904. — 78 ) Nothnagel: a) Z. L. klonischen
Krampf. Virchows Arch. f. pathol. Anat. u. Physiol. 49. b) Reflexheinmung.
Arch. f. Psychiatr. u. Nervenkrankh. 6. c) Bewegungshemmung. Zentralbl. f.
wiss. Med. 1869, 8. 211. — 79 ) Nageotle: 8oc. de biolog. 5, 20, 1905 ; 4, 26, 1906.
Nouv. iconographie. 5—7, 1906. — 80 ) Nageotle: a) Soc. de biol. 12, 13, 1902.
b) Rev. neurol. 1903, 1. — 81 ) Nageotle et Richet: Manuel d’hystologie patolog. de
Cornil et Ranvier. 3, 8. 181. — 82(1 ) Older geld: Dtsch. med. Wochensclir. 1906. —
82,1 ) Ossipoff: Tiefe Injektionen bei Ischias. Neurol. Bote. 1910. — 83 ) Oppen-
heim: Lehrbuch der Nervenkrankheiten. 1913. — 84 ) Phulpin: La sciatique en
particulier. These de Paris. 1895. — 85 ) Pekelharing: Hoppe-Seylers Arch. f.
physiol. Chemie. 84, 1910. — 8B ) Perrocinto: Arch. ital. di biol. 38, 1902. —-
87 ) Richet: Contribution aux paralyses et an&sthesies reflexes. Arch, de physiol.
11, 8. 367. 1883. — 88 ) Remack-Flatau: Die Neuritis. Wien 1899. — 89 ) Rosenthal:
Influence du nerf pneumogastrique et du nerf laryngeux superieur sur les niouve-
ments d. diaphragme. Cpt. rend. 1, 8. 754. — 90a ) Routs: Recherches sur les
suppurations endemiques du foie. Paris 1860. — 0011 ) Sherren: Decurence and
signification of hyperalgesie. Lancet 1903. — 91 ) Sicard: Signe d’eternuement.
Rev. neurol. 1905. — * 2 ) Sicard: Rev. neurol. 1912, S. 288. — 93 a )Setschenow:
Elektrische und chemische Reizungen sensibler Nerven. Petersburg 1868. —
931) ) Setschenow-Paschutin: Neuo Versuche am Hirn und Riickenmark des Frosclies.
Berlin 1865. — 94 ) Slicker: t)b. diagnostische ,Verwertung der Form und Vertei¬
lung der Sensibilitkt. Miinch. med. Wochenschr. 1896, S. 193. — 9S ) Stoffel:
Neues iiber das Wesen der Ischias u. neue Wege fur die operative Bchandlung
des Leidens. Miinch. med. Wochenschr. 1913, Nr. 25. — 96 *>) Strusberg: Cber Wurzel-
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des N. ischiadicus.
689
ischias. Munch. ined. Wochenschr. 1910, S. 1779. — 98 h ) Shischova: Siiuroreflexe.
Arb. a. d. physiol. Inst. Petersburg. 2, 1907. — 98 c ) ScMiter: Dauernde Reizung
sensibler Xerven ... Arb. a. d. physiol. Inst. Petersburg. 6. 1911. — 96 <1) Schultze:
Pathologie der Retroflexio uteri. Monatsschr. f. Geburtsh. u. Gynakol. 1896. —
98 ) Talma: a) Zur Kenntnis des Leidens bei Bauchsympathicus. Dtsch. Arch. f.
klin. Med. 48,1892. b) Pathologie d. Bauchsympathicus. Dtsch. med. Wochenschr.
1890.— ") Trouseau: Lecons sur les nevralgies. Clinique med. de l'Hotel-Dieu. 11.—
10 °) Tiedemann: Untersuchungen iiber das absolute RefrakUirstadium und die
Hemmungsvorgiinge im Riickenmark des Strychninfrosches. Zeitschr. f. allg.
Physiol. 10, S. 208, 1910. — 101 ) Thomas: Soc. de neurol. 5, 11, 1907. — 102 ) Tho¬
mas: Rev. neurol. 1905. — 103 “ ) Treub: t)ber Reflexparalyse. Arch. f. exp. Pathol,
u. Pharmakol. 10, S. 399, 1879. — 103 b) Verworn: Zur Kenntnis ... Strychnin.
Arch. f. Anat. u. Physiol. 1900, S. 385. — 104 ) Valleiz: Traite de Nevralgie. 1841.—■
10s ) Wegele: Cber die zentrale Natur reflektorischer Atmungshemmung. Wiirz-
burger Verhandl. 17, Xr. 1, 1882. — 108 ) Widal-le Sourd: Societe med.des Hopitaux.
12. 5, S. 1046—1057, 109, 1902. — 107 ) Wiljamowski: Berl. klin. Wochenschr.
1907. — 108 ) Wedensky: Heinmung und Bahnung . . . Arb. a. d. physiol. Inst.
Petersburg. 1906. — 109 ) Wedensky: Einwirkung des sensiblen Xervs auf die
zentrale Innervation. Fol. neurobiologica. H. 7—8, S. 607, 1912. — 109 “) Wol-
kovic: Uber Syinptomatologie der Appendicitis. Russki Wratsch. 1911. — lI °) Zyon:
Les nerfs du coeur. S. 197 Paris 1905.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Zur Frage der Halhizinations-Theorie.
Von
Dr. Knichel, Coblenz.
(Aus der Dr. Hertzschen Privat-Heil- und Pflegeanstalt in Bonn.)
(Eiugegangen am 12. Dezember 1922.)
Falle von Gesichtshalluzinationen bei peripher bedingter totaler Erblindung
sind in der Literatur wiederholt veroffentlicht worden. Man findet solclie bei
Esquirol, Leubuscher, Galmeil, Uhthoff und Graft. Trotzdem soli hier von einem
neuen, besonders charakteristischen derartigen Fall berichtet werden, der in der
Hertzschen Privat-Heil- und Pflegeanstalt in Bonn beobachtet wurde, und dessen
Krankengeschichte Herr Prof. Dr. Konig mir in dankenswerter Weise zur Ver-
fiigung stellte.
Der Diamantschleifer J. F. aus Antwerpen, 38 Jahre alt, akquirierte eine
Lues, auf die er 1911 durch Flecken am Leibe aufmerksam wurde. 10 Monate
nach einer spezifischen Behandlung traten Sehstorungen und Schmerzen in den
Beinen auf. Bei seiner Aufnahme in der oben genannten Anstalt am 21. VII. 1914
zeigte er schon alle wesentlicken Symptome einer Taboparalyse, verbunden mit
totaler Erblindung infolge Opticusatrophie. Drei Punkte erheisehen ein beson-
deres Interesse fiir diesen Fall: Bei seiner Aufnahme weiB der Kranke nicht an-
zugeben, wann er vollig erblindete. Einige Zeit spftter weiB er iiberhaupt nicht
mehr, daB er blind ist, „er sieht alles“. Kein einziges Mai wahrend der 5 Jahre
seines Aufenthaltes in der Anstalt wird er sich seiner Blindheit bewuBt. Ferner
fiillt an dem Falle die geradezu fabelhafte Fiille von Gesichtshalluzinationen auf.
Ununterbrochen beschaftigt ihn seine eigene halluzinierte Welt, in der es viel
hunter und lebhafter zuzugehen scheint, als in der wirklichen. Drittens ist es
bemerkenswert, daB der Kranke fast alle seine Gesichtshalluzinationen in eine
Beziehung zu seinen Augen bringt. Die halluzinierten Gestalten wollen ihm sein
Augenlicht nehmen; ziehen Fiiden durch die Wand nach seinen Augen und zerren
damit an ihnen; all die Tausende von Zuhaltern, Dirnen, Anarchisten, farbigen
Strahlen und Fiiden, die er tagtaglich sieht, bringen seine Augen zum „FlieBen“.
Er tragt deshalb standig einen kiihlenden Umschlag um die Augen, verlangt
Medizin gegen die Schmerzen und in den wenigen Stunden, da er keine Gesichts¬
halluzinationen hat, zeigt er sich freudig dem Arzte und behauptet, seine Augen
seien wieder gut. Nach allmahlichem Zerfall und unmittelbar voraufgehenden
schweren An fallen kam der Kranke am 11. III. 1919 zum Exitus.
Die Falle von Gesichtshalluzinationen bei totaler, peripher bedingter Erblin-
dung wuidan von den einzelnen Autoren in verschiedenem Simie fiir die eine oder
andere Halluzinationstheorie ausgebeutet. Uhthoff sieht in ihnen einen sicheren
Beweis dafiir, daB die Gesichtshalluzinationen kein einfaches Produkt der Reizung
der peripheren Endausbreitungen des Sehnerven in der Retina sein konnen, wie
auch Griesinger eingehend betont; diese Falle bewiesen vielmehr die zentrale Ent-
stehung der Halluzinationen. Niefil v. Mayendorf meint dagegen, „statt das Ent-
stehen von Gesichtshalluzinationen auf corticale Reize zu beziehen, lage es naher.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Knichel: Zur Frage der Halluzinations-Theorie.
691
anzunehmen, daB die durch proliferierendes Bindegewebe und andere sich im
Inneren des Sehnerven abspielende Vorgange affizierten, aber noch leitungsfahigen
Nervenfasern Reize der Rinde zusenden, die mit denjenigen bei gewissen Wahr-
nehmungen als ahnlieh empfunden werden“. Auch unser auBerst charakteristi-
scher Fall regt unmittelbar die Frage an: In welchein Zusanmienhang steht die
Erblindung oder der ProzeB, der sie verursachte, zu den Gesichtshalluzinationen ?
Liegt hier eine kausale Beziehung vor, und was ist aus der Annahme eines kau-
salen Zusammenhanges zu folgern? Ein Versuch, diese Fragen zu beantworten,
kann indes nicht gemacht werden, ohne zu dem gesamten Halluzinationsprobleni
Stellung zu nehmen. Das bedeutet aber, ein Problem anschneiden, das schon
unzahligemal von Psychiatern, Psychologen und Philosophen mit den wider-
sprechendsten Resultaten erortert. wurde. In seinem Referat iiber Trugwahrneh-
mungen erklart sich Jaspers schon im Jahre 1912 auBerstande, die ganze hierher
gehorende Literatur zu iiberblicken, und erst recht jede einzelne Arbeit zu re-
fcrieren. Stellung nehmen zum Halluzinationsproblem kann heute erst recht nur
heiBen, die Grundmotive, die sich durch alle Theorien ziehen, und die Arbeits-
resultate der konsequentesten Vertreter der verschiedenen Anschauungen be-
riicksichtigen.
Dariiber, daB es tatsachlich Halluzinationen gibt, d. h. ganz allgemein
definiert: BewuBtseinsinhalte, die dem Halluzinanten wie Sinneswahrnehmungen
imponieren, obwohl ihnen kein kuBeres Objekt entspricht, hat sich unter den
Autoren keine ernstliche Kontroverse erhoben. Dafiir sprachen doch schon die
zahlreichen Fftlle, die von sonst ganz normalen Halluzinanten, ja oft sehr intelli-
genten, kritisch veranlagten und hochst sachkundigen Selbstbeobachtem beschrie-
ben wurden, eine zu deutliche Sprache. Kandinsky* klassische Selbstbeobachtungen
sind auch in dieser Hinsicht von ganz besonderer Bedeutung. Selbstverstandlich
weist man mit Recht darauf hin, daB vor allem bei Geistesgestorten vieles falseh-
lich als Halluzination bezeichnet wird, was sich schon bei eingehender und geeig-
neter Ausfrage lediglich als mehr oder weniger deutliche Vorstellung, VVahnidee
usw. herausstellen wurde. DaB unser Kranker echte Halluzinationen hat, unter-
liegt wohl keinem Zweifel. Wenn man auch noch nicht mit Bestimmtheit zu
sagen weiB, worauf das Nichtbemerken der Blindheit zuriickzufiihren ist, so ist
man doch zur Annahme berechtigt, daB die Gleichheit der BewuBtseinsinhalte,
durch den Halluzinations- oder Wahrnehmungsakt hervorgerufen, mit zum Zu-
standekommen dieses sonderbaren Symptoms beitrttgt, daB vor allem diese Gleich¬
heit den t'bergang vom schlechten Sehen zur volligen Erblindung dem Kranken
nicht bewuBt werden laBt. Einigkeit herrscht im groBen und ganzen auch unter
den Psychiatern, solange sie sich darauf beschrftnken, rein klinisch die einzelnen
Halluzinationsformen gegeneinander und gegen ahnliche Phanoinene abzugrenzen.
Herzig meint, solange sich die Psychiater mit der Festlegung und Kasuistik des
in Betracht kommenden Materials begniigten, blieben sie eben auf ihrem Gebiete,
(lessen Grenzen sie aber iiberschritten, sobald sie nach dem Wesen, der Ursache
und Entstehungsart der Halluzination forschten. Mit dieser Frage begaben sie
sich auf ein Feld, das sie nicht nur mit Psychologen, sondern auch mit Philosophen
slier Richtungen teilen miiBten. Dieser Bemerkung liegt die Anschauung zu-
grunde, Halluzinationen konnen als psycho-physische Phanomene nicht kausal
aus materiellen Bedingungen erklart werden. Da es aber fur den Psychiater als
Xaturwissenschaftler nur ein Erklaren in diesem Sinne gibt, uberschreitet er die
Grenzen seines Forschungsgebietes, wenn er nach Wesen, Ursachen und Ent¬
stehungsart der Halluzination fragt. Konnen Halluzinationen tatsachlich nicht
gehirnphysiologisch oder, allgemeiner ausgedriickt, nervenphysiologisch erklart
werden? Sehen wir zunaehst zu, welche Theorien ein derartiges Bestreben ge-
zeitigt hat.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
692
Knichel:
Digitized by
Alle altercn Autoren, die sich mit dem Problem besch&ftigt haben, gehen von
der Voraussetzung aus, dab Wahrnehmungen vor allem wegen der sinnlichen
Deutlichkeit ihres Objektes und dessen Verlagerung in den aufleren Raum prin-
zipiell von der Vorstellung zu scheiden seien. Diese Hauptcharakteristika eines
Wahrnehmungsinhaltes konnen nach den Autoren, die eine periphere Entsteliung
der Halluzinationen vertreten, einem BewuBtseinsinhalt ausschlieBlich durch die
Tatigkeit des peripheren Sinnesnerven vermittelt werden. Hoppe, der energiscliste
Verteidiger dieser Anschauung, definiert: „Halluzinationen sind unwirkliche
Wahrnehmungen, konstruiert in sinnfalliger Weise aus den bloBen Erregungen der
die Sinneseindriicke aufnehmenden Nerven, gebildet aus deren Erregungsformen,
-zustanden und -produkten, ohne sinnfallige Veranlassung von auBen gemacht
mittels hinzugefiigter Vorstellungen, so daB Gestaltungen scheinbar wirklicher
Dinge nach Art der Sinneserfahrungen entstehen.“ Es muB darauf hingewiesen
werden, daB auch Hoppe die Mitbeteiligung von Vorstellungen nicht entbehren
kann. Allerdings nimmt er an, daB diese in der Retina abgelagert sein konnen.
Falsch an dieser Theorie ist die Auffassung, daB Halluzinationsgebilden ihre sinn-
liche Deutlichkeit und Leibhaftigkeit, worunter ihre Projektion in den objektiven
Raum zu verstehen ist, einzig und allein durch Erregung des peripheren Sinnes¬
nerven verliehen werden konne. Der von Esquirol mitgeteilte Fall, bei dem diq
basalen Ganglien bis in den Stabkranz vollig erweicht waren, beweist, daB echte
Halluzinationen entstehen konnen ohne Miterregung des peripheren Sinnesappa-
rates. In demselben Sinne, wenn auch nicht mit der Beweiskraft des autoptischen
Befundes, sprechen die interessanten Falle von Gesichtshalluzinationen bei totaler
peripherer Erblindung. Allerdings miissen wir bedenken, daB ein Opticus zwar
fur auBere Lichtreize vollig unempfiinglich und so auch leitungsunfahig sein kann,
aber deshalb doch nicht in alien Fallen erregungslos zu sein braucht, daB sich
z. B. noch von dem KrankheitsprozeB erzeugte Erregungen in ihm abspielen und
zur Sehrinde fortgeleitet werden konnen. Unhaltbar ist ferner die Annahme, ein
unmodifizierter Reiz, wie er ausgeht von einem Entziindungsherd, einer Geschwulst,
einem Fingerdruck auf die Augenbulbi, dem Druck eines Cerumenpfropfes auf das
Trommelfell, konne die peripheren Sinnesflachen oder die Leitungsfasern zufallig
so treffen wie die Reize, die von einem Objekt ausgehen, und so die adequate
Ursache einer komplizierten Halluzination bilden, z. B. der halluzinatorischen
Walurnehmung eines Gemaldes, eines Musikstiickes. Derartig inadequate Reize
konnen direkt und ausschliefilich nur fiir das Zustandekommen subjektiver Emp-
findungen von Licht, Farbe oder Schall — sogenannter elementarer Halluzina¬
tionen — verantwortlich gemacht werden. Hiermit soil nicht gesagt sein, daB
aus der Art dieser Reize die Empfindung selbst erkliirt werden kann; denn wes-
halb wir Licht empfinden, wenn der Sehpurpur bleicht, die Zapfehen schrumpfen,
der Opticus erregt und das Sehzentrum in Mitleidenschaft gezogen wird, bleibt
ein Geheimnis, das die Naturwissen.sehaft mit dem Worte „spezifische Sinnes-
substanz“ zudeckt, und fiir das die Metaphysik die sonderbarsten Erklarungen
gibt. Selbst wenn man die unmogliche Anschauung Hoppes akzeptieren wollte,
oder sich mit Nie/31 v. Mayendorf vorstellen wollte, die „Ahnlichkeit“ eines von
der Peripherie kommenden Reizes reiche sclion aus, um das Bild eines bestimmten
Gegenstandes halluzinatorisch zu erwecken, so sprechen immer noch gegen diese
Theorie die zahllosen Halluzinationsinhalte, die in einem unzweideutigen Zusam-
menhang mit den, den Halluzinanten beherrschenden Vorstellungen stehen; ferner
die zahlreichen Falle, bei denen sich die heftigsten Prozesse am Sinnesapparat
abspielen, ohne daB Halluzinationen entstehen; die fast nicht minder zahlreichen
Falle von Halluzinationen, bei denen an den peripheren Sinnesnerven nichts Ab-
normes festgestellt werden kann. Es spricht dagegen, daB wahrend der verschie-
densten Stadien eines Prozesses ein und dieselbe Halluzination bestehen kann.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Zur Frage dcr Halluzinations-Theorie.
693
oder daB in unmittelbarer Aufeinanderfolge die mannigfaltigsten Gebilde hallu-
ziniert werden konnen.
Xach anderen Autoren wird zwar das Bild, das halluziniert wird, als solches
im Gehirn als Vorstellung erzeugt; dieses Vorstellungsbild erhiilt aber die Wahr-
nehmungscharaktere nur durch sekundare Erregung des peripheren Sinnesappa-
rates. Hagen nennt Halluzinationen „Krampf im sensiblen Nerven“. Nach ihm
ist die Energie im Nerven stets in seiner ganzen Ausdehnung tatig und die Reiz-
leitung eine zweisinnige. Ahnliche Anschauungcn v r ertreten Schiile und Krafft-
Ebing. Wie Ooldscheid sich ausdriickt, nehmen die Autoren an, daB auf zentri-
fugalen Bahnen die Erregung von der Gehirnrinde abflieBt zur Peripherie, dort
auf die zentripetalen iibergeht, zur Rinde zuriickflieBt und so den Anschein einer
primaren, peripheren Reizung erweckt. Gegen ein doppelsinniges Leitungsver-
mogen, selbst gegen die Annahme verschiedener Fasersysteme ist wenig einzu-
wenden. Auch kann man oder muB man sogar zugeben, daB vor allem eine sehr
lebhafte, zentral entstandene Halluzination den ganzen Sinnesapparat, also auch
dessen periphere Teile erregen kann, sofern man nicht, wie Goldstein, die von
Parisch beschriebenen positiven und negativen Nachbilder von Halluzinationen
ablehnen will. Die Abanderung, die in manchen Fallen Gesichtshalluzinationen
erfuhren durch das Vorhalten von farbigen Glasern, Konvex- und Konkavbrillen,
Prismen, durch Dnick auf die Bulbi sollen auch eine sekundare Miterregung des
peripheren Sehnerven beweisen. Sie wird aber mit Jolly besser als Folge eines
Schlusses aufgefaBt, den die Halluzinanten von den gleiehzeitigen, wirklich ab-
geanderten Wahrnehmungen auf die Halluzinationsinhalte vollziehen; denn
schlieBlich werden durch diese Experimente doch nur die von auBen kommenden
Lichtstrahlen beeinfluBt und nicht etwa die halluzinatoriseh mitcrregte Retina.
Unrichtig an der Theorie Hagens ist die Auffassung, daB die Miterregung des
peripheren Sinnesnerven notwendig sei. Das beweist der Fall Esquirols. Und
das Zustandekommen der sinnlichen Deutlichkeit und Leibhaftigkeit bei den
andern Fallen, bei denen dieser beweisende pathologische Befund nicht vorliegt,
von der peripheren Miterregung abhangig machen zu wollen, ist schon allein des-
halb nicht angangig, weil durch die Miterregung das Zustandekommen der Leib¬
haftigkeit gar nicht erklart wiirde, ebensowenig wie es durch die Erregung eines
andern Teiles des Xervensystems erklart wird. Die Leibhaftigkeit der Halluzina-
tions- wie die der Wahrnehmungsinhalte ist durch die Akte unmittelbar gegeben,
ohne daB wir uns der Momente bewuBt werden, die sie bedingen. Wenn Wernicke
sie von der Erregung der Organempfindungszentren, und andere von einer Er¬
regung des corticalen Sinneszentrums abhfingig sein lassen, so sind das Postulate
— allerdings, wie Jaspers meint, unabweisbare —, die nicht durch Erfahrung
und Experimente gestutzt werden konnen. Damit haben wir im wesentlichen
auch schon unsere Stellungnahme zu alien ubrigen Theorien angedeutet.
Xach Meynert und Kandinsky hinterlassen alle Sinneseindriicke in sub-
corticalen Sinneszentren Residuen. Werden diese Zentren erregt, so treten diese
Residuen wieder ins BewuBtsein, ausgestattet mit derselben Sinnlichkeit und
Leibhaftigkeit, wie sie den Wahrnehmungsinhalten zukommen. Nach Meynert
sind diese Zentren dauernd automatisch erregt. Unter normalen Verhaltnissen
besitzt aber die Gehirnrinde die Fahigkeit, die automatische Erregung zu hem-
men, so daB es nicht zu Halluzinationen kommt. Eine mehr die mannigfaltigen
psychischen V'organge, vor allem das Vorkommen der echten Pseudohalluzina-
tionen beriicksichtigende Theorie hat Kandinsky ausgebaut. Er denkt sich fiinf
verschiedene Gehirnzentren: I. diis subcorticale Sinneszentrum; II. das corticale
Sinneszentrum; III. das corticale Zentrum des abstrakten Vorstellens; IV. das
corticale motorische Sprachzentrum; V. das corticale Zentrum des klarbewuBten
Denkens. Ein Reiz kann nur zentri{)etal geleitet werden, also von der Peripherie
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
694
Knichel:
Digitized by
iiber Zentrum I zu den Rindenzentren und nicht umgekehrt. Versetzt ein Reiz
Zentrum I in Tiitigkeit, so entsteht in V ein Gebilde mit Leibhaftigkeit und Sinn-
lichkeit behaftet, und zwar ist es ein Wahrnehniungsgebilde, wenn der Reiz von
auBen komint; eine Halluzination, wenn er vom subcorticalen Teil der Sinnes-
nerven ausgeht. Wird Zentrum II gereizt, so resultiert in V eine gewohnliche
sinnliche V T orstellung. Ist der Reiz in II und in seinem ganzen Verlauf bis zu V
anormal stark, so resultiert eine echte Pseudohalluzination, d. h. eine Voretellung
von abnorm lebhafter Sinnlichkeit, aber ohne Lebhaftigkeit. Das subcorticale
Sinneszentruin spielt in dieser Theorie, um einen Ausdruck Grasheys zu gebrauchen,
die Rolle eines deus ex machina. Es ware bedeutend weniger gegen Kandinsky s
Anschauungen einzuwenden, wenn irgendeine Veranlassung zur Annahme vor-
ltige, daB in den verhaltnismftBig sehr kleinen subcorticalen Zentren die zahllosen
Wahmehmungsresiduen niedergelegt sind, iiber die ein erfahrenes Individuum
nerfiigt. Das ist aber, wie fast alles in dieser Theorie, rein hypothetische An-
vahme, die sich aber auch nicht auf die geringste Erfahrungstatsache zu stutzen
liermag. Ja, es kann sogar als bewiesen gelten, daB die subcorticalen Zentren ledig-
vch als Reizumschaltestationen aufzufassen sind. Auf Grund der gehimphysio-
logischen Forschungen von Munk, Hitzig, Ferrier, Flerhsig und der klinischen
Erfahrung von Rinden- und Seelen blind heit oder -taubheit usw. haben wir die
organischen Korrelate fiir Wahrnehmungen und Vorstellungen hochstens in der
Gehirnrinde und nicht in den subcorticalen Zentren zu suchen. Sind diese aber
nur als Reizumschaltestationen aufzufassen, so hat eine Erregung dieser Zentren
keine weitere Bedeutung als eine Erregung des peripheren Sinnesnerven iiber-
haupt. Somit gelten fiir die Theorien von Meynert und Kandinsky dieselben Ein-
w&nde, die gegen die vorhergehenden erhoben wurden.
Sowenig die bisher angestellten Dberlegungen fiir die peripheren Ent-
stehungstheorien sprechen, um so mehr scheinen sie durch eine ganze Reihe ein-
wandfrei festgestellter Falle gestiitzt zu werden. Wir kennen namlich zahlreiche
Falle, bei denen wir uns sagen miissen, ohne diese oder jene Abnormitfit am peri¬
pheren Sinnesapparat ware es nicht zur Halluzination gekommen. Hier seien
kurz einige der interessantesten Falle angefiihrt.
1. Alter Patient Graft s: Beide Bulbi atrophiert und verkalkt; seitdem ele-
mentare Gesichtshalluzination. Spater nach heftigor Gemiitserschiitterung auch
komplizierte Halluzinationen. Nach Durchschneiden beider Optici weder ele-
mentare noch komplizierte Halluzinationen mehr.
2. Alter Patient Christians mit komplizierten Gesichtshalluzinationen nur
bei Nacht; keinerlei Ursache festzustellen. Bei der Autopsie Geschwulst in Sella
turcica, die beide Optici platt gedriickt hatte.
3. Ganz almlich der Fall de Schiveinitz.
4. Alte Patientin Uhthoffs mit zentralen Aderhautflecken, mit entsprechen-
den zentralen Undeutlichkeitsskotomen. Eines Tages bei gleichzeitigem Druck
im Kopf in den Skotomen Halluzinationen, die Lowenkopfe, Bftume usw. auf-
weisen. Mit Projektion in die Feme nehmen die Gebilde an GroBe zu, wandern
mit den Augenbewegungen, verschwinden beim AugenschluB, verdecken den
Hintergrund. Allmfthliches Abblassen der Halluzinationen. Nach volligem Ver¬
schwinden noch einigemal willkurliche Erweckung derselben moglich.
5. Sander berichtet von einem Kranken, der regelm&Big Madchenstimmen
vemahm, sobald er Wasser aus einer Leitung flieBen horte.
Uhlhoff, Ndgeli, Hudovering, Kaldbaam haben noch andere derartige Falle
veroffentlicht, die einen im ersten Augenblick stutzig machen konnen. Auch bei
unsereni Kranken steht sicher ein Teil der Halluzinationen in einem Abhiingig-
keitsverhiiltnis zu der Opticusatrophie. Goldstein hat derartige Falle eingehend
nach alien Seiten hin beleuchtet und kommt zu dem Resultat: „Wie immer der
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Zur Frage der Halluzinations-Theorie.
695
periphere Reiz gestaltet sein mag, stets ist die zentrale Disposition die Vorbedin-
gung dafiir, dad auf den peripheren Reiz hin eine komplizierte Halluzination
entsteht.“ Unter dieser zentralen Disposition nicht genau bestinnnbare, abnorme
Verlialtnis.se in der Gehirnrinde verstehend, die eine anormale psychische Funktion
bedingen, und nicht, wie Goldstein, einen erhohten Energieverbrauch in einem
anatomisch lokalisierbaren Zentrum, pflichten wir dem Autor bei; beliaupten
also, niemals entsteht eine Halluzination, solange in der Rinde die normalen
Verliftltnis.se herrschen, von welcher Art und Stfirke der periphere Reiz auch sein
mag. Dieser kann wohl insofern die einzige Ursache der Halluzination sein, als er
zur Rinde fortgeleitet, dort die zentrale Disposition selbst hervorrufen kann oder
sie perfekt machen kann. Im eigentlichen Sinne aber lost er die Halluzination
nur aus, regt die in ihrer normalen Tiitigkeit gestorte Rinde an, die dann unab-
hftngig von der Qualit&t des Reizes, der Natur der psychischen Stoning ent-
sprechend reagiert. Da es sich in den Fftllen, wie wir sie oben beschrieben haben,
teils um hysterische, erblich belastete, neurasthenische Personen handelt, teils
um solche, die eine starke psychische Erschiitterung infolge des Unfalls, der den
peripheren Defekt setzte, oder infolge einer vorausgehenden Operation usw. er-
litten, kann man bei ihren Halluzinationen die notwendige zentrale Disposition
voraussetzen. wenn sich auch momentan keine Symptome psychischer Storung
zeigen. Auch in den seltenen Fallen, bei denen die zentrale Disposition durch
nichts angedeutet ist, z. B. in dem viel erorterten Fall de Schweinitz und dem
von Uhthoff , ist diese doch als vorhanden anzunehmen; denn eine periphere Er-
regung an sich kann keine komplizierte Halluzination erzeugen. Wenn es nicht
die abnorme Funktion der Hirnrinde 1st, die Halluzinationen bedingt, so ist nicht
einzusehen, warum die Natur des jieripheren Reizes gleichgultig ist. warum ein
krankhafter Froze 11. Fingerdruck, elektrischer Strom, der Reiz einer normalen
VVahrnehmung zu derselben Halluzination fiihren konnen; ist nicht einzusehen,
wie Reflexhalluzinationen entstehen konnen, d. h. Halluzinationen in einem Sin-
nesgebiet, sobald ein anderes gereizt wird.
Wie haben nun die einzelnen Autoren die zentrale Disposition gedeutet?
Auf welche Erfahrungen konnen sich ihre Erklarungsversuche stiitzen?
Typisch fiir die materialistische Auffassung. die den meisten Deutungen zu-
grunde liegt, ist die Theorie Jendrassiks. Er sieht die Ursache einer Halluzination
,.in einer Idee, die sich auf vorbereitetem Gelande festsetzt“. Unter dem vorberei-
teten Gelande versteht er ein Gehirnsubstrat, in dem eine oder mehrere Zellen zu
kurze Auslftufer, abnorme Grolle oder Form, unvollkommene chemische Kon-
stitution usw. aufweisen. Infolgedessen bleibt in dem Gehirn eine Assoziation
offen, durch die dauemd Erregungen fliellen, wie durch die insuffiziente Herz-
klappe dauemd Blut flieBt. Liegt diese insuffiziente Stelle im sensorischen Rin-
denl)ezirk, so erzeugt die standig durchflieCende Erregung Halluzinationen, wie
die bei einer stecken gebliebenen Orgeltaste durchstromende Luft Tone erzeugt.
So etwas konnte nur in der Bliitezeit des Materialismus als befriedigende Erkla-
rung gelten. Die Schopfer anderer hierher gehorender Theorien verraten durch
ihre Ausdrucksweise den Anhftnger des psycho-physischen Parallelismus. Horen
wir hierzu Jaspers-, .dedeni psychischen Vorgang denkt man sich einen somatisch-
funktionellen Vorgang zugeordnet. Indem man diese funktionellen V’orgftnge
nicht gerade anatomisch-lokalisatorisch, aber eben doch funktionell-lokalisatorisch
auffadt, steigt man mit der Lokalisation iiber die zentralen Sinnesflftchen hinaus
in die verschiedenen Stationen des Reiches des dem Seelischen Zugeordneten.
Wir konnen zu alldem nur sagen, dall man von jenen funktionell-somatisch zu¬
geordneten Vorgangen nichts we ill und nicht weiti, wie man sie finden konnte;
dad man eine Reihe von psychologischen Unterscheidungen besitzt, die durch
eine solche Zuordnung an Wert nichts gewinnen; dall schlieBlieh solche theore-
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
696
Knichel:
tischen Erw&gungen iniiner fiir einige Fillle ganz plausibel sind, aber nie fiir alle
passen." Beschriinken wir uns darauf, mit einigen Bemerkungen die Unzulang-
lichkeit der einzelnen, hierher gehorenden Theorien aufzuweisen.
Xach der sogenannten zentrifugalen Entstehungstheorie ist eine Halluzina-
tion die Folge einer anormalen Steigerung jenes von Griesinger beschriebenen
„leisen Mithalluzinierens im zentralen Sinnesorgan, das alles Vorstellen begleitet,
von dem dieses eben jenen fiir seine Klarheit und Leibhaftigkeit so unentbehr-
lichen, dem einen Menschen karger, dem andem reichlicher zugemessenen sinn-
lichen Schatz von Farbe, Bild, Klang, jenen Korper von Sinnlichkeit mitbekommt“.
In diesem Sinne definiert Krafft-Eb'nvg : „Eine Halluzination ist die Folge der Er-
regung des Zentralapparates eines Sinnesnerven durch einen adaquaten Vorstel-
lungsreiz, in dem Grade, daB die nach auBen projizierte Erregung desselben die
.Starke einer sinnlichen Wahmehmung erhiilt.“ Wenn man mit dieser Theorie
nichts weiter behaupten will, als eine Halluzination ist eine besonders stark an-
geregte Vorstellung, die infolge der abnormen Intensitat sinnliche Evidenz und
Leibhaftigkeit annimmt, so ist nichts dagegen einzuwenden, aber auch nichts er-
klart. Es soli doch dargetan werden, wie eine tjbererregung des Y’orstellungs-
zentrums, unter der man selbstverstandlich einen rein materiellen Y T organg, einen
gesteigerten, lokal begrenzten .StoffwechselprozeB versteht, es fertig bringt, eine
bestimmte Vorstellung zu erzeugen; wie sie es fertig bringt, auf das Sinneszentrum
fortgeleitet, die der bestimmten Y r orstellung entsprechenden Sinnesqualitaten
zu erregen; wie sie es zuletzt zuwege bringt, daB das Sinnesbild im objektiven
Raum erscheint. Fiir die zentrifugale Theorie sollen sprechen: der Zusammen-
hang zwischen Halluzinationsinhalt und dem den Halluzinanten eigenen Y r or-
stellungskreis, die Tabsache, daB sich manche Halluzinanten dieses Zusammen-
hanges bewuBt werden, die Abnahme der Halluzinationen bei geistigen Schwache-
zust&nden, die Moglichkeit der willkiirlichen Erweckung der Halluzinationen, die
Haufigkeit der Gehorshalluzinationen — die meisten \ T orstellungen verinittelt
die Sprache, also das akustische Sinneszentrum. — Zur weiteren Kritik dieser
Theorie seien nur die Fragen aufgeworfen: Wie entstehen die Perzeptionshallu-
zinationen, die keinen Zusammenhang mit dem Ideenkreis des Individuums auf-
weisen? Wie entstehen Kandinsky s Pseudohalluzinationen, die oft groBere Sinn¬
lichkeit aufweisen als echte Halluzinationen, aber keine Leibhaftigkeit?
Hagen sieht die zentrale Disposition in einer primaren Ubererregung des
Sinneszentrums selbst. Die verschiedensten Vorgiinge konnen dieses in einen
Zustand erhohten nervosbn „Turgors“ versetzen, der das Bestreben hat, sich
peripher zu entladen. Tritt diese Entladung ein, so entsteht eine Halluzination
als „Krampf im sensiblen Nerven, der vollig der YY’illkiir entruckt ist“. Xach
dieser Anschauung waren zwar die Perzeptionshalluzinationen erklarbarer, aber
auch nur diese.
Goldstein faBt auch die zentrale Disposition als einen abnormen Erregungs-
zustand des corticalen Sinneszentrums auf. Zw r ar ist dieses bei jeder Erregung
der Vorstellungsspluire auch in einer gewissen Erregung, woraus sich das normale
Mithalluzinieren Griesingers und die Bezieliung des Halluzinationsinhaltes zum
Y 7 orstellungsleben erklaren soil. Aber mit der Erregungssteigerung in der Vor-
stellungsregion wiichst nicht die Erregung in der Sinnesregion, da es sich in beiden
um ganz verschiedene Erregungsformen handelt, die nicht ineinander iibergehen
konnen. Gerade das Gegenteil ist der Fall: Je intensiver die Erregung im Y’or-
stellungsgebiet, um so abstrnkter das Denken, d. h. um so weniger sinnliche Be-
standteile aus dem Sinneszentrum klingen mit an. Das beruht auf der Abhangig-
keit der beiden Erregungsformen, von der alien Tatigkeiten im Organismus zu-
grunde liegenden, konstanten „nutritiven Erregung' 1 . Je groBer die Erregung
in der Y’orstellungssphiire, um so mehr Energie verbraucht sie, um so weniger
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Zur Frage der Halluzinations-Theorie.
697
kann der Sinnesregion zugeflihrt werden. Fallen Vorstellung und Wahmehmung
fort, z. B. beim Einschlafen, so bendtigt das Vorstellungszentrum weniger Energie,
die jetzt dera Sinnesgebiet zugute kommt, in dem deshalb die sinnlichen Bestand-
teile lebhafter erregt werden, unter Umstanden so lebhaft, daB hypnagoge Hallu-
zinationen und Trftume entstehen. Wird der Energieverbrauch im Sinneszentrum
gesteigert durch einen KrankheitsprozeB, funktionelle Cberanstrengung usw., so
ist das die letzte Ursache der Halluzination. Durch den Sitz und die Ausdehnung
eines Erw'eichungsherdes z. B. ist nach Goldstein der Inhalt einer Halluzination
bestimmt. Die in der EinfluBsphare dieses Erweichungsherdes liegenden „Merk-
systeme“ werden halluzinatorisch erregt, wenn die Erregung einen gewissen Grad
erreicht hat; werden so erregt, wie sie der ehemalige Sinneseindruck geschaffen
hat, wenn sie der Erweichungsherd noch nicht zum Zerfall gebracht hat; ist letz-
teres der Fall, so werden nur noch Bruchteile eines friiheren Sinneseindruckes
halluziniert. Diese Auffassung kommt der Anschauung Jendrassiks sehr nahe.
Ubrigens glaubt Goldstein, durch die Halluzinntionen im Fieberdelirium einer-
seits und die gleichzeitige Verwirrtheit im Denken anderseits sei bewiesen, daB
eine Ubererregung des Sinneszentrums eine Untererregung des Vorstellungs-
zentrums zur Folge habe. Er fiihrt also die Verwirrtheit auf eine Untererregung
im Vorstellungszentrum zuriick. Ganz abgesehen davon, daB man Denken nicht
einfach gleich Vorstellen setzen kann, weist Riilf mit Recht darauf hin, daB gerade
das von Goldstein selbst gew&hlte Beispiel zeige, auf wie schwachen FiiBen die
ganze Theorie stehe; denn die Verwirrtheit des Deliranten kann doch hochstens
durch eine abnorme Ubererregung imd nicht Untererregung erklart werden.
Kahlbaum glaubt, Halluzinationen konnten sowohl durch primtire Erre¬
gung der Sinnesregion als auch durch Reize vom Vorstellungszentrum her ent¬
stehen. Aber auch diese Theorie erklart neben so manchem anderen nicht das
Entstehen der Pseudohalluzinationen. Kraepelin, ein Anhfinger dieser Anschauung.
sucht sie folgendermaBen zu erklaren: Ist das Sinneszentrum nicht erregt, aber
der vom Vorstellungszentrum kommende Reiz (Reperzeption) sehr stark, so ent¬
stehen Vorstellungen von abnormer Sinnlichkeit (Pseudohalluzinationen). Befindet
sich die Sinnesregion von vornherein in abnormer Erregung und ist die Reper¬
zeption sehr schwach, so resultiert eine echte Halluzination, als Grenzfall eine
Perzeptionshalluzination, wenn namlich die Reperzeption gleich Null ist. Riilf
fragt mit Recht: Sollte nicht gerade das Umgekehrte wenigstens die Pseudo-
halluzination besser erklaren? Das Wesentliche an dieser ist doch die abnorme
sinnliche Deutlichkeit, und diese kann ihr im Sinne dieser Autoren doch nur
durch eine moglichst starke Erregung des Sinneszentrums werden.
Diese Ausfiihrungen zeigen geniigend, daB keiner dieser Autoren eine Formel
gewinnt, nach der alle Halluzinationsformen eine befriedigende Erklarung fin-
den, selbst wenn man einmal das, was sie als zentrale Disposition deuten, ohne
ihre Deutungen durch Tatsachen erharten zu kdnnen, kritiklos akzeptiert. Doch
noch ein Wort zu diesen zum groBten Teile rein hypothetischen Voraussetzungen.
Alle operieren mit dem Begriff der Lokalisation von Sinnes- und Vorstellungs-
tatigkeit. Was wissen wir dariiber? Wundt glaubt, daB urspriinglich alle Teile
ties Gehirns indifferent wfiren und erst durch die Tatigkeiten spezifiziert wiirden.
Er stiitzt sich dabei auf die Evolutionstheorie und auf die Erfahrung, daB ver-
letzte Rindengebiete in ihrer Funktion allmiihlich durch andere ersetzt werden.
Andere geben eine gewisse Differenzierung der Gehimspharen zu, glauben aber,
daB eine bestimmte Abgrenzung nicht vorliegt, sondem daB dasselbe Sinnes¬
zentrum sich in verschiedene Gebiete erstreckt. Immer mehr setzt sich Flechsigs
Anschauung durch, nach der den spezifischen Sinneswahmehmungen auch eigene
Gehimspharen, wenn auch nicht mit mathematischer Bestimmtheit und Begren-
zung entsprechen; nach der auch den inneren Wahmehmungen, die von Ge-
Digitized by Goe)gle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
698
Knicbel:
Digitized by
dachtnis und Phantasie erzeugt werden, bestimmte Rindenbezirke — Assozin-
tionszentren — zukommen. So sehr fiir diese Auffassung die Ffille von Seelen-
blindheit und -taubheit usw., die Embryologie und vergleichende Anatomie
sprechen, so glauben doch Forscher wie Ranke und Lob, dab noch niclits Sicheres
iiber die Lokalisation gesagt werden konne. Fine andere Ansicht, die noch von
Philosophen und auch Physiologen vertreten wird, lautet: Wenn es auch auf
Grand phvsiologischer Tataachen feststeht, dab die Sinne ohne Verbindung mit
dem Gehirn ihre Funktion nicht verrichten konnen, so sind doch nicht gewisse
Rindenregionen als eigentliche oder einzige Statten der Empfindung aufzufassen.
Die peripheren Sinnesfliichen sind auch oder vielmehr die einzigen Statten der
Empfindung. So sagt der Philosoph und Physiologe Rohmer: „Nichts finde icli
in den physiologischen Lehrbiichem sinnverwirrender, als die Retina als das
Organ der Gesichtsempfindung genannt und daneben die Behauptung zu horen,
es seien doch eigentlich die Gehirnganglien das empfindende Organ. So sehr
sind hier alle exakten Begriffe abhanden gekommen, dab man gar nicht iuehr
inerkt, wie man in diesen beiden Darstellungen zwei grandverschiedene Behaup-
tungen vor sich hat, von denen jede ganz verschiedene Anforderangen an eine
Theorie der Sinneswahrnehmungen" (und auch der Halluzinationen) „stellen
mub.“ Die Vertreter dieser Ansicht stiitzen sich auf die Tatsache, dab Knochen-
fische keine Gehirnrinde besitzen, aber eine der unsem fthnliche Netzhaut, die
Gesichtsempfindungen also im Organ selbst stattfinden miissen. Femer stiitzen
sie sich auf das Zeugnis des Bewubtseins, das das Sehen ins Auge, das Schmecken
in den Mund und nicht ins Gehirn verlegt. An die von Lotze aufgestellte Theorie
der Lokalzeichen, die diese psychische Lokalisation der Empfindung erkliiren
soil, vermogen diese Autoren nicht zu glauben. Es soil hier nicht der Wert oder
Unwert der verschiedenen Ansichten dargetan werden. Es sollte nur darauf
hingewiesen werden, wie sehr noch die Ansichten iiber die Lokalisation von
Wahrnehmungen und Vorstellungen auseinander gehen. Wenn aber noch nicht
einmal diese Grundfrage eindeutig beantwortet werden kann, so ist. es sicherlioh
verfehlt, sich auf eine bestimmte Auffassung beziiglich der physiologischen Ver-
haltnisse in den verschiedenen Rindenzentren festzulegen; dem einen fiir ge-
wohnlich eine hohere Ansprechbarkeit zuzuschreilien als dem andern oder eine
andere Erregungsform oder fiir die verschiedenen LeitungBrichtungen verschiedene
Leitungswiderstande anzunehmen. Es liegt bisher nicht die geringste Veran-
lassung dazu vor, die gegenseitige Beeinflussung der Gehirnganglien in irgend-
einer Weise einzuschranken, es sei denn, uni eine Theorie zu konstruieren, die
doch nicht ihren Zweck erfiillt.
Fest steht nur: Halluzinationen entstehen in der Gehirnrinde, wenn dort
anormale Verh<nisae herrschen. Die Erregung des peripheren Sinnesapparates
ist nicht notig. Sinnes- und Vorstellungszentren sind bei dem Zustandekommen
der Halluzination initbeteiligt. Vorstellungen und Wahrnehmungen kommen
nur zustande, wenn die beiden Regionen funktionsfahig sind; wie sie auf Grand
der physiologischen Vorgiinge in diesen Regionen entstehen, ist nicht restlos
erklarbar. Nicht zu erkliiren ist, wie Vorstellungszentrum und .Sinnessphare zu-
sammenarbeiten, wie der psychisclie Gehalt der Halluzination zu sinnlicher Deut-
lichkeit und l^eibliaftigkeit kommt. Der tiefste Grand fiir die Unzul&nglichkeit
all dieser Theorien liegt in der Unmoglichkeit, den psychischen Gehalt der Hallu¬
zination aus somatischen Verhftltnissen zu erkliiren, und wie wenig Aussicht
besteht, dieses Unniogliche jemals moglich zu machen, moge uns Dubois-Reymond
sagen: „Durch keine zu ersinnende Anordnung oiler Bewegung materieller Teil-
chen liibt sich eine Briicke ins Bewubtsein schlagen. Bewegung kann nur Be¬
wegung erzeugen <Kler in potentielle Energie zuriick sich verwandeln. Potentielle
Energie kann nur Bewegung erzeugen, statisches Gleichgewicht erhalten. Druck
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Zur Frage der Halluzinations-Theorie.
699
oder Zug iiben. Die Summe der Energie bleibt daher stets dieselbe. Mehr ala
dieses Geaetz bestimmt, kann in der Korperwelt nicht geschehen, auch nicht
weniger. Die mechanische Uraache geht rein auf in der mechaniBchen Wirkung.
Die neben den materiellen Vorgftngen im Gehim einhergehenden geistigen Vor-
gange entbehren fiir unseren Verstand des zureichenden Grundes. >Sie stehen
auBerhalb des Kausalgesetzes, und darum schon Bind sie nicht zn verstehen.“
Da sich Halluzinationen nicht nervenphysiologisch in dem Sinne erklftren
lassen, wie man etwa Atmung und Verdauung auf Grund der physiologischen
Verhaltnisse im Respirations- und Intestinaltraktus erklftren kann, begniigt man
Bich vor allem in neuerer Zeit mit einer psychologischen oder psycho-patholo-
gischen Deutung. Man versucht darzutun, welcher von den psychiBchen Vor-
gangen und in welcher Weise dieser abgeftndert sein muB, damit eine Halluzina-
tion resultiert. DaB liier der Widerstreit der Meinungen ungleich groBer ist ala
bei den Theorien, die auf dem eben erorterten Erklftrungsprinzip beruhen, ergibt
sich aus der Natur der Methode, auf die die Psychologen bei der Zusammen-
fassung ihres Tatsachenmaterials unter allgemeinen Gesichtspunkten angewiesen
sind. Das Material wird den Psychologen durch das BewuBtsein geliefert. Dieses
bietet aber immer nur fertige und einfache Tatsachen. Nichts von den einzelnen
Faktoren, die einen bestimmten BewuBtseinsinhalt bedingen, nichts von der Art, wie
diese zusammenwirken, meldet das BewuBtsein. Auf Grund dieses Sachverhaltes
ist man auf die sogenannte genetische Methode angewiesen. Man leitet aus den
einfacheren BewuBtseinsinhalten das Zustandekommen der komplizierteren her.
Da sich aber der gesamte BewuBtseinsinhalt so nicht erklftren lfiBt — die ein-
fachsten Inhalte, oft Empfindungen gcnannt, sind nicht aus den sie begleitendeu
Nervenfunktionen zu erklftren, die Gedanken sind nicht lediglich das Resultat
zusammenwirkender Empfindungen —, muB die Psychologie immer die Resultat©
der Metaphysik zur Erklftrung heranziehen. Aus dieser Abhftngigkeit von der
Metaphysik resultiert die Mannigfaltigkeit in den Versuchen, Halluzinationen
psychologisch zu erklftren. Da es nicht unsere Absicht sein kann, die einzelnen
philosophischen Systenie auf ihre Richtigkeit zu priifen, kdnnen wir auch darauf
verzichten, zu den einzelnen hierher gehorenden Theorien Stellung zu nehmen.
Wir wollen uns darauf beschrftnken, im Zusammenhang dasjenige anzufiihren.
was von seiten der Psychologie zur Klftrung des Halluzinationsproblems gesagt
werden kann.
Halluzinationen sind Vorstellungen, die auf Grund abnormer Betatigung
psychischer Vermogen sinnliche Deutlichkeit und Leibhaftigkeit annehmen. Vor¬
stellungen sind Reproduktionen von Sinneswahrnehmuagen, ohne daB deren
Objekt noch gegenwartig ist und unsere Sinnesapparate reizt. Goldstein glaubt
bewiesen zu haben, Sinneswahmehuiungen und Vorstellungen seien prinzipiell
gleiche psychische Phftnomene und folgert daraus: ,,Halluzinationen sind in jeder
Beziehung den Walirnehmungen gleiche psychische Vorgftnge 14 . Beide, Vorstel-
lung und Wahrnehmungstatigkeit, sind aber real verschieden: eretens weil ihr
Formalobjekt verschieden ist, d. h. die Art, wie sie ihr Materialobjekt auffassen,
dieser Priifstein fiir die spezifische Identitftt oder Verschiedenheit von psvchi-
schen Akten und Kraften. Die ftuBeren Sinne nehmen ihre Objekte nftmlich
immer als wirkliche, leibhaftige, im objektiven Raum liegende wahr. Es ist das
transzendente, logische Moment, durch das sich der Wahmehmungsakt wesent-
lich von dem Vorstellungsakt unterscheidet, der seine Objekte als unwirkliche,
bildhafte, im subjektiven Raum liegende auffaBt. Goldstein hat nicht recht,
weim er glaubt, die unmittelbare Beziehung auf die AuBenwelt l&ge nicht im
Wahmehmungsakt selbst, sondem sei die Wirkung eines sich anschlieBenden,
blitzschnell vollziehenden SchluBverfahrens, das sich stiitze auf die Gesamtheit
unserer friiheren und augenblicklichen, inneren und ftuBeren Erlebnisse. Woher
Archiv fUr Psychiatric. Bd. 67. 46
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
700
Knichel:
Digitized by
soli iiberhaupt der Begriff des AuBenseins kommen, wenn nicht durch den Wahr-
nehmungsakt als solchen? Goldstein will dock nicht den fundamentalen Satz
umstoBen: Nihil est in intellectu quod non prius fuerit in sensu. Das Formal-
objekt beider psychischer Ttttigkeiten unterscheidet sich aber auch insofem, als
die Vorstellungstatigkeit die Qualitaten aller iiuBeren Sinne erf as sen kann, wah-
rend diese auf ganz bestimmte angewiesen sind; das Auge auf die Farbe. das Ohr
auf die Tone, die Nase auf den Geruch usw. Beide unterscheiden sich aber auch
vor dem BewuBtsein. Vor ihm sind sie so real verschieden wie Ursache und Wirkung.
Wie entstehen nun normalerweise Vorstellungen ? Alles, was sich eirnnal
im BewuBtsein abgespielt hat, hinterlaBt ein Residuum. Ob wir diese mit Her-
bart als die im UnterbewuBtsein fortdauernden, ehemals bewuBten Akte selbst
oder als latente psycho-physische Dispositionen auffassen miissen, soli bier dakin-
gestedt bleiben. Vermittels der Reproduktionsfahigkeit des Gedachtnisses und
der Phantasie treten diese Residuen wieder ins BewuBtsein. Die Reproduktion
kann spontan oder willkiirlich verlaufen. Die spontane vollzieht sich, indem ein
momentaner BewuBtseinsvorgang einen friiheren weckt durch die Beziehung.
in der er zu diesem steht. Diese Beziehung kann eine raumlich-zeitliche oder die
der Ahnlichkeit und Unahnlichkeit oder eine logische sein. Die willkiirlicke Re¬
produktion folgt densell>en Gesetzen der raumlich-zeitlichen und Ahnlichkeits-
assoziation oder der logischen Verkniipfung wie die spontane, nur vollzieht
sie sich auf Veranlassung des Widens hin, auflerdem stlitzt sie sich
auch mehr auf die logische Verbindung. Normalerweise verlauft die Vor¬
stellungstatigkeit in harmonischer Wechselwirkung mit den anderen psychischen
Akten. Das reflexe SelbstbewuBtsein und die davon abhangige freie Willens-
bestimmung liemmen die spontane Phantasietatigkeit. Gemiitsbewegungeu,
worunter wir den gesamten Komplex von Gefiihlen, Trieben, Neigungen, Stim-
mungen, Interessen, Affekten, Leidenschaften verstehen, regen sie an. Stark
gefiihlsbetonte Vorstellungen und Wahrnehmungen regen unsere Phantasie auf.
So 16Bt ein schauerliches Erlebnis sie oft noch nicht im Schlafe zur Ruhe kom-
men. Auch uncharakteristische Wahrnehmungen, monotone Gerausche, ver-
schwommene Wolken und Nebelgebilde regen unsere Gefiihle und mittelbar die
Phantasie an, weil diese den Verstand und Willen kaum zur Betatigung veran-
lassen. Insofern ist der Wegfall von Wahrnehmungen im Schlaf mit eine Ur¬
sache zum Zustandekoinmen des Traumes, da Verstand und Wide keine Betati¬
gung finden, und die spontan sich entwickelnden Gefiihle und Vorstellungen
die Szene beherrschen. Kehren wir nach dieser etwas eingehenderen Betrachtung
des normalen Vorstedungsverlaufes zum Halluzinationsproblem zuriick. Will
man von seiten der Psychologie eine auf alle Haduzinationsformen anwendbare
Fonnel aufstellen, so kann man auch nur ganz allgemein sagen: „lst die normale
Wechselwirkung zwischen den psychischen Akten zugunsten der Phantasie ge-
stort, so besteht eine psychische Disposition fiir die Umwandlung einer Vor-
stellung in eine Halluzination.“ Wie im Einzelfalle die psychische Konstellation
ist, wodurch die starke Betonung einer bestiminten Vorstellung, die sie zur Hal-
luzination verdichtet, entsteht, kann nicht immer angegeben werden. Indes
zeigen die gleich anzufiihrenden jjsychologischen Erfahrungen, daB sie meistens
erfolgt durch die Verkniipfung von Vorstellung mit einem das ganze BewuBtsein
ausfiillenden Gefiihl, wodurch gleichsam reflexe Selbstbesinnung und freier Wide
zur Unt&tigkeit und Abh&ngigkeit verurteilt werden.
1. Kinder. Frauen und Kiinstler werden in weit hoherem Grade von Ge-
fiikl und Phantasie beherrscht als Erwachsene, Manner und Gelehrte, bei denen
.Verstand und Wide den spontanen Verlauf jener mehr ziigeln. Nun steht es
fest. daB die Vorstellungen jener durchschnittlich eine groBere sinnliche Leb-
haftigkeit aufweisen als die Vorstellungen dieser. Infolge der unbeherrschten
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Zur Frage der Halluzinations-Theorie.
701
Phantasie falscht das Kind seine Beobachtungen, ha.lt es Einbildungen fiir Wirk-
lichkeit, belebt es seine Puppen (Kapitel der Kinderluge). Gerade von phantasie-
tiichtigen Kunstlern wird berichtet, daB sich unter dem EinfluB der Phantasie
ihre Vorstellungen in Halluzinationen verwandelt haben. Tieck soil eine Hallu-
zination gehabt haben, als er in freudiger Erwartung seiner Braut entgegen ging;
Goethe bei seinem aufregenden Ritt nach Sesenheim.
2. Lebhafte Phantasietfttigkeit verstarkt das illusionare Element, das sich
schon in unsern normalen Wahmehmungen mehr oder weniger findet. Die Ver-
liebte sieht ihren Br&utigaiu anders aLs die Unbeteiligte, und die Verschmfihte
wieder anders als diese beiden. Der Angstliche halt im Dunkeln ein weiBes Tuch
fiir ein Gespenst (Erlkonig). Nun verwirft man in neuerer Zeit die von Esquirol
gemachte scharfe Trennung der Illusionen von Halluzinationen ( Starring und
Dyroff). Riilf sieht in jeder Illusion ein halluzinatorisches Element. Uhthoff
berichtet von Fallen, bei denen anfangs Illusionen bestanden, falsche Deutungen
von Glaskorpertriibungen, die dann in komplizierte Halluzinationen iibergingen.
Engel, Menschen, die bei einer Patientin auch auf dem enuclliierten Auge hallu-
ziniert worden. Nach Fauser haben beide dieselbe Genese: „Uberall wo die aktive
geistige Tatigkeit und das Gefiihl davon zeitweise, bei stiirkeren Affekten, oder
dauernd, bei Dementia praeeox, zurucktritt, werden die assoziativen Funktionen
uber die apperzeptiven iiberwiegen und wird ein entsprechend groBerer Teil der
subjektiven psychischen Prozesse den Charakter rein passiver Erlebnisse anneh-
men, der sie damit mit dem auBeren WahrnehmungsprozeB auf eine Stufe stellt,
und so inneren Erlebnissen die Bedeutung von auBeren Wahmehmungen, von
Ninnestauschungen verleihen kann.*‘ Auch Jaspers , der wohl am scharfsten den
Unterschied zwischen Halluzination, Pseudohalluzination und Illusion betont,
bezweifelt, ob dieser auf die Dauer aufrechterhalten werden kann. „Vorlaufig
gebrauchen wir ihn (Unterschied) noch als Werkzeug zur Charakterisierung der
I’hanomene, und vielleicht wird auch gerade in der Opposition zu ihm die Be-
obachtung der Sinnestauschungen, die schon lange nichts Neues gebracht hat,
angeregt.“
3. Wie rasch die Umwandlung des Vorstellungscharakters in den Wahr-
nehmungscharakter sich vollzieht, sobald die Phantasie und die Gefiihle nicht
mehr so stark der Kritik der Vernunft und dem EinfluB des Willens unterliegen,
zeigen die hypnagogen Halluzinationen und Traume. Im Traume wirft sich die
Phantasie zur Beherrscherin unserer Seelenkriifte auf und beeinfluBt sie nuch
den rein psychologischen Gesetzen der Assoziation, der Ahnlichkeit und Un-
iihnlichkeit, der r¨ichen und zeitlichen Verkniipfung. Nebenbei sei bemerkt,
daB auch beim Traume jene zentrale Disposition vorhanden ist, die wir oben
fiir das Zustandekommen : der Halluzination fiir notig erachteten. Worin sie aller-
dings bestehe. wissen die Physiologen auch hier nicht genau anzugeben. Preyer
sieht sie gegeben in der Anhfiufung von Eimiidungsstoffen, von Kohlen- und
Milchsiiure im Gehirn. Mosso in Turin hat mittels einer Wage nachgewiesen,
daB die Gehimrinde im Schlafe weniger Blut enthfilt. Parkinje nimmt an: die
einzelnen Rindenzellen verloren beim Einschlafen den gegenseitigen Kontukt
durch Verkiirzung ihrer Ausluufer. Salmon in Florenz sieht die Ursache des
Schlafes in einer vermehrten Bromausscheidung der Hyjx>physe. WiUems meint,
tier primare Faktor sei der Wegfall der Sinneswahrnehmungen, der dann die
eben aufgezkhlten physiologischen Faktoren ausloste, die wohl alle beim Zustande-
kommen des Schlafes initwirkten. Welches auch immer die physiologischen Yer-
hiiltnisse der Hirnrinde wahrend des Schlafes und Traumes sind, es ist schon
wertvoll genug, daB wir wisesn, daB es andere sind als im Wachzustande. Die
Streitfrage, ob Triiume Illusionen oder Halluzinationen sind, verliert an Bedeu¬
tung, sobald die strenge Scheidung zwischen diesen nicht mehr aufrecht ge-
46*
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
702
Knichcl:
Digitized by
halten werden kann. Die Tatsache, daB wir im Traume manchnial wissen, daB
wir traumen, also ein richtiges Realitatsurteil fallen, weist auch auf die prin-
zipielle Gleichlieit von Traum und Halluzination hin; beide wachsen auf dem
Boden derselben psychischen Disposition. 1st die Verstandestatigkeit bei beiden
gleich Null odcr steht sie ganz im Dienste der Phantasie, so ist ein Erkennen
der Subjektivitat der Traume und Halluzinationen ausgeschlossen; hat sie sicli
aber noch eine gewisse Kraft und Selbstandigkeit bewahrt, so werden diese als
subjektive Phanomene erkannt, ohne daB sie deshalb ihre Leibhaftigkeit einzu-
biiBen brauchen. Worauf diese Leibhaftigkeit beruht, ist, wie schon oben be-
tont, nicht zu erweisen. Das BewuBtsein sagt uns nicht, von der Tatigkeit welchen
Nerventeiles es abhangt.
Die prinzipielle Gleichheit von Traumen und Halluzinationen, die Berechti-
gung der Auffassung, daB eine der Beeinflussung von Verstand und Wille ent-
zogene Vorstellung sinnliche Deutlichkeit und Leibhaftigkeit annehmen kann,
erweisen sehr deutlich die Verhiiltnisse im kiinstlichen Schlaf, der Hypnose, vor
allem die posthypnotischen Halluzinationen und der der hypnotischen Lethargie
und Katalepsie sehr ahnliche Zustand der Hysterie. Von Bedeutung ist, daB in
diesen Zustanden das BewuBtsein nicht so stark verandert ist wie im Schlafe.
Die Hypnotisierten und noch mehr die Hysterischen wissen von dem, was in
ihnen und um sie vorgeht, wenn auch nicht in dem MaBe wie ein Normaler. Nur
ihr reflexes SelbstbewuBtsein und die von ihm abhangige freie Willensbestim-
mung ist mehr oder weniger abgeschwiicht. Die Phantasie beherrscht die Innen-
welt und ihr organisches Korrelat, die Gehirnrinde. Was die Phantasie auf GeheiB
des Experimentators oder sonstigen Faktors vorstellt, wird mit Hilfe des Ner-
vensystems verwirklicht. Ein wirklich einwirkender Schmerz wird nicht gefiihlt,
ein wirklich vorhandener Mensch wird nicht gesehen, oder umgekehrt: nicht
Vorhandenes mit sinnlicher Deutlichkeit und Leibhaftigkeit wahrgenommen.
„Binet suggerierte einer Person, sie werde beim Erwachen einen anwesenden
Herrn nicht sehen. Aus der Hypnose erweckt, sah sie den Herrn tatsfichlich
nicht, obwohl er vor ihr stand. Als sie in ihr Zimmer zuriickkehren sollte, stellte
der Herr sich zwischen sie und die Tur; sie stieB auf ihn, ohne ihn zu sehen und
erfuhr nur einen unbegreiflichen Widerstand. Man nahin einen Hut vom Tisch,
lieB die Person diesen sehen und fiihlen und setzte ihn dem Herrn auf den Kopf.
Die Versuchsperson sah diesen gleichsam in der Luft schweben (Willems)." Als
Gegenstiick dieser negativen Halluzination ein Beispiel von einer positiven.
Janet berichtet von drei hysterischen Personen, die im Wachzustande unmittel-
bar jede Halluzination erleben. Der einen sagte er, ein Elefant sei ins Zimmer
getreten. Sofort geht sie ihm aus dem Wege, um ihm Platz zu machen, reicht
ihm Brot, damit er es mit dem Russel fasse.
4. Auch die Hiiufigkeit der Halluzinationen nach Haschisch- und Opium-
genuB, bei Alkohol-Affekt- und paranoiden Psychosen, der Charakter der west-
falischen und schottischen Hellseher sprechen fiir die hier gescliilderte psycho-
logische Deutung des schwierigen Problems.
Es wird nun noch von cinigen seltenen Fallen berichtet, bei denen gerade
durch einen besonders intensiven Willensakt Vorstellungen groBere Sinnlichkeit
und sogar Leibhaftigkeit erlangt haben. Goethe erziihlt, daB er sich willkiirlich
eine Blume vorstellen konnte, so daB diese Bild, Gestalt und Farbe bekam. Leo¬
pold Schefer konnte Tone jedes Instrumentes willkiirlich horen. Die schon er-
wahnte Patientin Uhthoffs vermochte willkiirlich ihre friiheren Halluzinationen
zu erneuem. Man hat vielfach bestritten, daB es sich in diesen Fallen um echte
Halluzinationen handele, oder wenigstens nicht zugegeben, daB sich die Vor¬
stellung unter dem Einflusse des Willens zur Halluzination umwandelte. Gerade
der Fall Uhthoffs laBt auch folgende Deutung zu: der Wille regte, seiner normalen
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Zur Frage der Halluzinations-Theorie.
703
F&higkeit entsprechend, die Vorstellung, die schon oft halluziniert wurde, an.
Einmal ins BewuBtsein getreten, erhiilt sie wieder ihre abnorme Gefiihlsbetonung
und wird so zur halluzinatorischen Wahrnehniung. Doch wodurch die Vorstellung
auch in dem einzelnen Falle ihre anormale Intensitat erhalt, in der allgemeinen
Fassung kann der Satz aufrechterhalten werden: Eine psychische Disposition
fur das Zustandekommen von Halluzinationen ist gegeben, sobald die normale
Wechselwirkung zwischen den verschiedenen BewuBtseinsakten zugunsten der
Vorstellungskraft gestort ist. Das klingt sehr allgemein und nichtssagend. Aber
mehr kann nicht behauptet werden, wenn es fur alle vorkommenden Halluzina¬
tionen giiltig sein soil; denn wie will man es z. B. erldfiren, daB mancher Hallu-
zinant durchaus kein abnormes psychisches Verhalten an den Tag legt, keine
Abschwachung der Urteils- und Willenskraft, keine gesteigerte Phantasietatig-
keit aufweist; daB der aus der Hypnose Erwachte sich genau so normal verhiilt
wie vor dem Experiment; und doch driingt sich plotzlich zu der vom Hypnotiseur
bestimmten Zeit eine bestimmte Vorstellung, an die die Versuchsperson unter
Umstanden wahrend der ganzen Zeit nicht im geringsten gedacht hat, init der-
artiger Intensitat ins BewuBtsein, daB sie zur Halluzination wird. Wo kommt
diese Intensit&tssteigerung her? Warum tritt sie in dem bestimmten Augen-
blick auf? Mit anderen Worten: Die Psychologie ist nicht imstande anzugeben,
welche psychische Konstellation, welches Intensit&tsverh<nis unter den zahl-
losen, bewuBten und unbewuBten, sinnlichen und geistigen Elementen unserer
Seele bestehen muB, damit sich eine bestimmte Vorstellung zur Halluzination
verdichtet, ebensowenig wie die Physiologie angeben kann, wie die Gehimatome
gelagert sein miissen, damit eine Halluzination von bestimmtem Inhalt resultiert.
Aber selbst wenn dieses letzte Ziel physiologischer und psychologischer Forschung
erreicht ware, bliebe immer noch das groBe Rfitsel zu losen: Wie wirken Gehirn-
rinde und Psyche zusammen? Warum geht die mechanische Ursache nicht rest-
los auf in der psychischen Wirkung? Mit andem Worten: Es miiBte noch das
tiefste aller Probleme, das der psycho-physischen Natur des Menschen gelost
werden, ein Problem, von dem es im „Faust“ heiBt: Noch niemand konnt’ es
fassen, wie Leib und Seel’ zusammen passen. So tief wie dieses Problem ist auch
letzten Ende das Halluzinationsproblem, und so verschieden die metaphysischen
Deutungen der Natur des Menschen, so mannigfach sind die Erklarungsversuche
des psycho-physischen Phanomens der Halluzination.
Literatur-Angabe.
Bertschinger: Etwas iiber Halluzinationen. Allg. Zeitschr. f. Psychiatr. u.
psych.-gerichtl. Med. 74. — Eakuchen: Uber halbseitige Gesichtshalluzinationen
und halbseitige Sehstorungen. Inaug.-Dissert. Heidelberg 1911. — Earner: Aus
der Psychologie der Sinnestiiuschungen. Arch. f. Psychiatr. u. Nervenkrankh. 49.
— Grashey: t)ber Halluzinationen. Munch, med. Wochenschr. 1893. — Gold¬
stein: Zur Theorie der Halluzinationen. Arch. f. Psychiatr. u. Nervenkrankh.
1911. — Hagen: Zur Theorie der Halluzinationen. Allg. Zeitschr. f. Psychiatr. u.
psych.-gerichtl. Med. 25. — Herzig: Bemerkungen zu den bis jetzt vorgebrachten
Theorien der Halluzinationen. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 1915. —
Hoppe: Erklarungen der Sinnestauschungen. Wurzburg 1888. — Jaspers: Zur
Analyse der Trugwahrnehmungen (Leibhaftigkeit und Realitfitsurteil). Zeitschr.
f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. — Jaspers: Die Trugwahrnehmungen. Zeitschr.
f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 1912. — Jendrassik: Uber die Entstehung der
Halluzination und des Wahns. Neurol. Zentralbl. 1905. — Jolly: Beitrage zur
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
704 Knichel: Zur Frage der Halluzinations-Thcorie.
Theorio der Halluzinationen. Arch. f. Psychiatr. u. Nervenkrankh. 4. •— Kan¬
dinsky: Zur Jjehre von den Halluzinationen. Arch. 1. Psychiatr. u. Nervenkrankh.
1881. — Kandin«lcy: Kritische und klinischo Betrachtungen im Gebiete der Siu-
nestkuschungen. Berlin 1895. — Kahlbautn: Die Sinnesdelirien. Allg. Zeitschr. f.
Psychiatr. u. psych, -gerichtl. Med. 28. — Kratpdin: t v ber Trugwahrnehmungen.
Vierteljahrsschr. f. wissensch. Philos. 5. — Kratpdin: Lehrbuch der Psychiatrie.
5. Aufl. — Leubuseher: t'ber Entstehung der SinnestauBchungen. 1867. — Lotze:
Medizinische Psychologie. 1859. — Loire nstein: Die Zurechnungsffihigkeit der
Halluzinanten nach psychologischen Prinzipien beurteilt. Inaug.-Diss. Bonn
1914. — Meyer: t)ber einseitige Halluzinationen. Inaug.-Diss. Leipzig 1896. —
Niefil v. Mayendorf: Zur Theorie des corticalen Sehens. Arch. f. Psychiatr. u.
Nervenkrankh. 89. — Redlirh: t v ber das Fehlen der Wahmehmung der eigenen
Blindheit bei Geistoskranken. Jahrb. f. Psychiatr. u. Neurol. 29. — Ridf: Das
Halluzinationsproblein. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 1914. — Sander:
Sinnestauschungen. Real-Enzykl. Eulenberg. 18. — Schirmer: Subjektive Licht-
empfindung bei totalem Verlust des Sehvcrmogens durch Zerstorung der Rinde
beider Hinterhauptslapjien. Inaug.-Diss. 1905. — Schroder: Von den Halluzina¬
tionen. Monatsschr. f. Psychiatr. u. Neurol. 1915. — Sokolow: Die experimentelle
Auslosung der Gesichtshalluzination durch periphere Reize. Arch. f. Psychiatr.
u. Nervenkrankh. 55. — Spitzer: Psychologie und Gehirnforschung. Arch. f.
Psychiatr. u. Nervenkrankh. 59. — Stertz: Zum Verstandnis der mangelnden
Selbstwahrnehnningen der eigenen Blindheit. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychatr.
1920. — Stocker: Zur Genese der Halluzinationen. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u.
Psychiatr. 50. — Uhthoff: Bcitrage zu den Gesichtshalluzinationen bei Erkran-
kungon des Sehorgans. Monatsschr. f. Psychiatr. u. Neurol. 1899. — Willems:
Grundfragen der Philosophic und Padagogik. 1. Aufl. — Wundt: Gnindzuge der
physiol. Psychologie.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Biicherhesprechiiiigeii.
W. Spielmeyer, Histopathologie des Nervensystems. 1. Bd. Allgemeiner Teil.
Mit 316 zum groBen Teil farbigen Abbildungen. Berlin, Julius Springer, 1922.
Grundzahl 36: geb. Grundzahl 39.
Seit dem Erscheinen des leider Fragment gebliebenen Atlas der pathologisehon
Histologie des Nervensystems und dem bekanntcn Handbuch der pathologischen
Anatomie des Nervensystems fehlt es uns an einer umfassenden Darstellung der
Histopathologie des Nervensystems. Diese Liicke wird durch das vorliegende
Lehrbuch in gliicklicher Weise ausgefilllt.
Spielmeyer beschert uns mit seiner Histopathologie ein ausgezeichnetes Werk.
In der Einleitung werden Ziele und Wege der Histopathologie des Nervensystems
umrissen. Der erste Abschnitt behandelt die pathologischen Verandcrungen an den
einzelnen Gewebsbestandteilen des Nervensystems, der Ganglienzellen, Nerven-
fasern, der Neuroglia imd des meftodermalen Gewebes. Der zweite Abschnitt ist
den pathologisch-anatomischen Symptomenkomplexen gewidmet, den degenera-
tiven Vorgangen, den zentralen Veranderungen infolge von Zirkulationsstorungen,
der Entztindung und Regeneration. Jodem Kapitel ist ein Literaturverzeichnis bei-
gegeben. Die einzelnen Abschnitte, von einem so grundliohen Kenner und Forscher
der normalen und j»thologischen Histologie des Nervensystems, wie Spielmeyer,
bearbeitet, gewinnen unter seiner klaren und eingehenden Darstellung Leben, mag
es sich um reine Darstellung der Beschreibung oder um kritische Sichtung ver-
schiedenartiger Befunde handeln. FUr alle, die sich mit diesem Arbeitsgebiet be-
fassen, wird das Buch ein zuverlassiger Ratgeber und Ftihrer sein. Dali in der Dar¬
stellung die Probleme, die den Autor besondere interessieren. ausfiihrlicher be¬
handelt sind, ist begreiflich.
Die mit Liebe ausgewahlten und besonders schon reproduzierten zahlreichen
Abbildungen erleichtem die Lekttire und gewahren dem Betrachtenden einen GenuB.
Vornehm ist die Ausstattung des ganzen Werkes, die ihm der Verlag hat zuteil
werden lassen.
Mit groBer Erwartung werden wir dem Erscheinen des speziellen Teils ent-
gegensehen kdnnen. S.
Theodor Kirchhoff, Deutsche Irrenarzte. Einzclbilder ihres Lebens und
Wirkens, Herausgegeben mit Unterstiitzung der Deutschen Forschungsanstalt
ftir Psychiatrie in Miinchen sowie zahlreicher Mitarbeiter. 1. Bd. Mit 44 Bild-
nissen. Berlin, Julius Springer, 1921. Geb. Grundzahl 9.
Das Werk ist auf Anregung Kraepelins entstanden. Dem Horausgeber Kirch-
hoff, der die Hauptarbeit ubernommen hat und von dem eine grfiBere Anzahl Ab¬
schnitte stammen. standen zahlreiche Mitarbeiter zur Seite, von denen jeder
einzelno ein oder mehrere Lebensbilder verfaBt hat. Der erste Band enthalt die
Lebensschilderungen von 47 deutschen Irrenarzten, die gr6Btenteils Ende des 18.
und in den ersten zwei Dritteln des 19. Jahrhunderts ihre Tatigkeit entfaltet ha ben,
und von neun ihrer Vorl&ufer (u. a. Paracelsus, Peter Frank, Gall). Die Verfasser
haben sich liebevoll in die individuelle Eigenart eines jeden einzelnen, in die Art
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
706
Bucherbesprechungen.
ihres Denkens und den Geist ihrer Tatigkeit versenkt. Neben bekannteren Daten,
insbesondere liber Absonderlichkeiten und AuBwuchse auf therapeutischem Gebiet,
enthalt das Buch eine Fiille interessanter Einzelheiten iiber die Macht der die
Kopfe verwirrenden Naturphilosophie im Anfang des 19. Jahrhunderts, der sich
nur wenige zu entziehen vermochten, und die friihzeitige klare Erkenntnis ein-
zelner, die ihrer Zeit vorauseilten, ferner iiber die beginnende Wirkung der exakten
Forschung in der Paychiatrie, schlieBlich iiber die Entwicklung des Anstaltswesens.
Beaondera wertvoll ist die eingekende Erorterung der wissenschaftlichen Tatigkeit
und Wirksamkeit der einzelnen Personlichkeiten, die auafiihrliche Besprechung
ihrer groBeren Werke, die dazu beitragt, dab das Buch eine Art Entwicklungs-
geschichte der deutschen Psychiatrie geworden ist. Die Entwicklung des Anstalts-
wesens in den verschiedenen deutschen Landesteilen ist durch die Lebensschilde-
rung der jeweils dort fiihrenden mid bahnbrechend wirkenden Irrenarzte jener
Zeit besonders beriicksichtigt worden. Die durchweg fliissige Darstellung wird
nur selten durch einige Langen in der Schilderung personlicher Erlebnisse einzelner
gestdrt. Alles in allem liegt ein abgerundetes Werk vor, dessen hervorragende
Ausstattung und Ausschmiickung mit zahlreichen bis dahin meist unbekannten.
Bildern alter Irrenarzte besonders anzuerkennen ist. Eunge, Kiel.
J. Varendonck, t'ber das vorbewuBte phantasierende Denken. Mit einem
Geleitwort von Prof. Dr. J. Freud. Internal, psychoanalytische Bibliotbek.
Bd. XII. Leipzig, Wien, Zurich, Internat. psychoanalytischer Verlag, 1922.
Verfasser hat sich die Aufgabe gestellt, die Mechanismen des vorbewuBten
phantasierenden Denkens aufzudecken. Er unterscheidet zwei Arten des Denkens:
das logische Denken, das der Wirklichkeit entspricht und eine gedankliche Wieder-
gabe von Verbindungen ist, die mis die Wirklichkeit bietet. Dieses arbeitet fUr die
Mitteilung mit sprachlichen Elementen. Das vorbewuBte phantasierende Denken
arbeitet muhelos, sozusagen spontan mit den Erinnerungen. Er beschaftigt sich
ausschlieBlich mit den Tagtraumen Normaler, besonders seiner eigenen. Diese
Phantasien nimmt er fast durchweg als durch Affekte aus dem VorbewuBten
hervorgerufen an. Das willkurliche Denken steht hoher als das vorbewuBte, un-
willkurliche, da bei ihm das Ich die Herrschaft iiber die Affekte besitzt. Im Tag¬
traumen sieht er ein bei alien menschlichen Wesen vorkommendes psychisches
Phanomen, eine spatere Ausdrucksform eines primitiven Vorganges, den man bis
in fruhe Zeiten der physischen Entwicklung zuruckverfolgen kann. Der unbewuBte,
der vorbewuBte und der bewuBte Denkvorgang sind nur drei dem Grad nach ver-
schiedene AuBerungen der gleichen Funktion. S.
S. Ferencyi, PopulUre Yortriige iiber Psychoanalyse. Internat. psychoanal.
Bibliothek. Bd. XIII. Leipzig, Wien, Zurich, Internat. psychoanal. Verlag, 1922.
Diese Vortrage sind fur weitere Kreise bestimmt. In jedem, ob es sich um
Traume, Suggestion, Kriminologie, Philosophie usw. handelt, wird die Psycho¬
analyse verherrlicht, durch die die GesetzmaBigkeiten und Mechanismen im un-
bewuBten Seelenleben entdeckt sind. Zu den standigen Gepflogenheiten dieses
Lobpreisers scheinen die Angriffe gegen die Vertreter der Psychiatrie zu gehoren,
die die psychologischen Gesichtspunkte beim Studium der Geisteskrankheiten
ganz vemachlassigt hatten. S.
Stefan Hollds und S. Ferencyi, Zur Psychoanalyse der paralytischen Geistes-
stdrung. Beihefte der Internat. Zeitschr. f. arztl. Psychoanalyse. Nr. V.
Leipzig, Wien, Zurich, Internat. psychoanal. Verlag.
Ein Versuch, um „zu erkunden, ob einiges von der Symptomatik der Paralyse
mit Hilfe der Psychoanalyse verstandlich gemacht werden kann. Die Folgerungen,.
Digitized by Goe)gle
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Biicherbesprechungen.
707
die gezogen werden, muten mehr als eigenartig an, so wird die manisch-groBen-
wahnsinnige Phase der Paralyse angesehen als eine stufenweise Regression der
narziBtischen Libido zu den tiberwundenen Ichentwicklungsstufen. Die Paralysis
progressiva ist vom psychoanalytischen Standpunkte gesehen eigentlich eine
Paralysis regressiva. Was hier iiber die Iohentwicklung, iiber den „Ichkern“ aus-
gefiihrt wird, diirfte schwerlich auf allgemeine Zustimmung rechnen. S.
L. Ldwenleld, Hypnotlsmus und Medizin. GrundriB der Lehre von der Hyp-
nose und der Suggestion mit besonderer Beriicksichtigung der arztlichen
Praxis. Miinchen u. Wiesbaden, J. F. Bergmann, 1922. Grundzahl 3; geb.
Grundzahl 4.
Lcwen j eld bringt in diesem Werk eine gute Darstellung der fiir den Arzt er-
forderlichen Kenntnisse auf dem Gebiete der Hypnose und der Suggestion, immer
in Hinblick auf ihre Verwertung fiir Heilzwecke. Ein besonderes Kapitel ist der
Technik des Hypnotisierens gewidmet, es enthalt wichtige Ratschlage fiir eine
kunstgerechte hypnotische Behandlung. Die Gefahren der Hypnose hatten viel-
leieht eine starkere Hervorhebung verdient. S.
Ernst Kretschmer, Korperbau und fharakter. Untersuchungen zum konsti-
tutionsproblem und zur Lehre von den Temperaturen. Mit 32 Textabbil-
dungen. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Berlin, Julius Springer, 1922.
(Inzwischen erschien die 3. Auflage, Grundzahl 7,5; geb. Grundzahl 9.)
Das schnell bekannt gewordene Buch Kretschmers, das ausfiihrlich im
64. Bande S. 253 von Runge besprochen ist, liegt in 2. Auflage vor.
Einzelheiten sind verbessert und erganzt, ohne grundsatzliche Anderungen
vorzunehmen. Ein beachtenswerter Versuch, das alte Problem der Beziehungen
zwischen Korperbau und Charakter einer Losung naher zu bringen. Inwieweit
die herausgearbeiteten psychiatrischen Typen und die normalpsychologischen
Temperamentstypen zu Recht bestehen, werden weitere Untersuchungen lehren
miissen. S.
J. H. Schultz, Gesundheitsschadigungen nach Hypnose. Sammlung zwang-
loser Abhandlungen auf dem Gebiete der Xerven- und Gesichtskrankheiten.
Xeue Folge. H. 1. Halle, Carl Marhold.
Es ist verdienstlich, daB J. H. Schultz in dieser hypnosefreudigen Zeit auf die
durch die Hypnose gesetzten Gefahren eindriicklich aufmerksam macht. Auf
Grund einer Sammelrundfrage wird ein Material von 26 Allgemein- und Einzel-
schtidigungen beigebracht. Fast das gesamte Material fallt der Laienschauhypno.se
oder hypnotischen Laienzirkeln zur Last. • S.
Berieht iiber die T&tigkeit des Deutschen Vereins zur Fiirsorge fiir jugend-
liche Psychopathen und seiner Ortsgruppe GroB-Berlin vom 1. Juni 1919
bis 31. Dezember 1920.
Das Bestreben nach Einrichtungen zur Fiirsorge fiir jugendliche Psycho¬
pathen macht sich mehr und mehr geltend. Es ist daher wertvoll, einen Blick zu
tun in diesen von der Geschaftsfiihrung (Ruth von der Leyen) herausgegebenen
Berieht des Deutschen Vereins zur Fiirsorge fiir jugendliche Psychopathen. In dem
Zeitraum vom 1. Juli 1919 bis 31. Dezember 1920 wurden der Ortsgruppe GroB-
Berlin 390 Kinder iiberwiesen. Xachdriicklich werden als Forderungen fiir die all¬
gemeine Psychopathenfiirsorge drei Punkte vorangestellt: engste Zusammen-
arbeit zwischen Arzt und Erzieher, Einheitlichkcit der arztlichen und der erziehe-
rischen Fiirsorge. Es ist interessant zu lesen, wie sich die Ausgestaltung dieser
Forderungen in der Praxis gestaltet. S.
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
708
Bucher besprechungen.
0. MonkeniOiler, Die geistigen Kranklieitszustande des K'ndesalters. Aus
Natur und Geisteswelt 505. Leipzig-Berlin, B. G. Teubner.
Das Buch erfiillt seine Aufgabe, in knapper und gemeinverstandlicher Form
auch weiteren Kreisen einen Einblick in die abnormen peychischen Zustande und
Vorgange des Kindesalters zu gewahrcn, in ausgezeichneter Weise. 3.
Robert Lehmann, Leitladen zur Einfiihrung in das Gesundheits-Turnen.
Dusseldorf, Druckerei und Verlag L. Schwann.
Das mit Abbildungen versehene Heft will oine Anleitung geben, wie in Heil-
statten, Erziehungsheimen, ldndlichen Krankenhausern usw. bei konstitutionell
schwachen und krankheitsgefahrdeten Kindem, bei nervoeen und kraftigungs-
bediirftigen Erwachsenen Leibesiibungen als Heilfaktor Verwendung finden sollen.
Es bildet eine gute Handbabe fur alle Personen, die solche Turniibungen zu leiten
haben. Einfiihrung in das Schulturnen ist sehr zu wiinschen. Auch die Bedeutung
der Klappuchen Kriechiibungen in der Gesundheitsgymnastik wird hervor-
gehoben.
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Autorenverzeiclmis.
Originalien.
Abderhalden, Emil. Richtigstellung zu
„Die Bedeutung der Abderhalden-
schen Reaktion fiir Psychiatrie und
Nervenkrankheiten nack dem keu-
tigen Stande unserer Kenntnisse"
von Max Kastan. S. 352.
Berger, H. Otto Binswanger zura 70.
Geburtstag. Vor S. 137.
Daffner, Hugo. Zur Psyckopathologie
der Konigsberger Mucker. S. 151.
Fischer, Siegfried. Die sogenannten Be-
wuBtseinsstorungen. Eine psycho-
pathologische Untersuchung. S. 537.
Ganter, Rudolf. t)ber die Dicke und das
Gewiclit des Schfideldaches bei Epi-
leptischen und Schwachsinnigen. S. 13.
llberg, Georg. Sigbert Ganser, zuin
24. Januar 1923. S. 357.
— Multiple Verodungen in der Him-
rinde. (Herm Geheimen Medizinalrat
Dr. Ganser zum 70. Geburtstage.)
S. 363.
Jakoby, Kurt. t)ber die Indikationen
zu hirndruckentlastenden Operatio-
nen. S. 20.
Knichel. Zur Frage der Halluzinations-
Theorie. S. 690.
Lapinsky, Michael. Zur Frage iiber den
Mechanismus der (sogenannten Wur-
zel-)Xeuralgie des N. ischiadicus.
8. 600.
Lubarsch, 0. Uber die Ablagerung ei-
senhaltigen Pigments im Gebim und
ilire Bedeutung bei der progressiven
Paralyse. S. 1.
Marquard, Kurt. t)ber ungewohnbcb
lokalisierte Encephabtisformen nacb
Grippe. Mit einem Beitrag iiber das
Symptom der Adiadochokinese. S. 84.
Med mo, W. BewuBtseinstriibimgen bei
Dementia praecox. S. 373.
Miekolczy, Decider ins. Zur Markschei-
denentwic klung des Rautenbims.
S. 330.
Pohlisch, Kurt. Zur Frage der Pykno-
lepsie. (Gehaufte kleine Anfalle der
Kinder.) S. 424.
Raecke. Emil Sioli f. S. 137.
Richter, H. Beitriige zur Klinik und
pathologischen Anatomie der extra-
pyramidalen Bewegungsstorungen.
S. 226.
— Bemerkungen zur Histogenese der
Tabes. S. 295.
Ruhe, Heinrich, (j ber die nosologische
Stellung mid Differentialdiagnose der
sogenannten Meningitis serosa. S.459.
Runge, W. Beobachtimgen beim aki*
netisch-hypertonisclien Symptomen-
komplex. I. S. 167.
— Beobachtungen beim akinetisch*
hypertonischen Symptomenkomplex.
II. S. 214.
Schaffer, Karl. Beitrage zur Histo¬
pathologic der Spmalganglienzellen.
S. 318.
Sioli. F. Berichtigung zu: „t)ber Spiro-
cbiiten bei Endarteriitis syphibtica
des Gehirns' 1 . S. 353.
Skliar, N. Uber die katatonische De-
rnenz und deren kliniscbe Formen.
S. 58.
Stem-Piper, Ludwig. Kretschmers psv-
cho-physische Typen und die Rassen-
formen in Deutschland. S. 569.
47. Wanderversammlung der siidwest-
deutschen Neurologen und Irreniirzte
am 27. und 28. Mai 1922 in Baden-
Baden. S. 105.
Biicherbesprechungen.
Auerbach, S. Die Differentialdiagnose
und Behandlung der verschiedenen
Formen des Kopfscbmerzes. S. 356.
Bartecli, Karl. Das psychologische Pro¬
fit Eine Anleitung zur Erforschung
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
710
Autoren verzcichn is.
der psychischen Funktionen des nor-
malen und des anormalen Kindes.
S. 454.
Bericht iiber die Tdiigkeit des JJeutschen
Vereins zur Fiirsorge fiir jugendliche
Psychopat hen und seiner Ortsgruppe
Grofi-Berlin vom l.Juni 1919 bis
31. Dezember 1920. 8. 707.
Bresler, J. Jenseits von klug und blode.
I. Bezuglehre (Relativitatstheorie).
II. Psychiatrie und Psychoanalyse.
S. 454.
Bumke, Osuxtld. Das Unterbewufitsein.
Eine Kritik. S. 355.
Ellis, Havelock. Geschlechtstrieb und
Schamgefiihl. S. 134.
Erismann, Th. Psychologie. III. Die
Hauptformen des psychischen Ge-
schehens. S. 136.
Ferencyi, S. Populare Vortrage iiber
Psychoanalyse. S. 706.
— siehe Hollos.
Freud, Sigm. Drei Abhandlungen zur
Sexualtheorie. S. 135.
Friedrichs, Theodor. Zur Psychologie
der Hypnose und der Suggestion.
S. 356.
Heymann, Hermann. Lehrbuch der
Irrenheilkunde fiir Pfleger und Pfle-
gerinnen. S. 355.
H 0 II 68 , Stefan, und S. Ferencyi. Zur
Psychoanalyse der paralytischen
Geistesstorung. S. 706.
Jasper 8 , Karl. Strindberg und van
Gogh. Versuch einer pathographi-
schen Analyse unter vergleichender
Heranziehung von Swedenborg und
Holderlin. S. 355.
Kirchhoff,Theodor. Deutsche Irrenarzte.
Einzelbilder ihres Lebens und Wir-
kens. 1. Bd. S. 705.
Kldsi, Jakob. Cber die Bedeutung und
Entstehung der Stereotypien. S. 134.
Krelschmer. Ernst. Korperbau und Cha-
rakter. S. 707.
Kremfeld, Arthur. t)ber Gleich-
geschlechtlichkeit (Erklarungswege
und Wesenschau). S. 356.
Lagueur, August, Otto Muller und Wil¬
helm Nixdorf. Leitfaden der Elektro-
medizin fur Arzte und Elektrotech-
niker. S. 136.
Lehmann, Robert. Leitfaden zur Ein-
fiihrung in das Gesundheits-Tumen.
S. 708.
Lihvenfeld, L. Hypnotismus und Medi-
zin. S. 707.
Mahler, Julixis. Kurzes Repetitorium
der Physiologic. S. 135.
Mingazzini, G. Der Balken. Eine ana-
toniische, pliysopathologische und
klinische Studie. S. 133.
Mbnkemoller, 0. Die geistigen Krank-
heitszustande des Kindesalters. S. 707.
Muller, Otto. Siehe Laqueur.
Neumann. Die seelische Behandlung
von Krankheiten. S. 136.
Nixdorf, Wilhelm. Siehe Lagueur.
Pollack-Rwdin, Robert, Ing. Die techn.
Magie als Naturwissenschaft. S. 454.
Roffenstein, Gaston. Zur Psychologie
und Psychopathologie der Gegen-
wartsgeschichte. S. 131.
Schilder, Paul. Uber das Weseu der
Hypnose. S. 135.
Schlomei-, Georg. Leitfaden der klini-
schen Psychiatrie. S. 135.
Schneider, Kurt. Der Dichter und der
Psychopathologe. S. 136.
Schultz, J. H. Gesundheitsschadigun-
gen nach Hypnose. S. 707.
Seeling, Otto. Hypnose, Suggestion und
Erziehung. Eine Handreichung fiir
jeden Gebildeten. S. 135.
Spielmeyer, W. Histopathologic des
NervensyBtems. 1. Bd. Allgemeiner
Teil. S. 705.
Varendonck, J. ,t)ber das vorbewuUte
phantasierende Denken. S. 706.
Weygandt, W. Forensische Psychiatrie.
II. Teil: Sachverstandigkeit. S. 136.
Wit term ann, Ernst. Der nervose Mensch
in den geistigen Noten der Gegenwart.
S. 136.
a
'f
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
I
Digitized by
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Digitized by Goo
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Digitized by
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY