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Full text of "Arch Psychiatr Nervenkrankh 67.1923"

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ARCHIY 

FUR 

PSYCHIATRIE 


UND 

NERYENKRANKHEITEN 

HERAUSGEGEBEN VON 


G. ANTON 

HALLE 

A. HOCHE 

FREIBURG I. B. 

E. SCHULTZE 

GOTTINGEN 


0. BINSWANGER 

JENA 

E. MEYER 

K0NIG3BERG 

E. SIEMERLING 

KIEL 

R. WOLLENBERG 

BRESLAU 


K. BONHOEFFER 

BERLIN 

J. RAECKE 

FRANKFURT A. M. 

A. WESTPHAL 

BONN 


REDIGIERT VON 

E. SIEMERLING 


SIEBENUNDSECHZIGSTER BAND 

MIT 30 TEXTABBILDUNGEN 



BERLIN 

VERLAG VON JULIUS SPRINGER 

1923 


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I)ruck von Oscar Hrandstetter in Leipzig. 


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Inlialtsverzeichnis 


Spite 


Luharsch, 0. Uber die Ablagerung eisenhaltigen Pigments im Gehirn und ihre 

Bedeutung bei der progressiven Paralyse. 1 

Ganter, Rudolf. Uber die Dicke und das Gewicht des Schadeldaches bei Epi- 

leptischen und Schwachsinnigen.13 

Jakoby, Kurt. Uber die Indikationen zu hirndruckentlastendcn Operationen 20 
Skliar, N. Uber die katatonische Demenz und deren klinische Formen. . 58 


Marqnard, Kurt. Uber ungewohnlich lokalisierte Encephalitisfojmen nacli 

Grippe. Mit einein Beitrag iiber das Symptom der Adiadochokinese 84 
47. Wanderversammlung der siidwestdeutschen Neurologen und Irrenarzte am 


27. und 28. Mai 1922 in Baden-Baden.105 

Bucherbesprechungen .133 

i Berger, H. Otto Binswanger zum 70. Geburtstag. 

Raeeke. Emil Sioli f.137 

Baffner, Hugo. Zur Psychopathologie der Konigsberger Mucker .... 151 
Range, W. Beobachtungen beim akinetisch-hypertonischen Symptomen- 

komplex. I. Mit 3 Textabbildungen.167 

Range, W. Beobachtungen beim akinetisch-hypertonischen Symptomen- 

komplex. II.214 

Richter, H. Britraga zur Klinik und pathologischen Atiatomie der extra- 


p.- i n'la’ji BiwagngHt3.’aig3i. Mit 12 Textabbildung.m.226 


Richter, H. Bemerkungen zur Histogenese der Tabes. Mit 5 Textabbildungen 295 

Schaffer, Karl. Beitrage zur Histopathologic der Spinalganglienzellen. Mit 

4 Textabbildungen.318 

Miskolczy, Desiderias. Zur Markscheidenentwicklung des Rautenhirns. 

Mit 4 Textabbildungen.330 

Abderhalden, Emil. Richtigstellung zu ,,Die Bedeutung der Abdcrhalden- 
schen Reaktion fiir Psychiatrie und Nervenkrankheiten nach dent 

heutigen Stande imserer Kenntnisse' 1 von Max Kastan .352 

Sioli, F. Berichtigung zu „Uber Spirochaten bei Endarteriitis syphilitica des 

Gehiras“.353 

Buchtrbe&prechnngen .355 

Mittfilung: Medizinisch-literarische Zentrnlstelle.356 

Portriit Gamer. 


Ilberg, Georg. Sigbert Ganser, zum 24. Januar 1923 . 357 

Ilberg, Georg. Multiple Verodungen in der Hirnrinde. (Herrn Geheimen 

Medizinalrat Dr. Ganser zum 70. Geburtstage.) Mit 2 Textabbildungen 363 
Medow, W. BewuBtseinstriibungen l>ei Dementia praecox.373 


1A 741883 

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IV Inhaltsverzeichnis. 

Seite 


Pohiisch,]Kurt. Zur Frage der Pyknolepsie. (Gehaufte kleine Anfalle der 

Kinder).424 

Biicherbesprechuvgen .454 

Ruhe, Heinrich. Uber die 'nosologische Stellung und Differentialdiagnose 

der sogenannten Meningitis serosa.459 

Fischer, Siegfried. Die sogenannten BewuBtseinsstorungen. Eine psycho- 

pathologische Untersuchung.537 

Stern-Piper, Ludwig. Kretschmers peycho-physische Typen und die Rassen- 

formen in Deutschland. Mit 4 Textabbildungen.569 

Lapinsky, Michael. Zur Frage iiber den Mechanismus der (sogenannten 

Wurzel-)Neuralgie des N. ischiadicus.600 

Knichel. Zur Frage der Halluzinations-Theorie.690 

Biicherbesprechungen .705 

Auiorenverzeichnis .709 



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fiber die Ablagerung eisenlmltigen Pigments im Geliirn und 
ihre Bedeutung bei der progressive Paralyse. 

Von 

0. Lubarsch. 

(Eingegangen am 20. August 1922.) 

Im Jahre 1917 (Berl. klin. Wochenschr. Nr. 3) habe ich die Auf- 
merksamkeit auf das haufige Vorkommen eisenhaltigen Farbstoffes 
im Gehirn — vorwiegend in Streifenhiigel, Putamen und Substantia 
nigra, sowie dem Hinterlappen des Gehirnanhangs — gelenkt und etwas 
ausfuhrlichere Angaben dariiber durch meinen Schuler Odefey 1 ) machen 
lassen. Seitdem hat sich besonders Spatz 2 ) mit dieser Frage beschaftigt 
und meine Befunde teils weitgehend bestatigt, teils in wesenthchen 
Punkten erganzt. Ich selbst habe seit dieser Zeit meine Erfahrungen 
fortwahrend an sehr groBem Material erganzt, aber leider noch keine 
Zeit gefunden, dariiber zusammenhangend zu berichten und deswegen 
auch noch nicht auf die von meinen bisherigen Angaben abweichenden 
Anschauungen Spatz’ eingehen konnen. 

Spatz unterscheidet namlich zweiArten Eisenfarbstoffablagerungen 
im Gehirn, die sich zum Teil durch ihre Lokalisation unterscheidensollen. 
Bei der einen Gruppe handelt es sich um aus dem Hamoglobin stam- 
mendes Abbaueisen (Haemosiderin), das normalerweise nur im Streifen- 
hiigel,Substantia nigra und Hypophysenhinterlappen und -stielvorkommt 
und mit dem von mir nachgewiesenen ubereinstimmt. Bei der anderen 
Gruppe soli dagegen das eisenhaltige Pigment nicht aus dem Hamo¬ 
globin der roten Blutkorperchen stammen, nicht Abbau-, sondern 
Aufbaueisen sein, aus dem sich durch Assimilation Funktionseisen 
entwickelt. Dieses soli nicht nur an den drei genannten Orten vor¬ 
kommen, wo sich Abbaueisen findet, sondern auBerdem noch in Nucleus 
ruber, Nucleus dentatus und Corpus Luysii. Die beiden Gehirnzentren, 
die stets den starksten Grad der Reaktion zeigten, Globus pallidus 
und Stratum intermedium der Substantia nigra gehorten auch strukturell 
aufs eng,te zusammen. Zum Unterschiede vom Abbaueisen ware das 
Vorkommen des Aufbaueisens an diesen Stellen ein ganz regelmaCiger 

*) Arch. f. Psychiatr. 59, 1918. 

2 ) Zur Eisenfrage, bes. bei der progress. Paralyse und iiber nervose Zentren 
mit eisenhalt. Pigment. Zentralbl. f. d. ges. Neurologic 25, S. 102 u. 27, S. 171. 

Archly ffir Psychiatric. Bd. 67. 1 


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2 O. Lubarsch : Cbor die Ablagerung eLsenhaltigea Pigments 

Befund, wahrend nach raeinen eigenen Angaben das Abbaueisen hier 
fehlen konne und bei Kindern und Tieren normalenveise nicht vor- 
kame. Als einen weiteren Hanptunterschied zwischen den beiden Gnip- 
pen von Eisenpigment gibtSpatz dannan, daB es sich bei dem Aufbau- 
eisen urn eine gleichmaBige, schon mit bloBern Auge erkennbare Reak- 
tion handle. 

Da ich tatsachlich, wie Spatz schon annahm, bei meinen fruheren 
Untersuchungen eine makroskopische Eisenreaktion nicht vorgenom- 
men hatte, habe ich das inzwischen nachgeholt und mit Unterstutzung 
von Henen Dr. Pauntz und Plenge iiber 100 Falle aus den verschie- 
densten Lebensaltern und den verschiedensten Sektionsfallen daraufhin 
untersucht. Das Ergebnis der Untersuchungen, die ich in Tabellenfonn 
wiedergebe, stimmt in der Hauptsache mit denen von Spatz iiberein. 
nur hat sich gezeigt, daB das Pigment erst am Ende des ersten Lebens- 
jahres, und zwa*' nur im Globus pallidus ganz schwach auftritt, vom 
dritten Lebensjahr an auch in Putamen und der Zwischenschicht der 
Substantia nigra erscheint und erst vom 4. Lebensjahr an, dann aber 
fast ganz gleichmaBig stark durch alle Lebensalter hindurch im Streifen- 
hiigel und Substantia nigra gefunden wird. 


Pigmenthefunde. 


Nr. 

.41 ter 

Globus 

pallidus 

Putamen 

Intermed. Zone 
d. Subst. nigra 

1 

37 cm lange Tot- 
geburt . 




2 

45 cm lange Tot- 
geburt . 


_ 


3 

1 Std. altes Neu- 
geborenes .... 

_ 


. 

4 

2 Tage alter Saug- 
ling, 47 cm lang 

_ 

. 

_ 

5 

3 Tage alter Sfiug- 
hng . 

_ 

_ 


6 

6 Tage alter Siiugling 

— 

— 

— 

7 

11 Tage alter Sftug- 
ling (Friihgeburt) 

_ 


, 

8 

19 Tage altes Kind 

— 

— 

— 

9 

6 V 2 Wochen altes 
Kind . 




10 

7 Wochen altes Kind 

— 

— 

— 

H 

3 monatiges Kind . 

— 

— 

—■ 

12 

ff »f • 

— 

— 

— 

13 

** 99 • 

— 

— 


14 

99 99 • 

— 

— 

— 

15 

4 monatiges Kind . 

— 


— 

16 

«* y* • 

— 



17 

4 1 2 monatiges Kind 

— 

— 



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im Gehirn und ihre Bedeutung bei der progressive!! Paralyse. 


3 


Globus 

pallidus 


Putamen 


Intermed. Zone 
d. Subst. nigra 


5monatige8 Kind . 
6 monatiges Kind . 
7 j /2 monatiges Kind 

99 99 • 

9 monatiges Kind . 
10' /2 monatiges Kind 

1 Jahr . 

1 Jahr 1 Monat . . 
lVo Jahr. 


1 Jalir 7 Monate 
1% Jahre .... 

2 Jahre 4 Monate 
2*2 Jahre .... 

3 Jahre .... 


--ganz schwacli 

99 99 


I 99 99 

I* 99 99 

99 99 

99 99 

’ l 99 99 

-- schwach 

99 

+ 


-f- ganz schwach-f- ganz schwach 
-j- schwach -- schwach 

>* i >* 

-(- schwach erst 

nach 12 St<ln. 
eintretend 

+ + 

+ + 


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4 


O. Lubarsch: t)ber die Ablagerung eisenhaltigen Pigments 


Xr. 

Alter 

i 

Globus 

pallidus 

1 

r , . Intermed. Zone 

Putamen , 0 , , 

d. Subst. nigra 

69 

49 Jahre . 


_ 

_ 

1 

_ 

70 

49. 


- 

r- 

(- 1 H 

- 

71 

50 .. 

- 

- 

- 

1 

- 

72 

50 „ . 

- 

- 

- 


- 

73 

50 ,, . 

- 

- 

- 

- 

- 

74 

51 „ . 

- 



- 1 

- 

75 

52. 

- 



- 

- 

76 

53 „ . 


- 

- 

- 

- 

77 

53 „ . 

- 

- 

- 

- 

- 

78 

54. 

- 

- 

- 

i 

- 

79 

54 .. 


- 

- 

- i - 

- 

80 

56 .. 


- 

- 

i 

- 

81 

57. 

- 

- 


- 

- 

82 

57. 

- 

- 


t 1 

- 

83 

59 .. 

- 

- 



- 

84 

59 . 

— 

- 

— 

- 

- 

85 

61 .. 

- 

- 

- 


- 

86 

61 .. 

- 

- 

_ 

~ 

- 

87 

61 . 

- 

- 


- 

- 

88 

62 ,, . 

- 

- 

— 


- 

89 

63 . 


- 

- 

- 

- 

90 

64 .. 

- 

- 


- 

- 

91 

66 .. 

— 

- 


b -1 

- 

92 

66 . 

- 

- 

H 

b H 

- 

93 

67 ,. . 


- 


b H 

- 

94 

67. 

— 


- 

b i 

- 

95 

68 .. 

_ 


- 


- 

96 

68. 

- 

- 

- 


- 

97 

68. 

H 

- 

i 

- 

- 

98 

69. 

H 

- 



- 

99 

73. 


- 

— 

-i 

- 

100 

75. 

J 

- 

- 

1 

- 


Befunde im Nucleus dentatus. 


Xr. 

Alter 

Nucleus dentatus 

Nr. 

l 

Alter 

1 

Nucleus dentatus 

I 

1 

Neugebor. 

_ 

36 

36 Jahre 

geringe diffuse Reakt. 

2 

lOTagealt 

— 

37 

38 „ 

geringe herdf. Reakt. 

3 

SWochen 

— 

38 

39 „ 

geringe diffuse Reakt. 

4 

6 „ 

— 

39 

39 „ 

geringe d.ffuse Reakt. 

5 

10 „ 

— 

40 

40 „ 

ganz ger. diff. Reakt. 

6 

2 Monate 

— 

41 

40 „ 

starke diffuse Reakt. 

7 

3 „ 

— 

42 

45 „ 

geringe diffuse Reakt. 

8 

4 „ 

— 

43 

46 „ 

maO. starke diff. Reakt. 

9 

8 „ 

geringe herdf. Reakt. 

44 

47 „ 

mail, starke diff. Reakt. 

10 

1% Jahre 

geringe herdf. Reakt. 

45 

48 „ 

starke diffuse Reakt. 

11 

2 Jahre 

— 

46 

48 „ 

starke diffuse Reakt. 

12 

2%Jahre 

ganz ger. diff. Reakt. 

47 

49 „ 

maQ. st. diff. Reakt. 

13 

3V 2 „ 


48 

50 „ 

ger. diff., stellenweise 
stiirkere herdf. Reakt. 


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im Gehirn und ihre Bedeutung bei der progressiven Paralyse. 


5 


Nr. 

Alter 

Befunde 

Nr. 

Alter 

Befunde 

14 

7 Jahre 

ganz ger. diff., stellen- 
weise st. herdf. Reakt. 

49 

1 

51 Jahre maB. starke diff. Reakt. 

15 

10 

yy 

— 

50 

52 

yy 

geringe diffuse Reakt. 

16 

12 


— 

51 

52 

yy 

maBig starke Reakt. 

17 

16 

yy 

ganz ger. herdf. Reakt. 

52 

53 

yy 

miiB. starke diff. Reakt. 

18 

16 

yy 

— 

53 

53 

yy 

starke diffuse Reakt. 

19 

18 

yy 

— 

54 

54 

yy 

starke diffuse Reakt. 

20 

19 

yy 

ganz ger. diff. Reakt. 

55 

56 

yy 

geringe diffuse Reakt. 

21 

20 

yy 

ganz ger. diff. Reakt. 

56 

56 

yy 

gmaB. starke diff. Reak. 
geringe diffuse Reakt. 
geringe diffuse Reakt. 

22 

21 


ganz ger. diff. Reakt. 

57 

57 

yy 

23 

21 

yy 

maB. st. diff. Reakt. 

58 

57 

yy 

24 

24 

yy 

ganz ger. diff. Reakt. 

59 

57 

yy 

maBig starke Reakt. 

25 

25 


maB. st. diff. Reakt. 

60 

69 

yy 

maB. starke diff. Reakt. 

26 

25 


mall. st. diff. Reakt. 

61 

59 

yy 

geringe herdf. Reakt. 

27 

21 

yy 

ganz ger. diff. Reakt. 

62 

61 

yy 

maB. st. diff. Reakt. 

28 

27 


ganz ger. diff. Reakt. 

63 

62 

yy 

geringe diffuse Reakt. 

29 

26 

: 

— 

64 

63 

yy 

geringe diffuse Reakt. 

30 

33 


maB. st. diff. Reakt. 

65 

66 

yy 

starke diffuse Reakt. 

31 

33 

yy 

starke d ffuse Reakt. 

66 

66 

yy 

geringe diffuse Reakt. 

32 

33 

yy 

geringe diffuse Reakt. 

67 

67 

yy 

starke diffuse Reakt. 

33 

34 

yy 

inaBig starke Reakt. 

68 

67 

yy 

geringe diffuse Reakt. 

34 

35 

yy 

geringe diffuse Reakt. 

69 

67 

yy 

maB. st. diff. Reakt. 

35 

36 

yy 

maB. st. diff. Reakt. 

70 

80 

yy 

maB. st. diff. Reakt. 


Befunde a. der RrUcke. 


Nr. 

Alter 

! 

Befunde 

Nr. 

Alter 

Befunde 

i 

6 Wochen 

_ 

26 

36 Jahre 

_ 

2 

2 Monate 

— 

27 

36 

yy 

— 

3 

3 „ 

— 

28 

38 

yy 

— 

4 

l%J&hr 

— 

29 

39 

yy 

— 

5 

2 „ 

— 

30 

45 

yy 

— 

6 

2% „ 

— 

31 

46 

yy 

— 

7 

10 „ 

— 

32 

47 

" 

— 

8 

3 Monate 

— 

33 

48 

yy 

— 

9 

3 „ 

— 

34 

48 

„ 

— 

10 

4 „ 

— 

35 

51 

„ 

— 

11 

16 Jahre 

geringe herdf. Reakt. 

36 

52 


— 

12 

16 „ 

— 

37 

54 


zieml. st. herdf. Reakt. 

13 

18 „ 

— 

38 

56 

„ 

— 

14 

19 „ 

— 

39 

56 

yy 

— 

15 

20 

— 

40 

57 

yy 

— 

16 

21 „ 

— 

41 

57 


— 

17 

21 „ 

— 

42 

57 


— 

18 

24 „ 

— 

43 

59 


— 

19 

25 „ 

— 

44 

59 


— 

20 

26 „ 

— 

45 

62 



21 

27 „ 

— 

46 

63 


— 

22 

33 „ 

— 

47 

66 


geringe herdf. Reakt. 

23 

33 „ 

— 

48 

66 

yy 

24 

34 „ | 

— 

49 

67 

yy 

— 

25 

35 „ 

— 

50 

80 

yy 

maB. st. diff. u. starkere 
herdformige Reakt ion 


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(j O. Lubarsch: t T ber die Ablagerung eisenbaltigen Pigments 

Aus diesen Untersuchungen ergibt sich zuniichst, daB die Reaktion 
am friihesten im Globus pallidus, und zwar gegen Ende des 1. Lebens- 
jahres, im Putamen und Substantia nigra etwas spater auitritt, um 
dann vom 4. Lebensjahrc starker und ganz regelmiiBig zu werden, 
mit zunehmendem Alter immer starker werdend. Im Nucleus dentatus 
liegen die Dingo etwas anders: regelmaBige Befunde treten erst um die 
Zeit der Geschlechtsreife auf; sie sind in der Starke wechselnd, meist 
diffus, aber gelegentlich aueh herdformig, wofiir freilich meist besondere 
Umstande verantwortlich gemacht werden konnten. Die zur Kon- 
trolle angestellten Untersuchungen der Briicke ergaben — abgesehen 
\ on 3 Fallen, wo kleine Blutungen erfolgt waren und daher eine herd- 
formige Reaktion sich fand — standiges Fehlen der diffusen Reaktion. 

Die Befunde unterscheiden sich also in der Tat von den von mir 
mitgeteilten mikroskopischen, wonach ein regelmaBiger Befund des 
eisenhaltigen Pigments selbst bei alteren Personen nicht festgestellt 
werden konnte, was auch meine weiteren Untersuchungen immer wieder 
bestatigt haben. Ob man aber daraufhin zu einer so seharfen Trennung 
der makro- und mikroskopischen Befunde kommen muB, wie das 
Spatz tut, dariiber kann man doch noch verschiedener Meinung sein. 
Er hat daher auch noch eine Reihe von anderen Griinden angegeben, 
die ihn veranlassen, beide Pigmente voneinander zu trennen. Zunachst 
hebt er hervor, daB sich der physiologisehe Eisengehalt sehon fiir das 
bloBe Auge bei der Vornahme der Eisenreaktion abhebt. Das ist richtig, 
wird aber lediglich durch die Reichlichkeit der Pigmentablagerungen 
oder Durchtrankung mit eisenhaltiger Fliissigkeit bedingt. Bei der 
progressive!! Paralyse erscheint in sehr ausgepragten Fallen die Rinde 
bereits fiir das bloBe Auge deutlich braunlich gefarbt, und derartige 
Gehirnstiickchcn erscheinen bei Anstellung der Eisenreaktion eben- 
falls makroskopisch diffus, selten gesprenkelt. blau, obgleich es sich 
hier doch auch nach Spatz’ Ansicht um Abbaueisen handelt. Ebenso 
richtig ist es, daB die mikroskopische Reaktion bei niederen Gradeu 
nur diffus und nur bei hoheren Graden im Zelleib granular ist. Das 
gleiche gilt aber auch fiir Abbaueisen an jedem beliebigen Ort. Als 
weitcre Unterscheidungen gibt Spatz folgendes an: 1. Das Aufbau- 
eisen erscheint mikroskopisch farblos und feinkornig, das Abbaueisen 
dagegen gelb und gelbbraun und meist grobkornig. 2. Das Abbaueisen 
wird vorwiegend in mesodermalen, das Aufbaueisen in ektodermalen 
Gewebsbestandteilen gefunden. 3. Das Aufbaueisen ist gleichmiiBig 
aasgebreitet auf Hirngebiete, die wegen ihres Aufbaus und ihrer Faser- 
verbindungcn als physiologisehe Einheiten gelten miissen; das Abbau¬ 
eisen ware dagegen ziemlich unregelmiiBig oder der Ausbreitung eines 
krankhaften Vorganges folgend abgelagert. 4. An den Hinterlappen 
und Sticl des Gehirnanhangs sei die makroskopische Eisenreaktion sehr 


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im Gehim und ihre Bedeutung bei der progressiven Paralyse. 


7 


schwach, obgleich diese Teile doch sehr haufig Abbaueisen enthielten. 
5. Bei der progressiven Paralyse ware trotz des massenhaften Auftre- 
tens von Hamosiderin in der Rinde keineswegs eine regelmabige Stei- 
gerung der diffusen makroskopischen Eisenreaktion an den Gehirn- 
zentren nachweisbar, die physiologischerweise am starksten reagierten 
(Globus pallidus, intermediaere Schicht der Substantia nigra, Stria¬ 
tum usw.). 

Ich kann keineswegs alle diese Unterschiede zugeben. Zu 1. bemerke 
ich folgendes: Spatz gibt selbst zu, dab bei notorischem Blutzerfall 
Eisen ,,auch diffus und an feine Protoplasmagranula gebunden, sowie 
in farblosem Zustand auftreten kann.“ Ob Hamosiderin und auch 
andere Pigmente tief gefarbt oder fast farblos auftreten, hangt im 
wesentlichen von ihrer Dichtigkeit ab. Es ist richtig, dab E. Neumann 
nur das als Hamosiderin bezeichnet hat, was auber der positiven 
Eisenreaktion eine gelbe Naturfarbe zeigt und Diirck 1 ) hat in der 
Aussprache zum Vortrag von Spatz es in hohem Grade begriibt, dab 
er den Begriff ,,Hamosiderin“ wieder scharf in dem urspriinglichen, 
ihm von Neumann gegebenen Sinne auffabt. Ich kann dem in 
keiner Hinsicht zustimmen; es war sehr begreiflich, dab Neumann 
diese Forderungen aufstellte. Aber wenn w r ir uns jetzt noch danach 
richten wollten, wiirden wir fast bei alien Organen unter Bedingungen, 
die zweifellos mit einem verstarkten Zerfall roter Blutkorperchen in 
Zusammenhang stehen, feinkornige intra- und extrazellu litre Ablage- 
rungen, die die Eisenreaktion geben, nicht als Hamosiderin ansehen 
diirfen. Man kann sieh leicht davon iiberzeugen, dab unter dem 
Mikroskop der Farbenton der Pigmente im wesentlichen abliangig 
ist von ihrer grobphysikalischen Beschaffenheit. Untersucht man 
rein dargestelltes melanotisclies oder braunes Abnutzungspigment, 
so kann man beliebig schwarzbraune bis beinahe farblose Korner 
zu sehen bekommen, je nachdem man mit Nadeln die Zerkleinerung 
des Pigments grober oder feiner vornimmt; ja das gilt sogar vom 
Kohlenpigment. Und es ist geniigend bekannt, dab auch in mela- 
notischen Gewachsen wii neben braunschwarzen nicht nur hell- 
gelbe, sondern auch feinste kauin gefiirbte Korner zu sehen bekommen. 
Das zeigt eben, dab, w r ie ich oben schon sagte, die Farbung von der 
Dichtigkeit der Zusammenlagerung der einzelnen Farbst off korner 
abhangt. Auch der 2. von Spatz hervorgehobene Unterscheidungs- 
punkt trifft nicht zu. Auch das Hamosiderin kommt sehr oft in ekto- 
und entodermalen Zellen vor und wild auch dort gespeichert — in 
Schilddriisen- und Speieheldrusenepithelien, in Magendriisen- und 


*) Diirck in der Aussprache zum Vortrag von Spatz. Zentralbl. f. d. 
ges. Neurol. 27. 


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8 


O. Lubarsch: t)ber die Ablagerung eisenhaltigen Pigments 


Leberepithelien usw. Selbst in Ganglienzellen und vor allem nicht 
selten in den Epithelien des Vorderlappens der Hypophyse habe ich 
es gefunden. Auch dein 5 . Punkt, dem Verhalten der als Aufbau- und 
Abbaueisen von Spatz getrennten Pigmente bei der progressiven Para¬ 
lyse kann ich auf Grund meiner Erfahrungen nicht ganz zustimmen. 
Ich gebe zu, daft ein regelmaftiges Verhalten hier nicht besteht, daft 
es aber doch sehr viele Falle gibt, in denen namentlich in der Substantia 
nigra und im Putamen die diffusen und feinkornigen Eisenpigment- 
ablagerungen in Gliazellen erhebhch starker sind als normal. Dagegen 
mu ft ich anerkennen, daft das Auftreten des Abbaueisens in den groften 
Ganglien ein viel unregelmaftigeres auch in der Verteilung ist und daft 
namentlich im Gehirnanhang kein Parallelismus zwischen der makro- 
skopischen Eisenreaktion und den mikroskopisch nachweisbaren Eisen- 
pigmentablagerungen besteht. Ich habe freilich auch hier haufiger 
neben dem kornigen Eisenpigment diffuse Eisenreaktion erhalten, als 
Spatz sie gesehen zu haben scheint; aber das mag daran liegen, daft 
ich nicht immer so frisches Leichenmaterial untersucht habe, wie es 
Spatz vermutlich zur Verfiigung stand und postmortale Diffusion von 
Eisenpigment gerade dort haufig ist, wo Hamosiderinablagerungen in 
korniger Gestalt vorhanden sind. — Auch das muft ich zugeben, daft 
dem auch nach meinen Untersuchungen regelmaftigen Vorkommen 
raakroskopischer Eisenreaktion durchaus nicht immer ein mikrosko¬ 
pisch nachweisbares Eisenpigment entspricht und daft im Nucleus ruber 
und meist auch dem Dentatus fein- und grobkorniges Eisenpigment 
unter annahernd physiologischen Verhaltnissen nicht gefunden wird. 

Das sind gewifi sehr bemerkenswerte Unterschiede. Ob aber daraus 
auf eine verschiedene Entstehungsweise des Pigments geschlossen wer- 
den darf, erscheint mir doch recht zweifelhaft. Gewift kann man vom 
theoretischen Standpunkt zugeben, daft eisenhaltiges Pigment auch aus 
anderen Substanzen, wie dem Hamoglobin gebildet werden kann; 
aber sichere Erfahrungen dariiber besitzen wir noeh nicht eine einzige 
beim Menschen. M. B. Schmidt nimmt zwar an, daft das durchaus 
nicht selten in queigestreifter willkurlicher, seltener in der Herz- 
muskulatur vorkommende Eisenpigment nicht aus dem Hamo-, sondern 
dem Myoglobin gebildet sei — aber dariiber, ob der Muskelfarbstoff 
iiberhaupt vom Blutfarbstoff unterschieden ist, gehen bekanntlich die 
Meinungen der sachverstandigen physiologischen Chemiker noch weit 
auseinander. Auch das Auftreten diffuser Eisenreaktion ist nichts 
fiir die genannten GehirnzentrenSpezifisches; es kommt auch in anderen 
Organen — z. B. den Nierenepithelien bei Neugeborenen, Sauglingen 
und Erwachsenen (pemicose Anamie) — nicht allzu selten vor und 
ist nur ein Zeichen fiir eine Durchtriinkung der Zellen mit eisenhaltiger 
Gewebsfliissigkeit, ohne daft die Zellen die Zeit gefunden odei die 


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im Gehim und ihre Bedeutung bei der progressiven Paralyse. 9 

Fahigkeit besessen hatten, das Eisen granular niederzuschlagen. — Auf 
der anderen Seite hat Spatz selbst hervorgehoben, daB ,,die beiden Ge- 
hirnzentren, die stets am makroskopischen Objekt den starksten Grad 
der Reaktion zeigen — der Globus pallidus und das Strat. intermedium 

der Substantia nigra.auch gleichzeitig Pradilektionsstellen fur 

Abbaueisen sind“, freilich hinzugefiigt, daB dies vielleicht darauf 
beruhe, daB physiologischerweise auch stets etwas von dem eisenreichen 
Gewebe zugrunde ginge. Dann ware dies also auch kein hamoglobino- 
genes Eisen! Das erscheint doch aber sehr unwahrscheinlich, wenn man 
die vollstandige histologische Ubereinstimmung mit den Hamosiderin- 
ablagerungen beriicksichtigt. Mir erscheint es zum mindesten ebenso 
berechtigt, die Erklarung fur die Unterschiede auf einem anderen Wege 
zu versuchen. Die Pradilektionsorte fiir Spatz’ ,,Aufbau- und Abbau- 
eiscn“ sind diejenigen, in denen sich die feinsten und diinnwandigsten 
BlutgefaBe, ein reichliches Kapillarnetz finden, wo augenscheinlich 
auch geringe Kreislaufstorungen und Druckschwankungen, wie sie 
gerade bei dem doch stets — wenn auch un- und unterbewuBt — 
arbeitenden Gehirn unvermeidlich sind, zum Austritt roter Blutkor- 
perchen AnlaB geben konnen. Wie das freiwerdende Hamoglobin oder 
die ausgetretenen ganzen Blutkorperchen verarbeitet werden, mag dann 
von der Eigenart der hier vorhandenen Zellen bedingt sein, ebenso auch 
mitabhangig von der Menge der ausgepreBten roten Blutzellen. Auf 
diese Weise mogen die Unterschiede verstandlich werden, und beson- 
ders auch die sehr bemerkenswerte, von Spatz aufgedeckte Tatsache, 
daB die makroskopische Eisenreaktion an funktionell eng zusammen- 
gehorige Gebiete gekniipft ist, die ja natiirlich auch eine ahnliche Blut- 
versorgung und Blutumlauf haben. Unterstiitzt wird meine Ansicht 
auch noch durch die Tatsache, daB z. B. in der Briicke, an der ich niemals 
eine makroskopische Eisenreaktion gefunden habe und wo sie auch von 
Spatz nicht angegeben wird, auch bei der progressiven Paralyse die 

adventitiellen Hamosiderinmantel fast stets fehlcn. Auf der anderen 

\ 

Seite muB ich freilich zugeben, daB der Umstand, deB die Reaktion 
erst gegen Ende des ersten Lebenjahres auftritt — im Nucleus dentatus 
sogar erst gegen die Reifezeit — mehr fiir Spatz’ Auffassung sprechen 
wiirde. Denn die Durchlassigkeit der BlutgefaBe pflegt. wie meine 
Untersuchungen an zahlreichen Organen ergaben, gerade im friihen 
Sauglingsalter am starksten zu sein. — 

Ich komme nun zu den Hamosiderinbefunden bei der progressiven 
Paralyse. Hier haben Spatz und auch Spielmeyer zugegeben, daB 
dem Auftreten der Hamosiderinmantel ein gewisser diagnostischer 
Wert zukame. Spatz hat in samtlichen untersuchten Fallen meine 
Angaben bestatigt gefunden und ebenso in Kontrolluntersuchungen 
festgestellt, daB bei anderen auch mit perivascularen Zelhnfiltraten 


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10 O. Lubara-h: Uber die Ablagerang eisenhaltigen Pigments 

verbundenen Gehirnerkrankungen — abgesehen von der Schlafkrank- 
heit — nennenswerte Hamosiderinablagerungen nicht vorkommen. 
Meine fortgesetzten sehr zahlreichen Untersuchungen haben immer 
wieder das gleiche Ergebnis gehabt — besonders, daB irgendwelche 
auch nur ahnliche Befunde, wie bei der progressiven Paralyse, bei 
anderen Krankheiten, besonders Gehirn- und Geisteskrankheiten nicht 
vorkommen. Namentlich habe ich bei Fallen von sender Demenz und 
arteriosklerotischem Irresein stets Hamosiderinablagerungen vermiBt, 
wahrend Abbaupigment meist sehr reichlich in den Adventitialscheiden 
vorhanden war. Auch in einigen Fallen von Malaria, wo reichlich 
Malariamelanin in den Kapdlaren und auch einige Zellherde in der 
Gehirnsubstanz vorhanden waren, fehlten perivasculare Haemosiderin- 
ablagerungen vollkommen, ebenso auch in alien von mir untersuchten 
Fallen von Encephalitis lethargica. Falle von Schlafkrankheit standen 
mir nicht zur Verfiigung. t)ber die Lokalisation sei folgendes bemerkt: 
gewohnlich ist die starkste Hainosiderinablagerung, in Form von rich- 
tigen Hamosiderinzellmanteln, in der Rinde des Stirn- und Schlafen- 
hims vorhanden, nimmt in der weiCen Substanz und subependymar 
etwas ab, ist meist noch recht ausgepragt und oft sehr stark im 
j.Striatum'', weniger im Globus pallidus und fehlt stets in der Briicke, 
auch wenn Plasmazellenmantel dort vorhanden sind. In der Zwischen- 
schicht der Substantia nigra sind die Befunde etwas wechselnd; mit- 
unter sind sehr breite und machtige Hamosiderinmantel vorhanden, 
mitunter fehlen sie fast ganz. Es gibt auch Falle, in denen in der Rinde 
und Mark des Stirn und Schlafenbeins nur sehr kleine und sparliche 
mitunter fehlen sie fast ganz. Es gibt auch Falle, in denen in der 
Rinde und Mark des Stirn- und Schlafenhirns nur sehr kleine und 
sparliche Hamosiderinablagerungen sich finden, wahrend sie in Linsen- 
kem und Substantia nigra sehr machtig sind. Dagegen sind in der 
weichen Hirnhaut — gleichviel ob es sich um frischere Falle mit zahl¬ 
reichen Zellinfiltraten oder um alte mit vorwiegender Bindegewebs- 
wucherung handelt — die Hamosiderinablagerungen fast stets ge- 
ringfiigig. Nur in der weichen Riickenmarkshaut habe ich in einigen 
Fallen reichlichere und auch ausgesproehenere perivasculare Hamo¬ 
siderinablagerungen gefunden. — Was den diffentialdiagnostischen_ 
Wert der Befunde anbetrifft, so mochte ich folgendes vorausschicken. 
Meine Befunde waren keine Zufallsbefunde, sondern das Suchen 
nach Hamosiderin bei der progressiven Paralyse — und zwar gerade 
in Fallen, die klinisch diagnostische Schwierigkeiten gemacht hatten — 
entsprang folgenden t)berlegungen. Bei der Aortitis productiva, bei 
der die Veranderungen in Adventitia und Media bis in die Einzel- 
heiten mit denen bei der progressiven Paralyse am gefiiBfuhrenden 
Stutzgewebe und den BlutgefaBen vorhandenen ubereinstimmen, 


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ira Gehirn und ihre Bedeutung bei der progressiven Paralyse. 


11 


besonders auch hinsichtlich der Reichlichkeit der Plasmazelleo, war 
mir das Vorkommen reichlicher perivascularer Hamosiderinablage- 
rungen aufgefallen, besonders stark in einigen Fallen, die mit progres- 
siver Paralyse verbunden waren. Ferner fand ich in den inneren Or- 
ganen bei progressiver Paralyse, auch in solchen Fallen, die nicht 
septisch geendet hatten, sehr haufig starke Hamosiderinablagerungen 
in Milz, Leber, Nebennieren, Nierenmarkbindegewebe. Das brachte mich 
auf den Gedanken, auch im Gehirn danach zu suchen; die Befunde waren 
liberraschend reichlich und regelmaBig. In einigen Fallen der Sie- 
merlingschen Klinik, die wegen zu kurzer Beobachtungszeit nicht 
mit Sicherheit als progressive Paralyse diagnostiziert werden konnten, 
hatte ich nun zunachst bei der Untersuchung auf Plasmazellmantel 
keine sehr befriedigende Ergebnisse; wohl waren einige Rundzellen vom 
Typus der Lymphozyten und vereinzelt Plasmazellen vorhanden, aber 
typische Plasmazellmantel waren nicht zu finden; dagegen ergab sich 
bei Anstellung der Eisenreaktion eine ungemein reichliche Ansamm- 
lung von teils intracellular, teils frei gelegenem, bald feinkornigem, bald 
grobscholligem Hamosiderin. Diese und ahnliche Falle haben mich 
zu dem Urteil bewogen, daB der Befund ein noch regel maBigerer ist, 
als der der Plasmazellmantel. WennSpielmeyer 1 )demgegenuber betont 
hat, daB in den vielen hunderten Fallen von Paralyse, dievonNissl, 
Alzheimer und anderen Neurohistologen untersucht worden sind, die 
Plasmazellen nie fehlten, so hat er iibersehen, daB ich nicht, wie er angibt, 
von Plasmazellinfiltration, sondern von Plasmazellmanteln 
gesprochen habe, d. h. von einer machtigen, sich scheiden- und mantel- 
formig um die BlutgefaBe legenden Plasmazellansammlung 2 ). Ich habe 
nie behauptet, daB Plasmazellen fehlen konnten — ich habe freilich mit- 
unter sehr lange suchen miissen, bis ich auch nur vereinzelte fand, aber 
ich habe sie nie vermiBt. DaB sie mitunter recht sparlich sein konnen, hat 
ja auch Spatz zugegeben. Aber gerade in solchen Fallen konnen die 
Hamosiderinablagerungen sehr stark sein. Das liegt vielleicht daran, daB 
sich die Hamosiderinablagerungen bekanntlich sehr lange iiberall unver- 
andert halten konnen (monate- bis jahrelang), wahrend die Plasmazellen- 
ansammlungen nur so lange bestehen bleiben, wie die, wenn auch schlei- 
chenden, Entziindungsprozesse anhalten. Dadurch wird es verstandlich, 
daB, soweit meine Erfahrungen reichen (es liegen mir durchaus nicht 


1 ) Zentralbl. f. d. ges. Neurol. 27. Aussprache zum Vortr. von Spatz. 

2 ) Wortlich heiBt es bei mir (Berl. klin. Wochensehr. 1917 Nr. 3): „Es ist 
auBerordentlich auffallend, daB diesem Vorkommen (namlich der perivaseuliiren 
Ansammlungen eisenhaltiger Pigmentzellen) trotz der zahlreichen Untersuchungen 
liber die pathologisehe Histologie der progressiven Paralyse noch keine Beachtung 
geschenkt ist, obgleich es ein regelmaBigerer Befund ist, als der der Plasmazellen- 
mantel....“ 


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12 O. Lubarsch: t v ber die Ablagerung eisenhaltiges Pigments usw. 

in alien Fallen genaue Angaben iiber die Dauer der Geisteskrankheit. 
vor), keine wesentlichen Unterschiede vorhanden sind in der Menge und 
Ausdehnung der Hamosiderinablagerungen zwischen den mehr statio- 
naren und akuter verlaufenden oder dureh eine interkurrente todliche 
Krankheit friihzeitig abgebrochenen Fallen. Nur darin bestehen Unter¬ 
schiede, daB in den langer dauernden und stationaren Fallen die Plasma - 
zellenansammlungen ganz hinter den Hamosiderinablagerungen zuriick- 
treten, wahrend sie in den rascher verlaufenden oder friihzeitig unter- 
brochenen Fallen ihnen vollstandig die Wage halten oder sogar stark 
iiber sie iiberwiegen konnen. Auch von juveniler Paralyse — vondenen 
einer einen kaum 19jahrigen wahrend des Krieges eingestelltenRekruten 
betraf — habe ich 2 Falle untersuchen konnen; sie waren beide rasch 
verlaufen und zeichneten sich dureh eine ungeheure Menge von Hamo- 
siderin- und Plasmazellmanteln fast in alien Gehirngebieten und dem 
Hypophysenhinterlappen aus. — Ich wiirde es sehr begriiBen, wenn 
diese Untersuchungen vonPsychiatern an groBem,klinisch genau bekanli¬ 
tem Material erweitert wiirden. Ebenso ware es sehr wiinschenswert, 
die Befunde sowohl hinsichtlich ihrer Machtigkeit, wie ihrer Ausdehnung 
und ortlichen Verteilung mit den Spirochatenbefunden zu vergleichen — 
ich habe damit erst seit Bekanntwerden der neuen Jahnelschen Me- 
thode beginnen konnen und noch keine klaren Ergebnisse erhalten. 

Nachtrag. 

Wahrend der Drucklegung dieser Arbeit erschien die ausfuhrliche 
Darstellung seiner Befunde von Spatz 1 ), auf die ich hier nicht mehr 
ausfiihrlich eingehen kann. In vielen Punkten — auch in Einzelheiten 
und besonders hinsichtlich der Befunde bei der progressiven Paralyse — 
stimmen wir vollig iiberein. Die Hauptfrage, ob das physiologischer- 
weise in gewissen Hirnzentren vorkommende Eisen ,,Gewebseisen'‘ 
und wirklich ,,autogenes”' Pigment ist, ist, wie ich glaube, nicht aus- 
schlieBlich dureh Untersuchungen am Gehirn zu entscheiden, sondern 
muB im Rahmen der gesamten, ja immer noch recht dunklen Pigment- 
frage entschieden werden. Eine noch spater erschienene Arbeit von 
M. Muller aus dem Institut von Wegelin in Bern iiber das physio- 
logische Vorkommen von Eisen im Zentralnervensyatem (Ztschr. f. d. 
ges. Neurol. Bd. 77, S. 519), die mir eben erst zu Gesicht kommt, 
konnte nicht mehr beriicksichtigt werden. 

1. Nov. 1922. 


*) tlber den Eisennachweis im Gehhn. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psych. 77, 
S. 261—390. 


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Uber die Dicke und das Gewicht des Schadeldaches 
bei Epileptischen und Schwachsinnigen. 

Von 

San.-Rat Dr. Rudolf Grantor, Worraditt (Ostpr.). 

(Eingegangen am 3.Juli 1922.) 

In einer friiheren Arbeit 1 ) haben wir eine statistische Zusammen- 
stellungdes Verhaltens des Schadeldaches nach den Ergebnissen von 1017 
Sektionsbefunden von Geisteskranken der ehemaligen deutschen Irrenan- 
staltSaargemiind gemacht. Diese Ergebnisse fuBten aber lediglich auf den 
subjektiven Angaben verschiedener Obduzenten, und wenn man auch 
durch Dbung einen ziemlich sicheren Blick erwerben und ohne grofie 
Fehler angeben kann, wann ein Schadeldach dick oder diinn ist, so 
sind doch MaBe vorzuziehen, mit denen man beim Leser eine deut- 
liche Vorstellung auszulosen vermag. Reichardt sucht dieser Forde- 
rung in der Weise nachzukommen, daB er das Volumen des Schadel¬ 
daches bestimmt 2 ). Wir haben uns damit begniigt — und fur unsere 
Zwecke diirfte das auch ausreichend sein —, die Dicke des nach Rei- 
chardts Weise (s. H. 1) aufgesagten Schadeldaches zu messen. Da 
nun die Sageflache nicht uberall gleich dick ist, haben wir von drei 
Stellen MaB genommen: vorn und hinten etwa 1 cm neben der Mittel- 
linie und seithch in der Richtung des groBten Durchmessers. Von 
diesen drei MaBen haben wir dami die Durchschnittszahl gesucht, 
ohne gerade immer genau mathematisch zu rechnen. Betrug z. B. 
die Dicke des Schadeldaches am Stirnbein 5 mm, am Seitenwandbein 
4 und am Hinterhauptsbein ebenfalls 4 mm, so haben w r ir als durch- 
schnittliche Dicke 4 mm genommen, so bei 6, 5 und 5 mm:5 mm usw. 
Bei einigen Fallen hatten die rechte und die linke Halfte des Schadel¬ 
daches im ganzen oder nur stellenweise nicht die gleiche Dicke. Diese 
Fade haben wir gesondert gerechnet. Jsach dem gesehilderten Ver- 
fahren haben wir die Schadeldacher von 166 Epileptikern und 110 
Schwachsinnigen untersucht und geordnet. Aus Riicksicht auf das 
Schadelwachstum, das mit etwa 20 Jahren abgeschlossen ist, haben 

1 ) Zeitschr., Allg., f. Psychiatr. u. psych.-gerichtl. Mod. 65, 1908. 

2 ) Reichardt, Uber die Untersuchungen des gesunden und kranken Ge- 
hims mit der Wage. H. 1) Jena 1906 und Sch&del und Gehirn, H. 4, 1909. 


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14 


R. Ganter: Uber die Dicke und das Gewicht des Schadel- 


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wir bei beiden Krankheitsgruppen wieder zwei Unterabteilungen ge- 
gemacht, deren Grenze das 20. Lebensjahr bildete. Die folgende Tabelle 
bringt die auf diese Weise erhobenen Befunde: 


Durchschnittl. Epilepsie 

Idiotie 


Dicke des 

Sehadeldaches Zahl cL Falle Zahl d - FalIe 
v. 1-20Jahren fiber 20 Jahre 

Zahl d. Falle Zahl d. Falle 
v. l-20Jahren uber 20 Jahre 


2 mm 1 = 2,7o/o 

3 „ 1= 2,7 „ 

4 ,, 5 = 13,5 ,, 

5 „ 0 = 24,3,, 

6 „ 9 = 24,3 „ 

7 „ 4=10,8,, 

8 ,, 3 = 8,1 ,, 

9 „ - 

2= l,5o/ 0 
15= 11,6 „ 
46 = 35,6 „ 
28 = 21,7,, 
9= 6,9 „ 
8= 6,2 „ 
4= 3,1 „ 

6 = 10,2o/o 
16 = 27,1 „ 
lo — 2o,5,, 
12 = 20,3 „ 
4= 6,8 „ 
2= 3,4 „ 

1 = 1,7 „ 

I 3= 5,9o/ 0 

9 = 17,6 „ I 

17 = 33,3 „ 

9= 17,6 „ 

2= 3,9 „ 

10 „ — 

11 „ I — 

rechts u. links 1 
ungleich dick 1 5 = 13,5 „ 

17 = 13,2 „ 

_ i 

3= 5,1 „ 

l — 

1= 1,9 „ 

10 = 19,6 „ 


| 37 + 

129 = 166 | 

59 + 

| 51 = 110 

276 


Nach dieser Tabelle weisen von den erwachsenen Epileptischen 
und Schwachsinnigen die Falle mit einer durchschnittlichen Dicke 
von 5—6 mm den hochsten Prozentsatz auf. Wir diirfen darum wohl 
eine solche Dicke als die normale Dicke des Sehadeldaches betracliten. 
Unter den Epileptischen unter 20 Jahren zeigt der grolite Prozentsatz 
ebenfalls eine Dicke von 5—6 mm, wahrend bei den Schwachsinnigen 
dieses Alters der grolite Prozentsatz mit 3—4 mm vertreten ist. Dies 
kommt daher, da 13 sich unter den Epileptischen mehr dem Grenzalter 
von 20 Jahren nahe stehende Falle befinden, wahrend unter den Schwach- 
sinnigen mehr Kinder sind. VerhaltnismaBig hoch ist unter den er¬ 
wachsenen Schwachsinnigen der Prozentsatz mit einer Dicke von 
4 mm. 

Reichardt hat bei seinen Untersuchungen gefunden, dal3 ver- 
haltnismaliig mehr dicke Schadeldacher bei der Katatonie und Epi- 
lepsie vorkommen. Was die Epilepsie betrifft, so ist auch bei uns der 
Prozentsatz der Epileptischen mit einem Sehadeldach von 7 und mehr 
mm Dicke hoher als bei den Schwachsinnigen. Nehmon wir bei den 
beiden Krankheitsgruppen die Schadeldacher mit mehr als 7 mm Dicke 
zusammen, so erhalten wir bei den Epileptischen 20, bei den Schwach- 
sinnigen 6 Falle. Wenn wir nun auch noch die Falle hinzunehmen, die 
rechts und links ungleich dicke Schadeldacher aufweisen, deren Dicke 
aber an keiner Stelle unter 7 mm heruntergeht, so bekommen wir bei 
den Epileptischen 31, bei den Schwachsinnigen 12 Falle, d. h. 18,7 
gegen 10,9%- Das umgekehrte Verhaltnis herrscht hinsichtlich des 


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daches bei Epileptischen und Schwachsinnigen. 


15 


diinnen Schadeldaches rait einer Dicke von 4 und 3 mm. Hier wiegen 
die Schwachsinnigen gegen die Epileptischen vor: 23,5 gegen 13,1%. 
Wir ha ben hierbei natiirlich nur die Falle mit iiber 20 Jahren gerechnet. 
Nicht ganz doppelt so haufig findet sich demnach das dicke Schadel- 
dach bei den Epileptischen gegeniiber den Schwachsinnigen. 

Die gleiche Erscheinung, namlich das Uberwiegen der dicken Schadel- 
dacher bei den erwachsenen Epileptischen, bemerken wir auch bei 
unsern jugendlichen Epileptischen unter 20 Jahren. Bei ihnen kommt 
ein Schadeldach von 7 ram Dicke in 10,8% gegeniiber nur 3,4% der 
jugendlichen Schwachsinnigen vor, ein solches von 8mm Dicke bei 
8,1% gegeniiber 1,7%. Auch die Schadeldacher mit der fiir Erwachsene 
geltenden Durchschnittsdicke von 5—6 mm finden sich bei den jugend¬ 
lichen Epileptischen in einem hoheren Prozentsatz. Vielleicht darf 
man da auf einen gewissen Zusammenhang zwischen Epilepsie und 
Dicke des Schadeldaches schlieCen, wenn auch mit einigem Vorbehalt. 
Findet sich doch gerade das Schadeldach von 11 mm, das dickste iiber- 
haupt, bei einem an derGrenze der Idiotie stehenden Schw’achsinnigen. 

Um einen naheren Einblick zu gewinnen, haben wir lange Tabellen 
zusammengestellt — mit denen w r ir aber den Leser verschonen wollen —, 
wobei wir die Befunde am Schadeldach in Beziehung gebracht haben 
zum Himgewicht, Schadelraum, zur KorpergroBe, zum Korpergewicht 
und zum Geschlecht. Hinsichtlich der drei letzten Punkte sind wir 
zu dem gleichen Ergebnis gekommen, wie in unserer friiheren Arbeit, 
namlich daB die Dicke des Schadeldaches in keinerlei Beziehung zu 
diesen drei Punkten steht. Was den ersten Punkt betrifft, so haben 
wir friiher die Ansicht ausgesprochen, daB die Dicke des Schadeldaches 
moglicherweise in Beziehung steht zum Himgewicht. Wir wollen diese 
Falle jetzt an unserem neuen selbst untersuchten Materiale priifen. 
Statt des Hirngewichts wollen wir aber lieber als den konstanteren Teil 
den Schadelinhalt nehmen, und zwar wollen wir, da die Verhaltnisse 
hier am offenkundigsten liegen, nur die Extreme, die Mikro-, Makro- 
und Hydrozephalen-Schadel wahlen 1 ). Unter 29 Fallen mit einem 
Schadelinhalt von 970 bis herab zu 655 ccm sind alle Dicken vertreten 
von 4—10 mm und unter den Fallen mit einem Schadelinhalt von 
1410—4000 wiederum alle Dicken von 3—8 mm. Der Hydrozephalen- 
schadel von 4000 ccm hat allerdings nur eine Dicke von 3 mm. Man 
konnte nun folgern: je geraumiger der Schadel, desto diinner die Decke. 
Aber da ist gleich wieder ein Hydrozephalus von 2005 ccm Inhalt und 
einer Dicke von 8 mm. Doch sind im allgemeinen die Dicken von 7—10 
mm und mehr unter den Schadeln mit einem Inhalt um 800—900 ccm 


Bei der Beetimmung des Sch&delinhalts durch EingieBen von Wasser haben 
wir die Dura nicht aus dem Sch&del entfemt. 


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16 


R. Gantor: t)ber die Dicke und das Gewicht des Schadel- 


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zu finden, wenn auch viele Schadel mit dem gleichen Inhalt nur eine 
Dicke von 5 mm aufweisen. Trotz dieser Ausnahmen laBt sich doch 
im groBen ganzen sagen, daB die Schadel mit kleinem Inhalt eher eine 
erhebliche Dicke zeigen als die mit groBem Inhalt. 

Bei 22 = 13,3% der Epileptischen und 13= 11,8% der Schwach- 
sinnigen ist die rechte und linke Halfte des Schadeldaches nicht gleich- 
maBig dick. Meist erstreckt sich dieser Unterschied nur auf eine oder 
zwei Stellen der beiden Seiten (vorn, hinten oder seitlich), seltener 

auf eine ganze Halfte, z. B. j ^ oder g g, oder ~ ± § mm. 

Der Unterschied ist meist nicht groB, aber wo er 2 oder 3 und mehr mm 
betragt, schon mit dem bloBen Auge erkennbar, wie in diesen Fallen: 


5 4 


oder 


5 4 


oder 


mm. Von den 35 Fallen 


r. 6 

1. „ 11 5’- 10 8 6’ 

ungleicher Dicke ist in 21 Fallen die linke Seite und in 9 Fallen die 
rechte Seite dicker a s die andere. In 5 Fallen verhalten sich die Dicken 
ganz umegelmaBig, indem dickere und diinnere Stellen miteinander 
abwechseln, so z. B. wenn in einem Falle die eine Stelle 7, die andere 
4 mm miteinander abwechselnd miBt. 

Es ist behauptet worden, daB sich bei Porencephalie und andern 
Entwicklungshemmungen des Gehirns eine Asymmetrie der Schadel- 
halften ausbilden kann 1 2 ). Abgesehen von einer Asymmetrie, die uns 
in unsern Fallen nicht aufgefallen ist, sollte man meinen, daB einseitige 
Himprozesse auch zu einer ungleichen Dicke des Schadeldaches Ver- 
anlassung geben wurden. In 5 Fallen haben wir auch einen derartigen 


Befund erhoben: 1. 


Mikrogyrie. 2. 
5 5 4 


r. 

1 . 

7 5 

„ 7 


10 

>9 

6 

7’ 


10 

7 


6— 7 

7— 8 


mm, rechte Hemisphare <C, 
einzelne Hirnwindungen mikrogyrisch. 


3. IQ g g, linke Hemisphare <C, Mikrogyrie. 4. 


5—6 
4—5 


5—6 

4—5 


5—6 
4—5* 


Mikrogyrie. 5. _ A , linke Hemisphare %, Mikrogyrie. Aus diesen 

,, o o 

Fallen ist ersichtlich, daB auf seiten des Hirnprozesses das Schadeldach 
eine groBere Dicke aufweist. Allem Anschein nach handelt es sich um 
einen Kompensationsvorgang, eine Raumausfiillung-). Doch stehen 
diesen 5 Fallen 28 andere gegeniiber, in denen trotz der gleichen Er- 
scheinungen am Gehim die Dicke der rechten und linken Seite 
des Schadeldaches gleich ist. Eine Erklarung hierfur ist schwer zu 
finden. 


1 ) Stroebe, Fla to w im Handbuch der path. Anat. des Nervensystems. 
1, S. 310, Berlin 1904. 

2 ) 8. Stroebe. 


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daches bei Epilcptischen und Schwachsinnigen. 


17 


In folgenden 11 Fallen (7 Epil., 4 Id.) haben wir es mit einem be- 
sondersdickenundkompaktenStimbeinzu tun: 1. j ^ ^ ^ mm. 

10 5 5—6 

2. 9 6 7, 3. 10 7—8 7—8, 4. , 5. 11 7 8, 

6. 12 7 8, 7. 10 10 8, 8. 10 5 2, 9. 10 5—6 5—6, 10. 15 10 7, 

11. ^ 5. Nr. 8 1st eine 4jahrige Idiotin. Die groBten Stirn- 
j? 11 y 

dicken gehoren ebenfalls 2Idioten an. Diese 11 Falle weisen zugleich 
eine niedrige fliehende Stirne auf. 

Was das Verhaltnis der Dicke zum Gewicht des Schadeldaches be- 
trifft, so gibt es hierin keine feststehenden Beziehungen, so hat z. B. 
ein Schadeldach von 5 mm Dicke ein Gewicht von 432 g, ein solches 
von 8 mm dagegen nur ein Gewicht von 370 g. Das hangt einmal von 
der Ausdehnung des Schadeldaches ab und dann auch von dem Ver¬ 
haltnis der Diploe zur Compacta, das sehr wechselnd ist. Messungen 
haben wir hior keine ausgefiihrt, sondern nur nach dem Augenschein 
geurteilt, ob Diploe und Compacta in entsprechendem Verhaltnis zu- 
einander stehen, oder ob die Diploe oder Compacta iiberwiegt, oder ob 
reine Compacta vorhanden ist. Die folgende Tabelle soil hieriiber 
AufschluB geben: 

Epilepsie: Idiotie: 


C. und D. entsprechend 

22 

Falle] 

| 36 

1 

30 

FaUf ]52 

i). > 

14 

” J 

22 

” J 

C. > 

40 

” 1 


28 

” 1 

nur C. 

36 

1 

j 79 

18 

„ 46 

Caput eburneum 

3 

J 


— 

J 


Danach besitzen die Epilcptischen etvvas mehr als doppelt so haufig 
ein Schadeldach mit reiner Compacta (79 gegen 36), wahrend bei den 
Schwachsinnigen die Falle mit reiner Compacta und Compacta und 
Diploe sich fast in gleicher Haufigkeit finden. Zu den Epilcptischen 
gehoren auBerdem nocli die 3 Falle von Caput eburneum, das bei 
den Schwachsinnigen nicht vorkommt. Ob man aus diesen Befunden 
auf eine gewisse Beziehung zwischen dem kompakten Schadel und dem 
Auftreten der epileptischen Anfalle schlieBen darf ! 

Was die Gewichtsverhaltnisse des Schadeldaches betrifft, so schwankt 
sein Gewicht in mehr oder weniger groBen Ausschlagen um 300 g herum. 
Zu den schweren Schadeldachern sind die mit 400 g Gewicht und dariiber 
zu rechnen. Bei den Epileptischen haben wir ein Gewicht von 400 g 
und dariiber in 30 Fallen = 18,0°/ 0 angetroffen, worunter wiederum 
4 Falle mit einem Gewicht von 500 g und dariiber. Das Caput 
eburneum wog in den 3 Fallen 438, 527 und 501 g. Das betrachtliche 

Archlv filr Psychiatric Bd. (57. 2 


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18 


R. Ganter: t)ber die Dicke und das Gewicht des Schadel- 


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Gewicht von 557 g bei einer Dicke von 9 ram stelltcn wir bei einem 
kompakten Schitdeldach fest. Bei den Schwachsinnigen fanden wir 
ein Gewicht von 400 g und dariiber in 16 Fallen = 14,5%, wovon 
4 Falle ein Gewicht von 500 g und dariiber zeigten. Das sehr hohe Ge¬ 
wicht von 607 g bei nur 3 mm Dicke wies ein Hydrozephalenschadel 
auf, der einen Rauminhalt von 4000 ccm hatte. Die Hydrozephalen¬ 
schadel besitzen iiberhaupt ein hohes Schadeldachgewicht: 400—500 g 
und dariiber. Ein Fall von Idiotie hatte das zweithochste Gewicht 
von 607 g. Die schweren Schadeldacher kommen also bei den Epi- 
leptischen etwas haufiger vor, sie wiirden noch mehr iiberwiegen, wenn 
nicht das hohe Gewicht der Hydrozephalenschadel ausgleichend wirken 
w'iirde. 

Noch ein Wort iiber die Beziehung des kompakten Schadeldaches 
zura Hirnbefund. In einem Falle von Caput eburneum (527 g, 8 mm) 
und in zwei Fallen von kompaktem Schadeldach (349 g, 7 mm und 
410 g, 6 mm) handelte es sich zugleich auch um eine diffuse Skleiose 
des Gehirns, in den beiden letzten Fallen noch verbunden mit einem 
Epinephrom. Ein besonderes Interesse verdient noch folgender Fall: 
720 g (das hochste von uns festgestellte Schadeldachgewicht!), 
r 10 8 T 

I g _g, Hirnsklerose. Patient wmrde im 7. Lebensjahr von einem 

Hufschlag an der linken Stirnseite getroffen: Trepanation, Krampfe 
nach 2 Jahren, rechtsseitige Lahmung. Sektion: MarkgroBe Trepa- 
nationsoffnung mit hautigem VerschluB l cm iiber dcr linken Orbita. 
Dieser Stelle entsprechend eine nuBgroBe Hohle im Gehirn mit er- 
weichter Umgebung, diffuse Sklerose des Gehirns. Hier darf man wohl 
das Trauma fiir den Zusammenklang der Veninderungen verantw r ort- 
lich machen. 

In den ebenerwahnten Fallen hat also die Sklerosierung gleich- 
maBig Schtidel und Hirn betroffen. Da darf man doch wohl eine ge- 
meinsame, wenn auch, abgesehen von dem letzten Fall, unbekannte 
Ursache der Schadel- und Hirnsklerose annehmen. Dem widerspricht 
auch nicht die Tatsache, daB in den iibrigen Fallen von kompaktem 
und Elfenbeinschadel ein derartiger gemeinsamer Befund nicht er- 
hoben werden konnte. 

Zu sam menfassu ng. 

Die Mehrzahl unserer Falle von Epilepsie und Schwachsinn hat 
im Durchschnitt ein 5—6 mm dickes Schadeldach. Wir diirfen deshalb 
wohl diese Dicke als die normale Dicke des Schadeldaches ansehen. 

Nicht ganz doppelt so haufig findet sich das dicke Schadeldach 
(7 mm und mehr) bei den Epileptischen gegeniiber den Schwachsinnigen. 
Dies zeigt sich auch bei den jugendlichen Epileptischen, die in einem 


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daches bei Epileptisehen und Schwachsinnigen. 


19 


groBen Prozentsatz schon eine Dicke des Schadeldaches aufweisen, wie 
sie den Erwachsenen zukomrat. Dasselbe gilt hinsichtlich der groBeren 
Dicke von 7 mm und mehr. Trotz mancher Ausnahmen darf man 
daraus wohl auf einen Zusammenhang zwischen Epilepsie und Dicke 
des Schadeldaches schlieBen. 

Was die Beziehung zwischen Dicke des Schadeldaches und Schadel- 
inhalt betrifft, so laBt sich im groBen ganzen trotz der Ausnahmen 
sagen, daB die Schadel mit kleinem Inhalt eher eine erhebliche Dicke 
des Schadeldaches zeigen als die mit groBem Inhalt. 

In einem gewissen Prozentsatz weist die rechte und linke Halite 
des Schadeldaches eine verschiedene Dicke auf, wobei iiber doppelt so 
haufig die linke Halfte dicker ist als die rechte. In einigen Fallen sind 
die dicken und diinnen Stellen ganz unregelmaBig verteilt. 

In einigen Fallen, in denen ein HirnprozeB vorlag (Porencephalie, 
Entwicklungshemmung einer Hirnhalfte), war auf der betreffenden 
Seite das Schadeldach dicker (Kompensationsvorgang, Raumausfullung). 
Doch uberwiegt hier die Zahl der Ausnahmen. 

In Fallen von einer niedrigen, fliehenden Stirn zeigte das Stirnbein 
eine auffallende Dicke und Kompaktheit. 

Zwischen Dicke und Gewicht des Schadeldaches gibt es wegen der 
Ausdehnung des Schadeldaches und des schwankenden V T erhaltens von 
Diploe und Compacta keine festen Beziehungen. Doch geht aus unseren 
Befunden hervor, daB unter den Epileptisehen das Schadeldach mit 
reiner Compacta uberwiegt, wahrend bei den Schwachsinnigen die 
Falle mit reiner Compacta und Compacta und Diploe sich fast die 
Wage halten. Das Caput eburneum findet sich nur bei den Epi- 
leptischen (Beziehung zwischen Kompaktheit und dem Auftreten 
der Anfalle?). 

In der Mehrzahl der Falle schwankt das Gewicht des Schadeldaches 
in weiteren Grenzen um 300 g herum. Die schweren Schadeldacher 
finden sich bei den Epileptisehen etwas haufiger. Das Hochstgewicht 
eines Schadeldaches betrug 720 g (Fall von Trauma und Epilepsie). 
In 4 Fallen ist ein Zusammenhang zwischen Kompaktheit des Schadel¬ 
daches und Hirnsklerose unverkennbar. 


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(Aus der psych, u. Nervenklinik Konigsberg i. Pr. 

[Direktor: Geheimrat Prof. E. Meyer].) 

t)ber dip Imlikationen zu hirmlnickentlastemlen Operationen. 

Von 

Kurt Jakoby, appr. Arzt. 

(Eingegangen am 2. August 1922.) 

Wenn es gestattet ist, aus den Funden prahistorischer 8cha.de! 
unter Beriicksichtigung der Operationen, die von heute noch auf ahn- 
licher Kulturstufe stehenden Volkern vorgenoramen werden, einen ent- 
sprechenden RiickschluB zu ziehen, dann dtirfen wir vielleicht die Tre¬ 
panation als die alteste nachweisbare Operation bezeichnen. 1868 fand 
Pruniferes Schadel aus der Steinzeit mit kiinstlich hergestellten, sym- 
metrischen Lochern, und auf deni AnthropologenkongreB 1873 konnte 
er ein bearbeitetes, elliptisches Knochenstiick aus dem rechten Os 
parietale eines Menschen vorlegen, das aus einera solchen Schadeldefekt 
stammen muBte. Weitere Funde forderten dann Schadel zutage, die 
neben einem kleinen Loch von etwa 7—10 mm Durchmesser mit glatten, 
scharfen Randern sowie den Zeichen von Knochennarben rundherum 
noch groBere Locher mit rauhen, schartigen Randern ohne Reaktions- 
zeichen lebendigen Knochens aufwiesen. Diese Funde brachten Pru- 
nieres und Broca zu der Annahrae, daB bereits in der Steinzeit Tre- 
panationen gemacht worden seien und die gefundenen Knochenstiicke 
Amulette waxen, die aus dem Schadel Toter, zu Lebzeiten mit Erfolg 
Trepanierter geschnitten worden waren. Diese Annahme ist uni so 
wahrscheinlicher, als beobaehtet ist, daB auch heute noch bei Natur- 
volkern Leute nach gliicklich iiberstandenen Operationen als Heilige 
verehrt werden. Broca unterschied darum zwischen Trepanations 
ehinirgiques und posthumes und nahm an, daB die Indikation fiir den 
Eingriff, der wohl angesichts der leichteren Technik nur bei Kindern 
gemacht wurde, durch bestimmte Geisteskrankheiten wie Idiotie oder 
mit Konvulsionen verbundenen Hirnkrankheiten gegeben wurde. DaB 
auf Grund einer zielbewuBten, internen Diagnose trepaniert wurde, 
durfte vielleicht ein besonders bekannt gewordener Schadel eines ope- 
rierten Inka beweisen, der etwa 7—14 Tage nach der Operation gestor- 
ben zu sein scheint. Dieser Schadel zeigt nach Broca die Zeichen eines 
subduralen Hamatoms ohne irgendeinen Anhaltspunkt fiir ein Trauma. 


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K. Jftkoby: Uber die Indikationen zu hirndruckentlastenden Operationen. 21 

Dio Naturvolker heute trepanieren nach einer Beschreibung Sansous 
zum Toil in der durchaus berechtigten Vorstellung, „daB gewisse Krank- 
heiten des Gehirns durch Druck auf das Gehirn bedingt werden", und 
trepanieren auch bei Verletzungen. Sie haben also bereits eine Vor¬ 
stellung von gesteigertem Hirndruck als Operation bedingendem Fak- 
tor. SchlieBlieh mag noch Hippokrates erwahnt werden, der eben- 
falls bei Verletzungen die Operation fur indiziert hielt und dessen ge- 
naue Beschreibung eines dazu notigen Instrumentariums erhalten go- 
blieben ist. In den letzten Jahrzehnten ist dann allerdings erst unsere 
Kenntnis vom Hirndruck wissenschaftlicli ausgebaut worden, so daB 
sicherere, umfassendere Indikationen fur den entlastenden Eingriff auf- 
gestellt und neue Methoden der Druckentlastung gefunden werden 
konnten. 

Als wichtigste Hirndruck erzeugende Faktoren kominen die Tu- 
rnoren in Frage, deren Behandlung bis vor etwa 40 Jahren ganz un- 
moglich war. Der Arzt muBte bei der Stellung der Diagnose halt rnachen, 
und erst durch die Ergebnisse von Arbeiten der letzten 4—6 Jahrzehnte 
wurde ihre operative Entfernung bzw. Behandlung ermoglicht. Graefes 
Entdeckung von der Haufigkeit der Stauungspapille bei Hirntumoren, 
Bouillauds und Dax-Brocas klinische Beobachtungen iiber die 
Aphasie, die physiologischen Arbeiten Hitzigs iiber die motorischen 
Zentren der Hirnrinde w'aren grundlegend fur die Stellung der Allgemein- 
und Lokaldiagnose gewesen, wahrend die Einfiihrung der Asepsis, sow'ie 
die Vervollkommnung der chirurgischen Technik einerseits und die 
hau fig bei Sektionen gemachte Erfahrung von der leichten Auslosbar- 
keit der Tumoren andererseits zu ihrer Exstirpation ermutigten. So 
konnte Wernicke 1881 als erster grundlegende Indikationen dazu auf- 
stellen, die auch heute noch Bedeutung haben. 

I. Wenn das Schadeldach durch den Tumor perforiert ware oder 
sonst unzweifelhafte Erscheinungen dartaten, daB der Tumor an einer 
bestimmten, zuganglichen Stelle des Gehirns oberflachlieh sitzt, wobei 
flic hint ere Schadelgrube aber wohl ein Nolimetangere bilden diirfte, 
wahrend die Orbitalflache des Stirnlappens von der Augenhbhle her 
zuganglich sein miiBte, ware die Exstirpation zu versuchen. Vorbe- 
dingung ware: Lokalisation des Tumors, Erfolglosigkeit der internen 
Behandlung, Asepsis und gute Technik. 

II. Bei unzweifelhaften Symptomen eines Ergusses in die Hirn- 
ventrikel kame die Trepanation und Punktion der Seitenventrikel, 
evtl. wiederholt oder auf beiden Seiten in Frage. 

Nach Bruns operierten als erste Bennet und Godlee auf Grund 
einer zielsicheren Diagnose und Ijokalisierung einen okkulten Hirntumor, 
doch starb ihr Patient an Sepsis, und erst die Erfolge Horsleys ver- 
mochten endgiiltig Zutrauen zu erwecken und zur Nachahmung anzu- 


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22 


K. Jakoby: 


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spornen. Die anfangliche Begeisterung wurde allerdings sehr bald ge- 
dampft, die Statistiken erwiesen sich als ungenau, MiBerfolge waren 
sehr zahlreich, und Oppenheim sagt: „sowohl die allgemeine wie die 
personliche Erfahrung haben gelehrt, daB es nur ein verhaltnismaBig 
kleiner Prozentsatz von Fallen ist, in denen ein Dauererfolg erzielt 
wird“. Nach einer von ihm zitierten Statistik Starrs sind fur die 
Operation nur etwa 10% geeignet und 5% erfolgversprechend. Ahnlich 
sind die Erfahrungen Oppenheims selbst, Bruns, von Bergmanns, 
Krauses u. a. Wenn also auch die Entfernung des Tumors die ideale 
Therapie des Hirndrucks darstellt, so ist darum doch eine strenge, 
individualisierende Auswahl nach den folgenden Oberlegungen fiir die 
Erfolg versprechende Operation unbedingt notwendig: 

1. Es muB die Allgemein- und Lokaldiagnose sichergestellt und 

2. die Geschwulst operativ erreichbar sein. 

3. Es darf sich der Tumor nicht diffus ins Gewebe verlieren son- 
dern muB ausschalbar sein. 

4. Es muB die Wahrscheinlichkeit bestehen, daB es sich um eine 
solitare Geschwulst, und zwar nicht malignen oder metastatischen 
Charakters handelt. 

5. Der Tumor darf nicht zu groB sein. 

6. Das Allgeraeinbefinden des Patienten muB die Operation noch 
gestatten (Oppenheim, Bruns, v. Bergmann u. a.). 

Was die Bedeutung der Allgemeinsymptome (Kopfschraerz, Schwin- 
del, Erbrechen, Konvulsionen, Pulsverlangsamung, Benommenheit, 
Denk- und Assoziationshemmungen, Stauungspapille) ira Hinblick auf 
die Radikaloperation anbetrifft, so ist zunachst zu bemerken, daB sie 
nicht immer da zu sein brauchen und oft nur einzeln auftreten. So 
fehlen sie mitunter im Anfang besonders bei noch kleinen Tumoren 
der Zentralwindungen. In den meisten Fallen allerdings werden sie ver- 
einzelt oder miteinander kombiniert da sein, und dann ist ihre Be¬ 
deutung fiir die Indikation zur Operation eine verschiedene. Einmal 
charakterisieren sie oftmals erst als die typischen Erscheinungen des 
Hirndrucks durch ihre stetige Dauer oder Zunahme die Herdsymptome 
als durch Tumoren bedingt, dann aber sind sie in vielen Fallen uberhaupt 
die ersten Anzeichen der Erkrankung, konnen die einzigen bleiben, die 
Herdsymptome verwischen oder vollstandig verdecken. Weiter konnen 
sie aber auch eine Rolle spielen, wenn sie als Herdsymptome auftreten. 
So kann der meist diffuse Kopfschmerz auch iiber dem Sitz des Tumors 
lokalisiert sein, oder eine infolge Usurierung des Knochens auftretende 
lokale Perkussionsempfindlichkeit des Schadels einen oberfliichlich 
sitzenden, meist vom Periost, den Meningen oder der Rinde ausgehen- 
den Tumor an der betreffenden Stelle anzeigen. So konnen ferner z. B. 
Erbrechen, Herzatemanomalien auf eine Erkrankung der Medulla 


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t)ber die Indikationen zu hirndruckentlastenden Operationen. 23 

oblongata, Schwindel auf eine solche des Kleinhirns und Konvulsionen 
auf eine solche der Zentralwindungen hinweisen. 

Die eigentlichen Herdsymptome haben nur in ihrer reinen Form 
chirurgischen Wert. Dann allerdings konnen sie in seltenen Fallen — 
meist wird es sich um die motorischen Zentren handeln — auch ohne 
Allgemeinsymptome auftretend, richtig diagnostiziert und lokalisiert, eine 
Indikation fiir sofortige Operation abgeben. Verwischen sich Nachbar- 
symptome, dann wird man aus ihrer Zunahme nur das Wachsen des 
Tumors verfolgen konnen, und es wird hochstens von Fall zu Fall zu 
entscheiden sein, ob man sie in der Hoffnung, hier den Tumor zu finden, 
bei notwendig gewordener Palliativtrepanation zur Richtschnur fiir die 
Wahl der Stellung des Angriffspunktes nehmen kann. 

Nach Sicherstellung der Allgemein- und Lokaldiagncse ergibt sich 
die Frage nach der Erreichbarkeit der Geschwulst. Ein Tumor kann 
nur entfernt werden, wenn er kortikal oder subkortikal liegt. Die Ex- 
stirpation ist aber nicht moglich, wenn er tief im Marke sitzt, wie es 
oft bei sehr ausgedehnten Stirn- und Hinteihauptslappentumoren der 
Fall ist, an deren groBe, basole Flache man nicht herankommen kann. 
Meistens wird diese Frage wohl erst bei der Operation geklart werden, 
wenn man auch beobachtet haben will, daB z. B. die subkortikalen 
Tumoren der Zentralwindungen unregelmiiBiger einsetzende und ver- 
laufende Jacksonsche Anfalle machen als die kortikalen. 

NaturgemaB waren es zuerst die Tumoren der motorischen Zone, 
die sicher diagnostiziert und mit verhaltnismaBig guter Prognose 
mittels osteoplastischer Schadelresektion enukleiert werden konnten. 
Dann aber gelang es, auch Tumoren aus dem Stirn-, Scheitel-, Sclilafen- 
und Hinterhauptslappen zu entfernen. An dieser Stelle mogen Oppen- 
heims Hinweise angefiihrt sein, daB die Zeichen einer reinen und gut 
ausgepragten Form der Aphasie neben Allgemeinsymptomen vom ersten 
Beginn an bestehend und fortentwickelt, berechtigen, den Schadel in 
tier Gegend der dritten linken Stirn- bzw. ersten Schlafenwindungen zu 
erdffnen. In einem anderen Falle fand er Witzelsucht als eines der Zei¬ 
chen fiir Sitz des Tumors im rechten Stirnlappen oder seiner Umgebung. 
Ein besonderes Interesse haben die Tumoren der hinteren Schadel- 
hohle gefunden, seitdem infolge der Erkenntnis des meist harmlosen 
Charakters des Neurofibroma acustici Monakow diese als Indikation 
fiir die Operation eingeschlossen hat. Oberhaupt bieten die Kleinhirn- 
bruckenwinkeltumoren, zu denen ja das Neurofibroma acustici gehort, 
ein klares Symptomenbild und eine verhaltnismaBig gute Prognose. 
Die Chirurgie der hinteren Schiklelgrube hat in den letzten 15—20 
Jafncn gute Fortschritte gemacht, wenngleich die Prognose besonders 
wegen der Gcfahr einer schweren Hirnstammlasion nicht so gut ist. 
Oppenheim berichtet als giinstiges Resultat von 12 Heilungen bei 


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* 



24 


K. Jakoby: 


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68 Fallen, davon 7 vollstandigen. Demgegeniiber beschreibt er aber 
eine Reihe von Todesfallen und eine schwere dauernde Bulbailahmung 
trotz exstirpierten Tumors. 

Weiter entfernt man mit Erfolg Tumoren aus dem Wurm und Dach 
des 4. Ventrikels, aus dem Thalamus sowie retrobulbare, resp. in die 
Orbita gewucherte Geschwulste. In der mittleren Schadelgrube wurden 
Tumoren, die vom Ganglion Gasseri ausgingen, und mehr und mehr 
Hypophysentumoren angegriffen. Sind diese letzteren schon dadurch 
ausgezeichnet, daB sie dutch ihre Einwirkung auf die Hormonbildung 
(Akromegalie) und die lokalen Druckwirkungen (Hemianopsia bitem- 
poralis, Augenmuskellahmung, Exophthalmus, Anosmie) einen beson- 
ders klaren Symptomenkomplex haben, so sind sie noch dadurch inter- 
essant, dab bei ihrer Diagnose ini Gegensatz zu den anderen Hirn- 
tumoren die Rontgenphotographie eine groBe Rolle spielen kami. Das 
Rontgenbild kann hierbei den Weg der Operation entscheidend be- 
stimmen, indem z. B. nach Schepelmann beim Waehstum des Tumors 
nach oben dem GroBhirn zu die schwierigere intrakranielle Methode, 
dagegen bei intrazellarem Waehstum und namentlich bei Zystenbildung 
der transphenoidale Weg geboten sein soil. Fiir die Indikation zur 
Operation ist hierbei zu beachten, daB das Leiden zunachst langsam 
verlaufen kann und die subjektiven Beschwerden, besonders die Kopf- 
schmerzen, gering sein konnen. Gewohnlich sind es die Augensymptome, 
die selbst mehr als die Wachstums- und Stoffwechselstorungen zur Ope¬ 
ration zwingen. Der Eingriff wirkt dann oft nicht nur lebensrettend, 
sondern kann auch die Abnahme des Sehvermogens vollkommen riick- 
gangig machen und die Symptome der Akromegalie beseitigen. Zu be- 
raerken sei schlieBlich noch, daB wegen der Bedeutung der Hypophyse 
nur eine partielle Exstirpation in Frage komrat. 

Die nachste Forderung, daB die Geschwulst keinen diffusen Charak- 
ter haben soil, fiihrt uns zu den in Frage kommenden Tumoren selber. 
Zwar kommen sie vielfach sowohl abgekapselt als auch diffus vor, 
doch hat die Erfahrung gezeigt, daB immerhin bestimmte Formen fin- 
die einzelnen Geschwulste charakteristisch zu sein pflegen. So bietet im 
allgemeinen das Gliom wegen seines infiltrierenden Wachstums eine sehr 
ungiinstige Prognose. Demgegeniiber ist das Sarkom, mag es vom Kno- 
chen, Periost, den Meningen oder dem Hirn selbst ausgehen, zumeist 
abgekapselt und ausschalbar. Abgekapselt pflegen ferner die von den 
Epithelien der Bindegewebsspalten, den Lymph- und BlutgefaBen der 
Meningen ausgehenden Epitheliome zu sein, desgleichen Tuberkel, 
Gummata, die meist in den Meningen und der Gland, pinealis vorkom- 
men, Psammome, Cholesteatome und die meist in der Hypophyse auf- 
tretenden Adenome. Das Karzinom hat man allerdings sowohl abge¬ 
kapselt als auch diffus angetroffen, ohne daB man eine bestimmte Re- 


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Gber die Indikationen zu hirndruckentlastenden Operationen. 


25 


gel aufzustellen vermochte. Angiomata fand man teils als Ang. arteriale 
racemosum diffus, teils als Ang. cavernosum abgekapselt wachsend. 
Die Zysten, z. T. parasitaren (Zysticerken und Echinococcus), z. T. 
traumatischen Ursprungs, oder entartete Neubildungen sitzen meist 
abgekapselt imMantel desGroBhirns undZerebellums und haben daher — 
besonders die letzteren — eine verhaltnismaBig gute Prognose. 

Es sind aber auch vereinzelte Falle beschrieben worden, bei denen 
wegen des diffusen Charakters die Geschwulst nur teilweise entfernt, 
und doch ein guter Erfolg gezeitigt wurde. Ja, Horsley will sogar schon 
von der bloBen Eroffnung des Schadels und Freilegung des Tumors 
eine Ruckbildung von Gliomen beobachtet haben, und Oppenheim 
fiihrt raehrere Falle an, in denen anscheinend eine vollige Heilung ein 
trat, obschon nicht einmal die Grenzen der Geschwulst festgestellt 
werden konnten. Kleist besprach, urn nur diesen Fall noch zu er- 
wahnen, auf der Sitzung des Rostocker Arztevereins am 4. VII. 18 die 
teilweise Exstirpation einesGlioms des linkenSchlafenlappens und konnto 
in den neun Monaten, die seit der Operation verstrichen waren, ein 
Schwinden der Allgemeinsymptome und eine Besserung der Herdsym- 
ptome (Leitungsaphasie und apraktische Storungen) beobachten. Wie 
unklar aber unser Wissen vom Wesen der Hirntumoren noch ist, zeigt 
eine Bemerkung Oppenheims, es sei ihm einigemal so vorgekommen, 
als sei gerade durch den Versuch der partiellen Exstirpation eines 
diffusen Glioms das Wachstum desselben rapider geworden. Es ist auch 
verschiedentlich versucht worden, zuriickgebliebene Tumorreste durch 
Rontgen- und Radiumstrahlen zu beseitigen. Biihrke berichtet dar- 
iiber: Er habe nach Exstirpation eines iiberknabenfaustgroBen Tumors 
das zuriickgebliebene Geschwulstgewebe mit Rontgenstrahlen behan- 
delt, und die Patienten seien nach zwei Jahren Beobachtungszeit rezidiv- 
frei und abgesehen von gelegentlichen Rindenkrampfen gesund und 
arbeitsfahig geblieben. Auch Kleist empfiehlt die Nachbehandlung 
bzw. Behandlung inoperabler, aber lokalisierbarer Tumoren mit Rontgen¬ 
strahlen oder Radiumrohrchen, die nach vorausgegangener Trepanation 
in die Hirnwunde eingelegt werden. 

Dann darf es sich naturgemiiB nicht um multiple Herde handeln. 
Es ist selbstverstandlich, daB sie von vornherein eine Kontraindikation 
fur die Exstirpation bilden miissen, wenn sie nicht alle entfernt werden 
konnen. Oppenheim fiihrt einen solchen Fall an, in dem v. Berg- 
mann statt eines fiinf Tumoren fand und in der ersten Sitzung gleich 
entfernte. 

Dasselbe gilt auch fiir metastatische Tumoren, wo nicht gleichzeitig 
auch der primare Herd entfernt werden kann. Die Feststellung, ob os 
sich um einen Solitartumor oder um multiple Herde handelt, ist aber 
sehr schwer, wenn nicht ganz unmoglich. Zwar kommen einzelne Ge- 


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26 


K. Jakoby: 


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schwulstarten haufiger multipel vor, doch hat die Erfahrung gezeigt, 
daB dem nicht immer so ist. So hat man z. B. Tuberkelherde trotz der 
Gefahr des vielfachen Vorkommens und sogar trotz in anderen Organen 
bestehender Tuberkulose als Solitartuberkel mit dauemdem Erfolg ex- 
stirpiert, zumal sie in der Rinde saBen und leicht lokalisiert und ent- 
fernt werden konnten. Anders liegt die Sache bei dem doch fast immer 
multipel vorkommenden Karzinom oder Melanosarkom. „Da lasse man 
den Patienten ruhig sterben“ (Bruns). Metastatische Sarkome sind im 
Gehirn selten. Kann das primare Sarkom entfernt werden oder konnen 
es bei multiplem Auftreten die an anderen Stellen noch vorhandenen 
Sarkome ebenfalls, dann ist die Exstirpation des metastatischen Him- 
sarkoms durchaus indiziert, vorausgesetzt, daB es an giinstiger Stelle 
liegt. 

Eine besondere Rolle spielen die Gummata oder syphilitischen Nar- 
ben, die sowohl vereinzelt als auch multipel vorkommen. In vielen 
Fallen sind sie, wo die innere Kur versagte oder Fehldiagnose zur Ope¬ 
ration fiihrte, mit gutem Erfolg exstirpiert worden. Ja, Horsley 
machte sogar als erster die Erfahrung — und ihm schlossen sich auch 
bald andere Forscher, z. B. Bruns an, — daB Gummata in der Rinde 
oft der internen Thcrapie trotzen oder nach derselben schwielige, Tumor- 
symptome v r erursachcnde Narben zurucklassen. Darum halt er auch 
das Gumma fur eine Indikation zur Operation, wenn in hochstens 
6 Wochen spezifischer Behandlung nicht ein deutlicher Riickgang der 
Symptouie beobachtet werden kann. Es ist natiirlich liberhaupt nicht 
erst Zeit mit intemer Behandlung zu verlieren, wenn drohende Allge- 
meinsymptome, z. B. zunehmende Abnahme der Sehscharfe, zur so- 
fortigen Operation zwingen. SchlieBlich ist aber auch noch zu bedenken, 
daB bei bestehender Lues der Tumor kein Gumma zu sein braucht. 

Die iibrigen Tumoren pflegen meist solitar vorzukommen. 

Rezidivoperationen sind haufig mit Erfolg ausgefiihrt worden. So 
operierte Balance fiinfmal und Borchardt noch haufiger (Oppen- 
heim). Meist handelte es sich aber um Zysten, zystische Tumoren oder 
multiple Horde, die erst nach und nach gefunden und dann entfernt 
wurden. 

SchlieBlich darf ein Tumor, um exstirpiert werden zu konnen, nicht 
zu groB sein. Man hat allerdings auch groBe Tumoren enukleiert; z. B. 
erwahnt Oppenheim die beiden von Bramann und Poirier mit Er¬ 
folg aus dem Stirnhirn cxstirpierten Tumoren von 280 g Gewioht, 
und es berichtet Haberer (Innsbruck) liber erfolgreiche Exstirpationen 
eines 178 g schweren Fibroms mit den MaBen 10:8:5 aus dem 
Gvr. supramarg., eines Rundzellensarkoms aus dem Gyr. angularis mit 
den MaBen 9 l / 2 : 0V 2 : 4. Doch ist die Gefahr der plotzlichen Drucksehwan- 
kung und des Choks zu groB, und es ist darum empfehlenswert, sich in 


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t)ber die Indikationen zu hirndruckentlastenden Operationen. 


27 


solchen Fallen je nach dem Zustande des Patienten mit einer partiellen 
Abtragung zu begniigen oder die Operation nach einiger Zeit zu wieder- 
holen. AufschluB iiber die GroBe des Tumors wird wohl immer erst die 
Operation geben, denn man muB in Betracht ziehen, daB kleine Tumoren 
durch ihre Lage ein Hindernis fiir den LiquorabfluB bilden konnen und 
dadurch sehr schwere Allgemeinsymptome hervorzurufen vermogen, 
wahrend groBe Tumoren, die an einer giinstigeren Stelle, z. B. im rechten 
Stirn- und Schlafenlappen, sitzen, weit geringere Erscheinungen machen 
konnen. 

Was dann die Bewertung des AUgemeinbefindens fiir die Operation 
anbetrifft, so gelten fiir sie naturgemaB die auch sonst in der Chirurgie 
iiblichenGesichtspunkte. Das Allgemeinbefinden muB befriedigend sein, 
der Patient darf sich nicht in Extremis oder im Zustande der Benommen- 
heit befinden, darf keine Stoning der Atmungs- und Herztatigkeit 
haben. Bei Tuberkeln des Gehirns darf keine tuberkulose Meningitis 
oder Miliartuberkulose bestehen. 

1st die radikale Operation, die ideale Therapie, nicht mbglich, 
weil oben behandelte wichtige Forderungen nicht erfiillt sind, dann kbn- 
nen eine Reihe anderer druckentlastender Eingriffe in Frage 
kommen. Fiir diese alle besteht zunachst das Gemeinsame, daB bei der 
Stellung der Indikation die Allgemeinsymptome den Ausschlag geben, 
im Gegensatz zur Radikaloperation, bei der zunachst die Herdsymptome 
bestimmend sind. AuBerdem ist ihnen alien auch das gemeinsam, daB 
sie anstreben, die qualenden Allgemeinsymptome zu beseitigen, dadurch 
evtl. die Herdsymptome hervortreten lassen und damit schlieBlich doch 
noch die Lokalisation und Entfernung des Tumors ermoglichen konnen. 

Der weitgehendste Eingriff dieser Art ist die Palliativtrepana¬ 
tion. Sie kann bei multiplen, metastatischen oder iiberhaupt nicht 
festgestellten Tumoren eine einfache Druckentlastung und Zuriickgehen 
der Drucksymptome bewirken, in anderen Fallen, in denen der Tumor 
selbst freigelegt wird, eine teilweise Abtragung oder Rontgen- und Ra- 
diurabehandlung ermoglichen. In einzelnen gliicklichen Fallen hat man 
sogar den Erfolg gehabt, an der fiir die Palliativtrepanation gewahlten 
Stelle den Tumor finden und entfernen zu konnen. 

Die Indikation zur Palliativtrepanation wird, wie bereits oben ge- 
sagt, durch die Allgemeinsymptome gegeben, wenn sie das Befinden 
des Patienten in bedrohender Weise gefahrden. Das Wichtigsto dieser 
Symptome ist die Stauungspapille bzw. die beginnende Neuritis optica. 
Die Untersuchungen vor allem Hippels zeigten, daB die Patienten 
beim Beginn der Neuritis optica oder auch schon der Stauungspapille 
durch eine Palliativtrepanation das voile Augenlicht wieder erhalten 
konnten, wenn die Sehscharfe noch nicht alizuviel gelitten hatte. Das 
war aber nicht mehr mbglich, wenn die Stauungspapille bereits langere 


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K. Jakoby: 


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Zeit bestand, oder gar die Atrophie des Sehnerven eingetreten war. 
Weitore Beobachtungen zeigten, daB diese durch Hirndruck erblindeten 
Menschen noch 5 —17 Jahre in diesem traurigen Zustand leben konn- 
ten. So ist es begreiflich, daB eine Reihe von Autoren — beyonders 
war es Horsley —unbedingt beim Auftreten der Stauungspapille zur 
sofortigen Trepanation raten. Nach Oppenheim u. a. aber ist erst 
zu operieren, wenn bei nicht moglicher Lokalisation des Tumors die Be- 
schwerden des Patienten sehr erheblich sind und nicht anders beseitigt 
werden kdnnen, oder wenn die Sehstorung rasch fortschreitet und in 
Erblindung iiberzugehen droht. In der Diskussion zu Horsleys Vor- 
trag: ,,Die ehimrgische Behandlung der intrakraniellen Geschwiilste im 
Gegensatz zu der abwartenden Therapie“ auf der 4. Versammlung der 
Gesellschaft deutscher Nervenarzte am 6. X. 1910 warnt er nicht 
nur vor der Operation bei anscheinend durch Syphilis hervorgerufenen 
Tumorsymptomen, sondern weist auch auf die den Tumoren ahnlichen 
Bilder der Meningitis serosa, der nicht eitrigen Enzephalitis, die interner 
Behandlung durchaus zuganglich seien, hin. Die Palliativtrepanation 
ware durchaus kein harmloser Eingriff, und es seien auch schwere Fol- 
gen danach beobachtet worden: Verlust des Augenlichts, der Sprache, 
Hemiplegien usw. Ahnlich lauten die Erfahrungen der Konigsberger 
Nervenklinik nach Trepanationen, wo besonders noch schwere Folge- 
zustande in Begleitung und im AnschluB an Prolapsbildung beobachtet 
wurden (vgl. z. B. Fall I am SchluB der Arbeit). 

So laBt sich denn wohl im allgemeinen folgendes zur Indikations- 
stellung sagen: Man soli mit der Palliativtrepanation bei nicht ge- 
sicheiter Lokaldiagnose wenn irgend moglich so lange warten, bis das 
Hervortreten von Herdsymptomen unwahrscheinlich wird und eins der 
Allgemeinsymptorae zur Palliatioperation zwingt. Vorteile der Palliativ¬ 
trepanation gegeniiber den noch zu besprechenden anderen Eingriffen 
sind vor allem weitergehende und raschere Wirkung, die gerade bei 
der Stauungspapille eine so wichtige Rolle spielt. 

Steht die Indikation zur Palliativtrepanation fest, dann erhebt sich 
die Frage, an welcher Stelle sie vorgenommen werden soli. Es bleibt 
dabei immer zu beachten, daB die Palliativtrepanation unter dem Druck 
vonSymptomen vorgenommen wird, daB aber immer nach Moglichkeit 
der ursachliche Faktor anzugreifen ist. So wird man an der Stelle tre- 
panieren, an der irgendwelche Symptome auf den Sitz eines Tumors 
schlieBen lassen. Hat man gar keine Anhaltspunkte fiir den Sitz der Ge- 
schwulst, dann operiert man Tiber den ,,stummen Hirnpartien“, d. h. 
an den Stellen, an denen der etwa eintretende Prolaps Hirnteile von 
relativ geringer physiologischer Wichtigkeit betrifft (Oppenheim, 
Sanger, Horsley). Nach Oppenheim ist die Gegend des rechten 
Teraporallappens am geeignetsten, und der Meinung sind auch die mei- 


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t)ber die Indikationen zu hirndruckentlastenden Operationen. 29 

sten andercn Autoren. Cushing schlagt. dabei vor, den M. temporalis 
zur Deckung des Defektes zu benutzen, um durch ihn dem vordrangen- 
den Gehirn einen Halt zu geben. 

Die hervorragende Bedeutung der Stauungspapille hat auch dazu 
gefiihrt, daB man vom Auge selbst operativ vorgeht. Der erste Bericht 
hieriiber liegt noch aus der Zeit vor der chirurgischen Behandlung von 
Hirntumoren vor, und zwar von De Wecker: ,,Chinirgische Behand¬ 
lung der Neurits optica“, Lancet 1872. Die Indikation zum Eingriff 
gaben Erblindung und schwere Kopfschmerzen, die wahrscheinlich 
durch Hirntumoren bedingt waren. Die Operation ist jetzt von Leo¬ 
pold Muller abgeandert worden, und es iibersteigen nach ihm die Er- 
folge der verhaltnismaBig leichten Operation die der Palliativtrepana- 
tion. Nach ihm ware sie bei alien Druck erzeugenden Hirnprozessen, 
also auch Tumor und Pseudotumor, selbstverstandlich unter Berucksich- 
tigung der mechanischen, hydrostatischen und biologischen Folgen in- 
diziert. 

Nun ist aber schlieBlich die Drucksteigerung nicht immer bloB durch 
Wachsen des Tumors bedingt, sondern es komrat nach Frazier die. Ent- 
stehung der Allgemeinsymptome mehr durch Storung des Gleichge- 
wichtes zwischen Sekretion und Absorption des Liquors zustande als 
durch Art und GroBe des Tumors. Anton sagt dariiber: „Es ist zu 
beachten, daB die erhohte Spannung der in den Hirnhohlen abgesperr- 
ten Fliissigkeit als Quelle des erhohten Druckes vielfach anzusehen ist. 14 
Gelingt es also, diese teils nur abgeschlossene, teils auch durch den Reiz 
oder toxische Einwirkung im ObermaBe sezernierte Fliissigkeit aus dem 
Schadel herauszuziehen, dann miissen die Allgemeinsymptome beseitigt 
werden und kimnen unter Umstanden die Herdsymptome deutlicher 
hervortreten. Diese Oberlegungen fiihrten zu einer Reihe von Vor- 
sehlagen fiir druckentlastende Operationen, die nicht die Gefahren der 
AlJgemeinnarkose, der langen Dauer des Eingriffes, der plotzlichen 
Druckschwankung und des Prolapses haben und doch ihren Zweck voll 
erfiillen sollen. 

So berichtet Beriel iiber eine Punktion von der Orbita her, die 
dann spater von Gebb und Weichbrodt nachgepriift wurde. Die 
Methode soil sehr einfach sein, auftretende Blutungen unter die Binde- 
haut und ins Ober- und Unterlid sollen sich auf feuchtwarme Umschlage 
hin schnell resorbieren. Ebenso soli der sich bildende Exophthalmus 
bald verschwinden. Trotzdem aber sind nach Ansicht der Autoren 
diese Nebenumstande schuld daran, daB sich die Punktion nicht ein- 
biirgern kann. 

Im Jahre 1904 traten dann Neis3er und Pollack mit einer von 
ihnen vervollkommneten Methode der Hirnpunktion an die Offent- 
lichkeit. Die Vorteile der Punktion gegeniiberder Trepanation sind, wie 


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30 


K. Jakoby: 


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oben gesagt, die, daB dem Patienten die Narkose erspart wird, daB der 
Eingriff kiirzere Zeit dauert, daB die sekundaren Trepanationsgefahren 
(Blutung, Hirnprolaps, plotzliche Druckentlastung, Meningitis) weg- 
fallen, daB er haufiger wiederholt werden kann. Max Michael zitiert 
Hesse, nach welchem 4—8 Punktionen kein so groBes Risiko haben 
wie eine zweite Trepanation. Doch liegt die Bedeutung der Hirnpunk- 
tion nicht auf therapeutischem Gebiet, wenn auch einzelne Autoren Er- 
folge bei der Zystenbehandlunggesehen haben wollen, sondern wohl aus- 
schlieBlich auf diagnostischem. Es gelang haufiger durch aspirierte Ge- 
hirnpartikelchen AufschluB iiber den Sitz und die Art des Tumors zu 
erhalten und danach die Prognose und das Handeln zu richten. Mehr- 
mals wurden so Tumoren richtig bestimmt und erfolgreich exstirpiert. 
Die Grenzen und die Tiefe der Geschwulst zu bestimmen, gelang aller- 
dings nie. Den Erfolgen stehen jedoch auch eine groBere Zahl MiBer- 
folge gegeniiber. Man machte vielfach die Erfahrung, daB man durch 
die Punktion um so weniger Aufklarung erhielt, je unsicherer die kli- 
nische Diagnose war. Ja, in 4 Fallen war das Resultat der klinischen 
Diagnose sogar sicherer als das der Hirnpunktion. Therapeutisch 
kommt sie wohl bei Tumoren hochstens noch als Voroperation der Tre¬ 
panation in Frage, um eine zu plotzliche Druckanderung zu verhiiten. 
Hippel besonders berichtet iiber Erfolge einer solchen Kombination. 
Es ist aber schlieBlich noch zu bemerken, daB auch dieser Eingriff nicht 
absolut gefahrlos ist. Zwar ist die von Krau se so gefurchtete Infektions- 
gefahr vom Bohrloch oder von einem durchstoBenen AbszeB aus nicht 
sehr groB. Doch ist die Moglichkeit der Blutung vorhanden, und es 
sind 5 Todesfalle durch Verblutung bekannt geworden, trotzdem die 
von Neisser-Pollack angegebenen Punkte in verhaltnismaBig ge- 
faBarmen Gegenden liegen. Das Gebiet ist eben an und fiir sich gefaB- 
reich, die Pialvenen verlaufen unregelmaBig und auch die Vv. diploeticae 
und die A. mening. media verlaufen zu variabel, als daB nicht Ver- 
letzungen leicht vorkommen konnten. SchlieBlich kann es sich ja auch 
um ein Angiom handeln, das angestochen zur todlichen Blutung fiihren 
kann, wenn nicht sofort die Trepanation angeschlossen wird. Es wurde 
darum empfohlen, vorher eine Rontgenaufnahme zu machen, und zwar 
besonders bei Punktionen des Kleinhirns, um den Sinus transv. festzu- 
stellen. Zu warnen ist jedenfalls nach Oppenheim u. a. vor dem 
wahllosen Herumbohren in den verschiedensten Hirnabschnitten, denn 
neben den oben beschriebenen Gefahren ist das an verschiedenen Stel- 
len punktierte Gehirn eben doch ein geschadigtes und in seiner Wider- 
standskraft herabgesetztes Organ. 

Was die Ventrikelpunktion anbetrifft, so ist auch sie zu diagno- 
stischen Zwecken und zur Linderung der Allgemeinbeschwerden heran- 
gezogen worden, ohne daB sie bei Tumoren besonders giinstige Resul- 


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t)ber die Indikationen zu hirndruckentlastenden Operationen. 


31 


tate gezeitigt hatte. Die Indikation fiir sie aus therapeutischen Griin- 
den ist naturgemaB ein sekundarer Hydrocephalus. AuBerdem wurde 
sie ebenfalls nach den v r orher behandelten Gesichtspunkten als Voropera- 
tion mit der Palliativtrepanation verbunden. 

Eine weitere Ersetzung der Palliativtrepanation sollte dann der von 
Anton und Bramann ausgearbeitete Balkenstich darstellen, mit 
dessen Hilfe man auch in geeigneten Fallen in der Medianlinie mit der 
Sonde nach hinten gehend den dritten Ventrikel offnen konnen soli. 
Aus einem Referat Antons auf der 5. Jahresversammlung der Gesell- 
schaft deutscher Nervenarzte iiber 50 mit Balkenstich behandelte Falle 
(24 Tumoren, 17 Hydrocephalus, 4 Zysticerken, 2 Epilepsie, je 1 luet. 
und einfache Meningitis, 1 Turmschadel) sollen sich auBer den oben 
behandelten noch die folgenden Vorteile gegeniiber der Trepanation er- 
geben: 1. der Eingriff kann in Lokalanasthesie gemacht werden, 2. schont 
er Rinde und Leitungsbahnen, 3. schafft er eine Kommunikation zwi- 
schen Ventrikel und Subduralraum und damit eine groBere Resorptions- 
flache, 4. soil durch ihn auch der 3. Ventrikel zur Kommunikation mit 
den anderen Hirnhohlen gebracht werden konnen, was sehr wichtig ist, 
weil dieser sich mitunter gesondert erweitert und seine diinnen Wande 
dann einen Druck auf die Basis speziell das Chiasma opt. w'eiterleiten, 
5. kann er eine Voroperation fiir die Entfernung von Zysten im 4. Ven¬ 
trikel darstellen. So blieb das Sehvermogen in zwei Fallen von Zysten 
im 4. Ventrikel erhalten, bei denen durch die nachtragliche Eroffnung 
des Kleinhirns und des 4. Ventrikels auch die Stauungspapille zum Ver- 
schwinden gebracht wurde (Boumann). 

Dagegen kommt der Balkenstich nicht in Frage bei Tumoren der 
Hemispharen mit Kompression der Ventrikel, Balkentumoren, Tumoren 
des 3. Ventrikels oder der Lamina quadrigemina, der Dura oder Schadel- 
knochen. Die Hauptgefahren bestehen nach Boumann in einer Ver- 
letzung der Stammganglien und Capsula interna. Er fiihrt unter zehn 
Fallen zwei mit nachgebliebener Hemiplegie und Erscheinungen eines 
Herdes im Thalamus an. 

Nach Polisch hat der Eingriff neben den oben behandelten Vorteilen 
gegeniiber der Trepanation aber doch eine Reihe von groBen Nachteilen 
gegeniiber der Trepanation und Punktion. So sah Hippel zwar sieben- 
mal, daB sich nach Anwendung des Balkenstichs die Stauungspapille 
zuriickbildete, jedoch langsamer als es bei der Trepanation der Fall zu 
sein pflegt. Das kann natiirlich in dringenden Fallen, wie bereits oben 
gesagt, verhangnisvoll werden. Polisch machte dieselbe Beobachtung 
und warnt deshalb davor, bei hochgradiger Stauungspapille mit der 
Trepanation zu warten. Des weiteren seien von ihm selber viermal 
unter zehn Fallen Blutungen und Kollaps infolge einer plotzlichen 
Druckentlastung beobachtet worden. Auch Entgleisungen der Kaniilen 


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K. Jakoby: 


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seien besonders bei Lageveranderungen vorgekommen. Schlic(31 ich be- 
richtet er von einem Fall, bei dem zweimal der Balkenstich erfolglos 
versucht worden sei «nd die Operation wegen Kollaps hatte abgebrochen 
werden mtissen. Fur die Diagnose sei es wohl moglich gewesen, Hohe 
des Drucks und Menge des Inhalts festzustellen, so daB sich eine Vor- 
stellung von der GrbBe des Hohlenhydrops hatte ergeben konnen, 
doch kame die Austastung praktisch kaum in Frage. Erfahrungen dar- 
iiber seien eigentlich nur von Anton mitgeteilt worden. lin allgemeinen 
handele es sich wohl um Zufallstreffer. Diagnostisch sei die Hirn- bzw. 
die Ventrikelpunktion iiberlegen, die auch bei nicht operablen Tumoren 
in der Kombination mit der Trepanation zu therapeutischen Zweeken 
vorzuziehen ware. 

Von Anton und Schmieden wurde dann noch eine andere Punk- 
tion auf Gnind der folgenden Uberlegung ausgearbeitet, die teils eine 
besondere Operation darstellt, teils den Balkenstich erganzen soli: 
Bei Zunahme des Hirndrucks oder auch des Hirngewichtes wird der 
Druck motorisch bis zum Kleinhirn und der Medulla oblong, hin weiter- 
geleitet. Dadurch wird die Kommunikation zwischen dem Subdural- 
raum des Gehirns und der Wirbelsaule gestort. ,,Es war also notig, 
auch das subtentorielle Kreislaufgebiet in Betracht zu ziehen. Dieses 
hat ja in bezug auf die GefaBe und Lymphspalten seinen eigenen Mecha- 
nismus und seine eigenen Gesetze.“ So ist bekannt, daB sich bei Dmck- 
steigerung die Membrana occip. atlant. vorwolbt und dehnen laBt. 
Sie wurde auch bereits von Physiologen mehrfach eroffnet (Dencher 
und Druif), und Druif zeigte, daB Tiere auch durch hohen Druck 
nicht getdtet wurden, wenn die Membran offen blieb. Horsely und 
F. Krause erzielten dann durch eine Offnung in der Dura bei Ober- 
druck und Hypersekretion im Subduralraum des Riickgrats eine be- 
trachtliche Erleichterung. Sie zeigten auch, daB diese Offnung behufs 
des Abflusses des Liquors bei Vernahung der Hautwunde offen gelassen 
werden konnte. Payr hatte bereits mittels Trepanation die Cysterna 
cerebell. eroffnet, und Westernhoffer hatte schon 1906 Einsclinitt 
und dauernde Drainage der Membrana occip. atlant. empfohlen (bei 
epidemischer Meningitis), evtl. mit Eroffnung und Punktion des Unter- 
horns, um eine Durchspiilung des Ventrikels vorzunehmen. Von Payr, 
Mikulicz, Krause, Cushing u. a. Autoren war dann versucht wor¬ 
den, durch Drainage mittels Metallrohren oder einer Kalbsarterie einen 
AbfluB des Liquors ins Subkutangewebe oder den Subduralraum des 
Riickenmarks zu schaffen, ohne daB diese Methoden jedoch schon wegen 
ihrer schwierigen Technik praktische Bedeutung erlangt hatten. 

Nach Anton sind die Vorteile dieses Verfahrens, des Su boccipit al- 
stiches, gegeniiber der Trepanation zietnlich dieselben wie beim Bal¬ 
kenstich. Zum erstenmal haben Anton und Schmieden in dieser 


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t)ber die Indikationen zu liimdruckentlastenden Oporationen. 


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Weise bei einem verzweifelten Fall von Hypophysentumor eingegriffen, 
bei dem durch Suboccipitalstich zwar die Sehnervenatrophie auch nicht 
beseitigt werden konnte, die Kopfschmerzen aber und das Erbrechen, 
some die Benommenheit fur langere Zeit zum Verschwinden gebracht 
wurden, als es vorher durch Balkenstich moglich gewesen war. Anton 
berichtet u. a. von einem Falle, in dem die Stauungspapille bis auf eine 
kleine Andeutung auf einer Seite gebessert wurde, dab der Liquor an 
der Genickstelle zeitweilig eine Anschwellung verursachte. Diese 
Schwellung wurde allmonatlich punktiert und etwa 20 ccm klare Ge- 
hirafliissigkeit entleert. Auf diese Weise wurde ein 5. extrakranieller 
Reserveventrikel geschaffen. Als spezielle Indikation fur den Subocci¬ 
pitalstich kommt jede AbfluBbehinderung in der Gegend der Vierhiigel 
des Aquaeductus Sylvii, im 4. Ventrikel und in der hinteren Schadel- 
grube in Frage. 

Der Suboccipitalstich ist aber durchaus nicht ungefahrlich und 
kommt auch nach Anton und Schmieden selber hauptsachlich fiir 
desolate Falle in Frage. 

SchlieBlich bleibt noch die Lumbalpunktion zu besprechen, die 
von einer Reihe von Autoren, z. B. Curschmann und Schlesinger, 
auch mit Erfolg zur Beseitigung der Allgemeinsymptome bei Tumoren 
ausgefuhrt wurde. Das Prinzip der Druckentlastung ist dem der eben 
besprochenen Methoden ahnlich, und dabei ist es ein groBer Vorzug 
diesen gegeniiber, daB die Gehirnsubstanz selbst nicht angegriffen wird. 
Wenn aber auch von verschiedenen Autoren Ruckgang der Stauungs¬ 
papille und der sonstigen Allgemeinsymptome beobachtet wurde, so 
stehen doch eine Reihe von Beobachtungen dem gegeniiber, nach denen 
im AnschluB an den Eingriff eher noch eine Verstarkung der Beschwer- 
den, namentlich der Kopfschmerzen, auftrat, so daB Oppenheim vor 
ihrer Anwendung bei Tumoren warnt. 

Die Gefahren der Lumbalpunktion beruhen in der plotzlichen Druck- 
erniedrigung, die sekundar zu verschiedenen unheilvollen Folgen, wie 
Blutung ex vacuo und Verlegung der Kommunikation, fiihren kann. 
Deswegen inuB sie vor alien Dingen bei Tumoren der hinteren Schadel- 
grube und besonders des 4. Ventrikels sehr vorsichtig gemacht, und darf 
der Liquor nur tropfenweise abgelassen werden. Dies ist eigentlich die 
einzige wirkhch klare Kontraindikation, wahrend man sonst irgend- 
welche bestimmte Indikationen nicht aufstellen kann. 

Will man bei gefahrlichen raumbeschrankenden Prozessen deimoch 
lumbalpunktieren, so haben sich folgende VorsichtsmaBregeln als niitz- 
lich erwiesen: 

1. 24stiindige Bettruhe vor dem Eingriff. 

2. Der Kopf muB bei dem Eingriff tief liegen, der Pat. muB sich in 
Seitenlage befinden. 

Archiv fiir Psychlatrie. Bd. 07. 3 



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34 K. Jakoby: 

3. Der Druck muB dauernd bzw. nach Ablauf von je 2 ccm gemessen 
werden. 

4. Nach dem Eingriff muB der Pat. 2—3 Tage oder mehr, je nach 
der Starke der Beschwerden, zu Bett liegen, die ersten 24 Stunden 
mit tiefliegendem Kopfe. 

5. Alkohol und geistige Aufregungen miissen vermieden werden. 

6. Der t)bergang in die aufrechte Korperhaltung muB allmahlich 
vorgenommen werden. 

Vollig zu verwerfen sind Aspiration oder ambulante Vornahme des 
Eingriffs. 

Ein dem Hirntumor ahnliches Bild bietet oftmals der HirnabszeB. 
Auch er kann dieselben Allgemein- und Herdsymptome verursachen, 
die zuerst Reizung, dann Lahmung bewirken, doch kommen meist zu 
den klinischen Erscheinungen, wie wir sie bei den Tumoren fanden, 
Fieber, Schiittelfrost, Abmagerung, septisches Aussehen hinzu. Hin- 
gegen ist die Neuritis optica bzw. Stauungspapille seltener. Die Herd¬ 
symptome sprechen naturgemaB wieder fur eine entsprechende Er- 
krankung der GroBhirnhemisphare und des Kleinhirns, sind fur die 
Lokaldiagnose das wichtigste Zeichen und geben somit die Indikation 
zur Radikaloperation. 

In der von Neisser-Pollack beschriebenen Hirnpunktion haben 
wir ein gutes diagnostisches Hilfsmittel, das sich gleichzeitig auch als 
Voroperation gut bewahrt hat. Die Gefahr, daB infolge DurchstoBung 
des Abszesses eine Verschleppung des Eiters in tiefere Hirnschichten 
stattfinden kann, wird dadurch vermieden, daB man gleich im AnschluB 
an die Punktion breit eroffnet und AbfluB schafft. 

Ist die Lokalisation unmoglich, dann kommen wie beim Tumor 
nach denselben Gesichtspunkten die PalJiativtrepanation bzw. die iibri- 
gen druckentlastenden Operationen in Frage, zumal die Differential- 
diagnose zwischen Tumor und AbszeB ja durchaus nicht immer klar 
ist. Die spezielle Indikation zum Eingriff beim AbszeB laBt sich nach 
v. Bergmann folgendermaBen zusammenfassen: ,,Es kommen fast alle 
traumatischen Abszesse oder solche im AnschluB an Knocheneiterungen 
namentlich des Ohres entstehende in Frage, wahrend metastatische 
Abszesse wegen ihrer Multiplizitat und als Zeichen von Septiko- 
pyamie besser unberiihrt gelassen werden. Man suche die Lokaldiagnose 
so sicher wie moglich zu stellen und gehe erst daim nach erfolgter Er- 
offnung des Schadels mit dem Messer vor. Ist an der Oberflache des Ge- 
hirns kein Eiter sichtbar, dann punktiere man das Gehirn und passe 
auf, ob sich aus der Tiefe Eiter entleert. 1st dies der Fall, dann schneide 
man mit dem Messer in die Tiefe des Hirns ein.“ Eine allgemeine Me¬ 
ningitis braucht nach Oppenheim keine Kontraindikation zu sein, da 
Symptome derselben in dem Vorstadium bzw. den Vorstufen desselben 


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t)ber die Indikationen zu hirndruckentlastenden Oporationen. 35 

auftreten konnen. Man hat auch wie bei den Tunioren die Operation 
mitunter erfolgreich wiederholt, so in einem von Oppenheim zitierten 
Falle von Gluck, der nach elfjahriger Heilung eine Patientin wegen auf- 
tretender Kopfschmerzen und Epilepsie zum zweitenmal operierte, 
eine Zyste fand, mit deren Entleenmg und Exzision von neuem Hei¬ 
lung erfolgte. Im allgemeinen aber sind auch .die Erfolge der chirurgi- 
schen Therapie, die immerhin noch die beste ist, nicht allzu giinstig. 
Oppenheim zitiert eine Statistik von Korner, der bei 23 GroBhirn- 
abszessen 11 Heilungenund 12 Todesfalle und bei 15 Kleinhirnabszessen 
gar nur 4 Heilungen und 11 Todesfalle beobachtete. Eine verhaltnis- 
maBig giinstige Chance bieten die Schlafenabszesse, eine besonders 
ungiinstige die des Kleinhirns. Rechnet man gar die Falle mit, in denen 
der AbszeB nicht gefunden wurde, dann kann nach der von Oppenheim 
zitierten Statistik Schmegelows und Korners auf acht Heilungen 
bei 30 Abszessen, gleich 26,6% gerechnet werden. 

Ebenfalls nach denselben Gesichtspunkten der Tumorbehandlung 
richtet sich vielfach die chirurgische Therapie des Zysticerkus und 
Echinococcus, deren Prognose im allgemeinen durch ihr multiples 
Auftreten ungiinstig ist. Auch hier leistet die Lumbalpunktion und die 
Hirnpunktion wieder besonders gute diagnostische Dienste. Durch die 
letztere ist es auch moglich gewesen, Echinococcusblasen zu aspirieren. 
Wegen der durch die Parasiten bewirkten enormen Hypersekretion hat 
man auch bei Balken- und Suboccipitalstich Erfolge durch Beseitigung 
der Allgemeinsyraptome erzielt. 

Es mag jetzt die Besprechung des Hydrocephalus angeschlossen 
werden, der entweder als angeborener und dann meist interner oder als 
erworbener und dann meist externer auftritt. Danach ergibt sich die 
Indikation fiir den entsprechenden Eingriff. Die Unterscheidung ist 
jedoch nach den klinischen Symptomen so gut wie unmoglich. Die ge- 
gebene Therapie ist die Ventrikelpunktion, die bereits von Hippokrates 
gekannt und empfohlen wurde und die heute besonders dami angewandt 
wird, wenn die Spinalpunktion ein negatives Resultat hatte. So sah 
Beck in einem Falle Wiederkehr des Sehvermogens, Schwinden des 
Koma und Sheyne-Stockeschen Atmens nach der Punktion. Die Erfolge 
sind jedoch im allgemeinen nicht iibermaBig groB. Nach einer Statistik 
iiber 30 Falle von Henschen (zitiert nach Oppenheim) waren 15 Hei¬ 
lungen, 12 Besserungen, 12 ohne Resultat und 24 Todesfalle. Im all¬ 
gemeinen laBt man 50 — 80 ccm Fliissigkeit ab, in schweren auch zum 
erstenmal 100 ccm. Doch darf der Druck nicht unter 50 sinken. Erst 
das nachste Mai darf er evtl. auf Null herabgehen. Die Punktion kann 
selbst taglich vorgenommen werden, doch muB man bei Kindern um 
so vorsichtiger sein, je weiter der SchluB des Schadels gekommen ist. 
Bei ganz geschlossencm Schadel muB man sich vor dem Entstehen eines 

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K. Jakoby: 


negativen Druckes kuten. Man wird dann iiberhaupt gut tun, moglichst 
wenig Fliissigkeit abzulassen. Nach Pinkus waren die Erfolge bei 
fortdauerndem Hydrocephalus gleich Null, bei sistiertera dagegen gut. 
Es konnnt eben darauf an, ob der Hydrocephalus auf toxischer Basis 
durch Eitervorgange im Gehirn resp. seiner Umgebung oder auf direkter 
bakteriologischer Infektion der Tela chorioidea beruht. 

Mikulicz und Henle versuchten, die Fliissigkeit durch ein Glas- 
wolldrain oder Goldrohrchen aus dem Seitenventrikel in den Subarach- 
noidealraum bzw. unter die Galea des Schadels zu leiten, doch starben 
ihre sieben Patienten. 

Quincke schlitzte subkutan den Duralsack. Kausch empfiehlt 
Larainektomie von 1—2 Lendenwirbeln, breite Eroffnung der Dura 
und Arachnoidea sowie die Vernahung derselben mit der Haut. Payr 
fiihrte die Ventrikeldrainage aus, indem er erst einen Troikart in den 
Seitenventrikel emfuhrte und dann an dessen Stelle ein frei transplan- 
tiertes GefaBstiick zum Sinus legte. So berichtet er iiber einen elfjah- 
rigen Dauererfolg mittels einer in Formalin geharteten und paraffin- 
getrankten Kalbsarterie bei einem mit hochgradiger Stauungspapille 
einhergehenden Hydrocephalus. Henle leitet auch durch frei transplan - 
tierte BlutgefaBc die Fliissigkeit in die V. jugularis. Der Balkenstich 
ist ebenfalls bei Hydrocephalus internus mit Erfolg angewandt worden, 
doch hat Oppenheim Bedenken gegen ihn, nachdem einer seiner Pa¬ 
tienten aus ungeklarter Ursache nach dem Eingriff starb. Der Sub- 
occipitalstich soli sich bei Behinderung des Abflusses durch basale Hin- 
dernisse bewahrt haben. Durch ihn soli man auf diese Weise noch in 
der Kindheit die Druckatrophie der Kleinhirnhemispharen durch recht- 
zeitiges Ablassen von Fliissigkeit haben verhindern konnen. 

Auch die Trepanation ist vielfach gemacht worden. So mit gutem 
Erfolge in einem Falle von Krause unter der Annahme eines Kleinhirn- 
tumors. So erzielte nach Oppenheim auch Axhausen nach mehr- 
facher Trepanation durch wiederholte operative Entleerung Heilung, 
ebenso Bruce und Cotteril durch Trepanation und Eroffnung des 
4. Ventrikels. 

Beim Hydrocephalus acquisitus hat sich die Lumbalpunktion 
gut bewahrt, und man hat nach ihr vielfach Riickgang der Stauungs¬ 
papille und anderer Allgemeinsymptome beobachten konnen. Quincke 
entleert in der Minute etwa 1—2 ccm und geht bei hohem Anfangs- 
drack nicht unter 300 ccm. Besonders gute Erfolge bei der Behandlung 
des Hydrocephalus im Kindesalter hatte Bockay. Er wendet die Lum¬ 
balpunktion in Intervallen von 4—8 Wochen in einem Zeitrailm von 
4—12 Monaten oder mehr an und entfernt jedesmal 30—40 ccm. 
Nach seiner Beobachtung war iibrigens die Kommunikation zwischen 
Schadel und Riickenmark immer erhalten. 


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Cber die Indikationen zu himdruckentlastenden Operationen. 


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Trotz vielfaeh beobachteter Erfolge sind die Meinungen iiber die 
Indikation fiir die einzelnen Eingriffe sehr auseinandergehend, und bei 
alien Methoden sind die MiBerfolge schlieBlich doch weit groBer als die 
Erfolge. Wahrend sie einige Autoren nur als Indicatio vitalis betrach- 
ten, schlieBen andere wieder die schwersten und leichtesten F&lle aus 
und halten in den iibrigen den operativen Eingriff, sei es als Palliativ- 
oder als Heilmittel, fiir indiziert. Als Kontraindikation wurde es von 
einigen Autoren angesehen, wenn bei einem Kinde von 6 — 8 Monaten 
der groBte Sehadelumfang iiber 60 cm betragt. Nach Henschen ist iru 
allgemeinen die Operation bei progressiv sich steigerndem Hirndruck 
indiziert, wenn entweder das Leben oder wichtige Sinne bedroht sind, 
dagegen kontraindiziert bei stationiirem Hydrocephalus und knochernem 
VerschluB der Sehadelnahte. 

Ebensowenig feststehend sind die Indikationen zum chirurgischen 
Eingriff bei einer Reihe anderer hirndruckerzeugender Erkrankungen, 
wie der Hirnblutung, Encephalomalacie, Encephalitis, der 
cerebralen Kinderlahmung. Man wird naturgemaB bei trauma- 
tischen Blutungen von der Wunde aus vorgehen und versuchen, das 
zerrissene GefaB zu unterbinden so wie die Blutgerinnsel wegzuschaffen. 
Man kann auch vielleicht die von Horsley 1890 schon empfohlene 
Unterbindung der Carotis auf der Seite der Hamorrhagie vornehmen. 
Besser jedoch als dieser letzte nur ganz selten angewandte Versuch hat 
sich in vielen Fallen die Gehirnpunktion bewahrt. So wurde in einem 
von Levandowski und Stadelmann beschriebenen Fall, in dem man 
durch die Hirnpunktion 60 ccm Blut aus dem Lobus occipitalis ent- 
fernte, dadurch die Heilung angebahnt. Franke forderte die Punktion 
oder Trepanation bei Apoplexie in den ersten 12 St unden, doch sind 
bisher keine nennenswerten Erfolge damit erzielt worden. 

Bei Kindern mit spastischer Hemi- oder Paraplegie, bei denen An- 
zeichen eines erhohten Himdrucks bestanden (Augenhintergrundsver- 
anderungen und Druck der Spinalflussigkeit), wurde von Sharpe und 
Farre in 201 Fallen die dekompressive Schadeltrepanation am Schlafen- 
bein gemacht und in 65 Fallen erhebliche Besserung erzielt, wie sich aus 
der Intelligenzzunahme der Kinder kundtat. Ein abschlieBendes Urteil 
vermogen sie jedoch wegen der Kiirze der Beobachtungszeit nicht zu 
fallen. F. Krause wartet bei cerebraler Kinderlahmung, ob nach Ab- 
lauf der Encephalitis und der Genesung Epilepsie auftritt. Solange die 
Verstandeskrafte noch nicht gelitten haben und das Chel noch nicht 
eingewurzelt ist, ist die Prognose nach ihm immerhin noch verhaltnis- 
maBig giinstig. 

Bei der Epilepsie stiitzte sich die Indikation zur druckentlasten- 
den Operation zun&chst auf die Anschauung, daB sie cine Folge ge- 
steigerten Himdrucks ware (Kocher). Weitere Beobachtungen ergaben 


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K. Jakoby: 


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jedoch, daB die Drucksteigerung erst wahrend des Anfalles auftritt, 
indent Krampfe der Atemmuskeln, die den Thoraxinnendruck erhohen, 
eine Stauung des venosen Blutabflusses aus dent Gehirn bedingen und 
dadurch Hirndruck erzeugen. Die Indikation fiir den Eingriff bei der 
genuinen Epilepsie, iiber deren Wesen wir noch zu wenig wissen, ist ab- 
solut ungeklart und hat nach Oppenheint keine Berechtigung. Fiir 
die Forrnen der Epilepsie, die auf einent MiBverhaltnis zwischen deni 
Schadel und seinem Inhalt beruhen (Turntschadel, Pubertatsepilepsie), 
bei denen die Rontgenaufnahme gute diagnostische Dienste leistet, 
haben Anton und Schmieden mit Erfolg den Balken- und Suboccipi- 
talstich angewandt. Auch die Lumbalpunktion hat Erfolg gezeitigt. 

Bei der traumatischen Epilepsie komnit hauptsachlich die Trepana¬ 
tion in Frage. Man wird sie ausfiihren: 

1. Wenn die Anfalle den Charakter der Rindenepilepsie zeigen. 

2. Wenn die Narbe iiber der motorischen Zone oder ihrer Nahe 
liegt. Liegt sie weit ab von dent Rolandoschen Bezirk, dann word 
man die Rindenzone wahlen, auf die das Bild des Anfalles himveist. 

Liegt eine allgemeine Epilepsie traumatischen Ursprungs vor, dann 
wird man operieren: 

1. Wenn die Narbe am Schadel eine epileptogene Zone bildet, oder 
Anzeichen dafiir sprechen, daB es sich um eine Reflexepilepsie 
handelt. Dann sind zuniichst die Weichteile vom Schadel zu 
trennen und ist der Erfolg abzuwarten. Ist er ungeniigend, dann 
wird man evtl. die endokranielle Narbe angreifen. 

2. Wenn Knochendepression vorhanden ist und meningeale Reiz- 
erscheinungen (Kopfschmcrzen, perkutorische Empfindlichkeit der 
Narbe usw.) auftreten und 

3. wenn schlieBlich die Krampfe den Typus der genuinen Epilepsie 
haben, aber die Aura bestimmten Charakters ist, oder post- 
paroxysmale Ausfallerscheinungen die Lasion eines untschriebe- 
nen Rindenzentrums wahrscheinlich macht. 

Bei der Migrane, die in mancher Beziehung Verwandtschaft mit 
der Epilepsie aufweist, empfehlen Schmieden und Anton in besonders 
schweren Fallen, die der medikamentosen Therapie trotzten, den Sub- 
occipitalstich. Es fiihrte dazu die Beobachtung des peripheren Odems 
(Quincke), die auch eine Hypexsekretion der Gehirnfliissigkeit an- 
nehmen laBt. Diese Hypersekretion ist nur dann gefahrlich, wenn eine 
AbfluBbehinderung besteht. Wiirde sie beseitigt, dann miiBten auch 
die Kopfschmcrzen und sonstigen Symptome verschwinden. Es komrnt 
dabei wohl die Spannung der Dura, des ,,Kopfschmerzorgans“ nach 
Meynert, in Frage. Die abgeleitete Fliissigkeit darf natiirhch keine 
Entziindung erregenden Elemente in sich bergen. Dieser Vorschlag hat 
aber nach Polisch bisher nur theoretische Bedeutung gehabt. 


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t)ber die Indikationen zu hirndruckentlastenden Operationen. 


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YVir hatten nun noch die Hirndruck erzeugenden Affektionen der 
Meningen zu betrachten. Bei der Pachymeningitis haemorrh. 
interna ist die Indikation zum chirurgischen Eingriff nur bei den schwer- 
sten Formen gegeben. Es ist dann durch Hirnpunktion zuniichst der 
Versuch zu machen, moglichst viel Blut zu entleeren. Gehen die Er&chei- 
nungen der Punktion nicht zuriick, dann ist die Trepanation und Aus- 
raumung des Hamatoms notwendig. Auch die Lumbalpunktion soli ver- 
schiedentlich zum Erfolg gefiihrt haben. 

Bei der eitrigen Form der Meningitis, besonders der vom Ohre 
ausgehenden, ist die Spaltung der Dura mater mit Evakuation des in 
den Meningen enthaltenen Exsudats bei den ersten Anzeichen auszu- 
fiihren. Auch hier spielt in atiologisch unklaren Fiillen die Lumbal¬ 
punktion eine groBe Rolle. 

Bei der Meningitis serosa externa cystica, die oft differential- 
diagnostisch kaum von einem Hirntumor zu unterscheiden ist und zu 
der wohl auch viele Falle der von Nonne beschriebenen Pseudotumoren 
gehdren, ist ebenfalls die Punktion bzw. Trepanation angezeigt. 

Bei den iibrigen Formen der Meningitis: der Men. epidemica tuber¬ 
culosa u. a. hat man sowohl die Hirnpunktion als auch ganz besonders 
die Lumbalpunktion mit mehr oder weniger Erfolg angewandt. Beson- 
dere Erfolge und sichere Indikationen zum Eingriff sind jedoch bei alien 
Arten der Meningitis noch nicht feststellbar. 

Zur Erlauterung obiger theoretischer Ausfuhrungen sollen drei Falle 
von Hirntumor bzw. -verdacht mit Himdrucksymptomen aus der Ko- 
nigsberger Nervenklinik mitgeteilt werden: 

Fall I. 

In den ersten Tagen des Januar 1916 kommt Frau F. ohne Begleitung in die 
Poliklinik der Konigsberger Psychiatrischen und Nervenklinik. Familienanain- 
nese o. B. Elgene Krankheiten: Sie sei nur blutarm, sonst nie ernstlich krank 
gewesen. Mehrere normale Geburten, keine Fehlgeburt. Im Herbst 1915 habe sie 
beim Kartoffelgraben zum erstenmal gemerkt, dab ihr schwindlig wurde und ihr 
„das Lieht verschwand' 4 . Sie habe auch Kopfschmerzen und Druckgefiihl im 
Kopf vom Nacken her beginnend und liber den Kopf sich verbreitend, bekommen. 
Seit etwa einem Jahre habe sie alle vier Wochen galliges Erbrechen gehabt. In 
letzter Zeit etwa einmal wochentlich, zuletzt am 28. XII. 15. Sie sei darauf zu 
einem Arzt gegangen, der sic naeh mehreren Untersuchungen der medizinisehen 
Poliklinik iiberwiesen habe, von wo sie dann zur Nervenklinik geschickt worden 
sei. Jetzige Beschwerden: Sie sehe immer wie durch einen Nebel, zeitweise schwinde 
das Licht fur Sekunden ganz, oft sehe sie die Dinge nur halb, etwa die untere 
oder obere Halfte oder ein halbes Gesicht. Zeitweise habe sie auf dem linken, dann 
wieder auf dem rechten Auge nichts sehen konnen, jetzt seien l>eide gleich schlecht. 
Sie hore besonders ira Liegen Glocken lauten, Klingen und Sausen in den Ohren. 
Pberhaupt habe sie beim Liegen mehr Kopfschmerzen. dann fange der Schmerz 
an zu ,,wiihlen“. Das Denken gehe sclnverer. sie zerbreche sich oft den Kopf, 
wohin sie Gegenstande gelegt habe. Die Erinnerung an friihere Geschehnisse sei 


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K. Jakoby: 


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schlechter geworden. In den Feiertagen babe sie sich so schlecht gefuhlt, dab sie 
die einzelnen Familieninitglieder nicht habe erkennen konnen. Vor Schmerzen 
babe sie nichts oder nichts Passendes sprechen konnen. 

Dr. P. schreibt in einem Briefe, er habe die Patientin seit dem 8. XI. 15 be- 
obachtet. Sie habe damals iiber Kopfschmerzen und zeitweise iiber Verdunkelung 
vor den Augen geklagt. Sehscharfe 4 / 7 . Bds. Neuritis optica. Nach mehrwochigem 
Ausbleiben sei sie am 31. XII. 15 wiedergekommen, habe iiber starke Kopfschmer¬ 
zen geklagt, angeblich ofter Erbreohen gehabt und sei viel bettlagerig gewesen. 
S. re. 4 / 24 bis 4 /i 8 , li. 4 / 24 . Glaser besserten nicht. Bds. besonders links starker. 
Neuritis optica. Links auch ofter auftretende Verdunkelungen. Wegen Verdacht 
auf Tumor habe er sie der medizinischen Poliklinik zugeschickt, wo sie bereitsEnde 
November untersucht worden ware. 

Schreiben der mediz. Polikl. vom 3. I. 16: Frau F. kam vor ca. drei Wochen 
in Behandlung, bot damals auBer einer maBigen Neuritis optica bds. keinen wei- 
teren Befund. Visus bds. 4 / 7 . Seit ca. 8 Tagen hat sich nun eine Stauungspa- 
pille besonders links entwickelt. Der Visus betragt jetzt nur noch re. 4 / 18 , li. 4 / 24 - 
Die inneren Organe zeigen keinen wesentlichen pathologischen Befund. Es wird 
Tumor cerebri angenommen. 

Status somaticus. GroBe, kraftig gebaute 34jahrige Frau in gutem Er- 
nahrungszustande. Haut imd sichtbare Schleimhaute leicht blaB. Keine Narben, 
keine Driisen. 

Kopf o. B. Innere Organe o. B. Puls: weich, klein, 46 in der halben Minute. 
Urin: frei. 

Nervensystem. Augen geringer Exophthalmus, Pupillen mittelweit, leicht 
entrundet. L. R. +, C. R. + , Augenbewegungen frei. Augenhintergrund bds. 
altere Stauungspapille; re. drei D., li. 2—2*/ 2 D. Conj. R. Lidspalten: weit. 

Facialis: re. minimale Schwache des Mundfac. 

Trigeminus: o. B. Sprache: o. B. 

Reflexe: Kn./Ph.: ++, Achtdr./Ph. : + , Plantarreflex: + + , Babinski—, 
Abdom. Refl.: + + , Patellar-FuBklonus-Oppenheim: —, Crem. Refl. —. 

Vasomotorisches Nachroten: + . Mechanische Muskelerregbarkeit: —. 

Motilitat: Arme: kein Tremor, keine Ataxie, Beine: grobe Kraft o. B., 
keine Ataxie, Gang: leichtes Abweichen nach rechts mit geschlossenen Augen. 

Romberg: leichtes Schwanken nach hintenund vorn oder nach links, Fallneigung. 

Sensibilitat: intakt. 

Druckempfindlichkeit der Muskeln und Nerven: —. 

Hysterisches Stigmata: Ovarie: + + , Mastodynie: + . 

Liquor cerebrospinalis und Blut: Wa. R. —. 

Rechnen: 5x6 = —, 5x3 = 12, 8+5 = +. 

Die Merkzahl 7538 wird nach drei Zwischenfragen als 7593 wiederholt. Kriegs- 
beginn? „Sommer, so schone Tage, Schwiegereltern hatten gerade Korn, das kann 
ich mir noch erinnem. Das wird gewesen sein: Juli, August so was.“ Spontan: 
„Das ist ja das Schlimme, daB der Vcrstand nicht will. Ich bin nicht dumm, 
aber der Druck. Wenn ich die Briefe von raeinem Mann lese, weiB ich nachher 
nicht, was ich gelesen habe.“ Sie sei leicht aufgeregt, aber kampfe, um sich zu 
beherrschen. Gute Orientierung in Zeit und Ort. 

9. I. 16. Starke Schmerzen im Nacken, Brechreiz, Kalte in den FiiBen und 
in dem Korper. Sie miisse wieder so sehr „kampfen“. 

7. II. 16. Dauemd wechselndes Befinden. Jeden zweiten bis dritten Tag 
Schiibe von heftigen Kopfschmerzen, tllx'lkeit, Schwindel, Erbrechen. Linke Seite 
des Kopfes und Nackens besonders empfindlich. In den letzten Tagen KLlagen uber 
die rechte Kopfseite und Spicken in den FiiBen. 


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Uber die Indikationen zu hirndruckentlastenden Operationen. 


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Untersuchung der Ohrenklinik 5. I. 16: Von seiten der Ohren nichts 
Krankhaftes. 

Untersuchung der Augenklinik 26. I. 16: re. Stauungspapille ca. 2 D.; 
li. etwas weniger, mit betrachtlicher Ablassung der Sehnervenscheibe. Visus 
auBerordentlich wechselnd. Rechts nur Handbewegungen bis zu voriibergehendem 
Erkennen von Fingem; li. Fingerzahlen in Vj —1 m Entfernung. 

Gesichtsfeld: re. innen oben stiirkste, innen unten mittlere, auBen geringere 
Verdunkelung. Li. innen oben Verdunkelung; zentrales Skotom. 

Re. gibt Pat. an, Handbewegungen temporal ain deutlichsten, nasal oben am 
schlechtesten, nasal unten etwas deutlicher sehen zu konnen. 

Von seiten der Augen scheint, um vollige Erblindung moglichst zu verhiiten, 
baldige Operation indiziert. Die Gesichtsfeldverschleierungen sind wohl zu wech¬ 
selnd, um lokalisierende Schliisse ziehen zu konnen. 

. Nachuntersuchung am 8. II. 16: Stauungspapille re. 2—3 D.; li. etwas 
weniger. 

7. II. 16. Adiadoehokinesis bds. Rechte Hand sinkt bei Gleichstellung beider 
Hande. Rechtes Bein deutlich schwacher, wackelt beim Heben. Starke Druck- 
empfindlichkeit der hintern Schadelgrube und der linken Scheitelbeingegend, etwa 
unterhalb der Mittellinie. 

8. II. 16. Verlegung in die chirurgische Klinik zur Operation. 

Bericht der chirurgischen Klinik. Aufnahme der Pat. F. am 8. II. 16. 
VVegen starken Himdrucks mit sehr starker Stauungspapille und rechtsseitiger 
Parese wird Trepanation uber der linken Prazentralgegend von Prof. Kir sc hner 
vorgenommen. Nach Eroffnung des Schadels zeigt sich enorm gespannte Dura 
mit starker Stauung in den PialgefaBen. Geringe Pulsation. Die Dura wird als 
Lappen umschnitten und zuriickgeklappt. Darauf wird die Pulsation deutlicher 
und kraftiger, Him wolbt sich stark in die Schadeloffnung vor, aus dem Sub- 
duralraum quillt miiCig Liquor hervor. Punktion des linken Seitenventrikels er- 
gibt keinen vermehrten Liquor, keinen Hydrocephalus intemus. Die Trepanations- 
platte wird als Ventil angelegt. Nach der Operation starke motorische Aphasie, 
die sich im Verlauf der weiteren Beobachtung etwas bessert. 

5. IV. Von der chirurgischen Klinik zuriickverlegt. 

6. IV. Patientin liegt still da, die Augen meist geschlossen, auBert keine 
Schmerzen. Vollige motorische und auch sensorische Aphasie. Pat. greift von verschie- 
denen, ihr vorgehaltenen Gegenstanden nicht den, den man ihr nennt. Oft Er- 
brechen. Weint heftig bei Beriihrung des rechten Armes und Beines. 

17. V. Nervensystem: Pupillen mittelweit, leicht entmndet, L. R. und 
C. R. rechts —, links +; Lidspalten rechts > links. 

Facialis: rechts hangt der Mundwinkel herab, das rechte Auge wird nicht ge¬ 
schlossen. Sprache: nur unverstandliche Laute: „Zewechze“. 

Motilitat: Bei der Untersuchung weint die Kranke bei der leichtesten Be- 
riihrung des rechten Armes und Beines. Rechter Arm und rechtes Bein liegen un- 
beweglich. Mit dem linken Arm dauernd koordinierte, aber auch zuckende Be- 
wegungen. 

15. VII. Langere Zeit iiber weinte sie jeweils bei Annaherung von Bckannten. 
Jetzt erkennt sie anscheinend nur noch bei groBer Nahe, tastet nach Handen und 
Kleidem; lacht, wenn sie erkennt. Zuweilen auch wieder deprimiert. Sie liegt 
im allgemeinen ruhig und friedlich da, meldet sich durch Zeichen, wenn sie Bediirf- 
nisse hat; iBt selbst, wenn man ihr den Loffel in die Hand gibt und verstandigt 
sich einigermaBen. 

1. X. Seit einiger Zeit noch ein paar Buchstaben zugelernt. Sie singt richtige 
Melodien. Im allgemeinen scheint sie auch zu verstehen, was man ihr sagt. 


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K. Jakoby: 


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15. XII. Oft Erbrechen, Ubelkeit, manchmal ist der Puls schlechter, so daB 
Kampfer gegeben werden muB. Von Zeit zu Zeit Anfalle. 

9. I. 17. Auf die Aufforderong hin, die Hand zu geben. die Zunge zu zeigen, 
die Augen zu schlieBen, will sich Pat. aufrichten. Auf die Frage: „Was ist das?‘ 
(Uhr), antwortet sie „ja“. — „Geben Sie das Tascbentueb“: sie tut es. 

Nervensystem: Nystagmus bei Blick nach links. Sonst im groBen ganzen 
unveriindert. 

Facialis: Rechter, unterer Ast schwacher. Trigeminus: Auf Nadelstiche im 
Gesicht reagiert sie schnell, Zunge liegt gerade im Munde. 

Reflexe: Kn./Ph.: + , re. > li., Babinski: bds. —, Abdom. Refl. re.: +, li.? 

Motilit&t: Linker Arm wird gut bewegt, etwas Zittem und Zucken in dem- 
selben. Im rechten Arm spastische Lahmung. Linkes Bein wird kraftlos gehoben, 
bewegt sich etwas in alien Gelenken. Itechtes Bein wird bei Schmerzreizen in Knie 
und Hiifte etwas angezogen. 

Sensibilitat: Ohne groBere Storung. 

28. II. 17. Die Anfalle werden von der Pflegerin folgendermaBen beschrieben: 
Pat. schreit laut auf, bekommt im linken Arm und Bein Zuckungen, verdreht die 
Augen. Dauer des Anfalles etwa 2 Minuten. 

25. IV. Keine Anfalle mehr beobachtet. Pat. liegt ruhig da, klagt liber Schmer- 
zen im Kopf und rechten Bein, sagt einige Worte wie „Morgen“, „Mahlzeit“ und 
einige Eigennamen. 

18. V. Pat. klagt liber heftige Kopfschmerzen, hin und wieder auch liber 
Schmerzen im rechten Ann. Haufig sieht sie sehr angstlich nach links, weint dabei 
und umklammert die Hand des Arztes. Sie deutet mit den Augen nach links 
und bringt zum Ausdruck, es sei ihr, als stiinde dort jemand. Am 15. war wieder 
ein Anfall, am 16. Erbrechen. 

11. VI. Klagen iibcr Gertiusche und Sausen in den Ohrcn, besonders rechts 
in letzter Zeit. Klage iiber unangenehmes Gefiihl in den Fingern. 

18. VI. Wahrend der letzten Woche haufig Zuckungen in der ganzen linken 
Seite. Die Zuckungen treten sehr haufig, ca. jede halbe Stunde, auf und dauem 
ca. 2 Minuten. Am 17. VI. waren die Zuckungen auf der rechten Seite. Der Pro¬ 
laps senkt sich auf das Ohr, wird zusehends groBer. Pat. klagt dauernd iiber 
Schmerzen im Hinterkopf, sowie Sausen im Ohr, besonders rechts, fiihlt sich sehr elend. 

29. IX. Vormittags waren drei Anfalle. Bericht der Pflegerin: Zuckungen der 
linken Seite, Schaum vorm Munde. Dauer jeden Anfalles ca. 10 Minuten. 

30. IX. Befinden wechselnd. Schmerzen in der rechten Seite und im Kopf, 
besonders in der Gegend des Prolapses. Angstgefiihle. Pat. sieht mit angstlichem 
Blick nach links, meint, dort einen Schatten zu sehen. 

15. X. Von Zeit zu Zeit treten in der oben beschriebenen Weise Anfalle auf. 
Pat. klagt haufig iiber Schmerzen im Kopf und Nacken, sowie liber Ohrensausen. 
Tin iibrigen Zustand wenig geiindert. Pat. lernt einige neue Worte, verstandigt 
sich mit den wenigen Worten, die sie kann, auffallend gut. Singt mit richtiger 
Melodie verschiedene Lieder. Stimmung einigermaBen. 

10. XII. Zuckungen wiederholen sich ca. alle 3 Wochen. Zustand wechselnd. 
Pat. klagt viel iiber Ohrensausen, Kopfschmerzen und Schmerzen im rechten Arm. 

27. II. 18. Pat. hat eigentlimliche Reizerscheinungen im rechten Bein und 
linken Arm. Krampf im rechten Bein, wobei es im Hiift- und Kniegelenk stark 
flektiert wird. Zugleich werden unwillkiirliche, ausfahrende Bewegungen mit dem 
linken Arm gemacht. Die Finger der linken Hand sind dabei eingeschlagen. Dauer 
des Anfalles mehrere Minuten. Nach Intervallen von wenigen Minuten kehren 
die Anfalle wieder. Pat. verzieht dabei das Gesicht schmerzlich und gibt an, in 
den betreffenden Gliedern Schmerzen zu haben. 


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Cber die Indikationen zu hirndruckentlastenden Operationen. 


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6. IV. Anfalle seltener. 

26. VIII. Klagen iiber heftige Kopfschmerzen in der Gegend des Scheitels 
und des Prolapses. 

22. XI. Pat. klagt plotzlich iiber Schmerzen ini linken Arm; objektiv nichts 
nachweisbar. 

3. II. 19. Status somaticus: In der linken Schlafengegend ca. ganseeigroBer, 
prallelastischer Tumor (Hirnprolaps), auf dessen Oberflache die Haut stellenweise 
arrodiert ist. 

Xervensystem: Pupillen etwas iiber mittelweit, li. > re., bds. etwas ent- 
rundet, L. R. + , C. R. nicht zu priifen. Rechtes Auge vollkommen amaurotisch; 
links werden Finger in ca. 'im gezahlt. Conj. Refl.: + , Corn. Refl.: +, Lid- 
spalten: Exophthalmus bds. li. > re. Strabismus div. rechts. Kein Nystagmus. 

Facialis und Trigeminus: o. B. 

Zunge: weicht etwas nach links ab. Rachenreflex herabgesetzt. 

Sprache: motorise he Aphasie; sensorische Aphasie?? 

Reflexe: O. E. O. E.: + , re. > li. Kn./Ph.: li. +, re. gesteigert. Ach./Ph.: 
li. + , re. + , sehr lebhaft. 

Plantarreflex: li. +, re. + + . Babinski: —, Abdom. Refl.: li. —, re. herab¬ 
gesetzt. Patellarklonus: —, FuBklonus: re. + , li. —. Oppenheim: —. 

Vasomotorisches Nachroten: + + +. Mechanische Muskelerreg- 
barkeit: —. 

Motilitat: Anne: Li.: kein Tremor, keine Ataxie, kein Spasmus. Re.: 
schlaffe Lahmung, leichte Kontraktur der Fingergelenke; Finger sind in die Hand 
eingeschlagen. Hand-, Ellenbogen-, Schultergelenke passiv beweglich. 

Beine: Li.: alle Bewegungen moglich, aber etwas ausfahrend, keine Spasmen. 

Rechtes Bein liegt dauemd nach auBen rotiert, Knie- und Hiiftgelenk passiv 
beweglich, FuBgelenk nicht beweglich. Unterschenkel kann einige Grade von der 
Unterlage abgehoben, das Bein im Kniegelenk aktiv bewegt werden. Pat. kann 
nicht gehen. 

Romberg: Nicht zu priifen. 

Sensibilitat: Auf der ganzen linken Korperhalfte gesteigert. 

Hysterisohe Stigmata: Ovarie + , Mastodvnie —. 

15. III. Stimmung im allgemeinen besser, Pat. freut sich kindlich iiber die 
kleinen Fortschritte im Sprechen, sie verstandigt sich gut mit der Umgebung. 

15. V. Pat. klagt wieder iiber Kopfschmerzen und Abnahme der Sehfahigkeit, 
gelegentlich auch iiber Schmerzen im rechten Bein, weint viel, auBert hiiufig den 
Wunsch, daB sie gern sterben mochte, iibt fleiBig neue Worte und gerat in zitternde 
Bewegung, wenn sie 2—3 Worte im Zusammenhang aussprechen kann. 

25. VI. Klagen iiber kolossale Kopfschmerzen (der Kopf miisse ihr platzen), 
angeblich im Prolaps. Sie weint den ganzen Tag. 

27. VI. Zustand wieder besser. 

14. X. Pat. klagt in letzter Zeit, daB sie wieder schlechter sehen konne. Sie 
erkennt jetzt nicht unmittelbar vor das linke Auge gehaltene Finger. 

30. V. Seit einigen Tagen wieder Kopfschmerzen. Gestern abend gegen 10 Uhr 
wurde Pat. plotzlich sehr unruhig, schlug mit den Armen um sich und reagierte 
nicht auf Anruf. Lange sah sie starr vor sich hin. Nach einer Spritze Mo. (1 ccm) 
schlief sie. Heute morgen war sie wieder klar, konnte sich auf die Vorgange in der 
Nacht nicht besinnen. 

4. VI. Heute friih wieder ein Anfall: Zuckende Bewegungen im linken Arm 
und rechten Bein. Bauer ca. i/ 4 Stunde. Klagen liber heftige Schmerzen. 

29. XII. Status somaticus: TaubeneigroBer Tumor (Hirnprolaps) an der 
linken Schlafe. 


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K. Jakoby: 


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Xervensystem: Auf dem rechten Auge Amaurose. Auf dem linken Auge 
Fingerzahlen in 20 cm. 

Conj. Rcfl.: + herabgesetzt. Com. Refl.: +. 

Sprache: langsam, scliwerfallig, verwaschen; mitunter Schwierigkeiten bei der 
Wortfindung. Pat. sagt fiir „j“ oft „s“. Beim iiben wird es besser. Fiir „sch“ 
sagt sic immer „s“. Sie bezeichnet einzelne Gegenstande, die sie in die Hand 
nimmt, richtig. 

Reflexe: 0. E. O. E.: + re. ]> li. Kn. Ph.: + , li.: herabgesetzt, re. ge- 
steigert. Ach. Ph.: li. +, re. + +, einige Nachzuckungen. 

Plantarreflex: li. + , re. + -f. Babinski: —. Abdom. Refl.: li. -f schwach, 
re. —. Patellar-, FuBklonus, Oppenheim: —. 

Vasomotorisches Nachroten: + -f + . Mechanische Muskelerreg- 
barkeit: —. 

Motilitat: Arme: Li. o. B. Re.: Tonus herabgesetzt. Alle passiven Bewe- 
gungen sind ausfiihrbar. Aktive Beuge- und Streckbewegungen mittleren Grades 
sind in Schulter, Ellenbogen- und Handgelenk unter sichtbarer Anstrengung mog- 
lich. Die Finger sind eingeschlagen, aktiv nicht beweglich. 

Beine: Li. o. B. Re.: Hiift- und Kniegelenk passiv beweglich. Im FuBgelenk 
nur geringe passive und aktive Beweglichkeit. Das Bein kann im Hiift- und Knie¬ 
gelenk aktiv gebeugt und gestreckt werden. Exkursionen im Umkreis von ca. 
30° moglich. Rechter FuB steht in KlumpfuBstellung. Leichte Beuge- und Streck- 
bewegung aktiv moglich. 

Romberg: Nicht zu priifen. 

Sensibilitat: Li. normal, re. herabgesetzt. 

15. I. 21. Vor einigen Tagen hatte Pat. im AnschluB an eine Kopfwasche 
einen Anfall: Keine eigentlichen Zuckungen, sondem unregelmaBig ausfahrende 
Bcwegungen mit beiden Armen, besonders rechts. Pat. h6rt nicht auf Anruf, ist 
danach sehr matt. Starke Kopfschmerzen. 

26. III. Fingerzahlen links nur noch in 10 cm Entfernung. 

Mot ilit at: Spasmus rechts? Rechter Arm liegt im Ellenbogen gebeugt, die 
Hand dorsal flektiert. Die Finger sind eingeschlagen. Im Schultergclenk geringe 
aktive Beweglichkeit. Ellenbogen: Streckung gleich 0, Beugung etwas moglich 
(schnellt zuriick), wenn passiv gestreckt. Beugung und Streckung im Handgelenk 
besehriinkt, Streckung und Beugung der Finger beschrankt. 

Beine: Rechts Spasmen? Das rechte Bein liegt in starker auswarts rotierter 
Stellung. der innere FuBrand ist stark gelioben. Sie kann das rechte Bein ca. 25 cm 
von der Unterlage abheben und das Kniegelenk beugen. Beugung und Streckung 
im FuBgelenk beschrankt. Rotation und Beugung im Hiiftgelenk unmoglich. 
Gehen unmoglich. 

Romberg: Nicht zu priifen. 

Sensibilitat: Gefiihl fiir Beriihrung und Sclimerz im rechten Arm und Bein 
stark herabgesetzt. Temperatursinn auf der ganzen rechten KQrperhalfte ge- 
stort. Li. o. B. Tiefensensibilitat: im rechten Bein anscheinend aufgehoben. 

Sonstiger Befund: Gegen friiher nicht verandert. 

15. IV. Pat. wird von Zeit zu Zeit aufgesetzt, versucht auch auBer Bett zu 
stehen, kann jedoch das rechte Bein wegen der Kontraktur im FuBgelenk nicht 
aufsetzen. 

25. VIII. Seit einigen Tagen wieder vermehrtes Spicken in der linken Kopf- 
seite. Punktion des Prolapses, es werden ca. 10 ccm einer triiben Fliissigkeit ent- 
leert. Danach fiihlt sich Pat. besser. 

28. XII. Zustand und Stimmung sehr wechselnd. Pat. hat sich kindlich iiber 
die Weihnachtsgeschenke gefreut. 


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Gber die Indikationen zu hiradruckentlastenden Operationen. 


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16. I. 22. Pat. hat gestem erfahren, daB der Vater gestorben ist. Darauf Auf- 
schrei und Zuckungen im rechten Arm und Bein. Sie ftihlt sich heute noch sehr 
matt. Der Kopf aei ihr zum platzen. Sie bittet, man solle sie wieder punktieren. 

18. I. Punktion des Prolapses: Es werden 20 ccm einer wasserklaren Fliissig- 
keit entleert. Pat. fiihlt sich darauf viel wohler. 

25. I. Pat. erhalt 3g Kochsalz per os in 20%igerLosung, hat danach denganzen 
Tag Schnupfen. Fiihlt sich aber danach etwas freier im Kopf. 

31. I. Pat. klagte noch einen Tag nach der Kochsalzmedikation iiber Nasen- 
laufen. Sie fiihlt sich recht matt und klagt iiber die alten Beschwerden. 

3. II. 3 g Kochsalz in 20% iger LoBung. Kein Effekt. 

15. II. Pat. fiihlt sich in letzter Zeit matter, liegt rneist miide mit geschlossenen 
Augen zu Bett. Oft auffallende Rotung des Gesichtes. 

I. III. Wieder Wohlbefinden. 

II. V. Pat. fiihlt sich seit gestem wieder nicht wohl, hat starke Kopfschmerzen, 
Ubelkeit und Erbrechen. Der Himprolaps ist starker gespannt als sonst. Bei 
einer Punktion an der weichsten Stelle entleert sich unter maBigem Dmck eine 
wasserklare Fliissigkeit. Es werden ca. 20 ccm abgelassen. 

13. V. Pat. fiihlt sich wieder bedeutend besser. 

6. VI. Zustand wechselnd, momentan keine besonderen Klagen. Pat. ist etwas 
gedriickt und matt nach dem Besuch ihrer Schwester und ihres Sohnes. 

Die hier vorliegenden Symptomo sprachen fiir einen Hirntumor, 
desseii Lokalisation schwicrig war. Am ehesten war noch an einen Sitz 
iiber der motorischen Region zu denken, und da die bedrohlichen Sym- 
ptome zu einer Operation zwangen, wurde eine Trepanation dement- 
sprechend iiber der linken Zentralregion vorgenommen. Ein Tumor 
wurde hier nicht gefunden. Im AnschluB an die Operation traten 
schwere korperliche Erscheinungen (Aphasie, Hemiplegie und mehr- 
fache epileptiforme Anfalle) auf, die als Schadigungen der Operation 
anzusehen sind (vgl. die entsprechenden theoretischen Ausfiihrungen). 
Ob es sich bei dem Krankheitsbilde noch um eine Neubildung in einem 
anderen Tcile des Gehirns oder um pseudotumorartige Erscheinungen, 
woran bei der langen Dauer des Leidens und der leichten Tendenz zur 
Besserung sehr zu denken ist, handelt, kami natiirlich erst die Sektion 
entscheiden. Interessant und wichtig ist es jedenfalls, daB die mehrfach 
vorgenommenen Punktionen des Prolapses allein imstande waren, den 
Zustand der Pat. immer wieder fiir einige Zeit zu bessern. 

Fall II. 

Poliklinischer Befund vom 16. I. 18. Die 23jahrige Pat. K. sucht wegen 
Kopfschmerzen die Klinik auf. Familienanamnese: Eine Schwester starb an 
Tbk. Niemand in der Familie habe an Kopfschmerzen gelitten. Pat. will von Kind- 
heit auf an Kopfschmerzen gelitten haben, die friiher anfallsweise gekommen seien 
und an der Austrittsstelle des rechten Trigeminus (R. supraorbitalis) gesessen 
hatten. Seit April 17 andauernd Kopfschmerzen an den Austrittsstellen beider 
Rr. supraorb., und zwar so heftiger Natur, daB Pat. nachts nicht habe schlafen 
kdnnen. Wahrend des Kopfschmerzes 6fter tlbelkeit und Schwindel. Pat. will 
auch umgefallen sein und das BewuBtsein verloren haben. Eine Nasenoperation 
brachte keine Besserung. 


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K. Jakoby: 


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Pat. macht einen sehwerfalligen Eindruck, spricht mit starkem nasalen Bei- 
klang. Starke vasomotorische Erregbarkeit (sie bekommt einen ganz roten Kopf). 
Zunehmende Hemmung, fast stuporoser Zustand. Alle Fragen miissen mehrmals 
wiederholt werden. Sie beriihrt, dazu aufgefordert, statt mit dem Zeigefinger mit 
der ganzen Hand die Nase. Sie soil den Zeigefinger zeigen, statt dessen zeigt sie 
abwechselnd verschiedene Finger. Als sie sie benennen soil, kommt sie nur mit 
Miihe bis zum Mittelfinger, Ring- und kleinen Finger kann sie nicht benennen. 
Rechnen mit Zahlen unter 20 geht langsam und fehlerhaft. Fragen werden schwer 
aufgefaBt und mangelhaft beantwortet. Pat. bleibt oft die Antwort schuldig. 

Leichter Exophthalmus bds., li. > re. Pupillen gleich und mittelweit. L. R. 
und K. R. + , aber nicht sehr lebhaft. Conj. R., Corn. R. -f. Augenbewegung 
frei. Rachen- und Gaumenrefl. + . Zunge kommt gerade, ohne Tremor. Haut- 
und Sehnenrefl. normal. Keine Ataxie. Starkes Lidflattern. Psychogener Rom¬ 
berg. Der ganze Supra- und Infraorbitalrand ist sehr druckempfindlich. Die Aus- 
tritts8telle des R. supraorb. ist nicht empfindlicher. Ovarie und Mastodynie + . 
Kopfschmerzen wurden auf Druck in der Ovarialgegend und Brust starker. Sen- 
sibilitat intakt. 

Pat. kommt Anfang Marz 1918 zur Aufnahme. 

Anamnese: Hereditat angeblich o. B. Pat. selbst hatte Diphtherie. Rachen- 
mandel-, Nasen-, Ohrenoperation. Sie habe damals auf beiden Ohren nicht horen 
konnen und sei durch die Behandlung gebessert worden. Von klein an habe sie 
anfallsweise an Kopfschmerzen gelitten, die alle paar Tage ca. 3 Stunden anhielten. 
Dabei zeigt sie auf die Austrittsstellen der Rr. supraorb. Menstruation seit dem 
16. Jahre, unregelmaBig, schwach und mit profuser Blutung. Sie sei von klein auf 
nervos gewesen, in der Schule schlecht vorwartsgekommen, mehrmals sitzengeblie- 
ben, habe aber schlieBlich doch die erste Klasse erreicht. Besonders sc hwergef alien 
sei ihr das Rechnen. Im Oktober 17 seien groBe Schmerzen in der linken Seite 
aufgetreten, und die Kopfschmerzen seien schlimmer geworden. Nach ca. y 2 Jahre 
seien die Brustschmerzen vergangen, wahrend die Kopfschmerzen seitdem kon- 
stant geblieben waren. Damals mitunter Temperaturerhohung bis 37,7°. Wegen 
der Kopfschmerzen habe sie sich im Januar 18 einer Nasenoperation unterzogen, 
ohne daB Besserung eingetreten sei. Als Sitz der Kopfschmerzen bezeichnet sie 
besonders den rechten Supraorbitalrand. Wenn sie viel gehen miisse, stellten sich 
Schwindelanfalle ein. In letzter Woche sei sie auf der StraBe mehrmals umgefallen. 
wobei sie fur ca. \' 2 Stunde das BewuBtsein verloren habe. Dabei habe sie sich 
das Knie zerschlagen. Keine Krampfe; kein Einnassen; kein ZungenbiB. In den 
letzten Wochen sei ihr dauemd iibel gewesen. Kein Erbrechen. Miidigkeit und 
Unsicherheit im Gehen, die sich im Dunkeln steigerten. Keine Unsicherheit in 
den Handen. Der Schlaf sei wegen der heftigcn Kopfschmerzen schlecht gewesen. 
Die tlbelkeit nahme zu, wenn Schmerzen unterhalb des rechten Rippenbogens 
auftraten, was von Zeit zu Zeit geschahe. Das Denken falle ihr in der letzten Zeit 
schwerer. Das Gedachtnis habe nachgelassen. Seit Oktober 17 bestehe eine Ab- 
nahme des Gehors auf der rechten Seite. Seit derselben Zeit habe auch das Gewicht 
abgenommen. Sie sehe seitdem auch in der Feme sehlechter; in der Nahe zwar 
besser, aber unscharf. Augenbewegungen nach links fielen ihr schwer. Die Stimme 
sei unverandert. Schon von jeher sei sie heiser gewesen, habe friiher schon mit dem 
Kehlkopf zu tun gehabt. Sie fiihle, daB ihre Krafte im allgemeinen nachgelassen 
hatten. 

Pat. gibt im Gegensatz zur poliklin. Untersuchung klare Auskunft; sie macht 
einen etwas miiden, aber nicht benommenen Eindruck, spricht eintonig mit heiserer 
Stimme, aber ohne besondere Veranderung. 4 + 6=+; 24 — 5 — 19; 

9+7=+; 17 + 18 = 35; 12:3 ... denn 3 x 4 ist 12. 4% von 200 . .. Die 


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t)ber die Indikationen zu hirndruckentlastenden Operationen. 


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Merkzahl hat sie nach mehreren Zwischenfragen vergessen. Pat. ist durch das 
Rechnen ermiidet. 

Fenster: Spiegel, da kann man besser sehen. 

Kaiser? + ; Kronprinz? —; Hauptstadt Deutschlanils? -f, an welchem FluC 
gelegen? An der Havel. 

Mit wem ist Krieg? Russen .. . Frankreich ... — Schlacht? — Letzter Krieg 
vor diesem? 30jahriger. Wann? 1907 bis? ... Es macht sich zunehmende Er- 
miidung bemerkbar. Pat. macht jetzt einen sehr benommenen Eindruck, klagt 
iiber Schwindelgefuhle und Schwanken nach links beim Aufstehen. Beim Vereuch 
zu gehen und zu stehen schwankt sie nach rechts und sagt, das seitliche Schwanken 
trete abwechselnd bald nach links, bald nach rechts auf. Deutliche Adiadocho- 
kinesis rechts. 

13. III. 18. Befund von Dr. Stein, Spezialarzt fiir Nasen- und Ohrenkrank- 
heiten: „Linkes Ohr: Trommelfell spiegelnd, reizlos, zentrale Narbe um den Ham- 
mergriff herum. Horscharfe 11 m fiir Fliistersprache, hohe Tone (c 4 , c 5 ) werden 
schon bei leisestem Anhauch vollkommen normal gehort. Knochenleitung mit c 1 
gepriift nicht verkiirzt. 

Rechtes Ohr: groBe, fast das ganze Trommelfell einnehmende Narbe. Eben- 
falls keine Anzeichen einer Entziindung. Horscharfe y 2 m fiir Fliistersprache. 
Hohe Tone deutlich herabgesetzt (c 4 , c 5 ) werden erst bei Fingemagelanschlag ge- 
h6rt. Knochenleitung (c 1 ) deutlich verkiirzt, aber nicht aufgehoben. Weberecher 
Versuch deutlich und konstant nach der gesunden linken Seite. 

Rechte Stimhohle (wegen der in der rechten Stimhohlengegend geklagten 
Schmerzen bereits Dezember 1917 untereucht und behandelt): Vor dem Eingang 
zur Stimhohle wurden am 3. I. 18 einige Siebbeinzellen entfernt. Daselbst etwas 
polypdse Granulationen. Ausblasen und Ausspiilen der Stimhohle ergibt, daB in 
ihr nur ein geringfiigiger Katarrh besteht, der in keinem Fall die von ihr geklagten 
Stimkopfschmerzen verursachen kann.“ 

16. III. Zunehmende Ataxie und Abnahme der Sehkraft. Pat. ist apathisch, 
klagt iiber standige Kopfschmerzen und viel Schwindel. Eine sichere Lokalisation 
des Tumors ist unmoglich, doch diirfte das Cerebellum als der Sitz anzusehen sein. 
Trigeminus- und Acusticnsstorungen lassen an Kleinhimbriickenwinkel denken. 
Eretere sind jedoch inkonstant, letztere auf ein altes Ohrleiden zuriickzufiihren. 
Haufiges Erbrechen. 

18. III. Fast samtliche Speisen werden erbrochen. Mo.-Tropfen, Umschlage 
bewirken wenig Bessemng. Pat. sieht schlectiter; Doppelbilder. Ist sehr apathisch. 
Objektiv sonst unverandert. 

20. III. Erbrechen geringer, abends 39,6° T. Leibschmerzen, besondere in der 
linken Seite. Abdomen aufgetrieben. In der linken Oberbauchgegend 3 Finger breit 
unterhalb des Rippenbogens ist deutliche Resistenz und Dmckempfindlichkeit 
nachweisbar. Hin und wieder Dmckpuls. Pat. ist unruhig, nach Mo.-Spritze etwas 
Schlaf. 

Status somaticus. Nervensystem: Augen: leichter Exophthalmus, 
li. i> re. Pupillen: re. > li., rechts entrundet. 

L. R. sehr gering, re. deutlicher als li. C. R. + beim Blick nach li. auBen wird 
die Endstellung nicht vollkommen erreicht. Blick nach oben und unten frei. Bei- 
derecits Stauungspapillc. Atrophic des N. opticus. Conj. R.: + , links etwas schwa- 
cher. Com. R.: +. Lidspalten: li. > re., geringe Differenz. 

Facialis: o. B. 

Trigeminus: Austrittsstelle des R. supraorb. dmckempfindlich, re. li. Druck 
auf dem ganzen Gesichtsschadcl schmerzhaft empfunden. 

Zunge kommt gerade, ohne Tremor. Rachenreflex: +. 


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K. Jakobj r : 


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Sprache: heiser, etwas schwerfallig, ohne eigentliche Sprachstorung. 

Reflexe: O. E. 0. E.: +, li. vielleicht etwas > re. Kn. Ph.: gesteigert, 
li. > re. Ach. Ph.: li. +, re. —. Plantarr.: +. Babinski: —. Abdom. R.: +, 
sehr lebhaft. Patellarklonus: —. FuBklonus: —. Oppenheim: —. 

Vasomotorisches Nachrdten: + ; Mechanische Muskelerregbar- 
keit nicht gesteigert. 

Motilitat: Arme: Li.: vorbeizeigen? (von oben her nach rechts, von unten 
her nach links). Beim Zeigefinger-Nasenversucli Unsicherheit; li. > re. 

Beine o. B. Gang: beim Gehen mit geschlossenen Augen Abweichen nach 
rechts. Romberg: +, Neigung, nach rechts zu fallen. 

Sensibilitat: Beriihrung und Schmerz intakt. Zeitweise Hyperalgesie der 
rechten Wangenmuskulatur. 

Druckempfindlichkeit der Muskeln und Nerven: Druck unterhalb 
des rechten Rippenbogens und der ganzen linken Abdominalseite wird schmerz- 
haft empfunden. 

Hysterische Stigmata: Ovarie: re. +. Mastodynie: li. +. 

21. III. Fieber fallt in den Vormittagsstunden etwas ab, sonst Zustand un- 
verandert. Pat. fiihlt sich etwas freier und nimmt raehr Anted an der Umgebung 
und den Krankheitserscheinungen. Zur Vomahme eines Suboccipitalstiches wird 
Pat. nach der chirurgischen Klinik verlegt. 

3. IV. 18. Zuriickiiberweisung von der chirurgischen Klinik: Indikation zur 
druckentlastenden Operation nicht gegeben, da der Druck der Cerebrospinal- 
fltissigkeit im Sitzen 240 mm, im Liegen 140 mm betrug. Ventrikelpunktion des 
Gehims ergab bds. 100 mm. Eine Trepanation kommt bei dem so ungenau lokali- 
sierten Tumor nicht in Frage. 

Pat. klagt viel iiber Kopfschmerzen und ist sehr matt. 

2. V. Fehlen des Com. R. li. —; in der Umgebung des linken Os cygomat. 
groBe Hypalgesie. Reflexe bds. + und gleich. Seit einigen Monaten besteht 
Amenorrhoe; weiter besteht die Neigung, nach rechts zu fallen. 

15. VI. Pat. wird auf eigenen Wunsch hin und wieder lumbalpunktiert (ca. 
20—30 ccm, wodurch Nacldassen der Kopfschmerzen bewirkt wird und Pat. sich 
erleichtert fiihlt). Im allgemeinen ist Pat. apathisch und weinerlich. 

13. VII. Menstruation tritt wieder auf. 

3. VIII. Starkerer Schwindel. Aufstehen unmoglich. Sonst Zustand unver- 
andert. 

20. VIII. Pat. liegt jetzt immer zu Bett, da sie sehr schlecht gehen kann. 
Sie laBt unter sich, woriiber sie sehr erregt ist. 

15. X. Pat. ist apathisch, spricht langsam urid undeutlich, kommt der Auf- 
forderung, mit den Augen dem bewegten Finger zu folgen, nicht nach, versteht 
jedoch alles. Abnahme der Sehkraft. Incontinentia vesicae. Klagen iiber Schmerzen 
in der Brust, Durchfall. Pat. kann allein nicht gehen und stehen. Sie macht einen 
hypochondrischen Eindruck, wird aber lebhafter, wenn sie ihre Schmerzen schil- 
dert. Ihr Rechnen ist fehlerhaft: 7 + 8 = 12; 9 — 6 =3; 3 x 8... — Datum? — 
Wie lange in der Klinik? — Wie lange Krieg? 3Jahre. Wie alt? 23Jahre. 

29. XI. 18. Pat. laBt unter sich und weint dariiber. Klagen iiber Schmerzen 
in der ganzen Unterbauchgegend, die oft zu krampfartiger H6he gesteigert sind. 
Rechtsseitiges Stechen und Schmerzen im Kopf. Sprache auffallend verwaschen, 
leise, so daB sie oft nicht zu verstehen ist. Pat. muB beim Gehen sehr untefstiitzt 
werden, fallt dabei nach rechts. Sie wird weiter auf ihren Wunsch hin alle 3—4 
Wochen lumbalpunktiert. Bei der Untersuchung ist Pat. recht schwerfallig, folgt 
den Aufforderungen nur nach Zureden und macht sehr langsame Bewegungen. 

Status somaticus: Allgemeines: GroBe: unter mittel. Knochenbau, Mus- 


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t)ber die Indikationen zu hirndruckentlastenden Operationen. 


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kulatur, Fettpolster o. B. Haut und Schleimhaute gut durchblutet. Innere Organe 
o. B. bis auf starke Druckempfindlichkeit in der ganzen Unterbauchgegend nnd 
geringe Druckempfindlicbkeit in der Magengegend. 

Nervensystem: Augen: L. R. + , C. R. nicht zu priifen. Re. Pupille > li., 
bds. etwas entrundet. Der Blick ist standig nach rechts oben gerichtet. Nystag¬ 
mus angedeutet? Einstellung nach links und unten nicht zu erzielen, nach oben 
und unten frei. 

Facialis und Trigeminus unverandert. Rachenreflex herabgesetzt. Geruch an- 
geblich schlecht; Geschmack angeblich gut; Gehor wechselnd; Sprache lieiser, ver- 
waschen. 

Motilitat: Adiadochokinesis bds. 

Im Ubrigen Befund unverandert. 

16. XII. Seit 3 Tagen klagt Pat. iiber stechende Schmerzen in beiden Ohren, 
besonders rechts. 

22. XII. Augenbefund (spez. Untersuchung): abgelaufene neuritische Atro- 
phie, rechts werden Handbewegungen wahrgenommen. 

27. XII. Ohrenbefund (spez. Untersuchung): rechts narbig verandertes 
Trommelfell mit Verkalkung; links atrophisches Trommelfell. Es besteht eine 
Mittelohrschwerhorigkeit rechts, die durch die Trommelfellveranderung erklart 
wird. Die Lateralisation wird dauemd nach rechts angegeben. Eine genauere 
Gehdrprufung ist bei dem Zustande der Pat. unmoglich, doch wird die Schwerhorig- 
keit durch die Trommelfellbeschaffenheit geniigend erklart. Eine Erkrankung des 
Innenohrs liegt nicht vor. Vestibularapparat bds. erregbar. 

20. I. 19. Zeitweise verweigert Pat. die Nahrungsaufnahme und muB ge- 
fiittert werden. 

16. II. Stimmung und Zustand sind sehr wechselnd. 

27. V. Zustand wesentlich besser. Pat. steht auf, geht ohne Stiitze leidlich 
sicher, halt sich gelegentlich nur an der Wand oder an Gegenstanden fest. Stimmung 
besser. 

26. VI. Pat. liegt wieder dauernd zu Bett, laOt Urin unter sich und ist sehr 
miBmutig. Die Sprache ist heiser und undeutlich. 

5. VII. Augenbefund: Stauungspapille bds. minimale Prominenz. 

16. VII. Wieder Klagen iiber Leibschmerzen; vaginale Untersuchung o. B. 

6. VIII. Pat. schreibt und spricht ab und zu davon, sich das Leben nehmen zu 
wollen. 

25. VIII. Augenbefund: bds. leicht neuritische Atrophic. Schlangelung der 
UefaBe; keine Prominenz; unscharfe Papillen. 

30. VIII. Das Gehen fallt ihr sehr schwer, sie fallt nach rechts. Appetit und 
Schlaf gut. 

30. X. Zustand und Stimmung sehr wechselnd. Augenbefund: Fingerzahlen 
vie friiher in y 2 — 3 / 4 m Entfernung. Keine Gesichtsfeldeinengung. 

8. XI. Pat. ist wieder im ganzen teilnahms- und affektlos. Sie ist nur selten 
weinerlich und meist leicht zu beruhigcn. Oft bleibt sie mehrere Tage hinterein- 
ander im Bett. 

28. XI. Zustand im groBen ganzen unverandert. 

18. XII. Status somaticus: Leichter Strabismus divergens links. Blick ist 
meist nach rechts gerichtet. Pat. ist schwer zum Fixieren zu bringen, Augenbe- 
wegungen frei, kein Nystagmus Re. Pupille > li., bds. entrundet. L. R. re. + li., 
sehr unausgiebig. K. R. +, Conj. R. stark herabgesetzt, li. < re.. Corn. R. +. 
Druckempfindlichkeit der beiden oberen Aste des Trigeminus re.> li. Facialis: 
Der rechte Mundwinkel hangt infolge Gesichtsasymmetrie etwas herab. Innervation 
bds. gleich. Die Mundpartie ist auffallend schwach innerviert, die Zunge koramt 

Archiv tur Psychiatric. Bd. 07. 4 


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50 K. Jakoby: 

gerade, keiii Zittem, freie Beweglichkeit. Gaumen-Rachenreflex herabgesetzt. 
Sprache nasal, tonlos. 

Romberg: Lidflattem, Schwanken, beides wird bei Ablenkung geringer. Gang: 
Langsam, steif, schwankend, aber kein Fallen. Spas men in beiden Beinen. 

Hypasthesie am ganzen Korper. Nadelstiche werden in der rechten Gesichts- 
seite und Rumpfseite starker empfunden. Ovarie: re. + +. Mastodynie: re. -f +. 

Im iibrigen Befund gegen friiher nicht verandert. Blutdr. R. R. 135. Pat. wird 
auf eigenen Wunsch lumbalpunktiert. Keine Druckerhohung. 

28. XII. Pat. ist lebhafter, unterhalt sich mit anderen Kranken. Starke Be- 
tonung des Kindlichen. Sie spielt mit einer Puppe und weint heftig, als dieser ein 
Bein ausgerissen wird. 

8. I. 20. Pat. ist kindlich affektiert. Die Puppe gefallt ihr nicht mehr. Sie 
wartet offensichtlich darauf, ein Scherzwort zu horen, um beleidigt zu tun. 

14. I. Pat. laBt nachts wieder einige Male unter sich. 

10. IV. Pat. fiihlt sich w'ohler, will es aber nicht zugeben, sie ist bei der Visite 
immer klagselig, dagegen oft recht vergniigt, wenn sie sich unbeobachtet glaubt. 

30. VII. Pat. ist jetzt standig auBer Bett, geht bedeutend sicherer und besorgt 
kleine Gange auf den Stationen. 

24. X. Psychisches Verhalten ist sehr wechselnd. Pat. ist sehr empfindlich 
und leicht gekrankt; im groBen ganzen aber vergniigter und zuganglicher als 
friiher. 

Augenhintergrund: Bds. neuritische Atrophie, starke Schlangelung der Ge- 
faBe, keine Einseheidung der GefaBe; keine Prominenz, sonst Zustand unverandcrt. 

31. III. 21. Pat. klagt, daB sie immer ein bedriicktes Gefiihl im Kopfe ha be, 
dazu Schmerzen in der linken Stirnseite und auf dem Scheitel sowie Schmerzen in 
der linken Seite verspiire, die sich immer noch nicht gebessert hatten. In alien Be- 
wegungen, im Sprechen und in der Auffassung ist sie sehr langsam und schwer- 
fallig. Das Gesicht ist ohne Mienenspiel. 

Objekt. Befund: Motilitat: Arme keine Spasmen, keine Ataxie. Deut- 
liche Adiadochokinesis bds. Bewegungen sehr verlangsaint, rohe Kraft bds. stark 
herabgesetzt. Vorbeizeigen nicht deutlich. 

Beine: deutliche Spasmen bds., li. vielleicht >■ re. Rohe Kraft stark herab¬ 
gesetzt. Keine deutliche Ataxie. Gang langsam, breitbeinig, etwas unsicher. 

Gesichtsmuskulatur: starr, wenig Mienenspiel. 

Romberg: leichtes Schwanken. 

Sensibilitiit: Empfindung fiir Beriihrung an der rechten Stirnseite angeb- 
lich herabgesetzt, desgleichen am ganzen Korper, besonders in den Beinen. Schmerz- 
empfindung fiir spitz und stumpf nicht sicher unterschieden. 

21. V. Zustand im ganzen unverandcrt. Pat. ist sehr still, steht viel auf, 
fiihlt sich leidlich wohl. Zeitweise Klagcn iiber Kopfschmerzen. 

8. VIII. Pat. ist wieder sehr deprimiert, weint oft, ist sehr rniide und bleibt 
mitunter tagelang im Bett. Emeut Klagen iiber Kopfschmerzen und Mattigkeit. 

17. VIII. Zustand besser. Pat. wird nacli Hause beurlaubt. 

15. IX. Pat. kommt ziemlieh unbefriedigt voin Urlaub zuriick. Der Vater 
sei krank gewesen, sie sei gar nicht zur Ruhe gekommen und freue sich, w'ieder 
hier zu sein. 

30. IX. Pat. bewegt und beschaftigt sich mehr wie friiher, ist fast den ganzen 
Tag iiber auf, sitzt bald im Saal, bald im Tagesraum und unterhalt sich mit den 
Xachbarpatientinnen. 

15. X. Pat. klagt in den letzten Tagen iiber ReiBen in den Beinen. 

15. XI. Gelegcntlich immer wieder die alten Klagen. Sie fiihlt sich oft nicht 
geniigend beachtet, ist sehr empfindlich und leicht gekrankt. 



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tjbcr die Indikationen zu hirndruckentlastenden Operationen. 


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1. I. 22. Kindliche Freude iiber die Weihnachtsgeschenke; sie ist von ihren 
Klagen abgelenkt und fiihlt sich jetzt recht wohl. 

5. I. Pat. hat Grippe bekoramen, allgemeine Abgeschlagenheit, Kopf- und 
Gliederechmerzen, Temperatur bis 39,8°. Bronchitis. Isolierung. 

16. I. Seit einem Tage ist Pat. fieberfrei, wird zuriickverlegt. 

20. I. Pat. fiihlt sich noch sehr matt, liegt den ganzen Tag zu Bett. 

1. V. Pat. hat sich allmahlich wieder ganz erholt, steht auf, geht auf den Bal- 
kon, unterhalt sich mit den anderen Patientinnen und auBert auBer iiber gelegent- 
liche Kopfschmerzen keine Klagen. 

19. V. Starke Zahnschmerzen. 

30. V. Die Behandlung in der Zahnklinik hat sie sehr angegriffen. Erneute 
Klagen iiber starke Kopfschmerzen. 

Auch in diesem Falle handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach 
um eine Neubildung im Gehim. Doch sind die Symptome trotz relativer 
Dauer der Erkrankung so diffus und wenig ausgepragt, dazu noch 
durch psychogene Ziige z. T. iiberlagert, daB irgendeine Lokalisaticn 
der evtl. bestehenden Neubildung unmoglich war. Es wurde daher von 
einer Trepanation abgesehen. Als dann auch hier wegen bedrohlicher 
Allgemeinsymptome eine Druckentlastung notwendig schien, nahra man 
zunachst eine Ventrikelpunktion vor. Dieselbe ergab keine wesentliche 
Druckerhohung, und es wurde deshalb von weiteren operativen Ein- 
griffen abgesehen. Die eine Zeitlang hindurch in regelmaBigen Abstan- 
den vorgenommenen Lumbalpunktionen haben wohl nur einen psychi- 
schen EinfluB auf die Pat. auszuiiben vermocht, ohne daB sie auf die 
objektiven Symptome einzuwirken vermocht hatten. Auch diese Pat. 
lebt seit Jahren mit einer leichten Besserungstendenz fort. Neue Sym¬ 
ptome, die zu einer Prazisierung oder Anderung der Diagnose gefiihrt 
hatten, sind bisher nicht aufgetreten. Auch hier karne deswegen wie 
im 1. Falle die Frage einer differentialdiagnostischen Abgrenzunggegen- 
iiber Pseudotumoren in Betracht, doch kann auch hier erst dieSektion 
Klarheit geben. 


Fall III. 

Am 23. II. 21 kommt Fraulein W. in Begleitung der Mutter in die Klinik. 
Familienanamnese: Keine Nerven- oder Geisteskrankheiten, Vater starb vor 2 Jah¬ 
ren an einem Blasen- und Herzleiden, war in den letzten Jahren etwas nervos. 
Mutter und eine Schwester sind gesund, ein Bruder fiel im Felde. Pat. selbst habe 
als Kind Masem und mit 11 Jahren einen Anfall von Gehirnentziindung ohne 
Krampfe gehabt. Sie erinnere sich aber kaum noch daran. Niemals Bettnassen. 
Sie habe in Konigsberg eine Biirgerschule besucht, schwer, aber gut gelernt und sei 
sehr gewissenhaft gewesen. Spater habe sie Buchfiihrung gelernt, aber das Sitzen 
nicht vertragen. Auch sei es ihr fur ihren Kopf zu anstrengend gewesen. Sie sei 
dann zuerst Verkauferin, spater Lageristin und Einkauferin bei einem hiesigen 
groBen Kaufhaus gewesen. Schon seit ihrem 18. Jahre habe sie mit ihren Nerven 
zu tun gehabt. Es habe sich zuerst auf den Magen gelegt, so daB sie zeitweise gar 
nichts habe essen konnen und viel Schmerzen gehabt habe. l -> Jahr z. B. habe sie 
nur Suppen gegessen; l / 2 Jahr habe sie dann ganz ausspannen und aufs Land gehen 
miissen, wo sie sich gut crjiolt habe. Etwa 2 Jahre spater im Alter von 22 Jahren 

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K. Jakobv: 


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babe es sich auf die Brust gelegt. Sie habe auch stechende Schmerzen und Neur- 
algien gehabt, so dab sie oft vor Schnierzen nicht habe schlafen konnen. Durch 
Hitze hiitten sich die Schmerzen wieder gelindert. Schon seit Jahren habe sic 
iiber Kopfschmerzen an verschiodenen Stellen geklagt, die oft langere Zeit anhiel- 
ten. Im Frtihjahr 1920 habe sie sich bei der Rothensteiner Explosion sehr erschreckt. 
tla 14 Fensterscheiben um sie herum geplatzt waren. 8 Tage spater habe sie sich 
wieder erschreckt, als Glas von der Decke gefallen sei, durch die ein Maurer durch- 
getreten ware. Damals sei sie auf die Knie und Ellbogen zur Erde gestiirzt. 2—3 
Wochen darauf habe sie eines Morgens Kribbeln und Kaltegefiihl im rechten Arm 
bekominen, der eingeschafen ware und sich wie steif angefiihlt habe. Nach ca. 
15—20 Minuten habe sich das wieder gelegt. Ungefahr 2 Stunden danach ITbel- 
keit und Erbrechen. Nach kurzer Bettrulie sei dann der Zustand wieder besser 
geworden. Ob sie damals auch Kopfschmerzen gehabt habe, weib sie nicht mehr. 
Diese „Anfalle im Arm“ wiederholten sich ohne Erbrechen ca. alle 3 Wochen. 
Zur gleichen Zeit habe sie wieder ihre alten Schmerzen in der Brust mit leichtem 
Angstgefiihl gehabt. Damals (Juli 1920) sei sie in spezialarztliche Behandlung ge- 
gangen. Allmahlich habe sich ihr Zustand gebessert, auch die Beschwerden im 
Arm seien ausgeblieben. November 20 Grippe; 3 Wochen danach starker Kopf- 
krampf, so dab sie den Kopf nicht habe bewegen konnen. Die Schmerzen hatten 
hinten und oben gesessen, stundenlang angehalten und seien zuerst nur alle paar 
Wochen, spater alle 3—4 Tage wiedergekommen. Manchmal, aber nicht immer 
Erbrechen. In der letzten Zeit habe sich ihr Zustand infolgo vollkommener Ruhe 
gebessert. Seit ca. 3 Wochen aber habe sie anfallsweise Gefiihl von Steifigkeit 
im Gesicht, das iiber der Nase beginne, sich dann nach den Schlafen hinziehe und 
lids, zum Halso herunter erstrecke. Gelegentlich habe sie auch Stechen in der 
Kehlkopfgegend, Gefiihl der Steifigkeit im Nasenriicken mit Kribbeln in der 
Nasenspitzc. Oft habe sie auch Zahnereiben und Klappen in den Ohren, als ob 
ein Fliigel darin ware. Seit Juli etwa bestiinden auch noth Schmerzen im rechten 
Bein, die sich von der Htifte nach unten zogen und in letzter Zeit so stark ge¬ 
worden waren, dab sie oft im Bett nicht ordentlich habe sitzen konnen. Seit 
einigen Monaten (ca. Oktober) schleife das Bein beim Geheu etwas nach. Pat. 
fiihle sich in den Gelenken, besonders in den rechten, etwas schwach, kippe oft 
in den Fubgelenken um, habe baufig beim Treppensteigen Zittern in den Fiiben 
und Knien. Ein eigentlicher Schwindel bestehe nicht. Nur als sie im Januar 
einige Tage gelegen habe, sei ihr nach dem Aufstehen schwindlig geworden; das 
habe sich jedoch bald wieder gelegt. 

Jetzt wird Pat. von dem behandelndcn Arzt mit folgendem Schreiben vom 
22. II. 21 der psychiatrischen Universitatsklinik uberwiesen: „Frl. W. wird wegen 
Tumor Cerebri der Nervcnklinik uberwiesen. Beginn des Lindens Sommer 20 mit 
Nystagmus und Ataxie im rechten Arm bei normalem Augenhintergrund. Jetzt 
bds. Stauungspapille, Erbrechen. Schwindel, Spasmen im rechten Bein, Babinski 
und Fubklonus rechts.“ 

1. III. 21. Augenuntersuchung (spez. Untersuchung): Sehvermogen 1 / s . 
Korrektion mit +1,5 ermoglicht Druckschrift re. in 12 cm, li. 10 cm Entfernung 
zu lesen. Gesichtsfeld bds. o. B. Pupillen gleichweit, reagieren prompt auf Licht, 
bei Blick seit warts Augenzittem. Muskelgleichgewicht. Bds. Papille odematos. 
wahrscheinlich beginnende Stauungspapille. 

5. III. Ohrenuntersuchung (spez. Untersuchung): von seiten der Ohren 
nichts Pathologisches. Rontgendurchleuchtung o. B. 

7. III. Augenuntersuchung: Papillen verwaschen, zirkumpapillares Odem; 
zahlreiche feine Hamorrhagien. Venen stark gefiillt. Bds. Stauungspapille, re. 2 D., 
li. 3 D. 


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tjber die Indikationen zu hirndruckentlastenden Operationen. 


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5. re. 3 /e .. • durch Glaser nickt gebessert; li. 5 / 16 . . . durch vorgehaltenesGlas 
(+ 3 Is) bis fi /9 gebessert. 

18. III. Augenuntersuchung (spez. Untersuchung): Stauungspapille re. 4 
D., li. 3—4 D. Bds. kleine Hamorrhagien. Nachuntersuchung in 8 Tagen erwiinscht. 
Entlastende Operation zurzeit noch nicht notwendig. Visus wie am 7. IV. 

19. III. In den letzten Tagen klagt Pat. wieder iiber Schmerzen in der linken 
Hinterkopfseite, die nach dem linken Ohre hinstrahlen. Beim Aufrichten zieht. 
sich der Schmerz bis nach vorn zur Stirn und hinunter bis zur Xasenspitze. Dann 
kdnne sie auch oft nicht die Ziihne auseinander bringen. Unlangst sei ihr fiir etwa 
10 Minuten der rechte Arm eingeschlafen. In der letzten Zeit sei das rochte Bein 
bedeutend schwacher geworden. Sie koime schlechter gehen und habe oft reiBende 
Schmerzen. Einmal habe sie das Gefiihl des Eingeschlafenseins von den Zehen 
aufwarts bis zu den Knien gehabt. Oft tritt, ohne daB sich die Pat. erschreckt 
oder eine sonstige Veranlassung zu erkennen ist, ein Zucken iin ganzen Korper 
auf. Sie klagt auch iiber Schmerzen in beiden Augapfeln, besonders bei Bewe- 
gungen. Neigung zum Weinen. 

Objektiver Befund: Conj. R.: li.—, re. +; Com. R.: li.—, re. +; Ny¬ 
stagmus beim Blick nach re. ? 

Trigeminus: Angeblich Druckempfindlichkeit der unteren Aste. Facialis o. B. 
Zunge o. B. Gaumenrefl.: +. Rachenrefl.: +. 

Reflexe: O. E. O. E.: + +; Kn. Ph.:+ + +; Ach. Ph.: + + +, re. li. 
Babinski: re. + , li. —; Opjjenheim: —: FuBklonus: li. —, re. + ; Patellklonus: —; 
Abdom. R.: + , re. - li. 

Motilitat: Anne: Keine deutlichen Spasmen. Rechts Ataxic angedeutet. Rohe 
Kraft stark herabgesetzt. Adiadochokincsis rechts angedeutet. Kein Vorbeizeigcn. 

Beine: Deutliche Spasmen rechts (deutlicher als friiher). Rohe Kraft rechts 
stark herabgesetzt. Rechtes Hiiftgelenk ist beschrankt beweglich. Her FuB steht 
in leichter SpitzfuBstellung. Ataxie rechts? Adiadochokincsis rechts. 

Romberg: leichtes Schwanken. Gang: rechtes Bein schliirft am Boden. 

Sensibilitat: Gegen Befund vom 23. II. unverandert. 

21. III. Das Befindcn ist sehr wechselnd. An manchen Tagen schlccht, 
Klagen iiber Kopfschmerzen, besonders morgens. Pat. liegt dann oft den ganzen 
Tag apathisch und teilnahmslos zu Bett, klagt iiber Gefiihl von Kalte und Steifig- 
keit in der ganzen Oberlippe. li. re., und der linken Gesichtsseite. Sie kann auch 
die Zahne nicht ganz ordentlich ausemanderbringen und nicht gut kauen, dabei hat 
sie Schmerzen in beiden Kiefergelenken, die sich bis zu den Ohren hinziehen, die 
jetzt auch dauernd weh tun. Im linken Ohr sind die Schmerzen etwas starker und 
haufiger. Kaltcgeftihl im Zahnfleisch des ganzen Oberkiefers. 

30. III. Augenuntersuchung ispez. Untersuchung): Befund wie friiher, 
re. 3D., li. 4 D. Prominenz. Sehvermbgen unverandert. Operation noch nicht 
notwendig. Voretellung in 10 Tagen erwiinscht. 

6. IV. Die Schmerzen hinter dem linken Ohr haben eineZeitlang nachgelassen. 
Heute sind sie wieder ganz bedeutend. Arme und Beine ziemlich unverftndert. 

Objektiver Befund: Klopfcmpfindiichkeit des ganzen Schadels, links viel- 
leicht etwas starker. Augen: Pupillen o. B.; Conj. R.: +, bds. schwach. li. ie.; 
Com. R.: +, herabgesetzt. li. re. 

Trigeminus: Angeblich Druckempfindlichkeit beider unterer Aste, li. ■ re. 
Facialis o. B. Gaumenrefl.: Rachenrefl.: -f; Geschmack: rechte Zungcn- 

seite o. B., links unsicher, fast null. Sprache o. B. 

Reflexe: O. E. O. E.: re.?, li. +; Kn. Ph. + +; Ach. Ph. + +. re. li.; 
Plantarrefl.: + ; Babinski: re.?, li.?: Abdom. R.: +, li. deutlich re.: FuBklonus: 
re. -f, li. —; Patellarklonus: —. 


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K. Jakoby: 


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Motilitat: Arme: keine Spasmen, keine Ataxie, rohe Kraft rechts gut. 
Adiadochokinesis rechts vielleicht angcdeutet; Vorbeizeigen mit der rechten Hand 
nach links unten. 

Beine: Spasmen im rechten Bein eben angedeutet. Keine deutliche Ataxie. 
Rohe Kraft deutlich und stark herabgesetzt. Beweglichkeit des rechten FuBgelenks 
beschrankt, die der rechten Zehen sehr verlangsamt. Gang: rechts deutliches 
Hinken. Romberg: leichtes Schwanken. 

Sensibilitat: Gefiihl ftir Beriihrung, Temperatur und Tiefensensibilitat o. B. 
Sehmerz: deutliche Hypersensibilitat auf der linken Stirnseite. Fragliche Hyper¬ 
sensibilitat auf der linken Kinnseite. 

16. IV. Pat. gibt an, sie habe Beit einigen Tagen das Gefiihl, als ob ihr im linken 
Ohr etwas vorlage; auch habe sie wieder Klingen darin und waren die Schmerzen 
hinter dem Ohr wieder groBer geworden. Befund ist sehr wechselnd. Oft ist Pat. 
vollkommen apathisch, erbricht, klagt liber starke Kopfschmerzen, so daB sie sich 
kaum riihren k6nne. Dann wieder Besserung. 

11. V. Augenuntersuchung (spez. Untersuchung): Stauungspapille bds. ca. 
3 D. Prominenz. S. re. korrigiert mit + 2,0 = «/«, li- korrigiert mit + 2,5 = 8 / 6 . 
Geringe Abducensparese li. (maximale Doppelbilderdistanz: primarer Winkel = 30°. 
sekundarer Winkel = 5°). 

25. V. Blut: Wa. R. —. 

28. V. Augenuntersuchung: Stauungspapille unverandert. Doppelsehen 
gebessert. 

8. VI. Augenuntersuchung (spez. Untersuchung): Stauungspapille bds. 
Prominenz 3 D., blinder Fleck nicht vergroBert. S. re. mit -f 2,0 korrigiert = 5 / 6 , 
li. korrigiert mit + 2,5 = 5 / s . Der Schleier vor den Augen ist durch die bisher 
unkorrigierte Hyperopie bedingt. 

10. VI. Pat. klagt iiber Schmerzen oberhalb beider Augen, besonders li nks , 
die iiber die Stirn nach der Schlafe ziehen, und Ohrensausen links, selten rechts. 
Der Gaumen, besonders links, ist „diek“, hat sich aber in letzter Zeit etwas ge¬ 
bessert. Pat. sagt, es kame ihr so vor, als waren Blasen auf der Zunge. Schlucken 
macht wenig Beschwerden. Ubelkeit selten, nur bei Kopfschmerzen. Seit 6—8 
Wochen kein Erbrechen mehr; im rechten Arm Schmerzen und Schwache; sie 
klagt iiber unsicheres Tastvermogen; Schreiben geht jetzt wegen der Schmerzen 
und Unsicherheit gar nicht mehr. Schmerzen in den Beinen beim Gehen, besonders 
rechts. Schmerzen besonders iiber den Knien, die sich bis zur Hiifte hinziehen. 
Das Gehen fallt ihr jetzt schwerer. 

11. VI. Objektiver Befund: Pupillen o. B.; Conj. R.: +; Corn. R.: +, 
gering. Gaumen-und Rachenrefl.: + ; Kn. Ph.: +; Plantarrefl.: + ;Ach. Ph.: + ; 
Babinski: re. ?, li. +; Abdom. R.: li. + +, re. +; FuBklonus: re. +, li. ? Gang: 
unsicher; Romberg: auf der rechten Seite Stoning der Tiefensensibilitat. 

Pat. klagt iiber das Gefiihl, als ware das linke Augenlid dick und schwer. Pat. 
wird fur 4—6 Wochen nach Hause entlassen. 

29. VI. Pat. komint wieder zur Aufnahme und gibt an, schon in der letzten 
Zeit ilires damaligen Aufenthalts in der Klinik seien ihre Beschwerden starker ge¬ 
worden. Die Kopfschmerzen in der Stirn seien starker, dazu kamen zunehmendes 
Miidigkeitsgefiihl, Schmerzen im rechten FuB und Bein. Bald nach der Entlassung 
hatte sich wieder zunehmende Schwache im rechten Arm eingestellt, so daB sie 
mit den Fingem der rechten Hand nichts habe ordentlich fiihlen konnen. Sie habe 
jeden zweitcn Tag gleieh morgens beim Aufwachen Erbrechen gehabt, das sich bis 
achtmal am Tage wiederholt habe. Auch die Unsicherheit im Gehen habe zuge- 
nommen. Schwindelgefiihl, wenn sie sich morgens im Bett aufrichtete. Das Seh- 
vermogen sei in den letzten 8 Tagen schlechter geworden. Sie habe das Gefiihl, 


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t)ber die Indikationen zu hirndruckentlastenden Operationen. 


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als ob die Augen steif waren. Ebenso seien die Schmerzen in der linken Gesichts- 
seite wieder aufgetreten. 

Objektiver Befund: Pupillen o. B.; kein Nystagmus; Conj. R.: + und 
Corn. R.: + , li. < re.; Convergensschwache links. Facialis: o. B.; Trigeminus: 
Austrittspunkt druckschmerzhaft, li. > re. Die Uvula zeigt nach links. Rachen- 
refl.: -f; Gaumenrefl.: +. Die Zunge kommt gerade, ist gut beweglich. Auf der 
linken Zungenhalfte und der Spitze sind kleine Erosionen und Blaschen. Beweg- 
lichkeit der Arme frei. Grobe Kraft rechts wesentlich schwacher als links. Spas- 
men im rechten Arm. Sehnenreflexe lebhaft, re. > li. Ataxie nicht deutlich. Vor- 
beizeigen mit der rechten Hand. 

Beine: Spasmen im rechten Bein. Kraft im rechten Bein erheblich schwacher 
als im linken. Der rechte FuB steht in SpitzfuBstellung. Er ist aktiv nicht be¬ 
weglich. Passive Beweglichkeit frei. Auch links entspricht die grobe Kraft nicht 
der Muskelentwicklung. Sehnenreflexe bds. lebhaft. Kein Klonus. Babinski: re. +. 
Romberg: +. Gang: unsicher, re. spastisch-paretisch. Abdom. R.: mit Sicherheit 
nicht auslCsbar. Linke Stimgegend klopfempfindlich. Ischiadicusdruckpunkte 
rechts empfindlich. 

4. VII. Hirnpunktion: Am oberen und unteren«Stirnpunkt, Kleinhirnpunkt 
der linken Seite. 

6. VII. Pat. klagt iiber Zunahme der Kopfschmerzen, der Schwache im rechten 
Arm und Bein; morgens mehrfach Erbrechen. Pat. iBt sehr wenig; nimmt nur 
fliissige Nahrung auf. Klagen iiber taubes Gefiihl im Halse, sie konne schlecht 
schlucken. 

7. VII. Pat. hat starke Kopfschmerzen, ist benommen, erbricht. Bds. Babinski: 
+ , starke Spasmen im rechten Arm und Bein; starkes Schwindelgefiihl beim Auf- 
setzen; Appetitlosigkeit. 

10. VII. Zustand unverandert bis auf geringe Temperaturerhohung. Die 
Untersuchung der durch die Punktion gewonnenen Himsubstanz ergibt normale 
Himsubstanz. 

20. VII. Zustand sehr wechselnd. In Intervallen von mehreren Tagen treten 
anfallsweise verstarkte Hirndruckerscheinungen auf. Pat. ist dann tief benommen, 
erbricht, laBt unter sich. Die Pulsfrequenz ist etwas verlangsamt. Pat. erholt 
sich im Laufe der nachsten Tage wieder etwas, klagt viel iiber Kopfschmerzen. 

4. VHI. Pat. erbricht zeitweiso, besonders nachts, ist leicht benommen, apa- 
thisch, Pulsfrequenz verlangsamt. 

6. VIII. Zunehmende Benommenheit. Pat. niuB deshalb nach der Frauen- 
aufnahmeabteilung verlegt werden. 

8. VIII. Zustand wechselnd. Pat. ist mitunter ganz benommen, dann wieder 
klarer, schlaft viel. Sie wird zur Ausfuhrung des Suboccipitalstiches nach der 
ehirurgischen Klinik verlegt. 

10. VIII. Operation (Prof. Dr. Kirschner). Es wird zwischen Atlas und Os 
occipitale eingegangen. Man kommt auf einen Hohlraum, der aber keine Fliissig- 
keit, sondem vorgefallene Hirnmasse enthiilt. VerschluB der Wimde. Beim Ver- 
schluB der auBeren Haut reflektorischer Atmungsstillstand mit Zyanose. Kiinst- 
liche Atmung — Dauer 5 Minuten — hat Erfolg. 

6 Uhr abends: Plotzliche Veranderung der Atmung. Es wechselt tiefes Atem- 
holen mit folgendem Atemstillstand. 6}'., Uhr abends Exitus. 

Sektionsbefund. 

Klin. Bemerkung: TumorCerebri. Suboccipitalstich. 6Stunden spaterExitus. 

H auptkrankheit: Glioma Cerebri. Bronchialpneumonie im rechten Unter- 
lappen. 


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K. Jakoby: 


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Anatomische Diagnose: Rasierter Hinterkopf. 10 cm langc Operations- 
wunde in der Nackenlinie bis zur Protuberantia occipt. ext. heraufreichend. Drai¬ 
nage des Subduralraumes durch eine bleifederdicke Offnung in der Dura zwischen 
Atlas und Occiput nach der Muskulatur des Nackens. Hirnodem. Etwa faust- 
groBes Glioin im linken Scheitellappen dicht hinter der Zentralfurche. 

Kopfhohle: Das Gewebe unter der Operationswunde ist geschwollen und 
triibe. Von der Wunde fiihrt ein 3 cm langer Kanal durch die Membrana at Ian t. 
occipit. in den Subduralraum, so dafl eine Verbindung zwischen Liquor und Nacken- 
muskulatur hergestellt ist. Der obere Langsblutleiter ist leer. Die Sinus trans- 
versi Sigmoidei sind mit dunkelrotem Blut angefiillt. Die Dura ist im allgemeinen 
glatt und feucht. Im Bereiche der linken A. meningea med. finden sich einzelne 
stecknadelkopfgroBe grauweiBe Knbtchen. Es stellt sich heraus, daB hier Gehirn- 
substanz durch die Dura hindurchgewachsen ist. Die Dura ist am linken Scheitel¬ 
lappen dicht hinter der Zentralfurche adharent. Sonst laBt sie sich leicht abziehen. 
Die Hirnwindungen sind vollig abgeflacht. Die Venen sind nur wenig mit Blut 
gefiillt. Ira linken Scheitellappen befindet sich ein etwa faustgroBer, grauweiBer, 
strahliger Tumor. 

16. X. 21. Der Tumor, ist ein von der Dura ausgehendes Endothelioma 
psammosum. 

Auch hier waren die Symptome so unsicher, dali eine sichere Diagnose 
unmoglich war. Die vorgenomraenen Hirnpunktionen ergaben gleich- 
falls keinen Anhaltspunkt. Als darum wegen bedrohlicher Allgeiuein- 
symptome eine druckentlastende Operation notwendig wnrde, entschloli 
man sich zum Suboccipitalstich. 


Literaturverzeichnis. 

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hirns. Jahresbcr. iiber Leist. u. Fortschr. a. d. Geb. d. Neurol, u. Psychiatr. Ber. 
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Kritische Zusammenfassung der Ergebnisse der Neisserschen Hiinpunktion fiir die 
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Psychiatr., Ref. u. Erg. 11. — Muller: Trepanation der Opticusscheibe. Eine 
neue Operation der Stauungspapille. Wien. klin. Wochenschr. 29 (32), S. 100. — 
Oppenheim: Lehrbuch der Nervenkrankheiten. 6. Aufl. — Derselbe: Beitr. z. 
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A new operative Treatment for Selected Cases of Cerebral Spastic Paralysis, zitiert 
nach Jahresber. iiber die Leist. u. Fortschr. a. d. Geb. d. Neurol, u. Psychiatr. 19, 
1915. — Tilmann: Uber prahistorische Chirurg. Langenbecks Arch. 28. — Der¬ 
selbe: Chirurg. Behandlung der Epilepsie. Schmidts Jahrb. 324 (4) 205. — 
Wernicke: Gehimkrankheiten. 1881. 


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ftber die katatonische Demenz und deren klinische Forraen. 


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Von 

Dr. N. Skliar. 

(Ord. Arzt der Irrenanstalt Tambow-IluBland.) 

(Eingegangen am 10. August 1922.) 

T)bor die Frage der Dem. praecox oder, wie wir diese Krankheit 
nennen, der katatonischen Demenz ist die letzten 30—35 Jahre viel 
geschrieben worden. Es wurde heftig und erbittert dariiber gestritten, 
ob die katatonische Demenz wirklich als besondere Krankheitsform 
exist iere oder zu anderen bereits bestehenden Krankheiten gerechnet 
werden muB? Trotz der langjahrigen Debatten ist diese Frage bis 
jetzt noch nicht vollstandig gelost worden. Viele Gegner Krape- 
lins konnen die Dem. praecox als besondere Krankheit aus dem Grunde 
nicht ansehen, weil eine sichere pathologisch-anatomische oder phy- 
siologisch-chemische Grundlage nicht gefunden wurde. Freilich steht 
die Dem. praecox in dieser Beziehung gegen die anderen Geisteskrank- 
heiten nicht zuriick, wo meistens organischo Veranderungon fehlen. 
Und da die positiven Wissenschaften fiir die Ergriindung des Wesens 
der verschiedenen Geisteskrankheiten und deren Abgrenzung von- 
tinander wenigstens fiir die nachste Zukunft wenig Aussicht auf Erfolg 
zu geben versprechen, so meinen wir eher zum Ziele zu kommen, wenn 
wir mehr auf die klinische Seite unser Augenmerk richten, indem wir 
auf ein groBes klinisches Material von langerer Beobachtungszeit uns 
stutzen. 

Ferner kann der Krapelinschen Schule der Einwand gemacht 
werden, ob denn die Dem. praecox als eine einheitliche Krankheits¬ 
form wirklich angesehen werden kann und nicht vielmehr aus ver¬ 
schiedenen Krankheitsformen bosteht? Bekanntlich basiert die Dem. 
praecox auf 3 Hauptwurzeln: der Heckerschen Hebephrenie, der 
Kahlbaumschen Katatonie und der Krapelinschen Dem. para¬ 
noides. Dazu kam spater die Bleuler-Diemsche Dem. simplex 
liinzu. Nebenbei wurden nachher Bezeichnungen fiir Falle gebraucht, 
die zur allgemeinen Benennung der Krankheit (als Dem. praecox) gar 
nicht paBten, wie die Dem. praecocissima im friihen Kindesalter und 
besonders die Spiitkatatonie im hoheren Lebensaltcr, die bei der allge¬ 
meinen Klassifizierung der Krankheit nicht genannt, aber stillschwei- 
gend als selbstverstandlich dazu gerechnet wurden. — Die beiden 


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X. Skliar: tjber die katatonische Demenz und deren klinische Formen. 59 

ersten Gruppen sind im Jahre 1897 von Aschaffenburg auf Grand 
der gleichen Symptome, des gleichen klinischen Verlaufes und der 
gleichen psychologisch-pathogenetischen Merkmale zu einer Krank- 
heitsform, die Dem. praecox genannt wurde, vereinigt worden. Diese 
Ansicht fand mit der Zeit die Zustimmung der meisten Forscher und 
stoCt gegenwartig auf keinen Widerspruch. Nicht so verhalt sich 
die Sache mit der Dem. paranoides. Urspriinglich hielt sie Krapelin 
fur eine besondere Krankheitsform. Im Jahre 1899 fiigte er die Dem. 
paranoides als besondere Untergruppe der Dem. praecox aus dem 
Grunde hinzu, weil sie in eine katatonische Verblodung libergehe und 
im Verfaufe derselben eigenartige katatonische Erscheinungen be- 
obachtet werden. Die letzteZeit kam aber Krapelin zur Ansicht, daB 
die paranoid3 Demenz durch viele Kennzeichen sich von der Dem. 
praecox unterscheide, weswegen er im Jahre 1912 einen Teil der Falle 
der Dem. paranoides von der Dem. praecox trennte und dieselben 
zu einer besonderen von ihm geschaffenen Krankheitsgruppe der sog. 
Paraphrenien zahlte; der iibrige Teil aber der Falle blieb bei der Dem. 
praecox, wenn nicht in einer, so doch in 2 Untergruppen als Dem. 
paranoides mitis und Dem. paranoides gravis bestehen. 

Es wird weiter von vielen Forschern — und nicht mit Unrecht — 
gegen die zu woiten Grenzen der Krankbeit eingewendet. Tatsachlich 
schwoll die Dem. praecox mehr und mehr an, und einige Anhanger 
Krapelins, wie z. B. Bleuler, Urstein u. and. hielten nicht nur 
die Amentia, die Paranoia u. dgl., sondern auch alle moglichen Psy¬ 
chosen, z. B. das Querulantentum, den Alkoholismus, Idiotismus. 
fur Dem. praecox; sie rechneten sogar die Psychopatien, die Degene- 
rat ionen zu den latenten Formen dieser Krankheit. Diese so stark er- 
weiterte Psychose stieB auf einen groBen Widerstand seitens vieler 
Forscher, wie Fiirstner, Wernicke, Schiile u. and., die die Dem. 
praecox fur einen Sammeltopf hielten, wo alle moglichen Krankheiten 
zusammengeworfen wurden. Aber nicht nur die Gegner, sondern auch 
Krapelin selber kam mit der Zeit zur Uberzeugung, daB seine An¬ 
sicht liber die Dimensionen der Krankheit sehr iibertrieben war, da 
viele Falle, die er fur Dem. praecox hielt, sich nachher als manisch- 
depressives Irresein herausstellten. So entstand in der Krapelin - 
schen Schule die Lehre von einer anderen wichtigen Krankheit, dem 
manisch-depressiven Irresein, die bei einigen seiner Anhanger die 
Dem. praecox in den Hintergrund driingte: jedenfalls sind die Falle 
der Dem. praecox zugunsten der manisch-depressiven Psychose 
bedeutend verringert worden. — Hier gilt es, diese bciden Krankheiten 
sicher voneinander abzugrenzen und nachzusehen, was fiir die eine 
und was fiir die andere Krankheit charakteristisch ist und womit sie 
sich voneinander unterscheiden. 


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60 


N. Skliar: 


Viele Autoren sprechen sich ferner mit Recht gegen die Richtig- 
keit der Bezeichnung der Krankheit als Dem. praecox aus. — Endlich 
kann die Gruppierung der Krankheit in die Unterforraen nicht als gelun- 
gen bezeichnet werden. Wir glauben deswegen, es miisse der Krank¬ 
heit eine andere, dem Wesen derselben entsprechendere Bezeichnung 
gegeben und eine andere zweckmaBigere Gruppierung in Unterformen 
gemacht werden. 

Um alle diese Streitfragen zu klaren, sammelten wir 200 typische 
Krankengeschichten von Fallen (121 Frauen und 79 Manner), die in 
die Tambowsche Irrenanstalt vom Beginn bis zum Ende der Krank¬ 
heit im Laufe von vielen Jahron, zuweilen auch Jahrzehnten (von 
1 / 2 Jahre bis 40 Jahren) in Behandlung und Verpflegung waren; viele 
Falle sind von mir selber beobachtet worden. 

Wir teilen das Material in 2 groBe Gruppen ein: 1. die katatoni- 
sche Gruppe im engeren Sinne des Wortes oder die stupordse und 
2. die affektive Gruppe. 

Wir beginnen mit der katatonischen (resp. stuporosen) Gruppe. 


I. Die katatonische Gruppe im engeren Sinne, resp. stupordse. 

(Dem. katatonica stuporosa.) 

(104 Falle; unter ihnen 47 Manner und 57 Frauen.) 

Charakteristisch fiir diese Gruppe im ganzen erscheinen die katato¬ 
nischen Symptome, wo sie in der typischsten Weise auftreten. In diesen 
Fallen kommen im ganzen Verlauf der Krankheit Stuporerscheinuugen 
in stark ausgesprochener oder in abgeschwachter Weise als Apathie vor. 
oder die Erscheinungen des Stupors resp. der Apathie wechseln mit 
besonderen, eigenartigen, heftigen und pldtzliohen Erregungszustanden 
ab, die einen impulsiven, automatischen Charakter tragen. Ubrigens 
muB gesagt werden, daB auch bei der ersten Form ahnliche Erregungs- 
zustande nicht ausbleiben, nur kommen sie in nicht so starkem Grade 
vor, dauern nicht so lang und treten viel seltener auf. Ferner erscheint 
fiir diese Krankheit eine eigenartige Demenz katatonischen Ursprungs 
charakteristisch, die oft sehr bald, im Laufe von 2, 3 Monaten auf- 
tritt. 

Wir teilen deswegen diese Gruppe in folgende Untergruppen mit 
ihren Spielarten: 

A. Stupordse Untergruppe 

mit o) einer stuporosen Spielart im eigentlichen Sinne 
und fi) einer stuporos-agitierten Spielart. 

B. Apathische Untergruppe 

mit a) der apathisehen Spielart im engeren Sinne 
und /i) der apathiseh-agitierten S])ielart. 


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liber die katatonische Demenz und deren klinische Fornien. 


61 


A. Die stuporose Untergruppe. 
a) Die stuporose Spielart. 

(29 Falle, von denen 14 Manner und 15 Frauen.) 

Die Krankheit fangt in 12 Fallen mit Halluzinationen und Wahn- 
ideen der Verfolgung an, infolge deren sie unruhig und aggressiv werden. 
In einigen Fallen sind die Kranken stark angstlich, haben Selbstmord- 
ideen, sprechen absurde Wahnvorstellungen aus. Im Laufe von 2, 
3 Monaten werden die Kranken apathisch, negativistisch, wortkarg, und 
bald tritt ein vollstandiger Stupor ein (Erstarrung in irgendeiner Stel- 
lung, Bewegungslosigkeit, Mutazisruus, Nahrungsverweigemng, Schnauz- 
krampf, starrer Gesichtsausdruck mit offenem Munde und SpeichelfluB). 
— In 4 Fallen begann die Krankheit mit Angst, Ideen der Versiindigung, 
<les Selbstmordes, auch der Besessenheit. Nach 3, 4 Monaten Stupor, 
Verblodung, GefraBigkeit. — In 5 Fallen fangt die Krankheit langsam, 
sehleichend, unmerklich, ohne akute Symptome an. Allm&hlich werden 
die Kranken finster, schweigsam, apathisch, wenig beweglich, horen 
auf zu arbeiten, essen nur nach Ermahnung. Nach eim'gen Monaten 
werden die Kranken vollstandig stuporos. Zuweilen werden sie fur ganz 
kurze Zeit aufgeregt, gehen hinund her, drohender Umgebung. Nachher 
verfalien sie in ihren friiheren stark ausgesprochenen Stuporzustand. 

Zuweilen kommen im Laufe der Krankheit Remissionen vor, wahrend 
deren die Patienten beweglicher, arbeitslustiger und mitteilsamer 
werden. Solche Remissionen dauern einige Stunden, einen Tag, einige 
Tage, eine Woche bis zu 1 / 2 oder ganzen Jahr oder noch langer. 

Das Endstadium: In einigen Fallen, hauptsachlich bei Kran¬ 
ken, die im Pubertatsalter erkranken, tritt eine tiefe Demenz und 
ein stark ausgesprochener Stupor rasch, 2 oder 3 Monate nach dem 
Beginn der Krankheit ein, in welchem Zustand sie bald an Erschopfung 
infolge Nahrungsverweigerung und Bewegungslosigkeit zugrunde 
gehen. In anderen Fallen kann dor Stuporzustand mit einigen Unter- 
brechungen, Remissionen sich jahrelang liinziehen (in 7 Fallen weniger 
als 1 Jahr, in 9 Fallen 1—3 Jahre, in 4 Fallen gegen 5 Jahre, in 3 Fallen 
10 Jahre, in 2 Fallen 15 Jahre, in 1 Falle 25 Jahre, in 2 Fallen 35 Jahre). 

/?) Stuporos agitierte Spielart. 

(22 Falle, von denen 6 Manner und 16 Frauen.) 

Fur den Verlauf und Ausgang der Krankheit erscheint der Wechsel 
des Stupors mit impulsiven Erregungszustanden charakteristisch. 

In 5 Fallen beginnt die Krankheit mit Angst; in 7 Fallen kamen 
zur Angst Halluzinationen, Wahnideen (der Beeinflussung und Vergif- 
tung) und Unruhe hinzu; in 1 Falle setzt die Krankheit plotzlich mit 
Verwirrtheit, katatonischen Erscheinungen und Unruhe ein; in 1 


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X. Skliar: 


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Falle war im Anfang ein Zustand der Ratlosigkeit, die Kranke grimas- 
sierte, war manieriert, sprach singend, achzte, lachelte. Nach diesem 
Anfangsstadium vetfielen die Kranken bald in einen tiefen stupo- 
rosen Zustand, der mit heftigen und plotzlichen Aufregungszustanden 
abwechselte, wahrend deren sie schirapften, monoton schrien, gewalt- 
tatig wurden. — In 1 Falle begann die Krankheit gleich mit einem 
Stupor. In 1 Falle fiel die Patientin im Anfange der Krankheit durch 
ein absonderliches Benehmen auf. Spater ist die Kranke bald apa- 
thisch, starr, negativistisch, bald ist sie unruhig, schreit und weint, 
ist stark angstlich. Diese Schreianfalle hauften sich nachher mehr- 
mals im Tag und wurden stereotyp. — In 1 Falle ein allmahlicher 
und unmerklicher Beginn, ohne akute Symptome; nach i/ 8 Jahre ver- 
fiel die Kranke in einen Stupor, der zeitweise durch starke Aufregungen 
u literbrochen wurde. 

Der Endzustand: Stupor, Unzuganglichkeit, Unsauberkeit, Un- 
reinlichkeit, Verblodung; zeitweise plotzliche Aufregungen, sinnlose 
Schreianfalle. 


B. Die apathische Untergruppe. 

Bei der apathischen Form sehen wir die gleichen Symptome, den glei- 
chen Verlauf und Ausgang, wie bei der stuporosen Form, nur mit dem Un- 
terschied, daB die Erscheinungen hier weniger stark ausgesprochen sind. 

a) Die apathische Spielart im engeren Sinne. 

(23 Falle, von denen 15 Manner und 7 Frauen.) 

In 9 Fallen sind die Kranken im Anfang angstlich, griibeln nach. 
Bald werden sie finster, apathisch, sprechen wenig und einsilbig, flii- 
sternd, manieriert, gekiinstelt, eintonig, auBern hypochonclrische, zu- 
weilen auch absurde Wahnideen. 

In 6 Fallen Beginn mit Angst, zu der bald Halluzinationen, 
zuweilen auch Wahnideen hinzutreten. Nach einigen Monaten werden 
die Kranken apathisch, gegen alles gleichgiiltig, untatig, wortkarg, 
grimassieren, liegen immer im Bett oder nehmen tagelang die gleiche 
sitzende oder stehende Lage ein, ohne auf die Umgebung zu achten. 
Zeitweise kurzdauernde leichte Erregungszustande sinnloser Natur. 

In 2 Fallen allmahlicher und unmerklicher Beginn der Krank- 
heit, ohne akute Symptome; die Kranken zeigen ein absonderliches 
Benehmen, sprechen sinnlos, grimassieren, werden apathisch. 

/?) Die apathisch-agitierte Spielart. 

In 2 Fallen begann die Krankheit mit Angst, Versiindigungsideen, 
Zweifelsucht. Bald wurden die Kranken apathisch, kataleptisch, schweig- 
sam; zeitweise traten plotzliche Aufregungszustande auf. —In 17 Fallen 


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Cber die katatonische Demenz und deren klinische Formen. 


63 


beginnt die Krankheit sehr akut mit Angst, heftigen Halluzinationen, 
Wahnideen, meistens der Verfolgung, und starker Unruhe. Dann 
werden sie sehr apathisch, unbeweglich, mutazistisch. Zeitweise starke 
Erregungs zustande: larmen, schreien, werden gewalttatig. 

Endstadium: Nach vielen Jahren werden die Rranken dement: 
bald ruhig, apathisch, unzuganglich, schweigsam, bald kommen plotz- 
liche Aufregungszustande vor. In einigen Fallen treten zuweilen 
Angstanfalle auf (die Kranken beiflen, kratzen sich u. dgl.), die nachher 
schwacher werden. 

In 7 Fallen spielten die Halluzinationen nicht nur im Beginn, son- 
dern auch im ganzen weiteren Verlauf der Krankheit eine dominie- 
rende Rolle. Die Halluzinationen, meistens des Gehors, sind dauer- 
haft, bestandig und monotoh (,,Streikbrecher, Streikbrecher“. . . 
,,Schurke, Schurke... Unter dem EinfluB der Halluzinationen 
kommen die Kranken in einen stark aufgeregten Zustand. In einigen 
Fallen werden, besonders im Anfange der Krankheit, Stuporzustande 
beobachtet. Im Laufe der Zeit werden die Kranken apathisch, wenig 
zuganglich, teilnahmlos, negativistisch, sprechen manieriert, gekiin- 
stelt, bleiben in einformiger Haltung. Zeitweise Aufregungszustande. 

II. Die affektive Gmppe. 

(96 Falle, von denen 64 Frauen und 32 Manner.) 

Die affektive Gruppe hat insofern Ahnlichkeit mit der katato- 
nischen (stupoiosen), alsauch bei der ersteren katatonische Symptome 
vorhanden sind und dieselbe zu einer ahnlichen Demenz mit den 
gleichen katatonischen Ziigen fiihrt, wie die letztere. Der Unterschied 
besteht darin, daB bei der affektiven Gruppe die katatonischen Sym¬ 
ptome nicht so zahlreich und weniger stark ausgepragt sind, als bei der 
stuporosen (katatonischen). Ferner werden bei der affektiven Gruppe 
affektive, d. h. depressive und manische Symptome, mit periodischem 
oder cyclischem Verlauf,; wie beim manisch-depressiven Irresein, be¬ 
obachtet, die bei der stuporosen Gruppe fehlen. — Beziiglich des Ver- 
laufesund Ausganges finden wir den Unterschied, daB die Krankheit bei 
der affektiven Gruppe viel langer dauert und die Demenz nicht so tief und 
nicht so schnell eintritt, wie bei der katatonischen (stuporosen) Gruppe. 

Wir teilen die affektive Gruppe in eine depressive, hypomanische 
und agitierte Untergruppe ein. 

A. Die depressive Form. 

(13 Falle, von denen 3 Manner und 10 Frauen.) 

In 6 Fallen befinden sich die Kranken in einem angstlichen Zu¬ 
stand; sie weinen, stohnen, sprechen alle moglichen Bofiirchtungen 


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B4 


N. Skliar: 


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aus. Die Angst nimmt nachher zu; die Kranken knien oft, bitten 
um Verzeihung, verweigern die Nahrung. In vielen Fallen kommen 
Halluzinationen hinzu. Es kann spater eine Remission eintreten (in 
1 Falle dauerte dieselbe V 2 Jahr, in einem anderen Falle gegen 20 Jahre). 
Dann tritt wieder ein angstlicher Zustand und Verwirrtheit auf; dabei 
leisten die Kranken allem Widerstand. Spater liegen sie tagelang im 
Bett, antworten nicht auf Fragen, essen nicht, oder sie sind unruhig, 
singen, tanzen, schimpfen, schmieren, grimassieren, nehmen Zwangs- 
stellungen ein. Nach einigen Jahren konnen sie sich beruhigen, werden 
klarer, besonnener, orientieren sich gut in allem, konnen gut arbeiten, 
haben aber keine eigene Initiative, sind apathisch, still, in sich gekehrt. 
Einige sind erregbarer, drangen immer nach Hause, sprechen'monoton, 
singend, grimassierend; der Gesichtsausdruck gedriickt, weinerlich. — 
In anderen Fallen schreitet die Krankheit ohne Remissionen fort. 
Die Kranken schreien fast unaufhorlich, weinen, drangen zur Tiir, 
nach Hause in einformiger Weise, klammern sich an alle an. Zeitweise 
sind die Angstzustande so heftig, daB die Patienten mit dem Kopf an 
die Wand schlagen und ernste Selbstmordversuche machen. Spater 
wird das Benehmen der Kranken stereotyp, einformig; sie murmeln 
bestandig Gebete, bekreuzigen sich, stohnen in stereotyper Weise 
Tag und Nacht; bei einigen wird Echolalie beobachtet. 

In 5 Fallen beginnt die Krankheit mit einem starken angstlichen 
Zustand; die Kranken stohnen unaufhorlich, jammem, schreien, spre¬ 
chen absurde hypochondrische und Verfolgungsideen aus: sie haben 
keinen Magen, keine Darme, keinen Schlund; ihre Kinder wolle man 
zorstiickeln, man gebe ihnen eine vergiftete Speise, weshalb sie die Nah- 
rungsaufnahme verweigern. Nach l / 2 Jahre sitzen die Kranken noch 
in der gleichen Lage u. dgl. oder liegen bestandig knauelformig, 
weshalb bei ihnen Contracturen an den Beinen auftreten; essen 
viel und schreien, daB man ihnen nichts zu essen gebe, sprechen ver- 
schiedene Unzufriedenheiten aus, klagen bestandig, regen sich schnell 
auf. — Andere schauen sinn- und ratios herum, wiederholen immer, 
wo seien sie hingeraten, was sei mit ihnen geworden, was sollen sie 
tun? Leisten allem Widerstand, geben auf Fragen keine Antwort. 
Zeitweise werden sie sehr unruhig, verwirrt, ratios. Dieser unruhige 
Zustand kann manchmal sogar jahrelang dauern. Einige Kranke 
beruhigen sich nachher, stehen tagelang in einer Haltung an der glei¬ 
chen Stelle, machen gleiche oinformige Bewegungen mit den Armen 
oder dem Rumpf, sind apathisch, gleichgultig. 

In 2 Fallen Beginn der Krankheit mit einer Depression und Zwangs- 
vorstellungen (in der Form der Beruhrungsfurclit, der Griibel- und 
Zweifelsucht, des Zwangslachens, verschiedener Zwangsbewegungen), 
die spater sich fixieron und stereotyp werden; die Kranken werden 


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Dber die katatonische Demenz und deren klinische Formen. 


65 


apathisch, teilnahmlos, bleiben dabei besonnen, und die Verblodung 
tritt erst nach langerer Zeit und nur in maBigem Grade ein. 

Der Ausgang ist in einigen Fallen (3) eine erregte Demenz mit 
katatonischen Symptomen: die Kranken beten unaufhorlich, bekreu- 
zigen sich, stohnen, stoBen einformige Laute aus, auBern Unzufrieden- 
heit, rasonieren etc.; dabei werden Negativismus, Echolalie, ein¬ 
formige Stellungen etc. beobachtet. — In anderen Fallen sehen wir 
den Ausgang in eine apathische Demenz mit Stuporsymptomen. — 
In noch anderen Fallen tritt eine Demenz maBigen Grades mit weniger 
stark ausgesprochenen katatonischen Symptomen ein, wobei die Kran¬ 
ken bei klarem BewuBtsein sind und sich mehr oder weniger 
geordnet benehmen; die Stimmung ist gedriickt bei bestandiger leich- 
ter motorischer Agitation. 

Betrachten wir alle Falle der depressiven Form im ganzen, so sehen 
wir einerseits Symptome der Depression nicht nur im Beginn, sondern 
auch im weiteren Verlauf der Krankheit. Aber diese angstlichen Zu- 
stande tragen einen besonderen Charakter. Die Kranken sprechen 
die angstlichen Ideen mit Grimassen und Geberden aus; trotz des 
bestandigen Stohnens ist am Gesicht kein angstlicher Ausdruck zu 
merken; iiberhaupt tragt die Angst bereits im Beginn der Krankheit 
den Keim der Stereotypie: die Kranken bekreuzigen sich, beten, stohnen, 
schreien immerwahrend, monoton und ausdruckslos. Zu diesen De- 
pressionszustanden kommen zuweilen bereits seit dem Beginn, zuweilen 
aber im weiteren Verlauf der Krankheit manische Symptome hinzu: 
Reizbarkeit, Unzufriedenheit mit allem, Streit- und Raufsucht etc. 
Diese Symptome tragen in den meisten Fallen auch einen stereotypen 
Charakter. Andererseits werden hier katatonische Symptome, wie 
Negativismus, Stupor, Stereotypien und Zwangsstellungen, oder 
stark ausgesprochene Apathie beobachtet. Diese depressiven Zustande 
katatonischen Ursprungs unterscheiden sich von solchen beim manisch- 
depressiven Irresein noch durch den Ausgang in eine charakteristische 
Demenz. 

B. Hypoinanische Form. 

(2o Falle, von denen 10 Manner und 15 Frauen.) 

Die Krankheit beginnt meistens mit Halluzinationen, Angst und 
Wahnideen. Nachher tritt eine Apathie ein, die sich bis zum Stupor 
steigert, welchem ein hypomanischer Zustand leichten oder hohen 
Grades mit Schwatzhaftigkeit, Beweglichkeit, gehobener Stimmung, 
einer Neigung zum Scherzen folgt; die Kranken sind orientiert, beson¬ 
nen, rasonieren, schreiben Erzahlungen, Romane, Gedichte, machen 
medizinische und andere Entdeckungen, ersinnen verschiedene Pro- 
jekte und Plane, allcrdings absurder Natur. Dabei zeigen sie groBe 

Archlv ftir Psychiatric. 1U1. 07. 5 


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N. Skliar: 


Defekte in sittlicher Beziehung, machen Versuche Frauen zu not- 
ziichtigen, entbloBen die Genitalien u. dgl., benehmen sich wie aus- 
gelassene Kinder. Aber alle diese manischen Ziige entbehren der ech- 
ten Lebhaftigkeit, die Bewogungen sind unfrei; der Mirnik fehlt die 
Ausdrucksfahigkeit; die Ideen und Plane sind stereotyp, werden imrner 
einformig ausgedriickt, es fehlt eigentlich die echt manische Produk- 
tivit&t und Erfindsamkeit, ferner ze’gen sie mehr oder weniger 
tiefe Herabsetzung des Intellektes; die Urteile der Kranken sind 
nicht nur oberflachlich, sondern auch kritiklos, absurd, deni 
normalen Menschenverstand ganz fremdartig. Die Spraclie ist bei 
den Kranken monoton, weitschweifig; sie sprechen mit kindlicher 
Stimme, grimassieren, machen verschiedene Geberden, kokettieren, 
ziehen mit den Schultern, dem Hals, wiederholen oft die gehorten 
Worte. Dabei merkt man an ihnen eine Gebundenheit, Manieri9rtheit, 
einen Negativismus. Zuweilen sind sie freundlich, hoflich, aber docli 
wenig zuganglich. Stark ausgesprochene, voriibergehende Stuporzu- 
stande wurden im Laufe der Krankheit in 16 Fallen beobachtet, die 
in 2 Fallen mit Erregungszustanden wechselten. — Meistens (in 
22 Fallen von 25) tritt, nachdem die Krankheit viele Jahre gedauert 
hatte, ein terminaler euphorischer Schwachsinn ein (Demenz mit 
hypomanisch-katatonischen Ziigen), in dem die Kranken jahre-, zu¬ 
weilen jahrzehntelangverbleiben; sie sind gut mutig, heiter gestimmt,spre¬ 
chen und benehmen sich w r ie 3 und 5-jahrige Kinder, lispeln, schnarren, 
nahen Puppen, sind apathisch, manieriert, in Zeit, Ort undUmgebung 
unorientiert. — In 3 Fallen war der Ausgang eine apathische Verblodung. 

In betreff des Alters mull konstatiert werden, dad alle Falle im 
jugendlichen Alter, hauptsachlich zwischen dem 15. und 30. Jahr, 
erkranken. Am meisten charakteristisch fur diese Form ist, dad die 
Erkrankung haufig im Pubertatsalter auftritt, und zwar haufiger 
als andere For men der katatonischen Demenz, wahrend wir in unserem 
Material das Auftreten im Pubertatsalter der hypomanischen Form 
in 8 Fallen auf 25, d. h. in 32% finden, macht das Auftreten in dem 
gleichen Alter der katatonischen Demenz, im ganzen genommen. 
17,5% aller Falle aus (35 Falle auf 200). — Diese Erscheinung diente 
fur Hecker und andere, wie bekannt, als Hauptgrund, die hypoma- 
nische Form fur eine besondere, selbstandige Krankheit zu halten 
und derselben den Namen ,,Hebephrenie“, als fiir die Periode der Ge- 
schlechtsentwicklung charakteristisch, zu geben. Die Autoren fanden 
ferner bei dieser Form fiir dieses Alter charakteristische Symptome, 
wie kindliches Benehmen, hochtrabende, gekiinstelte Ausdrucksweise 
in der Rede und Schrift, kindliche Ausgelassenheit, kindlich-naive 
Urteile usw\ — Nun kommt aber diese Form nicht nur im Pubertats¬ 
alter, sondern auch, und zwar noch haufiger, im Alter von 20 bis 30 


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Ober die katatonische Demenz und deren klinische Formen. 67 

Jahren (10 Fall© auf 25, d. h. in 40% vor; ©s werden aber auch Fall© 
dieser Form nicht selt©n im Alter von 30 bis 40 Jahren in 20% (5 
Fall© auf 25) und auch in dem kindlichen Alter von 10 bis 15 Jahren 
in 8% (2 Fiille auf 25) beobachtet. — Was aber die angegebenen Sym¬ 
ptom© betrifft, die der Pubertatszeit eigentumlich sein sollen, wie kind- 
liches Benehmen etc., so werden sie bei der gleichen Form auch im an- 
deren Alter und sogar bei anderen Formen der katatonischen Demenz 
angetroffen, und zwar in Fallen, wo die Verblodung nicht so stark 
ausgesprochen, sondern maBigen Grades, und von Erscheinungen 
der Besonnenheit und hypomanischen Ziigen begleitet ist, die zusam- 
raen das Wesen der sog. ,,hebephrenen“ Symptome ausmachen. 
Die letzteren stellen somit eine Mischung von hypomanischen Ziigen 
katatonischen Ursprungs mit Urteilsschwache dar und sind in keinem 
Fall© mit einem bestimmten Alter (der Entwicklungsjahre) verbunden. 
— Es konnte noch der Verlauf und Ausgang als Grund dafiir ange- 
fiihrt werden, die Falle der hypomanischen Form fur eine selbstandige 
Krankheit zu halten. So sahen wir, daB man sogar im Endstadium 
in den meisten Fallen katatonisch-hypomanische Ziige finden kann. 
Es sind aber keine kardinalen Abweichungen von der Hauptkrank- 
heit (der katatonischen Demenz im ganzen genommen), sondern nur 
nebensjichliche, die sie eben nur als eine besondere Untergruppe der- 
selben charakterisieren. DaB die hypomanische Form keine selbstan¬ 
dige Krankheit ist, kann als Beweis ferner der Umstand dienen, daB 
das hypomanische Bild oft auftritt, nachdem die Krankheit mit ganz 
anderen Erscheinungen, z. B. einem typischen stuporosen Bild, be- 
gonnen hat. Wir sehen endlich, daB auch der Ausgang zuweilen das 
gleiche Bild der apathischen Verblodung, wie bei der stuporosen (kata¬ 
tonischen) Gruppe, aufweist. 

Es ist also die hypomanische Form (die friihere sog. ,,Hebe- 
phrenie“) keine besondere, selbstandige Krankheit, sondern sie gehort 
als eine besondere Unterart der affektiven Gruppe zur katatonischen 
Demenz und kommt zuweilen als episodischer Zustand bei alien Grup- 
pen und Untergruppen dieser Krankheit vor. 

(’. Agitierte Form. 

Die agitierte Form teilen wir zunachst in 2 groBe Unterarten ein: 
a) die eigentlich agitierte resp. manische und b) die paranoiiforme. 

a) Die eigentlich agitierte Unterart. 

(37 Falle, von denen 12 Manner und 25 Frauen, so daB die letzteren 
in uberwiegender Anzahl vorhanden sind.) 

Dem Alter nach herrscht das jugendliche vor (in erster Linie die 
Periode von 20 bis 30 Jahren mit 24 Fallen, in 2. Linie das Alter von 

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15 bis 20 Jahren und von 30 bis 40 Jaliren mit je 6 Fallen); im Alter 
von 40 bis 45 Jahren haben wir nur 1 Fall; iiber 40 Jahre sind keine 
Falle vorhanden. 

Es zerfallt die agitierte resp. manische Unterart in 2 Spielarten: 
a) mit mehr chronischem Verlauf (13 Falle), b) mit mehr periodischem 
resp. circularem Verlauf (24 Falle). 

a) Die chronische Spielart. 

In 5 Fallen Beginn mit Halluzinationen, Angst und Verwirrtheit. 
Spater sind die Kranken meistens unruhig, lachen, laufen hin und 
her, schimpfen, larmen, schluchzen unaufhorlich, knien. Zuweilen 
sind sie stuporos. 

In 8 Fallen beginnt die Krankheit mit motorischer und sprach- 
licher Erregung, sinnlosen, monotonen Charakters. Spater wird meistens 
eine lustige Stimmung, Beweglichkeit, Schwatzhaftigkeit beobachtet: 
die Kranken larmen, schimpfen, grimassieren dabei, schneiden Ge- 
sichter; zuweilen sind sie ruhiger, aber apathisch, teilnahmlos. In 
anderen Fallen sprechen die Kranken unaufhorlich mit sich selber, 
verbigerieren, sind sehr ablenkbar, zerreiBen die Kleider, YVasche, 
stellen das Mobel immer von einer Stelle auf die andere etc. Dabei 
werden Schwachsinn, Unzuganglichkeit, starker Kegativismus be¬ 
obachtet. 

Im Endstadium kommen meistens gleiche Zustande manieahn- 
lichen Charakters vor, begleitet von katatonischen Symptomen (Nega- 
tivismus, Teilnahmlosigkeit, Manieren, Gesichterschneiden, Echo lalie, 
einformige Posen). In anderen Fallen werden die Kranken sehr de¬ 
ment, sind in sich gekehrt, unzuganglich, negativistisch, sprechen 
unaufhorlich etwas Sinnloses, lacheln oft, laufen uberall herum, sind 
stereotyp, unsauber, beschaftigen sich mit nichts. Einige sitzen an 
einer und derselben Stelle und machen immer die gleichen Bewegungen 
oder wiederholen die gleichen Phrasen. 

/?) Die periodische Spielart. 

Die Krankheit beginnt in 13 Fallen mit Angst, Halluzinationen, 
Wahnideen und Verwirrtheit. Im weiteren Verlauf kommen bald 
stuporose oder apathische, zuweilen depressive Zustande vor, wahrend 
deren die Kranken Befurchtungen oder Versundigungsideen mit gloich- 
giiltigem Ton oder mit einer lachelnden Miene aussprechen; bald treten 
inanieahnliche Aufregungszustande auf. Oder die Kranken gehen 
nach einem gedriickten gleich in einen crregten Zustand iiber, wahrend 
deren sie hin und her laufen, unsinnig fortdrangen, mit Tranen im Gesicht 
lachen, mit einer lachelnden Miene weinen, die Zunge nach verschie- 
denen Seiten ausstrecken, sich immer an der gleichen Stelle drehen, 


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Cber die katatonische Demenz und deren klinische Formen. 


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auf einem Bein hiipfen, sich vor- und riickwarts in sitzender 
Lage wiegen, sich rait den Handen die Stirn reiben, auf einem Beine 
Purzelbaume schlagen, von sich tierische Laute geben, grimassieren, 
Gesichter schneiden, theatralische Posen zeigen. Oft findet ein Bede- 
drang statt; sie sprechen unaufhorlich undsinnlos, lispelnd und schnar- 
rend in neugebildeten unverstandlichen Sprachen. Die Stimmung 
ist gehoben, lustig oder zornig; sie machen Scherze und Witze dementen 
clownartigen Charakters. Solche Zustande komraen mehrmals im Jahr 
periodisch, allerdings unregelmaBig, einige Tage oder Wochen lang 
dauemd vor. In den Zwischenzeiten sind die Rranken ruhig, apa- 
thisch, iiegen immer im Bett, grimassieren- — Nach mehreren Jahren 
werden sie ganz dement, zeigen keine Interessen, au Bern keine Wiinsche, 
beschaftigen sich mit nichts, schneiden Gesichter, grimassieren, lacheln, 
sind unzuganglich, negativistisch; zeitweise sind sieagitiert, wiederholen 
manieriert den gleichen Satz, schnalzen mit der Zunge, lachen. — In sehr 
seltenen Fallen gibt es einen Ausgang in eine apathische Demenz. 

In 9 Fallen beginnt die Krankheit mit Angst, die mit der Zeit zu- 
nimmt, es treten Zustande anfallsweise auf, als die Kranken unauf- 
haltsam laut weinen, schreien, am Boden sich walzen, ohne erklaren 
zu konnen, warum sie dies tun; klagen oft, daB die Umgebung sie 
reize; sie regen sich aber um Kleinigkeiten auf, weinen z. B., daB man 
ihnen eine zu voile Tasse Suppe gebe; bald weinen sie, weil sie 
den Tod oder eine Strafe erwarten; bald haben sie Angst, daB ,,alios 
Hirse und die Leute Kohlen seien“, oder sie lachen und geben an, Angst 
zu haben, oder sagen mit Tranen in den Augen, daB sie sich gut fiihlen; 
dabei machen sie Gebarden, blinzeln mit den Augen, drehen mit 
dem Kopf, wiederholen oft mehrmals die angefangene Phrase, 
antworten aber ungern. Vom Weinen gehen sie rasch zum 
Lachen iiber, das auch einen impulsiven, automatischen Charakter 
tragt. Die Wein- resp. Lachanfalle nehmen dann zu und werden hau- 
figer. Die Kranken werden unruhiger; es treten katatonische Erre- 
gungen manieahnlichen Charakters auf; sie laufen, hiipfen, schiittebi 
mit dem Kopf, Armen und Beinen, stellen sich mit dem Kopf herunter, 
mit den Beinen hinauf, schlagen Purzelbaume, treiben Possen, gri¬ 
massieren; oder sie lachen monoton unaufhorlich oder briillen tierisch, 
schreien immerfort sinnlose Worte aus. Werden dement, horen auf 
zu arbeiten, sich fur die Umgebung zu interessieren, sprechen iiber 
sich in der 3. Person. — Nach einigen Jahren sind die Kranken sehr 
dement, unorientiert, beschaftigen sich mit nichts, interessieren sich 
fur nichts, sind negativistisch, verkriechen sich in die Ecken und sitzen 
dort, indem sie das Kleid auf den Kopf her iiber ziehen, geben auf Fragen 
keine Antwort, ziirnen, schimpfen, gestikulieren, sprechen oft unauf¬ 
horlich mit sich selber sinn- und zusammenhanglos; bald lachen sie, 


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treibon Possen, zeigen die Zunge; bald schimpfen und schreien sie 
auf die ganze Abteilung. Zeitweise sind sie aggressiv, bei Ben, spucken, 
sind sehr unreinlich und tinsauber. — In einigen Fallen entwickelt 
sich ein apathischer Schwachsinn. 

In 2 Fallen begann die Kranklieit mit Angst. Nachher waren 
bald Verwirrtheit und starke Angstzustande, wahrend deren die Kran- 
ken an sich die Haare rissen, sich an dem Hals kratzten, Selbstmord- 
versuche machten. Zeitweise wurden bei den Kranken manische Zu- 
stande mit Lustigkeit, Beweglichkeit, Schwatzhaftigkeit etc. beobach- 
tet. Nach 3, 4 Jaliren dement, apathisch, interessieren sich fiir nichts, 
gehen im Zimmer zerzaust bin und her, lachen laut fiir sich, grimas- 
sieren, sind negativistiscli. 

Wir sehen also in den 2 angegebenen Spielarten der agitierten Form 
zunachst stark ausgesprochene manische Ziige mit Reizbarkeit, geho- 
bener Stimmung, Ideenflucht, Ablonkbarkeit, Rededrang u. dgl., 
ebenfalls auch melancholisehe Ziige, aber beide Zustande tragen einen 
katatonen (automatischen, monotonen, sinnlosen, gezwungenen) Cha- 
rakter. Bei den melancholischen Zustiinden zeigt sich dies darin, daB 
dio Kranken keine Auskunft dariiber, was mit ihnen vorgeho, geben 
konnen; weinen monoton sowolil dariiber, daB ihnen der Tod oder 
eine Strafe bevorstehe, als auch dariiber, daB ,,alles Hirse und die Leute 
Kohlen“ seien; oder weinen sowohl dariiber, daB sie ein Tier im Leibe 
haben, als auch dariiber, daB man ihnen keinen Tabak gebe u. dgl. 
Bei den manischen Zustanden drehen sich die Kranken oder trampeln 
einformig an einer und derselben Stelle, hiipfen immer auf einem Bein, 
schnalzen mit der Zunge, schlagen fortwiihrcnd Purzelbaume, lachen 
fiirchterlich monoton u. dgl. Der Rededrang auBert sich darin, daB 
die Kranken unaufhorlich die gleichen Ausdriicke, Worte, Silben oder 
Buchstaben wiederholen oder unaufhorlich in unverstandlichen neu- 
gebildeten Sprachen sprechen. Das gleiche driickt sich auch in der 
Schrift aus. Die Scherze und Witze, die die Kranken machen, ent- 
behren der echten Lebendigkeit, sind oberflachlich, sinnlos und tragen 
einen clownmaBigen Charakter. — Andererseits beobachten wir bei 
den Kranken katatonische Symptome: sie nehmen Posen ein, sind 
negativistisch, zeigen wachserne Biegsamkeit u. dgl. — Der Verlauf 
scheint der gleiche zu sein, wie beim manisch deprossiven Irresoin; 
die meistcn Falle verlaufen periodisch; wenn man aber naher zusieht, 
so treten dio Perioden ganz unregelmaBig auf, und es kommen bald 
Remissionen, bald Exacerbationen, Aufregungen auf dem Boden 
eines mehr oder weniger lang dauernden apathischen oder melan¬ 
cholischen Zustandes. — Der Endzustand ist in den meisten Fallen 
eine agitierte Demenz in der Art manieahnlicher Erregung katato- 
nischer Natur mit daneben verlaufonden katatonischen Sympto- 


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tjber die katatonische Demenz und deren klinische Formen. 


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men. Es gibt aber auch einen Ausgang in eine tiefe apathische 
Demenz. 

Die manisch-depressiven Symptome eigenartiger, katatonischer 
Farbung, der ganz unregelmaBige Verlauf und der Ausgang der Krank- 
heit in eine zuweilen tiefe Verblodung, die in den meisten Fallen von 
den angegebenen eigenartigen manisch-depressiven Ziigen katatoner 
Natur begleitet wird, in anderen Fallen sogar einen apathischen Cha- 
rakter tragt, berechtigen uns, diese Falle trotz ihrer scheinbaren Ahn- 
lichkeit mit dem manisch-depressiven lrresein zur katatonischen De¬ 
menz zu zahlen. 


b) Paranoiifonne Unterart. 

(21 Falle, von denen 7 Manner und 14 Frauen.) 

Dem Alter nach herrscht das Mannesalter vor; das jiingere und 
das Greisenalter fehlen. 

In 9 Fallen wechseln ruhige und agitierte Zustande. Wahrend 
der Erregungszustande treten Wahnideen der Verfolgung und der 
GroBe, Vorstellungen der korperlichen Beeinflussung, auch Halluzi- 
nationen auf. Die Kranken sprechen Ideen aus, im Brote sei Faulnis; 
die Mitkranken und Waiter wirken auf sie mit ihrem Blicke in beson- 
derer Weise: die Speise sei vergiftet, man wolle sie umbringen, ihnen 
denKopf abhauen, die Finger verdrehen; man impfe ihnen denDurch- 
fall ein, elektrisiere sie etc. Es werden auch GroBenideen geauBert: 
der Vater sei Baron, Kapitan und Dichter, Admiral. Eine Kranke 
hielt sich fiir eine Himmelsbewohnerin, die zusammen mit Gott geschaf- 
fen, mit der Arche Noahs auf die Erde gefallen, dann wieder in den 
Himmel gehoben sei etc. Infolge der Wahnideen kommen die Kran¬ 
ken in groBe Erregung. Die Aufregungszustande wechseln mit apa¬ 
thischen oder stuporosen; oder es kommen Zustande vor, wahrend 
deren sie besonnen, hypomanisch, lustig, schwatzhaft, beweglich oder 
reizbar, unzufrieden sind. Dabei werden auch katatonische Erschei- 
nungen, wie Negativismus, verwirrte, manierierte, schnarrende Rede, 
gebundenes, unfreies Benehmen und Stellungen, beobachtet. Im 
Endstadium sind die Kranken dement, halten sich fiir ganz jung, 
orientieren sich schlecht in der Umgebung, sprechen mit sich selber, 
sind unzuganglich, negativistisch. Zeitweise werden sie aufgeregt, 
sprechen Verfolgungsideen aus: man schlage, beleidige, beraube sie, 
trage sie nachts fort, wolle sie ermorden. 

Weiter folgen 12 Falle, wo der Verlauf den circularen Formen des 
manisch-depressiven Irreseins mehr ahnelt und wo die Stereotypien 
eine groBe Rolle spielen. Die Krankheit beginnt mit einer Angst; 
die Kranken sprechen hypochondrische Ideen aus, sind besonnen, 
sprechen aber in einer gekiinstelten Sprache, grimassieren; zuweilen 


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werden sie etwas aufgeregt, machen eine Menge von Z wangs bewegungen: 
ziehen die Lippcn aus, bewegen mit den Kopfhaaren, strecken die Zunge 
vor und verstecken sie, heben und senken das Bein. Spater treten 
zeitweise starkere Aufregungen auf; die Kranken ze^schlagen Schei- 
ben, sind manieriert, sprechen Verfolgungs- und Beeinflussungsideen 
aus, die immer komplizierter werden. Die Aufregungen nehmen immer 
zu: die Kranken werden beweglich, sprechen viel, schirapfen liber 
die Umgebung, aufiern, man onaniere sie, sauge ihnen das Blut aus, 
sende ihnen Madchen zur Unzucht, breche ihnen die Hande, den Hals, 
die Brust, den Riicken, das Geschlechtsglied, den After. Zuweilen 
treten Depressions-, zeitweise umgekehrt hyporaanische Zustande 
auf, als die Kranken aufdringlich, handelsuchtig werden, rasonieren, 
denunzieren, sehr unternehmungslustig sind und GroBenwahnideen 
aussprechen. In anderen Fallen zeigen sich Stcreotypien in Rede 
und Schrift. Einige Kranke teilen monoton und einfbrmig mit und 
schreiben taglich die gleichen Zettel mit einem gleichformigen und 
unsinnigen Inhalt (,,die Finsternis verbietet zu essen und zu trinken, 
der Warter verbietet zu essen und zu trinken, die Biene verbietet zu essen 
und zu trinken etc. etc.* . Oder sie wiederholen in der Schrift nicht 
nur einzelne Worte oder Satze, sondern noch hiiufiger einzelne Silben 
und Buchstaben. — Nach vielen Jahren sitzen oder liegen die Kran¬ 
ken an einem und demselben Ort in der gleichen Haltung, antworten 
nicht auf Fragen, interessieren sich wenig fiir die Umgebung; zuweilen 
machen sie einformige Bewegungen. Sehr selten werden sie aufgeregt, 
sprechen abrupte Wahnideen aus, grimassieren; die Sprache ist ver- 
wirrt. 

Wenn bisher die Wahnideen mit einem manieahnlichen Sym- 
ptomenkomplex zusammenhingen und aus demselben entsprangen, 
so haben wir noch 2 Falle von Wahnideen auf dem Boden eines melan- 
cholischen Symptomenkomplexes, dessen Inhalt hypochondrische, 
nihilistische und phantastische, auch Besessenheitsideen absurden 
Charakters ausmachen. Ini Endstadium Apathie, vollige Gleich- 
giiltigkeit, Unbeweglichkeit, Deiuenz; zeitweise Aufregung. 

Wir sehen also bei den Fallen der paranoiiformen Unterart sehr 
viele manische Symptome (gehobeue, zornige Stimmung, ein Rasonie¬ 
ren, Querulieren, eine Aufdringlichkeit, Neigung zur Handelsucht, 
ein Rededrang, dessen katatonische Natur sich allerdings in unauf- 
horlichen, einformigen Wiederholungen der gleichen Worte, Satze, 
Ausdriicke stereotyp auBert), zuweilen auch depressive, wie wir sie 
in der gleichen Weise bei den Fallen der agitierten Unterart antrafen. 
Im Verlauf haben diese Falle auch Ahnlichkeit mit der agitierten Unter¬ 
art (sie verlaufen auch bald periodisch, bald circular); die Verblodung 
schreitet hier ebenso langsam fort und die Kranken sind hierebenso 


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t)ber die katatonische Demenz und deren klinische Formen. 


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besonnen, es komraen .hier daneben katatonische Symptom?, insbe- 
sondere stark ausgesprochene Stereotypien, ebenso wie bei der agi- 
tierten Unterart. Was sie aber von der letzteren unterscheidet, ist 
das Vorhandensein von vielen Walmideen, die sich noch im End- 
stadium, allerdings in ganz abrupter, sinnloser Art, zeigen, weshalb 
\vir sie als besondere paranoiiforme Unterart der agitierten Form 
der affektiven Gruppe zurechneten. 

Wir wollen jetzt versuchen, auf Grund des angefiihrten Materials 
in betreff der im Anfange der Arbeit angegebenen Streitfragen SchluB- 
folgerungen zu ziehen. 

Wir beginnen mit der Frage der Benennung der Krankheit. 

Der Name ,,Dem. praecox“ oder ,,Demence precoce“ wurde zuerst 
von Morel (1860) der Geistesstorung im jugendlichen Alter gegeben. 
Hecker benannte diese Krankheit ,,Hebephrenie“. Hebephrenie, 
Katatonie und Dem. paranoides wurden im Jahre 1899 von Aschaf- 
fenburg und Krapelin zu einer Krankheit untcr dem Namen der 
Dem. praecox vereinigt. Einige Autoren nannten diese Krankheit 
,,Dem. primaria", und Wolff gab ihr den nichtssagenden Namen der 
Dysphrenie. Am meisten hat sich die Benennung ,,Dem. praecox' 4 
eingebiirgert, aber es wurden gegen die Richtigkeit dieser Benennungen 
Stimmen erhoben nicht nur seitens der Gegner der Krapelinschen 
Schule, sondern auch Krapelin selber hat von Anfang an diese Be- 
zeichnung nur als eine provisorische aufgostellt. Die Benennung -ward 
als nicht zutreffend gehalten, weil die Krankheit, wie viele Autoren 
hervorheben, nicht immer zum Schwachsinn fuhre, also keine ,,De¬ 
mentia" sei; auch trete sie oft nicht im jugendlichen Alter auf, sei 
also auch keine ,,praecose“. Freilich sind wir mit der ersten Behaup- 
tung gar nicht einverstanden; eine Demenz auf dem Gebiete der Ge- 
fuhle wird bei dieser Krankheit noch in ihrem ganz friihen Stadium 
beobachtet. Wenn eine solche fehlt, besonders in den spateren Stadien 
der Psychose, muB man an eine falsch gestellte Diagnose denken. Wir 
mussen aber den Autoren ganz recht geben, wenn sie die Bezeich- 
nung der Krankheit als ,,praecox“ fur falsch annehmen. Zwar wird 
hier das friihzeitige Alter in dem Sinne gedeutet, daB dasselbe nicht 
nur die Zeit der Geschlechtsentwicklung, sondern auch die Periode 
bis zum Stillstand des Korperwachstums, d. h. bis zum 25.—30. Jahre 
umfaBt, worauf Aschaffenburg und Scholz hingewiesen haben. 
Nun mussen aber die Altersgrenzen noch viel weiter ausgedehnt werden, 
da es sich herausgestellt hat, daB diese Krankheit auch im kindlichen 
und im spaten, sogar Greisenalter vorkommt, fiir die diese Benennung 
gar nicht paBt. Und da sah man sich gezwungen, neben einer Dem. 
praecox noch eine Dem. praecocissima, neben einer gewohnlichen 


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Katatonia (juvenilis) noch eine Katatonia tarda aufzustellen. Wir 
raiissen noch hinzufiigen, daB diese Krankheit haufig auch noch im 
Manne8alter vorkommt, so daB die Bezeichnung der Psychose als Dem. 
praecox als unzutreffend gehalten werden mu B. Wir meinen, der Fehler 
sei vor allem bei Aschaffenburg dadurch entstanden, daB er 
bei der Vereinigung der Hebephrenie und Katatonie in eine Krank¬ 
heit mehr auf das Vorhandensein des jugendlichen Alters, als der kata- 
tonischen Symptome achtete, was aber falsch ist, denn was diese beiden 
Gruppen vereinigt, ist nicht das Alter, das verschieden sein kann, 
sondern die katatonischen Symptome, die in beiden Gruppen gleich 
vorhanden sind. — Das Richtigste ware, die Benennung der Krank¬ 
heit nach dem Wesen derselben zu geben. Das Wesen der Krankheit 
ist aber nicht ganz klar. Zwar weisen alle Merkmale auf eine organische 
Grundlage dieser Psychose hin, aber ein ganz klares pathologisch- 
anatomisches Bild ist noch nicht gefunden worden. Noch ratselhafter 
sind die chemischen Theorien iiber die Wirkung der Vergiftung, iiber 
die Stoffwechselstorung (seitens der Geschlechtsorgane, der Schild- 
driise etc., der inneren Sekretion). Einige Autoren geben eine psycho- 
logische Begriindung des Wesens der Krankheit. Stransky sail in 
der Dem. praecox eine Inkongruenz, Ataxie in der Verbindung der 
Vorstellungen mit den Gefiihlen (der Noo- und Thymopsyche). Otto 
Gross salt in ilir einen Zerfall des BewuBtseins, weshalb er sie Dem. 
sejunctiva nannte. Auch Zweig nahm an, der Krankheit liege ein Per- 
sbnlichkeitszerfall zugrunde, und gab ihr den Namen ,,Dem. disse- 
cans“. Aus dem gleichen Grund nannte sie Bleuler ,,Schizophrenie“. 
— Nun kann der BewuBtseinszerfall, Personlichkeitszerfall u. dgl. 
durchaus nicht fur unsere Krankheit als spezifisch gelten, da diese 
Erscheinung auch bei der Hysteric sehr oft beobachtet wird und von 
Janet, Freud und zahlreichen anderen Autoren als charakteristisch 
fiir das Wesen der Hysterie gohalten wird. Was speziell die Stran- 
skysche Theorie iiber die Inkongruenz der Gefiihle und Vorstellungen 
bei der Dem. praecox anlangt, so trifft sie fiir mehrere Falle zu; es gibt 
aber viele andere Falle, wo wir eine vollstandige Apathie und Demenz 
beobachtcn, die gar keinen Gefiihlsausdruck im Gesicht, keine Be- 
wegungen hervorrufen, wo also eine vollstandige Kongruenz, Koordi- 
iiation in der Vereinigung der verschiedenen psychischen Elemente 
stattfindet. — Von einigen Autoren wird die Apathie als Grundlage 
<ler Krankheit angesehen. Die Apathie kann, wie wir spater ausfiihr- 
licher erortern werden, bei der Dem. katatonica in doppelter Weise 
auftreten: 1. in dem Sinne abgeschwachten Stupors, und dann stellt 
sie ein katatonisches Symptom dar; 2. als Herabsetzung bis Fehlen 
der Gefiihle. Diese Apathie im letzteren Sinne kann wirklich die Ent- 
stehung vieler Symptome bei dieser Krankheit, wie den Stupor, Nega- 


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t)ber die katatonische Demenz und deren klinische Formen. 75 

tivismus, Nahrungsverweigerung etc., erklaren; andere Erscheinungen 
aber, wie die Stereotypien, die Impulsivitat, die Erregungszustande, 
der Wechsel der Erregung rait Depression oder Gleichgiiltigkeit etc., 
konnen durch diese Gefiihlsstorung nicht erklart werden. — Also 
konnen alle diese Theorien iiber das Wesen der Krankheit, so geist- 
reich sie auch sein mogen, nicht als vollstandig zutreffend bezeichnet 
werden, so da(3 es nicht statthaft ist, eine Benennung der Krankheit 
nach dem problematischen Wesen derselben zu geben. Aber gesetzt, 
es ware die wahre Unterlage der Krankheit sicher bekannt, so wird 
die Benennung oft nicht nach der Pathogenese, sondem nach 
irgendwelchen klaren, konkreten, am meisten charakteristischen 
Merkmalen bezeichnet, zu denen hauptsachlich scharf in die Augen 
springende Svmptome gehoren. So wird z. B. die Benennung der Dem. 
paralytica, einer echt organischen Krankheit, nicht nach dem anato- 
mischen Bild, sondern nach den wichtigsten Symptomen: der De- 
menz und den Lahmungen, die nach der anderen Benennung (pro¬ 
gressive Paralyse) einen progressiven Charakter haben, gegeben. Ebenso 
miissen w'ir auch unserer Krankheit eine Bezeichnung nach ihren 
charakteristischsten Symptomen oder anderen wichtigen Merkmalen 
geben. — Als krassestes, typisches Symptom resp. Symptomenkom- 
plex, das in alien unseren Fallen beobachtet wird und somit als cha- 
rakteristisches Zeichen der Krankheit dienen kann, miissen die kata- 
tonischen Erscheinungen genannt werden. Ein weiteres wichtiges Merk- 
mal dieser Krankheit ist der Ausgang in eine Demenz mit besonderen ka- 
tatonischen Ziigen oder Residuen derselben. Auf Grund dieser beiden 
hervorstechenden Merkmale halten wir es am passendsten, diese Krank¬ 
heit als katatonische Demenz (Dem. katatonica) zu benennen. — 
Wir kehren somit zur urspriinglichen Bezeichnung zurtick, die Kahl- 
baum dieser Krankheit gegeben hat, mit dem Unterschied, 1. daB 
Kahlbaum sie moistens fur eine transitorische, in Genesung iiber- 
gehende Krankheit rechnete, wahrend wir fiir sie als eine der charak¬ 
teristischsten Erscheinungen den Ausgang in eine Demenz, und zwar 
eine eigenartigo halten, 2. daB Kahlbaum nur die orstere, eigentlich 
katatonische (stuporose) Gruppe im Auge hatte, wahrend wir die Krank¬ 
heit im erweiterten Sinne auffassen und auch die affektive Gruppe 
dazu rechnen, wohin die friihere sog. Hebephrenie, ein Teil der frii- 
heren Dem. paranoides, die Dem. simplex, die Dem. praecocissima 
und die Katatonia tarda der Autoren gehoren. 

Wie ist die Dem. katatonica zu gruppieren? 

Die gebrauchlichste Einteilung ist in 4 Gruppen: 1. die Dem. hebe- 
phrenica, bei der akute Symptome der Erregung in maBigem oder star- 
kem Grade vorhanden sind mit dem Ausgang in eine Demenz eigon- 
artiger katatonischer Form gleichfalls maBigen (Heckersche Form) 


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oder starken Grades (Daraskewiczsche Form), 2. die Dem. katato- 
nica mit stark ausgesprochenen katatonischen Symptomen, 3. die 
Dem. paranoides mit Wahnideen, moistens der Verfolgung und 4. die 
Dem. simplex, bei der die psychischen Funktionen unmerklich ver- 
oden, wobei akute Symptome nicht beobachtet werden. — In der letzten 
(8.) Auflage seines Lehrbuches (1913) gibt Krapelin 10 Gruppen 
der Dem. praecox an. — Diese letzte Krapelinsche Gruppierung 
ist eigentlich die gleiche, wie die friihere; nur ist sie ausfiihrlicher, 
detaillierter, und das ist eher ein Nachteil als ein Vorzug. Nun konnen 
wir aber auch die friihere Krapelinsche Gruppierung nicht fur zweck- 
mafJig erachten, vor allem und hauptsachlich deswegen, weil derselben 
kein einziges einheitliches Prinzip, sondern 2 ganz verschiedene Prin- 
zipien, wie z. B. das Alter der Heckerschen Hebephrenie einerseits. 
und die Symptome, wie der katatonische Symptomenkomplex, der 
Kahlbaumschen Katatonie andererseits zugrunde liegen. Diese 
Gruppierung ist ferner noch deswegen unzweckmaBig, weil sie einer¬ 
seits zahlreiche Falle enthalt, die gar nicht zu dieser Krankheit gehoren, 
wie z. B. die Dem. paranoides im friiheren Sinne, andererseits aber alle 
diejenigon Falle nicht umfaCt, die sie enthalten sollte: in betreff des 
Alters besagt sie nichts fiber die Spatkatatonien oder die kindlichen 
Katatonien; in betreff der Symptome besagt sie nichts fiber die depres- 
siven oder manischen Formen. ZweckmaBiger ware es, der Gruppierung 
ein einheitliches Prinzip (entweder des Alters oder der Symptome) 
zugrunde zu legen. Dem Alter nach die Gruppierung durchzufuhren, 
erscheint ganz unmoglich, daim gleichen Alter,z. B. von 20—30 Jahren, 
in dem diese Krankheit am haufigsten vorkommt, verschiedene For¬ 
men derselben beobachtet werden, nicht nur nach unserer, sondern 
auch nach der friiheren K rapelin-Bleulerschen Gruppierung: 
so tritt die gleiche Katatonie sowohl im jungen, im Mannes-, als auch 
im hoheren Alter (die Spatkatatonie). Wir halten deswegen fiir richtig, 
die Falle nach den Symptomen zu gruppieren, und wir legten auch dieses 
Prinzip unserer Einteilung der Krankheit in besondere Formen zu¬ 
grunde. Allerdings stiitzten wir uns dabei nicht nur auf die Sym- 
ptome, sondern auch auf einen besonderen Verlauf und Ausgang, den 
wir bei jeder Gruppe, Untergruppe und Spielart beobachten konnten. 

Als das wichtigste Symptom, das fiir die ganze Krankheit cha- 
rakteristisch ist, nannten wir die katatonischen Erscheinungen. In 
einer Gruppe findet man dieselben in typischer, reinster Form, ohne 
Beimischung anderer Symptome. Das ist die stuporose oder kata¬ 
tonische Gruppe im engeren Sinne. In einer anderen Gruppe (affek- 
tiven) kommen zu den katatonischen Erscheinungen viele affektive 
Symptome (manische, depressive oder beide zugleich) hinzu (die Dem. 
katatonica affectiva). Die 1. (stuporose resp. katatonische) Gruppe 


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tlber die katatonische Demenz und deren klinische Formen. 77 

zeichnet sich durch den Ausgang in eine apathische, die 2. (affektive) 
Gruppe durch den Ausgang in eine erregte manieahnliche Verblo- 
dung aus. 

Die katatonische resp. stupordse Gruppe zerfallt a) in die stuporose 
Untergruppo, wo der Stupor in reinster Form auftritt, und b) in die 
apathische Untergruppe, wo der Stupor in abgeschwachter, weniger 
intensiver Form vorhanden ist. Jede dieser Untergruppen teilt sich 
in je 2 Spielarten: in eine einfache, wo es einen bestandig vorhandenen 
stuporosen resp. apathischen Zustand gibt (die stupordse resp. apa¬ 
thische Form), und in eine kompliziertere, wechselnde Spielart, wo 
ein stuporoser resp. apathischer mit einem erregten Zustand abwechselt 
(stupords-agitierte resp. apathisch-agitierte Form). 

Die affektive Gruppe wird in 2 groBe Untergruppen eingeteilt: 
die agitierte resp. manische und die paranoiiforme. Die agitierte Unter¬ 
gruppe zeichnet sich durch manisch-depressive Symptome aus und 
zerfallt in 3 Spielarten: a) eine depressive (mit melancholieartigen 
Symptomen, (i) eine hypomanische (mit hypomanischen Symptomen), 
y) eine agitierte im engeren Sinne mit einer chronischen und perio- 
dischen Unterform. — Die paranoiiforme Untergruppe wird auBer 
den manisch-depressiven Symptomen hauptsachlich durch Wahn- 
ideen und durch stark ausgepragte Stereotypien charakterisiert. 

Aus dieser Gnippierung sehen wir, daB die Hebephrenie, die zu 
Zeiten Heckers und Kahlbaums als eine besondere, selbstandige 
Krankheitsform gait, und spater zu Zeiten Krapelins zu einer beson- 
deren Gnippe der Dem. praecox wurde (als Dem. praecox hebephre- 
nica), bei uns noch mehr eingeengt wird, indem sie zur Spielart (hypo¬ 
manischen) einer Untergruppe (agitierten) der affektiven Gruppe der 
Kranklieit wird. 

Der leidenschaftliche Streit daruber, ob gewisse Falle, wo neben 
katatonischen noch manisch-depressive Symptome vorhanden sind, 
zur Dem. praecox oder zum manisch-depressiven Irresein zu rechnen 
sind, muB nach unseren Ausfiihrungen als ganz iiberfliissig betrachtet 
werden, da es sich erweist, daB es sehr viele Falle, ja eine ganz groBe 
Hauptgruppe der Dem. katatonica gibt, die wir als affektive bezeich- 
nen und die eben durch das Vorhandensein von vielen manisch-depres¬ 
siven Symptomen (neben katatonischen, die allerdings die gnmdlegenden 
sind und ihren Stempel auch auf die ersteren aufdriicken) sich aus- 
zeichnet. 

Die Falle, die Krapelin friiher zur paranoiden Demenz, als beson- 
<lerer Hauptgruppe der Dem. praecox rechnete, wenigstens ein Teil 
derselben, stellen sich nach unserem Material als solche nicht lieraus, 
da sie in die affektive Gruppe, mit der sie so viele Punkte gemein haben, 
als besondere Unterart einer Untergruppe (agitierten) derselben ein- 


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gehen. Freilich gibt es noch andere Fall© von Kranken, die systema- 
tisiertere Wahnideen haben, bosonnener sind, geordneter sich benehmen, 
weniger katatonische Symptom© aufweisen, nicht so dement sind. 
Dio Fall© dieser Art zahlte Krapelin die letzte Zeit zu den sog. 
Paraphrenien, die aber mit der Dem. paranoides nicht identisch sind, 
so daB man die Dem. paranoides als besondere Hauptgruppe der Dem. 
praecox fallen lassen muB'). 

Die sog. Dem. simplex, die fruher als eine der 4 Hauptgruppen 
der Dem. praecox gait, hat sich nach unserem Material am allermin- 
desten als solch© herausgestellt und kann durchaus nicht als einheit- 
liche Form gerechnet werden. Die allermeisten Falle erweisen sich 
als eine besondere, allmahlich und unmerklich sich entwickelnde Spiel- 
art der stuporosen (katatonischen) Gruppe; ein anderer Teil der Falle 
der Dem. simplex stellt sich als leichteste, einfachste Form der hypo- 
manisch-affektiven Untergruppe (der fruheren sog. Hebephrcnie) 
heraus. 

Die sog. ,,Spatkatatonie“ fallt bei uns aus, da sie sich in nichts von 
anderen Fallen der Katatonie unterscheidet. Es ist sogar keine ein- 
heitliclie Form, da ein Teil der Falle zur stuporosen Spielart der 1. 
(katatonischen) Gruppe gehort; ein anderer Teil der Fall© im hoheren 
Alter erhalt eine depressive Farbung und gehort zur depressiv-affek- 
tiven Untergruppe. 

Ebenso unterscheiden sich nicht die Falle im kindlichen Alter 
(die sog. Dem. praecocissima) von anderen Fallen der stuporosen 
(katatonischen) Gruppe. 

Wir komrnen jetzt zur Frage, ob die katatonische Demenz (die 
Dem. praecox anderer Autoren) als eine einhoitliche, besondere, gut 
abgegrenzte Krankheitsform angesehen werden kaxni? — Viele Autoren 
meinten fruher und einige meinen noch jetzt, besonders in RuBland, 
es liege hier keine besondere Krankheitsform vor, und die katatonischen 
Erscheinungen seien hier nur ein bloBer Symptomenkomplex, der 
bei den verschiedensten Krankheitsformen vorkomme, was wir aber 
fur ganz unrichtig halten. Die bei unseren Fallen vorkomraenden 
typischen, klassisch ausgesprochenen katatonischen Symptom© sind 
kein bloBer Symptomenkomplex, sondern liegen im Wesen der Krank- 
heit und sind fur dieselbe ebenso charakteristisch, wie z. B. der Exoph- 
thalmus, die Struma und die Tachykardie fur die Basedowsche Krank- 
heit charakteristisch sind. Wenn wir durchaus nicht der Ansicht sind. 
daB man nach einzelnen Symptomen Krankheiten abgrenzen kann, 
so darf doch andererseits die Bedeutung der fur eine Krankheit bezeich- 

1 ) Unserer Ansicht nach gehoren diese Falle einer besonderen Spielart der 
chronisch-manischen Form des manisch-depressiven Irreseins an. 


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t)ber die katatonische Demenz und deren kliuiscke Formen. 79 

nenden, pathognomonischen und aus dem Wesen derselben entsprin- 
genden Grundsymptome durchaus nicht unterschatzt warden. Das 
Wesen aber der Dein. katatonica, als besondere Krankheitsform, 
erblicken wir — was hier nur kurz gestreift werden soil — darin, daB 
das zentrale Nervensystem sich bei der katatonischon Demenz in 
einem mehr oder weniger dauernden gesteigerten Spannungszustand 
befindet, der sich eben in der Form von katatonen Symptomen auBert 
und daB dasselbe dann zeitweise plotzlich in einen Entspannungs- 
zustand verfallt, sich in der Form einer anderen fur die Dem. katato¬ 
nica wichtigen Erscheinung, der katatonischen Erregung, entladend, 
die auch einen automatischen Charakter tragt. Und dadurch erklart 
sich der fur die katatonische Demenz besonders charaktoristische 
klinische Verlauf, der sich durch den Wechsel von Stupor- resp. apa- 
thischen (auf Spannungserscheinungen beruhend) mit plotzlichen, 
automatischen Erregungszustanden (auf plotzlicher Entspannung, 
Entladung der lange aufgespeicherten Energie basierend) auszeichnet. 
Es ist eine Ansicht, worin wir mit Kahlbaum ganz uberdnstimmen, 
der bei seiner Aufstellung dieser Krankheit sogleich sehr treffend 
auf den Spannungszustand des Muskel- resp. Nervensystems hinwies 
und sie deswegon nach dem von ihm vermuteten Wesen derselben 
als Katatonie resp. Spannungsirresein bezeichnete. Worauf dieser 
Spannungszustand beruht, wissen wir allerdings nicht. Es muB diesem 
Zustande eine organische Unterlage zugrunde liegen, woriiber nur 
Vermutungen angestellt werden konnen. 

Also muB die Dem. katatonica als eine besondere Krankheits¬ 
form angesehen werden nach dem charakteristischen Symptomen- 
bild und nach dem klinischcn Verlauf, der sich durch den Wechsel 
von apathischen resp. stuporosen mit automatischen Erregungszu¬ 
standen auszeichnet, was auch meistens noch im Endstadium der 
Krankheit beobachtet wird. Der Endzustand ist bei dieser Krank¬ 
heit noch insofern charakteristisch, als er eine von katatonischen Sym- 
ptomen oder Residuen derselben begleitete Verblodung aufweist. 

Alle diese Erscheinungen sehen wir am ausgepragtesten bei der 
stuporosen (katatonischon) Gruppe, die eben Kahlbaum im Auge 
hatte, als er seine Katatonie in diesem eng begrenzten Sinne, und zwar 
unrichtigerweise in heilbarer Form, aufstellte. Wir sehen aber, daB 
unsere affektive Gruppe, die die friihere sog. Hebephrenie und viele 
katatonische agitierte Formen umfaBt, trotz der Beimischung von 
fur diese Krankheit fremdartigen Symptomen, wie die manisch-melan- 
cholischen, auch die gleichen typischen katatonischen Symptome, 
den gleichen Wechsel von apathisch-depressiven und manieahnlichen 
impulsiven Erregungszustanden und besonders den gleichen Ausgang 
in eine charakteristische Verblodung katatoner Art, allerdings mit 


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einigen nebensachlichen, fiir diose Falle als eine besondere Gruppe 
charakteristisierenden Abweichungen, zeigt. Was die Dem. paranoides 
betrifft, haben wir sie als nicht zur katatonischen Deraenz gehorig 
von unserer Betrachtung ausgeschlossen. 

Wir sehen somit in der Dem. katatonica eine charakteristische, 
in sich geschlossene Krankheitsform. Es fragt sich nun weiter, wie 
weit die Grenzen der Krankheit nach auBen gezogen werden konnen? 
Wir haben bereits im Beginn unserer Arbeit erwahnt, daB die Dem. 
katatonica von einigen zu eng, von anderen zu weit gefaBt wird. 
Btsonders schwierig ist die Abgrenzung der Krankheit von dem manisch- 
depressiven Irresein, da bei beiden Krankheiten die Symptome die 
gloichen sein konnen, indem bei der Dem. katatonica haufig manisch- 
depressive 1 ) und beim manisch-depressiven Irresein nicht selten 
katatonische Symptome vorkommen. In solchen Fallen meinen 
einige Autoren, wie z. B. Bleuler, Urstein, daB man bei Vor- 
handensein von katatonischen und manisch-depressiven Symptomen 
bei der Diagnosenstellung dan katatonischen den Vorzug geben 
und die Falle zur katatonischen Demenz rechnen miisse. Andere 
Autoren, wie DreyfuB, Willmanns u. a., denken im Gegen- 
teil, es handle sich hier um manisch-depressives Irresein. Die einen 
Autoren legen also mehr Gewicht auf die einen (z. B. katatonischen), 
die anderen Forscher halten fiir wichtiger die anderen (z. B. manisch- 
depressiven) Symptome. Nun erweist es sich aber bei naherem Zusehen, 
daB die Symptome bei beiden Krankheiten trotz ihrer iiuBeren Ahn- 
lichkeit in Wirklichkeit gar nicht identisch und je nach dem Charakter 
der Krankheit, wo sie entstehen, ganz verschiedener Natur sind. So 
sind die katatonischen Symptome bei der katatonischen Demenz 
echt katatonisch, namlieh affektlos, automatisch, sinnlos, monoton, 
einformig. Beim manisch-depressiven Irresein aber sieht man, daB 
elie katatonischen Symptome einen Zweck haben, einen Wunsch, Ab- 
sicht der Kranken ausdriicken, von gewissen Motiven geleitet werden. 
So sieht man in dem Negativismus einen Wunsch der Kranken aus 
irgendwelchen Griinden Widerstand zu leisten, das Gegenteil zu tun; 
ihr Mutismus boruht auf einem Zorn- oder irgendeinem anderen Affekt, 
infolgedessen sie nicht sprechen wollen; in der Zuriickhaltung des 
Harns und der Exkremente im Klosett einerseits und in der Unrein- 
lichkeit und der Unsauberkeit im Bett andererseits sieht man den 
Wunsch bei den Kranken, andere zu argern, zu reizen, Unfug anzu- 
richten usw. — Ebenso sind auch die manisch-depressiven Symptome 

*) Wir sahen, daB auch in unseren Fallen viele manisch-depressive Symptome 
vorkommen, und daB es sogar besondere Formen gibt, wo es solcher Symptome 
besonders viele hat und wo der Verlauf sogar ein ahnlicher ist wie beim manisch- 
depressiven Irresein (wir rechneten diese Falle zur affektiven Gruppe). 


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Cber die katatonische Demenz and deren klinische Formen. 


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beim manisch-depressiven Irresein nicht die gleichen wie bei der Dem. 
katatonica. Bei der ersten Krankheit sind die manischen Symptome 
mit einer echten Lebhaftigkeit, einer Beschleunigung im Ablauf aller 
psychischen Prozesse verbunden; sie haben einen Sinn, sind zweck- 
maBig, verlaufen frei ohne jede Hemmung, ohne jede Gebundenhoit, 
hangen ausschlieBlich ab vom Grad der gehobenen, lustigen oder zornigen 
Stimmung, aus der sie entspringen. Die raelancholischen Symptome 
tragen beim manisch-depressiven Irresein den Stempel einer Verlang- 
samung aller psychischen Funktionen, die auch ausschlieBlich durch 
den Charakter des depressiven Affektes, aus dem sie entspringen, 
erklarbar sind. Bei der Dem. katatonica aber sahen wir, daB die mani¬ 
schen resp. melancholischen Symptome einen gebundenen, unfreien, 
gezwungenen, monotonen, einformigen Charakter haben und der echten 
Affektivitat entbehren; der Ausdruck der Gesichtsziige, der Charakter 
der Handlungen der Kranken scheinen den Gefiihlon, den Worten 
derselben gar nicht zu entsprechen, oder sind zweideutig, karikiert. 
— Aber nicht nur symptomatologisch bestehen Ahnlichkeiten unter 
diesen beiden Krankheiten. Auch der Verlauf kann analog sein. 
So sahen wir, daB die affektive Gruppe der katatonischen Demenz 
den gleichen periodischen, circularen Verlauf haben kann, wie das 
manisch-depressive Irresein. Nichtsdestoweniger besteht ein Unter- 
schied unter diesen beiden Krankheiten auch in dioser Beziehung. 
Die Anfalle des manisch-depressiven Irreseins treten in vielen Fallen, 
hauptsachlich in der ersten Zeit der Krankheit, mit einer bestimmten 
RegelmaBigkeit nicht nur in der Zeit, sondern auch im Charakter 
derselben (depressiv oder manisch, oder circular, oder gemischt) auf. 
Zwar nehmen die Perioden nachher zu, die Intervalle werden kiirzer, 
tier Charakter der Anfalle kann sich amlern, aber auch darin zeigt 
«ich eine gewisse GesetzmaBigke.it, die durch don Fortschritt der Krank- 
hait sich erklaren laBt. Bei der Dem. katatonica aber sind die Anfalle 
sowohl im Beginn, als auch im weiteren Verlauf der Krankheit ganz 
unregelmaBig und ungeordnet. Was die Intervalle betrifft, so sind 
die manisch-dopressiven Kranken wahrend derselben ganz besonnen, 
benehmen sich normal und zeigen auBer einer gesteigerten Nervo- 
sitat und einigen psychopathischen Eigentiimlichkeiten keino psy- 
chotischen Defekte. In den Remissionen aber der Dem. katatonica 
wird bei den Kranken trotz ihres ruhigen und besonnenen Zustandes 
eine Abnahme der Affektivitat (Apathie), der Willenstnergie, eine 
Gebundenheit in allem, ein intellektueller Defekt in irgendwelcher Be¬ 
ziehung, in manchen Fallen Residuen von katatonischen Symptomen 
beobachtet. — Das gleiche muB auch in betreff des Ausganges der 
Krankheit gesagt werden. Beim manisch-depressiven Irresein ist 
der Ausgang jedes Anfalles im einzelnen in den mciston Fallen, wenig- 

Archlv ftlr Pa.vchlatrle. Bil. 67 6 


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stens im Anfange dor Krankheit, ein giinstiger, zieht nach sich koine 
Verblodung, weder in intellektueller nock in affektiver Hinsicht. Wemi 
os auch Ftillo gibt, besonders in veralteten Formen, die einen protra- 
hiorton Verlauf annehraen und in denen einige Deraenz zu merken ist, 
so ist sie doch nicht so tiefer Natur und entbehrt ganz der katatoni- 
schen Ziige. Bei der Dem. katatonica abor ist der Ausgang immer 
eine starkere oder goringere Deraenz, und Defekte in der Form von 
Apathie, Willenlosigkeit, Gebundenheit und anderen katatonischen 
Erscheinungen werden sogar im Endstadium der Krankheit, als die 
akuten Syraptorae langst abgelaufen sind, beobachtet. 


Litcratur. 

Aschaffenburg: Die Katatonie. Allg. Zeitschr. f. Psyehiatr. u. psych. - 
gerichtl. Med. 55, 1898. — Aschaffenburg: Die Katatoniefrage. Allg. 
Zeitschr. f. Psyehiatr. u. psych.-gerichtl. Med. 54, 1897. — Binswanger 
und Siemerling: Lehrhuch der Psychiatric. 2. Aufl. Jena 1907. — Bleuler, 
E.: Dementia praecox. Handb. d. Psyehiatr., herausgegeben von Aschaffenburg. 
Leipzig und Wien 1911. — Bonhoffer: Cher ein eigenartiges, ojK'rativ besei- 
tigtes katatonisches Zustandsbild. Zentralbl. f. Xervenheilk. u. Psyehiatr. 1903. 

— Brosius: Die Katatonie. Allg. Zeitschr. f. Psyehiatr. u. psych.-gerichtl. Med. 
1876. —Daraszkiewicz: tlber Hebephrenic, insbesondere deren schwere Form. 
Dorpat 1892. — Diem: Die einfach demente Form der Dem. praecox. Arch. f. 
Psyehiatr. u. Nervenkrankh. 37, 1903. — Gaupp: Zur prognostischen Be- 
deutung der katatonischen Erscheinungen. Zentralbl. f. Xervenheilk. u. Psyehiatr. 

1903. — Gross, O.: Zur Xomenklatur „Dem. sejunctiva“. Xeurol. Zentralbl. 

1904. — Gross, O.: Ober BewuBtseinszerfall. Monatsschr. f. Psyehiatr. u. 
Xeurol. 15, 1904. — H ecker: Die Hebephrenie. Virchows Arch. f. pat hoi. Anat. 
u. Physiol. 52. — Jahrmarker: Zur Frage der Dem. praecox. Halle 1903. — 
Jung: l)ber die Psychologic der Dem. praecox. Halle: Marhold 1907. —Kahl- 
baum: Die Katatonie oder das Spannungsirresein. Berlin: Hirschwald 1874. — 
Kahlbaum: Cher Heboidophrenie. Allg. Zeitschr. f. Psyehiatr. u. psych.-ge¬ 
richtl. Med. 46, 1890. — Krapelin: Lehrbuch der Psychiatric. 8. Aufl. 3. 
Leipzig: Barth 1913. — Krapelin: Zur Diagnose und Prognose der Dem. prae¬ 
cox. Allg. Zeitschr. f. Psyehiatr. u. psych.-gerichtl. Med. 56, 1899. — Xeisser: 
Katatonie. Stuttgart: Enke 1897. — Xeisser: Zur Dem. praecox-Frage. Psy- 
chiatr.-neurol. Wochenschr. 1909/1910. — Xissl: Hysterische Symptome bei 
einfachen Seelenstorungen. Xeurolog. Zentralbl. 1902. — Ossipow: Kahlbaums 
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Psyehiatr. u. Xervenkrankh. 1909. — Schroder: Die Katatonie im hoheren 
Lebensalter. Xeurolog. Zentralbl. 1902. — Schiile: Zur Katatoniefrage. Allg. 
Zeitschr. f. Psyehiatr. u. psych.-gerichtl. Med. 1898. — Schiile: Klinische Bei- 
trage zur Katatonie. Allg. Zeitschr. f. Psyehiatr. u. psych.-gerichtl. Med. 1901. 

— Serbsky: Formen psychischer Storung, die unter dem Xainen der Katatonie 
beschriebcn sind. Moskau 1890 (russ.). — Siemerling: Diskussion im Vorein 
der deutschen Irrenarzte. Allg. Zeitschr. f. Psyehiatr. u. psych.-gerichtl. Med. 
56, S. 260, 1899. — Sommer: Klinische Psychiatrie. Halle 1906. — Stransky: 
Zur Kenntnis gewisser erworbener Blodsinnsformen, spez. der Dem. praecox. 
Jahrb. d. Psyehiatr. u. Xeurol. 24. 1904. — Stransky: Zur Auffassung gewisser 


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Ober die katatonische Demenz und deren klinische Formen. 


NS 

Symptom© der Dem. praecox. Neurolog. Zentralbl. 1904. — Stransky: Dem. 
tardiva. Ein Beitrag zur Klinik der Verblodungspsychosen. Monatsscbr. f. 
Psychiatr u. Neurol. 18, 1905. — Trbmner: Das Jugendirresein. Halle: Mar- 
hold 1900. — Urstein, M.: Die Dem. praecox und ihre Stellung zum manisch- 
depressiven Irresein. Berlin u. Wien 1909. — Wernicke: GrundriB der Psy¬ 
chiatric. Leipzig 1900. — Wernicke: Diskussion im Verein der dcutschen Irren- 
arzte. Allg. Zeitschr. f. Psychiatr. u. psych.-gerichtl. Med. 58, S. 642, 1899. — 
Weygandt: Alte Dem. praecox. Zentralbl. f. Nervenheilk. u. Psychiatr. 27, 1904. 
— Wolff: Zur Frage der Benennung der Dem. praecox. Zentralbl. f. Nerven¬ 
heilk. u. Psychiatr. 1908. — Zablocka: Prognosestellung bei der Dem. praecox. 
Berlin: Reimer 1908. — Ziehen: Psychiatric. 2. Aufl. Leipzig 1902. 



6 * 


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(Aus der Universitats-Oliren- und Kehlkopfklinik [Direktor: Geh. Med.-Rat 
Prof. 0. Korner] und der Psvchiatrischen und Nervenklinik [Direktor: Prof. 
M. Rosenfeld] an dor Universitat Rostock.) 


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PberuiigewohnlichlokalisierteEncephalitisformen nachGrippe. 

Mit einem Beilrag fiber das Symptom der Adiadnchokinese. 

Von 

Kurt Marquard, Volont&rarzt 
der Psychiatrischen und Nervenklinik. 

(Eingegangen am 31. 8. 1922.) 

Unter den Folgezustanden der Grippe, die sieh am Zentral-Nerven- 
system abspielen, rangieren Kleinhirnstdrungen und striare Symptome 
hinter den Affektionen des zentralen Hohlengraues im dritten und 
vierten Ventrikel und am Aquaedukt sowie der Pons etwa an dritter 
Stelle (Grunewald 1 ) u. a.). 

In einer Zusammenstellung von selteneren Formen der akuten, nicht 
eitrigen Encephalitis bespricht G. Henning 2 ) die besonders geartete 
Symptomatologie einiger Verlaufsarten dieser Erkrankung, die z. T. 
durch eine ungewohnliche Lokalisation hervorgerufen waren, z. T.nur 
cine besondere individuelle Reaktion zum Ausdruck bracktcn. 

Von den dort angefiihrten Fallen sei einiger hier kurz Erwahnung 
getan: * 

Ein 59jahriger Fabrikarbeiter (von Spielraeyer beobachtet), fruher 
stets gesund, erkrankte mit Krampfanfallen und kloni.-chen Zuckungen, 
die im linken Arm begannen und in die unteren Extremitatcm iiber- 
gingen. Das Betvulitsein war bei dic.sen Anfallen nicht aufgehoben. 
Es enttvickelte sich eine rasch zunehmende Sprachstorung, Benommen- 
heit, Unruhe, Facialisparese rechts, ohnc Pyramidenbahnreflexe. Der 
Totl erfolgte in dcliranter Benommenheit 14 Tage nach Auftreten der 
ersten Symptome. Bei der Hirnscktion fanden sich die aulleren Par- 
tien der weiCen Subatanz von einer groBen Zahl runder grauer Einla- 
gerungen durchsetzt, die in den pcripheren Partien des Zentrum Vieus- 
senii am zahlreichsten waren, weniger in der Rinde. Auch das Mark- 

1) Zeitschi'. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 2', 4. 1921. 

2 ) Arch. f. Psychiatr. u. Nervenkrankh. .‘>3. Hierin auch weitere Literatur- 
augabo zum vorliegendcn Thema. 


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K. Marquard: t)ber ungewohnlich lokalisierte Encephalitisformen nach Grippe. 85 

lager der Kleinhirnhemispharen war stark betroffen. Hirnstamm und 
Riickenmark ganz frei von solchen Einlagerungen. 

Bei einem anderen Fall Spielmeyers, der klinisch als Tumor 
cerebri aufgefaBt war, ergab erst die Sektion das Vorliegen einer akuten 
Encephalitis. Ein junger Mann erkrankte aus voller Gcsundheit heraus 
ganz plotzlich an schweren Gehirnerscheinungen. Heftige Rindenan- 
f&lle mit Bewu Btseinsverlust und ansehlieBenden Erregungszustanden 
traten auf. In wenigen Tagen erfuhren die Symptome eine enorme 
Steigerung, die Krampfe waren fast kontinuierlich, das BewuBtsein 
getriibt. Bald stellten sich in den von den Krampfen befallenen Muskel- 
gebieten (Gesicht, Zunge) Lahmungen ein. Nach mehrtagigem, ticfem 
Koma todlicher Ausgang. Auffallend ist, daB sich in der Anamnese 
fiir eine vorausgegangene infektiose Erkrankung kein Anhaltspunkt 
findet; doch vermag dies anscheinende Fehlen ebensowenig wie die 
anfangs normale Temperatur die Diagnose zu erschiittern. Jedenfalls 
konnte nur an eine durchaus atypischc Verlaufsform des Tumors ge- 
dacht werden, da die fiir Hirndruck charakteristischen klinischen Er- 
scheinungen fehlten. Die Sektion ergab keine makroskopischen Befunde; 
mikroskopisch fanden sich Rundzellenfiltrate der GefaBwande, ins- 
besondere im unteren Drittel der rechten motorischen Region. 

Eine rezidivierende Encephalitis lag vor in einem Fall von Laache: 
Bei einer 34jahrigen Frau, die vor neun Jahren an rechtsseitiger Hemi- 
parese und Aphasie erkrankte, welch letztere sich allmahlich voll- 
standig wieder behoben hatten, stelltc sich wiederum rechtsseitige 
Parese ein, die rasch zunahm. Unter BewuBtseinstriibung, klonischen 
Krampfen, Kontraktur des gelahmten Armes trat nach wenigen Tagen 
der Tod ein. Die Sektion ergab hinter der linken Zentralfurche zwei 
subkortikal gelegene Herde mit Detritus. In der Umgebung diffuse 
encephalitische Veranderungen. — 

DaB dem Bilde des sog. ,,Pseudotumor cerebri“ auch gelegentlich 
eine Encephalitis zugrunde liegen kann, dafiir spricht eine Beobach- 
tung M. Rosenfelds. Die Kranke zeigte Symptome, die fiir eine Hirn- 
geschwulst zu sprechen schienen. Insbesondere lieB sich das Auftreten 
einer Stauungspapille in diesern Sinne verwerten. Die Erkrankung ging 
aber in Heilung liber; nach einigen Jahren erlag Patientin einem Unter- 
leibsleiden entziindlicher Natur, und die Untersuchung des Gehirns 
ergab nun die Zeichen einer abgelaufenen Encephalitis, vornehmlich 
im Bereich.des Tractus opticus, bisgegen das Pulvinar und Corpus 
geniculatum hin. Die iibrigen Teile des Gehirnes — Nucleus lentiformis, 
Pons und Medulla — waren normal. 

Rosenfelds Beobachtung zeigt eine unverkennbare Ahnlichkeit 
mit mehreren der als Pseudotumor cerebri beschriebenen Falle und 
ist wohl geeignet, einige gegen die Annahme einer Encephalitis gemach- 


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8G K. Marquard: t T ber ungewohnlich lokalisierte Encephalitisformen nach Grippe. 


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ten Bedenken zu zerstreuen. Sie zeigt insbesondere, daB das Vorhanden- 
sein einer Stauungspapille, das bisher gegen die Annahme einer Ence¬ 
phalitis angefiihrt wurde, auch bei Encephalitis vorkommen kann. 

Drei Falle von Henning seien noch kurz angefiihrt: Bei einem 
Manne ira mittleren Lebensalter trat im Zusammenhang mit einer 
fieberhaften Erkrankung ziemlich plotzlich Kopfschmerz mit Nacken- 
steifigkeit, Erbrechen, Pulsverlangsamung, Miidigkeitsgefiihl in den 
Beinen und Gefiihl von allgemeiner Hinfalligkeit auf. Dazu gesellten 
sich Augensymptome, Facialisparese, spastische Parese der linkssei- 
tigen Extremitaten und Sensibilitatsstorungen. Sensorium war getriibt; 
Fieber bestand nicht. Im linken Arm und Bein traten Zuckungen auf. 
Die Benommenheit ging wieder zuriick; Augenstbrungen und Parese 
des Armes, schlieBlich auch des Beines begannen sich zuriickzubilden, 
nachdem schon vorhcr die motorischen Reizerscheinungen fortge- 
blieben waren. 

Bei dem zweiten Fall, einer Patientin Stallmanns, berichtet die 
Yorgeschichte der in mittlerem Lebensalter stehenden Frau von erb- 
licher Belastung: Vater starb an Gehirnerweichung, Mutter an Hirn- 
schlag. Eine Schwester war geisteskrank, Patientin selbst litt in friiheren 
•Tahren dreimal an Anfallen leichtcr geistiger Stoning. Die Erkrankung 
der Frau setzte ohne nachweisbare Ursache plotzlich mit hochgradiger 
Aufregung, wirren Reden und starkem Bewegungsdrang ein. Patientin 
schlief nicht, nahm keine Nahmng zu sich. Sie wurde gewalttatig, 
zerriB erreichbare Gegenstandc. Nach mehreren Tagen ruhiger, apa- 
thisch. Die Untersuchung ergab Temperaturerhohung, Steigerung der 
Sehnenreflexe: die rechten Extremitaten spannte Patientin im Gegen- 
satz zu den linksseitigen beim Aufhcben nicht an. Im linken Arm klo- 
nLsche Zuckungen, spater heftige Krampfanfalle in der linken Korper- 
halfte. BewuBtsein aufgehoben. Puls beschleunigt. Unter liinzutre- 
tenden Lungen- und Herzerscheinungen trat der Tod ein, im unmittel- 
baren AnschluB an einen letzten Anfall mit klonischen Zuckungen, 
diesmal im rechten Facialis und Arm. Die Autopsie ergab eine Ence¬ 
phalitis acuta haemorrhagica, die liauptsachlich die Rinde des rechten 
Stirnlappens und der Zentralwindung betroffcn hatte. Das Herz wies 
Anzeichen einer beginnenden Endocarditis auf, und es gelang hier der 
Nachweis von Influenzabazillen. 

SchlieBlich waren nebcn dem GroBhirn liauptsachlich Hirnstamm 
und besonders die Kleinhirnhemispharen als Sitz eines entziindlichen 
Prozesses bei folgendem Fall anzunehmen, mit dem Henning seine 
Arbeit beschlieBt: Bei einer 35jahrigen Frau, die plotzlich mit influenza- 
artigen Svmptomen erkrankte, entwickelte sich ein Zustand hochgra¬ 
diger Erregtheit mit depressiven Ideen und Suizidversuch. Bei der 
Aufnahme in die Klinik bestanden die Symptome einer organischen 


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Mil einem Beitrag liber das Symptom der Adiadochokinese. 


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Hirnerkrankung: Neben der Beteiligung des Sensoriums und den schon 
genannten Allgemeinerscheinungen wurden Nystagmus, Tremor der 
rechten Hand bei intendierten Bewegungen, starke Steigerung der Seh- 
nenreflexe, Babinski und Romberg positiv festgestellt. In den nachsten 
Tagen traten weitere Herdsymptome, u. a. Schwache der linken Hand 
und des linken Beines, Verschlechterung des Allgemeinbefindens auf, 
schlieBlich Nackensteifigkeit, Anfalle von Hirndruck. Temperatuy war 
fortdauernd erhoht, Puls meist deutlich verlangsamt. In kurzer Zeit 
bildeten sich die Erscheinungen wieder zuriick; es bestand nur noch 
ein geringes Schwindelgefiihl beim Gehen und. Steigerung der Sehnen- 
reflexe. Die Krankheit ging schlieBlich in Heilung iiber. 

Aus der Epidemic 1918 teilte von Economo 1 ) die Krankengeschichte 
und den mikroskopischen Befund eines chronisch schubweise verlau- 
fenden Fa lies von Encephalitis lethargica mit. Es handelte sich dabei 
um choreatisch-athetotische Bewegungsstorungen bei einem Patienten, 
der erst nach zweijahrigem, von periodisch auftretender choreatisch- 
athetotischer Unruhe begleitetem Siechtum verstarb. — Es fanden 
sich ausgedehnte Reste einer abgelaufenen Polioencephalitis des Hirn- 
stammes und der Oblongata, daneben aber in auffallendem Durch- 
einander vereinzelte frische Herde mit alien Merkmalen der akuten 
Verlaufsform. 

Uber Encephalitis pontis et cerebelli berichtet Redlich 2 ) in einer 
zusammenfassenden Arbeit, in der er nach eingehender Besprechung 
von einschlagigen Fallen der Literatur eine ausfiihrliche klinische Schil- 
derung von sechs Fallen eigener Beobachtung gibt. Nach Abgrenzung 
gegeniiber anderweitigen encephalitischen Prozessen stellt Redlich 
das klinische Bild einer quasi reinen Encephalitis pontis et cerebelli 
auf, erortert die Atiologie und Differentialdiagnose des Krankheits- 
bildes gegenuber der multiplen Sklerose und hebt den meist akuten 
Verlauf hervor, der bald zum Tode, bald in stationare Zustande, bald 
wieder zur Genesung hinfuhrt. — In einer Mitteilung zur Kasuistik der 
Encephalitis cerebelli berichtet 0. Gotz 3 ) iiber einen 33jahrigen Patien¬ 
ten, der plotzlich mit Schiittelfrost, Erbrechen und heftigen Schmerzen 
ira Hinterkopf erkrankte. Die auf eine Kleinhirnerkrankung gestellte 
Diagnose stutzte sich auf die Symptome der cerebellaren Ataxie, der 
Asynergie cerebelleuse, Adiadochokinese usw., wahrend auch hier Sto- 
rungen der Sensibilitat fehlten. In wenigen Wochen verschwand mit 
dem Abklingen einer geringen, nicht charakteristischen Temperatur- 
steigerung die Affektion vbllig. Nach eingehender Diskussion aller 


!) Miinch. med. Wochenschr. 1919. H. 46. 

2 ) Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 87. (1/2) 1. 

3 ) Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. .'>4. H. 2/3. 


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88 K. Marquard: fiber ungewohnlich lokalisierte Enceplialitisformen nach Grippe 

fur die Atiologie in Betracht kommenden Faktoren und der vorliegenden 
Literatur kommt Verfasser zu dem SchluB, daB bei seinem Falle ahnliche 
Entziindungserscheinungen am Kleinhirn stattgefunden haben, wie sie 
bei Fallen von Encephalitis nach Infektionskrankheiten und auf rein 
toxischer Grundlage zustande kommen. 

Bei unserem im nachfolgenden naher beschriebenen Falle ist es 
bemerkenswert, daB sich unmittelbar an die Grippe zunachst eine 
Mittelohreiterung anschloB und daB erst im AnschluB an diese nervose 
Symptome des Kleinhirns auftraten, welche auf eine Erkrankung der 
hinteren Schadelgrube hindeuteten. 

Der Landmann O. aus Plau, 36 J. alt, erkrankte am 22. 1. 21 an Grippe mit 
Fieber, trocknem Husten, Kopf- und Muskelschmerzen. Am 25. 1. gesellten sich 
dazu heftige Schmerzen im rechten Ohre, die auch nicht nachlieBen, nachdem sich 
am 26. 1. reichlich blutig-eitriger AusfluQ aus dem Ohre eingestellt hatte. In den 
nachsten Tagen vermehrte sich bei Temperaturen iiber 39° der OhrenfluB, und 
der Warzenfortsatz wurde druckempfindlich, besonders an der Spitze. — Am 1. 2. 
Aufnahme in die Ohrenklinik. Behind: Mittlerer Ernahrungszustand, groBe Blasse 
und Mattigkeit, starker Zungenbelag, im rechten Gehorgang viel Eiter, groBe 
Trommelfellperforation hinten unten, Warzenfortsatz an der Spitze druckempfind¬ 
lich. Die Horpriifung ergab eine reine Mittelohrschwerhorigkeit. Spontaner Nystag¬ 
mus bestand nicht. Der kalorische Nystagmus war gut auslosbar. Temperatur 
37°. Klagen iiber heftige Kopfschmerzen, die vom rechten Ohr aus nach hinten 
und oben ausstrahlen, und iiber groBe Mattigkeit. — Bei Temperaturen unter 
37° nahmen in den nachsten Tagen die Mattigkeit, die Ohreiterung und die Schmer¬ 
zen hinter dem Ohre trotz des ungehinderten Eiterabflusses so zu, daB man sich 
am 4. 2. zur AufmeiBelung des Antrum verpflichtet fiihlte, obwohl die Otitis erst 
seit 11 Tagen bestanden hatte. Der Knochen zeigte bei der Operation auBerlich 
keine Besonderheiten. Beim MeiBeln kam man sogleich in pneumatische Hohl- 
raume, die wohl eine leichte Hyperamie ihrer Auskleidung, aber keine Eiterung 
zeigten. Auch im Antrum fand man keinen Eiter. 

In der ersten Woche nach der Operation kam es infolge einer Pyocyaneus- 
infektion zu einer schnell voriibergehenden Temperatursteigerung. Sonst waren 
die Temperaturen abends 37,0° — 37,3°, morgens 36,3° — 36,6°. Die Mattigkeit 
und die heftigen rechtsseitigen Hinterkopf- und Scheitelschmerzen bestanden unver- 
andert weiter, lieBen sich weder durch Phenatecin noch durch Pyramidon, auch 
nicht durch die Eisblase mindern. Hierzu gesellte sich am 10. 3. eine rechts- 
seitige Trochlearislahmung und beiderseits eine beginnende Stauungspapille. Die 
PaukenhShleneiterung war noch immer stark, und die Operationswunde zeigte 
iibermaBig reichliche, schlaffe Granulationen. — Wegen Verdachts auf eine intra- 
kranielle Komplikation wurden am 14. 3. in Morphium-Athemarkose die Wund- 
granulationen ausgesc.habt und der Sinus transversus sowie die Dura der mitt- 
leren Schadelgrube aufgedeckt. Durawand und Sinuswand waren leicht gerotet, 
zeigten aber sonst nichts Besonderes. Eine starke Emissariumblutung stand bald 
auf leichte Tamponade. An den beiden nachsten Tagen stieg die Temperatur 
bis zu 37,6° an. dann war sie wieder normal. Am 16. 3. stellte sich auch eine 
rechtsseitige Abducenslahmung ein. Die Kopfschmerzen lieBen nicht nach. Die 
darauf angestellte neurologische Untersuchung ergab folgendes Resultat: Puls 
56—60 auch nach zahlreichen starken Bewegungen in und auBerhalb des Bettes. 
Keine Brechneigung. BewuBtsein ganz frei. Keine agnostischen, aphasischen 
und apraktischen Storungen. Keine allgemeine Bewegungsverlangsamung oder 


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Mit einem Beitrag iiber das Symptom der Adiadochokinese. 8!) 

Bewegimgsarmut. Wohl aber ausgeaprochene Bewegungsverlangsamung im rech- 
ten Bein, in der rechten Hand, im rechten Arm und im rechten Facialisgebiet 
(Adiadochokinese) ohne Ataxie. Das Platysma war von dieaer Bewegungsverlang¬ 
samung nicht betroffen. Pyramidenbahnenreflexe fehlten. Eine Herabsetzung 
der groben Kraft links war nicht vorhanden; kein deutlicher Tremor im rechten 
Arm, wohl aber im rechten Bein beim Kniehackenvereuch. Lagegeftihlsstorungen 
fehlten. Beim Gehen und Stehen fanden sich keine Gleichgewichtsstorungen. 
Rechts bestand Trochlearis- und Abducenslahmung; sonst waren die Augen- 
muskeln normal; kein Spontannystagmus; auffalliges Zittem der Lippenmusku- 
latur. Keine Sensibilitatsstorungen. Diagnose: Verdacht auf Encephalitis der 
rechten Kleinhimhemisphare. 

Weiterer Verlauf: 20. 3. Der Kranke klagt weniger iiber Kopfschmerzen und 
ist in besserer Stimmung als zuvor. Der Puls schlug, wie auch schon vorher, beim 
Liegen 60—66mal und beim Stehen 70—84mal in der Minute. 

28. 3. Die linke Papilla nervi optici zeigt noch undeutliche Grenzen und 
leichte Hyperamie. Die rechte ist wieder normal. 

30. 3. Die Trochlearis- und Abducenslahmung sind geringer geworden, die 
Kopfschmerzen nahezu verschwunden. Die Eiterung aus der Paukenhdhle ist 
erloschen, und die Operationswunde in gut fortschreitender Heilung begriffen. 

31. 3. Keine Adiadochokinese in den ehedem betroffenen Muskelpartien mehr 
nachweisbar. 

Ende April wurde der Kranke vollig geheilt entlassen. 

Von den im Anfange der Erkrankung aufgetretenen Symptomen 
sprachen fur die Moglichkeit eines KleinhirnabsceB die Otitis media 
und die zuerst in die Erscheinung getretenen Allgemeinsymptome, 
und zwar die groBe Blasse, der starke Zungenbelag, Mattigkeit und 
subnormale Temperaturen; ferner die allgemeinen Hirndrucksymptome, 
und zwar: Kopf. ehmerzen, Pulsverlang-arming und Stauung.-papille 
beiderseits. SchlieBlich erregten die lokalen Hirnsymptome, der homo- 
laterale Kopf chmerz, der — besonders heftig — vom rechten Ohr aus 
nach hinten und oben ausstrahlte, der leichte Tremor des rechten Beines 
beim Kniehackenversuch und im besonderen die Adiadochokinese der 
beiden rechten Extremitaten und des rechten Facialis den Verdacht 
auf eine ab.>cedierende Kleinhirnaffektion. Auch die Beteiligung der 
Hirnnerven, die an der Basis liegen, so des rechten Trochlearis und 
des rechten Abducens, wiesen unterstiitzend auf diese Annahme hin 
und machten eine beginnende ab.^cedierende Entziindung in der rechten 
hinteren Schadelgrube, und zwar an der rechten Kleinhimhemisphare, 
wahrscheinlich. 

E, muBte aber auch mit der Moglichkeit gerechnet werden, daB die 
krankhaften Er^cheinungen durch eine Encephalitis des Kleinhirns 
hervorgerufen wurden, die sich mit meningealen Veranderungen ver- 
binden kann. Als Ursache hierftir kam die Grippeinfektion in Betracht. 

Bei der operativen Freilegung der hinteren Schadelgrube waren keine 
meningealen Veranderungen nachweisbar. Die Dura erwies sich nur 
leicht gerotet und zeigte keine Belcge. (Punktion wurde nicht gemacht.) 


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90 K. Marquard: t)ber ungewohnlich lokalisierte Encephalitisformen nach Grippe. 


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Aber auch im klinischen Bilde traten die echten meningealen Sym- 
ptome zuriick. Nackensteifigkeit und Nackenschmerzen fehlten dauernd. 
Anderererseits waren die Stauungserscheinungen am Augenhinter- 
grund und das Auftreten einer Abducenslahmung sehr wohl auf eine 
meningeale Reizung zu beziehen. Dagegen lieBen die gleich naher zu 
beschreibenden Koordinationsstorungen der homolateralen Extremitat 
auf den Sitz der Erkrankung in der rechten Kleinhirnhcmisphare schlie- 
Ben, da im allgemeinen ein mehr halbseitig lokalisierter meningealer 
ProzeB in der hinteren Schadelgrube noch nicht zu ausgesprochenen 
halbseitigen Kleinhirnsymptomen Veranlassung zu geben pflegt. Das 
Fehlen des spontanen Nystagmus bei normaler kalorischer Erregbar- 
keit des Vestibularapparates sprach gegen das Bestehen einer absce- 
dierenden Entziindung in der rechten Kleinhirnhemisphare, da im all¬ 
gemeinen der spontane Nystagmus bei raumbeengenden Affektionen 
des Kleinhirns oder der hinteren Schadelgrube sehr bald durch Fern- 
wirkung zustande zu kommen und gesteigert zu sein pflegt. Da nun 
der fernere Verlauf zeigte, daB ohne weiteren Eingriff eine spontane 
Heilung erfolgte, wird man die Diagnose eines Kleinhirnabscesses ab- 
lehnen konnen. 

Somit scheint fur den beschriebenen Fall der Annahme einer nicht 
eitrigen Encephalitis des rechten Kleinhirns nichts mehr im Wege zu 
stehen, wenn auch zugegeben werden muB, daB eine Kombination mit 
leichten meningealen Veranderungen moglich ist und ein Teil der Sym- 
ptome vielleicht aufdiese zuriickzufuhren war; so namentlich die Stau- 
ungspapille und die Abducenslahmung. 

Besondere Beachtung verdient nun in diesem Falle das gleichzeitige 
Auftreten einer Adiadochokinese, die auch auf das Facialisgebiet sich 
erstreckte; ferner bestand ein auffalliges Zittern der Lippenmuskulatur. 
Diese Symptome bediirfen deswegen einer besonderen Beachtung, weil 
in diesem Falle die sonstigen Zeichen cerebellarer Erkrankungen fehlten, 
und zwar das Rombergsche Phanomen, die Hemiataxie, die Hemi- 
hypotonie und die cerebellaren Gangstorungen. — 

Zwei Fragen sind nun zu stellen: Spricht das isolierte Auftreten der 
Adiadochokinese fur Sitz der Erkrankung im Cerebellum, oder kommt 
es auch bei anders lokalisierter Erkrankung vor, z. B. bei Sitz der Er¬ 
krankung im GroBhirn, speziell im Corpus striatum; und wenn das der 
Fall ist, lassen sich die bei extracerebellaren Erkrankungen zu beobach- 
tende Bewegungsverlangsamung von der echten bei Kleinhirnerkrankun- 
gen vorkommenden Adiadochokinese unterscheiden? 

Bekanntlich finden sich unter den striaren Symptomen neben 
den Erscheinungen des Rigors und Tremors auch Verlangsamungen 
der Innervationsleitung, d. h. erschwertes Ingangkommen des mus- 
kularenApparatesund verlangsamtes Nachlassender Muskelkontraktion, 


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Mit einem Beitrag iiber das Symptom der Adiadochokinese. 


91 


also eine Adiadochokinese. Auch Stertz hat bei Encephalitis epidemica 
solche Bewegungsverlangsamungen nach Art der Adiadochokinese 
zusammen mit cerebral bedingten Schmerzen in der paretischen Ex- 
tremitat beschrieben 1 ). 

Es kommt nun also darauf an, zu untersuchen, ob in unserem Falle 
die beobachtete Bewegungsverlangsamung als eine Kleinhirn-Adia¬ 
dochokinese aufzufassen ist oder als eine Bewegungsverlangsamung 
nach Art der Adiadochokinese bei striarer Erkrankung, fiir die jedoch 
bier sonst keine Symptome weiter vorhanden gewesen sind. 

Die Stoning, um die es sich handelt, gehort in die Gruppe der von 
Luciani als Dysmetrie bezeichneten Bewegungsstorungen bei Er¬ 
krankung des GroBhirns oder Kleinhirns 2 ). Babinski bezeichnete als 
Diadochokinese die Fahigkeit zu einer raschen Aufeinanderfolge von 
antagonistischen Bewegungen und sprach von Adiadochokinese (alpha- 
privativum; diadochos — aufeinander-, nachfolgend; kinesis=Bewegung), 
wenn eine Verlangsamung in der Aufeinanderfolge der antagonistischen 
Bewegungen in der erkrankten Extremitat gegeniiber der gesunden 
zu beobachten war. Babinski stellte als erster fest 3 ), dab bei Erkran- 
kungen des Kleinhirns eine Stoning der Diadochokinese derart zustande 
komme, daB bei vollig erhaltener Kraft nur die Schnelligkeit der Auf¬ 
einanderfolge der Bewegungen beeintrachtigt ist. Der Wert dieses 
Symptoms 1st auch nach Oppenheims Erfahrungen 4 ) nicht gering 
anzuschlagen, aber es miiBte mit geniigender Kritik beurteilt werden. 
So ist die linke Hand hiiufig schon in der Norm weniger geschickt als 
die rechte. Ferner gibt es Individuen, bei denen von Haus aus die Bewe- 
gutigsfolge eine ungewohnlich langsame ist. Mehrfach fiel dem eben 
erwahnten Autor eine ,,physiologische Adiadochokinese*' bei Kin- 
dern auf. 

Es gibt nun aber, wie gesagt, auch anders lokalisierte Krankheiten, 
die mit einer Verlangsamung der Bewegungen, besonders an den dista- 
len Gliedabschnitten, einhergehen konnen, wie z. B. die Paralysis agitans. 
Wir haben noch kein Recht, meint Oppenheim an jener Stelle, dieses 
Symptom hier ohne weiteres auch auf das Kleinhirn zu beziehen, da 
eine Kleinhirnaffektion bei der Paralysis agitans ja nicht erwiesen ist. 
Es ist aber doch moglich, daB trotzdem eine Bceintrachtigung cerebel- 


1) Der extrapyramidale Symptomenkomplex und seine Bedeutung in der 
Neurologie. Abhandlungen aus der Neurol., Psychiatr., Psychol, und ihren Grenz- 
gebieten. H. 11. 1921. 

2 ) Luciani hebt hervor, daB jene Storung beim Affen viel klarer in die Er- 
scheinung tritt als beim Hunde, und daB namentlich die vorderen Extremitaten 
die Dysmetrie hier viel deutlicher zeigen. 

3 ) Rev. neurol. 1902, u. Rev. mens, de m6d. 1909. 

4 ) Lehrbuch der Nervenkrankheiten. Berlin. S. Karger. 1913. 


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92 K. Marquard: t)ber ungewbhnlich lokaliaierle Encephalitisforraen nach Grippe. 


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larer Funktionen, speziell der reflektorischen, automatischen Inner- 
vationsbereitschaft in den Muskelgruppen bei kombinierten Bewegungs- 
akten eine Rolle spielt. 

Bei der Besprechung der von Babinski beschriebenen Asynergie 
cerebelleuse betont Oppenheim beziiglich des diagnostischen Wertes 
der Adiadochokinese (,,d. h. Verlangsamung der Bewegungsfolge z. B. 
der Pro- und Supination in nicht paretischen GliedmaBen 11 ) nochmals, 
es lieBe sich etwas GesetzmaBiges nicht aussagen, wenn auch zuzugeben 
ware, daB die Erscheinung bei Cerebellarerkrankungen haufig vor- 
kommt und in der Regel der Seite der Erkrankung entspricht. Am 
ausgesprochensten fand er dies Zeichen nach operativen Eingriffen am 
Kleinhirn. 

Die Adiadochokinese kommt haufig zusammen mit cerebellarer 
Ataxie vor, welche die oberen GliedmaBen in viel geringerem Grade 
zu befallen pflegt als die unteren 1 ); zuweilen scheint die Ataxie die 
oberen GliedmaBen sogar vollstandig zu verschonen. Man muB anneh- 
men, daB beim Menschen die Arme dem koordinierenden Einflusse des 
Kleinhirns nur in beschranktem MaBe unterworfen sind, infolge ihrer 
gering'ren Bedeutung fur die Gleichgswichtierhaltung. 

Es gibt aber auch Falle, in denen die Adiadochokinese ziemlich 
isoliert beobachtet wird, ohne daB einseitige ataktischeS torn ngen gleich- 
zeitig vorht nden sind. 

Zum Verstandnis der Symptome einer halbseitigen Kleinhirnbe- 
schadigung mochte ich noch von dem, was in der Literatur tiber die 
Adiadochokinese niedergelegt ist, weitere Mitteilung machen. 

In einer Arbeit iiber die Lokali.-ation der Kleinhirnerkrankungen 2 ) 
fiihrt Bing aus, daB die cerebellare Ataxie sich khnisch wesentlich von 
der Inkoordination infolge Lasion hinterer Riickenmarkswurzeln unter- 
scheide. Sie bekunde eine deutliche Pradilektion fiir die sog. Gemein- 
schaftsbewegungen, d. h. diejenigen Bewegungen, welche das Zusammen- 
arbeiten au. g.dehntcr Muskelgruppen erfordern. (Cerebellare Asynergie 
Bab inskis). Am ausgesprochensten sei die Storung an den unteren 
Extremitaten, wahrend sie an den Armen meist scliwer nachzuweisen 
sei. Unter acht Fallen herdformiger Kleinhirnerkrankungen ergab die 
Priifung auf ,,Adiadochokinesis“ dem Verfasser sechsmal ein posi¬ 
tives Resultat. 

Nach Schmidt und Liithje 3 ) besteht neben dieser Schwierigkeit, 
entgegenges etzte Muskelbewegungen schnell hintereinander auszu- 
ftihren, oft auch Nystagmus und fast immer Drehschwindel; nicht 


i) Bing, Lehrb. d. Nervenkrankh. Berlin u. Wien. 1913. 
z ) Dtsch. med. Wochenschr. 38, 881. 1912. 

3 ) Klin. Diagnostik. F. C. W. Vogel. Leipzig 1915. 


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Mit einem Beitrag liber das Symptom der Achiadochokinese. 


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selten auch Zwangsbewegungen (Reitbahnbewegungen); letztere spre- 
chen fiir die Affektion der Bruekenarme auf der gleichen Seite. Mit 
der Ataxie verbindet sich auch haufig eine auffallende Hypotonie, 
speziell der unteren Extremitaten ohne Aufhebung der Sehnenreflexe. 

Lewandowski stellte diese nicht ungewohnliche Atonie leichten 
Grades immer auf derselben Seite des betreffenden Herdes im Klein- 
hirn fest 1 ); grobe Sensibilitat$storungen fand er dabei nicht. Auch 
Rothmann 2 ) bestatigt, daB die Ataxie bei einseitigen Herden auf die 
gleichseitigen Extremitaten beschrankt sein kann. Sie ist nach seinen 
Erfahrungen fast immer mit einer cerebellarcn Hypotonie verbunden, 
wahrend die Sehnenreflexe bald fehlen, bald sogar gesteigert sind. 

E. Pesch 3 ) beschrieb zwei Falle von Kleinhirntumoren (mit volliger 
Heilung durch Operation), bei denen die Ataxie, bzw. die Adiadocho- 
kinese, sich nur in einer Ungeschicklichkeit der Rumpfbewegungen kund- 
getan hatte. 

Und in einem Beitrag zu den klinischen Symptomen von Klein- 
hirnaffektionen glaubt G. Roncoroni die Kleinhirnasynergien und 
die Adiadochokinese 4 ) ebenfads mit der unvollkommenen Funktion der 
koordinatorischen Zentren der Zerebrospinalaxe, die ganzlich oder zum 
Teil einer entiprechenden Verstarkungswirkung beraubt sind, in Be- 
ziehung bringen zu konnen, wahrend die Asthenie mit der fehlenden 
Verstarkung-swirkung des Kleinhirns auf das ganzc neuromuskulare 
System in Zusammenhang steht. 

Obwohl auch bei Affektionen anderer Hirnteilc diese Bewegungs- 
storung, die Adiadochokinese, beobachtet wurde, hat Mingazzini — 
und er befindet sich dabei, wie er angibt, in Obereinstimmung mit 
anderen Klinikern, deren Ansicht hieriiber er fiir die richtigc halt — 
trotzdem die Meinung, daB es sich urn ein echtes Kleinliirnsvmptom 
handele. Bruns hatte die Gelegenheit, dies Symptom im rechten Arme 
eines Individuums, welches von einem Tumor im Lobulus parietalis 
sinister befallen war, wahrzunehmen. Mingazzini hat es in einem 
Falle von Pachymeningitis basilaris cerebralis chronica (fibrosa) von 
wahrscheinlisch luetischer Natur, die sich von den Pes pedunculi bis 
zum distalen Ende der Briicke erstreckte, beobachtet. 

Eine zuweilen beobachtete Dysarthrie (verlangsamte scandierende 
Sprache) konnte — nach Liepmann — wenn sie nicht einer Druck- 
wirkung auf die bulbaren Sprachkerne entspringt, von dem Fortfall regu- 
latorischer Kleinhirneinfliisse (analog der Adiadochokinese) herriihren 5 ). 

i) Im Lehrbuch d. Nervenkrankli., hcrausgeg. v. H. Curschmann. 1909. 

-) Mohr u. Staehelin, Handb. d. inneren Krankli. Bd. 5. 

:J ) Inaug. Dise. Kiel 1919. Ref. im Zentralbl. f. Neurol. 40. S. 218. Erg.-Bd. 

*) Ital. Riv. di patol. nerv. e raent. XX. 1915. Fasc. 6. Ref. wie 3 ). 

3 ) In H. CurBchmanns Lehrbuch. 1909. S. 431. 


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1)4 K. Marquard: t)ber ungewohnlich lokalisierte Encephaliti.sformen nach Grippe. 


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Hierzu beschreibt Fischer einige interessante Falle mit typischeu 
Kleinhirnataxien, bei denen irgendwelche Zeichen fiir eine Las ion der 
Pyramidenbahnen vollends fehlten. Die auf eine Kleinhirnstorung zu 
beziehenden Symptome waren: Schwindel, ausgesprochene Astasie und 
Ab&sie und eine typische Adiadochokinese. Dabei waren auch die 
feineren Bewegungen, namentlich der Hande, erschwert, ohne daB — 
was nochmals zu bctonen ist — auch ein einziges Symptom fur eine 
Mitbeteiligung der Pyramidenbahn oder eine Erkrankung des GroB- 
hirns gesprochen hatte. Bei einem in Genesung iibergegangenen Fall 
der von Fischer mitgeteilten Polioencephalitis-Erkrankungen von unbe- 
kannter Atiologie glaubt der Verfasser, daB auBer kleinen hamorrhagi- 
schen Herden in der Okulomotoriuskern-Gegend noch andere in den 
Bindearmen sich befunden hatten, welche doppelseitig ergriffen waren, 
doch muB diese Erkrankung auf der einen Seite intensiver gewesen 
sein, da die Motilitatsstorung der linken Extremitaten fruher versohwand. 
Dabei ist noch eines besonderen Symptoms zu gedenken: In einem 
Stadium der Rekonvaleszenz, in welchem die linke Seite bereits eine 
normale Motilitat erlangt hatte, bemerkte der Kranke (was auch objek- 
tiv nachweisbar war), daB nicht nur die rechten Extremitaten, sondern 
auch die rechte Gesiehtshalfte langsamer der willkurlichen Innervation 
folgten. Die genauere Beschreibung lautet: 

„Die linke Nasolabialfalte ist etwas in die Hohe gezogen, die rechte steiler 
und seichter; bei jeglicher willkiirlicher Innervation — auch von der geringsten 
Intensitat — gleicht sich die Differenz sofort aus; die Zunge weicht eine Spur 
nach rechts ab. Beim Bcobachten des Kranken hat man den Eindruck, daB ihm 
beim Sprechen gerade der schnelle Gbergang einer Mundstellung in die andere 
Schwierigkeiten verursacht. — Cber die Adiadochokinese an den Fingern: Patient 
merkt diese Ntorung selbst und sagt, er babe das Gefiihl, wie wenn er gegen einen 
elastischen Widerstand ank&mpfen miiBte, so steif seien seine Extremitaten. 
Dabei besteht aber keine Spur einer Verminderung der Kraft der Muskeln. auch 
keine Spur von Hypertonie oder Hypotouie. Die Schrift ist hochgradig gestort: 
er kann kaum die einzelnen Schriftzeichen zusammenbringen, kleinere Schrift - 
zeichen iiberliaupt nicht, groBere sehr ungeschickt, wobei er langsam, wie malend. 
die Linien zieht. Auch hat er dabei das Gefiihl des elastischen Widerstandes. Das 
Nachzeichnen geht ebenfalls schlecht; gerade Linien bringt er ganz gut zustande. 
bei welligen tritt die Storung sehr deutlich und prompt hervor. — Das Lesen 
von Druck und Schrift ist ungestort, die Sprachstonmg dabei etwas weniger 
stockend als beim Spontansprechen. 

Nach etwa einem Monat bemerkte Patient auch bei willkurlichen Verziehungen 
der Geeichtsmuskulatur, daB die linke Gesiehtshalfte viel besser und prompter 
folgt als die rechte. Schnelles sich wiederholendes Heben und Senken des Mund- 
winkels gelingt rechts viel sc.hlechter als links. Die seitliche Beweglichkeit der 
Zunge zeigt keine Differenz. 

Nach einem weiteren Monat, als die Motilitatsstdrungen in den iibrigen Ge- 
bieten schon fast vollkommen geschwunden waren, auch das Schreiben wesentlich 
besser, die Sprache sogar ganz ungestort geworden war, hatte Pat. — rein sub- 
jektiv — noch das Gefiihl einer Erschwerung der Aussprache. 


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Mit einem Beitrag liber das Symptom der Adiadochokinese. 


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Eret ein halbes Jahr spater war die Schrift beinahe wie vor der Erkrankung, 
die Ausspraclie ganz normal; Pat. hatte auch nicht mehr das Gefiihl des Wider- 
standes beim Sprechen; aber eine Differenz gegeniiber friiher besteht dennoch: 
„Vor der Erkrankung konnte er von selbst sprechen, jetzt muB er darauf aclit 
geben; ein ahnliches Gefiihl habe er auch noch beim Schreiben und Gehen“. 

Eine derartige Abhangigkeit der Gesichtsmuskulatur von der Klein- 
hirntatigkeit, bemerkt Fischer weiter, ganz im Sinne der Adiadocho¬ 
kinese, ist in der Literatur bisher nicht erwahnt. 

AuBer den genannten Motiliatsstorungen war in seinem Falle auch 
eine ganz eigentiimliche Y T eranderung der Sprache vorhanden, die sich 
von den gewohnlichen Sprachstorungen wesentlich unterschied. 

Beinahe in alien Fallen von Polioencephalitis haemorrhagica wird 
von einer Stoning der Sprache, die als lallend und schwer verstandlich 
bezeichnet wird, gesprochen, ohne daB aber die Frage nach der Patho- 
genese derselben beriihrt wurde. Man ware geneigt, die Sprachstorung 
bei diesen Fallen, bei denen multiple Blutungen in der Nahe der die 
Sprachmuskeln innervierenden Zellgrappen anzunehmen sind, mit einer 
Affektion dieser Zellgruppen zu erklaren. Der Verfasser hatte nun in 
seinem Falle Gelegenheit, die Sprachstorung durch die lange Zeit der 
Rekonvaleszenz zu beobachten, und es zeigte sich hierbei, daB das 
Charakteristische dieser Stoning darin bestand, daB die schnelle und 
abwechselnde Bewegung der einzehien Sprachmuskeln und das geord- 
nete Zusammenwirken (die Diadochokinese) in ihrem Ablauf gehemmt 
waren. Eine ahnliche Stoning zeigt sich aber auch in der gesamten 
Korpermuskulatur in der Form der Adiadochokinese Babinskis. Diese 
ist ein ausgesprochenes Kleinhirnsymptom, und deshalb miiBten wir 
auch die Sprachstorung als eine Folge der Stoning der Kleinhirnfunk- 
tion ansehen. fiber Storungen der Sprache infolge von Kleinhirn- 
erkrankungen finden sich aber in der Literatur recht wenige Angaben. 
Wiederholt wird von Affektionen dieses Organes, besonders atrophi- 
scher Art, berichtet, in deren Verlauf es zu einer Verlangsamung und 
Verschlechterung der Sprache kam, von manchen wurde auch die Sprach- 
storung als eine Art von Kleinhirnataxie erklart (Menzel 1 ), StrauB- 
ler 2 ) u. a.). Mit besonderem Nachdruck hat erst Bonhoeffer 3 ) auf 
die cerebellare Sprachstorung hingewiesen, zu deren Studium ihm ein 
Fall mit einem postoperativen Kieinhirndefekt Gelegenheit geboten 
hat. Die Sprache war verlangsamt und besonders ungeschickt, wenn 
es zu schnellerem Sprechen kam, es war, wie sich Bonhoeffer aus- 
driickt, ,,die Sprachgeschwindigkeit herabgesetzt, und zwar liegt das 
offenbar daran, daB der tlbergang von einer Mundstellung zur anderen. 


1) Arch. f. Psychiatr. u. Xervenkrankh. 22. 

2 ) .lahrb. f. Psychiatr. u. Xeurol. 27. 

3 ) Monatsschr. f. Psychiatr. u. Neurol. 24. 


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K. Marquard: Ober ungewohnlich lokalisierte Encephalitisformen nach Grippe. 


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wie ihn das fortfahrende Sprechen erfordert, dem Kranken Miihe 
macht“. Auch Bonhoeffer faBt diese Stoning als eine Art Adiadocho- 
kinese auf, die aber in seinem Falle selbst im iibrigen gefehlt hatte. 
Weiter beschrieb Liebscher 1 ) einen Fall von Kleinhirntumor, bei 
dem auch eine alinliche Storung der Sprache beobachtet wurde. 

Bei einer Motilitatsstorung von der Art der Kleinhirnataxie sollte 
man nun auch von vornherein eine Beeintrachtigung der Schrift erwar- 
ten, da doch die Schrift das Resultat feinst-koordinierter und genau 
modulierter Bewegungen ist. In der Literatur wird nirgends etwas 
davon erwahnt, auch in der neuesten Bearbeitung der Kleinhirnerkran- 
kungen von Mingazzini 2 ) wird nur von einer Storung der Schrift 
als Folge eines bei Kleinhirngeschwiilsten vorkommenden groben 
Tremors gesprochen. In Fischers Fall fehlte aber der Tremor, und 
die Schreibotorung hatte einen ganz besonderen Charakter: GroBe Buch- 
staben konnte der Patient recht gut schreiben, bei kleinen Buchstaben 
und Schriftzeichen, besonders aber, wenn er schnell schreiben sollte, 
wurde die Schrift unleserlich, beinahe wie die eines vollkommen Agra- 
phischen. 

Ein absolut zwingender Beweis fiir die Richtigkeit der hier gege- 
benen Auffassung von der Pathogenese der genannten Storungen kann, 
da es zur Sektion nicht kam, natiirlich im Falle Fischers auch nicht 
gegeben werden. Als ein wesentliches und nicht zu unterschatzendes 
Beweismoment aber sei noch erwahnt, daB sich hier die Kleinhirn¬ 
ataxie und die Sprach- und Schrift->torung in ziemlich gleichem Tempo 
zuriickgebildet haben. 

Bei einem Madchen mit Kleinliirntumor 3 ), der bei der Operation 
gefunden, aber nicht entfernt werden konnte, bestand Gesichts-Adia- 
dochokinese. Die Autopsie wurde verweigert, so daB auch hier der anato- 
mischen Grundlage nicht weiter nachgegangen werden konnte. Wah- 
rend der letzten Wochen zeigte die Kranke eine starke Adiadocho- 
kinese, die zwar im linken Arm am deutlichsten war, aber auch im 
linken Bein bestand, jedoch nicht in dem MaBe wie im Arm; es bestand 
auBerdem noch eine deutliche Hemiataxie. Im Gesicht erwiesen sich 
die oberen Facialisaste weniger stark von der Adiadochokinese befallen 
als die unteren. Auch das Platysraa nahm etwas an der Bewegungs- 
verlangsamung teil. 

Cber das Vorkommen von Adiadochokinese bei einem Sjahrigen 
choreatischen Madchen 4 ) berichteten H. G re net und P. Lou bet. 
Neben den Symptomen einer Affektion der Pyramidenbahnen: Herab- 

1) Wien. med. Wochenschr. 1910. Nr. 8. 

2 ) Siehe Literaturverzeichnis am Schlusse dieser Arbeit. 

3 ) Beobachtet in der Univ.-Poliklin. f. Nervenkranke, Rostock. 

4 ) Bull, de la hoc. de pM. de Paris v. 25. 4. 1912. »S. 162—165. 


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Mit einera Beitrag iiber das Symptom der Adiadochokinese. 


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setzung dergroben Muskelkraft undassoziierten Mitbewegungen, fanden 
sich auch solche, die auf einen cerebellaren Sitz der Erkrankung hin- 
wiesen: Inkoordination und Adiadochokinesis. Auf diese ware jedoch 
kein besonderer Wertzu legen: Witzinger, der dariiberreferiert, meint, 
daB die Symptome von Bewegu ngsbehinderu ng auch durch die chorea- 
tischen Mitbewegungen vorgetauscht werden konnten 1 ). 

In einem Bericht iiber Storungen der Diadochokinese im Verlauf 
der Chorea glaubt jedoch auch Marfan feststellen zu diirfen, daB die 
Adiadochokinese eines der ersten Symptome fur den Beginn der Erkran¬ 
kung ist. Sie fande sich auch noch lange nach der scheinbaren Abheilung 
<lieser Krankheit als ein Zeichen, daB sie noch nicht ganz erloschen sei. 

Auch bei der progressiven Paralyse wurden Beziehungen zu der 
in Rede stehenden Bewegungsstbrung gefunden. Nach W. Spiel- 
ineyer sind von hoheren motorischen Storungen, die sich als Partial- 
defekte der geistigen Schwache auffassen lieBen, die apraktischen und 
dyspraktischen Symptome und die Adiadochokinese (Babinski) zu 
nennen 2 ). Let/tere zeige sich in der Unfahigkeit der mit Paralyse Behaf- 
teten, schwierigere Bewegungen, wie etwa AugenschlieBen, Zunge- 
zeigen, Handeherausstrecken und Ahnliches korrekt, u. U. mehrmals 
hintereinander auszufiihren. 

Ferner fand Striimpell Gelegenheit, eingehende Beobachtungen 
-an einem Manne anzustellen, bei dem infolge einer Stichverletzung des 
Halsmarkes eine totale Aniisthesie der Haut und ein Verlust des Muskel- 
sinnes am rechten Arme bis hinauf zur Schultergegend eingetreten 
war 3 ). Dabei war keinerlei Lahmung vorhanden. Die Bewegungen im 
anasthetischen Arme w r aren in hohem Grad ataktisch. Gewisse koor- 
dinierte Bewegungen, insbesondere der Finger konnte der Patient nur 
ausfiihren, wenn er auf die Hand hinsah, nicht aber bei geschlossenen 
Augen 4 ). 

Es bleiben noch zwei Arbeiten zu erwahnen, die sich ausfiihrlicher 
mit unserem Phanomen beschaftigt haben. Stertz glaubt (in der schon 
oben erwahnten Abhandlung iiber den extrapyramidalen Symptomen- 
komplex) die Verlangsamung des Innervationsvorganges, die nach ihm 
eine gewisse Selb.standigkeit gegeniiber der Hypcrtonie behauptet, als 
ein Primarsymptom des akinetisch-hypertonischen Syndroms ansehen 
zu konnen. Er sagt dort folgendes: 


!) Zentralbl. f. inn. Med. 1912. Bd. III., S. 475. 

2 ) In Lewandowskis Handbuch d. Neurol. Bd. III. 1912. 

3 ) Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. 23, S. Iff. 

4 ) Zit. nach Bunge, Lehrb. d. Physiol, d. Menschen. 1905. — Dort finden 
sich auch interessante Beobachtungen iiber die Unterschiede der sonsorischen 
und motorischen Ataxie und iiber die verschiedene Bedeutung des Muskelsinnes 
nnd des Tastsinnes fiir das Zustandekommen der Bewegungen. 

Archiv fUr Psyclilatrie. Bd. 07. 7 


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08 K. Marquard: t v ber ungewbhnlich lokalisierte Encephalitisformen nach Grippe. 


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„.. . Und es liegt der Gedanke nicht ganz fern, hierin eine Stoning der rezi- 
proken Innervation Sherringtons zu erblicken. Sherrington hat gezeigt, daB 
gesetzmaBig der Innervation eines Muskels die Erachlaffung seines Antagonisteu 
vorausgeht. Eine Stoning in diesem Mechanismus konnte wohl zu der hier in 
Rede stehenden Anderung des Innervationsablaufes fiihren. Denn der Muske! 
muB dann die Kontraktion gegen den Widerstand seines (nicht erschlafften) Anta- 
gonisten Ieisten, und seine Erachlaffung, deren Voraussetzung wieder die Inner¬ 
vation des Antagonisten ist, hat nun unter dem gleichen fehlerhaften Mechanis- 
mus zu leiden. Vielleicht lieBe sich eine Bestiitigung dieser Annahme auf experi- 
mentellem Wege erbringen. 

In naher Beziehung dazu steht nun eine sehr auger.fallige Beeintrachtigung 
rascher Bewegungsfolgen ganz besondera agonistisch-antagonistischer Art, auf die 
bereits Kleist. Zingerle fiir die Paralysis agitans, fur unsere Falle v. Striiin- 
pell, Rausch und Schilder u. a. aufmerksam gemaciit haben. Wir sehen, 
daB diese Bewegungsfolgen — sofern sie iiberhaupt geleistet werden kbnnen, 
was nianohmal nur noch andeutungsweise oder selbst gar nicht der Fall ist — 
nach kurzer Zeit unvollkommener werden und schlieBlich — oft schon nach einigen 
wenigen Einzelphasen — unregelmaBig werden untl ganz erloschen. Da es bei 
diesen Bewegungsfolgen (Diadochokinesis) ganz besondera auf promptes An- und 
Abklingen der Innervation ankommt, so ergibt sich diese Form der Adiadocho- 
kinesis als eine notwendige Folge aus der vorerwahnten Grundstorung. Der erste 
Eindruck bei derartigen Verauchen ist der einer raschen Ermildbarkeit, die sich 
nach der Art der myasthenischen ReaktionsweLse bis zur temporaren Lahmung 
steigert. Es fehlen aber — auch elektrisch —- alle Kennzeichen der Myasthenic, 
und die unmittelbar nach dem Erlahmen der Bewegungsfolge ausgefiihrte Unter- 
suchung der Einzelbewegung ergibt, daB ein paretischer Zustand nicht die Ursache 
der Eracheinung sein kann. Erechbpft ist nur das Vermogen der Umschaltung 
der agonistischen in die antagonistischen Innervationen. Die erste ist noch nicht 
abgelaufen, wenn die zweite beginnt, die letztere kann daher nur gegen einen 
Widerstand zur Geltung kommen, und die Summierung dieser Fehler muB uin so 
rascher zum Erliegen der Leistung fiihren, je ausgepragter die Storung der Einzel- 
innervation ist und je geringer die Reservekrafte zum t)berwinden der sich stei- 
gernden Wideretande sind. Daher finden wir, daB auch die Adiadochokinese dio 
scliwacheren Muskelgebiete am ehesten und starksten befallt, die gleichen Gebiete, 
die sich auch bei der Grundstorung, mit der sie Hand in Hand geht, als vorwiegend 
betroffen erweisen: So die abwechselnden Adduktions- und Spreizbewegungen 
der Finger, dann die Pro- und Supination, das Zehenspiel usw. Aber auch die 
proximalen Muskelgruppen vertragen schlieBlich schnellere Bewegungsfolgen nicht 
iiber eine beschrankte Zahl hinaus, dann erlahmen sie. Bestehende Hypertonie 
bedeutet auch hier einen Zuwachs der Storung, aber keine unablassige Bedingung 
dereelben. Was die Sprache anbetrifft, so ist ihr jeweilig vdlliges Erloschen nach 
kurzer Zeit wohl sicher auf diese adiadochokinetische Innervationsstorung zuriick- 
zufiihren, und darin ist das zweite Moment der Sprachstorung unserer Kranken 
zu sehen. Dasselbe gilt fur den Schluck- und Kauakt, je rascher er funktionieren 
soil. In der manuellen Hilflosigkeit der Kranken, die schon das vorhypertonische 
Stadium kennzeichnet, der Unfahigkeit, etwa eine Trillerbewegung zu machen 
oder einen Knopf zuzuknbpfen oder auch eine Anzahl tiefer Atemzuge schnell 
hintereinander zu machen, erkennen wir die gleichen Behinderungen wieder...“ 

Lot mar hat im Jahre 1913 das Wesen der Adiadochokinese naher 
z.u erortern versucht. In dieser Arlieit wendet er sich gegen die Aus- 
fiihrungen von Gregor und Schilder, welche in der Abnahme der 


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Mit einem Beitrag iiber das Symptom der Adiadochokinese. 


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Kontraktion — entgegen der Definition Babin skis — das wesentliche 
Merkmal jener Erscheinung sehen und dabei auch spastische (anstatt 
nur hypotonische) Zustande miteinbeziehen. Die von diesen Autoren 
in einem Falle von Paralysis agitans beobachtete Bewegungsstomng 
sei als ,,pseudomyasthenische“ zu bezeichnen, sie stelle aber nicht 
das wesentliche Merkmal der Babinskischen Adiadochokinese dar. Auch 
denjenigen Autoren, welche das Wesen der Adiadochokinese in einer 
Nachdauer der willkiirlichen Muskelkontraktionen sehen wollen (Kleist 
und Lewandowski), die auf Steigerung des ,,proprioceptiven“ oder 
Eigenreflexes des jeweiligen Agonisten (im Sinne der ,,Dehnungsreflexe“ 
Sherringtons) beruhe, stimrat Verfasser nicht bei. Gegen eine solche 
Deutung sprache vor allem der Umstand, daB die maximalen Geschwin- 
digkeitsleistungen der Diadochokinesis gerade bei moglichst kleinen 
Exkursionen, also bei minimalster passiver Dehnung der jeweiligen 
Antagonisten, erreicht werden: sodann ware die Reflexzeit fur diese 
mit Trillergeschwindigkeit ablaufende Bewegungsfolge viel zu kurz. — 
Diese Nachdauer sei wohl bei Kleinhirnaffektionen zu beobachten, 
ohne daB sie aber einen ausreichenden Grund fur die Adiadochokinese 
bilde. Zur Mitwirkung konnte sie allerdings beitragen. Lotmar gelangt 
auf Grund weiterer hier nicht im einzelnen wiedemugebender Eror- 
teningen zu der Annahme, daB die Adiadochokinese mindestens zum 
Teil auf einer Stoning der fur die Bindung rascher willkiirlicher Pendel- 
bewegungen notwendigen succesiven Induktion oder eines verwandten 
zentralen Mechanismus beruht, und daB Lasion des Kleinhirns oder 
der Kleinhirnsysteme eben diese Stoning im Gefolge haben konne. 
Die Stoning der successiven Induktion (Sherrington) hat ein Fehlen 
des normalen RiickstoBes, des unwiUkiirlichen Kontraktionsvorganges 
in den Antagonisten zur Folge, indem die mit der Agonistenkontrak- 
tion verbundene Hemmung des Antagonistenzentrums zu einer t)ber- 
erregbarkeit eben dieses Zentrums und zu einer nachfolgenden spontanen 
Entladung desselben fiihren kann. Eine Ausschaltung des RiickstoBes 
i8t aber nach Lotmar von grundlegender Bedeutung fiir das Zustande- 
kommen der Adiadochokinese. Lotmar leugnet auch, daB die Dys- 
metrie eine betrachtliche und sogar vorwiegende Rolle in der Erzeu- 
gung der Adiadochokinese spiele, wie Thomas meint. Der Dysmetrie 
und der Adiadochokinese liege vielmehr als ein beiden Zustanden gemein- 
sames Moment eine Stoning der Antagonisteninnervation zugrunde. 

Der Fortfall der proprioceptiven Dehnungsreflexe der jeweiligen 
Antagonisten soli keine besondere Bedeutung fiir das Zustandekommen 
der Adiadochokinese haben, indem der RiickstoB nicht einfach als 
proprioceptiver Reflex der durch die Bewegung passiv beanspruchten 
Antagonisten aufgefaBt werden kann (M. Isserlin). 

Die Zuriickfiihrung diadochokinetischer Bewegungen ausschlieB- 

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100 K.Marquard: Uber ungewohnlich lokalisierteEncephalitisformen nacli Grippe. 


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lich auf reflektorischc Mechanismen .soli also nieht durchfuhrbar sein. 
Der Anteil ties Kleinhirns an dein Problem der eigenartigen successively 
Koordinationsleistungen kann durch den Hinweis auf die ,,antago- 
nistischen Dehnungsreflexe 11 nieht erschbpft sein: die successive In- 
duktion eroffnet dagegen ein Verstandnis fiir die Aneinanderkettung 
einer groflen Reihe antagonistischer Pendelbewegungen in einem ein- 
zigen Willkiirakt durch zentrale, von Reflexen weithin unabhangige 
Yorgange, wobei Lot mar es dahingestellt sein laBt, ob das Zentrum 
dieser successiven Induktion im Kleinhirn selbst gelegen ist, oder ob 
dieses Organ die entsprechenden kortikalen und subkortikalen motori- 
schen Zentren indirekt beeinfluDt. Bruns hangt hieran die Frage, 
ob denn dazu keine Reflexzeit notwendig ware und welche Reize iiber- 
haupt diesen Vorgang veranlaBten — ohne seinerseits auf eine Eror- 
terung dieses Problems einzugehen. 

Ist schon die Erklarung des physiologischen Ablaufes der normalen 
Diadochokinese auf Schwierigkeiten gestoBen, um so mehr noch ist 
die Adiadochokinese, im besonderen deren anatomisch-pathologische 
Grundlagen bis jetzt einer einwandfreicn Erklarung und anatomischen 
Lokalisation verschlossen gebheben. 

Fickler beriolitet iiber erworbene Cerebellar-Ataxie, speziell ence- 
phalitisehe, die durch Infektionskrankheiten und Insolation hervor- 
gerufen wurden. Als anatomischer Befund crgab sich im akuten Sta¬ 
dium: Multiple encephalitische Horde, toxische Degeneration der 
Ganglienzellen. Bei Defektheilung: herdformige Degeneration mit 
sekundarer Sklerose und GefaBveranderungen; Meningitis. Non ne 
beschreibt mehrere Falle 1 ) zu den im obigen angefiihrten Symptomen- 
komplexen aus einem groBeren Material (das er besonders auch inner- 
halb des Krankenhauses beobachten konnte), bei welchen Patienten 
es nach Influenzaerscheinungen zu einer Kleinhirnstorung gekommen 
ist. Er glaubt, daB es noch dahinstehen miisse, welche Teile des Klein¬ 
hirns im speziellen die zu inculpierenden sind, da wir die Differential- 
diagnose zwischen der Lokalisation in den verschiedenen Teilen des 
Kleinhirns selbst und den von ihm durch die Bindearme ins GroBhirn 
fiihrendcn Bahnen zu stellen heute noch kaum in der Lage waren. 
Nur das ginge aus den vielfachen klinischen und experiraentellen Er- 
fahrungen hervor, daB in den Fallen, die die wesentlichen Ziige des 
oben besprochenen Symptomenbildes zeigttm, sich palpable Anomalien 
an mehr oder weniger ausgedehnten Partien jener groBen Bahn zeigten, 
welche von den Kleinhirnseitenstrangen des Riickenmarks durch die 
Oliven, das gekreuzte Corpus restiforme ins Kleinhirn und von dort 
weiter durch die Bindearme ins GroBhirn fiihrt. Die Unversehrtheit 


l ) In der Festschrift fiir Erb — 1900; siehe d. Literaturverz. am Schlusse. 


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Mit einem Beitrag liber das Symptom der Adiadochokinese. 


101 


dieser Bahn miis.se man fur die Erhaltung des Kdrpergleichgewichts 
und der Koordination verantwortlich machen. 

In einem pathologisch-anatomischen Beitrag znr Funktion des 
Kleinhirns fa!3t Sander die Ergebnisse zusammen: Einmal zeigten 
gerade die Untersuchungcn der letzten Zeit, welche groBe Bedeutung 
den grauen Kernen im Innern der Kleinhirnhemisphare, besonders 
dem Nucleus dentatus, fiir die Funktion dieses Organs zukommt, und 
daB selbst groBe Krankheitsherde im Kleinhirn ohne wesentliche 
Symptome verlaufen konnen, wofern der Nucleus dentatus und seine 
Verbindungen mit der Briicke und dem verlangerten Mark erhalten 
bleiben. Fernerhin sei aber auch wohl klar, daB Storungen in der Funk¬ 
tion des Kleinhirns nur dann deutlich in die Erscheinung treten werden, 
wenn die Pyramidenbahnen, deren Tatigkeit ja besonders durch das 
Kleinhirn beeinfluBt wird, relativ intakt sind. Dies trifft aber gerade 
fiir die haufig.vten Erkrankungen des Cerebellum: die Tumoren, nur 
selten zu; diese schadigen hiiufig die motorischen Bahnen schon an 
und fiir sich derart, daB hierdurch ein Ausfall der Kleinhirntatigkeit 
vollig verdeckt werden kann. Jedenfalls sei bisher nur jene eineSeite 
der Kleinhirnfunktion, die Erhaltung des Kdrpergleichgewichts, beim 
Menschen beobachtet und deren Ausfall unter dem Nimen der cere- 
bellaren Ataxie klinisch festgelegt worden. Andere Formen der Ataxie 
dagegen, die man zuweilen bei Kleinhirnerkrankungen sail, hat man 
durch Mitbeteiligung der Briicke an dem KrankheitsprozeB zu erklaren 
versucht, und sie sind im wesentlichen auf Lasion der sensibeln Bahnen 
in der Haube zuriickgefiihrt worden. 

DaB aber in der Tat auBer der cerebellaren Ataxie noch andere 
sehr erhebliche Storungen in der Koordination der Bewegungen bei 
Kleinhirnerkrankung zu beobachten sind, bewiese ein von Sander 
angefiihrter Fall mit schweren Motilitatsstdrungen, besonders der Bewe- 
gungsfolge, die offenbar hervorgemfen ware durch die Degeneration 
des Bindearmes (auch Erkrankungen der im Verlauf der Bindearm- 
bahn eingestreuten Gangliensysteme, besonders des Corpus dentatum 
und der auBeren Kerne des Thalamus, werden offenbar Storungen 
iihnlicher Natur hervorrufen miissen) und durch den hierdurch beding- 
ten Ausfall einer bestimmten Einwirkung des Kleinhirns auf die Tatig¬ 
keit der motorischen Zentren. Der Effekt dieses Ausfalles ist der, daB 
der Kranke die Fahigkeit verliert, die motorischen Impulse in rich- 
tiger Abstufung und Starke auf die einzelnen Muskelgruppen zu ver- 
teilen und so eine koordinierte Bewegung zustande zu bringen. Die 
Muskeln, auf welche der lmpuls vorwiegend gerichtet ist, werden viel 
zu stark, andere wieder zu gering innerviert, die Starke des Impulses 
>teht in keinem Verhaltnis zu der beabsichtigten Bewegung, es konimt 
geradezu zu einer Vergeudung motorischer Kraft, und als Effekt sehen 


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102 K.Marquard: t)ber ungewohnlich lokalisierte Encephalitisformen nach Grippe. 

wir jene eigentiiralich briisken, maBlosen Schleuderbewegungen, die 
Avir als choreatisch bezeichnen. 

Zum SchluB fiihre ich noch eine Arbeit Jelgersmas iiber die System- 
erkrankungen des Kleinhirns an. Seine klinische Beobachtung bezieht 
sich auf einen alten Mann, bei dem im Laufe von 8 Jahren schwere 
Koordinationsstorungen sich entwickelten, und zwar auch an den Ex- 
tremitaten, mit tremorartigen Bewegungen des Korpers und der Arme 
und mit Gleichgewichtsstorungen. — Mikroskopisch war der Befund 
hierbei: Purkinjesche Zellen der Kleinhirnrinde schwer verandert 
und zu einem sehr betrachtlichen Teile ganz verschwunden. 

Aus dem Vergleich der klinischen und anatomischen Befunde glaubt 
Jelgersma den SchluB ziehen zu diirfen, daB die ganze Funktion des 
Kleinhirns aufgehoben werde, wenn eine einzige Art seiner parenchy- 
matosen Elemente verschwinde. Die ganze Funktion des Kleinhirns 
sei in den Purkinjeschen Zellen konzentriert; wenn diese nicht funk- 
tionieren, sei die ganze Kleinhirnfunktion ausgeschaltet. Dasselbe 
sei auch der Fall, wenn ein anderes wesentliches Element fehle, z. B. 
die Korper. Das Kleinhirn sei der Trager einer einheitlichen Funktion, 
und seine einzelnen Elemente bilden jedes fiir sich eine Etappe inner- 
halb derselben. Diese Funktion sei die Koordination der Willkiir- 
bewegungen. Jede diffuse Erkrankung des Kleinhirns offenbart sich 
in der gleichen Weise als Koordinationsstdrung, unabhangig von den 
Elementen, welche affiziert sind. 

M. Bielschowski, der iiber diese Arbeit in einem Referat be rich- 
tet 1 ), fiigt hinzu, daB er schon vor Jahren auf den systematischen 
Charakter der degenerativen Veranderungen bei den diffusen Klein- 
hirnatrophien hingewiesen und den hier von Jelgersma beschrie- 
benen Befund als zentrifugalen Degenerationstypus bezeichnet hat. 
Cber die Adiadochokinese erfahren wir auch bei ihm nichts Naheres. 
In einer fthnlichen Arbeit iiber das gleiche Thema ergeben seine Beobach- 
tungen weiter, daB die Koordination der Bewegungen vom GroBhirn 
ausgeht, wo die Muskelbewegungen in alien Einzelheiten als Bewegungs- 
bilder deponiert sind. Das Kleinhirn reguliere also nur insoweit die 
koordinierten Bewegungen, als es in das Koordinationssystem einge- 
schaltet ist. 

Am haufigsten findet sich das in Frage stehende Symptom wohl bei 
gleichseitigen Kleinhirnaffektionen, dann meist kombiniert und oft iiber- 
lagert mit Hemiataxie. Es findet sich aber auch bei Sitz der Er¬ 
krankung im GroBhirn und in den Stammganglien und kann der Aus- 
druck einer beginnenden pyramidalen Hemiparese sein. Diesen SchluB 
rechtfertigt z. B. folgende Beobachtung der hiesigen Klinik: Eine Frau 

i) Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 20, Heft 4/5. 1920. 


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Mit einem Beitrag iiber das Symptom der Adiadochokinese. 103 

von 38 Jahren erkrankte plotzlich mit Kopfschmerzen und einer Serie 
von epileptischen Anfallen, an welche sich ein Zustand von Ratlosig- 
keit und leichter Desorientierung anschloB. Au Ber einer leichten zen- 
tralen Facialisparese rechts zeigte Patientin keine weiteren Halbseiten- 
symptome. Die Pyramidenbahnreflexe waron nieht sicher nachweisbar. 
Nach einigen Wochen klagte die Frau aber iiber eine gewisse Bewegungs- 
behinderung im linken Arm und im linken Bein, welche sich bei der 
Untersuchung im wesentlichen als eine Bewegungsverlangsamung dar- 
stellte, die namentlich bei der Priifung auf Adiadochokinese zutage 
trat. Die grobe Kraft war noch nicht herabgesetzt. — Bei der Sektion 
ergab sich ein Tumor im Mark der rechten GroBhirnhemisphare, welcher 
sich nach den rechten Stammganglien und der inneren Kapsel zu ent- 
wickelte. Die Adiadochokinese links war in diesem Falle so deutlich, 
daB man auch einen linksseitigen Kleinhirntumor in Erwagung gezogen 
hatte. Ataktische Bewegungsstorungen fehlten. — 

Man wird also zu unterscheiden versuchen zwischen cerebraler, 
striarer und cerebellarer Adiadochokinese. 

Die cerebellare Form wird wohl meist durch das gleichzeitige Auf- 
t reten einer mehr oder weniger star ken, homolateralen Hemiataxie 
uiul Hypotonie charakterisiert sein. Bei Sitz der Erkrankung im Stria¬ 
tum werden Rigor und Tremor sich hinzugesellen, wahrend bei Er- 
krankungen mit Schadigung des py r a midale n Systems neben der Bewe¬ 
gungsverlangsamung nur noch die Zeichen der kontralateralen eventuell 
spastischen Hemiparese zu bestelien brauchen. 

Die Erkennung dieser letzten Form der Adiadochokinese, bei der 
es sich um eine beginnende Pyramidenbahnschadigung handelt, kann 
vielleicht durch den Scopolaminversuch erleichtert werden, in wel- 
chem bekanntlich bei schon leicht beschadigtem Pyramidenbahn- 
systera die Dorsalflexion der groBen Zehe halbseitig sich hervorrufen 
liiBt, wahrend bei Kleinhirnaffektionen und striarer Erkrankung dies 
nicht der Fall zu sein pflegt 1 ). 

In dem Falle, welcher der Ausgangspunkt unserer Betrachtungen 
iiber Adiadochokinese gewesen ist, fand sich nur die Bewegungsver¬ 
langsamung im rechten Arm, Bein und Facialisgebiet, aber keine Hemi¬ 
ataxie von einer gewissen Erheblichkeit, sondern nur ein Hemitremor 
im rechten Bein und in der Gesichtsmuskulatur. 

Man muB also bez.iiglich der speziellen Lokalisation der encepha- 
litischen Stoning in unserem Falle wieder schwankend werden und 
wird die Moglichkeit- einer Encephalitis des Striatums nicht ganz von 
der Hand weisen diirfen, obwohl, wie oben genauer ausgefiihrt wurde, 
manches fiir eine Lokalisation im rechten Kleinhirn sprach. 

x ) Vgl. hierzu: M. Rosenfeld, Uber Scojiolaminwirkungen am Nerven- 
svstem. Miinch. med. Wochensehr. 1921. Nr. 31, S. 971—973. 


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104 K. Marquard: Uber ungewohnlich lokalisierteEncephalitisformen nach Grippe 


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47. Wanderversaminliing der siidwestdeutschen Neurologen 
und Irrcnarzte am 27. und 28. Mai 1922 in Baden-Baden. 

(Einyegangen am 4. Juli 1922.) 

Anwesend die Herren: 

Allendorf-Baden-Baden, S. Auerbach-Frankfurt a. M., v. Baever- 
Heidelberg, Balluff-Frankfurt a. M., Bauer-Biih), Baumann-Essen, Bayer- 
Baden-Baden, Beisinger-Baden-Baden, G. v. Bergmann-Frankfurt a. JVL, 
Beyer- Roderbirken, Binswanger- Kreuzlingen. Blankenstein- Heidelberg, 
Brauns-Karlsruhe, Bumke-Leipzig, Burger-Baden-Baden, Buttersack- 
Heilbronn. Clauss-SchloB Hornegg, Dorf f-Rastatt, G. L. Dreyfus-Frank- 
furt a. M., Dreyfu 13-Mannheim, Drill-Frankfurt a. M., Eberhart-Baden- 
Baden, Erlenmeyer-Bendorf, Faller-Zweibriicken, Fischer-Baden-Baden, 
Frederking-Heidelberg, Freund-Frankfurt a. M., Friedemann-Konig- 
stein i. T., Fuchs - Baden - Baden, Georgi - Heidelberg, Giese - Baden- 
Baden, Graf-Heidelberg, Gross-Konstanz, G ruble-Heidelberg, Griiner- 
Baden-Baden, Griinewald-Freiburg i. B., Haardt-Emmendingen, Hack- 
Rohrbach, Hassmann-Bretten, Hauptmann-Freiburg i. B., Hayashi-Ham- 
burg, Haj f mann-Badenweiler, Hedinger-Baden-Baden, v. Hecker-Frank- 
furt a. M., Hezel-Wiesbaden, Hoche-Freiburg i. B., Hiibner-Baden-Baden, 
Huttenbach-Miinchen, Jaeger-Konstanz, Jaensch-Frankfurt a. M., Kauf- 
mann-Ludwigshafen, Kirschbaum-Koln, Kuhne-Emmendingen, Kiippers- 
Freiburg i. B., Landauer-Goppingen, Laudenheimer-Miinchen, Lehmann- 
Baden-Baden, Leva-Ludwigshafen, Levi-Stuttgart, Leyser-GieBen, Lieber- 
meister-Diiren, Mann-Mannheim, Mayer-GroB-Heidelberg, E. Meyer-Saar- 
briicken, O. B. Meyer-Wiirzburg. Mohr-Coblenz, Morchen-Wiesbaden, Mor- 
statt-Winnental, Leo Muller-Baden-Baden, Nakamura-Hamburg, van 
Oordt-Biihlerhohe, Osborne-Baden-Baden, Oster-Baden-Baden, Pelzer-Bre- 
men, Pf under-Ulenau, Pletzer-Baden-Baden, Poensgen-Nassau (Lahn), 
Rae eke-Frankfurt a. M., Reck-Emmendingen, Romer-Hirsau, Roemheld- 
Homegg, Riippel-Herrenalb, Sack-Baden-Baden, Scheven-Frankfurt a. M., 
Schmelcher-Illenau, Schmidt-Mainz, Schneider-Illenau, Schottelius-Frei- 
burg i. B., Schultze-Bonn, Sick-Stuttgart, Simmonds-Frankfurta. M., Steiner- 
Heidelberg, Steinfeld-Heidelberg, Stock-Tubingen, Stolzenberg-Gottingen. 
Thoma-Illenau, Wartenberg-Freiburg i. B., Wassermeyer-Alsbach, Weich- 
brodt-Frankfurt a. M., Weil-Stuttgart, Weinland-Weinsberg, v. Weizs&cker- 
Heidelberg, Werner-Winnental, Weygandt-Hamburg, Wilhelmy-Bonn. Wol- 
lenberg-Breslau, Wuth-Munchen. 

1. Sitzung, 27. Mai 1922, nachmittags 2 Uhr. 

Weygandt-Hamburg begriillt als Geschkftsfiihrer die Versammlung. Er 
gedenkt zunachst der im vergangenen Jahre verstorbenen Kollegen Erb, Sfinger, 
Quincke, Gerhardt, zu deren Ehren sich die Versammlung von ihren Platzen 
erhebt. 

Sein Erb gewidmeter Xachruf hatte folgenden Wortlaut: 

Unser Altmeister Erb ist am 29. Oktober 1921, fast 81 jahrig, dahingeschieden. 
Hoche hielt fur unsere Versammlung eine Rede bei der Trauerfeier, unter Nieder- 


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47. Wanderversammlung tier siidwestdeutschen Neurologen 


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legung eines Kranzes. Auf ein Kondolenzschreiben erwiderte mir die Wit we 
dankend, daB gerade die Badener Versammlung ihrern Gatten jeweils aufs innigste 
am Herzen gelegen habe. 

Des konnte jeder Besucher der Versainmlung gewahr werden, und darurn 
sind wir unserem Erb ullezeit treuen Dank schuldig. Wir brauchen uns heute nieht 
eingehend zu vergegenwiirtigen, welche arbeits- und siegesreiche Laufbahn Erb 
geschritten ist, in einer wissenschaft lichen Tatigkeit, deren Zeugnis in Form von 
hunderten Arbeiten, ebenso bedeutsamen Einzelentdeckungen wie imposanten 
Zusammenfassungen, vor uns liegen. Er war der rechte Mann, der die Gelegenheit 
seines Zeitalters, das Nervensystem mit Hilfe von Anatomie und Elektrophysiologie 
klarer zu erkennen, durch beispiellosen FleiB und Scharfblick wahrnahm und so 
die Grundlagen der keutigen Neuropathologie schuf. Treueste Analyse des Einzel- 
falles und klarste Synthese zu Krankheitsbildern bot seine rastlose Wirksamkeit. 
Heute mutet es uns wie ein Besitz aus uralten Zeiten an, was er uns erstritten hat. 
Wafarend auf wissenschaftlichem Gebiete unzahlige Neupragungen binnen Men- 
schenaltersfrist schon reichlich Patina ansetzen und vieles schon dahingerostet 
ist, strahlen die meisten seiner Schopfungen noch „herrlich wie am ersten Tage“, 
seine Lehre von den Atrophien und Dystrophien, die Erbsche Lahmung, seine 
Entwickelung der Entartungsreaktion u. a. — Genugtuend muB es uns beriihren, 
daB er kurz vor Kriegsbeginn noch die SchluBsteinlegung seiner Luestabestheorie 
erleben durfte, die er jahrzehntelang, so beispielsweise auch auf dem Moskauer 
KongreB 1897, gegeniiber der Berliner Schule mit Lowenmut verteidigt hat. 

Gedenken wir heute seiner vor allem als des Mitgliedes oder vielmehr Hauptes 
unserer Versammlung. Schon deren Vorlauferin, die Versammlung des Siid- 
westdeutschen psychiatrischen Vereins in Heppenheim, hat er durch seine For- 
schungen bereichert. 1874 trug er iiber die partielle Entartungsreaktion und 
1875 iiber die spastische Spinalparalyse vor. Als am 20./21. Mai 1876 durch Ludwigs 
Initiative die erste Badener Versainmlung zustande kam, war unter den 50 Teil- 
nehmem schon der Name Erb einer der strahlenreichsten; er sprach liber die Lateral- 
sklerose und ihre Beziehungen zur Tabes dorsalis. Er wurde der eifrigste Besucher 
und bald der Mittelpunkt unserer W 7 anderversammlung, die sich friih in Baden- 
Baden festsetzte. W 7 ohl nur durch seine Leipziger Episode und einige Altersjahre 
abgehalten, konnte er 36 Versammlungen besuchen, auf denen er 17 Vortrage 
und zahlreiche Diskussionsbemerkungen bot. Geme erorterte er die Beziehungen 
zwischen Syphilis und Riickenmarksleiden, therapeutische und atiologische Pro- 
bleme brachte er vor, besonderer Nachdruck lag auf seinen Forschungen iiber 
das intermittierende Hinken infolge Arterienverkalkung. 

Auf der Jubilftumsversainmlung 1900 begriiBte er als erster Geschaftsfiihrer die 
mit Damen erschienenen Kollegen und sprach iiber die neurologischen Leistungen 
der 25 Versammlungen, freudig wies er auf die Fiille neuer W 7 ahrheiten hin, die 
in Baden-Baden das Licht der Welt erblickten, nicht weniger als 348 Vortrage 
neurologischen Inhalts hatte das erste Vierteljahrhundert imserer Versainmlung 
gezeitigt. Selbst steuerte er einen Vortrag zur Friihdiagnose der Tabes bei. 1908 
gab er uns, dazu berufen wie kein zweiter, einen „Riickblick und Ausblick auf die 
Entwickelung der deutschen Nervenpathologie im letzten halben Jahrhundert", 
wobei er die Schaffung besonderer Nervenkliniken forderte, und 1913 besprach 
er „neue Wendungen und Umwertungen der Tabeslehre“. 

Im Badener Kreise war er nicht der unerbittliche, peinlich exakte Lehrer 
aus der Klinik, der gefiirchtete Examinator, der mit scheuer Ehrfurcht geschatzte 
Chef und Ordinarius. Wohl ging es uns alien, die wir uns seine Schuler nennen 
durften, beim Vortrage wissenschaftlicher Versuche noch durch die Glieder, wie 
Nonne es ausdriickte: Was wird wohl Erb dazu sagen? Mit ewig frischem Interesse 


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und Irrenarzte am 27. und 28. Mai 1922 in Baden-Baden. 


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und WohlwoDen nahm er freudig die neuen Emmgenschaften der Forschung 
eines Edinger, Nissl, Bethe und mancher anderer entgegen, die gerade die 
-Badener Versamndung gerne als Geburtsstfitte ihrer Geisteskinder aufsuchten. 
Cber den Lehrer und Kritiker hinaua war Erb auf dieser Versannnlung auch der 
empfilngliche, wohlmeinende Kollege, der freundschaftlich mitempfindende Mit- 
arbeiter am groBen Bau unserer Wissenschaft. 

GewiB mochte seiner klaren, objektiven, alles mit MaB und Gesetz anfassenden 
Denkweise manche andere Richtung fremd bleiben. Das rein Psychiatrische 
war ihm nicht gelaufig, und die psychologisierende Auffassung lag ihm wenig, 
ja auf die heutige Neopsychologie hatte er wohl in jener knorrigen Weise reagiert, 
die an seine waldumrauschte Pf&lzer Heimat erinnem mochte. Selbst seine be- 
kannteste Schrift aus psycho-neurotischem Gebiet, die beriihmte Rektoratsrede 
„Cber die wachsende Nervosit&t unserer Zeit“ 1893 suchte die Erkliirung vor- 
wiegend auf exogenem Wege, und in der Frage der metaluischen Auslese wollte 
er sich mit der immanenten Qualit&t der Spirochatenstamme iinmer noch eher 
anfreunden als mit der individuellen Disposition, die er einen vagen und undefinier- 
baren Begriff nannte. 

Trotz alledem konnte auch von psychiatrischer Seite seine Denk- und Arbeits- 
weise als stete Mahnung zur unerbittlichen Exaktheit nur wohltuend empfunden 
werden. Vollends im engeren Verkehr zu Baden-Baden entfaltete sich seine Per- 
soidichkeit zu einer unendlich anregenden, fordemden und geradezu begliickenden 
Wirkung. Auch als Mann der Arbeit war er der geborene Lebenskiinstler, offencn 
Siunes fur die Gaben der Kunst und die Schonheit der Natur. Darurn konnte er 
hier in dem Schwarzwaldelysium nicht nur die wissenschaftliche Atmosphare der 
aufstrebenden Forschergenerationen Ant»ius-gleich empfinden, sondern die kost- 
liche Gelegenheit, von einer Stiitte vornehmer Kultur aus den kraftvollen Hauch 
deutscher Berg- und Waldschonheit zu genieBen, lieB ihn hier sorgentlastet vollig 
auftauen im Gefiihl des: Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein. 

Dem Anffinger wie dem vorgeschrittenen Fachkollegen wog hier im Vor- 
tragsreigen ein billigendes Kopfnicken Erbs inehr als lange Rezensionen, und 
eine Stunde in vertraulicher Abendrunde bei den Klangen des Kurorchesters gab 
den Teilnehmem das weihevolle BewuBtsein der Zugehbrigkeit zu einer lebendigen. 
geradezu familiaren Denk- und Arbeitsgemeinschaft. 

Fur ihn bedeutete die Badener Versammlung wirklich eine Herzensangelegen- 
heit, in dem Jahreskreise einen Hohepunkt. Fiir uns bietet sein Andenken ein 
immerwfthrendee belebendes Vorbild. Wahrlich, es sollte jedem, der neu in diesem 
Kreise auftritt, die Frage vorgelegt werden, die Hoc he im Hinblick auf einen 
noch groBeren Richter gepragt hat: Wie wolltet Ihr vor seinem Blick be- 
stehen! 

Wie eine Art Sinnbild des alten, wirklichkeitsfrohen und geistig strebenden 
Deutschlands steht seine Forschergestalt vor unserem geistigen Auge, aus jenem 
Zeitalter selbstbewuBter, wertschaffender, von keiner anderen Seite zu iiber- 
treffender Kulturforderung, dem auch er blutige Opfer brachte und dessen Diim- 
mernng er niminer vcrwinden konnte. Zu einer Art faustischcn Allgemeingiiltig- 
keit hatte sich seine Person entwickelt, nicht im Sinne des Griiblers, sondern des 
gereiften Schaffers im zweiten Teil: 

Er stehe fest und sehe hier sich um, 

Dem Tiichtigen ist diese Welt nicht stumm. 

Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen? 

Was er erkennt, liiBt sich ergreifen! 

VVenn Geister spuken, geh' er seinen Gang, 
im Weiterschreiten find" er Qual und Gliick! 


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47. Wanderversammlung der siidwestdeutschen Neurologen 


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Seine prachtvolle Erscheinung, die mit Fug einen Ehrensitz unter den Charakter- 
kopfen in der Tafelrunde von Leonardos Abendniahl hatte einnehmen diirfen, 
jener lebendige Mittelpunkt unseres Badener Kreises, ist uns entschwunden. 
>Sein Auge, dem ziindendes Feuer entstrahlte, ist uns erloschen. Sein Geist moge 
walten unter Deutschlands Nervenfirzten, zumal auch jeweils auf unserer schonen 
ihm stets so teueren Badener Versammlung! 

Die Versammlung schriftbch begriiBt baben: Aschaffenburg-Koln, Fried- 
lander-Freiburg i. B., Gierlich-Wiesbaden, Landauer-Frankfurt, Maver- 
Ulm, Neumann-Karlsruhe, Schultze-Gottingen. 

Zum Vorsitzenden der 1. Sitzung wird Wollen berg-Breslau, der 2. Hoche- 
Freiburg gewfihlt, zu Schriftfuhrern, wie bisher, Hauptmann-Freiburg und 
Steiner-Heidelberg. 

Es halten Vortrage: 

1. Herr Schultze-Bonn: Huntington'sche Chorea und fortschreitende 
Mvoklonus-Epilepsie nebst Mitteilungan liber rhythmische Myoklonie 
bcim Menschen und beim Hunde. 

In bezug auf den Streit dariiber, ob die beiden in der Uberschrift genannten 
Krankheitsformen gleichartiger Natur sind oder nicht, legt der Vortragende dar. 
dafl die Gleichartigkeit bei weitem iiberwiegt. Sowohl der fortschreitenden Chorea 
Huntingtons als der fortschreitenden sogenannten Myoklonus-Epilepsie von 
Unverricht und Lundborg sind gemeinsam die haufige Vererbbarkeit, 
das Fortschreiten bis zum Tode, die gewohnliche Verbindung mit zunehmender 
Verblodung und das Auftreten unfreiwilliger Muskelzuckungen. 

Ein Unterschied besteht in dem Vorwiegen klonischer Zuckungen bei der 
von Unverricht-Lundborg beschriebenen Form, sowie in der viel groBeren 
Hiiufigkeit von epileptischen Anfallen bei ihr. 

Auch die bisher erhobenen anatomischen Befunde ergeben Gleichartiges, be- 
sonders in den Fallen von Myoklonus-Epilepsie von Paviot-Josserand. Verga 
und Gonzales, Clark-Pront, welch letzterer allerdings nur die Hirnrinde 
inikroskopisch untersuchte. Sehr bemerkenswert sind auch die neuen Befunde 
von A. Westphal und Sioli, die ganz besonders im Thalamus und im Nucleus 
dentatus ungeheure Mengen von Corpora amylacea-Einschliissen in den Ganglien- 
zellen vorfanden, Einschliissen, die auch in der Rinde nicht fehlten. 

Wie weit vielleicht eine Verschiedenheit in der Lokalisation der Entartungs- 
lierde im Gehim bei der Huntingtonsehen und der Unverrichtschen Krank- 
heitsform eine gewisse Verschiedenheit in den klinischen Erscheinungen bewirkt. 
ruuB noch dahingestellt bleiben. — 

Im Anschlusse an diese Erorterungen berichtet der Vortragende iiber einen — 
bei Menschen sehr seltenen — Fall von rhytlnnischem Nickklonus bei einem Tumor 
im Corpus striatum. Diese Zuckungen traten gleichzeitig mit der Karotispulsation 
auf. Endlich geht er des naheren auf die gleiehfalls rhythmischen Muskelzuckungen 
bei dem Staupetick der Hunde ein. ausgehend von einem von ihm selbst be<ib- 
achteten Falle. 

2. Herr Wollenberg-Breslau: Cber sj’stematische Orientierungsstorungen. 

Es handelt sich uin Storungen der „egozentrischen Lokalisation 11 , d. h. der 
rtiumlichen Beziehungen zu unserer eigenen Person, die wir als rechts und links, 
vorn und hinten, oben und unten, nah und fern auseinanderhalten. Wir liaben es 
also nicht mit organischen, exakt meBbaren Stoningen zu tun, wie sie Weiz- 
sacker kiirzlieh in den optischen und haptischen Komponenten der Raumwahr- 
nehmung bei einem Fall von Vestibularerkrankung erkannt und beschrieben hat. 
Der Sachverhalt wird am klarsten durch kurze Mitteilung meiner Beobaclitungen: 


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und Irrenarzte am 27. und 28. Mai 1922 in Baden-Baden. 


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1. Fall P. Feingebildete Dame, im Anfang der fiinfziger Jahre, etwas nervos 
im Sinne leichter Erschopfbarkeit, mit Zeichen von Vagotonie, sonst gesund. 
Leidet in neuerer Zeit, wie schon gelegentlich in jiingeren Jahren, anfallsweise 
an einer Empfindung, als sei die bekannte Umgebnng um 180° gedreht, und als 
bewege sie sich auf der StraBe in einer dem Ziel entgegengesetzten Richtung. Die 
bekannten Gebiiude scheinen ihr in bezug auf rechts und links vertauscht. Die 
Storung verschwindet ebenso plotzlich, wie sie gekommen ist, wird zuweilen ab- 
gekiirzt durch Fixieren einer Auslage im Schaufenster oder dergl. Peinbches 
Gefiihl der Ratlosigkeit, aber keine Gleichgewichts- oder BewuBtseinsstoning. 

2. Fall N., 19jfthriges Madchen, Zwillingskind, etwas skrupulos veranlagt, 
mit religiosen Zwangsvorstellungen. Seit dem 11. Jahre ofters plotzliche Emp- 
findung, als sei die Umgebung um 180° gedreht, rechts und links vertauscht. 
WiUkiirliches Drehen um die eigene Achse und energisches Wollen beseitigt den 
Zustand zuweilen, ruft ihn aber unter Umst&nden auch hervor. Auch nachts 
beim Erwachen zuweilen fihnliehe Storungen. Bei der Zwillingsschwester das 
gleiche in geringerem Grade. 

Neben der „automatischen“ Orientierung, welche eine Art innerer Richtungs- 
tafel darstellt, besitzen wir noch eine, die man „logische“ nennen kann, weil sie 
auf einer bewuBten vemunftmiiBigen Einpragung von Orientierungsmerkmalen 
beruht. wie sie sich uns beim Durchwandem einer fremden Stadt oder Gegend 
darbieten. Diese beiden Orientierungsmechanismen sind alien gesunden Mensehen 
gegeben, stehen aber in einem sehr verschiedenen Verhiiltnis zueinander. Gegen- 
liber den bevorzugten automatisch Orientierten, welche einen dem absoluten Ge- 
hor vergleichbaren untriiglichen Ortssinn besitzen, befinden sich diejenigen im 
Xachteil, welche iiberwiegend oder ausschlieBlich auf die viel umstandlichere und 
unsicherere logische Orientierung angewiesen sind. 

Meine Falle lassen nun erkennen, daB unter gewissen Umstanden anfallsweise 
Zustfinde auftreten, in denen diese beiden, sich sonst in verschiedenem MaBe er- 
ganzenden und sich jedenfalls nicht stbrenden Orientierungsmechanismen ge- 
wissermaBen in Widerstreit miteinander geraten, und die zwingende Empfindung 
auftritt, als bewege man sich dem logisch richtig erkannten Ziel nicht entgegen, 
sondem von ihm fort, oder als habe sich die Umgebung um 180° umgelagert. 
Meine Beobachtungsperson P. sagte beim plotzlichen Einsetzen einer solchen 
Storung: „Jetzt bin ich gedreht 11 und bei dem meist ebenso plotzlichen Schwinden 
der Stbrung: ..Jetzt bin ich wieder richtig“; sie fand sich in bekannten Gegenden 
nur logisch zurecht, weil ihr alles links zu liegen schien, was sie rechts erwartete, 
und umgekehrt. Die Beobachtungsperson N. hatte ahnliche Tauschungen, auch 
mit Bezug auf Platze und Briicken, bei denen ihr zeitweise das Vom und Hinten 
vertauscht schien. 

Storungen dieser Art sind nun bisher selten beschrieben wortlen. Insbesondere 
liat A. Pick (Deutsche Med. Wochenschr. 1908) dariiber zusammenfassend 
berichtet und den Versuch gemacht, die Storung im Gehim zu lokalisieren. Wable 
hat daran kritische Bemerkungen gekniipft (Deutsche Med. Wochenschr. 1909) 
and die rein funktionelle Xatur der von ihm in 2 Gruppen geteilten Falle darzu- 
legen gesucht. Diese Gruppen umfassen einmal die Falle, in denen nur normale 
..Intiimer des topographischen Kalkiils“ vorliegen , und solche, in denen eigent- 
liche Wahrnehmungsstbnmgen, wohl wesentlich als Folge von Ermiidung, ein- 
treten. 

Falle nach Art der meinigen scheinen hiermit allerdings nicht geniigend er- 
klart zu sein. Fur die weitere Erorterung ist wichtig die bekannte Beobachtung 
von P. Janet, welche diesen Autor veranlaBt hat, fiir derartige Falle eine Ver- 
tauschung von Rechts und Links an den visuellen Erinnerungsbildern anzu- 


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110 47. Wanderversammlung der siidwestdeutschen Neiirologen 

nehmen. With rend aber in Janets Fall eine dauernde Stbrung vorlag. trat 
sie in meinen Fallen nur anfallsweise auf, was der Deutung weitere Schwierig- 
keiten bereitet. Im ubrigen bestand bei diesen eine besondere „neurasthenisclie“ 
Anlage, die Zust&nde traten vorzugsweise bei besteliender Ermiidung ein und 
wurden ausgelost durch die Notwendigkeit der Anpassung an eine neue raum- 
liche Situation, die allerdings sonst kaum einen solohen Eindruck hervorzurufen 
vermocht hatte. Vielleicht war auch eine gewisse, in beiden Fallen dauernd be'- 
stehende partielle Unsicherheit der Rechts- und Linksorientierung von Bedeutung. 
Ein gewisser Mangel an Aufmerksamkeit schien femer bei beiden Personeu eine 
Rolle zu spielen. Dem eigentlichen Verstandnis fur das Zustandekommen der 
Stoning, die ohne Frage eine rein funktionelle ist, werden wir erst nach genauerer 
Durchforschung geeigneter Falle naherkommen. 

Diskussionsbemerkung: 

Herr Hoche: Ich kann mich Ilmen auch vorstellen als Jemand, der aus 
eigenem Erleben die vonExner beobachteten Orientierungsstbrungen im Raume 
zeigt. Wenn ich im Dunkeln im Bett liege, kann ich mich durch einen bewuBten 
Willensakt um 180° in eine andere Achse des Zimmers versetzen, so daB ich eine 
vollige Umkehr von rechts und links nicht nur in der Vorstellung zu erleben glaube, 
sondem mit solcher Bestimmtheit erlebe, daB ich z. B. beim Greifen nach dem 
Nachttisch die uberraschende Tauschung erfahre, ihn nicht an seiner Stelle zu 
finden. Dieser Akt des Achsenwechsels vollzieht sicli sozusagen mit einem fiihl- 
baren Ruck, ebenso die Ruckkehr in das normale BewuBtsein der richtigen Lage, 
wenn ich durch Offnen der Augen die Korrektur durch die Lage des Fenster- 
scheines gewinne. Der innere Zustand dabei zeigt eine nicht eigentlich unan- 
genehme leichte Spannung, die in ihrer Farbung etwas an den Zustand erinnert, 
den man beim „deja vu“ empfindet. Es handelt sich dabei sicherlich nicht um 
irgendwelche peripherische Vorgange, sondem um zentralste Dinge. Es dauert 
in der Regel, nachdem man den EntschluB zum experimentellen inneren Lage- 
wechsel gefaBt hat, bis die entsprechende Mechanik einschnappt, einige Sekunden. 
evtl. auch Minuten, und bei Ermiidung kann der angestrebte Erfolg iiberhaupt 
ausbleiben. 

3. Herr Hoclie-Freiburg i. B.: Haben misere Traumbilder halluzinatorischen 

Charakter? 

Unter Traumbildem verstehen wir hier alle diejenigen Traumvorgange, die 
einen sinnesmaBigen Inhalt haben mit AusschluB von GefUhlen, Stimmungen, 
Impulsen imd Denkvorgangen. Die Frage des Themas ist bisher im allgemeinen 
bejaht worden; es wurde gelegentlich, um Verstandnis fiir das Wesen der Hallu- 
zinationen zu vermitteln, darauf hingewiesen, daB wir alle im Traume halluzinieren. 
Mir ist im Laufe jahrzehntelanger Besclmftigung mit dem Traumproblem die Be- 
antwortung weniger sicher geworden. 

Es wird notwendig sein, eine scliarfe Umgrenzung dessen, was wir unter 
Halluzinationen verstehen, vorauszuschicken. Dies ist um so notwendiger, als 
neuerdings die Tendenz besteht, die grundsatzlichen Unterscliiede zwisohen Wahr- 
nehmung und Vorstellung und somit von Erinnerungsbild und Halluzination 
zu verwischen. Wir wollen unter Halluzinationen verstehen: Wahmehmungen 
von sinnlicher Bestimmtheit ohne ein dazu gehoriges auBeres Objekt, die, unab- 
hangig vom Willen, gleichwertig mit realen Wahmehmungen ins BewuBtsein ein- 
ziehen und denen gegeniiber wir Realitatsgefiihl besitzen. Zur Definition gehort 
nicht, daB eine Falschung des BewuBtseinsinhaltes in bezug auf das auBere Welt- 
bild entsteht; diese Wirkung tritt nur bei Geisteskranken ein. Bei wachen Geistes- 
gesunden werden Tmgwahmehmungen schlieBlich immer als solche erkannt. 
Wahrend die Illusionen die Verfalschung eines auf auBeren oder inneren Reizen 


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und Irrenarzte am 27. und 28. Mai 1922 in Baden-Baden. Ill 

beruhenden Sinnesvorganges darstellen, bedeuten Halluzinationen eine Xeu- 
schaffung. 

Die Beteiligung der einzelnen Sinnesgebiete an der Haufigkeit der Traum- 
bilder ist sehr verschieden. Bei alien Menschen iiberwiegen bei weitem optische 
Traumbilder, und zwar so sehr, daB die Mehrzahl (abgesehen von Sensationen 
der Tastsphare) nichts Anderes kennt. Es ist dies nicht wunderbar, wenn man 
erwagt, daB wir auch im wachen Zustande, sobald wir iiberhaupt nur die Augen 
often haben, dauemd Seheindriicke und im Vergleich damit verh&ltnismaBig 
selten andersartige Sinneseindriicke empfangen. Dem Gesichtssinne am nachsten 
steht in der Traumhaufigkeit die Tastsphare. Ein wirkliches Horen im Traum 
ist nicht haufig, nur 6—7°/o kennen es. Meist bleibt im Traum der zu irgend- 
welchen Vorgangen gehorende akustische Eindruck aus (losgehender SchuB ohne 
Knall usw.). Ich selbst hore sehr haufig im Traume Musik in einer sinnlichen 
Lebhaftigkeit, wie sie mir im wachen Zustande die Reproduktion nie liefert. 
Die Reden Anderer, die man im Traume hort, kommen fiir die Halluzinationsfrage 
nicht in Betracht; dabei handelt es sich nur um lebhafte Vorstellungen. Riech- 
traumbilder finden sich in 6°/ 0 , das Schmecken noch dreimal seltener; jedenfalls 
ist die altere Lehre, daB man im Traum nicht schmeckt, dahin einzuschranken, 
daB man nur sehr selten schmeckt. Dubois-Reymond erzahlte uns Studenten 
von einem Physiologen, der in der Zeit, als man die chemischen Zuckerproben 
noch nicht kannte, im Traume seinen Urin kostete und mit Schreck erwachte, 
als er ihm suB schmeckte. 

Ein groBer Teil aller dieser Traumbilder ist sicher illusionaren Charakters, 
Verfalschungen, Umwandlungen, Multiplikationen wirklicher Eindriicke, die ja 
im Schlafe von der Tastsphare immer, von seiten der Zunge, der Nase und des 
Ohres sich haufig darbieten, wahrend fiir die optischen Traumbilder auBere An- 
stoBe die Ausnahme bilden. (Illusionare Verwertung entoptischer Lichterschei- 
nungen im Traume ist, wenn sie auch vorkommt, so doch selten.) 

Wenn wir an der Hand der oben gegebenen Umgrenzung unseres Halluzi- 
nationsbegriffes die einzelnen Bestandteile an den optischen Traumbildem auf- 
suchen, so haben sie zunachst das Gemeinsame, daB sie unabhangig von unserem 
Willen kommen und gehen, daB sie einen sinnlich bestimmten Charakter haben 
und von dem Traumenden als Realitaten genommen werden. Die Gleichwertig- 
keit mit wirklichen Wahmehmungen ist infolge des BewuBtseinszustandes des 
Traumenden nicht zu priifen. Wenn beim Einbrechen der Wirklichkeit in das 
TraumbewuBtsein die Traumbilder einen Moment mit realen Wahmehmungen 
konfrontiert werden, so werden sie sofort als Trugbilder erkannt. Sie sind insofem 
keine Halluzinationen, als der eine charakteristische Zug, das Realitatsgefiihl, 
nicht dem Phanomen als solchem, sondem dem BewuBtseinszustande des Traumes 
zuzuschreiben ist. 

Andererseits sind die Traumbilder nicht bloB Eriimerungsbilder. Es ist nicht 
moglich, durch gewollte passive Hingabe an die eigenen Vorstellungen oder durch 
noch so energischen Willen im wachen Zustande die farbige Lebhaftigkeit und 
Bestimmtheit von Traumbildem zu erzeugen. Die Selbstbeobachtungen derjenigen, 
die im wachen Zustande keiner Reproduktion farbiger Erinnerungsbilder fahig 
waren (Fechner, Mobius), und die dennoch farbig traumten, beweisen, daB 
der Traum ein neues, sinnesmaBiges Moment zu mobilisieren vermag. Die Traum¬ 
bilder besitzen auch bei vielen Menschen ein dem wachen Phantasiespiel versagtes 
MaB von Selbstandigkeit in Formung und Kombination imd eine Fahigkeit zu 
kiinstlerischer Neuschaffung. Sie stehen auch nicht im subjektiven Raum wie 
die Erinnerungsbilder, sondem fiir den Traumenden im objektiven Raum. 

Es ist in ihnen also doch ein sinnlicher Bestandteil vorhanden, der nicht 


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112 47. Wanderversammlung der siidwestdeutsclien Neurologen 

allein auf der BewuBtseinsveranderang des Traumes beruht, sondern einen selb- 
st&ndigen Erregungsvorgang irgendwelcher sinnesphysiologischer Felder oder 
Bahnen — gleichviel welcher Lokalisation — bedeutet. 

Die Energie der sinnlichen Bestimmtheit bei den optischen Traumbildern 
ist von Mensch zu Mensch und im Einzelnen von Traura zu Traum sehr verachieden. 
Die Reihe reicht von matten, verschwommenen, konturschwachen Bildern bis 
zur sch&rfsten Pragnanz imd einer bis zur Blendung gehenden Lichtfiille. Dies 
allein aber wiirde nicht unter alien Umstanden ausreichen, um diesen Bildern 
den Charakter der Halluzination zuzusprechen. Es ergeben sich vielmehr fiir die 
optischen Trau mbilder zwei Gruppen, von denen die eine der Starke nach den 
Erinnerungsbildem, die andere der Art nach den Halluzinationen nahe steht. 

Zur Entscheidung der Frage raeines Themas ware — was zunachst paradox 
klingt — eine unmittelbare Vergleichung der Traumbilder im traumenden und 
im wachen Zustande nicht nur erwiinscht, sondern notwendig. Den moisten 
Traumenden ist eine solche Moglichkeit versagt. Wer infolge systematischer 
Selbstschulung im Traumbeobacliten gewissermaBen dauemd auf dem Anstand 
sitzt, kann nicht so selten ein Hineinreichen von sinnlichen Traumbestandteilen 
in den wachen Zustand beobachten, und zwar in einer Dauer, die geniigt, um 
die Kritik des wachen Zustandes auf die Erscheinung zu richten, die allerdings 
nach langstens wenigen Sekunden wegschwindet, von der man somit nur noch 
sozusagen ein Stiickchen Schwanz erwischt. 

Ich selbst habe das Hiniiberreichen von sinnlichen Traumbestandteilen in 
den wachen Zustand hfiufig beobachtet, und zwar fiir alle Sinne, mit AusschluB 
der optischen Erscheinungen. Es ist im hochsten Grade frappierend, am eigenen 
Leibe mit wachem BewuBtsein eine zwcifellos halluzinatorische Wahmehmung 
von vollem Realitatscharakter zu erleben, wobei man Zeit und Ruhe hat, um 
festzustellen, daB keine illusioniire Verfalschung eines zufiilligen realen Sinnes- 
reizes vorliegt. Fiir Haut- und Organgefiihl, Geruch und Geschmack liegt der 
Beweis im Momente auf der Hand. Fur Gehorseindriicke bleibt zunachst der 
Einwand offen, daB doch ein Gehorsreiz eingewirkt haben konnte. Fiir bestimmte 
Gehorstiiuschimgen des Traumes liiBt sich aber auch das widerlegen. Ich erwache 
nicht selten von einem halluzinierten Klingeln des Telephons, welches mit solcher 
Bestimmtheit in den wachen Zustand hineinreicht, daB ich iiber keinerlei Kri- 
terium verfiige, um es als subjektiv zu erkennen. Die Entscheidung, ob subjektiv 
oder objektiv, wird nun durch eine experimental wirkende Neureglung unseres 
Frei burger telephonischen Signalsystems gebracht, vermoge deren das Klingelsignal 
automatisch sich alle 10 Sekunden wiederholt, bis der Horer abgelmngt wird. 
Ich kann mit Bestimmtheit feststellen, daB die durch Ausbleiben der Wieder- 
holung als subjektiv gekennzeichneten Traumklingelsignale, die in den wachen 
Zustand hineinreichen, sich durch kein faBbares Merkmal von echten unter- 
scheiden. 

Ich kann auf Grand dieser Selbstbeobachtung iiber Halluzinationen bei ge- 
nauster Priifung der Erscheinung nur sagen, daB das sie begleitende Realitats- 
gefiihl etwas Primiires, Selbstandiges, der Erscheinung unmittelbar Eigenes be¬ 
deutet, und daB der intellektuelle Vorgang des Urteilens etwas Sekundares 
darstellt. 

Aus meinen Beobachtungen geht jedenfalls das mit Sicherheit hervor: Wenn 
auch das meiste an unseren Traumbildern keinen halluzinatorischen Charakter 
hat, so gibt es doch zweifellos auch im Traume echte Halluzinationen bei Geistes- 
gesunden, und zwar, wie es scheint, um so hiiufiger, je primitiver die Sinne sind, 
d. h. bei Geruch und Geschmack. Die Einzelheiten mochte ich zunachst nur als 
fiir mich giiltig bezeichnen; als allgemein giiltig ist aber wohl das gewaltige liber- 


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und Irrenarzte am 27. und 28. Mai 1922 in Baden-Baden. 


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wiegen der optischen Traumbilder von nichfc halluzinatorischem Cliarakter zu 
bezeiclmen. Die Melirzahl der Menschen kcnnt iiberhaupt nichts Anderes. 

4. Herr Mohr-Coblenz. Willenstlierapie und Psychoanalyse. 

In vielen Fallen schwerer Neurosen ist, wie Vortragender schon seit Jahren 
behauptet hat und wie nun auch Anhanger der strengen Schule Freuds zu- 
geben, ohne ein aktives Vorgehen in der Analyse nichts zu erreichen. Die strikte Be- 
folgung der sog. „psychoanalytischen Grundregel“ muB fiir diese Falle abnorm 
starker innerer Widerstftnde aufgegeben werden. Anderseits findet man bei den 
verschiedenen Formen der Willenstlierapie ebenfalls h&ufig so starke Widerstande 
daB man trotz oder gerade wegen der Beeinflussungsversuche der Willenssph&re 
nicht weiterkommt. Beide Beobachtungen zwingen, zu fragen: Was sind die 
Quellen des inneren Widerstandes, kann man ihnen beikommen, 
lassen sie sich aufheben, auch wenn man aktiv vorgeht? Eine Haupt- 
•quelle sind moralische, soziale, konventionelle Vorstellungen und Gefuhle. Sofem 
sie bewuBt vom erwachaenen Menschen aufgenommen worden sind, lassen sie 
sich durch entsprechende Aufklamng beseitigen; sofem sie aber in der friihesten 
Kinderzeit auf rein assoziativera, nicht logischem W T ege in uns hineingelangt 
sind, kann man ihre krankmachende Wirkung nur durch Wiedererlebenlassen 
der alten Situationen und darauffolgender Gegeniibung beseitigen. Hat man die 
bei strenger Befolgung der „Grundregel“ notige lange Zeit nicht zur Verfiigung, 
so muB man sich daran erinnem, daB das streng analytische Vorgehen seine Wirkung 
eben der langen Zeitdauer imd der dadurch ermoglichten, unendlich haufigen 
Wiederholung aller derjenigen Erkenntnisse verdankt, die die Lockerung der 
Kindheitsassoziationen auf dem Wege allmahlicher Umgewohnung in die Wege 
leiten. Wollen wir also Zeit sparen, so miissen wir diese Umgewohnung durch 
nidglichste Intensitfit, rasche Folge und Anschaulichkeit der Wiederholung zu 
erreichen versuchen. Daneben miiBte aber auch dem Patienten die fiir die Fest- 
haltung sowie fiir die t'berwindung des Widerstandes so wichtige Obertragung 
und Verechiebung der Affekte auf den Arzt moglichst erleichtert werden. Damit 
kommt man zugleich auch am raschesten einer weiteren Quelle des Widerstandes, 
namlich dem aus der Krankheit oft resultierenden auBeren und inneren Krank- 
heitsgewinn, bei. Als letzter Grand des Widerstandes ist dann noch die rein 
physiologisclie Tatsaclie anzusehen, daB unser Gehirn sich schwer von alt<jn Ge- 
wohnungen abbringen laBt. Da kann natiirlich nur eine intensive Gegeniibung 
helfen. Es zeigt sich dann, daB bei Befolgung dieses aktiven Vorgehens auch 
weit jenseits des 4. Jahrzehnts liegende Falle (im Gegensatz zu der bisherigen 
Annahme der strengen Analytiker) recht gute Erfolge aufweisen. 

Man kann also sagen, daB eine Verbindung von Willenstlierapie und Psycho¬ 
analyse beide Methoden in ihrer Wirksamkeit fbrdert und die Behandlung ganz 
wesentlich abkiirzt. 

Vortragender geht dann weiter auf die Einzelheiten der Technik einer solchen 
analytisch-synthetischen Ubungsbehandlung ein, die es uns ermoglicht, trotz 
der Schwierigkeiten der Zeit auch gerade den jetzt meist weniger bemittelten 
Kreisen der lntelligenz die Wohltaten der Analyse zugute kommen zu lassen. 

■ 5 . Herr Prinzhorn-Heidelberg: Der Psychiater und die Psychoanalyse. 

Ankniipfend an den von Hoclie 1910 in Baden-Baden gemachten Versuch, 
die Psychoanalyse als voriibergehende „Seucke, arztliche Taumelbewegung" u. a. m. 
darzustellen, wird gezeigt, inwiefem die inzwischen verstrichenen 12 Jahre 
das Gegenteil erwiesen ha ben. Nicht nur hat der engere Anhiingerkreis sich stetig 
ausgebreitet, sondern in der inneren Medizin und auch in der Gynakologie und 
Chirargie steht man den Haupterkenntnissen der Psychoanalyse viel offener 
gegeniiber. Dazu kommt, daB in der ganzen Medizin ein stfirkeres Verlangen zu 

Arehiv fiir Psychlatrie. lid. 67. g 


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47. Wanderversammlung der siidwestdeutschen Neurologen 


spuren ist, sich der seelischen Zusammenhiinge im Kranken anzunehmen, den 
ganzen Menschen zu behandeln statt der Einzelsymptome. Auf die Fragen, die 
sich bei solcher Einstellung aufdrangen, antwortet nicht die psychiatrische Klinik, 
wohl aber die Analyse, die demnach in der gegenwartigen Entwicklung der Heil- 
kunde eine bestimmte Mission zu erfiillen hat. 

Dariiber hinaus aber sind die psychoanalytischen Grundanschauungen nicht nur 
in der Schweiz, sondem neuerdings auch bei uns inLaienkreise gedrungen. Vor allem 
fiihlen Lehrer und Theologen sich in zunehmendem Made von einigen analytischen 
Erkenntnissen angezogen, die sich weiterbin in der Dichtung (bei Hesse, Ganz, 
llg, Meyrink, Kokoschka, Schaeffer u. a.) spiegeln. In der ,Religions- und 
Mythenforschung haben sie bereits imter Billigung von seiten namhafter Gelehrter 
zu wissenschaftlichen Resultaten gefiihrt. Kurzum, die Psychoanalyse ist heute 
eine offentliche Angelegenheit geworden. Unmoglich, ihr mit formaler Kritik 
gerecht zu werden. Sie ist der erste wissenschaftliche Versuch, eine Psychologie 
der Person aufzubauen, die auf deni Wahrhaftigkeitsniveau der groBen intuitiven 
Dichter-Psychologen (besonders Nietzsches und Dostojewskis) ruht. Ihre dog- 
niatischen Einseitigkeiten sind z. T. dadurch zu erklaren, daB sie auf naturwissen- 
schaftlich-realistischen Grundbegriffen aufbaut und infolgedessen fur uns theo- 
retisch einer durchgreifenden Umorientierung bedarf. Man kann jeden E in wand, 
der gegen die Analyse erhoben wird, vollkomnien anerkennen und iiberall Unzu - 
langlichkeiten sehen — aber man darf sich heute nicht inehr erlauben, die produk- 
tiven Seiten zu iibersehen, sondern inuBden praktisch-therapeutischen wieden allge- 
mein psychologischen Gewinn ehrlich den psychoanalytischen Forschungen als Yer- 
dienst anrechnen. Wirstehen nicht am Ende, sondern am Anfangdieser Forschungen. 

Die Stellung der deutschen Psychiater zur Psychoanalyse wird nach fiinf 
typischen Verhaltungsweisen glossiert: 1. Ignorieren bei den in eigene Probleme 
vergrabenen Forschem. 2. Offenes Bekampfen mit mehr oder weniger sachlichen 
GriindeD, wobei nur Kronfeld sich dem Niveau der wirklich eingehenden Kritik 
des Philosophen Mittenzwey angenahert hat, wahrend sonst durchaus person- 
liche, meist weltanschauliche, oft Selbstschutz-Griinde stark mitspielten. 3. Dop- 
pelorientierung: scheinbar Methodenpriifung mit dem Resultat ,,ganz interessant, 
nicht neu, terminologisch undiskutierbar“, was vielfach als Eintreten fiir die 
Analyse angegeben wird und stiindiges Verspotten nicht ausschlieBt (schlimmste 
Spielart Breslers alberne Tiraden). 4. Diplomatisch-opportunistisches Ver- 
halten, durchaus vorherrschend bei uns: Ablelmung, solange man nicht der Zu- 
stimmung der Autoritaten sicher ist, Aufnahme mancher Begriffe hintenlierum. 
iiuBerliches Anerkennen ohne innere Beziehung, wenn die Zeiten sich geiindert 
haben. 5. Offenes Eintreten fiir die Analyse, bei uns noch seiten (manche Thera- 
peuten gerade im Siidwesten stehen de facto auf analytischem Boden!). Frucht- 
bare Auseinandersetzung mit den Prinzipien findet man fast nur bei J.H. Schultz. 
Schneider, neuerdings bei Kretzschmer, wahrend an den Kliniken in Wien 
und Zurich eine offene Verarbeitung der analytischen Anregungen langst er- 
folgt ist. Am wichtigsten sind heute die Bemiihungen von Psychiatern, die auf 
beiden Gebieten anerkannt sind (wie Schilder, Ludw. Binswanger). Es 
bedeutet nicht nur einen Prestige-Verlust, sondem das Versagen vor den tiefst- 
ergreifenden psychopathologischen Problemen, wenn die Psychiater in dieser Sache 
dauemd die Fuhrung verloren und sich mit der Rolle des Polizisten begniigten. 

(Der Vortrag wird in extenso veroffentlicht.) 

6. Herr War ten berg-Freiburg i. B.: Demonstration eines Falles von 

T o rsi o n s d y s t o n i e. 

Bei einem nun 32ja hrigen Mann, der aus gesunder Familie in einer Klein- 
stadt Badens stammt, entwickelte sich mit 12 Jahren allmahlich eine Verkiirzung: 


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und Irreniirzte am 27. und 28. Mai 1922 in Baden-Baden. 


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des linkcn Beines. Mit 22 Jahren stellten sich rechtsseitige Halsmuskelkrampfe 
ein. Die Sprache wnrde undeutlich. Spiiter kamen „Krainpfe“ der Gesichts- 
muskulatur und Spannungen in den Handen hinzu. Sein Zustand hat sich fort- 
w&hrend verschlimmert. Seit 2 Jahren hat er Schluckbeschwerden. Auch ver- 
sagte die Sprache fast ganz. Er wurde in mehreren Kliniken wegen Hysterie, 
Torticollis, Accessoriustic, Maladie des tics behandelt, doch blieb jegliche Be- 
handlung, auch die Durchsehneidung des r. Sternocleido und Omohyoideus ohne 
Erfolg. Der Befund, den er jetzt bietet, besteht aus Erscheinungen von Torsions- 
dystonie und von Athetosis duplex. Psychisch ist er vollig intakt und zeigt nicht 
eine Spur von hysterischer Reaktion. Pyramidenzeichen fehlen ganz. Die grobe 
motorische Kraft ist iiberall sehr gut. Der Torticollis besteht nun seit 10 Jahren, 
die drehenden Kopfbewegungen sind durch nichts zu beeinflussen und horen nur 
im Schlafe auf. Er kann den Kopf nicht ruhig und gerade halten. Er hat aber 
einen geschickten Griff, um mit der linken Hand den Kopf gerade zu stellen; 
doch auch so bleibt der Kopf nicht ruhig. Der Fall liefert den ganz eindeutigen 
Beweis, dab der Torticollis ein extrapyramidales Symptom sein kann. Die Musku- 
latur um den Mund herum befindet sich in stand iger athetotischer Bewegung, 
besonders beim Essen und beim Spreehen. Dadurch und durch die athetotischen 
Bewegungen der Zunge ist das Spreehen sehr erschwert. Je mehr Miihe er sich 
beim Spreehen gibt, desto schlechter geht es. Am verstandlichsten spricht er, 
wenn er dabei lacht. Es bestehen Spann ungszust&nde in verschiedenen Muskel- 
gruppen. Der linke Arm zieht nach vorne und schwebt in der Luft. Links werden 
die Finger gebeugt gehalten, rechts die Hand. Der rechte Unterschenkel neigt 
zur Beuge- und Abduktionsstellung, der linke Full wird plantar flektiert, die 
GroBzehen dorsal flektiert. Rontgenologisch wurde eine linksseitige Coxa 
vara und deformiertes Hiiftgelenk festgestellt. Es besteht eine mobile Spannung 
der Riickenstrecker, besonders links, und dadurch eine Beckensenkung und eine 
Skoliose. Es ist anzunehmen, dali diese Spannung der linksseitigen Riicken- 
muskulatur schon im 12. Lebensjahr eingesetzt hat, zur Beckenverschiebung, 
zur starkeren Belastung des linken Beines gefiihrt hat, wodurch die linksseitige 
Coxa vara entstanden ist. Chirurgischerseits wurde diese Ansicht bestatigt. Durch 
diese Spannungen ist sein bizarrer Gang zu erklaren, der ihn sehr stark ermiidet. 
Der Fall ist wegen eigenartiger Bewegungsphiinomene bemerkenswert. Die Finger 
der linken Hand befinden sich stets in einer leicht zu iiberwindenden Beuge- 
stellimg. Wird er aufgefordert, die Finger zu strecken, so macht er zwar Ansiitze 
dazu, beugt aber statt dessen mit aller Kraft die Hand. Man sieht eine typische 
Innervationsentgleisung, eine „falsche Weichenstellung“, um mit Kalischer zu 
spreehen. Trotz der groBten Miihe gelingt es ihm nie, die Finger zu strecken. Da¬ 
bei ist die grobe Kraft der Fingerstrecker sehr gut. t)bt man aber auf die Finger 
einen Gegendruck aus, dann gelingt die Bewegung mit groBter Leichtigkeit. Ebenso 
gelingt die Fingerstreckung, wenn er zu gleicher Zeit die Hand gegen Widerstand 
beugt oder streckt oder Widerstandsbewegungen mit dem Unterarm ausfiihrt. 
Je naher der Hand die Muskelgruppe liegt, die gegen Widerstand angestrengt 
wird, desto leichter gelingt die Fingerstreckung. Anspannung der Schultermusku- 
latur z. B. ist wirkungslos. Auch muB es eine kraftige Widerstandsbewegung 
sein. Dasselbe bei der Streckung der rechteu Hand. Obwolil die Handstrecker 
sehr kraftig sind, vermag er die Hand wegen Innervationsentgleisungen nicht 
vollig zu strecken, wohl aber bei Gegendruck oder wenn er zugleich kraftige Wider¬ 
standsbewegungen mit dem rechten Unterarm ausfiihrt. Er kann nur mit Miihe 
den in der Luft schwebenden linken Arm nach hinten bringen, leicht aber, wenn 
man einen Gegendruck ausiibt oder wenn man zu gleicher Zeit ihn z. B. die linke 
Schulter gegen Widerstand heben liiBt. Auch der Halsmuskelkrampf wird durch 

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Widerstandsbewegungen, besonders benachbarter Muskulatur, beruhigt, z. B. 
durch Druck gegen die Stime, durch Schulterheben, Bewegungen der Arme. Auch 
die Anstrengung der Sprachmuskulatur wirkt gewissermaBen ableitend auf den 
Torticollis. Ein je schwierigeres Wort er ausspricht, desto gerader richtet sich 
der Kopf. Auch die Athetose der Gesichtsmuskulatur beruhigt sich bei der An- 
spannung benachbarter Muskelgruppen. Dadurch ist zu erkliircn, daB die Sprache 
deutlicher wird, wenn er z. B. den Kopf gegen Widerstand senkt. Die Spannungen 
lassen sich auch durch elektrische Reize leicht losen. Z. B. geniigt die Faradisation 
des Hypothenars, die Faradisation einer Hautfalte am Unterarm, selbst die Fara¬ 
disation des falsch innervierten Flexor carpi radialis, um links die Spannung 
der Fingerbeuger zu losen und die Fingerstreckung zu ermoglichen. Kommt 
eine breite Elektrode auf die rechte Schulter und halt er die andere in der linken 
Hand, so kann er die Riickwartsfiihrung des linken Armes mit Leichtigkeit aus- 
fiihren, sobald der faradische Strom geschlossen wird. Der Torticollis laBt sich 
dadurch beruhigen, daB man mittels zweier breiter Elektroden die Schulter- 
muskulatur faradisiert. Bei Einwirkung des elektrisohen Reizes richtet sich der 
Kopf wie bei Widerstandsbewegungen automatisch gerade. Auch starke dia- 
thermische Reize oder schmerzhafte Druckreize auf die benachbarten Knochen 
oder Muskeln wirken krampflosend. Das Wesen der Phanomene besteht darin, 
daB hier extrapyramidale Spannungen und Torsionskrampfe auf verschiedene 
Weise reflektorisch gelost oder gemildert werden konnen. Die Nachpriifung 
dieser Phanomene an dem Fall von striarem Halsmuskelkrampf von Prof. Cas¬ 
sirer (vgl. Zentralblatt f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. Bd, 28, S. 513) ergab, daB 
sie hier, wie Prof. Cassirer bestatigen konnte, stark angedeutet waren. Anderer- 
seits fanden sich diese Phanomene bei einem Fall von psychogenem Torticollis 
nicht; vielleicht sind sie von differentialdiagnostischem Wert. 

7. Herr Steiner-Heidelberg: fiber die Entmarkungsflecken bei pro- 

gressiver Paralyse. 

Ausgehend von dem histoputhologischen Bild der Ent markungsflecken im 
Zentralnervensystem der Paralvtiker erortert Vortragender die Schwierigkeiten, 
die der Erkennung der Beziehungen zwischen Spirochiiten und den von ihnen 
hervorgerufenen Gewebsveranderungen entgegenstehen. Vor allem war es bisher 
nicht gelungen, in aufeinanderfolgenden Gewebsschnitten das eine Mai die Ge- 
websbestandteile, das andere Mai die Spirochiiten zur Darstellung zu bringen. 

Eine neue, vom Vortragenden nusgearbeitete Gefrierschnittversilberungs- 
methode ermoglicht dieses Vorgehen an Gehimmaterial, das in Formol fixiert 
worden ist. Auch laBt sich ein mit der Gefrierschnittspirochatenfarbung be- 
handelter Schnitt noch mit verschiedenen Methoden nachbehandeln (Scharlach- 
rotffirbung, Markscheidenfarbung, Zellfarbung mit polychromem Methylenblau). 
Die Gefrierschnittmethode hat iiberdies den Vorzug der feineren Versilberung 
und der Abstufungsmoglichkeit im Tinktionsgrad der Spirochaten, so daB es mit 
Sicherheit gelingt, Spirochatenabbaustoffe und Spirochfttentriimmer als solche 
zu bezeichnen, da sie nicht geschwarzt zur Darstellung gebracht zu werden brauchen, 
sondern in braunlicher Farbung nachgewiesen werden konnen. Auf diese Weise 
ist eine Verwechslung mit Silberniederschlagen, die, wenn sie vorkommen, tiefes 
Schwarz zeigen, auszuschlieBen. 

Wenn wir nun Markzerfallsherde untersuchen, so finden wir in ihnen gewohnlich 
keine Spirochaten. Andererseits liiBt sich in herdformigen SpirochStenanord- 
nimgen kein Markzerfall nachweisen. Der SchluB liegt somit nahe, daB die Spiro- 
chate unmittelbar mit dem herdformigen MarkfraB nichts zu tun hat. Doch 
ware dieser SchluB unrichtig. In kleineren und offenbar jiingeren Entmarkungs- 
herden finden sich gelegentlich Gebilde, die als Spirochatenuntergangsformen, 


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und Irrenarzto am 27. und 28. Mai 1922 in Baden-Baden. 


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als Verklebungsformen angesehen werden miissen. Es handelt sich dabei um die 
fast alien Spirochatenarten zukommende biologische Eigentiimbchkeit der Agglo¬ 
meration; so daB man wohl annehmen darf, daB der herdformige MarkfraB in 
vielen Fallen ein iibrigbleibendes Zeichen fur den Untergang der Spirochaten in 
Form der Spontonagglomeration ist, ein Anzeichen fiir die Reinigung des Gewebes 
von den Spirochaten. 

Bekanntbch sind bisher drei Arten der Spirochiitenverteilung im Gehirn des 
Paralytikers beschrieben, die diffuse, die herdformige und die vaskulfire (Jahnel). 
Es ist die Frage, ob diese drei Typen prinzipiell voneinander zu scheiden sind 
oder ob sie nur zeitlich verschiedene Phasen der LebensauBerungen der Spiro- 
ehftten darstellen. Dieses ist wohl das wahrscheinlichere ; denn klinisch kennen 
wir ja keinen Unterschied zwischen den einzelnen Spiroch&tenverteilungstypen, und 
in Anbetraeht der vergleichenden Biologie der S pi roc hii tenarten miissen wir die 
Agglomeration als eine zeitliche Phase der Vermehrungs- bzw. Untergangsperiode 
der Spirochaten betrachten. Die Agglomeration kann im Einzelexemplar statt- 
finden. Es kommt dann zu den bekannteu Einrollungs- und Verklebungsformen 
der einzelnen Exemplare, oder aber die Agglomeration kann groBe Mengen von 
Spirochaten in ihrem Verh&ltnis zueinander ergreifen. Es kommt dann zu groben 
Spirochatenagglomerationen in Form der herdformigen Verteilung und, wenn 
diese Agglomerationen vornehmlich an den GefiiBwanden stattfinden, zum vasku- 
liiren Verteilungstypus. 

Bei der obenerwahnten Verklebungsform der Spirochaten, wie sie sich in 
manchen Entmarkungsherden findet, zeigt sich gelegentlicli eine gewisse An- 
haufung an den GefiiBwanden und um die GefaBe herum, so daB damit der h&ufige 
Refund der Anordnung eines Entmarkungsherdes zentral um ein Gef&B seine 
Erklarung finden konnte. 

Die biologische Reihe: diffuse Spirochatenanordnung — Spiroch&tenagglo- 
meration — Spirochiitenuntergang — herdformige Entmarkung erklart das Fehlen 
der Entmarkunsgherde in einem gewissen Prozentsatz der Paralysef&lle. De¬ 
monstration mikroskopischer Praparate und Diapositive. 

8. Herr Wuth-Miinchen: Neuere Untersuchungen iibcr Epilepsie und 
.Krampfanfalle (mit Demonstrationen). 

Vortragender berichtete iiber Blutuntersuchungen an Epileptikern im Inter- 
vall und zur Zeit der Anfalle, sowie iiber Vergleichsuntersuchungen, vorgenommen 
;in anderen Anfallskranken. Die Untersuchungen erstreckien sich auf Serum- 
eiweiBgehalt, SerumeiweiBquotient, Gerinnungszeit, antitryptischen Titer, Senkungs- 
geschwindigkeit, Morphologie des Blutes und Chemismus des Blutes (Blutzucker, 
Rest-N, Kreatinin, Harnsaure). Veriinderungen im Intervall fand Vortragender 
hinsichtlich des SerumeiweiBgehaltes, der Leukozyten und eosinophilen Zellen 
und der Harnsaurewerte im Serum. Im Anfall konstatierte er hiiufig hohe Serum- 
eiweiBwerte, meist Vermehrung der Leukozyten, mitunter mit relativer Lympho- 
zytose, Tendenz zu niederen Werten fiir die eosinophilen Zellen; Rest-N und 
Kreatinin, haufiger jedoch die Hamsaurewerte, zeigten leichte Erhohungen, die, 
wie andere Untersuchungen ergaben, auf vermehrte Bildung von Harnsaure zu- 
ruckzufiihren sind (Demonstration von Anfallskurven von 2 Epileptikern, 1 Fall 
von Himtrauma, 1 Fall von Paralyse). Eine strenge GesetzmaBigkeit dieser 
Veranderungen konnte Vortragender nicht konstatieren. Aber auch bei Anfallen 
anderer Genese (Schwangerschaftseklampsie. Paralyse. Hysterie) fand er dieselben 
Blutveranderungen. Aus diesem Grunde und aus der Erwagung heraus, daB 
diese Veranderungen (vgl. Briihl, Mayer-Koppern) nicht einmal gesetz- 
mftBig zum Bilde des genuinepileptischen Anfalls gehoren, folgerte er, daB sie nicht 
als Ausdruck des der genuinen Epilepsie zugrundc hegenden Krankheitsprozessea 


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47. Wanderversanunlung der siidwestdeutsclien Keurologen 


angesprochen werden konnten und sornit aueh die auf diesen Veranderungen 
konstraierten Hypothesen iiber das Wesen der genuinen Epilepsie nicht fiir er- 
wiesen angesehen werden konnten (Gastrointestinale Autointoxikation, ana- 
phylaktische oder endokrine Storungen, Retention von EiweiBspaltprodukten). 
Vortragender betonte sodann die Gleichartigkeit der Veranderungen beim Krampf- 
anfall und bei den im Intervall beim Epilektiker zu beobachtenden Schwankungen 
und war geneigt, einen Zusammenhang der Instability im Intervall mit dem 
Krampfmechani8mus anzunehmen, hielt es jedoch fiir verfriiht, die Frage defi- 
nitiv entscheiden zu wollen, ehe wir hohere Kenntnis iiber Wesen und Zustande- 
kommen der Krampfverfinderungen besaBen. In Verfolgung dieser Frage wurden 
Untersuohungen bei erregten Kranken vorgenommen, deren vorlaufige Resultate 
sich mit den von Sclirottenbach an erregten Paralytikern und von Pfortner 
an motorisch erregten Dem.-praecox-Kranken gewonnenen decken und auch im 
wesentlichen mit den bei KrampfanfaUen zu beobachtenden Verftnderungen im 
Blut. Nachdem Vortragender nocb die Resultate von Rakestraw erwahnt 
hatte, der nach Muskelarbeit beim Gesunden Vermehrung des Rest-N, der Ham- 
sfiure imd des Kreatinins fand, folgerte er, daB die Identit&t der Blut- 
verknderungen bei Krampfanfallen verschiedener Genese, bei Er- 
regungszustanden Geisteskranker und bei korperlicher Arbeits- 
leistung Gesunder wohl dafiir spreche, daB diese Veranderungen 
ihren Ursprung in der gesteigerten Motorik haben. Vortragender 
besprach sodann die aus diesen Resultaten unmittelbar sich ergebenden weiteren 
Fragestellungen und gab der Ansicht Ausdruck, daB weitere Untersuchungen in 
dieser Richtung heute mehr Angriffspunkte als solche iiber das Wesen des Grund- 
prozesses der Epilepsie bieten und auch letzten Endes durch Bereichenmg unserer 
Kenntnisse iiber Krampfmechanismen der Epilepsieforschung zugute kommen 
wurden. 

9. Herr Hauptmann-Freiburg i. B.: Der „Mangel an Antrieb“ — von 

innen gesehcn. 

Unsere Beschreibungen des Seelenlebens und der Bewegungsstorungen der 
psychomotorisch „gesperrten“ Katatoniker sind Deutungen, da noch kein der- 
artiger Kranker uns eine tatsachliche Bestatigung unserer Ajischauungen geben 
konnte. AUe Versuche, durch Befragen von Katatonikern, selbst nach Abklingen 
des akuten Zustandes, Einblick zu erhalten, scheitern daran, daB den Patienten 
der Zugang zu ihrer Psychose nicht offen steht. Das Encephalitis-Material 
(Vortr. beschrankt sich auf das Parkinson-Syndrom) schien geeignet, dem Problem 
nahorzukommen, wobei keineswegs die Unterschiede zwischen den psychomoto- 
rischen bzw. motorischen Storungen der Encephalitiker und Katatoniker ver- 
kannt wurden. 

Die bisherige Literatur geht meist an dem Kempunkt der Frage vorbei. Aus 
der Regungslosigkeit wird ohne nahere Untersuchung auf einen Mangel an An- 
trieb geschlossen oder gar auf ,,Stumpfsinn“, auf ,,Apathie“, auf ,,Affektlosig- 
keit“, wobei das Fehlen der AffektauBerungen mit Fehlen des affektiven Lebens 
selbst verwechselt wird; es wird sogar von „WiUensstdrung“ gesprochen. Wir 
begegnen hier den gleichen Deutungen, wie bei den Katatonikern. 

Der einzig brauchbare W 7 eg zur Erkenntnis ist der, die Patienten selbst Aus- 
kunft geben zu lassen, sich den „Mangel an Antrieb“ von innen anzusehen. Viel 
Zeit und Geduld ist notig, dann aber erhalt man brauchbares Material, da die 
Patienten im Gegensatz zu den Katatonikern eben imstande sind, zu ihren Sto- 
rungen SteUung zu nehmen. 

Die Akinese verrfit uns nichts iiber den Sitz bzw. iiber den Grand der Stoning. 
Geschadigt konnen sein: 1. der sensibel-sensorische Teil des psychomotorischen 


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und Irrenarzte am 27. und 28. Mai 1922 in Baden-Baden. 119 

Reflexbogens (das ware wirklich eine Antriebsstorung), oder 2. der motorische 
Teil, oder 3. der Ubertragungsteil. 

Man kann nach den Resultaten 2 Gruppen unterscheiden, von welchen die 
erste die weit umfangreichere ist: 

1. Gruppe: Es besteht kein Antriebsmangel, das Bedurfnis zu Be- 
wegungen ist durchaus vorhanden, die Patienten fiihlen das Treibende, die Wahr- 
nehmungen und Organempfindungen sind normal affektbegleitet, Lust-Unlust- 
Gefiihle erfiillen sie, von einer Willensstorung, einer EntschluBunfahigkeit ist keine 
Rede, die Kranken leiden unter der Ausfiihrungsunmoglichkeit. — Im moto- 
rischen Teil des Reflexbogens kann die Stoning auch nicht sitzen, da die Be- 
wegung ja schlieBlich doch zustande kommen kann. Es bleibt also der Uber- 
tragungsteil. l)er Sitz an dieser Stelle wird nahegelegt auch durch andere gleich- 
artige Symptome, wie den Mangel an Einstellbewegungen oder miinischen AuBe- 
rungen. Die Akinese kann durchbrochen werden durch Steigerung des An- 
triebs iiber das normale MaB hinaus auf dem Wege des Affektzuwachses. 
Die Patienten setzen sich entweder selbst in „Begeisterung“, oder wir steigern den 
Affekt durch Aufmunterung oder auch dadurch, daB wir den Patienten (etwa 
durch Entgegenstrecken der Hand) neue Wahrnehmungen, assoziative Anregungen 
und damit einen Affektzuwachs geben. Es besteht also kein primarer Mangel 
an Antrieb, man konnte hochstens von einem relativen Mangel an Antrieb 
sprechen, MmUch zu gering im Verhaltnis zu den im t)bertragungsteil des Reflex¬ 
bogens sitzenden Hindemissen. Als Komplikation kommt hinzu, daB das Wissen 
um die Ausfiihrungsschwierigkeiten den Antrieb sekund&r vermindert, 
wie wir das vom normalen Seelenleben her auch kennen. Eine zweite sekundare 
Beeintrachtigung des Antriebs riihrt von dem Mangel an Einstellbewegungen 
her: es fallen Sinneswahmehmungen aus, die ihrerseits oder durch weitere as- 
soziative Bahnung zu Quellen des Affektes werden. Das Fehlen primiirer An- 
triebstorungen wird schlieBlich auch durch die Intaktheit einer anderen psyclio- 
motorischen Eunktion, des Denkens, bewiesen: sowohl das automatische Kommen 
von Vorstellungen, wie das Ausw&hlen, Verfolgen, Kombinieren ist ungestort. 
(Hochstens bedingt bisweilen der Mangel an Einstellbewegungen ein geringes 
Minus an selbsttiitig auftauchenden Vorstellungen.) 

2. Gruppe: Hier kommt zu der eben beschriebenen Stcirung nooh eine wirk- 
liche Antriebsstorung: die Patienten berichten iiber eine Gleichgiiltigkeit; 
den Wahrnehmungen und Organempfindungen fehlt die affektive Begleitung. 
Der Sitz der Storung im Antriebsteil des Reflexbogens wird hier auch durch das 
Vorhandensein primarer Denkstorungen bewiesen: schon das automatische 
Kommen von Vorstellungen ist eingeschrankt (die Patienten einpfinden die 
gedankliche Leere), dann aber auch der eigentlich aktive DenkprozeB. (Sekundar 
wird hierdurch, namlich durch den Ausfall an assoziativ-affektiver Anregung 
auch die Muskelmotilitat beeintrachtigt.) 

Die Untersuchungen zeigen, daB man selir wohl in der Lage ist, das seelische 
Geschehen hinter der erstarrten Fassade zu ergriinden, daB Akinese durchaus nicht 
immer auf Antriebsmangel beruht. Das schwierige Problem des Willens kann 
e.us solcher Forschung Gewinn schopfeu. 

(Erscheint als Originalartikel dieier Zeitschrift.) 

2. Sitzung am 28. 5. 22 vormittags 9 Uhr. 

Als Versammlungsort wird nach Debatte, an der sich die Herren Hoche, 
.Zaoher, Schultze, Wilmanns, Mann, Wollenberg beteiligen, wieder 
Baden-Baden festgesetzt. 

Zu Geschaftsfiihrern werden Wilmanns-Heidelberg und Zacher-Baden- 
Baden gewiihlt. 


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47. Wanderversammlung der siidwestdeutschen Neurologen 


10. Herr Laudenheimer-Miinchen-Thalkirchen: Innersekretorische Sto- 
rungen in Beziehung zu Migrane, Epilepsie und angiospastischen 

Neurosen. 

An der Hand kurzer geschichtlicher Entwicklung wird gezeigt, daO es sioh 
in der Migrane- und Epilepsieforschung heute um Konstitutionsprobleme handelt. 
Die Partialkonstitutionen des vasomotorischen und des endokrinen Systems stehen 
im Vordergrund. Wahrend die vasomotorische Theorie in letzter Zeit physiologisoh 
und anatomisch (0. Muller, Kapillarstudien) gut fundiert ist, bedarf die endo- 
krine Hypothese trotz vieler Einzelbeobachtungen noch der Klaning. Ein seifc 
2 Jahrzehnten beobachteter Fall L.s, wo nach Thyreoidektomie Migr&neanfiille 
auftraten, nach Schilddriisendarreichung verschwanden, gab die Sicherheit eines 
physiologischen Experiments und wurde Ausgangspunkt systematiseher inner- 
sekretorischer Versuche. 

L. sondert seine Falle in solclie, deren Migranekonstitution ausgelost wurde 

1. durch Kriegsstrapazen auf Grund asthenischer Anlage („Kriegsvago- 
toniker“), 

2. im Klimakterium durch seelische und nutritive Schadigung, 

3. angeborene migranose Konstitution mit asthenisch-vasolabiler Konstitution 

verbunden. 

Er gelangt auf Grund seines Materials zu folgenden Schliissen: 

1. In den letzten Jahren (etwa seit Kriegsbeginn) werden anscheinend die 
Falle hriufiger, in denen sich MigrSneattacken mit asthenischem Habitus und 
sog. vagotonischem Sjmptomenkomplex kombinieren. 

2. Dieses Syndrom war in einem Fall sicher als Folge des Ausfalls der Schild- 
driisenfunktion (nach Thyreoidektomie) nachzuweisen, in anderen Fallen — meist 
klimakteri8cher Frauen — machte das gleichzeitige Bestehen leichterer Symptome 
von Schilddruseninsuffizienz diesen Zusammenhang selir wahrscheinlich. Durch 
die giinstige Einwirkung der Schilddriisentherapie auf Allgemeinbefinden und 
speziell auf die Migraneattacken wurde dieser Zusammenhang bestatigt. 

3. Da auch diejenigen Formen von Migrane, die — ohne nachweisbare 
SchilddrusenausfaUserscheinungen — aber mit vagotonisch-asthenischer Ver- 
fassung einhergehen, auf Schilddriisendarreichung giinstig reagieren, haben auch 
diese — (nicht etwa alle Migranefallc uberhaupt) — wahrscheinlich mit Stoning 
der Schilddriise, gelegentlich vielleicht auch der Hypophysensekretion, zu tun. 

4. Diese Vermutung mochte ich ausdehnen auf die auf gleicher konstitutioneller 
Basis erwachsenen Falle, wo neben Migrane echte epileptische Anfalle vor- 
kommen. Wie weit auch diese Gegenstand innersekretorischer Behandlung sind, 
dariiber sind noch Beobachtungen im Gauge. 

11. Herr Weichbrodt-Frankfurt a. M.: Blutforschung und Geistes- 

krankheiten. 

Eine Maus vertragt 1 ccm Menschenserum intraperitoneal beigebracht iin 
allgemeinen gut. Es zeigte sich nun, da B das Serum von endogenen Psychosen 
toxisch war. In manchen Fallen konnte die Toxizitat 2—3 Woe hen, mitunter 
einige Monate, in seltenen Fallen auch dariiber hinaus nachgewiesen werden. 
Auch bei genuiner Epilepsie war das Serum, worauf schon Krainski hingewiesen 
hat, vor und im Anfalle toxisch, wahrend im Intervall keine Toxizitat nachge¬ 
wiesen werden konnte. Die Injektionen miissen intraperitoneal und nicht sub- 
kutan gemacht werden. Die Toxizitat verschwindet, wenn man das Serum auf 
.'>6° erwftrmt. Bevor diese Befunde irgendwie gewertet werden konnten, muBte 
festgestcllt werden, wann iiberhaupt das Serum des Menschen primar toxisch 
ist. Die bisherigen Untersuchungen haben dabei u. a. ergeben, dad das Serum 
der Frau einen Tag vor der Periode und am ersten Tag der Periode toxisch ist. 


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und lrrenarzte am 27. und 28. Mai 1922 in Baden-Baden. 


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Auch bei nianchen Infektionskrankheiten fand sich ein toxisches Serum. Es 
zeigte sich auch, dad nichttoxisches Blut durch Injektionen von arteignem und 
artfremdem Serum, durch Milchinjektionen toxisch wurde. Ebenso wurde das 
Blut nach Quecksilberinjektionen und Quecksilberschmierkuren toxisch. Auch 
das Kaninchenserum war, nachdem das Kaninchen zur Heilung eines Schankers 
auf ungefahr 42° Korpertemperatur gebracht war, toxisch geworden. Ob es sich 
um physikalische Veranderung des Blutes oder urn Abbauvorgange handelt, mud 
weiteren Untersuchungen iiberlassen bleiben. Cber die Bewertung dieser Be- 
funde fiir die Syphilis- und Paralysetherapie soil an anderer Stelle berichtet werden. 
Weitere Untersuchungen werden festzustellen haben, ob diese Befunde uns in 
der Atiologie der endogenen Psychose weiterbringen konnen. 

12. Herr E. Kiippers-Freiburg i. B.: l T ber die Funktioncn des Thalamus. 

Vortragender stellt die These auf, daB die Willensbahn nicht, wie jetzt an- 
genommen, aus einein pyramidalen und einem extrapjTamidalen Anteile be- 
steht, von denen der letztgenannte von der Rinde iiber den Thalamus und das 
Pallidum zum Nucleus ruber und weiter lauft, sondern aus einem thalamo-cortico- 
medulfiren und einem thalamo-pallido-rubro-medullaren Abschnitte, so daB der 
Thalamus zum obersten (psychischen) Reflexzentrum wiirde, von dem alle Impulse 
ausgehen, die die Willenshandlung zusammensetzen. Der Thalamus erscheint 
zu dieser Rolle dadurch priidestiniert, daB in seiner unmittelbaren Nachbarschaft, 
namlich im Hohlengmu des 3. Yentrikels, die obersten vegetativen Regulations- 
zentren liegen, von denen man annehmen darf, daB sie auf die grundlegenden 
korperlichen Bedurfnisse abgestimmt sind, die zu befriedigen der Zweck aller 
primitiven Handlungen ist. (Die Rinde enthalt anscheinend solche Zentren nicht, 
sondern kann nur indirekt durch Vermittlung der thalamischen Zentren auf das 
vegetative Geschehen einwirken.) Der Thalamus ist anatomiscli auch insofem be- 
vorzugt, als er sowohl mit der Rinde wie mit dem Pallidum durch eine doppel- 
liiufige Bahn verbunden ist. Infolgedessen konnen von ihm aus nicht nur beide 
Instanzen gleichzeitig und koordiniert in Tatigkeit gesetzt werden, sondern es 
kann auch wahrend der Ausfiihrung einer Handlung immer schon die folgende 
vorbereitet werden. wobei dann der Thalamus auf dem Wege iiber die riieklaufigen 
cortico- und pallido-thalamischen Bahnen fortlaufend iiber den Stand dieser 
Vorbereitungen unterrichtet wiirde. Zu diesen anatomischen Hinweisen auf die 
zentrale Stellung des Thalamus kommt als weiteres Moment die Tatsache, daB 
wir im Thalamus nicht nur eine Unterbrechungsstelle fiir die gesamte Sensibilitat, 
sondern auch ein selbstandiges Reflexzentrum fiir den Affektausdruck zu sehen 
haben. Und zwar miissen wir annehmen, daB die dem Affektausdruck zugrunde 
liegenden Impulse, soweit sie motorischer Art sind, vom Thalamus aus unter 
Umgehung der Rinde direkt iiber die subkortikalen Ganglien in die Peripherie 
laufen, wahrend die begleitenden Ausstrahlungen ins Vegetative, wie etwa beim 
Weinen oder beim Erroten und Erblassen, vom Hohlengrau aus direkte Wege 
benutzen wiirden. Mit unseren Kenntnissen von den Funktionen der Hirnrinde 
lassen sich diese Annahmen durchaus vereinigen. Man muB sich nur klar machen, 
daB wir zur Erklarung der intellektuellen Funktionen zwei Instanzen brauchen, 
die immer Hand in Hand arbeiten: eine, in der sich das sinnliche Material erst 
einmal in ungeordneter Form sainmelt, und eine zweite, die die Formeln fiir 
die auffaasenden Bewegungen in sich enthalt, durch die wir uns die Gegenst&nde 
der Umwelt geistig zu eigen machen. Die erste Instanz, das „Sensorium com¬ 
mune", wfire der Thalamus, die zweite die Rinde. Tatsachlich lehren die Ent- 
rindungsexperimente, daB schon in den subkortikalen Zentren eine summarische 
Perception zustande kommt. Femer laBt sich nur so erklaren, warum die Sen- 
si bilitatsdefekte bei zentralen Lasionen einen ganz anderen Charakter annehmen. 


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47. Wanderversammlung der siidwestdeutschen Meurologen 


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je nachdom ob die Unterbrechung unterhalb oder oberhalb des Thalamus liegt. 
Im era ten Falle l&Bt Bich n&mlich zeigen, daB diese Defekte aul einem Ausfall 
von sinnlichem Material beruhen, im zweiten, daB der Fehler in der Verarbeitung 
dieses Materials liegt. 

13. Herr E. A. Griinewald-Freiburg i. B.: Ober die Pathogenese der 

„Landryschen Paralyse**. 

Trotz der Pragnanz des klinischen Krankheitsbildes der Landryschen Paralyse 
ist es bisher nicht moglich gewesen, diese auf eine pathologisch-anatomische 
Normalform und auf einen iitiologischen Generalnenner zu bringen. Es ist zwar 
eine ganze Reihe von atiologischen Faktoren beschrieben worden, aber keine von 
ihnen kann als essentielle Ursache angesprochen werden. Der friiher geradezu 
pathognomonische ..negative Sektionsbefund" ist zwar durch ein Plus von pa- 
thologisch-anatomisclien Beftmden uberkompensiert worden, aber mit der rein 
morphologischen Klassifizierung der Strukturveriinderungen unter die verechie- 
denen „-itis-“Formen der Neuropathologie ist das Gegenteil von einer einheit- 
lichen Begriffssubstition erreicht. Die L. P. wird zum Symptomenkomplex de- 
gradiert, der eine Phase im Verlauf von verschiedenen histo-pathologischen fest- 
liegenden Krankheitsbildem darstellt. Gegen diese Tendenz, die L. P. als Krank- 
heitsbild sui generis preiszugeben, spricht ihr markanter klinischer Charakter. 
AuBerdem sind die verschiedenen Entziindungsbefunde nicht conditio sine qua 
non fur das Entstehen der L. P., denn der breite Strom der aufsteigenden pro- 
gressiven L&hmungen verlauft unter rein degenerativen Prozessen, die allerdings 
neben den histologischen Enblemen der „-itiden“ haufig auftreten. Der ihnen 
eigene Eindruck der Passivitat der Gewebe, des Fehlens der regulatorischen Me- 
chanismen und damit der unaufhaltsamen Progression weist auf einen Paralle- 
lismus zur Eigenart des klinischen Krankheitsbildes hin. Da sie sich weiterhin 
in der Hauptsache jenseits der ektomesodermalen Barriere unmittelbar am funk- 
tionstragenden Parenchym abspielen, legen sie eine pathophysiologische Be- 
trachtungsweise nahe. Es handelt sich bei ihnen um Entmischungen des Proto¬ 
plasmas, das nach der Komplextheorie als eine Dispersion von chemisch hetero- 
genen Stoffen aufzufassen ist. Der fiir die Lebensprozesse optimale Dispersions- 
grad ist der kolloide Zustand, in dem die einzelnen Stoffe histochemisch nicht 
faBbar sind. Verschiebt sich der auBerst labile Gleichgewichtszustand, werden 
die einzelnen Lipoide mikrochemisch differenzierbar. Da sie infolge ihres 
hohen Sauerstoffspeicherungsvermogens einen auBerordenthchen EinfluB auf die 
energetischen Aufgaben der Zelle haben, liaben Storungen des Lipoidstoffwechsels 
unmittelbar Dysfunktionen der Zelle als nutritives und innervierendes Zentrum 
zur Folge. Verlaufen die Storungen nach Tempo und Ausdehnung im prestissimo 
oder werden friihzeitig lebenswichtige Zentren befallen, so kann es zu einer starken 
Diskrepanz zwischen nachweisbaren degenerativen Strukturver&nderungen und 
Funktionsausfall kommen, die bei den Fallen mit negativem Sektionsbefund 
im Superlativ impliziert ist. Als auslosende Ursachen fiir das Entstehen solcher 
regressiven Metamorphosen kommen in erster Linie Toxine in Frage. Die von 
Landry fiir seine ersten F&lle stipulierte allgemeine Vergiftung des Organismus 
erscheint in nichts prajudiziert. Es bedarf dazu natiirlich keineswegs immer 
nachweisbarer Ektotoxine; Autointoxikationen spielen eine groBe Rolle. VVie 
Oppenheim die Bedeutung der neuropathischen Diathese unterstrich fiir das 
Zustandekommen von spontanen Polyneuritiden, so erscheint auch fiir die L. P. 
die Forderung eines in besonderer Krankheitsbereitschaft befindlichen pramorbiden 
Organismus notwendig. Diese ToxiniiberempfindUchkeit kanu dadurch zustande 
kommen, daB wiederholt im Organismus Gifte z. B. aus dem Darmkanal kreisen, 
die ihn in den Zustand der Allergie im Sinne einer Cberempfindlichkeit versetzen. 


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und Irrenarzte am 27. und 28. Mai 1922 in Baden-Baden. 


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oder daB ein immun-schwacher Organismus ungeniigend lokal auf eine bakterielle 
Invasion und mehr allgemein gegen die Bazillen als korperfremde EiweiBsubstanzen 
reagiert, wodurch wiederum ein Zuatand der Uberempfindlichkeit erzeugt wird. 
Bei der besonderen Affinitat der Anaphylatoxine zum Nervensystem und der 
Aviditat zwischen Toxinen und Lipoiden sind intensive kolloidoklastische Reak- 
tionen die Folge, die zu den Funktionsbeeintrfichtigungen im Furioso der L. P. 
fiiliren konnen. Als Stiitzpunkt fiir diese Theorie lassen sich histochemische 
Untersuchungen anfiihren, die zu ahnlichen Resultaten fiihren wie sie verschie- 
dentlich bei der progressiven Paralyse gefunden werden, bei der zur Erklarung 
des Nebeneinanders von Gewebsverfinderungen verschiedener histologischer 
JJignitat auch anaphylaktische Vorg&nge herangezogen werden; ferner bewahrte 
sich die Theorie als heuristisches Prinzip zur Klarung einer Reihe klinischer Er- 
scheinungen. 

14. Herr F. Morchen-Wiesbaden: Wie stellen wir uns zu dem wissen- 

schaftlichen Okkultismus? 

Die groBe und vielfach ungesunde Ausdehnung okkulter und spiritistischer 
Bewegungen in weitesten Volkskreisen bis in die Schulen hinein notigt uns zur 
Stellungnahme. Diese muB eine emsthaft kritisch-wissenschaftliche sein, weil neuer- 
dings mehr als je eine Anzahl von Gelehrten den Anspruch auf naturwissen- 
schaftlich-experimentelle Beweisbarkeit „okkulter“ Phfinomene erhebt. 
Wir miissen unterscheiden zwischen dem eigentlichen Okkultismus, der im Rahmen 
natiirlichen Geschehens die von ihm konstatierten „supernormalen“ Erschei- 
nungen auf iibersinnliche F&higkeiten „medial“ veranlagter Personlichkeiten 
zuruckfiihrt, und dem Spiritismus, der in jenen Erscheinungen das Wirken von 
Geistem aus dem Jenseits erbhckt. 

Gegeniiber der modemen Okkultismusforschung miissen wir zunachst be- 
anstanden, daB sie die Auto ri tat einer beschrftnkten Anzahl von Gelehrten in 
dogmatischer Weise ins Feld fiihrt. Wenn auch manche dieser zum Teil lange 
verstorbenen wissenschaftlichen Okkultismuszeugen in ihrem Fach als Physiker, 
Zoologe usw. Weltruf hatten, so kann das andere nicht verpflichten, ihre okkulten 
Forschungsergebnisse glftubig hinzunehmen. MaBgebend fiir die Neigung zur 
okkultistischen Betatigung und fiir die meist festzustellende kritische Insuf- 
fizienz der literarisch-wissenschaftlichen Produktion der Okkultismusforscher 
exscheint uns eine besondere Anlage zur Beschaftigung mit mystischen und iiber- 
sinnlichen Dingen zu sein, die kiinstlerisch phantasievoller Anlage vergleichbar 
ist. Diese Anlagen sind in ihrer Auswirkung hinsichtlich Affektivitat, Auto- 
und Heterosuggestibilitat bei der okkultistischen Betatigung unabhangig vom 
sonstigen geistigen Niveau und Bildungsgrad. Sie bedingen eine gewisse seelische 
^'erwandtschaft mit den als „Medien“ arbeitenden Personen, eine fast iiberall 
zu beobachtende Mangelhaftigkeit der Versuchsanordnung, groBe Willkurlicli- 
keit in der Deutung der medialen Ergebnisse, VemachlAssigung vieler Feliler- 
quellen usw. Das Milieu okkultistischer Experimente (Kabinette, Vorhange, 
Halbdunkel) ist ungeeignet fiir exakte Beobachtungen. — Soweit die medialen 
Lemtungen (meist im Trancezustand vollbracht) rein psychische sind, rnogen 
sie ein interessantes Objekt psychologischer Forschung sein. Nach unserer Auf- 
fassung handelt es sich dabei im wesentlichen nur um graduelle Steigerungen 
der Sensibilitat, der Sinneswahmehmung, der Gedachtnisfunktion. 

Die psychophysischen Leistungen der Medien (Telekinese, Teleplastik, 
Materiahsation psychischer Krafte) mochten wir als rein technisch zu beur- 
teilende Kunststticke vergleichbar denen gewisser „Zauberer“ betrachten, mit 
denen sie die Eigenschaft des „Unerklarlichen“ und Verbliiffenden teilen. — Be- 
denklich erscheint die Tatsache, daB die groBe Masse der Psychopathen und 


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47. Wanderversammlung der stidwestdeutschen Neurologen 


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Neurotiker, der seelisch schwacher Veranlagten, von der okkulten und spiriti- 
stischen Bewegung am intensivsten ergriffen wird. Das gilt teilweise auch fiir 
die auf okkulter Grundlage beruhende Anthroposophie. 

15. Herr W. Mayer-GroB-Heidelberg: tlber das oneiroide Zustandsbild. 

Es ist seit langem bekannt, dab gewisse Zust&nde trau mar tiger Verwirrt- 

heit bei den beiden groflen Gmppen der funktionellen Psychosen, Schizophrenic 
und manisch-depressives Irresein, vorkommen. Eine ganze Anzahl der bekannten 
Selbstschilderungen der Literatur enthalten Darstellungen einer wohlcliarak- 
terisierten Erlebnisform, die bei groDer Verschiedenheit des auBeren Verhaltens 
der Kranken, das aber in der Hauptsache als „katatonisch“ imponiert, fiir die 
phanomenologische Analyse eine Anzahl durchgangiger Merkmale aufweist. So 
erscheint die Aufstellung eines Zustandsbildes berechtigt, das von deliriosen, 
amentiellen und Dammerzustandsformen wohl abgrenzbar ist und wegen seiner 
Verwandtschaft zum Traum, die im einzelnen aufzeigbar ist, die Bezeichnung 
oneiroid traumahnlich verdient. Eine Nachuntersuchung der alten Ealle der 
Literatur und von Fallen eigner Beobachtung, die iiber viele Jahre verfolgt sind, 
ergibt, daB das Zustandsbild bei beiden diagnostischen Einheiten gefunden wird 
und dariiber hinaus bei einzelnen Fallen, die sich bisher jeder diagnostischen 
Einreihung widersetzen. Die Frage nacli der Entstehung des Zustandsbildes 
wurde sowohl unter Heranziehung der pramorbiden Personlichkeit, wie der Here- 
ditat zu klftren versuclit. Die Ergebnisse dieser Bemiihungen werden demnachst 
in einer ausfiihrlichen Mitteilung veroffentlicht. 

16. Herr S. Auer bach-Frankfurt a. M.: a) Ein Versuch zur Erklarung des 
epidemischen Auftretens der Encephalitis in den letzten Jahren. 

DaB die Encephalitis epidemics in ursachlichem Zusammenhange mit den 
Grippeepidemien der letzten Jahre steht, wird jetzt von den meisten Autoren 
augenommen. Auch in und nach den friiheren Influenzaepidemien sind Hirn- 
entziindungen beobaehtet worden. Aber sie traten nur sporadisch auf und be- 
trafen meist die Hirarinde; ihre Prognose war eine relativ gunstige. Die Ence¬ 
phalitis der letzten Jahre befiel eine groBe Anzahl Individuen, sie war in erster 
Linie im Strcifenhiigcl lokalisiert, und ihr Ausgang war in vielen Fallen todlicli 
und in nicht wenigen Fallen ungiinstig beziiglich volliger Wiederherstellung. 

Diese Unterschiede mochte A. durch das Zusammenwirken zweier ur- 
sachlicher Momente erklaren: 

1. In den letzten Kriegsjahren und in den darauffolgenden Jahren hat die 
ganze Menschheit, namentlich aber Mitteleuropa, nicht nur korperlich, sondern 
auch psychisch ganz auBerordentlich gelitten, wie vielleicht niemals zuvor. Xun 
ist es eine unbestrittene Tataache, daB jedes tierische Organ eine um so groBere 
Blutmenge erhiilt, je mehr es sich bettitigen muB, und zwar infolge von aktiver 
Erweiterung seiner Blutgef&Be. Wir werden also wohl in der Annahme nicht 
fehlgehen, daB die Gehirne in jenen Zeiten auBerordentlich hyperSmisch 
waren. Mit dem groBeren Affluxus sanguinis nach dem Gehirn wurde dieses 
Organ natiirlich auch von einer groBeren Menge von Krankheitserregern iiberflutet. 

2. wissen wir, daB die den Streifenhiigel versorgenden Aste der Art. 
fossae Sylvii zum Unterschiede von den die meisten anderen Himpartien 
ernahrenden Gef&Ben Endarterien sind, zwischen denen Anastomosen nicht 
bestehen. Da auch die Venen hier wenig zalilreich sind, stagniert das Blut 
in den einzelnen Emahrungsbezirken auBerordentlich leicht. Es leuchtet ein. 
daB die Krankheitserreger bzw r . deren Toxine bei solchen mechanischen Verhalt- 
nissen diese Gewebeteile in hohem Grade schftdigen miissen, weil sie mangels 
einer kollateralen Blutversorgung viel langer mit ihnen in Beriihrung bleiben 
und nur ganz langsam zur Ausscheidung gelangen werden. 


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und Irrenarzte am 27. und 28. Mai 1922 in Baden-Baden. 


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DaB die Zahl der Erkrankungen nicht noch viel groBer war, ist vermutlich 
auf die sehr erheblichen individuellen Variationen in der Geffi Bversorgung des 
Streifenhiigels zuriickzufuhren. 

b) Eine Anregung zur Verhiitung der metaluetischen Erkrankungen 

des Zentralnervensystems. 

Bei der Trostlosigkeit der bisherigen Therapie der Tabes und Paralyse erhebt 
sieh die bedeutsame Frage, ob man — abgeselien von der idealen koupierenden 
Beseitigung des prim&ren Infektionsherdes im seronegativen Stadium — nichts 
tun kann, um den spiiteren Ausbruch der metaluetischen Erkrankungen zu ver- 
hiiten. 

Es wird immer sicherer, daB diejenigen Luetiker, die im Sekundarstadium 
nur schwache oder gar keine Hautsyphilide durchgemacht haben, eine erheblich 
grdBere Anwartschaft auf eine Tabes und Paralyse besitzen, als ihre Leidens- 
genossen, bei denen die Hautlues deutlich in die Erscheinung getreten ist. Sehr 
wahrscheinlich ist diese Erfahrung auf eine kongenitale Immunschwitche 
des Hautorgans gegeniiber demLuesgift zuriickzufuhren. Ob die Abwehrfunk- 
tion der auBeren Bedeckungen auf einer innersekretorischen Tatigkeit der Epi- 
dermiszellen beruht, oder ob das Bindegewebe der Subcutis als ein Antikorper- 
Reservoir anzusehen ist, miissen weitere Forschungen ergeben. Es konnte sich auch 
um eine kongenitale, auf Vererbung beruhende Unterwertigkeit des gesamten 
Ektoderms gegenuber eingedrungenen Krankheitserregem bzw. deren Giften 
handeln; dann wiirde diese Schwache nicht nur den auBeren Integuinenten, sondern 
auch dem Gehim- und Riickenmarksgewebe selbst eigentiimlich sein. 

Wie dem nun auch sei, jedenfalls sollten wir mit alien Mitteln versuchen, bei 
luetisch Infizierten, die nach Ablauf der ersten Periode der Krankheit, also durch- 
schnittlich 9 Wochen nach der Infektion, keine oder nur schwache Erscheinungen 
auf der Haut zeigen, die Abwehrfunktion dieses Organs auf das ener- 
gischste anzuregen und, soweit wie moglich, zu steigern. Diese wich- 
tige Aufgabe miiBten die syphilidologischen Kliniken iibemehmen und in syste- 
matischer Weise ausfiihren. Alle Anwendungen, die geeignet seien, eine kraftige 
Hyperamie der Haut zu erzeugen, miiBten in Anwendung kommen: die 
Heliotherapie in ihren verschiedenen Modifikationen, Abreibungen mit Sole, 
Salz, Warmeapplikationen jeder Art, femer der Baunscheidtismus imd die Frei- 
luftliegekur bei Tag und bei Nacht. Mit diesen Reizen miisse ofters gewechselt 
werden, da sich der Organismus auch an stiirkere Einwirkungen allmahlich ge- 
wohne. 

17. Herr Raecke-Frankfurt a. M.: Traumatische Neurose und arztliches 

Schiedsgericht. 

Vortragender berichtet iiber das von der Eisenbahndirektion Frankfurt an- 
genommene neue Vergleichs- und Abfindungsverfahren. Grundsatzlich werden 
alle Anspriiche durcli das einmalige Urteil einer Arztekommission erledigt, die 
also auch die endgiiltige Hohe der Abfindimgssumme festsetzt. Berufung gibt 
es nicht. Massenhafte neurotische Beschwerden verschwinden nach solch rascher 
Entscheidung wie mit einem Schlage. Die Erfolge dieser Methode sind so gunstig, 
daB man ihr die weiteste Verbreitung wiinschen darf. 

18. Herr v. Weizsiicker-Heidelberg: t^ber Bewegungsstorungen, beson- 

ders bei Encephalitis (experimentellc Untersuchungen). 

Dber die jetzt gewohnlich als strio-pallidar oder thalamo-strio-pallidar an- 
gesehenen Bewegungsstorungen ist in den letzten Jahren eine betrachtliche de- 
skriptive Arbeit geleistet worden. Dagegen hat die physiologische Analyse der 
wichtigsten Phttnomene, die nur durch eine experirnentelle Untersuchung erfolgen 
kann, die Tatigkeit der Neurologen weniger beschiiftigt. Ich denke da bei wenigcr 


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47. Wanderversammlung der siidwestdeutschen Neurologen 


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an die lokalisatorische Frage, als an die richtige physiologische Definition der 
Erscheinungen. Meine Darlegung muB sich hier im wesentlichen auf die als Rigor 
oder Hypertonie bei den Kranken bekannten Zust&nde der Muskulatur beschranken. 
Schon hier beginnen Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Frage, ob wir 
es mit einem rein innervatorischen oder iiberdies mit einem muskularen Problem 
zu tun haben. Eine kleine aber sehr beachtete Anzahl von Forschem sprach ja 
die Meinung aus, daB bei jenen Zustanden eine besondere Substanz im Muskel 
sich geltend mache: diese Tonussubstanz vermoge bei jeder Lange des Muskels 
gleichsam zu erstarren und sei so ohne wesentlichen Stoffverbrauch, ohne oszil- 
lierende Aktionstrome geeignet, Rigorzustiinde, aber iiberhaupt Halteleistungen 
zu erzeugen. Angesichts der schon weitverbreiteten Meinung, es handle sich hier 
um eine gesicherte Anschauung, mochte ich wiederholt 1 ) hervorheben, daB der 
bisherige Gang der Forschung ihr nicht gunstig war. Die Vermutung, daB die von 
Boeke gefundene sympathische Innervation des Muskels an einer Tonuswirkuug 
erkennbar sei, hat sich nicht bestatigt: die Sympathikusdurchschneidungen iiben 
keinen greifbaren EinfluB auf den Tonus. Auch die Hoffnung, man besitze in der 
Kreatinbildung ein Anzeichen der Funktion des zweiten Substanz, hat sich nicht 
erfiillt. Und wahrend die Stoffwechseluntersuchungen in ihrer Deutimg zweifel- 
haft blieben, wurde durch die Aufnahme der Aktionstrome positiv gezeigt. daB 
diese bei den hypertonischen Zustfinden niemals fehlen. Ich erinnere Sie an die 
Mitteilung Rehns im vorigen Jahre, an Versuche von VVeigeldt und an eine 
systematische Bearbeitung aus der Heidelberger Klinik 1 ), die kiirzlicli erschien. 
Ich mochte hier nun einen weiteren Beitrag liefern. Wenn im Muskel zwei Sub- 
stanzen von so grundverschiedenen physikalischen Eigenschaften funktionierten, 
wie die Tonushypothese es will, dann ware zu erwarten, daB sie sich auch hin¬ 
sichtlich ihrer elastischen Eigenschaften unterscheiden. Ich habe deshalb Unter- 
suchungen iiber die physikahsche Dehnbarkeit der Muskeln am Lebenden an- 
gestellt, bzw. ihren reziproken Wert, den Blast izitatsmodul, bestimmt. Ich be- 
nutzte dabei nicht die hier ungeeignete Methode Gildemeisters, sondeni ein 
von P. Hoffmann in Wurzburg ausgearbeitetes Verfahren 2 ), welches auf der 
Registrierung der in einem Muskel durch Detuning erzeugbaren elastischen Schwin - 
gungen beruht. Aus der Schwingungszahl laBt sich unter Anwendung des Pendel- 
gesetzes der Blast izitatsmodul berechnen. Der Vergleich zwischen Gesunden 
und Encephalitischen mit z. T. erheblichen Rigor zeigt, daB die Blastizitats- 
moduln bei beiden vollkommen ubereinstimmend gefunden werden. Auch hier 
weist nichts darauf hin, daB ein physikalisch oder physiologisch abweichendes 
Substrat die Eigenschaften des im Rigor befindlichen Muskels bestimme; es ist 
in elastischer Hinsicht identisch mit de m normalen. 

Hieraus folgt aber, daB die Elastizitat iiberhaupt nicht die Eigenschaft ist, 
mit welcher man den ,.Tonus' 1 nfllier bestimmen konnte. Worin aber besteht 
dieser alsdann? Hier ist auszugehen von der Art, wie wir am Krankenbett den 
Tonus priifen. Wir times, indem wir die Kraftschatzen, die wir aufwenden nnisseu, 
um sog. passive Bewegungen in einem bestiminten Gelenk zu bewirken, also die 
in der Physiologie sogenannten gefiihrten Bewegungen bei innervierter Musku¬ 
latur. Durch fiuBere Kraft also werden bestimmte Insertionen angenahert oder 
entfemt. Muskeln gedehnt oder entlastet. Durch diese auBere Kraft werden, 
wie Klinik und Physiologie zeigen, zunachst in den Muskeln propriozeptive Reflexe 
ausgelost. Durch rasche Dehnung entstehen Sehnen- oder Eigenreflexe (P. Hoff- 
111 a n n), also eine der Dehnung entgegenwirkende, eine kompensierende Innervation- 
Durch langsamere und anhaltende Dehnung dagegen u. U. das, was Sherring- 


>) Vgl. Hansen, Hoffmann u. v. Wefisicker, Ztschr. f. Biol. 19 l’ 2. 
2 ) Zeitschr. f. Biol. 1922. 


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und Irrenarzte am 27. und 28. Mai 1922 in Baden-Baden. 


127 


ton als Yerlfingerungsreaktion bezeichnete, also eine der Dehnung nachgebende 
Erschlaffung, eine adaptierende Denervation. Auf ahnliche, jedesmal im Sinne 
der Dehnung wirkende Reize konnen also in ihrem Vorzeichen genau entgegen- 
gesetzte Reflexe eintreten: kompensierende Innervation oder adaptierende De¬ 
nervation. Soli nun eine passiv gefiihrte Bewegung leicht erfolgen, so ist es notigr 
dafi ein Reguliervorgang die kompensierenden Eigenreflexe unterdriicke, die adap- 
tierenden Reflexe (oder Reaktionen) dagegen in Gang setze. Geschieht das Gegen- 
teil, so ist eine gefiihrte Bewegung unmoglich, die Rigiditat ist maximal. 

Indem ich so von dem klinisch iiblichen Modus der Tonusuntersuchung aus- 
ging, habe ich mir nun Apparate geschaffen, die gestatten, die Kraft zu messen, 
die notig ist, um ein Glied in einem Gelenk passiv zu bewegen unter gleichzeitiger 
Registrierung dieser Bewegung. Wie kann man hier einen quantitativen Aus- 
druck des Tonus finden, welches ist sein M a 13? Die Untersuchung am Normalen 
zeigte zun&chst: Sieht man von der Tragheit der bewegten Massen ab, dann braucht 
man um so groBere Kr&fte, je rascher die gefiihrte Bewegung ist. Damit ergibt 
sich also, daB die scheinbare Dehnbarkeit um so groBer ist, je langsamer die 
Bewegung erfolgt. Diese Abhangigkeit der Dehnbarkeit von der Zeit ist aber ein 
Phanomen, das der physikalischen ElastizitAt gar nicht zukommt: der Befund 
ist ein Beweis, daB der Tonus keine physikalische GroBe, sondern ein physio- 
logisch funktioneller Zustand ist. Suchen wir aber nun fur diese ein MaB 
zu finden, so ist es danach zu definieren als die Kraft, die hinreicht, um eine ge¬ 
fiihrte Bewegung bestimmter Geschwindigkeit zu bewirken. ZoblenmaBig und rein 

1C r&ff t k 

empirisch definiere ich also: der Tonusindex Jistgleich der 

Geschwmdigkeit c ’ 

und ich finde ihn beispielsweise bei einem Encephalitis-Rigor ca. 30mal groBer 
als beim Gesunden. 

Hiemach ist also Hypertonie oder Rigor als die Stoning in der Regulierung 
bestimmter Reflexe bei gefiihrter Bewegung erfaBt. Ich behaupte nicht, daB 
damit erschopfend iiber die verschiedenen Rigorformen beim Menschen gesprochen 
sei. Doch liegt darin vielleicht doch eine Klftrung, daB die Storung wesentlich 
als eine die Sensomo tilit&t betreffende erfaBt wird, und wenn wir klinisch 
gelaufige Begriffe anwenden wollen, dann miissen wir Rigor und Hypertonie de¬ 
finieren als eine sensomotorische Ataxie im Zusammenspiel der kompensierenden 
und adaptierenden Reflexe. 

Dies ist nun auch einer der Griinde, warum wie ich glaube gegen die physio- 
logische Bewertung des Begriffes Myastasie oder amyostatisches Syndrom Be- 
denkei bestehen. Statik und Kinetik sind nicht nur unzertrennlich verbunden, 
sondern in ihren physiologischen Mechanismen identisch. Eine statische Leistung 
ist eine kinetische mit dem Bewegungseffekt = 0. Eine solche unitarische Auf- 
fassung gilt ebensosehr in bezug auf die Muskelsubstanz wie auch hinsichtlich 
der Zentrenfunktion. In den bei den Fragen sind nach meiner Uberzeugung fiir 
den Menschen und den Warmbliiter bisher keine Beweise beigebracht, die uns 
notigen, von dieser einheitlichen Auffassung abzugehen. Auch ist es nicht wahr- 
scheinlich, daB das angenommene besondere Tonussubstrat, wenn vorhanden, 
eine quantitativ ins Gewicht fallende Rolle in den uns bekannten und bisher 
untersuchten Zust&nden des Gesunden oder Kranken spielt. 

19. Herr Weygandt-Hamburg: Gber aktive Paralysebehandlung. 

Nicht die Anwendung unspezifischer Reizmethoden oder etwa endolumbaler 
oder endokarotidialer Salvarsanisation oder Lufteinblasung in das Zentralnerven- 
system, sondern Impfung mit Infektionskrankheiten kommt im folgenden in Be- 
tracht. Eine Obersicht hat, nachdem im Prinzip eine remissionagiinstige Wirkung 
feststeht, vor allem dann Bedeutung, wenn sie sich auf ein groBeres Material er- 


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47. Wanderversammlung tier slidwestdeutschen Xeurologen 


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streckt, das die Gefahr der Fehldiagnosen zuriickdrangt, und gewinnt an Wert, 
je langer die Beobachtungsdauer ist. 

Wir haben in Friedrichsberg-Hamburg seit 3 Jakren 156 Falle von Paralyse 
mit Malaria oder Recurrens geimpft. Die 38 im letzten Halbjahr geimpften werden 
liier nicht mitverwertet. Der Begriff Besserung stiitzt sich nicht auf serologische 
oder somatische Symptome, sondem ist allgemeiner, doch vorwiegend psycho- 
logisch-praktisch zu verstehen, maBgebend ist die Ann&herung an die Berufs- 
tatigkeit, wobei Wegfall der schwereren Kbrpersymptome selbstverstAndlich ist. 

Gruppe A entkalt die Falle, die voile Berufsf&higkeit wiedererlangt haben 
und ihren Lebensunterhalt verdienen. 

Gruppe B enthftlt auch solche, die wieder berufstatig sind, doch unter leichter, 
khnisch nachweisbarer Schwachung, die aber am Verdienen des Lebensunterhaltes 
nicht hindert. 

Gruppe C sind Arbeitsfahige, die aber doch noch derart geschwacht sind, daB 
besondere Riicksicht erforderlich ist. 

Gruppe D sind die Unveranderten und moist noch Anstaltsbediirftigen. Gruppe 
E sind die Verstorbenen. Es sei erwahnt, daB auch bei der letzteren Gruppe 
nur in einem Falle eine ungunstige Kurwirkung auf die Herztatigkeit als 
Todesursache erwiesen ist. 


Gruppe A umfaBt 

37 

Patienten = 31,37°/ 0 

>» B „ 

32 

„ = 27,1 o/ 0 

„ c „ 

13 

„ = 11,0 o/ 0 

» D 

24 

„ = 20,34°/o 

„ E „ 

12 

„ = 10,17% 


Demnach sind 58,5°/ 0 der Falle als eine gute Remission zu bezeichnen, w&hrend 
bei der Gruppe C Besserung unter Annakerung an die Berufst&tigkeit vorliegt, 
aber doch gewisse Riicksichten erforderlich sind. Mit dieser letzteren Remissions- 
gruppe, die an Intensitat den meisten Remissionen fruherer Jahre iiberlegen 
scheint, waren es 69,5°/ 0 aller Falle, die eine Remission bekamen. 

Um die lediglich durch die Behandlung erzielte Besserung festzustellen, muB 
zunachst eine Reihe von Fallen abgezogen werden, bei denen den bisherigen Er- 
fahrungen entsprechend Spontanremissionen zu erwarten gewesen w8ren. Nach 
Kirschbaums Untersuchungen finden sich bei 962 Hamburger Patienten ll,4°/ 0 
Spontanremissionen. Zieht man noch als Quote dafiir, daB unsere Falle doch 
klinisch auf Frische usw. ausgesucht werden, 8°/ 0 ab, so kommen wir noch auf 
gut 50°/ 0 , bei denen die aktive Behandlung tatsachlich Remissionen erwirkt hat. 

Unter den 37 Fallen der Gruppe A stehen 13 im 3. Jahre seit Behandlungs- 
beginn. 14 im 2. Jahre. Unter den Berufen finden sich ein Arzt, ein Zollbetriebs- 
sekretar, Kaufleute, Geschaftsreisende, Ewerfiihrer usw. Viele fiihlen sich sub- 
jektiv besser als friiher, besonders loben sie den guten Schlaf. Mehrere Falle 
befinden sich auf anstrengenden Geschaftsreisen im Auslande. 

Die korperlichen Symptome sind meist deutlich zuriickgegangen; hartnackig 
bleiben die Pupillenstorungen. 

Soweit serologisch Nachprufung moghch, findet sich auch bei guten Re¬ 
missionen nicht imrner eine Besserung der Reaktionen, manchmal freilich komint 
es zu normaler Zellzahl, Wassermann 1,0—, Globulinreaktion Spur Opaleszenz. 
Hartnackig ist vielfach Wassermann im Serum. Gelegentlich geht serologische 
Besserung der Klinisch-Somatischen voraus. Ein Fall, der 42° Fieber iiberstand, 
hatte glanzende Besserung, doch zunachst Wassermann-Blut und Liquor je -j—[— 

!/ 2 Jahr nach Impfung zeigte Liquor 0,5—und 1,0 —j—. EinigeWochen nach 13Neo- 
salvarsandosen, meist von 0,6, war Wassermann-Blut negativ geworden. Am 
besten reagieren klassische, erregte, expansive Falle, doch kommen auch demente 


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und Irrenarzte am 27. und 28. Mai 1922 in Baden-Baden. 


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zur Besserung. Korperliche Rvistigkeit hebt die Aussichten. Immerhin hat auch 
ein 65jahriger Mann sich trotz Aortenaneurysma impfen lassen und erhielt so 
intensive Remission, daB er jetzt schwierige Geschaftsreisen im Auslande aus- 
fiihrt. 

Zur Ergiinzung der Impfung warden bei uns in Betracht gezogen intravenose 
und endolumbale, auch endokartidiale Salvarsanisation, sowie unspezifische 
Temperatursteigerung mit chemischen Mitteln wie Aolan, Yatren-Casein usw., 
oder Bakterienderivaten. Femer schritten wir zur Wiederimpfung, gelegentlich 
zur dritten. 

Parasitologisch ist Tertiana am verwendbarsten gegenviber Quartana und 
Tropica. Recurrens zeigte keine besonderen Voraiige, die erwartete sehr hohe 
Temperatur blieb aus, und seine Eigenart als Spirillose brachte keine weiteren 
Vorteile. 

Restlos geniigen konnen unsere Methoden nicht, weil noch zahlreiche Ver- 
sager vorkommen und in der Regel noch einzelne klinische Zeicheu wie Pupillen- 
storung sowie Serunircaktionen zuriiokbleiben. Das Wesen der Impfbeeinflussung 
beruht auf der nichtspezifischen Abwehrstofferzeugung, wodurch vor allem die 
Spirochaten mehr als die eiweiBtoxischen Prozesse gestort werden. Erweitenmgen 
der Methodik sind zu erhoffen, vielleicht nach allgemeiner Herstellung von Kul- 
turen. 

Die polemisch vorgebrachte Ansicht von Plaut und Steiner, daB ihre 
Recurrensbehandlung mit Wagners Fiebertherapie nur sehr lose zu tun hfttte, 
aber die Versuche von Miihlens, Kirschbaum und mir ledighch ihre „Ver- 
suche nachgepriift“ batten, ist unzutreffend, da uns tatsiichlich vor allem Wagners 
auf friihere Versuche gestiitztes Vorgelxen init Malariaimpfung seit 1917 angeregt 
hatte, ebenso wie die historische Obersicht Weichbrodts, wahrend wir erst 
Monate nach unseren Recurrensimpfungen Kenntnis von den Munchener Impfungen 
erhielten. 

Die Entwickelung der theoretischen Seite des Paralyseproblems muB Hand 
in Hand mit klinischen Versuchen gehen, sonst wiirde den Krankeu ein schlechter 
Dienst erwiesen. Trotz aller Mangel ist die Erzieluug von 50°/ 0 tiefen, langdauernden 
Remissionen lediglich durch die Impfmethoden ein betr&chtlicher Fortschritt 
gegeniiber dem friiher iiblichen Nihilismus und Fatalismus hinsichtlich der Paralyse- 
behandlung. 

20. Herr W. Hellpach-Karlsruhe: Wiedererwachen und wissenschaftliche 
Bedeutung der physiognomischen Forschung. 

Praktische Antlitzkunde treibt der Mensch seit je, wissenschaftliche plan- 
mafiigen Charakters gibt es erst seit 150 Jahren. Die erste physiognomische Epoche 
wird bezeichnet durch die Gipfelnamen Lavater und Gall. Ihre Forschung 
ist semiotisch gerichtet: sie will sichere Einzelzeichen fiir Talent- und Charakter- 
diagnose finden. Als Dilettantismus geachtet, schwindet sie wieder dahin und 
wird vergessen. Die zweite groBe physiognomische Interessenwelle gipfelt ein 
halbes Jahrhundert danach in Darwin und Duchenne; gemiiB dem Geist ihrer 
Epoche stehen genetische und experimentelle Gesichtspimkte, jedenfalls aber 
wesentlich theoretische, im V T ordergrunde. Auch diese Welle ebbte wieder ohne 
nachhaltige Wirkung ab. Seit etwa 5 Jahren sind die physiognomischen Be- 
miihungen aufs neue ins Dasein getreten. Die Rassenanthropologie hat sich 
von der vorherigen kraniometrischen Einseitigkeit stark der physiognomischen 
Deskription zugewendet; ein heimatlicher Pionier dieser Wendung ist Prof. Eugen 
Fischer in Freiburg, der in seinem Versueh, die badische Bevolkerung aus ras- 
sischen Grundtypen abzuleiten, das physiognomische Merkmal als sehr wesent¬ 
lich verwendet. GroBe Aufmerksamkeit erregte sodann Kretschmers Studie 

Archiv fUr Psychiatric. Bd. 67. 9 


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130 


47. Wanderversaminlung der siidwestdeutschen Neurologen 


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liber Korperbau und Charakter. Der Vortragende erinnert an ihre Haupt- 
ergebnisse, meint auch, daB K. sicherlieh etwas Richtiges und Wichtiges aufgedeckt 
babe, dessen bleibender Kern aber noch niclit fixierbar sei, bedauert die unzweck- 
m&Bige Terminologio (asthenisch und pyknisch) und den Mangel an Selbstkritik, 
der K. verfiihre, seine interessanten Studien und Hypothesen neuestens als ge- 
sicherte Tatbestande in einern Leitfaden fiir Studierende darzustellen. Dennoch 
bleiben K.s Versuche als Ansatz zu einer physiognomischen Konstitutionsphy- 
siognomik wertvoll und wiirden hoffentlich weiter ausgebaut. Einen ihrer sacli- 
licben Hauptmiingel, die enge provinzielle Materialbegrenzung (K. hat nach 
eigenem GestSndnis fast nur schwabische Menschen untersucht) beleuchten in 
seiner Tragweite die eigonen Studien des Vortragenden, deren erster Extrakt 
in den Sitzungsberichten der Heidelberger Akademie der Wissenschnften 1921 
Nr. 2 vorgelegt ist; fiir die reicli zu illustrierende Publikation des ausfiihrlichen 
Werkes sei die Besckaffung der entsprechenden notigen Mittel eingeleitet. Vor- 
tragender nimmt zum Objekt den deutschen physiognomischen Stammestypus, 
aus dem er ein „fr&nkisches“ und ein „schwiibisches“ Gesicht als erste sicher- 
stellbare Resultate ausgesondert hat; gegenwftrtig gehen die Forschungen im 
Bereich des nordischen Gesichts weiter. Die frankische Gesichtsform ist drei- 
spitzig, mit spitzem Kinn und sehr breiter Jochquerlinie, so daB die Jochbeine 
stark herausspringen und zwischen ihnen und dem Kinn die sogen. Jochschatten 
entstehen; im Profil findet sich auffallend oft das Kretschmersche Winkel- 
profil. Das schwabische Gesicht ist eher viereckig, die Jochbeine springen nicht 
heraus, statt ihrer aber die Unterkieferwinkel, das Kimi zwischen ihnen ist flach, 
manchmal fast geradlinig, die Mundwinkel sind seitwSrts gelagert und oft so 
vertieft, daB als Stigma die Mundwinkelschatten entstehen. Konzentrationszone 
des frankischen Gesichts ist die Linie von Wunsiedel bis Saarbriicken, des schwa- 
bischen der Kreis des wiirttembergischen Oberlandes und der nahen badischen 
und schweizerischen Landschaften; im librigen wird das Vorkommen des physio¬ 
gnomischen Typs genau durch die Mundartgrenzen bezeichnet. Hieraus leitet 
Vortragender seinen Erklarungsversuch her. Derselbe ist in der Hauptsache 
ein „sozialpsychologischer“: die Physiognomic, d. h. ihr „Phanotypus“, formt 
sich durch dio mimischen Wirkungen der Lautbildung und des „Konventions- 
temperament“ — beiden M&chten werden die neu Zuwandemden in einem Stam- 
mesgebiet immer wieder erfolgreich unterworfen. Die frfinldsche Sprechart be- 
vorzugt dentolabiale Lautungen unter starker Benutzung der Lippenstiilpung 
(lautliche und mimische „t)berschuBbewegungen“, wie der Vortragende sie nennt), 
die Gewohnheitsmimik der frankischen Stamme ist lebhaft, sprudelnd, viel sprach- 
lachend; die schwabisch-alemannische Sprechweise ist viel starker palato-guttural, 
die Lippengegend kommt mit „Grenz-lnnervation“ aus, die Gesamtmimik ist 
gebundener und verhaltener. Von Kindesbeinen an infinitesimal einwirkend 
formen diese Gewohnheiten entscheidende Tatbestande im Gesicht, wie wir z. B. 
auch aus der Gesichter-Anglisierung junger Menschen bei laugem jugendlichen 
Aufenthalt in angelsachsischen Liindem wissen. Einzuriiumen aber selbstver- 
standlich ist, daB cs „Erbgesichter“ (Genotypen) gibt, die sich der Formung des 
einen oder des andem „Ausdrucksgesichts" (Phiinotypus) bequem anschmiegen 
und andere, die sich ihm widersetzen. Die plastischo Kraft der Gewohnheits¬ 
mimik ist aber gerade an den letzteren, also den urspriinglich runden Gesichtern 
in Franken, den urspriinglich langlich-spitzen in Schwabeu-Alemannien, be- 
sonders instruktiv wahrzunehmen. Besouders fesselnd sind liierzu auch die Be- 
obaohtungen in den stammischen Obergangsgiirteln, die in physiognomischer 
Jlinsicht „Umschmelzungsstatten“ sind: friinkisch-alemannische, z. B. Mittel- 
baden, namentlich Karlsruhe, friinkisch-niedersachsiche das Bergische lamd usw. 


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und Irrenarzte am 27. und 28. Mai 1922 in Baden-Baden. 


131 


Vortragender gibt noch einige Gesichtspunkte iiber den weiteren Ausbau seiner 
Untersuchungen, bittet dafiir um teilnehmende und tatige Mitarbeit weiterer 
Kreise und schlieBt mit dem Ausblick, daB als letzte Folgerung sich aus seinen 
Studien das Problem des Volkstums und Volkstypus iiberhaupt ergebe: das „Volk‘‘ 
ist hiernach auch in seiner auBeren, namentlich auch in seiner gesiohtlichen Er- 
scheinungsform nur teilweise eine anthropologisehe, rassische Tatsache, zur andern 
und in vielem entscheidenden Hiilfte aber eine „geistige“, durch Sitte, Erleben, 
Umwelt, Assimilation geschaffene und wandelbare; gerade daraus erklfire sicli 
dann, so paradox das scheme, die unerhorte Bestandigkeit der deutschen Stammes- 
tvpen und vielleicht der meisten „Volker“ iiberhaupt. 

21. Herr Beyer-Roderbirken bei Leichlingen: Die Encephalitis epidemica 

in der Invalidenversicherung. 

Wenn auch unsere Kenntnisse iiber den Endausgang dieser „neuen Krank- 
heit“ und ihrer Folgezustande nocli nicht vollstandig feststehen, so ist es dock 
notwendig, der Begutachtung fiir die Zwecke der Invalidenversicherung (wie 
auch fiir die Angestelltenversicherung und fiir Behbrden bei der Pensionierung 
von Beam ten) baldmoglichst klare Grundlagen zu schaffen. Dies erscheint um 
so notiger, veil die Kranklieitserscheinungen noch nicht geniigend allgemein be- 
kannt sind und bei der heutigen Xeigung der Arzte zur Beurteilung im Sinne 
der Hysterie oder Psychogenie leicht verkannt werden. 

Die Encephalitis fiihrb zur Invalidity in vielen Fallen durch schwere psyehisehe 
Storungen, hebephrenie- oder katatonieahnliche Zustande, .auch schwere De- 
pressionen mit Wahnideen. In ander i Fallen haben die Hemmungen der Auf- 
fassung, der Aufmerksamkeit, des Willens, der Initiative, auch des Ged&chtnisses 
und Urteils trotz erhaltener Intelligenz die Leistungsfahigkeit aufgehoben. Ebenso 
schwer behindert sind Kranke von neurastlienischem Typ, mit erhohter Reizbar- 
keit, verminderter Leistungsfahigkeit und rascher Ermiidbarkeit. Bei einzelneu 
kann die eigenartige Schlafstorung (oft Sclilafverschiebung), bei andern der starke 
Kopfschmerz die Ursache der Erwerbsverminderung sein, auch wohl hartniickige 
Neuralgien. 

Auf korperlichem Gebiet ist die wichtigste Stbrung die Muskelsteifigkeit des 
sogenannten Parkinsonismus. die nicht bloB den Handarbeiter zum lnvaliden 
macht, sondern auch den geistigen Arbeiter, weil dieser in seinem Verkehr mit 
der Umwelt und seinen Mitteilungsmoglichkeiten (Sprechen, Schreiben) schwer 
behindert wird. Storungen der Augenmuskeln beemtriichtigen das I^esen, Xahen 
und ahnliche feinere Arbeiten bis zur volligen Hemmung. Propulsion und Retro- 
pulsion machen viele Arbeiten unmoglich, ebenso Liihmungen und Muskelatrophien, 
endlich die hyperkinetischen Bewegungsstbrungen, auch wenn sie fiir kurze Zeit 
durch gewollte Bewegungen unterdriickt werden konnen. 

Die weitere Frage, ob dauemde oder voriibergehende Invaliditiit vorhegt, 
kann nacli dem heutigen Stande unserer Kenntnisse oft nicht bestimmt beant- 
wortet werden, weil der Fall zum Zeitpunkte der Begutachtung (meist 6 Monate 
nach Beginn, wegen Ablauf der Krankenkassenzeit) noch nicht geniigend gekliirt 
ist. Praktisch ist das aber weniger wichtig. Im allgemeinen ist die giinstigere 
Annahme anzuraten, sclion wegen des Eindrucks auf den Kranken selbst. Aus- 
gesprochene Striatumsjmptome (Parkinsonismus usw.) bieten eine ungiinstige 
Prognose, auch die neurasthenisehen Ersclieinungen sind sehr liartnackig, wiihrend 
■Storungen im pyramidalen System bessere Aussichten bieten. 

Ein Heilverfahren kann in schweren Fallen nicht in Betracht kommen, bei 
mittelschweren erst dann, wenn Aussicht besteht, daB der Kranke in 2—3 Monaten 
wieder erwerbsfahig wird. Durch die hiiufig vorkommende Euphorie des Kranken 
darf sich der Gutachter nicht zu hoffnungsvoll stimmen lassen. Um so mehr 

9* 


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.132 47. Wanderversammlung der siidwestdeutechen Xeurologen u. Irrenarzte usw. 

ist bei leicliteren Fallen zu erreiehen. Hydrotherapie, VVarme, Licht, Massage, 
i v bungen und dergleichen in Verbindung mit kraftiger Ernahrung sind von wesent- 
lichem Xutzen, sowohl zur Beseitigung der besonderen Krankheitserscheinungen 
als aucli zur Hebung des Allgemeinbefindens, entsprechend der Rekonvaleszenz 
nach anderen Inlektionskrankheiten. So gelingt es mit bestein Erfolg, die Kranken, 
die in den hauslichen V'erlialtnissen gar nicht in die Hohe kommen konnen, dem 
l.eben und der Erwerbsfahigkeit zuriickzugeben. 

Freiburg i. B. und Heidelberg, Juni 1922. 

Hauptmann. Steiner. 


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Bucherbesprechungen. 

G. Mingazz.ini, Der Balken. Eine anatomische, physiopathologische und kli- 
iiische Studio. Mit 84 Textabbildungen. Monographien a. d. Gesamtgebiet 
der Neurol, u. Psychiatrie. Heft 28. Berlin, Julius Springer, 1922. 

Verfasser, dem wir eine Reihe wichtiger Beitrage zur Lehre von den Er- 
krankungen und der Funktion des Balkcns verdanken, bringt in dieser, dem 
Andenken Bernhardt von Ouddene gewidmeten Monographic iiber den Balken 
ein ausgezeichnetes Werk. Anatomie, Physiologie, Pathologie und Klinik des 
Balkens werden in besonderen Abechnitten besprochen. Die normale makro- 
skopische und mikroskopische Anatomie wird eingehend behandelt, der Vergasche 
Ventrikel in einem besonderen Kapitel. Der Balkenagenesie ist ein besonderer 
Abschnitt gewidmet. Es folgen dann die den Balken befallenden Krankheits- 
prozesse: Blutungen, Erweichungen, Traumen, Geschwiilste (mit einem Anhang 
iiber den Balkenstich), Degeneration. Die Blutzirkulation des Balkens erfahrt 
eine eingehende Darstellung. Die Lektiire des Abschnittes iil)er Physiologie und 
Physiopathologie des Balkens bereitet durch die klarc umfassende Darstellung 
einen besonderen GcnuB. Aus der Fiille des Gebotenen seien unter den SchluB- 
folgerungen nur einige wesentliche hervorgehoben: im vordcren Drittel des Bal¬ 
kens (Portio verbalis et praxica) verlaufen Fasem, die die Gebiete der moto- 
rischen Aphasie verbinden und zur Erganzung der Sprachfunktion beitragen. 
Das mittlere (die bevorzugte Portio praxica) und teilweise das vordere Drittel 
enthalten Fasern, die dazu bestimmt sind, die Taxie und Eupraxie der zur guten 
und vollstandigen Ausfiihrung einer Handlung notwendigen Gliederbewegungen 
aufrechtzuerhalten. Die im hinteren Drittel (Portio sensorialis) verlaufenden 
Fasern verstarken durch die Vereinigung der Seh- und Gehorzone die Brauch- 
barkeit des Materials der betreffenden Eindriicke fiir die entsprechenden En- 
granune, sie tragen zur besseren Fixierung des hoheren Perzepte, zur euprak- 
tischen und eutaktischen Ausfiihrung der Mimik und der Handlungen, zur Be- 
schleunigung des Sprachmechanismus bei. 

AuBer Zweifel ist die Bildung des Balkens die wichtigste der GroBhirnheini- 
spharenkommissuren, eine unbedingte Voraussetzung fiir die normale Fixation 
der fiir die hoheren psychischen Funktionen der Gattungen und des Individuums 
so notigen Engramme. 

Die vorziigliche Wiedergabe der Abbildungen entspricht der Tradition des 
Verlages. Das Werk wird fiir alle weiteren Untersuchungen grundlegend sein. 

S. 

Gaston Roffenstein, Zur Psychologie und Psychopathologie der Gegenwarts- 
geschichte. Arbeiten zur angcwandten Psychiatrie. Bd. IV. Leipzig, Ernst 
Bircher, 1921. 

Diese Arbeit des Verfassers (Dr. phil.) soli den Versuch einer psyehologischen 
Orientierung in einem Ausschnitte der Gegenwartsgeschichte vorstellen, speziell 
in der politischen und sozialen Bewegung nach dem Ende des Weltkrieges. Er 
forscht nach den Triebfedern, die im allgemeinen in geschichtlichen Bewegungen 
wirksam werden, hebt ganz besonders in dem Geschehen der Gegenwart den nicht 
hoch genug zu veranschlagenden psychopathologischen Faktor hervor, wie er 


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134 


Bucher besprechungen. 


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sick in clem Vordrangen von ausgesprochen psychopathischen Naturen als Fiihrer 
der extremen Parteien wahrend der Revolution geltend macht. S. 

Havelock Ellis, Gesohlechtstrieb und Schaingefiihl. Autorisierte Ubersetzung 
nach der 3. englischen Original-Auflage, mit Unterstiitzung von Dr. med. 
M. Kotscher, besorgt von J. C. Kotscher. 4. erganzte u. erweiterte Auflage. 
Leipzig, Curt Kabitzsch, 1922. 

Dieser 1. Band der sexual-psychologischen Studien bringt eine gute Ein- 
fiihrung in die AuBerungen des Geschlechtstriebes und seiner Entwicklung. In 
drei Abschnitten werden die Entwicklung des Schamgefiihls, das Phanomen der 
Sexualperiodizitat und die spontanen AuBerungen des Geschlechtstriebes (Auto- 
Erotismus) abgehandelt. Gestutzt auf eigene ausgedehnte Erfahrung mid auf 
griindliche Kenntnis der einschlagigen Literatur gibt Verfasser eine sehr ein- 
gehende Darstellung von den Erscheinungen des Geschlechtstriebes, besonders 
auch in historischer und ethnographischer Hinsicht. Energisch vertritt er den 
Standpunkt der Aufklarung iiber die primaren und wichtigsten Fragen der Ge- 
schlechtspsychologie. Strittige Fragen, z. B. die nach den Folgen der Masturbation, 
werden in eingekender sachlicher Kritik erortert. 

Drei Anhiinge enthalten Abhandlungen iiber den EinfluB der Menstruation 
auf die Stellung der Frau, die Sexual-Periodizitat beim Mannc und iiber den auto- 
erotischen Faktor in der Religion. S. 

Jakob Klfisi, IJber die Bedeutung und Entstehung der Stereotypien. Abh. 
a. d. Neurol., Psych. H. 15. Berlin, S. Karger, 1922. 

In dieser eingehenden Arbeit hat es sich Verf. zur Aufgabe gemacht, der 
Entstehung und ursachlichen Bedeutung der scheinbar sinnlosen, vom Zusam- 
menhang mit der VVirkliclikeit vollstandig losgelosten gedanklichen, sprachliehen 
und motorischen AuBerungen, die Stereotypien genannt werden, nachzuforschen. 

Die Untersuchungen fuBen auf der Beobachtung und Analyse von 31 Fallen 
mit Stereotypien. 

Er unterscheidet Stereotypien als Abwehrbewegungen gegen Korperliallu- 
zinationen, als autistisehe Zweckhandlungen, als Zeremonien und als Relikte 
oder Restleistungen und endlich die Stereotypien der Spraehe. Nach der vor- 
getragenen Auffassung gehoren automatisch gewordene Abwehrbewegungen gegen 
Stimmen und ahnliche Handlungen, die sich aus der Stellungnahme gegen Sinnes- 
tauschungen und Wahnideen ergeben. zu den Stereotypien, die jammernden, ein- 
formigen Gesten der Melancholiker, das Wiegen und Wackeln der Idioten, die 
Berufsbewegungen der Organiseh-Dementen aber nicht. Diese werden als „Mono- 
typien‘‘ abgegrenzt. 

Interessant ist, daB von 21 Bewegungsstereotypien nicht weniger als 9 gegen 
Halluzinationen der Korperempfindung gerichtet waren. In 4 Fallen handelte 
es sich um Zeremonien zur Beschworung von Sinnestauschungen oder zur Be- 
kraftigung oder Versinnbildlichung einer Weihe oder BuBe, in zweien um autisti- 
sche Zweckhandlungen. Den Rest bildeten tlberbleibsel (Relikte) friiherer Be¬ 
rufsbewegungen oder anderer Handlungen, die urspriinglich auf die Wirklichkeit 
abzielten, auf diese Bezug nahmen und also einmal einen Sinn hatten. 

Die Abhangigkeit der Dauerhaftigkeit der Stereotypien von Zustanden der 
Aufmerksarakeitsspaltung oder Versunkenheit, des Mangels an Zufuhr neuer 
Assoziationen, der Vc;rodung der Willensvorgange usw., und ilu-e teils mittelbare, 
teils unmittelbare verwandtschaftliche Beziehung zu Komplexen, erlauben wert- 
volle prognostische und therapeutische Anhaltspunkte. Die Relikte zeichnen 
sich von den iibrigen Stereotypien sowie von den Monotypien der Imbezillen 
und Organiseh-Dementen durch ihre hochgradige experimentelle BeeinfluBbarkeit 
und Wandelbarkeit, sowie durch ihre Vergesellschaftung mit Stereotypien ver- 


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Biicherbesprechungen. 


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schiedensten Ursprungs und Charakters aus. Wird eine stereotype Leistung alien 
Beeinflu8snngen von aulien (Zeit, Veranderung des Ortes) zum Trotz immer in 
tier gleichen Form ausgefiihrt, so handelt es sich mit groBter Wahrscheinlichkeit 
uni eine Abwehrhandlung gegen Sinnestauschungen, eine Zeremonie, autistische 
Zweckhandlung oder um eine Monotypie. Stellt sie eine Berufsbewegung oder 
eine andere, urspriinglich sinnvolle Handlung dar, so ist der Verdacht begriindet, 
daB die Krankheit nicht die Schizophrenie, sondem eine organische Demenz oder 
Imbezillitat oder eine Vergesellschaftung einer dieser beiden Krankheiten mit 
Schizophrenie sei. Mit der Entzifferung der Stereotypie setzt oft eine Besserung 
ein, die siqh als Befreiung, AufschlieBung und Ablenkung auf reale Ziele kundgibt. 

S. 

Otto Seeling, Hypnose, Suggestion und Erziehung. Eine Handreichung fiir 
jeden Gebildeten. Leipzig, Dr. Max Gehlen. 

Der Verfasser, ein Berliner Rektor, beklagt in der Einleitung das noch be- 
stehende Verbot hypnotischer Schaustellungen. Er verspricht sich von der Ab- 
haltung solcher offentlichen Vorfiihrungen hypnotischer Experiinente eine Auf- 
klarung der „Laien“ und eine anschauliche Einfiihrung in die fiir jedes mensch- 
liche Leben so wirksamen „Nachtseiten“ der Seele. 

Er ist der Meinung, „daB der Mensch im Psychologischen und Mystischen das 
wietler gewinnen wird, was die naturwissenschaftliche Kritik seinem Glauben im 
Weltall drauBen entrissen hat.“ 

DaB bei einer solchen Auffassung die Gefahrlichkeit der hypnotischen De- 
nionstrationen nicht richtig eingeschatzt wird, geht aus der ganzen Daretellung 
hervor. S. 

Sign). Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualthcorie. 5. unveranderte Auflage. 
Leipzig u. Wien, Franz Deuticke, 1922. 

Die bekannten Abhandlungen Freuds iiber die sexuellen Abirrungen, die 
infantile Sexualitat und die Umgestaltungen der Pubertat liegen in 5. unveran- 
derter Auflage vor 

Es ist begreiflich, daB Freud mit Nachdruck hervorhebt, was die Lehre von 
der Sexualitat und den sexuellen Abirrungen der Psychoanalyse verdankt. Etwas 
mehr kritische Wiirdigung wiirde geradc auf dem sexuellen Gebiet sehr von Nutzen 
sein. Auffassungen wie die, daB die Anlage zu den Perversionen die urspriing- 
liche allgemeine Anlage des menschlichen Geschlechtstriebes sei, aus der das 
normale Sexualverhalten infolge organischcr Veranderungen und psychischer 
Hemmungen im Laufe der Reife entwickelt werde. diirften wohl nicht auf all- 
gemcine Zustimmung rechnen. S. 

Georg Schlomcr, Leitfaden der klinischcn Psychiatrie. 3. durchgesehene 
Auflage. Miinchen, Rudolph Muller & Steinieke, 1921. 

Der Leitfaden bringt in gedrangter Kiirze eine Einfiihrung in die klinisehe 
Psychiatric. Die Darstellung stiitzt sich ganz auf Kraepelins Ansichten. S. 
Julius Mahler, Kurzes Repctitorium der Physiologie. Breitensteins Repe- 
titorien Nr. 21. 5. neubearbeitete und vermehrte Auflage. Mit 5 Abbildungen. 
Leipzig: Ambrosius Barth. 

Der 1. vorliegende Teil, die Physiologie der vegetativen Prozesse enthaltend, 
kann als ein sehr brauchbares Repctitorium, das durch klare und einfache Dar¬ 
stellung erfreut, empfohlen werden. S. 

Paul Schildcr, tlber das Wesen der Hypnose. Berlin, Julius Springer, 1922. 

Diese fiir weitere Kreise bestimmte Abhandlung bemiiht sich, in das Wesen 
der Hypnose einzudringen imd diese den Grundanschauungen der Psychologic 
und Biologie einzuordnen. Die korperliche Wirkungsmoglichkcit der Hypnose soil 
darin bestehen, daB die Hypnose auf die in der Umgebung des 3. Ventrikels ge- 


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Biicherbesprechungen. 


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egenen Zentralstellen der Hympathisch-parasympathischen Innervation wirkt. 
Wirkungen, die sonst durch das Affektleben hervorgerufen werden, werden in 
der Hypnose durch eine besondere Triebeinstellung ausgelost. S. 

August Laqueur, Otto Miiller und Wilhelm Nlxdorf, Leltfaden der Elektro- 
medizln liir Arzte und Elektroteehniker. Mit 133 Abbildungen im Text. 
Halle a. S., Carl Marhold. 

Das vorliegende Werk verdankt seine Entstehung dem engen Zusammen- 
wirken cines Arztes und zweier Elektroteehniker. Gerade in dieser Vereinigung 
der Medizin und Technik liegt ein groBer Vorzug des Buches vor ahnlichen. Wir 
erhalten so eine sehr ubersichtliche und erachopfende Einfiihrung in das Gebiet 
der Elektrotherapie unter besonderer Beriicksichtigung der bei den elektromedizi- 
nischen Apparaten zu beriicksichtigenden elektrotechnischen Gesichtspunkte und 
der Elektroteehniker lemt beurteilen, welche Anforderungen der Arzt an die 
Apparate stcllen muB. Zahlreiche gute Abbildungen illustrieren den Text. S. 

Neumann, Die seellsehe Behandlung von Krankheiten. Die okkulte Welt. 
Nr. 54/55. Pfullingen (Wiirtt.), Johannes Baum. 

Verfasser will den Nutzen der seelischen Behandlung von Krankheiten zeigeu. 
Seine Abhandlungen sind fur Arzte und Nichtarzte geschrieben. 

Mit groBer tlberzeugung setzt er sich fur die seelische Behandlung ein in 
den dazu geeigneten Fallen. S. 

Ernst Wittermann, Der nerviise Mensch in den geistigen N8ten der Gegen- 
wart. Stuttgart, Strecker & Schroder. 

Richtiges Verstandnis und warmes Empfinden fiir die geistigen Note unserer 
Zeit haben dem Verfasser die Feder gefiihrt. Es werden die Wege gezeigt, die 
auch dem haltlosen Nervosen Richtung geben und zur geistigen Harmonie fiikren 
sollen. S. 

W. Weygandt, Forensisehc Psychiatrie, II. Tell: Saehversfandigkeit. Samm- 
lung Goschen 411. Berlin u. Leipzig, Vereinigung wissensehaftlicher Verleger 
Walter de Gruyter & Co. 

In diesem 2. Teil erortert Verfasser in sehr geschickter Darlegung Aufstellung 
und Aufgaben der Sachverstandigen, die Technik des Gutachtens, Fragen der 
Simulation imd die Grenzen des Irreseins. In 15 Abschnitten werden die ein- 
zelnen Formen der geistigen Storungen abgehandelt. Das sehr wichtige Gebiet 
der Psychopathie erfahrt eine sehr eingehende Darstellung, ganz besondere aueh 
unter Hinweis der verminderten Zurechnungsfahigkeit. S. 

Th. Erismann, Psychologie. III. Die Hauptlormen des psychisehen Ge- 
schehens. Sammlung Goschen 333. Berlin u. Leipzig, Vereinigung wissen- 
schaftlicher Verleger Walter de Gruyter & Co. 1921. 

Auch dieser 3. Band der Psychologie sei jedem, der sich iiber die Grund- 
formen des psychisehen Geschehens orientieren will, empfohlen. Sinnesempfin- 
dungen, Wahrnehmungen, Denken, Gefiihle und Affekte, Wille werden in den 
einzelnen Kapiteln besprochen unter Beriicksichtigung der Ergebnisse der mo- 
demen empirischen Psychologie. S. 

Kurt Schneider, Der Diehter und der Psychopathologe. Koln, Rheinland- 
Verlag, 1922. 

Der vor Medizinem der Univereitat Koln gehaltene Vortrag bringt in sehr 
anziehender Form eine Darstellung der Beziehungen zwischen Diehter imd Psycho- 
pathologen, iiber den Diehter als GegCnstand des Psychopathologen und sein Werk 
vom psychopathologLschcn Standpunkt aus. Ein wertvoller Literaturnachweis 
ist beigefiigt. S. 


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Otto Binswanger zuni 70. Geburtstag. 


Von 

Prof. H. Berger. 

(Eingegangen am 18. Dezember 1022.) 

Am 14. Oktober 1922 hat Otto Binswanger seinen 70. Geburtstag 
gefeiert. Nachdem er nach 37jahriger Tatigkeit als akademischer Lehrer 
und Direktor der Psychiatrischen Klinik zu Jena sich am 1. Oktober 
1919 in seine Schweizer Heimat nach Kreuzlingen bei Konstanz zuriick- 
gezogen hat, genieBt er dort seine wohlverdiente Ruhe und kann mit 
Befriedigung auf eine reiche und von Segen gekronte Lebensarbeit 
zuriickschauen. 

Einer Arztefamilie entsprossen, wandte sich Otto Binswanger , dem 
Vorbilde seines Vaters folgend, der Psychiatric zu. Zwar interessierte 
ihn nach Beendigung seines Studiums vor allem zunachst die patho- 
logische Anatomie, und fand er erst nach einer kurzen Assistentenzeit, 
bei Ponfik in Breslau, unter Ludwig Meyer in Gottingen sein wahres 
Arbeitsfeld. Nach einer weiteren Assistentenzeit bei Westphal habili- 
tierte er sich ira Jahre 1882 in Berlin fur Neurologie und Psychiatric 
und kam schon in dem gleichen Jahre als Direktor der Landesirrenheil- 
anstalt und auBerordentlicher Professor der Psychiatric nach Jena, wo 
er dann fast vier Jahrzehnte lang ununterbrochen wirkte. Seine patho- 
logisch-anatomische Neigung kam in seiner Arbeit ,,t)ber die patho- 
logische Histologic der GroBhirnerkrankungen bei der allgemeinen pro- 
gressiven Paralyse 1 ' noch deuthch zum Ausdruck, und auch spater ist 
Binswanger immer wieder zu dieser seiner Lieblingsbeschaftigung mit 
der pathologischen Anatomie zuriickgekehrt. Er hat noch wahrend 
des Krieges eine ausgezeichnete anatomische Arbeit mit Herrn Schaxel 
gemeinsam fiber die Arteriosklerose des Gehirns veroffentlicht. Das 
Problem der Dementia paralytica beschaftigte ihn aber nicht nur von 
der pathologisch-anatomischen Seite her, die ihm nur die Waffe in die 
Hand geben sollte zur Abgrenzung dieses Krankheitsbildes von anderen 
psychischen Erkrankungen. Der Aufgabe der klinischen Scheidung der 
Dementia paralytica von anderen, mit ihr zusammengeworfenen Er- 
krankungsformen hat er sich in der erfolgreichsten Weise unterzogen, 
und es ist vor alien Dingen seinen Bemuhungen zu verdanken, daB wir 
schon vor der Ara der Wassermannuntersuchung und der Spinalpunktion 
Falle von arterisklerotischer Erkrankung von der Gehirnerweichung 

Archlv ftlr Psyclilatrle. Bd. 67. 


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Otto Binswanger zum 70. Gehurtatag. 


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abzugrenzen lernten. Diese Bemuhungen haben auch das schone Er- 
gebnis der Aufstellung der Encephalitis subcorticalis chronica Bins- 
wangem gezeitigt. Mit groBem Eifer nahra Binswanger spater die durch 
die Serologic und Spinalpunktion gegebenen Hilfsraittel fiir die feinere 
Ausgestaltung der psychiatrischen Diagnostik auf, ebenso wie er sofort 
die weittragende Bedeutung der Abderhalden&ehen Feststellung von 
Abwehrfermenten im Blute fur die psychiatrische Forschung in ihrer 
ganzen Grdlie durchschaute. Leider haben sich ja die auf diese letztere 
Forschungsinethode gesetzten Hoffnungen in der Folgezeit nicht er- 
fiillen lassen. Der Schwerpunkt der wissenschaftlichen Tatigkeit Bins- 
wangers ist nicht in den zahlreichen Veroffentlichungen, die wir auf 
fast alien Gebieten der Neurologic und Psychiatrie seinem regen Geiste 
verdanken und die in jeder Beziehung anregend und befruchtend ge- 
wirkt haben, zu suchen, sondern in seinen drei grollen Werken: der 
,,Neurasthenie“, der ,,Epilepsie“ und der ,,Hysteric". Sie legen ein 
beredtes Zeugnis ab von der ernsten Forschertatigkeit und der klinischen 
Begabung Binswanger s. Die Epilepsie wird wohl immer eines der bahn- 
brechenden Werke auf diesem Forschungsgebiet bleiben. 

Binswanger hat es immer in ausgezeichneter Weise verstanden, die 
Fragen der Praxis mit seiner wissenschaftlichen Forschung zu verbin- 
den, und ist daher immer einer der beliebtesten klinischen Lehrer 
der Jenenser Hochschule gewesen. Trotz ehrenvoller Berufungen nach 
Bonn und Halle ist er der Jenenser Hochschule treu geblieben und hat 
aus der von ihm seit 1882 geleiteten Landesirrenheilanstalt eine aus- 
gezeichnete Psychiatrische Klinik gemacht, die er durch den Bau einer 
Nervenabteilung im Jahre 1905 in gliicklichster Weise ausgestaltete. 
Diese groBe, aus privaten Mitteln erbaute Abteilung ermoglichte es 
Binswanger, neurologische Falle in ausgiebigster Weise fiir seine For¬ 
schung und den Unterricht heranzuziehen. Die vortreffliche Dar- 
stellung der allgemeinen Psychiatrie in dera von ihm gemeinsam mit 
Siemerling herausgegebenen Lehrbuch, das standig neue Auflagen 
erlebt, ist in aller Hande. 

Als Binswanger es an der Zeit fand, abzugehen, fiihrte er diesen 
EntschluB in folgerichtiger Weise durch und widmet sich in seiner 
selbstgewahlten Mu Be unausgesetzt der wissenschaftlichen Arbeit . Vor- 
trage und Abhandlungen iiber den striaren Symptomenkomplex, iiber 
die Epilepsie, iiber die Hysterie im Kriege, die samtlich in Kreuzlingen 
entstanden sind, beweisen, daB er mit der Zeit fortschreitet und mit 
Erfolg weiterbaut an der Wissenschaft, der er sein ganzes Lt*ben ge- 
widmet hat. Mogen ihm noch viele Jahre geistiger Frische und Arbeits- 
fahigkeit beschert sein, in denen er uns mit den reichen Friichten seiner 
klinischen Erfahrung und seiner Forschertatigkeit beschenkt! 


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Emil Sioli f. 

Von 

Prof. Raecke, Frankfurt a. M. 

(Eingegangen am 17. August 1922.) 

Am 16. Juni verstarb der emeritierte Ordinarius fiir Psychiatric 
Geh. Med. Rat Prof. Dr. Emil Sioli, friiher Direktor der Frank¬ 
furter Psychiatrischen Universitatsklinik. Er gehorte noch zu jener 
Generation von Bahnbrechern, welche ausgehend von breitester all- 
gemein-medizinischer und naturkundlicher Betrachtungsweise zu- 
gleich die wissenschaftliche Entwicklung der Psychiatrie und den 
praktischen Ausbau der deutschen Irrenpflege machtig gefordert haben. 
Unsere heutige strenge Arbeitsteilung mit ihrer tibertriebenen Be- 
schrankung auf imraer kleinere und kleinste Gebietsabschnitte eines 
Faches hatte in seiner Jugend noch kaum begonnen. So ward an sich 
sein Interessenkreis ein weiterer, und dazu trat bei ihm zufallige Be¬ 
ll inderung durch iiuBere Verhaltnisse, welche ihn zu Abstechern auf 
praktische Gebiete zwang, die dann seiner Lebensarbeit zugute kamen. 
Seine gesamte Einstellung zu den ihn beschaftigenden Tagesfragen 
blieb aber konsequent eine wissenschaftliche, und ehe er an eine neue 
Aufgabe heranging, suchte er sich sorgsam eine theoretische, mit zuver- 
lassigen statistischen l)aten gestiitzte Grundlage zu sichern, darauf 
erst folgte die praktische Ausfiihrung mit der sturmischen Energie 
seines siidlanclischen Temperaments. 

Die Siolis staramten urspriinglich aus .Solare im zeitweilig osterreichischen 
Oberitalien. Von dort war der 1744 geborene Antonio S. 1764 nacli Halle a. S. 
iibergesiedelt, um ein Handelsgeschiift zur Einfuhr von Siidweinen und -friichten 
naeh Deutschland und zur Ausfuhr von Pelzen naeh Italien zu begriinden. Da 
er aueh im Auftrage der Universitat Halle tatig war. erhielt er den Titel „Uni- 
versitatskramermeister‘\ 1789 trat auch sein A’effe Paolo Angelo S. in das auf- 
bliihende Geschaft, ein lebhafter, vielseitig interessierter Mensch mit kiinst- 
lerischen A'eigungen, der dann eine Deutsche heiratete. Wahrend dessen iilterer 
Sohn Karl naeh Italien zuriickkehrte, wurde der 1806 geborene 2. Sohti Franz 
Maria Eberhard S. preuBLseher Offizier und spater Gutsbesitzer. Er war ein 
hochintelligenter. aber unruhiger Brausekopf voller Plane, die teils iiberhaupt 
zu phantastisch waren, teils nur seiner Zeit zu sehr voraufeilten, als daB seine 
zahlreichen Untemehmungen den erhofften Erfolg hatten bruigen konnen. So 
beschaftigte er sich z. B. eifrig mit chemischen Fragen und suchte die Bierbrauerei 
auf eine streng wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Er schrieb dariiber nicht 
nur ein Bueh, sondem errichtete auch eine Versuchsbrauerei, die zwar noch 
Arclilv fiir Psychiatric. Bd. 67. 10 


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Raecke: 


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heute besteht, aber von ihm nicht lange gehalten werden konnte. Ferner kaufte 
er zu seinem Landgut Lieskau einen eignen Stadthof in Halle hinzu, urn die Milch- 
vereorgung der Stadt zu verbessem, und erganzte den Kuhbeatand in seiner 
stadtischen Milchwirtschaft fortlaufend nach selbst ausgearbeiteten hygienischen 
Gesichtspunkten. Allein die Ausfiihrung dieser und vieler gleichzeitiger Ideen 
scheint unter der Zersplitterung seiner Krafte und seiner leidenschaftlichen Be- 
teiligung an den politischen Kampfen gelitten zu haben. Nach 1848 muGte er 
voriibergehend nach Amerika fliichten. Spater begab er sich nach Italien zu 
seinem Bruder und begann hier eine groBziigige Propaganda fur die Verpflanzung 
italienischer Bauern saint ihren geniigsamen Eseln nach Amerika. Schon hatte 
er Teilnehmer gewonnen und in Bergamo Esel aufgekauft, da bokam er die ganze 
Sache satt und kehrte nach Deutschland zurlick. Hier muGte er nach allmah- 
lichem Verlust eines ansehnlichen Vermogens sein Gut verkaufen und als kleiner 
Rentner nach Halle ziehen. wo er eine stadtbekannte Figur war, besonders beliebt 
bei der Jugend, die er auf der StraBe mit Johannisbrot zu fiittem pflegte. Die 
Schilderung dieser impulsiven Personlichkeit schien notwendig, weil sie einen 
Schlussel zum Veretandnis des Sohnes gibt. 

Emil Sioli wurde am 29. Juli 1852 auf dem Gute Lieskau geboren, 
ein spater Nachkommling in einem Abstande von 8 Jahren nach dem 
Nachstaltesten seiner Geschwister. Seine Jugend fiel in die Zeit des 
finanziellen Zusammenbruchs der Eltern, und er muBte wahrend 
seiner Schul- und Studienzeit durch Stundengeben die notigsten Mittel 
zu verdienen helfen. Dennoch fand er Zeit fiir seine mannigfachen 
Interessen: namentlich liebte er naturwissenschaftliche Exkursionen und 
legte sich eine groBe Steinsammlung an, die er bis in sein Alter hinein 
vermehrte. Er besuchte die Latina der Frankeschen Stiftungen, bestand 
1870 das Notabitur und machte als Kriegsfreiwilliger im Infanterie- 
Reg. 27 den Feldzug mit. Nach seiner Riickkehr studierte er in Halle, 
wo ihn zunachst Mineralogie und Anatomie am meisten anzogen, wurde 
auch Assistent am Mineralogischen Institut unter dem alten Girard, 
dem er die Sammlung ordnete. 1875 erlangte er den medizinischen 
Doktor, 1876 die Approbation und hatte sich nun am liebsten der Ana¬ 
tomie zugewandt. Um sich die notigen Mittel zu beschaffen, ging 
er in die Praxis und ubernahm Vertretungen. Mit den Ersparnissen 
eines halben Jahres mcldete er sich in StraBburg beiWaldeyer als 
Assistent. Doch bald iiberzeugte er sich von der Aussichtslosigkeit 
dieser Laufbahn, brach ab und suchte im Osten neue Vertretungen. 

Zwischendurch horte er in Berlin Kurse und lernte bei solcher Gele- 
gcnheit C. Westphal kenncn, von dessen bedeutender Personlich- 
keit er den nachhaltigsten Eindnick empfing. April 1877 wurde er 
in Nietleben Assistent, und schon am 1. Oktober des gleichen Jahres 
gliickte es ihm, zu ('.Westphal an diePsychiatrische Klinik derCharite 
zu kommen, wo damals auch Wernicke war. Oft hat Sioli betont, 
jene arbeitsfreudigo Charitc-Zeit sei wohl die schonste seines Lebens 
gewesen! Die damals genossenen Anregungen blieben maBgebend 


Gotigle 


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Emil Sioli f- 


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fur seine ganze spatere Denkweise; unloslieh war ihm die psychia- 
trische Forschung mit der anatoraischen verquickt, und er ward bis 
in die letzten Jahre seiner direktorialen Tatigkeit nicht mtide, den 
Sektionen beizuwohnen und eigenhandig die Gehirne nach Meynert 
zu zerlegen. Noch am Tage, ehe er in den Ruhestand trat, fiihrte er 
selbst eine Obduktion vollstiindig durch, ja litt nicht einmal, daB ihm 
der Diener das Aufsagen des Schadels abnahm. 

Schon unter C. Westphal fesselten ihn, den durchaus anatomiseh Einge- 
stellten, die verheiBungsvollen Fortsehritte der Paralyse-Forschung. Seine erste 
\'er6ffentlichung in den Charitd-Annalen tragt den Titel: „Uber die im Jahre 
1877 an allgemeiner Paralyse leidenden weiblichen Irren“. (Bd. IV, S. 455.) Es 
ist kein Zufall, daB spater gerade im Laboratorium seiner Anstalt von Nissl 
und Alzheimer die grundlegenden Arbeiten iiber die Histologie der Paralyse 
in Angriff genommen wurden, und daB unter ihm Jahnel seine sehonen Spi- 
rochatenuntersuchungen begonnen hat. Immer wieder hat Sioli in seinen Frank¬ 
furter Jahresberichten sich mit der Pathogenese der Paralyse beschaftigt, die 
Hiiufigkeit syphilitischer Infektion in den Anamnesen hervorgehoben und seine 
Schuler zur Bearbeitung des von ihm gesammelten Materials angeregt. Auch 
als Schreiber dieser Zeilen 1898 bei ihm Assistent wurde, erhielt er sogleich die 
Aufforderung, die vorhandenen Falle von conjugaler Paralyse zusammenzustellen. 
Auf Grund statistischer Erfahrungen hat Sioli weiterhin eine Abnahme der 
Paralyse infolge Verbesserung der Luesbehandlung festzustellen gesucht. Noch 
in seiner Abschiedsvorlesung 1919 hat er seinen Zuhorern einen fesselnden tlber- 
blick geboten uber die Entwicklung der Paralj’se-Forschung seit jenen Tagen. 
da er selbst bei Westphal lernte, bis zum AbschluB der eigenen Lehrtatigkeit. 

Seine strong anatomische Denkweise erhellt noch aus einer anderen Ver- 
offentlichung aus seiner Charit6-Zeit im Archiv f. Psychiatr. u. Nervenkrankli. 
( 10 , S. 261): ,,Ein Fall von ulceroser Endocarditis mit psychischen Erschei- 
nungen“. Hier suchte er die Symptome psychischer Erregung auf die durch 
Embolie und Hamorrhagien bedingten Reizzustande der Pia und Rinde zuriick- 
zufiihren, weil die seelischen Storungen den korperlichen parallel zunahmen, und 
erklarte es fiir verwirrend, wenn derartig bedingte Delirien mit Fallen von Para¬ 
lyse zusammengeworfen wiirden. Seine Beobachtung habe mit einer friiheren 
von C. Westphal das Gemeinsame, daB durch Einwirkung der Infektion aufs 
Gehirn bei besondeis disponierten Personen Psychosen verursacht wurden. Gegen- 
iiber Mendel, der in der Bcrl. Gesellsch. f. Psychiatr. u. Nervenkrankli. solchen 
Zusammenhang bezweifelte, betonte Sioli, er halte sich fiir berechtigt, den Fall 
mit anderen durch korperliche Krankheiten bedingten ahnlichen zusammen- 
zufassen. (Ibid. 11, S. 816.) Femer veroffentlichte er einige Falle von Zwangs- 
vorstellungen. Eine weitere in Berlin begonnene anatomische Arbeit hat er erst 
in Leubus fertiggestellt: „Ein Fall von combinierter Erkrankung der Riicken- 
marksstrange mit Erkrankung der grauen Substanz“. Arch. f. Psychiatr. u. 
Nervenkrankh. 11, S. 693. 

So sehr ihn schon in seiner Charite-Zeit mit ihrer FuJle von An- 
regungen die akademische Laufbahn gelockt haben mag, so sah er 
sich doch durch pekuniare Riicksichten wieder gezwungen, Entsagung 
zu tiben. Er hatte sich verlobt und konnte ohne einen wirtschaftlichen 
Riickhalt keine Farailie grunden. Dahergab er seine Erste-Assistenten- 
stelle an der Klinik auf und wandte sich dem Provinzialdienst zu. 

10 * 


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Raecke: 


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wurdo 1880 in Leu bus 2. Arzt und 1882 in Bunzlau Direktor, bestand 
jetzt auch sein Kreisarztexaraen. Mit Feuereifer hatte er sich auf die 
Bearbeitung nun sich bietenderpraktischerFragengeworfen unddadureh 
bald die Aufmerksamkeit seiner vorgesetzten Behorde auf sich gelenkt. ' 
Yor allem war es eine Besserung der Ernahrungsbedingungen seiner 
Kranken, welche er anstrebte, ferner die Einfiihrung der in Deutsch¬ 
land noch wenig geubten Familienpflege, welche er denn auch in Loos- 
witz bei Bunzlau mit Erfolg ins Leben rief. 

t)ber diesen ini wesentlichen deni Wahrendorffschen Unternehmen in 
11 ten nachgebildeten Versuch hat Sioli, als er sehon Bunzlau verlassen hatte, 
ausfiihrlich auf einer Jahrcsversammlung des Vereins deutscher Irrenarzte be- 
richtet. Unumwunden raumt er ein, daU die Prozentzahl der wirklich geeigneten 
Kranken sehr liinter seinen Erwartungen zuriickgeblieben sei. Eine wesentliche 
Entlastung der Anstalt habe sich nicht erzielen lassen. Dennoch habe das Ex¬ 
periment seinen Wert, indeni es die arzt lichen Anschauungen iiber den nioglichen 
Grad freier Behandlung erweitere und den Geist des Vertrauens des Arztes zu 
seinen Patienten und der Patienten zu ihrem Arzte starke. 

Eine Arbeit aus Leubus beschaftigte sich mit ,,Emahrungsanomalien im 
Rekonvaleszenzstadium der Manie" (Neurol. Zentralbl. 1882, Nr. 2), eine ana- 
tomischo aus Bunzlau behandelte die „Fasersysteme im FuB des GroBhimschenkels 
und Degeneration derselben“ (Zentralbl. f. Nervenheilk. 1888, Nr. 15) in offen- 
sichtlicher Anlehnung an die Forschungen Wernickes. Noch spater liegt die 
„Demonstration von Gehimschnitten bei einer Erkrankung des Hinterhauptlap- 
pens“. Vers. d. siidwestdeutsch. Psych. Vereins, 1892. 

Von weiteren Veroffentlichungcn aus der schlesischen Zeit ist neben einem 
interessanten Bericht iiber die Verwaltung der Anstalt Bunzlau 1883 (Neurol. 
Zentralbl. 1885, S. 19) vor allem die grolie Arbeit „t)ber direkte Vererbung von 
Geisteskrankheiten" zu nennen, die zu dem wichtigen Ergebnis fiihrte, „daB 
aus einer beim Ascendenten beobachteten Verriicktheit nie eine einfache Manie 
oder Melancholie, und umgekehrt aus diesen beiden Formen nie eine Verriicktheit 
beim Descendenten hervorgeht, daB diese beiden Gruppen von Formen sich 
vielmehr vollig ausschlieBen. Dagegen neigen . . . Melancholie, Manie und Cy¬ 
clothymic zum gegenseitigen beliebigen Ersatz." So wurde bereits 1885 von 
Sioli die innere Verwandtschaft der letzteren 3 Krankheitsbilder bemerkt. 
Ferner stellte er fest, ,.daB in der groBen Mehrzahl der Falle die Vererbung die 
Geisteskrankheit erzeugt und deren Form bestimmt, wahrend in der kleineren 
Zahl der Falle auBere Umstande die Geisteskrankheit erzeugen und dann einen 
ivesentlichen EinfluB auf die Form derselben gewinnen." (Arch. f. Psychiatr. 
u. Nervenkrankh. 16, S. 113, 353 u. 599.) 

Es war ein auBerordentlich gliicklicher Griff, als die 8tadt Frank¬ 
furt a. M. 1888 Sioli zum lebenslanglichen Direktor ihrer Anstalt fur 
Irre und Epileptische berief und damit zum eigentlichen Leiter des 
gesamten Frankfurter Irrenwesens bestellte. Jetzt hatte er ein Feld 
gefunden, wo er seine groBe Arbeitskraft voll botatigen und die ihn 
beschaftigenden Plane weitgehend verwirklichen durfte. Am 1. No¬ 
vember siedelte er mit Weib und Kind iiber und ging sogleich mit seiner 
temperamentvollen Energie an eine vollige Umgestaltung des Vor- 
gefundenen nach seinen Grundsatzen. 


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Emil Sioli f. 


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lm Alter hat sich Sioli mit der festen Absicht getragen, eine ausfiihrliche 
Geschichte des Irrenwescns der Stadt Frankfurt zu schreiben. Alancherlei Vor- 
arbeiten waren bereits beendet, viel Material zusammengetragen, ja der Anfang 
der interessanten Arbeit begonnen; leider ist er nicht mehr zu ihrer Vollendung 
gelangt. Xur gelegentliche kurze Ruckblicke finden sich in verschiedenen seiner 
Y r eroffentlichungen, so in seiner Beschreibung der Frankfurter Anstalt in Breslers 
..Deutsche Heil- u. Pflegeanstalten fiir Psychisch-Kranke in Wort und Bild“, 
femer in Siolis ..Nekrolog auf Heinrich Hoffmann“, in seiner Beschreibung 
der Kopperner Nervenheilstatte. Den Verdiensten seines Amtsvorgangers, des 
bekannten Struwelpeter-Hoffmanns, hat er voile Anerkennung gezollt. Obgleieh 
dieser nicht eigentlieh Psychiater gewescn war, sondem praktischer Arzt und 
Anatom, hatte er es doch, als er einmal zum Leiter des alten Hospitals fiir Geistes- 
kranke gewahlt worden war, durch seine Riihrigkeit fertig gebracht, die bis- 
herige Gleichgiiltigkeit der Biirgerschaft zu iiberwinden und mit zielbewuBter 
Agitation die Mittel fiir die Errichtung einer eigenen Frankfurter Heil- und Pflege- 
anstalt zusammenzubringen. 1864 ward dieselbe bezogen, ein schmucker Bau 
in gotischem Stil mit 124 Einzelziinmern und 20 kleineren Aufenthalts- bzw. 
Schlafraumen. Veraltet, wde ein solcher Bauplan sich heute darstellt, war auch 
die Behandlungsweise des damaligen Loiters, so wohlwollend er sich seiner Pa- 
tienten annahm, und so sehr es ihm gelang, den „Affenstein“ popular zu machen. 
Aber seine humorvolle Giite erlaubte den Insassen weitestgehendes Ausleben 
ihrer krankhaften Eigenart, so daB sie sich je nach Wahnsystem und Geschmack 
kleiden, Zepter und Krone tragen, sich mit Majestat anreden lassen durften. 
Methodische Bettbehandlung Unruhiger, regelmaBige Beschaftigung, Erziehung 
zu sozialem Verhalten gab es dagegen nicht. Jeder Patient trieb so ziemlich. 
was er wollte, und die „Bosartigen“ wurdcn durch Zwangsmittel (Jaeke, Stiihle. 
Zellen) unschadlich gemacht. Es ist klar, wohin solche Methode, zumal beim 
Altem des Loiters, fiihren muBte: Ruhige Patienten hatten es gut, aber die Er- 
regten kamen nicht zu ihrem Recht. Die arztliche Tatigkeit stand im Hinter- 
grunde, das Personal blieb ubermaBig selbstandig. Der Oberwiirter ging z. B. 
abends mit einer Flasche Ghloralhydrat durch die Anstalt, teilte nach Gutdiinken 
Schlafmittel aus und meldete dann dem Direktor: „Ronde gemacht!“ 


In diese raorsch gewordenen Zustande fuhr Sioli wie ein Wirbel- 
wind und fegte alles hinaus, was sich nicht mit seinen Anschauungen 
vertrug. Kein geringerer als Alzheimer, der daraals als Assistenz- 
arzt bei Sioli eintrat, und staunender Zeuge des jiihen Umschwungs 
wurde, hat seines Lehrers Wirken mit unnachahmlicher Anschaulichkeit 
im Aufsatzo ,,2oJahre Psychiatrie“geschildeit (Arch. f. Psych, u. Nerven- 
krankh. 52, S. 853). Auf Drangen Siolis gewahrte die Stadt die Mittel 
zu einem volligen Umbau nach modernen Gesiehtspunkten: Die zu 
vielen Einzelzimmer wurden beseitigt und an ihrer Stelle groBe, helle, 
luftige Wachsale errichtet. Die bisher nur ebenerdigen Hauser wurden 
mit einem I. Stockwerk versehen, in alien diesen Raumen Zontral- 
dampfheizi^ng eingefiihrt und alien Wachsalen Badezimmer ange- 
schlossen. Die Wachsale erhielten verglaste Veranden. Werkstatten, 
Unterhaltungsraume, Laboratorien und arztliche Bibliothek wurden 
nicht vergessen. Mit Ausnahme der Station fiir Unruhige, die nicht 
nach Si ol is Wiinschcn ausfiel, darf der gesamte Umbau noeh heute 


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Raecke: 


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als mustergultig gelten. Von deni Wachsaal fur Unruhige hat er selbst 
offers geauBert, er hatte ihn lieber ganz gegen Siiden stellen und auch 
dort mit den Einzelzimmern griindlicher aufraumen sollen. Wieder- 
holte spatere Verbesserungsversuclie durch Anbau eines 2. Schlaf- 
saals und Anbringung einer gedeckten Veranda haben jene Fehler der 
Anlage nicht raehr aufzuwiegen vermocht. Dazu kam, daB ihm trotz 
seines Einspruchs durch die Feuerwehr eiserne AbschluBturen auf- 
genotigt wurden, die den Gesamteindruck ungiinstig beeinflussen. 
Dennoch sollte man es heute der KJinik kaum ansehen, daB sie seit 
Anfahg der 90er Jahre keinen durchgreifenden Umbau erfahren hat. 

DieGrundsatze SiolischerBehandlungsmethode finden sich nament- 
lich niedergelegt in seiner sehr beachtenswerten Schrift ,,Einige psy- 
chiatrische Zeitfragen“, die 1895 in der ,,Zeitschr. f. arztl. Land- 
praxis'' erschien und heute noch durchaus modern anmutet. Neben 
interessanten wissenschaftlichen Beobachtungen enthalt sie wert- 
volle Ausfiihrungen fur den Anstaltsarzt, wie das ,,zarte Pflanzchen 
des KrankheitsbewuBtseins" durch freie Behandlung gekraftigt, durch 
Zwang aber erdriickt werde, von der ZweckmaBigkeit fruher Ent- 
lassung und den Gefahren iibereilter Aufnahme. Solange keine nahe- 
liegende Gefahr durch das Verhalten eines Kranken entstehe, solle 
man lieber durch freundschaftlichen Rat und unmerkliche Lcitung 
wirken. Aber keine Erschwerung der notwendigen Aufnahmen! Nach 
diesen Grundsatzen hat Sioli in Frankfurt iiber 30 Jahre die Direktion 
gefiihrt. 

In der erwahnten Schrift von Alzheimer ist treffend ausgeftihrt worden, 
wie Sioli es in kiirzester Zeit verstanden hat, die ganze Anstalt mit seinem Geiste 
zu durchdringen, Arzte und Personal zu seinen Anschauungen zu erziehen, die 
Verwaltung bis ins einzelne personlich zu leiten und doch durch Vermeidung 
alles Kleinlichen jedem die zur Arbeitsfreudigkeit erforderliche Selbstandigkeit 
zu gewahren. Fast taglich machte er mehrmals V r isite, kannte personlich genau 
jeden Kranken, war immer fur Patienten und Angehorige zu sprechen. Alle 
ein- und ausgehenden Schreiben, auch die Briefe der Kranken, gingen durch 
seine Hand. Jahrelang lieB er sich sogar zu jeder Aufnahme rufen. Mit alien 
Gutachtenfallen beschaftigte er sich eingehend, auch wenn er nicht das Gut- 
achten persdnlich erstattcn wollte. So konnte er bei seiner starken Verantwor- 
tungsfreudigkeit manches in der von ihm erstrebten freien Behandlung wagen. 
was ohne seine genaue Kenntnis der einzelnen Kranken bedenklich gewesen 
ware. 

Es geht die, freilich nicht sicher bcglaubigtc, Erzahlung, Sioli habc 
in Bunzlau eine haBliche Mauer, doren Bcseitigung er durch wieder- 
holte Eingaben nicht erreichte, kurzerhand selbst abreiBtpi und mit 
den Steinen eine StraBe pflastern lasscn. Jedenfalls hat er gelegent- 
lich in ahnlicher Weise bei ihm argerlichen Schwierigkeiten den Gor- 
dischen Knoten zerhauen. Seiner impulsiven Initiative gelang oft 
spielend, was vorher unmoglich schien. Aber traf er auf ernstere Hin- 


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Emil Sioli f 


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dernisse, war er allerdings vorsichtig genug, rechtzeitig abzubrechen. 
Die Kuhnheit, rait der er Gewalttatige und Selbstmordverdachtige 
gerade durch Verzicht auf alle VorsichtsmaBregeln umzustimmen 
trachtete, auf seinen Wachsalen Messer ausgab und das VerschlieBen 
der Tiiren verbot, Kriminelle und Fiirsorgezoglinge beurlaubte oder 
im Freien beschaftigte, hatte etwas Verbliiffendes. Dennoch hat er 
kaum je table Erfahrungen gemacht, da er stets genau unterrichtet 
war und eine groBe Menschenkenntnis besaB. Individuelle Behand- 
lung ging ihm iiber alles, Schablonen kaimte er nicht. Verwilderte Kranke 
fiihrte er personlich in Garten und Park spazieren, um sie an soziales 
Yerhalten zu gewohnen. Widerstrebende zwang er durch Beharr- 
lichkeit zur Arbeit, wobei er nie um neue Wege verlegen war. Es reizte 
ihn formlich, an gewalttatig Erregte personlich heranzutreten und 
sie durch Blick und Wort zu besanftigen, sie nach seinem Willen zu 
lenken, wie er auch bei erregten Aufnahmen gem selber zugriff und 
sie ei enhandig zur Abteilung fiihrte oder trug. 

Oft hatten seine Auskunftsmittel direkt einen humorvollen Anstrich, wenn 
er z. B. einen gesperrten Katatoniker mit einem vielgeschaftigen Maniacus an 
die gleiche Sage stellte, so dad der eine die Arbeit in Gang brachte, der andere 
sie stereotyp im Gange erhielt; oder wenn er auf Klagen der Oberpflegerin 
iiber die gemeinsam veriibten Streiche zweier degenerativer Hysterischer diese 
nicht etwa trennte, sondern zusammen in ein Zimmer schlod mit dem prompten 
Erfolge, dad sich beide nach Ablauf einer Stunde nicht mehr sehen konnten. 
Durch seine grodziigige Behandlung mit Versprechungen und Vergunstigungen 
wudte er aus alien arbeitenden Kranken erstaunliche Leistungen herauszuholen 
und auch Angehorige der Stadtbevolkerung an landwirtschaftliche Tatigkeit 
zu gewohnen. Sein grodter Erfolg in dieser Hinsicht bleibt die Durchfiihrung 
umfassender Urbarmachungsarbeiten im Taunus an der Stelle, wo spater die 
Kopperner Nervenheilstatte errichtet wurde. 

UnerschSpflich war Sioli im Erfinden und Vorbereiten von Unterhaltungen, 
die er stets gleichzeitig therapeutisch zu verwerten verstand. Seine in Baracken 
untergebrachten Kopperner Arbeiter, meist Trinker, beschaftigte er Sonntags 
auder mit Karten- und Kegelspiel noch mit Scheibenschieden, Verlosungen und 
ahnlichen Abwechselungen. Die Insassen der Hauptanstalt durften im Sommer 
auf haufige Ausfliige, im Winter auf regelmadige Tanzstunden mit abschlieden- 
dem Balle rechnen. Grode Gartenfestc mit Feuerwerk, Ausfahrten und Masken- 
balle hielten schon wochenlang vorher die Kranken in angenehmer Erwartung. 
ob sie teilnehmen durften. Zerreiden, Zerschlagen, selbst Einnassen lieden dann 
erheblich nach; Schlafmittel und Bader konnten eingeschrankt werden; die Ar- 
beitsleistungen wurden sehr viel bessere. Dafiir wurde auch in der Zulassung 
zu den Vergniigungen weitherzigste Milde geiibt. Die Unreinen saden. bei Aus- 
flugen der Anstalt in die Umgegend, zusammen im letzten Wagen, der von Zeit 
zu Zeit an einem Graben, einem Busche anhielt, damit die Fahrgaste schnell 
abgefiihrt werden konnten. Fastnacht zog die ganze Anstalt maskiert und unter 
Vorantritt von Musik nach einer nahe gelegenen Wirtschaft zu Kaffee, Kuchen 
und Tanz. Manische und Hebcphrene tummelten sich als Hanswurste. und manche 
Stuporo8e und Depressive zeigten an solchem Tage zuerst wieder Initiative und 
Lebenslust. Ausbrechende Erregungen, Dammerzustande, Krampfanfalle stdrten 


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nicht das Fest. Der Betreffende verschwand rasch im Seitenzimmer, erhielt eine 
Spritze und wurde, falls notig, unauffallig zur Anstalt zuriicktransportiert. Alles 
hatte Sioli selbst bis ins kleinste zuvor eingeteilt und vorausbedacht, wie er 
auch dauemd Mittelpunkt des Festes blieb, dennoch aber mit Interesse das 
Oebaren dor einzelnen beobachtete, seine Arzte darauf hinwics und dia- 
gnostische und prognostisehe Schlussc zog odor neue thcrapeutische Gesichts- 
punkte ableitete. 

Fruh trat Sioli fiir eine moglichst weitgehende Differenzierung 
der Wachsale ein. Bei einem Bestande von nur 300 Kranken wiinschte 
er doch je 4 Wachsale fiir jede Geschlechtsseite: Fur Ruhige, Halb- 
ruhige, Unruliige und Sieche. Jeder Wachsaal sollte seine besonderen 
Baderaume und eigenen Garten haben, in welchem Liegeeinrichtungen 
geschaffeti wurden. Im Sommer bei gutem Wetter siedelten die Wach¬ 
sale vollstandig in die Garten iiber, zum Schutz gegen Regen waren 
Liegehallen gedacht. Der Ausbau moderner Dauerbader wurde zwar 
erst in den Jahren 1904—1908 zusamraen mit der Hcrrichtung schoner 
Untersuchungs- und Operationsraume durchgefiihrt, aber schon Ende 
der 90er Jaltre wurden die protrahierten warraen Bader in ausgedehn- 
tem MaBe von Sioli angewandt. Sonne, Luft und Wasser galten ihm 
als Hauptheilfaktoren, und er wurde nicht miide, darauf hinzuweisen, 
welche Erfolge man hieriuit ohne alle Medikamente bei ausreichender 
Kost gegemiber geschwachten Nervosen crziele. Allmahlich wandelte 
er seine offizielle Epileptikerabteilung in eine Nervenabteilung um, 
indem er den Austlruck ,,krampfkrank‘‘ im allerweitesten Sinne faBte. 
Hand in Hand damit ging das zielbewuBte Bestreben, alle die Auf- 
nahmen erschwerenden Bestiinmungen iiberhaupt abzuschiitteln und 
aus seiner Heil- und Pflegeanstalt. ein richtiges Stadtasyl zu machen, 
das den Zugangen ebenso offen stande, als irgendein anderes Kran- 
kenhaus. Grundsatzlich sollte das Attest eines praktischen Arztes 
gcniigen. Der Direktor ubernahm Ix-reitwillig die Verantwortung 
und schickte deni Polizeiprasidenten zusammen mit der Aufnahme- 
anzeige eine kurze gutachtliche AuBerung, warum die Aufnahme not- 
wendig war. Anfangs veranlaBte wohl die Polizei eine gelegentliche 
Nachkontrolle solcher Aufnahmen durch den Kreisarzt, jedoch mit 
den Jahren schlief auch diese behordliche VorsichtsmaBregel, da sie 
sich iiberflussig erwies, allmahlich ein. Die Aufnahmen erfolgten ohne 
jede Anraeldung und ohne alle Papiere zu beliebigen Tag- und Nacht- 
stunden. Ja, der Direktor verpflichtete sich der neugeschaffenen stadti- 
schen Rettungswache gegeniiber, ihr jeden von ihr eingelieferten Kran¬ 
ken zunachst abzunehmen und dann sich auf Grund sofortiger eigener 
Untersuchung dariiber klar zu werden, ob er ihn behalten oder fort- 
schicken wollto. Nur durch solche Verantwortungsfreudigkeit lieB 
sich reibungslos der groBe Fortschritt erzielen, daB ausnahmslos samt- 
liche auf der StraBe bewuBtlos Aufgefundenen, einschlieBlieh der Be- 


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Emil Sioli f. 


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trunkenen, statt nach tier Polizeiwache in die Psychiatrische Klinik 
verbracht warden. 

Vorher war es immer wieder geschehen, daO an ter der Annahme bloBer 
Trankenheit Apoplexien, Uramien a. dgl. in polizeiliehen Gewahrsam genommen 
and am nachsten Morgen tot aafgefanden warden. Heate ist die Bcrechtigang 
von .Siolis Vorgehen wohl allgemein anerkannt and hat weitgehende Nach- 
ahmang gefanden. Damals bestand es erst an wenigen Kliniken and wardo z. B. 
von keinem Geringeren als Schiile noch Ende der 90er Jahre in einer Aus- 
spraehe iiber Stadtasylo als za gewagt zariickgewiesen; er war entsetzt, als ihm 
Sioli aaf die Frage nach den Einzelbestimmangen eines derartigen Reglements 
antwortete, er braaehe kein Reglement, sondern verlasse sich aaf scin eigenes 
Urteil. 

Rasch stieg unter Siolis Leitung die Zahl der Aufnahmen: Im 
Jahre 1887 waren es noch 109 im Jahre gewesen, 1892/93 schon 295. 
1897/98 468, dann 1900/01 ward die Ziffer 622 erreicht, 1902/03 1018. 
endlich 1906/07 1486, und auf dieser Hohe liielten sich die Zugange 
seitdem mit geringen Schwankungen bis zum Kriege. Diese Vermehrung 
kam weniger auf Rechnung der eigentlichen Psychosen, als vor allem 
einer Haufung der in die Anstalt voriibergehend verbrachten Grenz- 
zustande, psychopat hischer Erregungen, epileptischer Dammerzu- 
stande, Trunkenheitsfalle und BewuBtseinstrubungen bei organischen 
Gehirnerkrankungen verschiedenster Art. 

Hierzu kamen seit 1900 in immer wachsender Zahl die jugend- 
lichen Abnormen, bei denen im Verlaufe des Fiirsorgeerziehungsver- 
fahrens Zweifel betreffs der geistigen Beschaffenheit sich erhoben hat- 
ten, oder die wegen schwerer moralischer Verirrungen derart gefahr- 
lich fiir ihre Umgebung zu werden drohten, daB sofortige Einwcisung 
in die Anstalt erfolgen muBte. Um auch sie zweckmaBig unter- 
bringen und versorgen zu konnen, begrxindete Sioli rasch ent- 
schlossen eine besondere Jugendabteilung, wohl die erste an einer 
Irrenanstalt, trennte die Halbwiichsigen von den Kindern und 
beschaftigte die ersteren in den Werkstatten, wahrend er zum Unter- 
richt fur die letzteren die Anstellung eines stadtischen Lehrers, fur 
ihre Erziehung die einer Kindergartnerin erreichte. Um die jugend- 
lichen Individuen ganz von den Erwachsenen zu sondern, lieB er 1909 
auf jeder Geschlechtsseite ein barackenartiges Landhauschen mit 
Schlaf-, Wohnraum und Bad im Park errichten. 

Gerade den hier behandelten psychopathischen und Schwachsinnszustanden 
hatte er von jeher ein groBes Interesse entgegengebracht und eigene Fragebogen 
fiir ihre Untersuchung ausgearbeitet. Bekannt ist sein Referat liber Imbezillitiit 
1899 (Zeitschr. f. Psych. 1900, S. 101). Ferner veroffentlichte er: „Die Beobach- 
tungsabteilung f. Jugendl. in d. Frankft. Stadt. Irrenanstalt 4 ' (Psychiatr.-neurol. 
VVochenschr. 9, S. 123), „Denkschrift betr. d. Jugendabteilg." 1909, „t)ber 
d. Aufgabe d. Irrenarzte bei d. Beurteilung u. Behandlg. abnormer Jugendlicher" 
(Neurol. Zentralbl. 1908). Endlich ist hinzuweisen auf die von ilim herausge- 
gebenen recht inhaltreichen Jahresberichte seiner Anstalt, die eine Fiille feiner 


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Bemerkungen iiber seine an den jugendlichen Psychopathen gesammelten Er- 
fahrungen enthalten. 

Das Gebiet der sexuellen Verirrungen behandeln seine Aufsatze ,,Beitrage 
zur Genesc der kontraren Sexualempfindung 11 (Neurol. Zentralbl. 1893, S. 423) 
und ,,t)ber perverse Sexualempfindung 1 * (Zeitschr. f. Psych. 50). Praktische 
Fragen werden erdrtert in dem Referat „Uber t)berwachungsabteilungen“ (Neurol. 
Zentralbl. 1894, S. 89), in dem Vortrag ,,Fursorge fur Geisteskranke 11 (Zeitschr. 
f. Psych. 1898, S. 826), sodann in „Warum bediirfen die groBen Stadte einer in- 
tensiveren Fiirsorge, als das flache Land? 11 (Zeitschr. f. Psych. 1900, S. 800), 
„Erweiterte Aufgaben der groBstadt, Irrenfiirsorge 11 (Zeitschr. f. Psych. 1903, 
S. 971), .Jst das heutige System villenartiger Pavilions fur alle Irrenanstalten 
das allein richtige? 11 (Zeitschr. f. Psych. 1906, S. 157), „Entwicklung der Trinker- 
fiirsorge in Verbindung mit der stadt. Irrenanstalt in Frankfurt a. M.“ (Psychiatr.- 
neurol. Wochenschr. 9, S. 25), „Die Geschlechtskrankheiten in ihren Beziehungen 
zu den Psychosen in der Irrenanstalt 11 (Festschr. zum 1. KongreB z. Bekampfg. 
d. Geschlechtskrankh. in Frankfurt 1902), „Begutachtung eines Falles von perio- 
discher Geistesstorung in Invalidenrontensachen‘ 1 (Arztl. Sachverstand.-Zeit, 1, 
II, 1905). 

Siolis Bestreben war von Anfang an darauf gerichtet gewescn, 
daB die Stadt Frankfurt alle ihre Geisteskranken selbst verpflegen 
sollte. Er hoffte auf den Bau einer zweiten landlichen Anstalt fur 
Chronische, etwa so wie Hamburg neben Friedrichsberg ein Langen- 
horn geschaffen hat. Eine solche Pflegeanstalt ware bald zu fiillen 
gewesen, man brauchte nur die vielen nach auswarts, z. T. in Ordens- 
anstalten abgegebenen stadtischen Patienten zuruckzuholen. In den 
langwierigen Kampfen um Durchfiihrung dieser Lieblingsidee ist 
er nicht erfolgreich gewesen, weil er da auf zu zahlreiche Hindernisse 
stieB. Gerade der sonst groBzugige Oberburgermeister Adickes scheint 
hier mehr den fiskalischen Standpunkt vertreten zu haben, daB die 
Stadt sich nicht in der Irrenpflege Lasten aufbiirden diirfe, zu denen 
sie nicht gesetzlich verpflichtet sei. So kam es schlieBlich zu dem von 
Sioli spater beklagten KompromiB, daB sich die Stadt nur mit Geld- 
beitragen an der Erbauung einer neuen Provinzialanstalt beteiligte, 
wofiir sie das Recht erhalten sollte, dorthin ihre chronischen Falle 
abzuschieben. 1897 wmrde die neue Nassauische Bezirksanstalt Weil- 
miinster eroffnet, brachte aber durchaus nicht sogleich die erw r artete 
Entlastung, weil der bureaukratische Apparat zunachst zu schwerfallig 
arbeitete, und die Gberfuhrungsantrage zu langsam erledigt wurden. 
So ward es notwendig, noch nach anderen Entlastungsmoglichkeiten 
fiir die immer starker uberfiillte sthdtische Anstalt auszuspahen. 

Mit Einfiihrung einer Familienpflege nach Bunzlauer Muster hatte Sioli 
in Frankfurt sehr bald begonnen, muBte sich jedoch nach jahrelangen Bemiihungen 
iiberzeugen, daB der GroBstadtboden dafiir nicht giinstig war. Vielleicht mag 
auch gerade die hiesige Bevolkerung mit ihrer Lebhaftigkeit und Mangel an 
Geduld sich besonders schlecht zu solcher Pflege eignen. Jedenfalls war auf die- 
sem Wege trotz mannigfacher Versuche kein durchgreifender Erfolg zu erzielen. 

' Besser bewahrte sich die Schaffung einer Filiale fiir Sieche und ruhige Ver- 


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Emil Hioli t- 


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blodete: In der Stadt selbst wurden ein Wohnhaus und ein Fabrikschuppen in 
groBem Garten entsprechend eingerichtet und hier mit verhaltnismaBig geringen 
Kosten jahrelang der Betrieb durchgefiihrt. Frl. Niasl, Schwester des beriihmten 
Histologen, hatte die wirtschaftliehe Leitung ala Oberin von „Prachtershof“ 
und trug durch tatkraftige und verstandnisvolle Arbeit nicht wenig zum Ge- 
Jingen des Planes bei. Gestiitzt auf die hier gesammelten Erfahrungen hat Sioli 
inimer wieder schon lange vor dem Kriege betont, daB die Methode der iiber- 
groBen Anstalten unzweckmaBig sei, weil Mangel personlicher Ubersicht das 
Sparen behindere, und daB mit zahlreicheren kleinen psychiatrischen Bezirks- 
krankenhausem viel billiger gewirtschaftet werden konne. Die von ihm dariiber 
vorgelegten Anschlage haben moines Wissens keine weitere Beachtung ge- 
funden. 

Viel Kopfzerbrechen maehte ihm die Trinkerfiirsorge. Die Haufung der 
Wiederaufnahmen wegen Trunkenheit lieB ihn nach tauglichen Mitteln suchen, 
die in der Anstaltsbehandlung Gebesserten vor Riickfallen zu schiitzen. Nicht 
in Moralpredigten und Drohungen mit Bezirksanstalt und Arbeitshaus, auch 
nicht nur mit den Methoden Entmiindigung und Abstinenzversprechen glaubte 
er Abhilfe linden zu sollen, sondeni von vomherein stellte er den Gesichtspunkt 
der sozialen Fiirsorge in den Vordergrund und miihte sich, den Entlassenen den 
Weg in die Freiheit zu ebnen. Er verschaffte ihnen Schlafstellen und Arbeit, 
legte ihr verdientes Geld auf die Sparkasse und nahm die Bticher in Verwahrung. 
Geduldig verhandelte er mit ihnen, wenn sie von ihm Geld erhoben, und mahnte, 
sie sollten es doch nicht wieder vertrinken, erfreut, wenn er nur erreichte, daB 
sie wenigstens einen Teil des Geldes stehen lieBen. Trotz aller Enttauschungen 
gerade bei diesen Bestrebungen hat er doch nie Mut und Humor verloren. Er 
gait den Frankfurter Alkoholisten, fur die er warmes Mitgefuhl besaB, als der 
,,Papa“, zu dem sie sich hilfesuchend wendeten, von dem sie sich aber auch viel 
sagen lieBen, und fur den sie geme arbeiteten, wenn sie einmal wieder zur Auf- 
nahme gelangten. Oft hat Sioli es als erstrebenswertes Ideal bezeichnet, daB 
solche Alkoholkranke, soweit sie keine Familie hatten, in einer alkoholfreien 
Herberge Wohnung erhalten konnten, deren Hausvater den Lohn in Verwah¬ 
rung zu nehmen und im Interesse der einzelnen zu verwalten hatte. Bei richtiger 
Behandlung dieses reizbaren, aber meist willensschwachen Menschenmaterials 
werde sich doch allerlei erreichen lassen. 

Biol is Wunsch, ein landliches Trinkerasyl zu gewinnen, vereinigte 
sich mit seinem Bestreben nach Entlastung der Anstalt durch Griin- 
dung von Filialen und ward befruchtet von seinem Interesse fur die 
neue Nervenheilstatten-Bewegung. Alle diese Motive wirkten zusam- 
inen, bei ihm ein groBziigiges Projekt reifen zu lassen: Wieder trat 
er an die Btadt heran mit dem Vorschlage, eine zweite psychiatrische 
Anstalt fur chronische Geisteskranke zu erbauen, aber dieses Mai 
in enger Verbindung mit einer Volksnervenheilstatte und zugleich 
gedaeht zur Durchfiihrung von Alkoholentziehungskuren. Das schone 
Koppemer Tal im Taunus schien ihm besonders geeignet, und jetzt 
gelang es seiner Gberredungskunst, den Ankauf von ausgedehntem 
Gelande durchzusetzen. Freilich mit dem Beginn der eigentlichen 
Bauperiode hatte es noch Zeit; erst muBte nach Wasser gesucht 
und Brunnen gegraben werden, erst gait es auch, das unfruchtbare 
Heideland urbar zu machen. 1901 war die Hiittenmuhle gekauft wor- 


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den und der dazu gehorige Bodenbesitz in Neuefeld durch Ankaufe 
von Gemeinde und Privaten allmahlich hinzugetvonnen, und alsbald 
siedelte Sioli 12 arbeitsfahige Patienten mit dem notigen Personal in 
den alten Baulichkeiten an, damit sie rait den Vorbereitungen beginnen 
sollten. Nach Errichtung von 2 Baracken wurden die Kranken auf 
40 vermehrt, raeist Alkoholisten, und nun erhob sich ein eifriges Schaf- 
fen, den Gebirgsbach einzudammen, StraBen anzulegen und aus dem 
mit Ginster bestandenen, steinreichen Gebirgsboden fruchtbare Felder 
herauszuholen. Erst 1911 folgte die Auffuhrung der 6 Landhauser 
und des Wirtschaftsgebaudes, welche heute die Doppelanstalt fiir 
psychische und nervose Kranke darstellen. Bis zum Krieg hat Sioli 
die Leitung dieser vorbildlichen Volksnervenheilstatte neben derjenigen 
seines Stadtasyls in Handen gehabt. DaB sie gebaut wurde, und daB 
sio sich so entwickelte, ist in erster Linie sein Verdienst. Sehr lesens- 
wert ist seine eigene Schilderung der Baugeschichte, ,,Die neuen Heil- 
anstalten Neuefeld und Hiittenmuhle fiir psychisch Kranke und Ner- 
v6se“, 1913. 

Trotz aller solcher praktischen Betatigung, zu der noch eine aus- 
gedehnte Gutachter- und Konsiliarius-Tatigkeit kam, lieB Sioli doch 
keinen Augenblick die Pflege wissenschaftlichen Geistes in seiner Anstalt 
aus den Augen. Nach seiner Oberzeugung konnte nur der wissenschaft- 
lich Tiichtige ein guter Arzt sein, und daruni war er eifrig bestrebt, 
die jiingeren Assistenten zu wissenschaftlichen Arbeiten anzuregen, 
den alteren aber freie Hand zu lassen und ihnen nur durch Bereit- 
stellen von Arbeitsmitteln und Zeit zu Hilfe zu komruen. Jeder, der 
es beantragte, erhielt ohne weiteres 4 Woehen Arbeitsurlaub im Jahr, 
d. h. er wurde wahrend dieser Zeit durch den Direktor vom Abteilungs- 
dienste dispensiert. Fortbildungsvorlesungen wurden lange vor Er- 
offnung der Universitat regelinaBig abgehalten. Referatabende waren 
eingerichtet. Dio Arzte wurden dazu angeregt, auf Kongressen vor- 
zutragen. So erbliihte unter Siolis Leitung ein reiches wissenschaft- 
liches Leben an seiner Anstalt. Es geniigt, auf seine, verstorbenen 
Schuler hinzuweisen: Knoblauch, Nissl, Alzheimer, Brodmann 
haben unter Sioli gearbeitet. 

Er selb8t war nicht nur reges Mitglied des Frankfurter arztlichen Vereins, 
der ihn 1903 zu seinem Vorsitzenden wahlte, sondern namentlich auch in der 
Anthropologisehen Gesellschaft eifrig als Vortragender tatig. Erwahnt seien 
vor allem sein Beitrag zur Festschrift der 39. Versamnilung der Gesellschaft 1908 
iiber „Geisteskrankheiten bei Angehorigen verschiedener Vblker“, sein Aufsatz 
„Die Entartung des Menschengeschlechts' 1 , Umschau 1903, und sein Vortrag 
iiber „Geisteskranke Dichter 11 , ein Thema, mit dem er sich jahrelang beschaftigte 
und iiber das er vielbesuchte Vorlesungen hielt. Sioli war zudem ein gewandter 
Diskussionsredner, dor anregende Bemerkungen aus seiner reichen Erfahrung 
heraus zu machen wuOte. 


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In seinem Hause liebte er frohe Geselligkeit und wurdc in der Ausiibung 
herzlichcr Gastfreundschaft durch seine interessenreiche und musikalische Gattin 
verstandnisvoll unterstiitzt. Er hatte die Freude, daB sein altester Sohn sich 
ebenfalls der Psychiatrie zuwandte und die akademische Laufbahn einsehlug. 
Seine Tochter heiratete einen Nervenarzt und bescherte ihm 4 Enkel. Der 2. Sohn 
wurde Architekt, der dritte Jurist. Dazu kam ein groBer Kreis gleichgestiminter 
Freunde und Bekannten, und auBerdem hielt er als Direktor nach alter patriar- 
chalischer Sitte noch in der GroBstadt daiauf, daB sich bei ihm die Familien 
<ler Angestellten gelegentlich versammelten. Fiir sie alle zeigte er lebhaften 
Anteil. Seine weitgehende Sorge um das Wohlergehen des Pflegepersonals erhellt 
schon aus den vielfachen eingehenden Erorterungen in seinen Jahresberichten 
iiber die Frage, wie es am besten gehoben und zur Arbeitsfreudigkeit erzogen 
werden konne. Er hatte ihm allmahlich eine Vorzugsbehandlung gegeniiber 
den anderen stadtischen Angestellten erkampft. 

Mit dem Ausbruch des Weltkrieges erfuhr die auf Sioli ruhende 
Arbeitslast eine bedenkliche Vermehrung: Seine alteren Arzte und 
Pfleger wurden plotzlich eingezogen, in der Anstalt ein Vereinslazarett 
eroffnet, und gleichzeitig fielen ihm mit der Eroffnung der Univer- 
sitfit und seiner Ernennung zum Ordinarius neue Aufgaben und Pflich- 
ten zu. Mit gewohnter Arbeitsfreudigkeit unterzog sich Sioli auch 
jetzt wieder alien an ihn herantretendcn Anforderungen, iibernahm 
sogar das Dekanat. Allein damals wurden allmahlich an ihm, den gleich¬ 
zeitig schwere seolische Erschiitterungen trafen (Verlust von Gattin 
und drittem Sohn, Verwundung der beiden alteren Sohne), die ersten 
Spuren zeitweiligen Nachlassens seiner Elastizititt beobachtet. 

Er erschien bisweilen reizbar und launisch, kiimmerte sich nicht mehr um 
Einzelheiten. lieB manches, dessen Ausbau ihm friiher am Herzen gelegen hatte, 
gleichgiiltig seiner Hand entgleiten. Vollends nach dem Zusainmenbruch und 
deni politischen Umschwung, als die erbitterten Tarifkiimpfe einsetzten, und die 
Diensteinteilung eine vollig andere wurde, verlor er zeitweise das Vertrauen zu 
seinem Personal, das ihm nicht mehr seine jahrelangen Bemxihungen um Er- 
hohung der Gehiilter und Vermehrung des Urlaubs zu danken schien, sondern 
fortgerissen von der allgemeinen Bewegung ganz neue Forderungen aufstellte. 
Gerade Sioli, der imnxer ein Vorkampfer fiir die Rechte der Unterdriickten und 
Minderbegiinstigten gewesen war, fiihlte sich durch diese schmerzliche Erfahrung 
gekrankt, und alles das wirkte zusammen, ihm seinen Abgang mit erreichter 
Altersgrenze zu erleichtern. 

Dann freilich, als der Schritt getan war, und er sich entschlossen 
hatte, Herbst 1919 in den Ruhestand zu treten und auf sein Land- 
gut nach Dillingen im Taunus tiberzusiedeln, da erwachte wieder bei 
ihm die alte Energie und Lebenslust. Bei seiner Abschiedsfeier betonte 
er ausdriicklicb, er denke nicht daran, sich zur Ruhe zu setzen. Fiir 
ihn beginne jetzt ein neuer Lebensabschnitt! 

Und in der Tat ist in Dillingen wahrend des immer von ihm schon 
ersehnten Landlebens Sioli noch einmal jung geworden und hat Plane 
zu einem neuen Aufbau seines Lebens gefalit. Er heiratete eine Nichte, 
die es ausgezeichnet verstand, ihm seine letztcn Jahre zu verschonern, 


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Raecke: Emil Sioli t- 


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nahm geisteskranke Pensionare zu sich und ging mit dera Gedanken 
um, nach Errichtung von Baracken auf seinem Gelande auch Kom- 
munalkranke zu verpflegen. Die ersten Schritte dazu sind tatsachlich 
unternommen worden, die Plane lagen fertig da. Als Konsiliarius 
und Gutachter am Gericht blieb Sioli in Frankfurt tatig, wollte vveiter 
Vorlesungen halten. Da warf ihn uberraschend die Arteriosklerose 
nieder. 

Als er am Himmelfahrtstag dieses Jahres seine alten Assistenten 
bei sich sah, da klagte er bereits uber „grippeahnliche“ Beschwerden, 
wollte sich aber nicht untersuchen lassen und best and darauf, seine 
Gaste selber in seinem Garten herumzufiihren. Am folgenden Tage 
legte er sich mit thrombotischen Erscheinungen am Beine. Die in der 
Frankfurter Chirurgischen Klinik ausgefiihrte Amputation brachte 
nur voriibergehende Erleichterung. Das Herz versagte infolge vor- 
geschrittener Koronarsklerose, und am 16. Juni 1922, 3 Wochen nach 
eingetretener Bettlagerigkeit, entschlief der noch nicht ganz 70jahrige. 
Die um ihn versammelten Angehorigen hatte er noch erkannt und 
ihnen mit dem schonen Abschiedsworte gedankt: ,,Ich habe ein gliick- 
liches Leben gehabt!“ — Wenn nach den Wortendes Psalmisten Miihe 
und Arbeit das Gluck des menschlichen Lebens ausmachen, dann 
darf Sioli fiir sich inAnspruch nehmen, daB rastlos schaffende Arbeits- 
freude bis zuletzt sein Leben erfullte. Diese Erinnerung und dieses. 
Vorbild hinterlaBt er seinen Schiilern. 

Raecke. 


Gougle 


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(Aus der P6ychiatrischen und Nervenklinik zu Kdnigsberg Pr. 

[Direktor: Geheimrat E. Meyer].) 

Znr Psvchopatholo^ie der Konigsberger Mucker. 

Von 

Dr. phil. et med. Hugo Daffner. 

(Eingegangen am 2. August 1922.) 

LaBt sich schon wahrend des vergangenen Jahrhunderts eine wieder 
stand ig zunehmende Neigung zur Beach aft igung mit mystisehen Ge- 
danken und Gefiihlen nachw-eisen, so tritt diese Bewegung, wie es scheint, 
in den letzten Jahrzehnten mit alien ihren typischen Begleiterschei- 
nungen besonders stark hervor. Man hat angefangen, die Schriften der 
alten Mystiker in wertvollen Neuausgaben vorzulegen. Mehr noch als 
dieses beweisen die zahlreichen Anhanger, welche spiritistische, theo- 
sophische, okkultistische und ahnlich gerichtete Gemeinschaften fan- 
den, beweisen auch die Zirkel, die sich um schongeistige Philosophen, uin 
mystisch angehauchte Dichter bildeten, dali in unserer Zeit das so- 
gcnannte Sektenwesen mit allem, was zu ihm gehort, keineswegs aus- 
gestorben ist. Deutschland ist langst als das Land anerkannt, in dem 
das Sektenwesen besonders iippige Bliiten treibt. Und der Norden 
scheint hierbei reichere Friichte abzuwerfen als der Siiden. Unter den 
zahlreichen Sektenbildungen, die wir in protestantischen Landern ken- 
nen, ist die der sogenannten Konigsberger Mucker im ersten Drittel 
des vorigen Jahrhunderts eine der bekanntesten geworden. War es doch 
hierbei bis zum offentlichen Skandal gekommen, der nur durch einen 
weit ausholenden Prozeftvon Staats wegen mit Verurteilung der Haupter 
der Sekte aus der Welt geschafft werden konnte. 

Dicser Konigsberger Muckeiprozefi hat in der Literatur schon mehr- 
fach Widerhall gefunden. Aus der Zeit des Prozesses selber stammt eine 
anonyme, wertlose Schrift ,,Der Mucker in der Einsamkeit' 1 
(Leipzig 1837), die allerhand Mucker-Aphorismen, d. h. vor allem Zi- 
tate aus pietistischen Schriften, enthalt. Eine, wenn freilich etwas ein- 
seitig gefarbte ,,Aufklarung nach Aktenquellen“ hat der in den 
Prozefl verwickelte und auch nachher noch treu zu dem Haupte der 
Sekte stehende und von ihm vollig abhangige Ernst Graf Kanitz 
(Basel 1862) herausgegeben. Weit fiber Deutschlands Grenzen hinaus 


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152 • Hugo Daffner: 

sind die Vorgange bekannt geworden durch Dixons ,,Spiritual 
wives (London 1886)“, deutsch unter deni Titel ,,Seelenbraute“. 
In neuester Zeit haben Stoll 5 ), Birnbaum 2 ), Kretschmer 3 ) von den 
Vorgangen wissenschaftlieh Notiz genommen. Die drei Letztgenannten 
fuBen in der Hauptsache auf der anonymen Schrift und auf Dixons 
,,Seelenbrauten“, die beide allerdings keine ganz ungetriibte Quelle fiir 
die Schilderung der wirkliehen Vorgange bieten. GewiB bringen sie 
allerhand Tatsaehliehes; daneben ist freilieh unverkennbar, daB die Auf- 
rollung pikanten Klatsches den Verfassern Hauptsache war, um damit 
sich ein sensationsliisternes Publikum zu sichern. Immerhin stiitzen 
sich die Auslassungen Dixons auf eine ansehnliche Grundlage, auf ein 
sehr ausfiihrliches Schreiben des Konigsberger Universitatsprofessors 
und Arztes Sachs, der dem Kreise urspriinglich angehort, sich spater 
aber von ihm getrennt hatte. Sachs war in seiner Jugend einmal in eine 
kleine Strafe genommen worden, weil er die Lustspiele Kotzebues wegen 
ihrer inneren Unwahrhaftigkeit heruntergemacht hatte. Auch die langen 
Ausfiihrungen Sachs’ iiber Tun und Treiben der Mucker, die Dixon 
als Anhang abdruckt, zeichnen sich durch einen ganz ungewohnlichen 
psychologischen Scharfblick, hervorragende Beobachtungsgabe und 
klugesUrteil aus. Sachs trennte sich 1824 von dem Mucker-Kreis, so daB 
wohl moglich ist, daB der vom 15. Juli 1836 datierte Brief von gelegent- 
lichen Erinnerungstauschungen nicht ganz frei ist. Jedenfalls aber 
finden die fiir den Psychiater wichtigen Mitteilungen in der spateren 
Hauptverhandlung ihre Bestatigung. 

Eine ernsthafte, wissenschaftlieh einwantlfreie Darstcllung der Vor¬ 
gange ist erst in den letzten Jahren moglich geworden, naehdem von 
den Akten die Siegel gefallen waren, die sie laut Allerhochsten Befehls 
gleich nach Beendigung des Prozesses bis in die neunziger Jahre des 
vorigen Jahrhunderts verschlossen hielten. Nun konnte man daran 
gehen, an hand der gerichtlichen Feststeliungen die Wahrheit vom 
Klatsch, das Tatsachliche vom phantastischen Beiwerk zu sondern, und 
der Offentlichkeit eine sachlic-he Schilderung des beriihmten und be- 
riichtigten Prozesses vorlegen. Der Pfarrer Paul Konschel 4 ) hat auf 
Grund des vollstandigen Aktenmaterials eine erste Darstellung des Pro¬ 
zesses gegeben, die, wenn auch von dem Bestreben geleitet, die Ver- 
fehlungen der Amtsbriider in ein moglichst sanftes Licht zu riicken, 
doch in fleiBiger Verarbeitung des gesamten Materials das Tatsachliche 
und Wesentliche gibt, so daB man sich seinen Ausfiihrungen ohne Be- 

’) Stoll: Suggestion und Hvpnotismus in der Volkerpsvchologie, II. Auflage 
1904. 

2 ) Birnbaum: Psychopathologische Dokumente. 1920. 

3 ) Kretschmer: Medizinische Psychologie. 1922. 

4 ) Konschel: Der KonigsbergerReligionsprozeB gegen Ebel und Diestel. 1909. 


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Zur Psychopathologie der Konigsberger Mucker. 


153 


<lc-nken anvertrauen kann. Fitr die nachfolgende, einem bestimmten 
Zweck dienende Darstellung war es freilich notwendig, die Akten selber 
gelegentlich zur Ergiinzung heranzuziehen. da der Kirchenhistorikcr 
naturgemiiB iiber nianches hinwegliest, was fiir den Psychiater wesent- 
lich ist 1 ). 

Die Ideenwelt der Konigsberger Muckerkreises 2 ) ging aus von deni Theosophen 
Johann Heinrich Schonherr, der 1770 in Memel als Sohn eines Unteroffiziers 
geboren war. Schonherr hatte nie etwasRichtigesgelernt, Er riihinte sichgerade- 
zu. nie ein Buch zu Ende gelesen zu haben. „Als Schuler, so erzahlt er selber, 
forschte ich mehr als ich lemte. Schon beinahe zwei Jahre vor rneiner Entlassung 
von der Schule zur Univereitat hubcn meine Zweifel an einer gottlichen Offen- 
barung sich so zu mchren, daB ich selbst Griinde, sie zu vertcidigen, fand.“ Er laBt 
sich in Konigsberg als Jurist immatrikulieren und gelangt im Herbst 1792 auf einer 
Heise zu seinem ,,System' 1 . Er sclireibt dariiber selber: „Stoff der Korper. Wesen 
des Geistes. Zusammenhang zwischcn beiden waren die ersten Wahrheiten, welche 
ich der Untersuchung zugrunde icgen muBte . .. Nur einer hoheren gottlichen 
Fiigung darf ich cs danken — denn wie viele mbgcn dassclbe und vergeblich ge- 
sucht haben —, wcnn ich bci bfteren einsamen Gangen in die Natur im Sommer 
des Jahres 1802 3 ), als ich, die Pflanzen betrachtend, meinen Gedanken nachging. 
woraus sie doch werden mochten, durch die in rneiner Seele nachtonende Ant- 
wort iiberrascht ward: Wasser ist’s . . . Die Pflanze hatte also ihren Zuwachs 
bloB aus dem Wasser gezogen — was, fragte ich, nun ist dasEtwas. das das Wasser 
in den zarten Keim der Pflanzen treibt . . . ? Da wandelte und lag ich dann nun 
wieder oft einsam unter den Wohlgeriichen der Gewachse, diesen Gedanken nach- 
hiingend . . . Der Geruch der mit Tau getrankten Pflanzen, eines Morgens mir 
frischer denn sonst entgegenduftend, gab mir die erste MutmaBung. Ich fragte 
namlich: Was treibt diesen Geruch aus den Pflanzen aus? Mein Blick erhob sich 
zur Sonne: Die Antwort war: „Nur Warme, Feuer, Licht, Sonnenstrahl!“ Warme 
entbindet sich aus dem Feuer oder Licht. Licht muB bildendes Prinzip in der 
Sehopfung sein. Je mehr ich forschte, je mehr bestatigte es sich. Ein Stoff fiir die 
Korper, ein Etwas ftir den Geist war gefunden.“ Das Jahr darauf kehrt Schonherr 
von Rinteln, wo er seine Entdeckung gemaeht hatte, iiber Leipzig, wo er wegen 
seines eigenartigen Auftretens als Geisteskranker interniert wird, nach Konigs- 
l»erg zuriick. Hier lebt er bescheiden als Privatmann von den milden Gaben 
seiner Freunde, eifrig fiir seine Lehre und deren Ausbreitung wirkend. Er hatte 
stets einen oft groBeren, oft kleineren Kreis von Anhiingem um sich. Ein Stu¬ 
dent, der religiose Zweifel hatte, wird an Schonherr gewiesen und macht dariiber 
folgende Aufzeichnungen: ,,Sein AuBeres frappierte mich; denn er geht mit einem 
Barte und unverschorenem Haupthaar. welches er seiner Gesundheit wegen tut, 
rla das Beschneiden der Haare ihm Pbelbefinden verursacht. Xoch mehr frap- 
pierten mich seine Reden. welche mir ganz neu waren. Denn er sprach von Gott 

*) Die Akten befinden sich im Staatsarchiv zu Konigsberg. Bei ihrer Ent- 
siegelung fehlten bereits sehr wesentliche Stiicke. wie die Urteile der beiden Instan- 
zen. die zweite Verteidigungsschrift; auch aus den sehr umfangreichen Zeugenaus- 
sagen sind mitunter namhafte Teile entfernt. 

2 ) Mucker, vom germanischem muk (heimlich tun), bedeutet ungefahr heim- 
tiickische Frommler; zuerst fiir die Anhanger des .Jenenser Theologen Buddeus 
(1663—1729), dann vor allem fiir die Anhanger der hier behandelten Sekte 
gebraucht. 

3 ) Diese Jahreszahl ist irrtumlich. 

Archiv fiir Psychiatrie. Bd. 67. II 


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Hugo Daffner: 


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in tier Art, daB das Licht Gott sei, alle Eigenschaften, welche wir Gott beilegten, 
dem Lichte beizulegen seien . . . Ich bat um die Erlaubnis, an den Sonntagszu- 
sammenkiinften teilnehmen zu konnen . . . Wir bilden keine formelle Gesellsehaft, 
es gibt keine forinliche Rezeption noch besondere Kleidung noch dergleichen. 
Auch geben wir keine bestimmten Beitriige. Wer etwas iibrig hat, gibt es, doch 
weiBich nicht, ob an Schonherr, oder an andere. Schonherr hat iibrigens von auBen 
her Unterstutzungen. Ich weiB aber nicht von wem. Wir stehen freundschaftlich 
zusammen und duzen uns, insofern wir uns genau kennen, welches auch zwischen 
Mannspersonen und Frauenzimmern geschieht .. . Ebenso nennen wir uns zu- 
weilen auch beim Vornamen .. . tlbrigens muB ich noch bemerken, daB in den 
Zusammenkiinften fur den, welcher hungrig ist. Milch und Semmel zu haben 
sind . . . Von auswartigen, welche Schonherrs Lehre angenommen haben, sind mir 
nur der Pfarrer Ebel in Herrasdorf nebst dessen Mutter und Geschwister ... be- 
kannt.“ Nach anderen Berichten bei den Akten kamen an den Sonn- und Feier- 
tagsbesuchen bei Schonherr auch die Frauen und Braute der zum Schonherrschen 
Kreise gehorenden Manner. „Hin und wieder koramt auch wohl noch eine fremde 
Dame aus Neugierde mit. So z. B. erechien die Tochter des verstorbenen Erz- 
bischofs von Borowski einnial in Mannskleidern in der Gesellsehaft. “ Schonherrs 
Anhang wuchs nach jeder Richtung hin. Ein bis auf die Brust reichender Bart, 
lang hinunterwallendes Haar scheinen seiner hohen, imponierenden Gestalt etwas 
Auffallendes gegeben zu haben. Mit dem Wachsen seines Einflusses stieg natiir- 
lich das SelbstbewuBtsein Schbnherrs mit unabweislicher Not wend igkeit. Einer 
seiner Anhanger schreibt: „Ich habe ihn iiber die Ansicht, welche er von Beiner 
speziellen Bestimmung hatte, niemals befragt; nur konnte ich aus einzelnen seiner 
Andeutungen folgem, daB er sich fiir den Paraklet 1 ) hielt.“ Allmahlich erhielt 
Schonherr in seinem Kreise unbedingte Autoritat, und seine „Entdeckung“ wuchs 
sich nach und nach zu einem System aus, in dem der Hoffnung auf die Geburt eines 
neuen Messias eine bedeutsame Stelle eingeraumt wurde. Ein Zeuge im ProzeB 
auBertc sich, Schonherr war der Meinung, „daB ein solches Wesen, wie es die Offen- 
barung annimmt, nur durch Vermittlung eines Mannes von einem Weibe, das in 
Erkenntnis der Wahrheit, unter welcher er sein System verstand, bei volliger 
Korperreinheit geboren werden konne; zu einem solchen Weibe gehore die hochste 
Ausbildung in der Erkenntnis der Wahrheit und die hochste jungfrauliche Un- 
schuld und Reinheit. Er halt sich fiir denjenigen, der als Mann, und die Marianne 
Schm. als diejenige, die als Jungfrau sich dazu ausbilden wiirden und konnten." 
Von anderer Seite wird aus dieser Zeit berichtet: „In der Kirche in Schonwalde. 
vor dem Altar in der einsamen Kirche, bedrohte er einst den Geistlichen, der Frei- 
inaurer war, falls er nicht hinginge zu seinen Briidem und ihnen gebdte, die Logen 
zu offnen und ihre Geheimnisse der Welt kundzutun, mit den gottlichen Strafge- 
richten. 1 ' Bereits 1806 fiel den Konigsberger Behbrden das Konventikelhalten 
Schonherrs, das sogar Unfrieden in mehrere Familien gebracht hatte, unangenehm 
auf. Schonherr erhalt eine Warnung, und seinen Anhangem wird untersagt, zu 
predigen oder Religionsunterricht zu geben. Gleichwohl wird der Unfehlbarkeits- 
dunkel Schonherrs immer groBer. Einen Widerspruch oder eine abweichende 
Ansicht vertragt er nicht mehr. Schnell beruft sich Schonherr in solchen Fallen 
auf den Heiligen Geist und erklart, der andere spreche „in unrichtigem Geiste ’. 
Auf diese Weise kommt es allmahlich zu Konflikten in dem Schonherrschen Kreise: 
namentlich bei Besprechung eines neuen Vollendungsmittels, das allem Zwist ein 
Ende maehen sollte. Beide Geschlechter sollten, unbekleidet bis aufs Hemd, ihren 
Leib gegenseitig an der Stelle der Hiiften (nach der Auslegung in Psalm 84, 2—4) 

1 ) D. i. der Heilige Geist. 


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Zur Psychopathologie der Konigsberger Mucker. 


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init Ruten streichen bis zu brennecdem Schmerze (1. Kor. 13, 3) und bis zu Blut- 
vergieBen (nach der Deutung von Hebraer 12, 4) geiBeln. Schonherr nannte das 
ein Opfer, lebendig, heilig und Gott wohlgefiillig, da bei jedem Opfer Blut zu flieBen 
und dasselbe verbrannt zu werden pflegte. Aber die Zwistigkeiten lieBen sich 
air# aofehem Wege nicht beheben. Schbnherr halt sich nach wie vor fiir unantast- 
bar, und Ebef stdlt fiir den weiteren Verkehr folgende 9ehr bezeichnenden For- 
derungen: 1. Keiner darf den anderen iiberschreien. 2. Keiner den andem Liigner 
schelten. 3. Jeder muB Zurechtweisung annehmen und Unrecht eingestehen. 
4. Wenn jeiuand behauptet, im richtigen Geiste zu stehen, so muB man ihm das 
zugestehen. Der Bruch war gleichwohl unausbleiblich. Schonherr vereinsamte dar- 
aufhin immermehr. Einer seiner letzten Anhanger erz&hlt noch von ihm: „Ichderke 
hier an den sonderbaren, ihn seiner wahren Bestimrnung zum Teil entfremden- 
den, durch fehlgeschlagene Plane herbeigefiihrten Bau der Schiffsmiihle und des 
Schwans, von welchen ich erst Kunde erhielt durch die vor Schonherrs Hause 
liegenden Eichen, die er in groBer Eile hatte auffahren lassen. Ich auBerte auf 
der Stelle mein sehr groBes Bedenken gegen ein solches Unternehmen, wurde aber 
an die Zukunft gewiesen. Wie oft habe ich ihn gebeten, seine angebliche Erfin- 
dung, namlich die Kraft der Dampfe durch einen Mechanismus zu ersetzen, die 
mir auch damals gleich sehr problematisch vorkam, im Modell erst zu versuchen. 
Endlich mr^chte er zwar einen Anfang damit, aber bald wurde das kaum begonnene 
Modell beiseite geschoben und ohne weiteres erklart: ein solches Verfahren sei 
wider den Glauben. Er iniisse mit seinem Bauunternehmen gleich im groBen vor- 
gehen. Nachdem endlich die ganze Unternehmung iniBgliickt war, wurde die 
Schuld natiirlich nicht vom Baumeister im Baumeister gesucht und gefunden. 
sondem nur in kleinlichen. nichtigen Nobendingen; ja, diejenigen. welche das 
Unternehmen von Beginn an mit groBer Besorgnis erfullt, sollten nun die Ursache 
des MiBIingens sein . . . Selbst da konnte er sich nicht dazu entschlieBen, als Griinde 
und Tatsachen mit einer alldurchdringenden Klarheit, wie die Sonne am Himmel, 
gegen ihn zeugten.“ Ganz verlassen ist Schonherr dann in Spittelhof bei Juditten 
1826 gestorben. 

Bereits in dieser kurzen Skizzierung von Schonherrs Leben ist uns der Name 
Ebel wiederholt aufgestoBen. Ebel war als Enkel eines wegen religibser Irrlehre 
vom Amte entfemten Pastors, als Sohn eines Pfarrers, 1784 in Passenheim geboren. 
studierte trotz der vaterlichen Abmahnung wegen seiner allzu angstlichen Ge- 
wissenhaftigkeit Theologie, scheint sich aber, wie Schonherr, ebenfalls keine sehr 
griindlichen Kenntnisse angeeignet zu haben, konnte weder Griechisch noch He- 
braisch. In Konigsberg kntipfen sich die Beziehungen zu Schonherr. Ebel auBert 
sich dariiber selber: „Es war im achtzehnten Jahr meines Lebens, als ein Freund 
meines elterlichen Hauses einst erzahlte, er habe einen Mann kennen gelemt, 
dem es moglich geworden, die Ausspriiche der Bibel und ihren ganzen Inhalt 
wortlich mit Vemunftsbeweisen iiberzeugend in Einklang zu bringen und untiber- 
windlich gegen die Spotter zu verteidigen. Wie ein Licht vom Himmel herab 
leuchtete diese Botschaft mit unaussprechlicher Wonne in mein Herz, und eine 
namenlose Freude bemachtigte sich meines ganzen Wesens. Alle Fragen meines 
Innem schienen mir gelost, alle Dunkelheit schien hiermit verscheucht, und ich 
hatte in diesem Augenblick das Vorgefiihl der Erfiillung meiner tiefsten Sehnsucht. 
Von Kindheit auf in heiliger Ehrfucht gegen das Bibelbuch erwachsen. muBten 
namlich die Zweifel und Widerspruche dagegen, die damals sehr laut von Lehrern 
und Mitschulem in mein Ohr drangen, mein Herz hart beunruhigen und in banger 
Verlegenheit beklommen halten, wenn ich, denselben zu widerstehen versuchend. 
oft mit bitteren Tranen nach vergeblichem Kampfe mit den Gegenern in den Winkel 
meiner Dachkammer geschlichen war, mich vor Gott auszuklagen, weil ich das Wort 

11 * 


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Hugo Daffner: 


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156 

gottlicher Predigt nicht vor Verunglimpfung hatte retten, noch die Ausspriiehe des- 
selben gegeniiber den Ausstellungen der Verniinftler rechtfertigen konnen.“ Bei 
Gelegenheit des Einschreitens der Bchorden gegen Schonherr urteilt ein vorgc- 
setzter Superintendent iiber Ebel: ,.Bei seinem Streben nach Kenntnissen. bei 
seiner Gewissenhaftigkeit ist seine Einbildungskraft iiuBerst lebhaft und feurig. 
fiir welche er auch Nahrung sucht, wozu die Materialien desto mehr gefallen, je 
weniger sie den Gesetzen der Vernunft entsprechen. Mit dieser feurigen Einbil¬ 
dungskraft geriet er vor einigen Jahren an Schonherr, mit welchem er regellos nicht 
nur in dem Gebiete des Moglichen, sondern der Unvernunft. wohin er ohne zu 
merken gefiihrt wurde, herumschwarmt.“ 

Ebel war inzwischen Pfarrer in Hermsdorf geworden. fand aber bald wieder 
eine Stelle in Konigsberg und iibte dank seiner gewinnenden Umgangsformen und 
Personlichkeit eine ungewohnlich starke Anziehungskraft, namcntlich auf das 
weibliche Geschleeht, aus. Bald hatte sich eine Art Leibgarde urn Ebel gebildet. 
Die Kirchenbehorde sah den immer groller werdenden EinfluB der „unverstandigen 
mvstischen Ideen" mit Besorgnis und fordcrte 1812 von Ebel eine Erklarung iiber 
seine Religions void rage ein. Ebel antwortetc erst nach zwei Jahren und mehr- 
facher Mahnung. Der Antrag der Behorde beim Ministerium. Ebel in eine ent- 
fernte Provinz zu versetzen, wird, allerdings nachKanitz’Mitteilung 1 ) auf Schleier- 
machers Referat, abgelehnt. Dadurch gewann Ebels Stellung nach jeder Richtung 
hin. Die von ihm ausgehcnde Bewegung griff immer weiter um sich. Merkwiirdiger- 
weise nicht unter die Kreise des Ressentiments, sondern unter die durch die Ge- 
burt, Reichtum und Stellung ausgezeichncten Familien. Graf Kanitz wurde von 
nun an einer der treuesten Anhanger Ebels bis an sein Lebensende und von 
ihm bis zur Horigkcit abhangig. Eine andere Personlichkeit, die durch ungeziigel- 
ten Fanatismus, beschrankte Urteilslosigkeit, einseitige Ungerechtigkeit dasSelbst- 
bewuBtsein Ebels auBerordentlich starkte. war die Grafin Ida von Groeben. die 
ebenfalls Ebel bis zu seinem Lebensende treu zur Seite stand. 

Der Zwist und die Trennimg in dem Schonherrschen Konventikel konnten fiir 
Ebel nur von Vorteil sein. Er hatte sich allmahlich zum iiberragenden Mittelpunkt 
einer eigenen Gemeinde aufgeschwungen. Peraonen, so sagt er selber, teils durch 
friihere, teils durch spatere Verhaltnisse und Umstande nahegcstellt. schlossen 
sich einander freundschaftlich an. Der Sinn fiir Veredelung hatte sie zueinander 
gefiihrt, ,,das Trachten nach dem Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit uns 
geistlich verbunden“. Unter den Geistlichen der Stadt fand Ebel nur in dem 
Prediger der Haberbcrger Kirchc, Heinrich Diestel. einen Anhanger. der es 
aber in dem Kreise zukeiner tonangebendcn Stellung brachte. Bei den regelmiiBigen 
Zusammenkiinften unterhielt man sich hauptsfichlich iiber religiose Dinge. Der 
oder jener wurde ,,zu christlichem Leben erwcckt"; geheimnisvolle Andeutungen 
von dem Besitz einer noch hciheren besonderen AVcisheit fehlten in Ebels Reden 
nicht. In dem Kreise bildete sich allmahlich ein richtiges Unterordnungssystem 
heraus. Jeder Xeuling wurde an ein iilteres Mitglied gewiesen. dem er auch die 
geheimsten Fallen seines Herzens offnen sollte. JedeSiinde sollte zum Bekenntnis 
gebracht werden. Daraus entwickelte sich ganz von selbst eine ausgesprochene 
Machtstellung des Ubergeordneten. Fanny Lewald schildert in ihrer Selbst- 
biographie 2 ) ihren Religionslehrer Elx-1: „Er war ein ziemlich groBer, schlanker 
Mann mit einem sehr edlen, ernsten Gesicht. Seine groBen, dunklen Augen, seine 
bleiche Far be und sein gliinzendes schwarzes Haar, das er gescheitelt und langer 
als sonst iiblich trug, gaben ihm einen besonderen Ausdruck. Er hatte feine Hande. 

*) Die Akten dariiber sind nicht zu ermitteln. 

2 ) Meine Lebensgeschichte. 1871. 


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Zur Psychopat hologie der Konigsberger Mucker. 


157 


und wenn er diesc gcfaltet hatte und seine Augen zum Gebet erhob, sah er wirk- 
lich wie ein Apostel aus. Seine Stimme war ergreifend, sein Vortrag von groBer 
Kraft!“ Ein Arzt hat spater beim ProzeB bei Ebel nervbse Hvpochondrie und 
Hamorrhoidalleiden festgestellt. 

Auch die Anhanger Ebels zeichnet die Lew aid in ihrer plastischen. lebcns- 
vollen Art: „Jedermann kannte Ebel und kannte Diestel, der rauh und riistig aus- 
sah, w'ie ein verkleideter Husarenftihrer, und jedermann konnte einen Mucker 
oder eine Muckerin auf den ersten Blick von jedem anderen Manne oder jeder 
anderen Frau unterscheiden. Es waren nicht bloB die langstreckigen. altmodischen 
Rocke und Fracks und die schmalen, weiBen, kandidatenhaften Halstiicher der 
Manner, es war auch nicht das gescheitelte Haar und die geflissentliche Unschein- 
barkeit in der Kleidung der Frauen, es war eine ganz besondere, alien gemeinsatne 
Physiognomic und Haltung, welches sie kennzeichnete. Ihr Blick schien die Dinge 
dieser Welt, wenn diese ihnen nicht angehorten, gar nicht zu sehen; sie konnten sich 
in der Masse bewegen, als ware diese nicht vorhanden: sie konnten in einer nicht 
zu ihnen gehorenden Gesellschaft dasitzen. als horten sie nicht oder als vemahmen 
sie Himmelsstimmen, die fiir andere Ohren nicht vorhanden waren. Traf man 
eine solche Personlichkeit in einer fremden Umgebung. so wurde der Eindruck der- 
selben leicht komisch.“ 

Je enger sich der Kreis um Ebel zusammen- und gegen die Au Ben welt hoch- 
miitig abschloB, desto mehr wuchs einerseits die Yergot toning Ebels von seinen 
Anhangern, andererseits die Abneigung der iibrigen Geistlichen Konigsbergs und 
der HaB der Bevolkerung gegen ihn. Wie schon bei Schonherr blieben jetzt noch 
weniger tiefgreifende Familienzwiste aus. Allmahlich kam es auch in der Ebel- 
schen Sekte zu Verstimmungen und Streitigkeiten. Wiederum wird das Ministe- 
rium auf die Treibereien aufmerksam und laBt ein Schreiben an das Konigsberger 
Konsistorium ergehen, in dcm von dent „Wahn eines unmittelbaren Verhaltnisses 
zu Gott oder einer bevorzugten Erwahlung, cben damit aber sowohl von Unduld- 
samkeit, lieblosem Urteil und Splitterriehten, als geistliehcm Dilnkel. Stolz und 
Selbstgenugsamkeit sowie von separatistischen Abirrungen” ausdriicklich die 
Rede ist. Zahlreichc Abschwenkungen hatte daraufhin der Kreis um Ebel zu 
verzeichnen. U. a. scheidet der Gesandtschaftsprediger v. Tippelskirch aus, der 
sich dariiber spater iiuBert: ..Ebel wuBte mit dent bestiindigen Ankniipfen an 
seine Person die volligste Isolierung jedes einzelnen in seinem Verhaltnis zu den 
anderen Mitgliedern zu finden . . . Das Gewissen wurde auf eine furchtbare Weise 
geangstigt und gefoltert, indem gerade die Handlungen, zu welchen man sich 
durch dasselbe verpflichtet glaubte, von denen, in welchen man Gottes Stimme 
zu erkennen und zu ehren sich hatte gewohnen iniissen. als verbrecherisch dar- 
gestellt wurden ... Es ging tins mit iimner groBerer Klarheit iiber das verkehrte 
hierarchische Streben Ebels, tiber seine falsehen Heiligungstheorien durch ge- 
schlechtliche Reinigung ein immer helleres Licht auf.“ Es bildeten sich nunmehr 
neben dent Ebelschen zwei kleinere Konventikel, in denen es aber auch bald zu 
Reibereien zwischen den einzelnen Mitgliedern kam. Diese Streitigkeiten wurden 
auf literarisehem Gebietc fortgesetzt. Schriften und Gegenschriften folgten sich 
in lebhaftcm W'echsel. Auch Ebel griff zur Feder und verfaBte eine Schrift ..Die 
apostolische Predigt ist zeitgemaB“*)- Eine Stichprobe daraus: „Seitdein ist es 
anders geworden. Gott hat vom Himmcl geredct mit Zeichen und Wundern. 
die Menschheit hat seinen Arm empfunden. das Rauschen seiner FuBtritte gemerkt: 
mochte sie auch aufmerksam auf seine Stimme sein und aufsehauen nach sein«‘m 
Herzen . . . Noch ist es so weit nicht — leider! . . ." Der literarische Streit kommt 

*) Hamburg 1835. 


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Hugo Daffner: 


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mit dem Fortzug eines der Hauptkampfer zur Ruhe. Gleichwohl aber verecharft 
sich die Stimmung zwischen den einzelnen Mitgliedern des Ebelschen Konventikels 
zusehends. Bezeichnend hierfiir sind Stellen aus einem Schreiben des Grafen F., 
wo es u. a. heiBt: „Der alte bose Feind verleitete mit seiner alten Schlangenlist 
am Ende des vergangenen Jahrhunderts einen hochbegabten Mann, J. Schonherr, 
die ewigcn Wahrheiten des Glaubens in der Heiligen Schrift auf die auBere, zu 
schwache und zerbrechliche Stiitze des mathematisch-menschlichen Verstandes 
stiitzen zu wollen. Er kam deshalb auf die Einbildung, daB der ewige Gott eine 
im groBen leeren Raum herumschwebende Feuerkugel gewesen ware, die im Laufe 
der Zeiten eine ahnliche Wasserkugel gefunden hatte, in die sie hineingefahren 
sei und nun sei aus der Mischung ihrer beiden Krafte die Welt geschaffen . . . Mit 
dieser Einbildung beineisterte sich Schonherrs, auch seiner Schuler, zu deren vor- 
ziiglichsten Ebel gehorte, zugleich der hochmiitige Wahn, daB, weil sie eine solche 
Erkenntnis der Wahrheit, einen Schlussel, der in alle Wahrheit leitet, aufgefunden 
hatten, sie vor alien Menschen begnadet waren, an der Spitze der Menschheit 
standen, Trager des Lichtes waren, durch welche erst die iibrigen Menschen Licht 
erhieltcn . . . Aus der Schonherrschen Erkenntnis wurde ferner abgeleitet, daB 
die eigentliche Aufgabe fiir uns Christen hier ein Reich Gottes in irdischen Woll- 
liisten herbeizufiihren und dies nur dadurch geschehen konne, daB wir dem zweiten 
Urwesen zum BcwuBtsein und dadurch zu williger Unterwerfung unter das erste 
I’rwesen oder Gott verhclfen. Dies geschehe nun besonders durch sogenannte 
Reinigung des Verhiiltnisses der Geschlechter zueinander.“ In dem Brief ist weiter- 
hin u. a. von den intimen Beziehungen Ebels zu drei Frauen seines Kreises die 
Rede. Diestel erhalt Einblick in das Schreiben und antwortete in einem Brief 
voller Beleidigungen, worauf der Graf Klage stellt. In dem Vcrfahren verw'eigert 
u. a. Ebel die Aussage, weil es nicht rechtmaBig gegen ihn eroffnet sei. So kam 
es, daB die Behorde, in diesem Fall das Konsistorium, gegen Ebel und Diestel. 
der sich mit ihm identifizierte, das gerichtliche Verfahren einleitete. Wie schon 
erwahnt, war die Stimmung fiir die beiden Angeklagten in der Stadt nicht sehr 
giinstig. Man munkelte allerhand von groben, geschlechtlichen Ausschreitungen 
innerhalb des Konventikels; ja, es war so weit gekommen, daB Polizisten in die 
Kirche geschickt werden muBten, um Storungen beim Gottesdienste Diestels 
hintanzuhalten. Jedenfalls war nun die breiteste Offentlichkeit auf das Treiben 
des Ebelschen Kreises aufmerksam geworden. Die Presse griff die ganze Sache 
auf. In Zeitungen. Zeitschriften, Broschiiren, Abhandlungen bemachtigte man 
sich vor allem der pikanten Seite des Stoffes. Es war zu einem Skandal ersten 
Ranges gekommen. Die Aussagen in dem nun folgenden, mit aller Ausfiihrlich- 
keit verhandelten ProzeB bringen nicht viel, was wesentlich neu ware, erganzen 
in der Hauptsache die bisherigen Mitteilungen. 

So sagte der schon erwahnte Tippelskirch weiterhin aus: „Erst um die Pfingst- 
zeit des Jahres 1822 war es Ebel . . . gelungen, Pcrsonen derart zu begeistern, 
daB sie sich selbst und untereinander fiir E? week to, und zwar durch die Vermitt- 
lung Ebels Erweckte, ansahen und sich eines entschiedenen Gegensatzes mit ihrer 
bisherigen Art zu sein und zu denken, mit der iibrigen Menschheit bewuBt wur- 
den . . . Ich erinnere mich an Personen, die sich an Ebel ansehlossen . .. den sie 
als das Mittel ansahen, wodurch Gott ihre Seele zu sich zog . . . 

DaB Ebel sich jemals Haupt einer Sekte genannt, ist mir vollig unbekannt . .. 
dagegen hatte er schon nach dem Schonherrschen System die Hauptstellung im 
Kreise, sail sich faktisch als Reprasentant des Licht-Urwesens, als Quellpunkt 
des gottlichen Geistes fiir den Kreis und durch ihn fiir die Menschheit an. Noch 
niehr aber wurde diese theoretische Ansicht praktisch geltend gcmacht, indem das 
System unbedingter Unterordnung aller Glieder des Kreises unter Ebel ihn deni 


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Zur Psychopathologie der Konigsberger Mucker. 


159 


Wesen nach aufs klarste als das Haupt des ganzen Verbandes, als den bewuBtcn 
linker dieser Maschine . .. erkennen laBt . .. Dagegen habe ich ahnliche Aus- 
driicke als ,Zentralpunkt des Lichts 1 , Ebel bezeichnend, ofter gehort . . . Was die 
Adoration betrifft, so ist mir . . . nichts bekannt . . . wohl aber wurden ihm sehr 
haufig von alien Gliedem des Kreises die Hande gekiiBt; und iiberhaupt mochte 
ieh die Art und Weise der Verehrung, die man ihm bezeugte, dem Geiste nach. 
entschieden als eine abgottische bezeichnen.“ Auf Einwande bezuglich des Auf- 
gebens der eigenen Meinung erwiderte Ebel: „Wenn du noch nicht davon iiberzeugt 
bist. daB dir aus mir reines und unvermischtes gottliches Licht entgegentritt, 
so ist mit dir freilich weiter nicht zu reden. “ DaB aus diesen wie aus vielen ahn- 
lichen AuBerungen von ihm selbst und noch mehr von seinen nachsten Freunden 
die Annahme der Unfehlbarkeit konsequenterweise hervorgeht, leuchtet ein . . . 
Ebensowenig hat sich jemals Ebel schlechthin Heiligen Geist genannt, obwohl 
die Ansicht, daB Schonherr eine Personifikation des Heiligen Geistes und in ihm 
der verheiBene Paraklet erschienen sei und nachdem dieser durch Untreue aus 
.seiner Berufung entfallen, Ebel an seine Stelle getreten sei, dem Kreise nicht fremd 
war ... DaB Ebel von seiner geistigen Wirkung nicht nur auf freie bewuBte Wesen. 
.sondern auch auf die bewuBtlose Xatur vieles abhangig machte, habe ich ofter teils 
von ihm, teils im Kreise gehort .. . 

Davon, daB Ebel die Bewegung in der politischen Welt mit den Ereignissen 
des Kreises in genaue Verbindung setzte, sind mir mehrere Beispiele bekannt. 
Ieh erinnere mich, daB dies namentlich mit der griechischen und spanischen Re¬ 
volution und mit dem Tode des Kaisers Alexander der Fall war . . . DaB Ebel sich 
der apokalypti8chen Zeitrechnung Bengels, welche das Jahr 1836 als Anfangsjahr 
des tausendjahrigen Reiches Christi auf Erden festgestellt, angeschlossen habe 
und daB er dieses Jahr fur den spatesten Termin der Wiederkunft Christi gehalten 
habe, ist mir bekannt. Jedoch wurde es seinem ungeduldigen Geiste oft schon zu 
lange, die Erfiillung seiner Hoffnungen so weit hinauszuschieben, und durch aller- 
lei Kombinationen wuiBte er es anschaulich zu machen, wie die Freiheit des Menschen 
auch diese Wartezeit abkiirzen und den Anbruch des Reiches Gottes zu beschleu- 
nigen vermoge ... Er erwartete allerdings noch groBe Begebenheiten als Vorbe- 
reitungen fiir diese Zeit, wie z. B. die . . . Offenbarung des Antichrists ... So er¬ 
innere ich mich, daB er glaubte, daB die Tiirken noch einmal ganz Deutschland 
iiberechwemmen werden. Alle diese Vorstellungen standen ziemlich lose, er muBte 
sie immer wieder nach dem gegen wart igen Stand der Dinge modifizieren. 

Eine AusgieBung des Heiligen Geistes in reichem und vollem MaBe wurde 
allerdings durch Ebel und den bewuBteren Gliedem des Kreises erwartet; und es 
lag ganz im Kreise von Ebels Bestrebungen, uns dafiir gehorig vorzubereiten . . . 

In ihrer urwesentlichen Stellung gehorte Minna von D. sowie ihr Gatte und 
ihre beiden Freundinnen zu Zentralnaturen des Finstemis-Urwesens, wenn ich 
es recht verstanden habe . . . Von dem mit Kanitz, wie man meinte. in geschlecht- 
licher Reinheit erzeugten Kinde versprach man sich viel fiir das Reich Gottes. 
Leider gab man diese Ideen nicht auf, sondern wuBte sie nur nach den Umstanden 
zu modifizieren, als der Herr ein ernstes Wort dreinredete und wenigc Wochen 
hintereinander Mutter und Kind nahm . . . 

Wo aber jemand oft nur einen leisen und bescheidenen Tadel. besonders gegen 
Ebel aussprach, wurde er alsba'd als ,drauBenstehend‘, ,dem Reiche Gottes wider- 
strebend’ bezeichnet . . . Am hiirtesten war das Urteil iiber diejenigen. welche zum 
Kreise gehorten und sich von demselben lossagten. Sie wurden ausdrucklich als 
Abgefallene bezeichnet, und man wandte oft harte MaBregeln gegen dieselben an . . . 

Ein Mitglied, die Grafin, meinte einmal nach eincr Versammlung: ,Sie korme 
den Gedanken nicht loswerden, sie sei der Antichrist, der kommen solle! 1 


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160 Hugo Daffner: 

Auf die Frage, ob die Luge als erlaubt gelehrt . . . worden. erwidere ich, daB 
ich mir bewuBt bin, haufig Eindriicke mehr oder minder direkter Unwahrheit 
in Ebels Betragen und AuBerungen gehabt zu haben.' 4 

Ein weiterer Zeuge, der Universitatsrichter von Derschau sagte aus: ..Ich 
erkannte, dali in dem Kreise ein Geisteszwang stattfand, acharfer, wie er im Papst- 
tum geherrscht hat. Man durfte nach meiner Auffassung keine Gedanken hegen, 
geschweige denn etwas tun oder lassen. ohne dies seinem nachstgestellten Freund© 
mitzuteilen, es horte in dem Kreise jede Selbstandigkeit auf.“ — 

Die Anschuldigungen auf sexuellem Gebiet bedeuten einen Abschnitt fiir 
sieh. Es ist festgestellt, dali Ebel eine Betatigung der geschleehtlichen Lust und 
deren Regelung unter der Herrschaft des BewuBtseins anstrebte. Den Eheleuten 
hat Ebel eine Stufenleiter im ehelichen Umgang empfohlen. Sie sollten sieh all- 
mahlich nahern. erst Anblick. dann Betastung usw. und dabei in jedem Augenblick 
sieh priifen, ob das BcwuBtsein auch Herr liber die tierisehen Triebe sei . . . 
,,Denen. die naeh Heiligung traehten, wurde angeraten. zuerst viel Enthaltsam- 
keit mit Fasten zu iil)en. alsdann sieh nach und nach mit Selbstbeherrschung an 
den Anblick nackter Korperteile zu gewohnen . . Ebel gibt selber zu, das Be- 
schauen einzelner Teile des enthiillten Korpers habe er fiir ein Mittel gehalten. den 
Sinnenrausch zu d&mpfen. Weiterhin ergibt sieh aus denAkten, daB weitschweifige 
Erorterungen sexueller Angelegenheitcn in diesem Kreise zur Tagesordnung ge- 
horten. ..Marie C., so erzahlte Ebel nach der Aussage eines Zeugen. sei in einen 
verwirrten, wahnsinnahnlichen Zustand geraten. weil Ebel ihr einen Anblick 
gestattet hatte, um sie zum vollen BewuBtscin der Unschuld und Reinheit zu 
fiihren ... So viel muB ich versichern, daB ich den Sinn seiner Rede ohne minde- 
sten Zweifel an ihrer Verstandlichkeit so auffaBte, daB er ihr seine Geschleehts- 
teile gezeigt habe. Sie habe, so fuhr Ebel fort, in diesem verwirrten Zustand 
Dinge ausgesagt. aus denen sieh ergeben habe, daB sie mit H. Unzucht getrieben 
und auch mit mehreren von uns in einem unreinen Verhaltnis gestanden habe.“ 

Ein dreizehnjahriges Made hen sagte weiterhin aus: „Ganz auBerordentlich 
widerlich war es mir und meiner elfjahrigen Schwester Marie, daB damals von der- 
selben verlangt wurde. sie soil sieh in Gegenwart des Lehrers Ebel (des jiingeren 
Bruders des Angeklagten) des Abends entkleiden und schlafen gehen." — 

Das Gutachten des Magdeburger Konsistoriums liber Ebels Religionslehren 
wollte der Untersuchungsrichter mit Ebel eingehend durchsprechen. Ebel er- 
kliirte aber. eine inquisitorische Vemehmung abzulehnen und schlieBt mit den 
Worten: ..So lange ein Gott im Himmel lebt, so lange zivilisierte und preuBische 
Rechtspflege waltet, so lange die Augen Friedrich Wilhelms III. offenstehen, wird 
es als eine Gewalttat erseheinen, liber philosophische Privatiiberzeugung inquiriert 
zu werden. Bei aller Hochaehtung vor dem Inquirenten mtisse er ihn doch durchaus 
fiir unfiihig halten. liber wisscnschaftlich theologische Gegenstande zu verhandeln. " 
Auch das Konigsberger Gericht war von dem Angeklagten als befangen abgelehnt 
worden, weshalb auf Befehl des Konigs ein Kriminalsenat des Berliner Kaminer- 
gerichtes das Urteil, das bei den Akten fehlt, sprach. Es verkiindet, nach einer 
Abschrift, daB beide angeschuldigte Geistliche wegen vorsatzlieher Pflichtverletzung 
ihrer Amter zu entsetzen und zu alien offentlichen Amtern fiir unfahig zu erkliiren 
sind.unddaBauBerdem Diak. Ebel wegen Sektenstiftung in eine offentliche Anstalt zu 
bringen und nicht eher aus derselben zu entlassen sei, bis man von seiner Besserung 
iiberzeugt sein konnte. Der intimste Anhiinger Ebels. Graf Kanitz. schreibt dazu: 
„Der Ausfall der Erkenntnis erster Tnstanz hatte von neuern die historische Er- 
fahrung bestfitigt, daB bei Christenverfolgungen von irdischen Autoritaten Gerech- 
tigkeit selten geiibt zu werden pflegt. Obgleich Ebel unter diesen Umstanden 
lieber in die Hand des Herrn fallen, als sieh noeh einmal in die Hiinde der Menschen 


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Zur Psychopathologie der Konigsberger Mucker. 


161 


begeben wollte, so durfte er docli eben, weil es nicht seine, sondern Gottes Sache 
war, die er vertrat, die in den Verhaltnissen liegenden Mittel, der YVahrheit wo- 
moglich zum Durehbruch zu verhelfen, nicht unbenutzt lassen. DemgemaB wurde, 
da Diestel seine Ansicht tcilte, das Rechtsmittel der weiteren Verteidigung ange- 
wendet . . 

Aber auch die zweite Instanz. der Oberappellationsscnat des Kammergerichts, 
verurteilte die beiden Angeschuldigten zu Amtsentsetzung. DaB damit die Sache 
nicht aus der Welt geschafft war, zeigten die eingangs erwahnten Schriften, die 
sich, da die Akten sogleich versiegelt wurden, in ihrer Darstellung der einzclnen 
Vorgange vielfach an boswilligen Klatsch anlehntcn. 

Ebel ging nach seiner Verurteilung nach Ludwigsburg, begleitet von seinen 
Getreuesten, der Griifin Ida von Groeben. der Marie C., dcnen sich dann spater 
noch der Graf Kanitz zugesellte, so daB sich auch dort wieder ein kleiner Kreis 
um Ebel scharte. Hier starb cr 1861, nachdem er noch cin paar Schriften verfaBt 
hatte, die ein paar willkiirlich herausgcgriffcne Stichproben kurz charkterisieren 
mogen: 

„Wenn daher ,der Mensch Josua' nach dem Geiste der Weissagung ,der Sonne 
stille zu stehen befahl', so hat er weder gelogen, noch mit Phantasie gegaukelt. 
sondern die Wahrheit bezeuget: daB die Sonne von der Stimme eines Mannes in 
ihrem Laufe aufgehalten. vorher nicht stille gestanden 1 ). — Stellt es sich nun 
biblisch deutlich genug heraus, daB die Gestirnwelt als die hohere Geisterwelt an- 
zusehen ist. wie denn Sterne in der Schrift fur selbstandige Wescn gelten (Dan. 4. 
.‘12, Hiob25,5), und werdcnHiob 15,15, nach dem Parallelismus 38, 7,Engel Gottes 
und Morgensterne als gleich betrachtet; so sind die vermeintlich wiasenschaftLichen 
Annahmen vor dem Urteil wahrer Verchrer der Heiligen Schrift und vor den Ver- 
ehrern wahrer Wissenschaft unhalt bar und gerichtet 2 ). — Indem die Eindriicke 
und Wirkungen der unsichtbarcn Welt uns von AuBen — durch die sinnliche An- 
schauung — mittelst reflektierender Urteile des Verstandes (des geistigcn 
Auges) oder von Innen durch Erfahrung mittels der Vernunft (des geistigen 
Ohres) zum BewuBtsein gefiihrt werden und wir die Verhaltnisse des Ubersinnlichen 
teils aus dem Zeugnis einer inneren Stimme (1. .Toh. 5, 6) vernehmen, teils aus 
den VVerken ersehen (Rom. 1, 19—20): ist es dasselbe Licht einer hoheren Welt- 
ordnung, welches durch den Glauben unser Auge erhellet und als Wort unsercm 
inneren Ohre zuspricht 3 )." 

Schon dieser kurze, mit Riicksicht auf unsere besonderen Zwecke 
gefertigte Auszug zeigt, daB wir bei den Konigsberger Muckern den voll 
ausgebildeten Typus einer Sektenbildung mit allem, was dazu gehort. 
vorfinden. Wir konnen in den Hauptern der Sekte und manchen Mit- 
gliedern auBer einer religiosen Disposition von Haus aus einen 
krankhaften Gesarntzustand als Voraussetzung fiir die Entste- 
hung und Festsetzung der einzelnen Ideen feststellen. Wir haben diese 
Wah nideen mit den fiir ihre religiose Abart besonders bezeichnenden 
Komponenten voll ausgepragt; wir konnen die Vorgeschichte dieser 
Wahnideen, ihre enge Beziehung zum Ichkomplex, ihren primitiven 
t'harakter, ihre starke Affektbetonung sowie vielfach die geistige Schwa- 

1 ) Die Philosophie der heiligen Urkunde des Christentums. Stuttgart 1854—55 
S. 76. 

*) S. 77. 

3) S. 19. 


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Hugo Daffner: 


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che ihrer fuhrenden Trager unschwer feststellen. Das Sektenwescn 
tritt uns in dieser Bewegung ebenfalls in ganzer Ausbildung entgegen, 
und zwar nicht nur in einem, sondern in mehreren Fallen. Den Tat- 
sachen der psychischen Infektion begegnen wir auf Schritt und 
Tritt. Selbst der bei intensiven und ausgebreiteten religiosen Wahn- 
ideen fast stets anwesende starke sexuelle Einschlag fehlt nicht. 
So konnen wir die Sekte der Konigsberger Mucker mit gutem Recht 
als ein Schulbeispiel, als einen richtigen Typus ihrer Art ansprechen. 

Die religiose Disposition, vor allem der Fiihrer, tritt uns schon 
in den Berichten iiber Schonherrs und Ebels Jugend entgegen. Schon- 
herr erzahlt selber, dad er als Schuler sich mit der gottlichen Offenbarung 
abzufinden gesucht habe; Ebel wendet sich trotz der vaterlichen Ab- 
mahnung zum theologischen Studium. Ungemein bezeichnend fiir Schon- 
herr und dessen paranoischen geistigen Zustand ist auch seine iiber- 
stiirzte Betatigung als Erfinder, nachdem ihm die Moglichkeit religioser 
Wirksamkeit genommen war. Den Bericht eines seiner letzten Freunde 
iiber die Zeit vor seinem Lebensende konnte man unmittelbar als Illu¬ 
stration fiir den Erfinderwahn in ein psychiatrisches Lehrbuch heriiber- 
nehmen. 

Schon Meyer 1 ) hat auf die Schwierigkeit der Abgrenzung religioser 
Wahnideen vom allgemeinen Glaubensinhalt hingewiesen, da die so- 
genannten Glaubenswahrheiten sich auch nicht beweisen lassen und 
eben geglaubt werden miissen. Meyer betont daher mit gutem Recht, 
daB in crster Linie bei der Beurteilung, ob religiose Wahnideen vorliegen, 
der geistige Gesamtzustand von ausschlaggebender Bedeutung sei. Viel- 
leicht darf man erganzend hinzufiigen, dad auderdem auch die Art 
der Abstrusitat religioser Ideen, wenn sie sich in schreienden Wider- 
spruch zu den allgemein giiltigen Ansichten der auch geistig nicht be- 
sonders gebildeten Umgebung stellt, bei der Festsetzung dieser Grenze 
mit in die Wagschale fallen konnte. Wenn hcute jemand behauptet, 
dad das Wort ernes Menschen die Sonne in ihrem Lauf aufha.lt, die Ge- 
stirne als hohere Geisterwelt, sich selber alsdenZentralpunktdesLichtes 
auffadt, so diirfte man schon daraus, selbst ohne Riicksicht auf den 
psychischen Gesamtzustand, auf eine paranoische krankhafte Gesamt- 
verfassung schlieden. Es ist aber im vorliegenden Fall gar nicht not- 
wendig, die Diagnose nur auf einige Punkte zu stiitzen. Die fiir reli¬ 
giose Wahnideen typischen Einzelheiten finden sich in der ganzen Be¬ 
wegung in voller Ausbildung. 

Da haben wir die iibliche Vorgeschichte, bei der sich in Schon- 
herr eine Offenbarung infolge hoherer gottlicher Fiigung einstellt, wah- 
rend aus Ebel ebenfalls schon friih die Erleuchtung durch denGeist spricht. 

1 ) Religiose Wahnideen. Arch. f. Religionswiss. Bd. XVI, H. 1. 1913. 


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Zur Psychopathologie der Konigsberger Mucker. 


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Zahlreich finden sich Stellen, in denen das eigene Ich unterden 
Sektierern eine groBe Rolle spielt. Die Grtinder stehen in Selbstherr- 
liehkeit iiber den anderen Mitgliedern, die alteren Mitglieder sehen auf 
die jiingeren herab, die ganze Sekte diinkt sich hoch iiber ihre Umwelt 
erhaben. Bei Schonherr wie bei Ebel wird das auBerordentlich ge- 
steigerte SelbstbewuBtsein, ein hochmiitiger Wahn, als Trager des Lichts 
an der Spitze der Menschheit zu stehen usw., mehrfach hervorgehoben. 
Schonherr wird als Personifikation des Heiligen Geistes angesehen. Aus 
Ebel spricht reines und unvermischtes gottliches Licht, jene Gottahn- 
lichkeit, von der auch Peretti 1 ) bei seinem Kranken berichtet. Schon¬ 
herr braucht fiir sich keine BuBe oder Besserung, er ist unfehlbar. Sein 
System ist fiir Ebel iiber jeden Zweifel erhaben. Von Ebel selber wird 
ausdriicklich berichtet, daB das bestandige Ankniipfen an seine eigene 
Person geradezu das Verhaltnis der Mitglieder des ganzen Kreises be- 
stimmte. Daraus ergab sich das bekannte Unterordnungssystem mit 
der abgottischen Verehrung und dem allgemeinen HandkuB. Die haupt- 
sachlichste Geliebte Ebels wird als Lichtnatur angesehen. Auch der ge- 
ringste Tadel an Ebel fordert dessen scharfstes Anathema heraus. 

Nachst dem starken Betonen der Ichkomplexe fallt in dem Kreise 
vor allem die von Meyer mit Recht so nachdriickhch hervorgehobene 
Primitivitat der religiosen Wahnideen auf, die durchaus nicht 
dem Geist der Zeit entsprungen sind, sondern vielmehr merkwiirdige 
Parallelen mit der Eigenart des friihesten Christentums zeigen. Schon 
die auBere Erscheinung von Schonherr und Ebel erinnert an die Bilder, 
die man sich von Aposteln, Wanderpredigern usw. macht. Langes, 
wallendes Haupt- und Barthaar gibt der Erscheinung Schonherrs etwas 
Auffallendes. Bei Ebel wird ausdriicklich von seiner Neigung zur 
Kopftracht des Heilands, von seinem Aussehen und Auftreten wie ein 
Apostel berichtet. Schonherr hat keinen Beruf, lebt von milden Gaben 
seiner Freunde. Ein offizieller Beitrag wird in seinem Kreise nicht er- 
hoben. Bei den Versammlungen in seinem Hause wird Milch und Semmel 
gereicht. Auch die theologischen und philosophischen Gedanken- 
kreise bewegen sich auf der Ebene einer primitiven Denkungsart. Die 
Feuerkugel und Wasserkugel, Wasser als Stoff der Korper, Licht als 
der des Geistes, sind solchen einfaltigen Vorstellungskreisen entnommen. 
Das Trachten nach dem Reich Gottes, die Hoffnung auf den baldigst 
kommenden neuen Messias gehoren ebenfalls in diese christlichen Vor- 
steHungskreise, wie auch die so gern geiibte Berufung auf den Heiligen 
Geist und dessen erwartete AusgieBung. In Ebel wird Gottes Stimme 
erkannt; er selber schreibt, daB Gott mit Zeichen und Wundern vom 

*) „Von der Cbertragung religios-iiberspannter und theosophischer Ideen“ 
und von einer Gruppe „wahrer Menschen“. Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 74, 
H. 1, 1918. 


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Hugo Daffner: 


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Himmel geredet, die Menschheit seinen Arm empfunden, das Rauschen 
seiner FuBtritte gemerkt habe. Zahlreiche Mitglieder des Kreises sehen 
in Ebel das Mittel, wodurch „Gott ihre Seele zu sich zog‘\ Auch die 
Dreizahl der weiblichen Naturen um Ebel kann mit diesen primitiven 
Vorstellungskreisen in Verbindung gebracht werden, wie auch die Idee 
der einen, daB sie der Antichrist sei. Ebenfalls aus der Gedankenwelt 
des Urchristentums geboren sind die AuBerungen Kanitz' von Christen- 
verfolgungen bei der ersten Verurteilung Ebels, wie auch die Bedrohung 
mit gottlichen Strafgerichten, die wir z. B. bei Schonherr des ofteren 
finden. 

Das Sektenwesen finden wir in der ganzen Bewegung mehrfach 
bis ins kleinste ausgebildet. Schon um Schonherr als Mittelpunkt 
schart sich gleich zu Anfang ein kleiner Zirkel, dem er seine Ideen vor- 
tragt. Ebel weiB spitterhin die durch Geburt und Stellung fiihrenden 
Kreise um sich zu sammeln. Die Mitglieder fangen allmahlich an. sich 
auf besondere Weise zu tragen, sich von der Umgebung, die nicht mit 
ihnen geht, hochmiitig abzusondern; der gegenseitige AnschluB wire! 
immer enger; sie betrachten sich selbst untereinander als Erweckte, 
Auserwahlte. Die Vergotterung Ebels macht dabei weitere Fort- 
schritte, wie auch der Geisteszwang auf die einzelnen Mitglieder und die 
Unduldsamkeit gegen Andersdenkende. Als es innerhalb des Ebelschen 
Kreises zu Verstimmungen kommt, treten mehrere Mitglieder aus und 
bilden wieder neue Konventikel. Und wie die ganze Bewegung bei 
Schonherr mit einer kleinenSektebegann, so lauft sie auch in eine kleine 
Sekte aus, die Ebel in sein Exil folgte und bei ihm dort treu bis ana 
Ende ausharrte. 

Von einer Bedrohung durch Schonherr war eben schon die Rede. 
Der Widerstand gegen die Staatsgewait, der bei solchen Sekten- 
bildungen hiiufig nachzuweisen ist, fehlt auch hier nicht. Schon bei 
den ersten Zwisten mit seiner Behorde bringt Ebel die geforderte Er- 
klarung erst nach zwei Jahren und nach mehrfachem Mahnen bei. 
Beim BeleidigungsprozeB gegen Diestel verweigert Ebel die Aussage, 
was nachher die Eroffnung des gerichtlichen Verfahrens gegen ihn 
selber zur Folge hatte. Eine Vernehmung durch den Untersuchungs- 
richter lehnt Ebel hochmiitig ab, wie auch das Konigsberger Gericht 
zu seiner Urteilssprechung. 

Den Tatsachen der psychischen Infektion begegnen wir im gan¬ 
zen Kreise auf Schritt und Tritt. Sie beginnt bei Schonherr und endet 
bei den Ietzten Anhangern Ebels, am handgreiflichsten bei Kanitz, 
von dem ausdriicklich versichert wird, daB er zeitlebens von Ebel 
vollig abhangig war, ja geradezu in einem Verhaltnis von Hbrigkeit 
gestanden haben muB. 

Der starke sexuelle Einschlag, dem wir in solchen Konventikeln 


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Zur Psycho pat hologie der Konigsberger Mucker. 


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fast regelmaBig begegnen, kann uns nach den Ausfiihningen von Freud 
und von anderen, wie Sehn, Schroder, Peretti u. a., nicht iiber- 
raschen. In den besprochenen Zusararaenkiinften klang von Anfang 
an ein leiser erotischer Unterton mit. Der Erorterung sexueller Fragen 
wurde bald ein breiter Raum gegonnt. Schon in dem Schonherrschen 
Konventikel duzen sich Mannlein und Fraulein und nennen sich beim 
Vornamen. Eine besondere Rolle scheinen in dem Kreise die sogenann- 
ten Seraphinenkiisse gespielt zu haben, die dann auch vom Klatsch mit 
Wohlbehagen aufgegriffen wurden. Es handelte sich dabei um Kiisse, 
bei denen sich die Zungenspitzen beriihrten. t)bcr Ebels enge Bezie- 
hungen zu den drei auserwahlten Frauen, von denen eine seine Gattin 
war, ist eigentlich nur als merkwiirdig zu erwahnen, daB die drei Frauen 
mit dieser eigentiimlichen Gestaltung der Verhaltnisse einverstanden 
waren und mit froher Miene mitspielten. Zu den geschlechtlichen Rei- 
nigungen und Ubungen als Heilungstheorien gesellte sich die Stufen- 
leiter im sexuellen Verkehr, iiber den sogar merkwiirdigerweise unver- 
heiratete altere Mitglieder verheirateten jiingeren Ratschlage erteilten. 
Von sexuellen Anomalien, wenn man schon die iiberreiche Beschafti- 
gung mit geschlechtlichen Angelegenheiten nicht dazu rechnen will, ist 
zunachst die Erscheinung einer Frau in Mannerkleidung im Schonherr¬ 
schen Konventikel zu erwahnen; dann die beabsichtigte, aber nicht aus- 
gefiihrte GeiBelung als sadistisch-masochistischer Einschlag in dem 
Nchonherr-Ebelschen Kreise; weiterhin vor allem die Reinigungs- und 
Heiligungstheorie Ebels, die in einem Exhibitionismus bestand. Der 
Anblick der enthiillten Geschlechtsteile sollte mit Selbstbeherrschung 
ertragen werden. Es steht fest, daB Ebel selber vor einem weiblichen 
.Mitglied des Kreises exhibitioniert hat; es steht fest, daB ein kleines 
Madchen gezwungen wurde, sich in Gegenwart fremder Manner zu ent- 
kleiden. Man hat in solchen Vorfallen teils einen Auftakt zu sexueller 
Betatigung, teils einen Ersatz hierfiir, also eigentlichen Exhibitionis¬ 
mus, zu sehen. Eine merkwiirdige Parallele gibt hierzu Peretti 1 ), bei 
dessen Kranken auch das Kiissen sowie das Nacktgehen als Totalexhi- 
bitionismus eine nicht unwesentliche Rolle spielte. — 

So haben wir in dem Kreise der Konigsberger Mucker eine, wie schon 
erwahnt, typische Erscheinung religioser Sektenbildung, die, 
von zwei Paranoikern ausgehend, auf psychische Schwachlinge, hyste- 
risch veranlagtc und andere Psychopathen eine starke psychische In- 
fektion ausiibte und sie im Lauf eines Menschenalters in Konflikt mit 
Staat und Gesellschaft brachte. Das Urteil der Gcrichte kann man da- 
her nur als gerecht bezeichnen. Bot der damalige Stand der Psychiatrie 
kcine Moglichkeit, den Hebei anzusetzen, so war es Aufgabe der ordent- 


!) a. a. 0. 


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166 Hugo Daffner: Zur Psychopathologie der Konigsberger Mucker. 


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lichen Gerichte, die Mitbiirger vor solchem krankmachenden EinfluB 
und seinen Folgen zu schutzen. Freilich gehorte eben, um dieser schwe- 
ren psychischen Infektion ganzlich zu verfallen, neben einer religidsen 
Disposition vor allem eine ausgesprochene degenerative Anlage im 
Seelenleben des Einzelnen dazu. DaB es jedoch auch danials genug klare 
Kopfe gab, die imstande waren, sich ein richtiges Urteil uber die Ebel- 
schen Umtriebe zu bilden, mogen zum SchluB drei kurze Zitate aus den 
Akten belegen. 

Der untersuchende Kriminalrat Richter sagt in einem Bericht an 
seine Behorde iiber sich selber: „Alles, was ich . . . gesagt habe, ist, 
daB Ebels Personlichkeit wohl geeignet gewesen ware, mein gesundes 
Urteil gefangen zu nehmen, in verba magistri zu schworen und statt 
eines klaren, niichternen Christentums Satzungen zu adoptieren, die 
dem Pietismus und Mystizismus aus dem V. Jahrhundert ihren Ursprung 
verdanken.“ 

Der bekannte Philosoph Rosenkranz sagte in seinem Gutachten u. a .: 
,,Wahrend also die Ebelsche Lehre sich fur das Maximum von Erkennt- 
nis und sitthcher Reinheit halt, ist sie in Wahrheit, wenn man ihre 
Fundamente und Konsequenzen beleuchtet, ein Verrucken der Intelli- 
genz, ein Entziinden der Phantasie zur Wollust, ein Zerstoren der 
Moralitat durch parteiischen geistigen Hochmut.“ 

Der Physiker Neumann auBert sich: „Eine sehr maBige Phantasie 
treibt ihr wenig scharfsinniges Spiel mit einer ziemlichen Anzahl halb- 
erlernter Tatsachen . . . Wo sich diese Vorlesungen Eingang verschaffen, 
muB eine groBe Beschranktheit stattfinden, und dies konnte wohl 
schaden.“ 

DaB die ganze Bewegung wirklich allerhand Schaden gestiftet hat, 
ergeben die Akten. Abgesehen von mehreren Beleidigungsklagen, von 
notwendigen Eingriffen des Vormundschaftsgerichtes in Erziehungs- 
angelegenheiten war in den vorhergehenden Ausfiihrungen schon wieder- 
holt auf die vielfachen schweren Familienzwiste hinzuweisen, die sich 
aus der Anhangerschaft zu dem Ebelschen Kreise ergeben und in einem 
Fall selbst zu einer Ehescheidung gefiihrt haben. 


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(Ans der Psychiatrischen und Nervenklinik Kiel 
[Direktor: Geheimrat Prof. Dr. Siemerling].) 

Beobaclitungeii beim akinetiseh-hypertonischen Symptoinen- 

komplex. L 1 ) 

Von 

Prof. Dr. W. Runge, 

Oberarzt der Klinik. 

Mit 3 Textabbildungen. 

(Eingegangen am 8. September.) 

In den letzten Jahren hatte ich Gelegenheit, an der hiesigen Klinik 
25 Falle von akinetisch-hypertonischem Symptomenkomplex 2 ) zu beob- 
achten. Bei 23 dieser Falle handelte es sich urn ein symptoms tisches 
Auftreten dieses Syndroms, namlich um Folgezustande der Encepha¬ 
litis epidemica, in 2 Fallen blieb es zweifelhaft, ob eben dieses sympto- 
matische Krankheitsbild oder eine Krankheit sui generis (Paralysis 
agitans sine agitatione) vorlag. 

Es soli hier nicht naher auf die nach vielen Richtungen hin interes- 
-ante Genese dieser Falle eingegangen und auch die Symptomatologie 
nur mit einer gewissen Einschrankung erortert werden, zumal sie ja 
neuerdings mehrfach in den Arbeiten und Referaten von Stertz, 
Bostrom, Jakob, Foerster u. a. eine eingehende Besprechung 
und Darstellung erfahren haben, mit denen sich meine Beobachtungen 
in vieler Hinsicht decken. Dagegen sollen einige neue FeststeUungen 
einer etwas eingehenderen Erorterung unterzogen werden. — Die in 
jenen Arbeiten erw&hnten 

Hauptsymptome 

desSyndroms waren auch in meinenFallen durchweg vorhanden. Letztere 

!) Zum Teil nach einem Vortrag auf d. 18. Jahresvers. norddtsch. Psychiater 
u. Neurologen zu Bremen am 5. XI. 21. 

2 ) Diese von Stertz eingefiihrte Bezeichnung charakterisiert das Krank¬ 
heitsbild wohl am besten, ist aber insofem nicht ganz sachgemaB, als es sich bei 
der Rigiditat dieser Falle nicht um eine reine Tonussteigerung, sondern auch um 
„tetanische“ Vorgange handelt. Besser ware daher die Bezeichnung „akinetisch- 
rigides Syndrom", die aber wegen ihrer sprachlichen Unschdnheit vermieden 
wurde, wie auch der von den Franzosen vielfach verwandte Ausdruck „Parkin- 
sonismus". In Ermangelung von etwas Besserem wurde daher die Stertzsche 
Xomenklatur beibehalten. 


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W. Runge: 


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unterscheiden sich untereinander durch die mehr oder minder starke Aus- 
pragung, durch die verschiedene Ausbreitung dieser Symptome, vor allem 
derRigiditat derSkelettmuskulatur. Diese schien selbst gewissen quali- 
tativen, nicht nur durch die verschieden starke Intensitat bedingten 
Variationen unterworfen zu sein. Sie stellte sich zuweilen, aber durch- 
aus nicht immer, als wachserner Widerstand bei passiven Bewegungen 
dar, wie vielfach sonst erwahnt, lie6 aber ihren wachsernen Charakter 
in vielen Fallen deshalb vermissen, weil bei passiver Dehnung der Mus- 
keln ein ruckweises, zitterndes Nachlassen der Spannung zu bemerken 
war. Dieser bei der Dehnung auftretende Klonus wird auch von 
Foerster erwahnt, der seine Geringfiigigkeit als differentialdiagno- 
stisch wichtig gegeniiber den Pyramidenspasmen hervorhebt. Hierauf, 
wie auf die sonstigen Unterschiede der Rigiditat gegeniiber den Pvra- 
rnidenspasmen, sei hier nicht weiter eingegangen. Meine Beobachtungen 
decken sich im allgemeinen mit denen der iibrigen Autoren. Nur waren 
die Rigiditat und der Dehnungswiderstand in nieinen Fallen nicht in 
alien Muskeln gleichmaBig und in gleichem Grade vorhanden, wie 
Foerster beobachtete, sondern oft in der Beugemuskulatur der Beine 
und Arme starker, als in der Streckmuskulatur. —Die proximalen Ex- 
tremitatenenden waren von der Rigiditat starker getroffen, als die 
distalen (Stertz), jedoch lieB sich oft feststellen, daB die Rigiditat bei 
passiven Bewegungen im Knie- und Ellenbogengelenk starker war, 
als bei Bewegungen im Hiift- und Schultergelenk. — Die Rigiditat 
zeigte cine durchaus verschiedene Verteilung: Fast die gesamte 
Willkurmuskulatur war in 9 Fallen befallen, jedoch war die Rigiditat 
in einigen Fallen in der einen Korperhalfte starker, als in der andern 
entwickelt. In 4 Fallen war ausschlieBlich die Hals- und Armmuskula- 
tur, in einem Fall nur die Muskulatur des einen Arms, in einem andern 
die des Nackens, des einen Arms und beider Beine, in 2 Fallen die der 
einen Korperhalfte, in einem Fall nur die der Beine und in einem Fall 
schlieBlich die des einen Beins befallen, dabei waren die sonstigen Sym¬ 
ptome mehrfach auch in den andern Korperabschnitten ohne nachweis- 
bar rigide Muskulatur ausgesprochen. Eine derartige Verteilung der 
Rigiditat spricht sehr fur die somatotopische Gliederung des striaren 
Systems, wie sie von Mingazzini, Vogt, Foerster, Jakob be- 
schrieben wird. In einem Fall fehlte iiberhaupt jede objektiv nachweis- 
bare Rigiditat, trotzdem zahlreiche andere Symptome des akinetisch- 
hypertonischen Syndroms vorhanden waren, insbesondere eine allge- 
meine Haltungsstarre. Hinzugefugt muB noch werden, daB die bei 
diesen Fallen immer wieder beschriebene maskenartige Starre 
des Gesichts — und zwar in verschieden starker Auspragung — in 
alien bis auf 3 Fallen vorhanden war, in denen sie hauptsachlich wohl 
infolge der abortiven Entwicklung des Gesamtkrankheitsbildes fehlte. 


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Beobachtungen beim akinetisch-hypertonischen Symptomenkomplex. 169 

Sie cliirfte iiberwiegend durch einen reinon Ausfall an Bewegungen, 
weniger durch die Rigiditat bedingt sein. Die vielfach beschriebene 
Nachdauer einer Kontraktion der Gesichtsmuskeln (Lachcn, Stirn- 
runzeln u. a.) zeigte sich oft. 

Die Falle mit Rigiditat der gesamten Korpermuskulatur glichen 
am meisten der Paralysis agitans sine agitatione, wahrend jene mit 
geringer, beschrankter oder ohne naehweisbare Rigiditat und nicht 
selten aufrechter gerader Kbrperhaltung eher stuporosen Katatonikern 
iihnelten, so daB sich sogar vereinzelt differentialdiagnostische Sehwierig- 
keiten in dieser Hinsicht ergaben. Am meisten \vurde der Eindruck 
<les katatonischen Stupors durch die oft hochgradige Bewegungs- 
arraut erweckt. Diese war der Starke der Rigiditat durchaus nicht 
immer proportional, sondern auch in Fallen mit geringer oder ohne 
Rigiditat sehr ausgesproehen. In 8 von 9 Fallen mit allgemeiner Rigi¬ 
ditat war sie allerdings ebenfalls recht ausgepragt, wahrend sie im 9. 
mehr voriibergehend in Erscheinung trat, spater einer motorischen 
Unruhe Platz machte, in der die betreffendeKranke zeitweilig viel herum- 
lief (was iibrigens spater noch ein weiterer Fall zeigte). In 3 abortiven 
Fallen, mit zum Teil nur halbseitiger Rigiditat bzw. Tremor, fehlte die 
Bewegungsarmut, aber hauptsachlich wohl deshalb, weil alleSymptome 
nur gering oder gar nicht entwickelt waren, und es sich eben um abor¬ 
tive Falle handelte, nicht etwa wegen des Fehlens der Rigiditat. Das 
zeigten besonders 6 weitere Falle, in denen die Una bhiingigkeit der 
Bewegungsarmut von der Rigiditat deutlich zutage trat. 
In einem dieser Falle, einem l 3 / 4 jahrigen Knaben, war die Rigiditat 
gering, die Bewegungsarmut auffallend hochgradig. In einem abor¬ 
tiven Fall fehlte die Rigiditat ganz, war aber doch eine gewisse Be¬ 
wegungsarmut vorhanden, ebenso in einem weiteren Fall, bei dem alle 
sonstigen Krankheitserscheinungen sehr ausgesproehen waren, die Rigi¬ 
ditat aber fehlte. In 3 weiteren Fallen war die Rigiditat auf den reehten 
Arm, das linke Bein bzw. auf beide Arme beschrankt, wahrend die 
Bewegungsarmut in alien 3 Fallen, besonders im letzteren, allgemein 
und stark ausgesproehen war. Der Ausfall an Bewegungen betraf vor 
allem die Ausdrucksbewegungen, die Mitbewegungen, die unbewuBt- 
automatisch-reflektorischen Bewegungen und Reaktionsbewegungen, 
aber auch, wenn auch weniger, die Willkiirbewegungen. Das Vorkommen 
der Bewegungsarmut und der durch sie bedingten allgemeinen Starre 
der Haltung ohne Rigiditat, was einer meiner Falle zeigte, wurde 
l>ereits von Rausch und Schilder, A. Westphal, Kramer, aller¬ 
dings bei Fallen anderer Atiologie, beobachtet; auch Stertz hebt her- 
vor, daB die Starre der Haltung nicht immer der nachweisbaren Rigi¬ 
ditat entspricht, und Foerster betont, daB der Mangel an Reaktions- 
und Ausdrucksbewegungen ein selbstandiges Symptom ist und ohne 

Arehlv (ilr Psychiatrie. Bd. 07 . 12 


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Rigor und Fixationsspannung vorkommen kann, was dutch nteine 
Falle bestatigt wird. Franzosische Autoren bestritten allerdings die Zu- 
gehorigkeit derartiger Falle zu dent hier behandelten Syndrom, aber der 
Nachw’eis der ubrigen Symptome und gewisse Tremorerscheinungen, die 
spater erortert werden, berechtigen dazu, diese Falle hierher zu zahlen. 

Die von Stertz und Foerster eingehend geschilderte Bewegungs- 
verlangsamung (Verlangsamung des Ablaufs der Bewegungskurve: 
Stertz) war weniger haufig nachzuweisen, alter doch in 12 Fallen vor- 
handen. Auch sie war, wenn auch dfter mit einer allgemeinen Rigiditat 
verkniipft, so doch nicht iramer an ihr Vorhandensein gebunden. Stertz 
versuchte sie durch eine Innervationustorung, durch die mangelnde 
Innervationsbereitschaft, durch eine Storung der reziproken Inner¬ 
vation Sherringtons zu erklaren, und zwar — so fiihrt er aus — er- 
folge bei Innervation eines Muskels nicht mehr die Erschlaffung des 
Antagonisten (Fehlen der Riicksteueru ng der Sperrung — Lewy). In der 
Tat ist diese Erklarung sehr einleuchtend. Aber bei Beginn der Be- 
wegung aus der Ruhelage scheint doch noch etwas anderes die Ursache 
zu sein. Bei passiven Bewegungen laBt sich namlich, wenigstens 
mit unserer gewohnlichen groben Untersuchungsmethode, nicht selten 
konstatieren, daB in den vorher anscheinend schlaffen Antagonisten, 
sftbald sie gedehnt werden, eine Kontraktion und Spannung einsetzt 
(z. B. bei Beugung des Vorderarms im Triceps), eine Beobachtung, die 
auch von Mayer und John gemacht wurde, die fiir die rcflektorische 
BeeinfluBbarkeit der Rigiditat spricht und ebenfalls die Bewegungs- 
verlangsamung erklart. Bei der Dehnung des Antagonisten treten 
auch, wie sich mit dem Saitengalvanometer zeigen laBt, vorher 
nicht vorhandene Aktionsstrome in diesem auf, nicht nur im Ago- 
nisten. Da sie sich in gewissem Grade, wie Lewy zeigte, auch in nor- 
malen Fallen nachweisen lassen, diirfte die Dehnungsrigiditat vielleicht 
die Steigenmg eines normalen Vorgangs darstellen. DaB schon vor der 
Bewegung in Ruhelage ein erhdhter Spannungszustand des Muskels 
besteht, laBt sich mit unsern gewohnlichen Untersuchungsmethoden 
nicht nachweisen, auch Aktionsstrome finden sich in dieser nicht. Es 
ist nun denkbar, daB auch bei der aktiven Bewegung die Antagonisten- 
spannung erst bei Beginn der Bewegung einsetzt und so die Langsam- 
keit des Bewegungsablaufs bedingt. Objektiv ist das allerdings mit 
unsern gewohnlichen Untersuchungsmethoden nicht festzustcllen. t'lier 
den ganzen Mechanismus wird man erst ins klare kommen, wenn es, 
ahnlich wie das Lewy begonnen hat, gelingt, die Aktionsstrome in 
diesen Fallen sowohl im Agonisten, wie gleichzeitig im Antagonisten 
mit einer einwandfreien Methodik zu beobachten. 

Das gleiche gilt fur die Adiadochokinesis, die fast in alien meinen 
Fallen, auch in denen ohne Rigiditat, nachzuweisen war und in ahor- 


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Beobachtungen beim akinetisch-hj'pertoniachen Symptonienkomplex. 171 

tiven Fallen zuweilen ein diagnostisch wertvolles Hilfsmittel darstellt. 
Auch bei dem Zustandekommen dieser diirfte, wie Stertz und Foerster 
ausfiihrlich schildern, eine Innervationsstorung, die Nachdauer und 
der nicht rechtzeitige NachlaB der Antagonistenspannung mitwirken. 
Das ebenfalls in vielen meiner Falle zu beobachtende schlieliliche 
vollige Aufhoren der Bewegungsfolgen bei der Adiadochokinesispriifurg 
weist entweder auf eine allmahliche Zunahme der erwahnten Erschi i- 
nungen wahrend dieser Bewegungen hin, vielleicht auch auf eine infolgc- 
dessen einsetzende vorzeitige vollige Ermiidung der Muskeln. 

Eine Erhohung des plastischen formgebenden Muskel- 
tonus (Foerster) war nicht immer vorhanden und hauptsachlich 
in den mehr oder weniger dauernd im Dehnungszustand befindlichen 
und hauptsachlich rigiden Beugemuskeln der Extremitaten festzu- 
stellen. 

Die von Stertz gegeniiber den echt katatonischen Anomalien als 
,,pseudokataleptisch“ bezeichneten Erscheinungen waren 
hier und da, aber nicht besonders hiiufig nachzuweisen und durch das 
Verharren in der Endstellung einer Bewegung oder Erstarren einer 
Bewegung und Verharren in der grade erreichten Stellung charakteri- 
siert, nur ausnahmsweise aber durch das Verharren in einer passiv ge- 
gebenen Stellung. Dieses Erstarren einer Bewegung kani deutlich durch 
Ablenkung der Aufmerksamkeit von der willkiirlichen Bewegung oder 
Erschlaffen und NachlaB des im Anfang der Bewegung intensiv wirken- 
den Willensiinpulses mit. gleichzeitiger Fixation der gerade erlangten 
Haltung und Stellung zustande. VVenn es sich auch hier nicht uni die 
l>ei der Katatonie in Frage kominenden Willensstdningcn handelt. >o 
scheinen doch auch gewisse primare Erschwerungen der Willensan- 
spannung eine Rolle zu spielen, wenigstens schilderte ein Kranker sehr 
anschaulich, daB die Bewegung nicht nur bei NachlaB der Willens- 
anspannung aufhdre, sondern daB diese Willensanspannung an si<h 
auffallend erschwert sei, eine auffallige Neigung zum willenlosen und 
tat^nlosen Dasitzen und Vor-sich-hin-Dosen bestehe. Foerster spricht 
von dem Willensgefiihl (Lipps), dessen Umsetzung ins Motorium er¬ 
schwert sei und das vielleicht als ein affektiver Vorgang aufzufassen 
sei: die Stdrung ware dann der bei der Pallidumerkrankung ganz all- 
gemein vorhandenen Erschwening und Verlangsamung der AffektiiuBe¬ 
rn ngen gleichwertig. — Die BeeinfluBbarkeit durch fremden Willen, 
der beschleunigte Eintritt und erleichtcrte Ablauf einer Bewegung unter 
EinfluB des fremden Widens tritt in diesen Fallen oft deutlich zutage. 
und es ist von besonderem Interesse, daB Foerster den Mangel an 
Initiativbewegungen in der Hypnose bessern konnte. Die pseudokata- 
leptischen Erscheinu ngen allein durch die sog. Fixationsspannu ng 
zu erklaren, scheint unbefriedigend. Letztere war zweifellos in meinen 

12 * 


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Fallen bei genauerer Priifung haufiger vorhanclen, als zunachst schicn. 
Aber sie, wie die nach Foerster bei Annaherung der Insertionspunkte 
eines Muskels auftretende Adaptationsspannung waren auch mit 
deni von ihm angegebenen Kunstgriff (schnelle maximale Annaherung 
der Insertionspunkte und kurze Zeit passives Halten in dieser Stellung) 
nicht immer zu erzielen, z. B. nicht in den Streckern des Vorderarms. 
Auch blieben in einem Fall bei Untersuchung mit dem Saitengalvano- 
meter bei starkster Beugestellung des Vorderarms die Aktionsstrome 
im Biceps aus, die sonst in den Muskeln, die sich in rigidem Zustand 
befanden, nachzuweisen waren. 

Leichte Paresen traten nicht gcrade haufig und dann besonders 
bei kinetischer Innervation (Griinewald) hervor. In einem Fall war 
das amyostatische Syndrom im Beginn einer Encephalitis unter Kramp- 
fen apoplektiform entstanden, und zwar war hier zuerst eine Halbseiten- 
lahinung aufgetreten (ob schlaffe, lieB sich anamnestisch nicht mehr 
feststellen), wie es auch Foerster sah. Pyramidensymptome fehlten 
fast stets, nur ganz vereinzelt und voriibergehend wurde dasBabinskische 
Phanomen beobachtet. 

Das Fehlen physiologischer Mitbewegungen, besonders 
Fehlen des Pendelns der Arme beim Gehen, evtl. auch einseitig, war 
haufig. Auf mehrere der von Foerster geschilderten zweckmaBigen 
Mitbewegungen (normale Bewegungssynergien) wurde nicht speziell 
untersucht. Dagcgen wurden in 2 Fallen hochst eigenartige a b nor me 
Mitbewegungen beobachtet, die denen von Stertz beschriebenen 
ahnelten. Die Fade seien ausfiihrlicher mitgeteilt. 

1. 28jahr. Matrose. Vorgeschichte o. B. Herbst 1917 einigo Wochen nach einer 
Appendektomie unwillkiirliche Bewegungen im rechtcn Bein und Unfahigkeit 
zu feineren Bewegungen in denHanden, waswieder schwand. Friihjahrl918erneute 
unwillkiirliche Bewegungen in den Handen und Unterkiefer. Am 11. IV. 1918 fanden 
sich rhythmisch-tonische Anspannungen der r. Mundwinkel- und Baekenmuskulatur. 
ilea r. Platysnm. der Muskulatur der r. Hand und des Unterarms. des r. Zeigefingers. 
der rechtwinklig gebeugt wurde, sowie der Quadrieepsgruppe mit rhythmischer 
Hebung und Senkung der Kniescheibe. In der 1. Hand regellosere Bewegungen. 
die den Eindruck von Mitbewegungen machten. Bewegungen sistierten im Schlaf, 
konnten kurze Zeit willkiirlich unterdriickt werden. Spiiter zeitweiliges Zittern 
des ganzen Kor{x>rs. Im Juni 1918 voriibergehend apathisch-stuporoser Zustand bei 
Fortbestehen der Bewegungen, die im September 1918 schwacher wurden. Der 
r. Arm nahm eigenartige Beugehaltung an, das Gesicht war starr, ohne Mimik. 
So blieb der Zustand. ImJanuar 1922 ausgesprochene Bewegungsarmut und Be- 
wegungsverlangsamung, untere Gesichtsmuskeln rechts leieht kontrakturiert. 
mimische Starre, starkes Zittern der Zunge, leieht gebeugte Haltung, Kopf nach 
vorn gestreckt. r. Oberarm leieht abduziert, Vorderarm bis fast 90° gebeugt. 
Hand gebeugt. Finger in leichter Pfotchenstellung. Zeitweilig mehrere aufeinander 
folgende, leieht abduzierende und rotierende Bewegungen des Oberarms. Zeit¬ 
weiliges Hoehziehen der Oberlippe. Linker Arm in leichterer Beugehaltung. Aus¬ 
gesprochene Rigiditiit im rechten. weniger im linken Arm, desgl. in der Halsmusku- 


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Beobachtungen beim akinetisch-hypertonisehen Symptomenkomplex. 173 


latur, weniger in der Bein- und Bauchmuskulatur. Pseudokatalcpsic besondere in 
den Beinen. Leichte Retropulsion, Pendelbewegungen der Arme beim Gehen fehlen. 
Zeitweilig, besonders beim Gehen. wird der rechte Arm starker 
abduziert, der Y T orderarm starker gebeugt. Pat. gibt an, daB das ein- 
trete, sobald die Aufmerksamkeit vom rechten Arm abgelenkt sei. t'bt er mit 
der linken Hand einen kraftigen Handedruek aus oder werden die 
Beine kraftig innerviert, so wird ebenfalls der r. Arm gehoben. 
abduziert und gebeugt. 

Die Atiologie des vorliegenden Falles ist unklar. Wahrseheinlich 
handelt es sich aber wegen der Mannigfaltigkeit der im Verlauf der 
Krankheit zutage getretenen Erscheinungen und dem schlieBlichen 
StationiLrbleiben fles Zustandes, nachdem sich das akinetisch-hyper- 
tonische Krankheitsbild voll entwickelt hatte, um cine Form der En¬ 
cephalitis epidemica. Ahnliche Fiille von Mitbewegung sind von Stertz 
beobachtet worden. (In einem Fall Ausstrahlung des Impulses bei In- 
nervation irgendwelcher Muskelgruppen in den r. Quadriceps, oft 
auch in die linken Kniebeuger, in einem andern Fall Ausbildung einer 
krampfhaften Stellung dcr rechten Hand und Finger). Das Besondere 
in meinem Fall liegt darin, daB die abnorme Stellung gelegentlich ohne 
l>esonders starke Innervation anderer Muskelgebiete bei abgelenkter 
Aufmerksamkeit eintrat. Offenbar besteht eine abnorme Kontrak- 
tionsneigung im rechten Deltoideus und den Vorderarmbeugern (Inner - 
vationskomplex mit dauernder Dbererregbarkeit — Stertz), die mit 
geringer Willensanspannung unterdriickt werden kann. Bei NachlaB 
dieser auf das betreffende Muskelgebiet gerichteten Willensspannung 
und der Aufmerksamkeit durch Innervation anderer Muskelgebiete 
tritt die Kontraktion ein. Stertz glaubt dagegen, daB diese Muskel- 
])artien durch geringfiigige Impulsirradiation innerviert wvirden. 

2. 36jahr. Mann. Y'orgesch. o. B. Marz 1916 ini FeldeSchwindelgefiihl.Schwache. 
Steifigkeit und Zittern im rechten Arm. Ende 1916 Entwieklung einer allgemeinen 
Steifigkeit und eigenartigen Gangstorung. Liquor o. B. Befund im Januar 1921: 
Gesicht etwas starr. Mund leicht geoffnet, Gesichtshaut meist heiB. Leicliter 
SpeichelfluB. Pupillendifferenz. Pupillenreflexe o. B. Sehnenreflexe lebhaft. 
zeitweilig rechts Oppenheim und Babinski angedeutet. Spraehe etwas monoton. 
MaBige Rigiditat der o. E. und u. E., geringes Zittern der ausgestreckten Hiinde 
rechts mehr wie links. Ceringe Parese des r. Arms. Im Stehen aufiechte Korper- 
haltung. Beim Gehversuch sinkt der Oberkorper nach vorn, Knie- und Hiiftgelenke 
nehmen Beugestellung an, so daB eine Art Hoekstellung entsteht (Abb. 1 bis 3). So 
geht Pat. weiter. Dabei starke Pro- und Retropulsion. Mit 2 groBen Stangen in den 
Handen sich aufstiitzend, vermag er sich einigermaBen aufrecht zu halten. Bis 
zu einem gewissen Grade ist der Gang suggestiv beeinfluBbar, wird bei Beobach- 
tung des Pat. muhsamer und schlechter. Tageweise weehselt die Intensitat der 
Gangstorung. Bei Dynamometer- oder Adiadochokinesispriifung der 
rechten Hand, also kraftiger Innervation bestimmter Muskel¬ 
gruppen, neigt sich der Oberkorper ebenfalls nach vorn iiber. Der 
Befund blieb wahrend der Tmonatlichen Beobachtung vollig der gleiche, nur 
Babinski und Oppenheimsches Phiinomen waren spater nicht mehr nachzu- 
weisen. 


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W. Range: 


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Die Atiologie des Falles ist unklar. Er hat rait dem vorigen Fall 
gemeinsam, da(3 er vor der eigentlichen Encephalitisara begann. Eine 
epidemische Encephalitis als Ursache der Krank- 
heit laBt sich nicht nachweisen, ohwohl die Mdg- 
lichkeit einer solchen imHinblick auf den jetzt seit 
Jahren stationaren Zustand nicht auszuschlieBen 
ist. Sichere Anzeichen fiir eine Krankheit vom 
Typ der Pseudosklerose fehlten. Am ahnlichsten 
ist das Krankheitsbild einer Paralysis agitans 
sine agitatione. Durch die eigenartige, erst beim 
Gehen auftretende gebiickteHaltung wurde der 
Schwerpunkt des Korpers nach unten und vom 
verlegt. lnfolgedessen kam der Pat., zumal auch 
jede Reaktionsbewegung fehlte, beim Gehen in ein 
unaufhaltsames Vorwartsschieflen. DaB es sich bei 
dieser eigenartigen Haltung um die Fo'ge einer Art 
absonderlichen Mitbewegung handelt und nicht 
etwa um die einer Art Gleichgewichtsstorung oder 
einer Parese der Beine, die sonst gar nicht nach- 
zuweisen war, glaube ich daraus schlieBen zu 
konnen, daB diesel be Beugehaltung des Rumpfes 
wie beim Gehen auch bei kraftigcr Innervation der 
rechtsseitigen Fingerbeuger eintrat. r f'rotz der aller- 
dings auffallenden psychogenen Bee influ Bbarkeit 
der Gehstoning ist 
eine funktionell-hy- 
sterische Natur der- 
selben keinesfalls 
anzunehmen da die 
Gangstorung trotz 
langer Behandlung 
und psychothera- 
peutischer MaBnah- 
men hier und an- 
derncrts vbllig \m- 
verandert blieb, nur 
wie von jeher tage- 
weise in ihrer In- 
tensitat schwankte, 
und die sonstigen 
Anzeicheneinerstri- 
Abb. 2. aren Erkrankung 

Fall 2. gehend. einwandfrei vor- Abb. 3. tall 2, gehend. 


Abb. 1. 

Fall 2. stehend. 


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Beobachtungen beim akinetiseh-hypertonischen Symptomenkomplex. 175 


handen waren. Es ist denkbar, daB die zur Unterdriickung und Ober- 
windung der betreffenden Muskelkontrakturen aufgewandte Willens- 
anspannung bei EiTegung des Patienten infolge der Beobachtung von 
fremder Seite nachlieB und die Gangstorung infolgedessen jedesmal 
starker wurde. 

Die Erscheinung der Pro-, Latero-, besonders aber der Retropul- 
sion, war auch in meinen Fallen haufig vorhanden, fehlte aber regel- 
maBig in den Fallen mit geringer oder gar keiner Rigiditat. Die Retro- 
pulsion war ini ganzen haufiger wie die Propulsion. Besonders oft 
lieB sich das eigenartige Phanomen feststellen, daB die Kranken, wenn sie 
kurze Zeit stillgestanden hatten, plotzlich spontan anfingen, einige 
Schritte riickwarts zu machen und dann zuweilen auch ins SchieBen 
kanien. Dieselbe Erscheinung konnte durch einen ganz leichten StoB 
vor die Bmst hervorgerufen werden, wahrend in solchen Fallen ein 
StoB gegen den Riicken keine Vor warts be wegung veranlaBte. Die 
gleiche Erscheinung ist auch in der jiingst erschienenen Arbeit von 
v. Sarbo erwahnt. 

Tremor. 

Der Tremor stellte sich in meinen Fallen meist als fein- bis ruittel- 
schlagiger Tremor der distalen Extremitatenabschnitte dar, der erst 
bei starkerer Ausbildung auch auf die hoheren Extremitatenabschnitte 
iiberging, in seiner Intensitat ausgesprochenen, oft tageweisen Schwan- 
kungen unterworfen, in den meisten Fallen nicht immer vorhanden war, 
selten ganz, meist nur in der Ridiehaltung fehlte und nur bei statischer 
Intention, nicht bei intendierten Bewegungen auftrat, sich in wenigen 
Fallen zu einem fast standig vorhandenen grob- und schnellschlagigen 
Ruhetremor steigerte und nur ausnahmsweise den langsamen und 
stetigen Rhvthmus des echten Paralysis-agitans-Tremors hatte, viel- 
melir, solange er feinschlagig blieb, oft recht unregelmaBige Amplituden 
seiner Schwingungen zeigte, ferner dureh gewisse MaBnahmen gesteigert 
und verallgemeinert werden konnte oder iiberhaupt erst hervorgerufen 
wirde. Dabei zeigte sich ein steigernder EinfluB psychogener 
Momente im all gem einen we nig, aber in schwereren Fallen doch 
deutlich. In 10 Fallen fehlte der Tremor in der Ruhehaltung ganz oder 
meistens und trat nur bei intendierter Haltung der Extremitaten oder 
unter den oben erwahnten MaBnahmen auf. Zuweilen waren, wenn kein 
eigentlieher Tremor bestand, einzelne amorphe, zuckende, arhythmische 
Bewegungen der Finger zu bemerken. Bei andern Fallen war in der 
Ruhehaltung ganz leichter Tremor der Hande, evtl. auch des Kopfes 
vorhanden, der sich bei statischer Intention steigerte. Nur in 3 Fallen 
bestand auch in der Ruhehaltung in einem Arm, beiden Armen oder 
beiden Beinen starker grobschlagiger Tremor, der einmal den pillen- 
drehenden Bewegungen der Finger bei der Paralysis agitans iihnelte, 


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W. Runge: 


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die von franzosischen Autoren (Souques, Sicard) beim postencepha- 
litisch-amyostatischen Syndrom fur prognostisch ungiinstig gehalten 
werden. Auch der hier erwahnte Fall verlief sehr schwer, womit aber 
fur die prognostische Bedeutung des erwallnten Symptoms nichts ge- 
sagt ist. In einem der Fiille mit Ruhetremor trat dieser erst wahrend 
der Beobachtung auf, in einem weiteren schwand er unter der Behand- 
lung mit intravenoser lnjektion hoher Dosen von Natr. kakodylicum 
und trat dann nur ala statischer lntentionstremor, aber erheblieh vveni- 
ger ala vorher in Erscheinung. Nur in einem Fall H., der una noch mehr- 
fach beschaftigen \vird, mit Rigiditat der Armmuskulatur, Fehlen der 
Mimik und Augenmuskellahmungen, Pseudokatalepsie, Bewegungs- 
armut und Bewegungsverlangsamung fehlte der Tremor in der Rulie- 
haltung und bei intendierter Haltung dauernd, konnte auch durch 
keinerlei MaBnahmen, die in den iibrigen Fallen Tremor in Erscheinung 
treten lie Ben, zur Auslosung gebracht werden. Nur beatand hier zeit- 
weilig ein geringer Unterkiefertremor und ein leichtes Vibrieren der 
Oberlippenmuskulatur rechts, ferner eine hbchst eigenartige, an Stot- 
tern erinnernde und vielleicht auf eine Art lntentionstremor der Sprach- 
muskulatur zuriiekzufiihrende Sprachstorung, die aber keinerlei Ahnlich- 
keit mit dem Skandieren bei der multiplen Sklerose hatte. Naheres 
iiber den Fall weiter unten. Er fallt erheblieh aus dem Rahmen der 
iibrigen heraus. 

Das Fehlen des Tremors in der Rulie und sein Auftreten als statischer 
lntentionstremor wurde sowohl bei Fallen mit allgemeiner mehr <xler 
weniger starker Rigiditat (4 Fallen), sowie bei geringer Rigiditat, in 
2 Fallen auch an Gliedern ohne jede mit der gewohnlichen Methode 
festzustellende Rigiditat beobachtet. Der Tremor war also im allge- 
meinen unabhangig von der Starke der Rigiditat. Immerhin 
war er in 2 Fallen mit sehr ausgesprochener Rigiditat auch besonders 
stark und in der Ruhe vorhanden. In einem dritten solchen Fall fehlte er 
aber in der Ruhehaltung, Mendel kommt beziiglich des Zitterns bei 
der Paralysis agitans zu dem gleichen Resultat. der allgemeinen Unab- 
hangigkeit des Zitterns von der Rigiditat, Wilson dagegen meint, daB 
es bei der echten Paralysis agitans in umgekehrtem Verhaltnis zum 
Grade der Rigiditat stehe, was bei dem akinetisch-hypertonischen 
Symptomenkomplex sicher nicht der Fall ist. Bei der Pseudosklerose 
und Wilsonschen Krankheit ist das starke Wackeln, das wie in einem 
hier beobachteten Fall (Siemerling und Oloff) speziell die proximalen 
Extremitatenabschnitte befallt, zuweilen auch mit einer Hypotonic 
verbunden. Ob der Tremor aber in den akinetisch-hypertonischen 
Fallen tatsachlich bei volligem Fehlen einer Rigiditat bzw. Spannungs- 
anderung in der Muskulatur vorkommt, ob in den Fallen meines Mate¬ 
rials, bei denen sich eine Rigiditat mit den gewohnlichen Untersuchungs- 


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Beobachtungen l>eiin akinetisch-hypertonischen Symptonienkoinplex. 177 


raethoden nicht feststellen liefl, nicht doch cine gewisse Spannungs- 
anderung in der Muskulatur besteht, laBt sich nicht mit Sicherheit 
sagen. Die Verteilung des Tremors war ebenso verschieden wie 
<lie der Rigiditat: 3 mal zeigte er sich halbseitig gleichzeitig neben einer 
geringen Rigiditat, in den iibrigen Fallen entweder in alien 4 Extremi¬ 
taten und im Kopf oder in den untern oder obern Extremitaten allein 
oder schlieBlich nur in einer Extremitat allein. 

Durch die Schnellschlagigkeit, das Fehlen einer gewissen Gleich- 
maBigkeit und Bestandigkeit, das Starkerwerden bei statischer Inten¬ 
tion unterscheidet sich der Tremor der akinetisch-hypertonischen Falle 
von dem der Paralysis agitans, bei der er (Lewandowsky) bei statischer 
Intention geringer wird oder aufhort. Nur in einem meiner Falle ge- 
schah dies ebenfalls, und zwar bei einem jugendlichen Patienten mit 
leichtem Halbseitentremor, SpeichelfluB, leichter mimischer Starre. 
(lessen Genese nicht ganz klar ist. Moglicherweise handelt es sich um 
cine beginnende Pseudosklerose; dann wtirde der Fall aus dem Rahmen 
der hier besprochenen herausfallen. Es sind also zweifellos gewisse 
l nterschiede zwischen dem Tremor bei den akinetisch-hypertonischen 
Fallen und dem der Paralysis agitans vorhanden. Sie scheinen mir 
aber nicht schwerwiegend genug, um zu behaupten, daB es sich bei 
beiden Tremorformen um etwas grundsatzlich Verschiedenes handle, 
zumal in den wenigen Fallen mit paralysis-agitans-ahnlichem Tremor 
dieser aus dem sonst vorhandenen Tremor hervorzugehen schien. Merk- 
wurdig ist allerdings ein Fall, bei dem langsam, zunachst nur zeitweise, 
dann aber dauernd ein eigentiimliches, rhythmisches, schnelles Schlagen 
mit der rechten Hand und dem Vorderarm auftrat, das von vornherein 
stark grobschlagig war und entfernt an den Schiitteltrcmor Paralysis- 
agitans-Kranker erinnerte, aber immer grobschlagiger als dieser blieb, 
wahrend der sonst vorhandene gewohnliche feinschlagigere Tremor 
in den iibrigen Extremitaten weiter bestand und sich auch in der rechten 
Hand wahrend der anfanglich zwischen die Sehiittelphasen eingescho- 
benen Ruhepausen zeigte. Aber es handelte sich hier um einen Aus- 
nahmefall, bei dem vor Entwicklung des akinetisch-hypertonischen 
Svmptomenkomplexes lange Zeit myoklonische Zuckungen im 1. Arm. 
1. Hals- und Gesichtsseite bestanden hatten, wie in geringerem Mall 
auch in dem oben mitgeteilten Fall 1, wo diese Zuckungen auch noch 
nach voller Entwicklung des akinetisch-hypertonischen Syndroms weiter 
l)C8tanden. In den iibrigen Fallen, in denen es zu einem starkeren Zit- 
tem kam, entwickelte sich dieses aus dem feinschlagigen Zittein heraus. 
GewiB besteht auch in dem haufigen temporaren Fehlen und der Gering- 
fiigigkeit des Tremors in den akinetisch-hypertonischen Fallen und 
dem steten Vorhandensein und der Starke desselben bei der Paralysis 
agitans ein Unterschied; daB dieser nicht zu hoch bewertet werden darf. 


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178 


W. Bunge: 


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zeigt aber die Tatsache, da 13 in den akinetischen Fallen fast stets cine 

Tremorbereitschaft 

nachzuweisen ist, auch da, wo der Tremor unter gewohnlichen 
Umstanden fast immer fehlt. Pragt sich diese schon in deni 
haufigen Auftreten von Tremor bei statischer Intention aus, 
so laBt sie sich auch an einer Reihe von anderweitigen Erschei- 
nungen erkennen. In der Mehrzahl meiner Falle lie(3 sich namlich 
ein auffallend starker Tremor, oft beinahe eine Art 
Klonus der Augenlider bei AugenschluB 1 ), also gewissermaBen 
bei statischer Intention der Lidmuskeln, und zwarnicht nurbeim Rom¬ 
berg-Versuch, sondern vielfach auch bei bloliem AugenschluB im Stehen, 
Sitzen oder Liegen, vor allem auch bei der Cornealreflexpriifung fest- 
stellen, was um so auffallender ist, als sonst. der unwillkiirliehe reflek- 
torische Lidschlag in diesen Fallen fast aufgehoben ist oder jedenfalls 
selten eintritt. Bei 16 unter 18 darauf untersuchten Fallen lieB sich 
unter den erwahnten Umstanden das starke Lidzittern feststellen. In 
2 Fallen war es nur gering. Bekanntlich komrat ein Lidtremor auch bei 
andcrsartigen Kranken sowie bei Gesunden gelegentlich vor, aber bei 
weitem nicht in dieser RegelmaBigkeit und selten in der Starke wie 
bei den amvostatischen Fallen. Er ist offenbar dem bei intendierter 
Haltung der Extremitaten auftretenden Tremor gleichzustellen und 
fehlt in der Ruhelage und bei Erschlaffung des Orbicularis oculi. — Be- 
raerkenswert ist es weiter, daB man bei der willkxirlichen Kontrak- 
tion rigider Muskeln mit der aufgelegten Hand zuweilen nicht eine 
stetige, ununterbrochene Zunahme der Zusammenziehung feststellen 
kann, .wie bei Gesunden, sondern, daB diese von einzelnen diskontinuier- 
lichen, klonusartigen Zuckungen und Rucken unterbrochen ist, die 
Kontraktionsimpulse also offenbar diskontinuierlich, unregelmaBig und 
ungleichmaBig einwirken. DaB das gleiche noch hiiufiger und viel aus- 
gesprochener auch bei der Dehnung rigider Muskeln festzustellen 
ist, wurde oben erwiihnt und auch von Foerster, Mayer und John 
beobaehtet. Es fragt sich, ob in dieser Neigung zu diskontinuierlicher 
Kontraktion und Erschlaffung nicht auch etwas Ahnliches wie die Tre¬ 
morbereitschaft zu sehen ist. Der Mangel an Fahigkeit, die Muskeln 
gleichmaBig und stetig zu innervieren oder erschlaffen zu lassen, scheint 
in beiden Fallen eine Rolle zu spielen, nur daB im ersteren Fall die Kon¬ 
traktion des Agonisten und Erschlaffung des Antagonisten nicht gleich- 
zeitig, gleichmaBig und kontinuierlich, im zweiten, beim statischen Tre¬ 
mor die Kontraktion der Agonisten und Antagonisten nicht gleich- 
zeitig, gleichmaBig und kontinuierlich mdglich ist. Beim letzteren 
kommt allerdings noch das rhythmische Moment hinzu. — Weiter scheint 

J ) Kiirzlich auch von v. Sarbo erwahnt. 


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lieobuchtuiigen beim akinetisch-hypertoni.schen Symptomenkomplex. 179 


rnir der Nachweis kleiner und groBer Oscillationen des Aktions- 
stromes in rigiden Muskeln, die deni Aktionsstrom beim Tremor ent- 
sprechen, in einem akinetisch-hypertonischen Fall, bei dem auBerlich 
ein Tremor nicht festzustellen war, durch Rehn auf eine Tremorbereit- 
schaft hinzuweisen, ferner auch die Beobachtung Foersters, daB der 
Tremor durch besonders starke gemutliche Erregungen erst zu- 
tage tritt, obwohl er vorher garnicht vorhanden war. 

Es konnte nun festgestellt werden, daB es gelingt, noch durch eine 
Reihe anderer Mittel die Tremorbereitschaft deutlich in Erscheinung 
treten zu lassen, auch wenn ein Tremor sonst vollig oder in Ruhehaltung 
fehlte. In einem Teil der P’alle gelang das schon durch eine verhaltnis- 
maBig geringe Abkuhlung. Zunachst fiel auf, daB sich bei einem 
Rranken schon wahrend des Auskleidens in einem Zimmer mit einer 
Temperatur von 20 ° C ein heftiger allgemeiner Schutteltremor, 
der vorher fehlte, entwickelte, wahrend andere, nicht amyostatische 
Falle bei 10 Minuten langem Nacktstehen im gleichen Raum bei der 
gleichen Lufttemperatur keinen Tremor bekamen. Diese Erscheinung 
konnte bei der groben Versuchsanordnung allerdings nur in wenigen 
amyostatischen Fallen festgestellt werden. Entweder wurde hier der 
bereits vorhandene Tremor verstarkt, was auch Foerster u. a. beobach- 
teten, oder der Tremor trat iiberhaupt erst auf. Er unterschied sich 
hauptsachlich durch seine Intensitat von dem sonst in diesen Fallen 
zu beobachtenden Tremor und glich genau dem sonstigen Kaltetremor 
Gesunder, nur daB er unverhaltnismaBig stark war. — Die Tremor¬ 
bereitschaft zeigtesich ferner darin, daB ein Tremor durch gewisse 
Gifte, die bei Gesunden kein oder nur ein geringes Zittern 
erzeugen, hervorgerufen werden kann. Plin bereits vor- 
handener Tremor wird durch diese Mittel schr erheblich 
gesteigert .* 

Kokainwirku ng. 

Subcutane Injektionen von Kokainum hydrochloricum in Dosen 
von 0,03—0,06 g zeigten diese tremorerzeugende YVirkung. Zur An- 
wendung dieses Mittels bei den amyostatischen Fallen wurde ich durch 
die Mitteilung Bergers angeregt, der bei katatonischen Stuporen durch 
subcutane Injektion von 0,025—0,05 gKokain, hydrochl. eine Anderung 
des psychischen Verhaltens, ein Regsamerwerden, eine Durchbrechung 
der Sperrung beobachtete. Die bis dahin vollig mutistischen Kranken 
sprachen wahrend der einige Stunden anhaltenden Kokainwirkung 
wieder. Es lag nahe, diese Wirkung bei den ebenfalls psychisch sehr 
wenig regsamen, affektii' schwer gestorten, bewegungsarmen und zu- 
weilen an katatonische Stuporkranke erinnernden amyostatischen 
Fallen festzustellen. Das Kokainum hydrochloricum wurde 8 Amyosta¬ 
tischen subcutan gegeben, in 2 Fallen wurden die Versuche 1- bzw. 2 mal 


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W. Runge: 


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180 

tviederholt. Eine weitre Ausdehnung de r Versuche schien wegen der Ge- 
fahren des Mittels, das vereinzelt leichten Kollaps verursachte, nicht 
angebracht. 


Nr. 

Art der Falle 

Kokain- 

menge 

Art der Wirkung 

1 . 

B. Allgemeine starke Ri- 
gidit&t, geringer Tre¬ 
mor bei stat. Intention; 
hochgrad. Bewegungs- 
armut. 

0,03 

Pulsbeschleunigung v. 100 auf 116: 
Atmung tief, 20; Augen glanzend, 
Pupillen weit; nach 10 Min. allgein. 
Tremor. Gang geht jetzt. flott, kann 
sich gerade aufrichten ohne zu tau- 
meln, sich gut umdrelien. 

Subj. Empfindung, daB das Gehen 
leichter sei. Sprache unverandert. 
Anhalten der Wirkung etwa 20—30 
Min. 

2. 

B. nochmals 

0,03 

Atmung beschleunigt. Puls v. 96 auf 
116. Spricht lauter. Gang leichter. 
Ivetztere Wirkung hort bald auf, klagt. 
dann liber Obelbefinden. Rigiditat 
vielleicht etwas geringer, was Pat. 
auch subjektiv empfindet. Starker 
Tremor. Bei einem 3. Versuch ebenso. 

3. 

H. Rigiditat in den Ar¬ 
men. Kein Tremor. 
Stark stottemde Spra 
che, iiuBerst bewegungs- 
arm, pseudokatalep- 
tisch. 

0.03 

Sprache etwas besser; spricht Worte. 
die vorher nicht ausgesprochen wer- 
den konnten. Sonst keine Wirkung. 
kein Tremor. 

4. 

H. nochmals 

0,05 

Macht viel lebhafteren Eindruck, l^e- 
wegt sich energischer, Adiadocho- 
kinesis geschwunden. Sprache objek- 
tiv unverandert. will aber subjektiv 
eine Besserung verspiiren; lebhaftes 
Flattem des r. Mundwinkels. 

Schreibt 30 Min. sjjftter seinen Lebens- 
lauf von 10 Reihen in 8 Min. Kein 
Tremor. 

5. 

H. nochmals 

0,06 

Schreibt einen Text, zu dem er vorher 
10 Min. brauchte, jetzt in o l / 2 Min. 
mit undeutlicherer, aber nicht zittri- 
ger Schrift, fiigt in dieser Zeit noch 
6 Worte hinzu. Macht lebhafteren 
Eindruck. bewegt sich lebhafter. 
Sprache bleibt schlecht. Kein Tre¬ 
mor. 

6. 

G. Geringe Rigiditat im 
r. Arm. Ausgespro- 
chene Bewegungsarmut 
nnd Verlangsarnung. 

Kein Zittern. (Angeb. 
Schwachsinn!) 

0,04 

Grobschliigiger Tremor des ganzen 
Korpers. Puls steigt von 104 auf 116. 
Atmung beschleunigt. Macht wenig 
lebhafteren Eindruck. 


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Beobacbtungon beim akinetiscb-hvpertonischen Symptomenkomplex. 181 


Xr. 

Art der Falle 

Kokain- 

menge 

Art der Wirkung 

4 . 

Sehl. Keine Rigiditat, 
m&Bige Bewegungsar- 
mut. Mangel an Ini¬ 
tiative, Unlustgefuhl. 
Leichter Tremor bei 
intendierter Haltung 
der Hftnde. 

0,03 

Unlustgefuhl schwindet. Fiihle sich 
lustiger. „Bin eigentlich vollkommen 
frei von meiner Krankheit, von dem 
niederdriickenden Gefiihl, von dem 
Unruhegefiihl; ich ware imstande zu 
singen, so lebhaft fiihle ich mich, 
gerade das Gegenteil vom andern." — 
Redet viel, groBtes Wohlbehagen. 
Ware imstande, diegroBten Reden zu 
halten. Es sei einfach groBartig. 

Puls von 116 auf 140, Atmung tiefer. 
30 Min. nach der Injektion starker 
Tremor der Hftnde. 

s. 

Sehr. Rigiditat im 1. Arm, 
allgemeine Bewegungs- 
armut und Verlang- 
samung. Tremor der 
Hande gering l>ei In¬ 
tention. 

0,03 

Steigerung des Tremors. Zieht sich 
schneller an. Berichtet das selbst 
spontan. Pulsbeschleunigung. 

9. 

J. Allgemeine Rigiditat. 
Gang nur mil gebeug- 
ten Beinen. Bewe- 

gungsarmut. Geringer 
Tremor der Hande bei 
intendierter Haltung. 

0,04 

Starker Tremor der Hftnde und Beine. 
Die Spritze rege auf. Puls von 88 auf 
136. — Gang unverftndert schlecht. 

10. 

Mo. Allgemeine starke 
RigiditAt, 1. mehr wie 
r. Bewegungsarmut. 
Leichter Tremor der 
Hftnde. 

0,03 

Pulssteigerung von 92 auf 132. At¬ 
mung steigt bis auf 28.—Subjektives 
Wohlbehagen: „aufgeregter, Kopf- 
sclimerzen gehen weg“. Gang flotter, 
Rigiditftt in den Beinen etwas gerin¬ 
ger. Tremor im 1. Arm und Kopf 
stark zugenommen. Spiiter Pbelkeit. 
Puls etw'as weich. 

11. 

Mu. Allgemeine Bewe¬ 
gungsarmut mit sehr 
geringer Rigiditat. 

0,04 

Puls steigt vorubergehend von 60 
auf 80. sonst keine Wirkung. 

In 

7 Kontrollfallen (von 

Hysterie, Schizophrenic, Psychopathic, 


Alkoholismus) wurden Kokainmengen von 0,025—0,05 g injiziert. 
Wie aus den Tabellen ersichtlich, entwickelte sich in 6 von den amyosta- 
tischen Fallen neben den sonstigen Erscheinungen der Kokainwirkung, 
wie Pupillenerweiterung, beschleunigte Atmung und Pulsbeschleu- 
nigung, entweder als Verstarkung eines schon vorhandenen geringen 
Tremors oder ohne diesen, ein lebhafter, oft allgemeiner Schiit- 
teltremor, der im ganzen dem Kaltetremor glich. In einem Fall 
trat iiberhaupt keine deutliche Kokainwirkung in Erscheinung. Es ist 
anzunehmen, daB die Dosis von 0,04 g hier zu klein war. Der Versuch 
konnte aber, da es sich um einen schwilchlichen Patienten handelte, 


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182 


W. Runge: 


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nicht wiederholt werden. In cinem weiteren Fall H., der auch sonst 
nie Tremor zeigte und bereits oben kurz geschildert wurde, entwickelte 
sich bei 3 Versuchen, in denen die Kokaindosis auf 0,06 g gesteigert 
wurde, kein Tremor, auch in den rigiden Armen nicht, obwohl die 
Kokainwirkung hier sonst deutlich in Form von Pulsbeschleunigung, 
Beschleunigung und Vertiefung der Atmung, Pupillenerweiterung und 
gew'issen psychischen Erscheinungen zutage trat. Nur ein sonst auch 
vorhandenes geringes Zucken am rechten Mundwinkel wurde starker. 
Die eigenartige S})rache, die, wie erwfihnt, vielleicht auf einer Art In- 
tentionstremor der Sprachmuskulatur beruht, wairde scheinbar im ersten 
Versuch giinstig, in den weiteren Versuchen nicht beeinfluBt. Der 
Fall nimrat in vielem, wie spater erortert ward, eine Sonderstellung ein. 
— In den 7 Kontrollfallen trat trotz teilweise ausgesprochener Kokain- 
wirkung kein Tremor auf. Bei den amyostatischen Fallen zeigte 
nun das Kokain noch eine anderweitige Wirkung, welche an die- 
jenige erinnert, die Berger und neuerdings Becker bei manchen kata- 
tonischen Stuporen, Hinsen bei stuporosen Paralysen erzielten. Die 
Kranken machten unter der Kokainwirkung einen erheblich lebhafteren, 
energischeren, weniger schlaffen und willenlosen Eindruck, der ausge- 
sprochene Mangel an Spontaneitat schien erheblich gemindert. Will- 
kiirhandlungen und Bew'egungen gingen sichtlich flotter und schneller 
vonstatten: Sprechen, Gehen, Anziehen, Schreiben gelang leichter und 
schneller, wenn auch nicht in alien Fallen. Die Willensantriebe schienen 
haufiger als vorher, die Aktivitat erheblich verstarkt, die Dberwindung 
der Rigiditat, der motorischen Gebundenheit gelang leichter, die Be- 
wegungsarmut schien geringer. Daneben zeigten sich ausgesprochene 
Anderungen auf affektivem Gebiet: das zuweilen vorhandene intensive 
Unlustgefiihl schwand und machte einem ausgesprochenen Wohlbe- 
hagen Platz, wie der gebildete Kranke Nr. 6 (Student) besonders an- 
schaulich schilderte. Es sind das Wirkungen ahnlich denen die das Ko¬ 
kain auch sonst beim Menschen zu entfalten pflegt (Anrep, Mosso), 
die aber naturgemaB bei unsern starren, leblosen, bewegungsarmen 
Kranken besonders auffallend waren und von einigen von ihnen mit 
Freuden begri>Bt woirden. Bemerkenswert ist hier die Wirkung auf 
die Willkiirbewegungen. Diese traten bei einigen Versuchen mit 
Alkohol, der ja in psychischer Hinsicht anfangs eine ahnliche Wirkung 
wie das Kokain zeigt, nicht hervor. — Die Erfahrungen, die Berger mit 
dem Kokain an katatonisehen Stuporen machte, veranlaBte ihn, eine 
Steigening der materiellen Rindenvorgjinge durch dieses anzunehmen, 
withrend er die Erscheinungen des Stupors auf eine Herabsetzung der 
Rindenfunktion zuriickfiihren wollte. Auch in meinen Fallen konnte 
man die Wirkung des Kokains ahnlich wie Berger erklaren. Aber es 
muB neben der Wirkung des Kokains auf die Rinde doch wohl auch an 


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Beobachtungen beim ukinetisch-hypertonischen Syniptomenkomplex. 183 

eine solche auf die tiefer gelegenen Hirnteile, die zentralen Ganglien 
und ihre Umgebung, gedacht werden, zumal Kokain anch durch Er- 
regung der Zentren der Warmeregulation im Hypothalamus im Tier- 
versuch eine Temperatursteigerung bewirkt (Binz). Ferner kommt 
als dritte Wirkungsart des Kokains diejenige auf die Willkiir-Muskulatur 
selbst in Betracht. Alms hatte namlich bei Kaltbliitern eine Tonus- 
herabsetzung der Muskulatur, Liljestrand und Magnus hatten 
eine solche bei Warmblutern durch intramuskulare Injektion von 
Kokain beobachtet, und Frank und Laqua haben neuerdings dieselbe 
Wirkung durch subcutane Injektion erzielen konnen. Meyer und 
Weil er konnten die Muskelstarre beim chronischen Tetanus durch 
intramuskulare Injektion von 10—loccm einer 1 proz. Novokainlosung 
beseitigen, ohne daB eine Lahmung eintrat. Frank sah l>ei der gleichen 
MaBnahme die Rigiditat eines Muskels in einem Fall von Paralysis 
agitans voriibergehend schwinden. Ebenso konnte ich durch Injektion 
von 50 ccm einer 1 proz. Novokainlosung in den rigiden rechten Biceps 
eines Amyostatikers die Rigiditat sehr erheblich herabsetzen, ohne daB 
die Muskelfunktion sonst beeintrachtigt wurde. Frank und Katz 
fiihren die nach allem zweifelsfrei feststehende tonuslosende Eigenschaft 
des Kokains auf seine direkte Einwirkung auf die rezeptive Substanz 
des Muskels zuriick, was H. H. Meyer nicht anerkennen will, der eine 
Wirkung auf die motorischen Nervenendigungen im Muskel annimmt. 
Nach allem ist es also moglich, daB die zuweilen zu bemerkende geringe 
Herabsetzung der Rigiditat in meinen Fallen mit der direkten Wirkung 
des Kokains auf den Muskel zusammenhangt. Keinesfalls glaube ich 
aber, daB der Tremor durch die direkte Muskelwirkung und die tonus- 
losende Eigenschaft des Kokains erzeugt wird. Man kann namlich 
bei intramuskularer Injektion des Kokains feststellen, daB der Tonus 
zunachst nachlaBt, sich dagegen kein Zittern in dem als Versuchsobjekt 
benutzten Muskel einstellt, vielmehr erst nach einiger Zeit ein allgemeiner 
Schutteltremor einsetzt, und zwar wohl dann erst, wenn das Kokain re- 
sorbiert und in die Blutbahn gelangt ist. Wiirde das Kokain durch 
direkte Muskelwirkung den Tremor erzeugen, so miiBte sich dieser oder 
zum mindesten ein fibrillares Zucken zuerst in dem Muskel zeigen, 
in den es injiziert ist, wie man das z. B. einwanclfrei bei dem bei intra¬ 
muskularer Injektion von Physostigmin eintretenden andersartigen 
Zittern beobachten kann. Auch spricht gegen die direkte Wirkung 
auf den Muskel bei der Tremorerzeugung die Tatsache, daB der Kokain- 
tremor iiberall oder in den Teilen, die iiberhaupt von ihm befallen wer¬ 
den, gleichzeitig einsetzt. Alles deutet also darauf hin, daBder Tremor 
durch eine Einwirkung auf das zentrale Nervensystem zustande kom- 
men muB. Man wird nicht ohne weiteres entscheiden konnen, ob er 
durch die Erregung der Hirnrinde oder durch Einwirkung auf die zen- 


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184 


W. Runge: 


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tralen Gang lien oder andere subkortikale Regionen entsteht, da wir iiber- 
haupt iiber das Zustandekommen des Tremors in den amyostatischen 
Fallen noch nichts Sicheres wissen, obwohl verschiedene Theorien dar- 
iiber aufgestellt sind (Foerster: Der Tremor ist der Ausdnick einer 
infolge Pallidumausfalls gesteigerten Tatigkeit des cerebellaren Systems. 
('. u. O. Vogt: Tremor substriare [pallidare] Hyperkinese, Wilson: 
der die Rigiditat und den Tremor bedingende Apparat. ist aullerhalb des 
Striatums zu suchen, Tremor kommt bei Herden im Kleinhirn und 
Subthalamus vor, Jakob u. a. sahen Falle, wo Tremor ein Symptom 
des roten Kerns war usw.). Hervorzuheben ist noch, wie auch die Kon- 
trollfalle zeigen, daB Kokain sonst nicht Tremor erzeugt nur bei 
den amyostatischen Fallen (bei Vergiftungen sind Krampfe be- 
obachtet). 

Es gibt nun noch ein weiteres Mittel, das bei den amyostatischen 
Fallen starken Tremor erzeugt und das nur auf ein ganz bestimmtes 
System ohne Erregbarkeitssteigerung des gesamten Zentralnerven- 
systems wirkt: das Adrenalin. 

Adrenal intremor. 

Das Adrenalin entfaltet in gewisser Beziehung ahnliche Wirkungen 
wie das Kokain (Wirkung auf die Sympathikusendigungen des Dila¬ 
tator iridis, auf die Accelerantes) und steht in einem sog. synergischen 
Verhaltnis zu diesem, da manche Wirkung des Adrenalins durch sehr 
kleine, an sich unwirksame Kokaingaben erheblich verstarkt werden 
(Meyer und Gottlieb). In einer groBeren Anzahl von amyostatischen 
Fallen wurde nun Suprareninum hydrochloric, syntheticum subcutan 
injiziert. Die Wirkungen ergeben sich aus folgender Tabelle: 


Nr. 

Art der Falle 

Adrenalin- 

mongi? 

Art der Wirkung 

1. 

M. Geringe Rigiditat in 
den o. E., maBige in den 
u. E. Starke Bewe- 
gungsarmut. Tremor 

der Hande bei inten- 
dierter Haltung. 

0.001 

Blutdrucksteigerung v. llOauflSS 1 )- 
Pulsbeschleunigung v. 84 auf 02. 
Blasse, ca. 10 Min. anhaltender all- 
gemeiner Schiitteltremor. Sehr ge¬ 
ringe Glykosurie nach Stunden. 

2. 

Sclir. Geringe Rigiditat 
im 1. Bein. Ausge- 
sprochene Bewegungs- 
armut. Geringer Tre¬ 
mor der Hande bei in- 

0,001 

Blutdrucksteigerung v. 115 auf 138. 
Pulssteigerung v. 80 auf 116. Blasse. 
Starker Schiitteltremor der Hande, 
etwasgeringer der Beine, auch in Ruhe- 
haltung, ca. 40 Min. lang. Geringe 


tendierter Haltung. 


Glykosurie nach 1 l 2 Std. 


l ) Es ist der systologische mit dem Riva-Roccischen Apparat gemessene 
Blutdruck gemeint. 


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Beobachtungen beim akinetisch-hypertonischen Symptomenkomplex. 185 


Nr. 

Art der Falle 

Adrenalin- 
ro engc 

Art der Wirkung 

3. 

J. MaBige Rigiditat der 
Beine und des l. Arms. 
Ausgesprochene Bewe- 
gungsarmut. Geringer 
Tremor bei intendier- 
ter Haltung. 

0,001 

Blutdrucksteigerung v. 95 auf 125, 
Pulsbeschleunigung v. 96 auf 120. 
Starker allgemeiner Schiitteltremor. 
inkl. desKopfes, auch inRuhestellung. 
ca. 45 Min. anhaltend. Rigiditat un- 
verandert. Geringe und kurz an- 
haltende Glykosurie nach l x / 2 Std. 

4. 

Ho. Keine Rigiditat, hoch- 
gradige Bewegungsar- 
mut. Geringer Tremor 
derHandebei intendier- 
ter Haltung. 

0,001 

Keine Blutdrucksteigerung, keine Puls- 
anderung; lebhafter Tremor. Aus¬ 
gesprochene Glykosurie in den ersten 
3 Std. post Injection. 

5. 

Ho. nochmals. 

0,001 

Blutdrucksteigerung v. 110 auf 135, 
Pulssteigerung v. 68 auf 92. Tremor 
starker. Glykosurie. 

6. 

R. Starke Rigiditat der 
u. E., geringe der o. E. 
Bewegungsarmut. Tre¬ 
mor der u. ;E. auch in 
Ruhehaltung. 

0,001 

Blutdrucksteigerung v. 130 auf 142. 
Puls v. 108 auf 116. Starke, bald dar- 
auf wieder nachlassende Steigerung 
des Beintremors. Schwache Glyko¬ 
surie nach l*/ 2 u. 2 1, 2 Std. 

/ . 

M. Allgemeine starke Ri¬ 
giditat 1. mehr als r., 
leichter Ruhetremor 

des 1. Arms. 

0,0005 

Blutdrucksteigerung v. 110 auf 127. 
Puls v. 108 auf 116. Verstarkung des 
vorhandenen Tremors. Geringe Gly¬ 
kosurie nach H/g Std. 

8 . 

Ha. Allgemeine Rigidi¬ 
tat; ausgesprochene 

Bewegungsarmut; Tre¬ 
mor der Extremitaten 
bei intendierter Hal¬ 
tung. 

0,001 

Blutdrucksteigerung v. 120 auf 130. 
Puls v. 76 auf 96. Starker allgemeiner 
Tremor, ca. 13 Min. lang, keine Ver- 
stiirkung des Zungentremors. Nacli- 
lassen der Rigiditat, nachdem Tre¬ 
mor geringer, Klavierspielbewegun- 
gen der Finger wieder ca. 10 Min. lang 
moglich. Geringe Glykosurie nach 
2»/, Std. 

9. 

Jen. Geringe Rigiditat in 
den Armen, r. me wie 
1. Stereotype Haltung 
des r. Armes. Tremor 
der u. E. bei intendier¬ 
ter Haltung. 

0,001 

Blutdrucksteigerung v. 132 auf 150. 
Pulsbeschleunigung v. 72 auf 120. 
Ijebhafter Tremor der Extremitaten 
u. des Rumpfes, der Zunge u. Eider. 
Bei Nacldassen des Zittems Nach- 
lassen der Rigiditat, im r. Arm, etwa 
18 Min. anhaltend; Zwangshaltung 
des r. Armes unverandert. Keine 
Glykosurie. 

10. 

W. Nur geringer Tremor 
im 1. Arm u. Bein. 

0,001 

Blutdrucksteigerung v. 110 auf 145, 
Puls v. 88 auf 100. Ziemlich starker 
Tremor der Hande und der Beine, 
auch in Ruhe, ca. 30 Min. lang. Ge¬ 
ringe Glykosurie nach 5 Std. 


Aichiv f Ur Psychiatrie. Bd. 67. 13 


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186 


W. Runge: 


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Nr. 

Art der Falle 

Adrenailn- 

mcngo 

Art der Wirkung 

11. 

Bi. Nur geringer Tremor 
im 1. Bein u. Arm. 

0,001 

Blutdrucksteigerung v. 123 auf 142. 
Puls v. 72 auf 96. Starker Tremor 
des 1. Armes u. Beines, r. sehr geringer 
Tremor; ca. lOMin. lang in Intensitat 
wechselnd. Gh r kosurie nicht unter- 
sucht. 

12. 

B. Allgemeine Rigiditat 
in den u. E. mehr als 
o. E. Ausgesprochene 
Bewegungsarmut. Tre¬ 
mor der Hande bei in- 
tendierter Haltung. 

0 001 

Blfisse. Blutdrucksteigerung v. 9b 
auf 128. Allgemeiner Tremor. Keine 
Glykosurie, Untersuchung nur bis 
'2 1 ! 2 Std. nach der Injektion moglich. 

13. 

Br. MaBige Rigiditftt der 
o. E., 1. nienr wie r., 
stark im Nacken u. den 
u. E. Nur geringer 
Tremor im 1. Bein bei 
intendierter Haltung. 

0,00075 

Blutdrucksteigerung v. 110 auf 130. 
Pulssteigerung v. 68 auf 80. Starker 
allgemeiner Schiitteltremor, auch in 
der Ruhe. bes. im 1. Bein. Rigidit&t 
unverandert. MiiBige Glykosurie nach 
31/2 Std. 

14. 

H. Nur geringe Rigiditat 
im r. Arm. Allgemeine 
Bewegungsarmut. Ge¬ 
ringer Tremor des Kie¬ 
fers. 

0,001 

Blutdrucksteigerung v. 115 auf 130, 
Pulssteigerung v. 88 auf 100. MaBiger 
Tremor der Beine, kein Tremor der 
Arme. Nach H/j Std. sehr schwache 
u. kurz anhaltende Glykosurie. 

15. 

Paralysis agitans 

0,001 

Blutdrucksteigerung v. 125 auf 140, 
Puls v. 72 auf 108. Starker allge- 
meinerTremor, bes. 1., ca. 10 Min. lang. 
Minimale Glykosurie, 


Nicht amyostatische Falle. 


Nr. 

Art der Falle 

Adnimlin- 

mongp 

Art der Wirkung 

1 . 

ImbecillitAt u. anfalls- 
weiser hyster. Trenu r 

0.001 

Blutdrucksteigerung v. 125 auf 146. 
Pulssteigerung v. 64 auf 72. Geringer 
feinschliigiger Tremor der Extremi- 
taten. 

2. 

Enuresis 

0,0003 

Keine Blutdrucksteigerung, Puls¬ 
steigerung v. 76 auf 88. Minimaler 
feinschlagiger Tremor der Hande. 

3 . 

Katatonie 

0,001 

Blutdrucksteigerung v. 112 auf 120. 
Kurzer, schnell voriibergehender Kol- 
laps. Geringer feinschlagiger Tremor 
der Hande. 

4 . 

Psychopathic -j- Gebilitat 

0,0005 

Blutdrucksteigerung v. 100 auf 120. 
keine Pulssteigerung. Geringer fein¬ 
schlagiger Tremor der Extremitaten. 

5. 

Polyneuritis 

0,0005 

Blutdrucksenkung v. 107 auf 75, Puls- 
senkung v. 80 auf 60, ziemlich lebhaf- 
ter feinsehlagigerTremor derExtremi- 
taten. (Kurz vorher Schwitzprozc- 
dur!) 


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Beobachtungen beim akinetisch-hypertonischen Symptomenkomplex. 187 


Nr. 

Art der Falle 

Adrenalin- 

menge 

Art der Wirkung 

0 . 

Psyehopathie 

0,001 

Blutdrucksteigerung v. 112 auf 150. 
zieml. lebhafter feinschlagiger Tremor. 

7. 

Katatonie 

0,001 

Blutdrucksteigerung v. 110 auf 184, 
Pulssteigerung v. 72 auf 88. Geringer 
feinschlagiger Tremor der Extremi¬ 
taten. 

8 . . 

Katatonie 

0,001 

Blutdrucksteigerung v. 125 auf 133. 
Feinschlagiger Tremor der Hande und 
FiiBe. 

9. 

Imbecillitat 

0,001 

Blutdrucksteigerung v. 125 auf 140. 
Geringer feinschlagiger Tremor der 
Extremitaten. 


Es ergibt sich aus diesen Versuchen an 14 amyostatischen Fallen 
(inkl. eines Falles von Paralysis agitans), daB jedesmal kurze Zeit nach 
subcutaner Injektion von 3 / 4 —1 mg Suprareninum hydrochloric, neben 
den iiblichen Erscheinungen der Adrenalimvirkung (Blutdrucksteigerung. 
Vasokonstriktion, Glykosurie, Pulsbeschleunigung und Verstarkung des 
Pulsschlages) ein meist starker Schiitteltremor auftrat, der sich 
entweder auf die Extremitaten beschrankte oder allgemein wurde, und 
daB sich ein bereits vorhandener, meist nur bei statischer Intention 
deutlicher Tremor sehr lebhaft. verstarkte, so daB er jetzt auch in der 
Ruhehaltung vorhanden war. Dieser Tremor war stets grobschlagig 
und schw’ankte wahrend seines Vorhandenseins etwas in seiner Inten- 
sitat. Er ahnelte dem K&ltetremor, dem Kokaintremor und dem sonst 
in diesen Fallen vorhandenen Tremor durchaus, wenn er auch eine 
Steigerung des letzteren darstellt und genau wie der Kalte- und Ko¬ 
kaintremor etwas schnellschlagiger als dieser erschien. DaB es sich oft 
tatsachlich nur um eine Steigerung des vorhandenen Tremors han- 
delte, zeigt die Tatsache, daB der Adrenalintremor in den Korperteilen 
am starksten und grobschlagigsten war, die auch sonst allein Tremor 
zeigten oder in denen auch sonst ein starkerer Tremor als in den xibrigen 
Teilen vorhanden war. Das trat besonders in Fall 11 zutage, der sonst 
einen leichten Tremor der linken Korperseite hatte und nach der 
Injektion in dieser einen sehr starken Tremor, rechts 
dagegen nur einen sehr geringen z?igte, wie man ihn auch bei 
Normalen nach Adrenalin zu sehen bekommt. Bemerkenswert ist es, daB 
das starke Zittern auch in Fall 4 auftrat, in dem scheinbar eine Rigiditat 
fehlte, daB es in dem schon mehrfach envahnten Fall H. (13), bei dem 
auch kein Kokaintremor zu erzielen war, auch nach Adrenalin in den 
rigiden Armen fehlte, in den nicht rigiden Beinen in geringer Intensitat, 
etwa so wie bei Gesunden, vorhanden war. Kontrollinjektionen in 9 

13* 


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188 


W. Runge: 


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anderen Fallen ergahen, dab hei diesen nur ein feinschlagiger Tremor 
auftrat, der allerdings in den verschiedenen Fallen in seiner Intensitat 
wechselte, aber doch erheblich geringer als in den amyostatischen Fal¬ 
len war. Auf die geringe Intensitat des ,,physiologischen“ Adrenalin- 
tremors ist es wohl zuriickzufuhrcn. dab er vielfach gar nicht erwahnt 
wird. Erst nachdem mir der Adrenalintremor infolge seiner starken 
Intensitat bei amyostatischen Fallen aufgefallen war, fand ich, dab 
Frank ihn unter dem Namen Adrenalintremor bei Gesunden besehriel)en 
hat, dab er aueh von Biedl, ferner von Kastan in einem Vortrag kurz 
erwahnt wird. Bei amyostatischen Fallen scheint er noch nicht beobach- 
tet zu sein. Fa It a sah bei alteren Lenten mit Arteriosklerose nach 
Adrenalin ,,Schuttelfroste“ (s. Biedl). Die Erklarung des Adrenalin- 
tremors ist nicht einfach. Frank nimmt an, dab der physiologische 
Adrenalintremor auf einer Reizung peripherer Sympathikusendigungen 
im Muskel und einer sekundaren Steigerung der Erregbarkeit des Sarko- 
plasmas beruhe, dab die Erregung des Sympathikus die Zustandsbe- 
dingungen innerhalb der Muskelfasern so andere, dab rhythmische Fi¬ 
bril lenzuckungen die Folge sind. ,,Der Fibrillenapparat scheint (lurch 
die (lurch Adrenalin gesetzte Sarkoplasmaalteration zu einem rhvth- 
mischen Spiel von Tfitigkeit und Erschlaffung angetrieben.“ Der Fi¬ 
brillenapparat konne also auber vom motorischen Nerven auch durch 
den Sympathikus in Tatigkeit gesetzt werden. Es handle sich aber uni 
eine ,,tonogene‘‘ Fibrillenaktion. Den Adrenalintremor sah Frank 
besonders ausgesprochen, etwa so, wie er in den amyostatischen Fallen 
auftritt, bei starker Stigmatisierung im vegetativen System (z. B. dem 
Stat. asthmaticus). Eine Sympathikusinnervation des Skelettmuskels 
wird also von Frank vorausgesetzt. Sie wuTde bereits von Mosso, 
Sherrington, Boeke, de Boer auf Grund von Tierversuchen und 
anatomischen Untersuchungen am Muskel angenommen, ist aber mehr- 
fach angezweifelt worden, so von Beritoff und neuerdings von Spie¬ 
gel, der darauf hinweist, dab die sympathisch-accessorischen Nerven- 
fasern und Endplattchen, die Boeke im quergestreiften Muskel fand, 
nach dessen eignen Beobachtungen und den alteren Brehmers mit 
dem Nervenplexus, der die Blutgcfabe umspinnt, in Verbindung stehen, 
so dab der anatomische Nachweis der sympathischen Innervation der 
quergestreiften Muskelfaser selbst noch nicht einwandfrei erbracht 
zu sein scheint. Auch L. R. Muller auberte sich 1920 beziiglich dieser 
Innervation sehr skeptisch und wollte den Adrenalintremor durch Ein- 
flub dieses Mittels auf die V’orderhornganglienzcllen erklaren, auf dessen 
Tonus auch Stimmungen (Freude, Trauer), das Sekret der Schilddriise 
(cf. Basedowdremor) und die Innervationen wirken konnten, die der 
Warmeregulierung gelten. Die svmpathische Innervation der Skelett- 
muskeln ist also nach wie vor noch strittig. 


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Beobochtungen beim akinetisch-hypertonischen Symptomenkomplex. 189 


Die Gleichheit bzw. groBe Ahnlichkeit des Kaltetremors, des Kokain- 
und Adrenalintremors und des amyostatLsehen Zitterns lassen daran 
denken, daB alle diese Formen auf ahnliche Weise bzw. durch die glei- 
chen zentralen Apparate zustande kommen. Die Annahme Franks, 
daB der Adrenalintremor durch Wirkung des Mittels auf Sympathikus- 
endigungen ira Muskel entstehe, scheint niir aus verschiedenen Griinden 
nicht erwiesen. Wie beim Kokaintremor fallt es in unsern Fallen auf, 
daB der Adrenalintremor bei subcutaner Injektion des Mittels in alien 
den Teilen, in denen er sich iiberhaupt entwickelt, ziembch gleichzeitig 
auftritt, daB er ebenfalls in den Teilen am starksten war, in denen schon 
vorher ein leichter Tremor bestand, also z. B. halbseitig, daB, wie 4 Fiille 
zeigten, bei Injektion des Adrenalins in einen rigiden Muskel an Ort und 
Stelle kein Zucken oder Tremor auftritt, wahrend das doch bei einer 
Physostigmininjektion ohne weiteres festzustellen ist, daB der Tremor 
vielmehr nach einiger Zeit gleich allgemein auftritt, offenbar dann, 
wenn das Adrenalin von der Injektionsstelle aus resorbiert ist. Es 
wurde ferner folgender Versuch gemacht: in 4 Fallen (3 Katatoniker, 

1 Amyostatiker) wurde die Blutzufuhr zu dem einen Arm durch Um- 
rvchnurung der oberen Halfte des Obera^ms mit der Armmanschette des 
Riva-Rocci-Apparates bis zur volligen Pulslosigkeit unterbroehen, 
wahrend die Motilitat erhalten blieb, dann in den andern Arm 0,001 
Adrenalin injiziert und nun die Entwicklung des Tremors beobachtet. 
In alien 4 Fallen entwickelte sich dieser in beiden Armen gleichzeitig 
und gleichmaBig, dabei schien es sich in dem abgebundenen Arm nicht 
etwa uin einen von der Schultermuskulatur auf dem Arm mechanisch 
iibertragenen Tremor zu handeln, sondern verschiedentlich konnte kon- 
statiert werden, daB auch die Finger fur sich zitterten. Daraus wiirde 
sich ergeben, daB der Tremor nicht durch periphere Wirkung des Adrena¬ 
lins auf die Sympathikusendigungen entstehen kann, da der Weg, auf 
dem wohl sicher das Adrenalin zu diesen Endigungen gelangt, die Blut- 
bahn in dem abgeschniirten Arm unterbroehen war und dieser Arm doch 
genau wie der andere in Zittern geriet. Dieses Zittern kann also nur auf 
dem Wege der peripherischen Nerven zustande kommen, deren Leitungs- 
fahigkeit nicht unterbroehen war. Zuweilen schien allerdings der Tremor 
im abgeschniirten Arm etwas geringer, nach Losung der Armmanschette 
voriibergehend etwas starker als im andern zu werden, jedoch lieB sich 
das nicht immer konstatieren. Es ist daher moglich, daB die Aktions- 
fahigkeit der Muskelfasern in dem abgeschniirten Arm doch etwas durch 
die sich entwickelnde Kohlensaureiiberladung des Blutes gestort und 
nach Losung der Abschniirung besser wurde. Nach diesem Ergebnis 
muB mit Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daB der Tremor 
durch eine zentrale Wirkung entsteht. Die Gleichheit und Ahnlichkeit 
dieses Tremors mit dem sonst in amyostatischen Fallen auftretenden 


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W. Runge: 


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190 

Tremor laBt wie gesagt vielleicht vermuten, daB das Adrenalin an der 
Stelle angreift, von der aus auch sonst der amyostatische Tremor er¬ 
zeugt wird. Da das Adrenalin eine spezifische Wirkung auf den Sym- 
pathikus entfaltet, muB man an eine Wirkung auf die Zentren dieses 
im Hypothalamus denken. DaB es etwa am Grenzstrang selbst angreift, 
bzw. von dort aus den Tremor erzeugt, scheint mir wegen der Obereili¬ 
st i miming der Verbreitung dcs Adrenalintremors mit der des amyosta- 
tischen Tremors, dem halbseitig starkeren Auftreten beider in gewissen 
Fallen nicht wahrscheinlich. Derselbe Gnind scheint mir gegen die 
Annahme L. R. Mullers, daB das Adrenalin auf den Tonus der Vorder- 
hornganglienzellen im Riickenmark einwirkt, zu sprechen. — DaB der 
Adrenalintremor etwa durch die erregende Wirkung auf die Endigungen 
der Vasokonstriktoren in den MuskelgefaBen und eine dadurch bedingte 
Anderung der Blutzirkulation im Muskel erzeugt. wird, erscheint mir 
ebenfalls aus den genannten Griinden des gleichzeitigen Auftretens 
des Tremors in alien Muskeln bei Injektion in einen Muskel, der Ver- 
teilung desTremors sowie dcs Auftretens des Tremors trotzUnterbindung 
der Blutzufuhr unwahrscheinlich, auch brachte eine wenigstens partielle 
Anamisierung der Muskeln durch Umschniirung eines stark zitternden 
Armes bei einem schweren Fall von encephalitisch-amyostatischem 
Symptomenkomplex mit einer Gummibinde keine Anderung des Zitterns. 
Ferner ist davon, daB in durch arterielle Ischamie (nach Thrombose oder 
Esmarchscher Blutleere) geschadigten Muskeln Zittern auftritt, nichts 
bekannt. — SchlieBlich k&me noch inFrage, ob etwa eine durch indirekte, 
auf dem Wege des Sympathikus erfolgende Einwirkung des Adrenalins 
erzeugte Tonusanderung in der Muskulatur, eine Zustandsanderung 
in der Muskelfaser, wie es etwa Frank meint, das Zittern hervorruft 
oder verstarkt, was dann evtl. auch fur das Kokain mit seiner tonus- 
andernden WirkungGeltung haben konnte. Bei direkter Injektion in einen 
rigiden Muskel entfaltet das Adrenalin zweifellos gewisse Wirkungen, und 
zwar konnte ich in 2 Versuchen eine geringe Herabsetzung derRigiditat 
sowie eine Herabsetzung der elektrischen Erregbarkeit feststellen. Auch 
Foerster fand eine solche Herabsetzung ,,der Erregbarkeit des Sperr- 
apparats“ der Muskeln. Aber es entsteht nach Adrenalin ein Tremor 
in diesen Muskeln nicht unmittelbar, sondern erst, wenn er auch in 
den iibrigen Muskeln auftritt, was dagegen spricht, daB die Tonusande¬ 
rung allein das Zittern erzeugt . Bei subcutaner Injektion von Adrenalin 
konnte ebenfalls zuweilen ein geringer NachlaB der Rigiditat festgestellt 
werden, aber erst dann, wenn der durch das Adrenalin erzeugte Tremor 
wieder nachlieB. Letzteres scheint ebenfalls darauf hinzuweisen, daB 
der Tremor nicht durch die offenbar erst spater einsetzende Tonus¬ 
anderung zustande komruen kann Es bleibt also schlieBlich nur die 
Annahme iibrig, daB das Adrenalin bei der Tremorerzengung 


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Beobachtungen beira akinetisch-liypertonischen Symptomenkomplex. 191 

wahrscheinlich auf die Syrapathikuszentren im Hypothala¬ 
mus einwirkt. DaB die Driiseninkrete iiberhaupt neben ihrer peri- 
pheren Wirkung Angriffspunkte in den vegetativen Zentren im Him 
und Ruckenmark gewinnen, halt auch Schaeffer fiir wahrscheinlich. 
Bemerkenswert ist es nun, daB das ebenfalls Tremor erzeugende Kokain 
und das Adrenalin .(Eppinger, Falta und Rudinger) neben den 
oben geschilderten gemeinsaraen Wirkungen auf gewisse Sympathikus- 
endigungen eine Temperaturerhohung, und zwar wahrscheinlich durch 
Erregung im Gebiet des sympathischen Nervensystems, erzeugen, dem 
ja wahrscheinlich auch die thermogenetischen Zentren im Hypothalamus 
angehoren (Meyer-Gottlieb). Ob diese Zentren direkt in Erregung 
versetzt werden oder ob die Temperatursteigerung durch Reizung der 
}>eripheren Endigungen des Sympathikus zustande kommt, ist noch nicht 
geklart. Im Hinbhck aber auf die vorwiegend zentrale Wirkung des 
Kokains und die elektive Wirkung des ebenfalls Fieber erzeugenden 
Tetrahydronaphtylamins auf die Sympathikuszentren kann wohl eher 
an eine direkte Erregung dieser Zentren gedacht werden, was wiederum 
mit der vermuteten Reizung dieser beim Zustandekommen des Tremors 
in gewissem Einklang stehen wiirde. — Es lagnahe, noch andere Mittel, 
die sympathikuserregend und gleichzeitig temperaturerhohend wirken. 
in den amyostatischen Fallen auf ihre Fahigkeit, Zittern zu erzeugen, 
zu priifen. Zu diesen Mitteln gehort das Coffein (Binz u. a.). Mehrere 
Versuche an einem Kranken mit subcutaner lnjektion von Dosen bis 
zu 1,0 Coffein natr. benz. ergaben keine sicheren Resultate. Die Tem- 
]X*ratur stieg auch danach nicht an, die Dosen schienen zu klein. Hohere 
wagte ich mit Riicksicht auf den Kranken nicht anzuwenden. Voriiber- 
gehend schien eine geringe Steigerung des Tremors einzusetzen, jedoch 
schien sie mir zu klein, um Bestimmtes daraus zu schlieBen. Bemerkens¬ 
wert ist es aber, daB gelegentlich bei Coffeinvergiftungen heftiges Zit¬ 
tern der Extremitaten, krampfartige Empfindungen in manchen Muskel- 
gebieten, sowie bei Tierversuchen am Kalt- und Warmbliiter Starre der 
Muskeln und Verkiirzung, bei geringgradigen Vergiftungen erhohte 
Fahigkeit des Muskels, sich auf einen Reiz zu kontrahieren, beobachtet 
sind (Meyer-Gottlieb, Binz, Riesser), wobei allerdings zu be- 
merken ist, daB die letzten genannten Wirkungen durch direkten Ein- 
fluB auf den Muskel zustande kommen. Immerhin finden sich auch hier 
beziiglich der Tremorerzeugung gewisse Analogien zu der Kokain- und 
Adrenalinwirkung. Da das Coffein ebenso wie das Kokain nicht elektiv 
auf das Warmezentrum, sondern auch auf das iibrige Zentralnerven- 
svstem wirkt, laBt sich jedoch nicht sagen, ob gerade die letztere Wirkung 
mit der Zittererzeugung in Zusammenhang steht. Immerhin ist es auf- 
fallend, daB alle diese auch erregend auf das Warmezentrum wirken- 
den Mittel teils beim Amyostatiker Zittern erzeugen, teils auch bei Ge- 


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192 


W. Runge: 


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sunden, wenn auch hier zuweilen nur bei schweren Vergiftungen. Sehr 
erwiinscht ware ein Versuch mit dem elektiv die Sympathikuszentren 
angreifenden und ebenfalls tempera turerhohend wirkenden Tetra- 
hydronaphtylamin bei den amyostatischen Fallen gewesen. Wegen der 
Gefahrlichkeit des Mittels konnten aber solche Versuche nicht durch- 
gefiihrt werden. 

Ob nun das Adrenalin direkt cxler indirekt die Sympathikus- 
zentren beeinfluBt, laBt sich aus den vorliegenden Versuchen nicht 
schlieBen. Es ware aber moglich, daB die durch Adrenalin bedingte 
Vasokonstriktion und Anderung der Blutversorgung die Zentren, die 
beim Zustandekommcn des Tremors mitwirken, in einen Errcgungs- 
zustand versetzen, was auch Biedl bei der Adrenalinwirkung fiir die 
Vasomotorenzentren annimmt. Dann ware der Kokaintremor nur durch 
eine allgemeine Erregung des Zentralnervensystems zu erklaren, da 
eine Vasokonstriktion beim Kokain nicht erfolgt, aber in den amyosta¬ 
tischen Fallen doch Tremor entsteht. Auch wiirde dann die von E. 
Frank angenommene Analogic des Adrenalintremors mit dem Basedow- 
tremor hinfallig werden, denn bei der Basedowschen Kranklieit kommt 
eine Vasokonstriktion kaum in Betracht. Da aber auch bei der Basedow¬ 
schen Krankheit eine Steigerung des Sympathikustonus vorliegt, ware 
es gezwungen, den sowohl in diesen Fallen wie den als Folge der sym- 
pathikuserregenden Adrenalinwirkung auftretenden Tremor verschie- 
den zu erklaren. Am nachsten liegt daher immer noch die Annahme 
einer direkten Erregung der Sympathikuszentren durch das Adrenalin, 
die dann direkt oder indirekt den Tremor erzeugt bzw.ihn in den amyosta¬ 
tischen Fallen steigert. Man muB sich also damit begniigen, zu 
sagen, daB eine Reihe von Giften, die neben verschieden- 
artigen sonstigen Wirkungen auf das Nervensystem die 
eine gemeinsam haben, daB sie vielleicht durch Erregung 
der Sympathikuszentren im Zwischenhirn temperatur- 
steigernd wirken, in den amyostatischen Fallen den schon 
vorher vorhandenen Tremor stark steigern oder einen 
Tremor erzeugen, der dem sonstigen amyostatischen Tre¬ 
mor und Kaltetremor gleicht, bzw. einen hoheren Grad 
desselben darstcllt, und daB es nahe liegt, die beiden ge- 
meinsamen Wirkungsarten dieser Gifte in Zusammenhang 
zu bringen und zu vermuten, daB der Tremor bzw. die 
Steigerung des vorhandenen Tremors ebenfalls direkt 
oder indirekt mit einer Erregung der Sympathikuszentren 
in irgendeincm Zusammenhang steht. 1st dieses richtig, 
dann lage weiter auch die Vermutung nahe, daB vielleicht 
der amyostatisehe Tremor direkt oder indirekt irgendwie 
mit einer Erregbarkeitssteigerung der Sympathikuszen- 


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Beobachtungen l>eim akinetisch-hvpertonisehen Symptomenkomplex. 193 

tren im Hypothalamus zusammenhangt. Dabei ist zu er- 
wahnen, daB nach Isenschmid auch das Kaltezittern beirn Kaninchen 
irgendwie von den vegetativen Zentren im Zwischenhirn abhangig sein 
niuB, da es fehlt, wenn eine Verletzung des Zwischenhirns die Warme- 
regulation aufhebt (auch wenn keine Lahmung vorhanden ist) und da 
das Zittern l>ei unvollstandiger Verletzung des Zwischenhirns ohne 
Aufhebung der Warmeregulation sehr haufig ist. Diese Beobachtungen 
und jene bei den amyostatischen Fallen legen uns den Gedanken nahe, 
daB das amyostatische Zittern vielleicht etwas Ahnliches ist wie das 
Kaltezittern, bzw. (lurch Storungen in jenen Apparaten zustande 
kommt, die das Kaltezittern erzeugen. NaturgemaB kann es sich 
hierbei nur uni eine Vermutung, keine irgendwie fest begriindete An- 
nahme handeln. 

Die erwahnten Untcrsuchungsergebnisse stehen nun offenbar, wie 
es zunachst scheint, mit von Frank geauBerten Anschauungen in ge- 
wissem Widerspruch. Letzterer faBt die vasomotorisch-sekretorischen, 
wie die motorischen Erscheinungen liei der Paralysis agitans als Sym¬ 
ptom einer Reizung im kranialautonomen parasympathi- 
schen System auf. Er nimmt eine parasympathische Innervation 
der Skelettmuskeln neben einer spinalen und sympathischen an und 
stiitzt seine Auffassung von dem Wesen der Rigiditat und dem Zittern 
der Paralysis agitans auf gewisse Analogien, die diese mit der den Para- 
sympathikus erregenden Physostigminwirkung haben. Nach Tier- 
versuchen von Harnack und Witkowski, Heubner, Schweder 
wirkt das Physostigmin tonussteigernd auf die Skelettmuskulatur. 
Frank und Nothmann fanden nach Injektion von Physostigmin bei 
einem Kranken mit Paralysis agitans eine Steigerung der Rigiditat 
der Kniestrecker. Sie stellten ferner fest, daB das die Rigiditat und den 
Tremor der Paralysis agitans herabsetzende Skopolamin die ent- 
sprechenden Erscheinungen der Physostigminwirkung zum Schwinden 
bringt, indem es peripher angreifend ,,eine Blockierung nervoser para- 
sympathischer Impulse im Endorgan” bewirke. Frank stiitzt sich 
ferner darauf, daB Adrenalin den durch Physostigmin beim Hund her- 
vorgerufenen unbeholfenen Gang sowie die ZitterstoBe beseitigt und zur 
Losung der Physostigminkontraktur beim Menschen fiihrt, ebenso wie 
es einen NachlaB der Rigiditat bei den amyostatischen Fallen veranlaBt. 
Er verweist weiter darauf, daB Novokain in beiden Fallen intramuskular 
gegeben in gleicher Weise wirkt. Wie oben erwiihnt, konnte ich die 
gleiche Wirkung des Novokains bei intramuskularer Injektion in einem 
meiner Falle feststellen. Alle diese Beobachtungen veranlassen Frank 
zur Annahme, daB man es bei der Paralysis agitans in der Hauptsache 
wahrscheinlich mit einer iibermaBigen Tatigkeit des Tonus,substrates, 
des Sarkoplasmas zu tun habe, daB bei Wegfall des Linsenkerns, in 


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194 


W. Runge: 


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dem die oberste Instant des Parasympathikus zu suchen sei, bzw. der 
Ziigel, die vom Linsenkern durch die Ansa lenticularis zu den Einzel- 
zentren des Hypothalamus fuhren, das Bild der Paralysis agitans, „ein 
ins UbermaB verzerrtes Abbild des vitalen Tonus“ entstehe. Dieser 
Auffassung widersprechen nun zum Teil die hier angefiihrten Beobach- 
tungen. Ich konnte mich ferner durch eigene Versuche iiberzeugen, daB 
das Zittern undZucken, das bei intramuskularer Physostigmininjektion. 
also cinem parasympathisch-erregenden Mittel, auftritt, eigentlich dem 
V>ei der Paralysis agitans und in meinen Fallen recht wenig ahnlich sieht. 

Es wurden 2 amyostatischen Kranken 3 mg Physostigm. salicyl. in den 
Biceps bzw. Brachioradialis injiziert. Darauf entwickelte sich in einem 
Fall sehr stark, im andren schwach ein fibrillares Zucken und Vibrieren 
in den betr. Muskeln, das nicht dem Zittern in den erwahnten Fallen 
gleicht, sondern eher dem fibrillaren Zucken atrophischer Muskeln bei 
spinalen Erkrankungen. Entfernt erimierte es auch vielleicht an das 
fibrillare Zucken im Beginn des Frierens. Nach Frank sollen sich bei 
Erhohung der Dosis unregelm&Bige ZitterstoBe ganzer Muskeln und 
Muskelgruppen an dieses lokale fascikulare Zucken anschlieBen. Wenn 
auch in meinen amyostatischen Fallen die Intensitat des Tremors 
schwankte, so zeigte derselbe doch keineswegs die von Frank geschil- • 
derte UnregelmaBigkeit des Phvsostigmintremors und noch weniger 
zeigt sie der Tremor bei der Paralysis agitans. Es handelt sich hier 
nicht um ZitterstoBe, sondern ein kontinuierliches Zittern, das weit 
mehr starkerem Kaltetremor und Adrenalintremor trotz deren in nor- 
nalen Fallen vorhandenen Schnellschlagigkeit und Feinschlagigkeit 
gleicht und das wie gesagt auch durch das Adrenalin erheblich ver- 
starkt wird, sogar bei der echten Paralysis agitans. Das scheint dafvir 
zu sprechen, daB offenbar zum mindesten nicht der Parasympathikus 
allein, sondern auch die Sympathikuscentren direkt oder indirekt bei 
Entstehung des amyostatischen Tremors irgendwie beteiligt' ist. Aber 
weitere Beobachtungen zeigen, daB auch auf den Parasympathikus 
wirkende Gifte den Tremor beeinflussen. Zu erwahnen ist hier die Wir- 
kung des parasympathikus-lahmenden Atropins in unsern Fallen, 
rlie der bekannten Skopolaminwirkung nahesteht. Diesbeziigliche Ver¬ 
suche mit subcutanen Atropininjektionen ergaben zwar zunachst keine 
einwandfreien Resultate. In einem Fall lieB der heftige Schiitteltremor 
der Beine auf 1 / 2 mg Atropin. sulf. subcutan nach 14 Min. nach, um 
nach 51 Min. wieder starker zu werden. Bei einem zweiten Versuch 
blieb die doppelte Dosis 1 mg Atropin in gleichem Falle vollig unwirk- 
sam. Es muB sich also beim ersten V T ersuch vielleicht um spontane 
Intensitatsschwankungen des Tremors gehandelt haben. In einem 2. 
Fall wurde der Tremor auf y., mg Atropin nach 20 Minuten geringer. 
in einem 3. und 4. Fall auf 3 / 4 mg nicht, obwohl grade hier die sonstigen 


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Beobachtungen beim akinetisch-hypertonischen Symptomenkomplex. 195 

Atropinwirkungen (Pulsbeschleunigung, Sistieren der Speichelsekretion) 
sehr ausgesprochen waren. Sicheres kann also aus diesen ersten Ver- 
suchen nicht geschlossen werden. Dagegen lieB sich zuweilen bei innerer 
Darreichung von 3—4 mg Atropin pro die neben der sehr wirksamen 
Unterdriickung der oft sehr starken Speichelsekretion ein gewisser 
XachlaB des Zitterns und der Rigiditat nachweisen. In einem Fall war 
wahrend der Atropindarreichung kein Zittern festzustellen, trat aber 
bei vorubergehendem Aussetzen des Mittels wieder auf. In einem an- 
deren Fall hatte sich in den letzten Monaten, wie schon oben erwahnt, 
ein heftiger, aber zunachst nur zeitweilig auftretender, dann dauernd 
vorhandener Schiittel-Waokeltremor des rechten Arms entwickelt, der 
auf innerliche Atropindarreichung (bis 4 mg pro die) mit dem sehr 
starken SpeichelfluB und mit Besserung der Starre und Bewegungs- 
armut vbllig schwand, um bei zweimaligem Aussetzen des Mit tels wieder- 
zukehren. Nach langerer Darreichung gelang aber hier wie im ersten 
Fall die Beseitigung des Zitterns nicht mehr vollig mit den gewohnlichen 
Dosen, es war, als wenn eine gewisse Gew'bhnung an das Mittel eintrat 
und dies dann unwirksamer wurde. Diese Beseitigung des Zitterns 
durch Atropin, die friiher auch schon bei der Paralysis agitans beobachtet 
wurde, scheint nun in einem gewissen Widerspruch mit der Erfahrung 
zu stehen, daB der Tremor durch das sympathikuserregende Adrenalin 
gesteigert wird. Im Hinblick auf die an anderen Organen zutage 
tretende antagonistische Sympathikus- und Parasympathikuswirkung, 
die Steigerung der Erregbarkeit des einen bei Hemmung der des anderen, 
miiBte vorausgesetzt werden, daB das parasympathikuslahmende Atro¬ 
pin den Tremor eher steigert als herabsetzt, wenn sympathikuserregende 
Mittel ihn ebenfalls steigern. Eine befriedigende Erklarung fur das ent- 
gegengesetzte Verhalten ist nicht zu geben. Man konnte aber eine solche 
nach zweierlei Richtungen hin versuchen: Einerseits konnte man an- 
nehmen, daB die Verhaltnisse bei der vegetativen Innervation des Will- 
kiirmuskels anders wie in den anderen sicher sympathisch-parasym- 
pathisch innervierten Organen liegen, daB vielleicht eine strenge Diffe- 
renzierung sympathischer und parasympathischer Nervenendigungen 
im Muskel nicht vorliegt. Eine Erfahrung von Riesser und Neu- 
schloB wiirde vielleicht zugunsten dieser Auffassung anzufuhren sein. 
Diese konnten nitmlich bisher nicht feststellen, daB Adrenalin als sym- 
pathisch erregendes Gift beim Tierversuch im Muskel selbst antagoni- 
stisch zum parasympathikuserregenden Acetylcholin, das eine Muskel- 
kontraktur erzeugt, tvirkt, was gefordert werden muBte, wenn tatsach- 
lich eine antagonistisch wirkende Sympathikus-Parasympathikusinner- 
vation des Willktirmuskels vorliegt. Verwiesen sei hier auch auf die 
Auffassung H.H. Meyers, der eine solche Innervation fur den Muskel 
ausschlieBen und stattdessen ein besonderes Tonussystem fur diesen 


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196 


W. Runge: 


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annehmen will. Andererseits aber spree hen doch wieder andere Momente 
gegen eine solche Auffassuug und eher dafiir, dali Sympathikus und 
Parasympathikus bei der Entstehung der Spaimungsanomalien unserer 
Falle irgendeine Rolle spielen. Abgesehen von den zahlreichen Ver- 
suchen de Boers, von den allerdings von Spiegel in ihrerDeutung an- 
gefoehtenen anatomischen Befunden Boekes, die fur eine sympathische 
Innervation der Muskeln sprechen, ware fiir die Wirksamkeit der vege- 
tativen Nerven bei der Entstehung der Spaimungsanomalien und zur 
Erklarung olx*n genannter Widerspriiche noch folgendes anzufiihren: 
Die sonst an den Erfolgsorganen zu beobachtende, sich kombinierende 
Wirkung sympathikuserregender und parasympathikuslahmender Mit- 
tel diirfte bei subcutaner Injektion am Muskel vielleicht deshalb nieht 
zu erwarten sein, weil das Adrenalin, wie gezeigt, offenbar zunachst 
zentral, das Atropin aber wahrscheinlich, besonders nach den Versuchen 
von Riesser und Neuschloss und den Feststellungen Schaeffers 
bei der sogenanntenTiegelschen Kontraktur, direkt am Muskel angreift. 
Kommt es schlieBlich zu einer direkten Adrenalinwirkung auf den Mus¬ 
kel in unsern Fallen, so zeigt sich auch die erwartete, die Atropin wirkung 
fordernde, tonusherabsetzende Wirkung des Adrenalins, wie von Frank 
und Foerster beobachtet wurde und ich ebenfalls in den akinetisch- 
hypertonischen Fallen sah. Die Versuche von Riesser und Neuschloss 
machen es wahrscheinlich, daB das Atropin entweder an der rezeptiven 
Substanz des Muskels oder am Sarkoplasma selbst angreift und dieses 
kontraktionsunfahig macht. Bei der Atropinwirkung in unsern akine- 
tisch-hypertonischen Fallen diirfte etwas Abnliches anzunehmen sein. 
Dafiir, daB nun das Atropin auch wahrscheinlich im Muskel eine Wirkung 
entfaltet, die einer Wirkung auf parasympathische Nervenendigungen 
analog zu sein scheint, spricht die ebenfalls wieder von Riesser und 
Neuschloss gefundene Tatsache, dab es ebenso wie auf die Rigiditat 
in unseren Fallen auf die durch das parasympathikuserregende Acety- 
cholinhervorgerufene Kontraktur losend wirkt und dafi es nach Schaef¬ 
fer auf die durch parasympathikuserregend wirkendeMittel zu steigernde 
Tiegelsche Kontraktur auf gleiche Weise wirkt. Der Schlull liegt 
also nahe.daft die Rigiditat mit einer Parasympathikuserregung in irgend- 
einem ursachlichen Zusammenhang steht. Ein absolut sicherer Beweis 
dafiir kann bisher nicht erbracht werden. 

Wenn man nach den Untersuchungsergebnissen in unseren Fallen 
eine Stbrung oder Erregbarkeitssteigerung der Sympathikuszent-ren 
annehmen will, so weiB man noch nicht, ob diese durch direkte Wirkung 
iiber den Sympathikus selbst oder auf Umwegen iiber andere zentrale 
Apparate und die motorischen Haupt- oder Nebenbahnen und Nerven 
bei Entstehung des Zitterns mitwirkt. Vielleicht kommt aber eher das 
letztere in Betraeht, weil eine direkte Sympathikuswirkung auf den 


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JBeobachtungen beim akinetiseh-hvpertonischen Nymptoinenkomplex. 197 


Muskel, wcnn es eine solche gabe, andere Erscheinungen hervor- 
mfcn ruuBte, wie die intramuskularen Adrenalininjektionen zeigen, 
und weil es sich offenbar bei dem Tremor urn eine Aktion der Fi- 
brillen, nicht des Sarkoplasmas, des Tonussubstrates handelt, denn 
jedes Zittern ist mit oscillatorischen Aktionsstromen von tetanischem 
C'harakter verbunden, wie bereits Bornstein und Saenger u. a. nach- 
gewiesen haben; auch zeigt das Auftreten des Zitterns in manchen Fal¬ 
len nur bei willkiirlicher Anspannung der Muskeln sowie die Moglich- 
keit der temporaren willkiirlichen Unterdriickung und Herabminderung 
des Zitterns in unsern Fallen, daB cortico-spinale Einfliisse auf Tremor 
einwirken konnen, wenn auch nur bis zu einem gewissen Grade. Dali 
beim Zustandekommen des also als Fibrillenaktion aufgefaBten Zitterns 
eine Tonusanomalie des Sarkoplasmas begiinstigend wirkt, ist im Hin- 
blick auf unsere Falle wohl denkbar, ohne dali man dabei anzunehmen 
braucht, dali diese wieder dureh Sympathikuswirkung selbst zustande 
kommt. Auf ihre wahrscheinlich parasympathische Entstehung wurde 
oben hingewiesen. Das Schwinden des Zitterns auf Atropin konnte bei 
diesen Voraussetzungen sehr wohl auf die Beseitigung bzw. Minderung 
der Tonusanomalie im Sarkoplasma zuruckgefiihrt werden. Die trotz 
der Atropinzufuhr deutlich vorhandene Neigung des Zitterns unter ge¬ 
wissen Umstanden, z.B. psychischen Erregungen, voriibergehend wieder 
in Erscheinung zu treten, deutet aber vielleicht darauf hin, dali die 
Tonusanomalie nicht die alleinige Ursache des Zitterns sein kann. Vor- 
aussetzung ware fxir die Annahme der Begiinstigung des Zitterns dureh 
die Tonusanomalie eine ja auch durchaus wahrscheinliche gegenseitige 
enge Abhangigkeit und BeeinfluBbarkeit des Sarkoplasmus und der 
Fibrillen voneinander und untereinander. 

Wie dem auch sei: jedenfalls sprechen die Versuchsergebnisse fiir 
eine Mitbeteiligung des vegetativen Nervensystems beim Zustande¬ 
kommen der Tonusanomalie und des Tremors in den akinetisch- 
hypertonischen Fallen. DaB das nicht nur fiir diese, sondern auch 
fiir die Paralysis agitans gilt, zeigt die Wirksamkeit des Adrenalins 
und Atropins auch auf das Zittern und die Rigiditat bei dieser Krank- 
heit. 

Im Hinblick auf die vielleicht vorhandenen Beziehungen zwischen 
Sympathikuszentren und Tremor ist nun der mehrfach bereits erwahnte 
und in mancherlei Hinsicht aus dem Rahmen der iibrigen herausfallende 
Fall H. bemerkenswert: 

20 j. Landarbeiter. V’orgeschichte o. B. Juli 1918 Grippe. Mai 1920 Kopfschmer- 
zen. angeblich Rotung und Schwellnng des Gesichts. Dann teilnahmslos, auffallend 
lang8am, schlafsiichtig, Doppelsehen. Voriibergehend Zuckungen in d. Extremi- 
taten und im Gesicht, iiber die nichts Naheres zu erfahren ist. August 1920 in der 
med. Klinik Sehlafsueht, Akkomodationsparese. Flexibilitas cerea. ,,Befehlsauto- 


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198 


W. Runge: 


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matie", Liquor o. B. Voriibergehend einige Tage Pulsverlangsamung und cerebrates 
Erbrechen. Liquor-Druck bis 250 mru. Oktober 1920 leichte Facialis parese links. 
Akkommodationsparese, Rect.-intern.-parese links. Verengerung der linken Lid- 
spalte und Pupille, horizontaler Nystagmus, 7. IT. 1921 Linke Lidspalte und Pupille 
enger als rechte. Rect.-intern.-parese rechts; auch links wegen ungenauer An- 
gaben durch Doppelbilder nicht naher feststellbare sonstige paretische Erschei- 
nungen im Oculomotoriusgebiet. Maskenartige Starre des Gesichts. Leichte Rigi¬ 
ditat der in Beugehaltung befindlichen Arme, bes. ira rechten. Pendelbewegungen 
der Arme beim Gehen gering, links rnchr als r. Ausgesprochne Bewegungsarmut 
und Bewegungsverlangsamung. Auffallende Sprachstorung: Fangt Satze an. 
ohne sie zu Ende zu fiihren. Bleibt mitten drin stecken und brummt dann die letzte 
Silbe weiter, ohne dariiber wegzukommen. Beine konnen schnell bewegt werden, 
kann schnell laufen, springen, tanzen, geht aber im allgemeinen langsam, bedachtig, 
zuweilen kataleptisches Stehenbleiben, keine Rigiditat der Beinmuskulatur. Pseudo- 
katalepsie sehr ausgesprochen, bes. in Armen und Rumpfmuskulatur. Bleibt oft 
lange in der gleichen Haltung. Im weitern Verlauf Zunahme aller Erscheinungen, 
starke Beeintrachtigung der Lichtreaktion der Pupillen, besonders rechts. Kon- 
vergenzreaktion infolge der Rect.-Lahmung nicht zu priifen. Voriibergehend 
ganz leichte Zuckungen und Vibrieren der Kiefermuskulatur. Entwicklung einer 
leichten Parese im rechten Arm; ausgesprochne Adiadochokinesis bds. Zunahme der 
eigenartigen Sprachstorung, infolge deren Pat. beim Sprechversuch oft gar nichts 
herausbringt oder an der ersten Silbe oder mitten im Wort hangen bleibt und 
dann diese Silbe oder den letzten Konsonanten ahnlich wie ein Stotterer logo- 
klonusartig wiederholt. Dabei Monotonie, Verloschen der Stimme. Aulierste Ver- 
langsainung und Verspatung der sprachlichen Reaktionen. Links zeitweilig Op- 
penheimsches Phiinomen. Haufig Schwitzen und starker Fettglanz im Gesicht. 
Allmahliche Entwicklung eines starken Fettpolsters (hypophysar?). Lidtremor 
der Augenmu8kulatur nur gering. Niemals Tremor der Arme und Hande, 
auch durch Kokain und Adrenalin nicht zu erzeugen, bei letzterem nur Beintremor. 
Rigiditat der Arme wie wachsern, keine Zuckungen bei Kontraktion und Dehnung. 
Blutd ruck 105/85. MiiBig starker SpeichelfluB. Auf Pilocarpin starke Reaktion. 
\ l / 2 Stunde nach 1 mg Adrenalin geringe Zuckerausscheidung. Zustand blieb 
weiterhin der gleiche. 

Es handelt sich also hier uni ein Krankheitsbild, das durch anfang- 
liche Schlafsucht, Augenmuskellahniungen, sowie den amyostatischen 
Symptomenkomplex mit hauptsachlichster Beteiligungder Armmuskula- 
tur an der Rigiditat und besonderer Betonung der Bewegungsarmut 
und Bewegungsverlangsamung sowie der Pseudokatalepsie und eine 
eigenartige Sprachstorung ausgezeichnet ist. Man muB den Fall zweifel- 
los der epidemischen Encephalitis zurechnen, obwohl ein fieberhafter 
Beginn anamnestisch nicht mehr festzustellen und die Gripjie fast 
2 Jahre vorausgegangen war. Pyramidensymptome traten nur ganz 
fliichtig in Erscheinung. Bemerkenswert ist hier die ausgesprochen 
wachserne Art der Armrigiditat und das Fehlen des Tremors in den 
rigiden Armen, der auch nicht durch Adrenalin und Kokain auszulosen 
war. Nach Adrenalin trat nur der sonst bei Gesunden festzustellende 
feinschlagige ^physiologische' 1 Tremor in den nicht rigiden Beinen auf. 
In Gemeinschaft mit Privatdoz. Dr. Burger in der rnediz. Klinik ofter 


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Beobachtungen beim akinetisch-hypertonisclien Symptomenkomplex. 199 

wiederholte Untersuchungen mit dem Edelmannschen Saitengalvano- 
meter unter Anwendung von Nadelelektroden ergaben stets das Vorhan- 
densein von Aktionsstromen in den rigiden Muskeln im Anschlub an eine 
Dehnung oder wahrend einer kataleptischen Haltung, aber ohne Andeu- 
tung rhythmischer Schwankungen, wie sie zuweilen in anderen Fallen be- 
obachtet wurden und auf einen latenten Tremor hindeuten. Bemerkens- 
werterweise ahnelte dieser Fall infolge des Fehlens des Zitterns sehr an 
katatonische Zustande. Da in den andern Fallen der Tremor stets durch 
Sympathikusreizmittel zu verstarken bzw. auszulosen ist, hier aber 
nicht, ist man versucht, an eine starkere Schadigung des Sympathikus- 
zentrums im Zwischenhirn im vorliegenden Fall zu denken. Gewisse 
Symptome erwecken auch tatsachlich den Verdacht auf partielle Aus- 
falle des Sympathikusgebietes. So waren die linke Lidspalte und Pupille 
dauernd enger wie die rechte, so dab aueh von anderer Seite an eine 
Sympathikuslasion gedacht wurde. Auf Kokain trat eine Erweiterung 
der Pupille ein. Letzteres wiirde aber nicht unbedingt gegen das Vor- 
handensein einer Sympathikuslahmung sprechen (Bumke). Eine 
sichere Entscheidung dariiber war aber wegen des Vorhandenseins 
anderweitiger Augenmuskellahmungen und Pupillenstorungen, beson- 
ders links, und einer doppelseitigen leichten Ptosis nicht moglich. Bei 
der Adrenalinprufung trat deutlich eine Vasokonstriktion ein, wie in 
andern Fallen auch. Die sympathischen Gefabnerven waren also er- 
regbar, ob allerdings auch im Gebiet der Arme, war nicht sicher festzu- 
stellen. Sonstige Symptome einer Sympathikuslahmung oder -hypotonic 
fehlten. Aber der Fall weicht auBer durch das Fehlen des Zitterns auch 
sonst erheblich, besonders durch die Langsamkeit seiner Bewegungen. 
ferner die starke Fettentwicklung, die auf eine Hypophysenschadigung 
hindeutet, wie sie Stiefler u. a. beschrieben, von den vorigen ab. Be- 
merkenswert ist es auch, dab bei ihm die Unauslosbarkeit des Tremors 
durch Adrenalin mit dem Fehlen jeglichen sonstigen Tremors in den 
rigiden Muskelgebieten einhergeht. Man mub deshalb ebenfalls wieder 
an gewisse Beziehungen zwisclien dem Tremor und dem Sympathikus 
denken. — Es gibt also demnaeh akinetisch-hypertonische Falle ohne 
jedes Zittern in den rigiden Muskeln, sie scheinen aber durch ander- 
weitige Symptome von den iibrigen Fallen ausgezeichnet und ziemlich 
selten zu sein. 

Den Ansichten Franks, der die Rigiditat bei der Paralysis agitans 
als parasympathisch-autonom bedingte Tonussteigerung, als eine 
Hyperfunktion des ,,Tonussubstrates“ auffabt, haben andere Autoren 
auf Grund gewisser Feststellungen widersprochen, die scheinbar den 
tetanischen Cbarakter dieser Rigiditat und auch derjenigen einer Reihe 
weiterer Spannungsanomalien der Willkiir mu skein wie der hypnotischen 
und katatonisehen Katalepsie, der Enthirnungsstarre, dartun, und zwar 


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200 


W. Runge: 


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sind dies hauptsaehlich die Ergebnis.se der Untersuchungen auf 

Aktionsstrome. 

So fand Reh n nnter Anwendung einer neuen Methode, namlich 
von Nadelelektroden bei 5 Fallen striarer Erkrankung oseillierende 
Aktionsstrome, wie sie bei rein tetanischer Dauerinnervation festzu- 
stellen sind, Weigelt (ohne Stichelektroden) im ,,kataleptisehen Sta¬ 
dium der Encephalitis epidemica“ oseillierende Aktionsstrome, die aller- 
dings minimal waren und periodisch schwankten, v. Weizsacker 
solche bei der Paralysis agitans und sonstigen amvostatischen Syn- 
dromen, wahrend sie iiltere Untersuchungen bei der Paralysis agitans 
hatten vermissen lassen. Die neueren Befunde wiirden, wie auch diese 
Autoren betonen, gegen einen echten und reinen tonischen Charakter 
der Rigiditat sprechen, da beim reinen Tonus keine oscillierenden 
Aktionsstrome zu erwarten sind. Allerdings hat Frank in einem 
spateren Vortrag im Hinblick auf durch gewisse Gifte und die Ent- 
hirnungsstarre hervorgerufene Muskelkontrakturen gemeint, da 8 
nicht jeder diskontinuierliche Aktionsstrom gegen die tonische Natur 
einer Muskelaktion spreche, sondern diese auf bei jenen Giften vor- 
kommende und zuweilen latente Fibrillenzuckungen zuriickzufuhren 
seien, wahrend doch eine Tonussteigerung des Sarkoplasmas vorhanden 
sei. Untersuchungen, die von Burger und mir in der hies. med. Klinik 
mit dem Saitengalvanometer vorgenommen wurden, ergaben in 4 meiner 
Falle bei Anwendung von Platin-Nadelelektroden, die durch eine 
von Burger angegebene spater mitzuteilende Methodik bis auf eine 
kleine Endstrecke zur Ausschaltung fehlerhafter Stromschwankungen 
isoliert worden waren und in die Muskeln eingestochen wurden, im Biceps, 
sobald eine Rigiditat in ihm erzeugt worden war (z. B. naeh Dehnung 
oder in hangender Haltung des Arms usw.), oseillierende Aktionsstrome, 
nicht aber in Ruhelage des unterstutzten und gebeugten Armes. Diese 
Aktionsstrome sind durch das vielfach vorhandene leichte und offer 
fast latente Zittern allein nicht hervorgerufen, denn in dem Fall H. ohne 
Zittern und ohne Tremor be reitschaft waren ebenfalls Aktionsstrome 
nachzuweisen, sobald der Muskel sich im Zustand der Fixationsrigiditat 
befand. Ob, wie Frank es meint, latente Fibrillenzuckungen diese 
oscillierenden Aktionsstrome erzeugen, laBt sich nicht mit Bestimmt- 
heit feststellen, da grade im Fall H. von solchen Zuckungen nie etwas 
zu bemerken war. Unsere Versuchsergebnisse bestatigen also die Er- 
fahrungen der obengenannten Autoren und zeigen, daB die Rigiditat 
und Spannungsanomalie speziell in den akinetisch-hypertonischen 
Fallen nicht einer ausschlieBlich autonom bedingten Hyperfunktion 
des Tonussubstrates entspricht, sondern zum mindesten eine tetanische 
Erregung gleichzeitig vorhanden ist. Tmmerhin muB man aber, da 


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Beobachtungen beim akinetisch-hypertonischen Syniptomenkomplex. 201 

grade die pharraakologischen Experimente auf Beziehungen des Zit- 
terns und der Rigiditat zum Sympathikus und Parasympathikus hin- 
zuweisen scheinen, daran denken, daB nebeneinertetanischenErregung 
auch eine echte Tonussteigerung vorhanden ist, die von ersterer iiber- 
deckt wird und sich durch unsre heutigcn Mittel nicht nachweisen laBt. 
Diese Auffassung wiirde sich also derjenigen Franks nahern, wenn wir 
bisher auch noch nicht sicher wissen, ob ausschlieBlich die Fibrillen- 
erregung Ursache der tetanischen oscillierenden Aktionsstrome ist. 
Lewy glaubt gleichzeitig neben den oscillierenden Aktionsstromen eine 
Dauerabweichung der Galvanometersaite feststellen zu konnen, die 
er auf einen Strom zuruckfiihrt, der als Ausdruck des tragen Muskel- 
anteils anzusprechen sei. V. Weizsacker bestreitet aber die Berech- 
tigung zu dieser Deutung. Man konnte nun auch annehmen, daB in 
<ler Ruhelage des entspannten Muskels, wahrend der, wie unsere Ver- 
suche ergaben, keine Aktionsstrome vorhanden sind, und wahrend der 
nach Ansicht Foersters eine Steigerung des ,,plastischen formgeben- 
<lenTonus“ besteht, die sich durch reliefartiges Vorspringender Muskel- 
bauche und Sehnen und harte Konsistenz derselben kundgibt, eine 
echte und reine Tonussteigerung unter ausschlieBlicher Beteiligung 
des ,,tragen“ Muskelanteils vorhanden ist. Es schien jedoch in meinen 
Fallen und besonders in den auf Aktionsstrome untersuchten die 
Steigerung des ,,plastischen formgebenden Tonus“ nur dann hervor- 
zutreten, wenn die Muskeln leicht gedehnt wurden, z. B. die Extremi- 
taten herunter hingen, nicht aber bei Annaherung der Insertionspunkte 
und volliger Entspannung. Im ersteren ]fall waren wie erwahnt auch 
Aktionsstrome nachzuweisen. Der Beweis, daB es sich bei dieser Steige- 
rung des plastischen Tonus uni eine reine tonische Erscheinung handelt, 
ist also bisher nicht erbracht. —Ahnliche, einer ausschlieBlich vegetativ 
bedingten Entstehung der extrapyramidalen Rigiditat widersprechende 
Ergebnisse zeitigten ferner einige Untersuchungen des 

Kreatininstoffwechsels. 

Bekanntlich stellten Pekelharing und Hoogenhuyze fest, daB 
bei tonischer Erregung der Kreatin- und Kreatiningehalt im 
Muskel vermehrt ist, Riesser, daB die Kreatinmenge im Muskel, 
der nach andern Untersuchungen die Harnkreatininmenge ent- 
spricht, bei Verstarkung des Tonus ansteigt und daB die Kreatinmenge 
Ausdruck der die Muskulatur treffenden zentralsympathischen tonischen 
Impulse ist. Die Deutung der Versuchsergebnisse von Pekelharing 
und Hoogenhuyze wurden von Burger angezweifelt, da es sich nach 
den Aktionsstromuntersuchungen Einthovens bei der Enthirnungs- 
starre um eine tetanische, nicht um eine tonische Kontraktion handle. 
Auch die Feststellung Kahns, daB sich in den bei der Umklammerung 

Archlv fttr Psychiatric. Bd. 07. 14 



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202 


W. Runge: 


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Kreatinin- 


Name und Alter: 

1. Br. 30 J. 

2. B. 19 J. 

3. Hr. 21 J. 

4. Hr. 50 J. 

Korpergewicht: 

56,3 kg 

50,0 kg 

67,5 kg 

69,3 kg 

Muskulatur: 
Differenz des stark- 
sten Oberarmumfangs 
bei Beugung und Strek- 

mittclkraftig 

kriiftig 

mittclkraftig — 
kriiftig 

mittelkraftig 

kung des Vorderarms: 

2 l /j cm i 

4*/« cm 

3*/* cm 

3 cm 

Tremor: 

leicht im linken 
Bein 

leicht 

fehlt 

| 

gering 

Rigiditat: 

in den o. E. miiliig 
1. > r. in den u. 
E. und Nacken- 
muzkuiatur stark. 

allgemein und 
stark 

i 

in den Armen stark 
r. > 1., in den Bei- 
nen keine 

mittelstark in den 
Beinen u. linken 
Arm 

Bewegungsarmut: 

Ocsamtkreatinin- 

allgemein u. stark 

allgemein und 
stark 

mittel 

1 

mittelstark u. all- 
gemcin 

menge: 

0,570 

0,440 

1,478 

1,091 

Gesamtst ickstoff: 

3,187 

2,953 

10,383 

7,542 

Krcatininkoeffizient: 
(= die In Milligramm 
ausgedriickte Menge 
des pro Kilogramm 
Korpergewlcht aus- 
geschiedenen Harn¬ 
kreatinins) 
Kreatininstickstoff- 

10,2 

| 

1 

1 

8,8 

1 

21,9 

1 

1 

1 

1 

15,7 

I 

| 

quotient: 

7,1 

5,8 

5,5 

5,0 


des Wei be he ns tonisch gespannten Muskeln des mannlichen Frosches 
eine Kreatinverminderung findet, trotzdem das Fehlen von Aktions- 
stromen auf rein tonische Zustande hinweist, spricht scheinbar gegen 
die Feststellung von Pekelharing und Hoogenhuyze 1 ). Walter 
und Genzel konnten in 5 vorgeschrittenen Fallen von Paralysis agitans 
eine Vermehrnng des mit deni Urin ausgeschiedenen Kreatinins nicht 
nachweisen und schlossen daraus, daB die Franksche Annahme von 
dem Zustandekommen der Rigiditat durch eine Stoning der para- 
sympathischen Innervation nicht bestatigt werden konne. Dankens- 
werterweise hat Burger an der hies. med. Klinik bei 7 meiner Falle 
von amyostatisch-rigidem Syraptomenkomplex nach epidemischer 
Encephalitis und in einem Fall von Paralysis agitans sine agitatione 
raeines Materials Kreatininbestimmungen irn Urin vorgenommen, und 
zwar in jedem Fall nach 3 tagiger vollig fleischfreier Diat jedesmal 3 Tage 
hintereinander in der 24 stiindigen Urinmenge. Bei Beurteilung der 
Resultate muB die friihere Feststellung Burgers beriicksichtigt werden, 
daB die Menge des ausgeschiedenen Harnkreatinins bei Abwesenheit von 
Muskelstoffwechselstorungen in eincra gewissen Verhaltnis zum Grade 

') Neuerdings fand Riesser nach einer Mitteilung, die nicht mehr beriick- 
sichtigt werden konnte. keine Kreatinverminderung, sondern unveranderte Krea- 
tinmengen. — Pie eingeliende Arbeit von Walter und Genzel (Monatsschr. f. 
Psychiatr. u. Neurol. 52. H. 2.) konnte ebenfalls keine Beriicksichtigung mehr 
finden, sondern nur Walters Diskussionsbemerkung (Jahresvers. d. Ges. deutscher 
Nervenarzte 1.. IX. 21). 


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Beobachtungen beim akinetisch-hypertonischen Symptomenkomplex. 203 


untersuchungen. 


5. Sell. 26 J. 

6. Je. 30 J. 

7. Ril. 34 J. 

8. Jii. 37 J. | 


55,6 kg 

63,3 kg 

62,5 kg 

60,0 kg 


schwach 

mittelkraftig 

1 i 

mittclkriiftig 

iniiOig 


l*/s cm 

2'/t cm 

9 

? 


fehlt meist 

gering bei inten- 
dierter Haltung 

zeitweisc starker 
Ruhetremor der 
Belne 

maBiger Ruhe¬ 
tremor in den 
obern Extremi- 
taten 


uur in den Armen nur in den Armen allgemein, in den. 

niiiBig in den Bei- 


geriug 

gering r. = 1. 

1 

Beinen stark 

uen, spurweise im 
llnken Arm 


goring 

gering, nur In den 
Armen 

mittel 

! 

i stark allgemein 

j Normale Mlttelwerte 

1,365 

t ,807 

1,874 

1,359 

• g 

7,257 

5,425 

6,896 

7,415 


24,83 

28,5 

1 

29,9 

| 

) 

22,6 

20 

7,4 

1 

14,0 

1 

1 

1 

11,1 

.4 

5-7 


der Gesamtentwicklung der Muskulatur steht, und zwar derail, daB 
normalerweise bei kraftiger Muskulatur stets eine hohere, bei geringer 
eine geringere Ausscheidung von Kreatinin zu erivarten ist. Die Ent- 
wicklung der Muskulatur muB also bei derartigen Untersuchungen in 
Rechnung gesetzt werden. Nach Burger findet sich bei regressiven 
Prozessen im Muskel eine Steigerung, bei abgelaufenen Prozessen mit 
Verrainderu ng der Muskelmasse eine Verminderung der Kreatininaus- 
scheidung. Er fand ferner bereits in gewissem Widerspruch zur Pekel- 
haringschen Theorie bei Hypotonie (Tabes, postdiphtherischer Neuritis) 
eine Erhohung der Kreatininausscheidung, desgleichen auch bei Pyra- 
midenspasmen, also sicher auch bei nicht echt tonischer Erregung des 
Muskels. Die Ergebnisse der Untersuchungen an den 8 Fallen sind aus 
obiger Tabelle zu ersehen. 

Die Differenz des Oberarmu infanges bei starkster Beugung und 
Streckung des Vorderarms ist nach Biirger angegeben, um ein Urteil 
iiber die Entwicklung der Muskelmasse zu erhalten. Die Differenz ist 
um so groBer, je kraftiger die Muskulatur entvvickelt ist. Der Kreatinin- 
koeffizient ist die in Milligramm ausgedriickte Menge des pro Kilogramm 
Korpergewicht ausgeschiedenen Harnkreatinins, der Kreatininstick- 

Kreatininstickstoff 

stoffquotient ist = - —-———-.— —-— • 100. 

Gesa mts tic kstof f—Kreatininstickstoff. 

Die Untersuchungen ergaben danach in den 8 Fallen durchaus ver- 
schiedene Resultate: dreimal war der Kreatininkoeffizient ein deutlich 

14* 


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204 


W. Runge: 


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gegcniiber derNorm erniedrigter (Fall 1,2,4) bei mittelkraftiger bis kraftig 
entwickelter Muskulatur, zweimal war er etwa der Norm entsprechend 
(3 und 8) bei schwacher und bei mittelkraftiger bis kraftiger Muskel- 
entwicklung, dreimal erhoht (Fall 5, 6, 7) bei schwach- bis mittelkraftig 
entw'ickelter Muskulatur. Die Zahlen zeigen also eine deutliche Unab- 
hangigkeit von der Muskelentwicklung. Vor allem ist ihre GroBe 
aber auch unabhangig von der Starke der Rigiditat. Ein 
niedriger Kreatininkoeffizient bei mittlerer bis starker Rigiditat fand 
sich in Fall 1, 2 und 4, ein hoher bei geringer Rigiditat in Fall 5 und 6, 
ein hoher bei allgemeiner, aber nur in den Beinen starker Rigiditat in 
Fall 7. Etw r a normale Zahlen weisen der tremorlose Fall H (3) mit 
ziemlich starker Arm- und Nackenrigiditat sow'ie Fall 8 mit rclativ 
geringer Rigiditat auf. Also trotz vorhandener Rigiditat kann 
die Kreatininausscheidung vermindert oder normal 3ein. 
Andererseits kann sie in manchen Fallen auch erhoht sein, 
ohne daB eine starke Muskelentwicklung, Fieber, nachw'eisbare degenera¬ 
tive oder destruierende Muskelprozesse diese starke Ausscheidung be- 
dingt haben konnten. Worauf nun die Verminderung und die Vermehrung 
der Kreatininausscheidung in manchen rigiden Fallen beruht, lieB sich 
bisher nicht feststellen. Es fallt auf, daB in den drei Fallen mit niedrigem 
Kreatininkoeffizienten die Bewegungsarmut eine mittelstarke und 
starke bis allgemeine war, in jenen mit hohem Kreatininkoeffizienten, 
bis auf Fall 7, eine w'enig ausgesprochene und partielle, daB in dem 
Fall 7 mit hohem Kreatininkoeffizienten ein zeitweiliger starker Ruhe- 
tremor der Beine bestand. Man konnte daraus schlieBen, daB die Krea¬ 
tininausscheidung im umgekehrten Verhaltnis zur Starke der Bewegungs¬ 
armut steht, oder daB sie wie in Fall 7, wo sie trotz starker Bewegungs¬ 
armut hocli ist, mit dem Ruhetremor in Zusammenhang steht. Aber 
dies sind nur sehr vage Vermutungen, da der ,,Grad“ der Bewegungs¬ 
armut sich iiberhaupt nur ganz oberflachlich und schatzungsweise fest- 
stellen laBt. 

Zu denken ware noch daran, daB etw r a eine starkere Parasympathikus- 
erregung die Herabmindcrung der Kreatininausscheidung in den drei 
Fallen verursacht hat, da nach Riesser das das Parasympathikus- 
zentrum erregende Pikrotoxin keine Vermehnmg, einmal sogar eine 
Verminderung der Kreatinmenge im Muskel hervorrief und da die 
Muskelspannung bei der Umklammerungshaltung des Frosches, die 
wie gesagt nach Kahn eine Kreatininverminderung zeigt 1 ), auch para- 
sympathisch bedingt sein kann. Es ist in dieser Hinsicht auffallend, 
daB grade die drei Falle mit verminderter Kreatininausscheidung 1, 
2 und 4 eine mittelstarke bis starke Rigiditat, daB die 2 Falle mit ver- 
mehrter Kreatininausscheidung (5 und 6) eine geringe Rigiditat auf- 
i ) Siehe aber Aninerkung Seite 202. 


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Beobachtungen beim akinetisch-hypertonischen Syniptonienkomplex. 205 


weisen. Der Fall 7 mit Vermehrung der Rreatininausscheidung zeigte 
eine starke Rigiditat. Die Vermehrung konnte aber hier vielleicht mit 
dem zeitwciligen starken Ruhetremor der Beine in Zusammenhang 
gebracht werden, da Schultz bei Muskeltatigkeit eine Vermehmng 
der Kreatininausscheidung sail. Aus demselben Grund kann sich in 
Fall 3 mit ziemlich starker, aber nur auf die Arme und Nacken be- 
schrankter Rigiditat und ohne jeden Tremor die Kreatininausscheidung 
in normalen Grenzen gehalten haben. Ebenso ware noch die wenig ver- 
mehrte Kreatininausscheidung in Fall 8 mit maBigem Ruhetremor 
der Arme und geringerer Rigiditat zu erklaren. Wanim aber die Aus- 
scheidung in den erwahnten Fallen 5 und 6 mit geringerer Rigiditat 
ohne starkeren Tremor vermehrt ist, ist nicht zu sagen. Im Hinblick 
auf die Ergebnisse Riessers miiBte hier an eine stiirkere Sympathikus- 
erregung gedacht werden, aber klinisch zeigte sich nicht einmal ein 
starkerer Tremor als in den iibrigen Fallen. Die Erkliiningsversuche 
haben also noch etwas recht Unbefriedigendes. Soviel kann man aber 
sagen, daB ein Beweis fur eine rein tonische Natur der Rigiditat aus 
dem Ergebnis der Kreatininuntersuchungen nicht abgeleitet werden 
kann. Al)er auch das Mitvorhandensein einer eventuell parasympathisch- 
bedingten Tonussteigerung kann nicht ausgeschlossen werden. Ob die An- 
schauungen dtr erwahnten Autoren iiber Zusammcnhange zwischen 
Tonus und Kreatininausscheidung aufrecht erhalten werden konnen, 
sei im ubrigen dahingestellt. 

Es sind nun in derartigen amyostatischen F&llen, wie auch von 
anderen Autoren mehrfaeh hervorgehoben wurde, sicher vegetativ 
bedingte 

sekretorische und vasomotorische Storungen 
vorhanden. Speziell Frank stiitzt seine Ansichten iiber die Paralysis 
agitans zum Teil auf diese Storungen, die er samtlich als Erschei- 
nungen einer Reizung im kranial-autonomen parasym- 
pathischen Nervensystem auffaBt. Eine Reihe solcher Storungen 
lieB sich auch in einem Teil meiner Falle nachweisen. In 22 von ihnen 
wurde genauer auf die SchweiB-, Speichel- und Talgdriiscn- 
sekretion geachtet: 



SchweiB- 

sekretion 

Speichel- 

sekretion 

Talgdriisen- 

sekretion 

verruehrt bei 

5 

i 

16 

8 

maBig bei 

3 

— 

— 

auffallend gering bei 

4 

1 _ 

i 

4 


Am haufigsten war also eine Vermehru ng der Speichelsekre- 
tion nuchzu weisen. RegelmaBig handelte es sich da bei um ziemlich 


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206 


W. Runge: 


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diinnfliissigen Speichel. Versuche, diese Speichelsekretionsstorung 
als nur eine scheinbare durch Storung der automatischen Schluck- 
bewegungen infolge von Muskelrigiditat oder striar bedingten Inner- 
vationsstorungen der Muskeln oder von Muskelschwache anzusehen, 
kbnnen im Hinblick darauf als widerlegt gelten, daB es Falle mit der 
gleichen allgemeinen Starre und Bewegungsarmut gibt, die keinen 
SpeichelfluB haben und daB auch die Sekretion anderer Driisen, der 
SchweiB- und Talgdriisen oft gestort ist. Die Vermehrung der Speichel- 
sekretion ist die regelmaBigste aller dieser Storungen und sicher haufiger 
vorhanden, als sie bei oberflachlicher Untersuchung festzustellen ist, 
da die iiberwiegende Zahl aller derartiger Kranken auf ausdriickliches 
Befragen eine solche Sekretionanomalie zugibt. Eine Hyperhidrosis 
fand sich in 8 Fallen. Einmal wurde nachgewiesen, dali infolge der 
profusen SchweiBe die Urinsekretion nieist vermindert war. Bisweilen 
zeigte sich im Gesicht halbseitiges Schwitzen. Nicht selten trat die 
Hyperhidrosis bei geringen kor])erlichen Anstrengungen oder unmittel- 
bar nach dem Essen zutage. Neben Fallen mit SchweiBvermehrung 
fanden sich vier andere mit einer offenbaren Verminderung der 
SchweiBsekretion, und zwar nicht allgemein, sondern speziell im Ge¬ 
sicht. Besonders lieB sich das auch im Pilocarpinversuch feststellen, 
bei dem auf eine Dosis von 0,01 Pilocarpin subcutan, nach der alle 
iibrigen Kranken mehr oder minder starken SchweiBausbruch zeigten, 
jegliche SchweiBsekretion im Gesicht ausblieb, wahrend sie am ubrigen 
Korper ziemlich crheblich war. Im Gesicht stellte sich nur eine starke 
Rotung und Hitze ein. Nach Meyer und Gottlieb soli das gelegentlich 
auch normalerweise vorkommen, aber hier hing es doch offenbar mit 
einer Unerregbarkeit bzw. Untererregbarkeit der parasympathischen 
sekretorischen SchweiBnerven zusammen, da sich hier, wie in zwei andern 
Fallen auBerdem eine starke Abschilferung und Abschuppung und 
Trockenheit der Haut teils nur im Gesicht, teils auch am ganzen Korper 
zeigte, wohl bedingt durch eine krankhafte Herabsetzung der SchweiB- 
und Talgdriisensekretion. 

Bei weiteren in 10 Fallen vorgenommenen Pilocarpinversuchen 
zeigte sich viermal eine auffallend starke, sechsmal eine maBige bis 
mittelstarke SchweiB- und Speichelabsonderung, also nur viermal lag 
eine durch Pilocarpin nachweisbare erheblich gesteigerte Erregbarkeit 
der parasympathischen sekretorischen Nerven vor. Eine partielle Er- 
regbarkeitssteigerung der speichelsekretorischen Nerven ist alter bei 
der hiiufigen Vermehrung der Speichelsekretion noch weit ofter anzu- 
nehmen. In den erwahnten Fallen mit Sekretionsverminderung und 
fehlender Pilocarpinreaktion scheint eine Unterregbarkeit bzw. Hem- 
mu ng der SchweiBnerven vorzuliegen. Bemerkenswert ist es nun, daB 
diese Ober- bzw. Untererregbarkeit oft nicht alle, sondern nur eine oder 


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Beobachtungen beim akinetiscli-hypertonischen Symptomenkomplex. 207 

die andere Driisenart gesondert betraf. Das spricht gegen eine allge- 
meine Erregbarkeitssteigerung oder -Herabsetzung im parasympa- 
thischen System. So kam es auch z. B. in den erwahnten vier Fallen zwar 
nicht zu einer SchweiBsekretion durch Pilocarpin, wohl aber zu einer 
Vasodilatation mit Rotung und Hitze im Gesicht, die auf eine Reizung 
der Vasodilatatoren, der Endigungen der parasympathischen Nerven, 
deren Vorhandensein iibrigens speziell fiir das GefaBgebiet des Kopfs 
nachgewiesen ist (L. R. Muller), hindeutet. — Die pathologisch ge- 
steigerte Tatigkeit eines andern Driisensystems der Talgdriisen 
ist neuerdings von T. Cohn, v. Sarbo, F. Stern u. a. in den akinetisch- 
hvpertonischen Fallen bei Encephalitis beschrieben worden. Ich beob- 
achtete sie in Form eines abnormen Fettglanzes bei 8 meiner Falle, 
viermal schien die Talgdrusensekretion herabgesetzt. Da bisher iiber 
die Innervation dieser Drtisen nichts bekannt ist, lalit sich iiber die Art 
und den Sitz der Stoning, die die Sekretionsanomalien bedingt, nichts 
Sicheres sagen. Wir diirfen aber im Hinblick auf die iibrigen Anomalien 
vielleicht ebenfalls eine Storung im parasympathischen System ver- 
muten, zuraal nach Pilocarpininjektionen schon vor der Speichel- 
sekretion eine deutliche Talgdrusensekretion in manchen Fallen beo- 
achtet werden konnte. 

DaB die reichliche Speichel- und SchweiBsekretion hier, wie oben 
schon vorausgesetzt, mit einer Erregung des parasympathischen Systems 
zusammenhangt, ist nach dem Stand der heutigen Forschung mit 
Sicherheit anzunehmen, da erstens bekanntlich bei Reizung dieses 
Systems klarer dunnfliissiger Speichel wie auch in diesen Fallen spontan 
entleert wird, zweitens Pilocarpin die Sekretion noch mehr steigert, 
Atropin, in geniigender Menge gegeben, die Sekretionssteigerung restlos 
zu beseitigen vermag, was sich iibrigens in einigen meiner Falle wegen 
der Beseitigung des erheblichen Fliissigkeitsverlustes von sehr giinstigem 
EinfluB auf den Gesamtzustand erwies. Abgesehen nun davon, daB die 
/uweilen herabgesetzte Sekretion vielleicht auf eine Untererregbarkeit 
des parasympathischen Systems hindeutet, und davon, daB die t)ber- 
erregbarkeit nicht selten nur einzelne Abschnitte des Parasympathikus 
betraf, fehlten fast stets oder immer andersartige auf eine solche Cber- 
erregbarkeit hindeutende Momente, wie Hypersekretion der Tranen- 
driisen, die selten vorhanden war, Pupillenverengerung, Bradykardie; 
auch eine Hyperaciditiit machte sich nicht bemerkbar. Einmal wurden 
voriibergehend Erscheinungen beobachtet, die auf einen spastischen 
Ileus hinwiesen und durch Atropin beseitigt wurden. Auch hier kann 
man eine Storung der parasympathischen Innervation als Ursache an- 
nehmen. Die Dingo liegen also so, daB wir in eineru Teil der F&lle eine 
gesteigerte Drusentatigkeit, besonders der Speicheldrusen findcn, als 
deren Ursache wir eine Erregung im parasympathischen System (oder 


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208 


VV. Runge: 


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Enthemmung?) annehmen konnen. Aber diese Erregung tietrifft nie 
das gesamte parasympathische System, immer nur einen Teil des- 
selben. Auch fehlt die gesteigerte Drusentatigkeit in einem kleineren 
Teil der Falle und in einigen laBt sich sogar eine partielle Herabsetzung 
der Sekretion feststellen 

Es bliebe schlieBlich noch tibrig auf einige Erscheinungen hinzu- 
weisen, die vasomotorischer Natur sind. Auf die nicht selten auch 
in meinen Fallen nachzuweisende lebhafte Dermographie sei nicht 
weiter eingegangen, da diese auch sonst oft vorkommt. In einigen Fal¬ 
len bestanden andersartige vasomotorische Erscheinungen, so zweimal 
ein Odem einer Hand und einrnal eine eigenartige rotlich livide Ver- 
fiirbung der Finger. SchlieBlich sei erwahnt, daB von 15 mannlichen 
Fallen 3 einen auffallend niedrigen Blutdruck von 80—95 mm 
Hg (Riva-Rocci) hatten. Sichere Schliisse wird man aus diesem Befund 
bei dem heutigen Stand unserer Kenntnisse nicht ziehen konnen. Man 
konnte auch hier an eine parasympathisch bedingte Reizung der Vaso- 
dilatatoren als Ursaohe der Blutdrucksenkung denken. Aber ebensowohl 
kame eine Herabsetzung des Tonus des Sympathikus, der Vasokonstrik- 
toren in Betracht. Nach Glaser (s. L. R. Muller) ist es auch heute 
noch anatomisch durchaus ungekliirt, ob die peripherischen vasodilata- 
torischen Nervenfasern ein eigenes Zentrum im Gehirn und eigene lange 
Bahnen im Riickenmark haben, was doch angenominen werden miiBte, 
wenn wir in unseren Fallen eine durch die Erkrankung im Zwischen- 
hirn bedingte Erregung der vasodilatatorischen Nerven als Ursache des 
niedrigen Blutdruckes annehmen wollen. Glaser halt es fiir moglich, 
daB von einem allgemeinen Vasomotorenzentrum aus anregende Ein- 
fliisse nach dem einen und zugleich hemmende nach dem andern Va«o- 
motorensystem gelangen. Jedenfalls laBt sich heute nicht mit Bestimmt- 
heit sagen, daB die Blutdrucksenkung durch Parasympathikuserregung 
bedingt ist. 

Angesichts der Wirkung des Adrenalins auf den Tremor wird man 
weiter fragen, ob sonstige Symptomc einer Erregungssteigerung des 
Sympathikus in unseren Fallen vorhanden sind. Hin und wieder wurden 
in einzelnen Fallen auffallend weite Pupillen beobachtet, gelegentlich 
auch einrnal eine Tachykardie, die vielleicht als Zeichen einer Sympathi- 
kotonie gedeutct werden konnten. Sonstige Zeichen derselben wie 
Hypertonie, Glykosurie fehlten. Relativ haufig konnte ich eine Aniso- 
korie feststellen, die bei Abdunkelung deutlicher wirde und deren 
Vorhandensein auch mit dem binocularen Mikroskop und dem Pupillo- 
meter bestatigt wurde. In alien den Fallen, bei denen sie konstatiert 
wurde, waren die Rigiditat und die andern motorischen Symptome in 
der einen Korperhalftc starker entwickelt. Das untersuchte Material 
geniigt aber nicht, um Beziehungen zwischen der Pupillendifferenz und 


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Beobachtungen beim akinetisch-hypertonischen Symptomenkomplex. 209 

der Differenz der motorischcn Symptome bzw. der Erkrankung beider 
Hirnhalften anzunehmen, zumal Pupillendifferenzen nicht nur bei 
andern Gehirnerkrankungen (ohnc sonstige Oculomotoriusstorung) 
haufig sind, sondern bekanntlich auch bei angeblich rein funktionellen 
Fallen vorkomraen (s.Burake). Wenn sich die Haufigkeit der Pupillen- 
differenz in den akinetisch-hypertonischen Fallen ohne glcichzeitige 
Anwesenheit sonstiger Oculomotoriusstorungen wie in meinen Fallen 
hestatigen sollte, mufite man aber auch an Storungen inderSympathikus- 
innervation des Dilatator iridis als Ursache der Differenz denken. In 
dieser Hinsicht ist es bemerkenswert, daB, allerdings nur vereinzelt, in 
meinen Fallen eine Adrenalinmydriasis (durch Eintraufelung von 
dreimal 2 Tropfen der Losung 1 : 1000 in 5 Minuten) erzeugt werden 
konnte. — Die Zeichen einer Sympathikuserregung sind also in den 
akinetisch-hypertonischen Fallen ganz wesentlich sparlicher als die 
der Parasympathikuserregung und noch recht fragwurdig und unbe- 
stimmt. 

Die Storungen in den beiden vegetativen Systemen in den akinetisch- 
hypertonischen Fallen wiirden, worauf bereits Frank ftir den Para- 
svmpathikus bei der Paralysis agitans hinweist, mit den iibrigen Ver- 
suchsergebnissen, nach denen die Anomalien des Spannungszustands 
der Muskeln gewisse noch nicht voll gekliirte Bezichungen zu jenen 
Systemen haben, in gewissem Einklang stehen. Aber bisher kann die 
mangelnde tlbereinstimmung zwischen der RegelmaBigkeit im Vor- 
handensein der Spannungsanomaben und der UnregelmaBigkeit der 
Storungen des vegetativen Systems sowie dcren sehr haufiger Beschriin- 
kung auf kleine Gebiete dieses Systems nicht erklart werden. 

Wie ausgefuhrt, scheinen sich die erwahnten Bezichungen zwischen 
den Spannungsanomalien der Muskeln und vegetativem System auf die 
beiden Untergruppen dieses Systems zu erstrecken. Es ist aber aus- 
zuschlieBen, daB die Rigiditat und der Tremor nur auf rein vegetativem 
Wege zustande kommen, da die Ergebnisse der Aktionsstrom- und 
Kreatininuntersuchungen dagegen s])rechen. Man hat nach allem den 
Eindruck, daB es sich uni kombiniert tetanische und tonische 
Zustande handelt. Damit kommen wir zu dem gleichen SchluB, 
wie Riesser in seiner neuesten Veroffentlichung iiber die Ergebnisse 
der Muskelpharmakologie. Dieser Forscher gelangte auf Grund der 
bisherigen Untersuchungen und eigner Vcrsuche zu der Ansicht, daB die 
Bewegung der Skelettmuskeln niemals reine Tetani, sondern das F-r- 
gebnis von Tetanus plus Tonus sind 1 ). Bei den Spannungsanomalien der 
Muskulatur bei der Paralysis agitans, der Katatonie, der Hypnose, die 

') Ahnlich auch Frank, Nothmann u. Hirsch-Kaufmann in ihrer 
letzten nicht mehr beriicksichtigten Veroffentlichung (Klin. Wochenschr. 1922. 
Nr. 37). 


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W. Runge: 


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ohne Ermudungserscheinungen, ohne Stoffwechselerhohung und Ver- 
mehrung der Warmebildung einhergehen, fand Rehn, wie erwahnt, 
neuerdings Aktionsstrome tetanischen Charakters, die sich aber quan- 
titativ durch geringere Intensitat der EinzelstoBe von denen der nor- 
malen Willkiirkontraktion unterscheiden sollen. Riesser nimmt 
deshalb Tetani von geringerer Intensitat bei stark erhoh- 
tem Tonus in diesen Fallen an, also tonisch modifizierte 
Tetani. Der Tonus hat sich hier gegeniiber dem der norraalen Muskeln 
verstarkt, die tetanische Erregung ist in dem gleichen MaBe zuriick- 
gegangen. Also eine Kombination von Tetanus und Tonus sieht auch 
Riesser in diesen Zustanden. Auch Frank wies bereits darauf hin, 
daB nicht jeder Aktionsstrom gegen die tonische Natur einer Muskel- 
kontraktion spreche. Die Anschauung von der Verstarkung des Tonus 
bei der Rigiditat gegeniiber dem Tetanus lieBe sich auch mit dem Er- 
gebnis dieser Arbeit wohl in Einklang bringen. Jedoch ist bei diestr 
Theorie das Vorhandensein eines Tremors bzw. einer Tremor bereitsch aft 
nicht beriicksichtigt, das vielleicht auf eine sei es nun indirekt iiber das 
Tonussubstrat oder, was wahrscheinlicher ist, direkt vom Zentralorgan 
aus erzeugte eigenartige Fibrillenerregung hinweist, die einerseits zum 
Sympathikus, andererseits zu der Tonusanderung in irgendeiner Bezie- 
hung steht. 

Bemerkenswert ist es, daB gerade der tremorlose Fall H. eine auBer- 
ordentliche Ve p langsamung der Bewegungen zeigte, so daB man bei den 
Muskelkontraktionen dieses Falles oft beinahe etwas an diejenigen der 
glatten Muskeln erinnert ward. Es erhebt sich die Frage, ob dieTonus- 
steigerung hier die tetanische Erregung noch mehr als in den anderen 
Fallen iiberwiegt, so daB es zu Treinorerscheinungen nicht mehr koin- 
men kann. DaB noch eine tetanische Erregung in diesem Fall vorhanden 
ist, zeigen die Aktionsstromuntersuchungen. Ob die Aktionsstrome hier 
eine geringere Intensitat der EinzelstoBe als in meinen andern Fallen 
aufweisen, was die obige Vermutung bestatigen wiirde, mussen weitere 
Untersuchungen zeigen. Auch l>ei Anwendung der Riesserschen 
Theorie bleibt noch die Frage offen, inwieweit beide vegetativen Systeme 
bei Entstehung der Spannungsanomalien in den akinetisch-hyperto- 
nischen Fallen mitwirken. 

Die Ergebnisse und Sc h luBfolger ungen aus den Untersuchungen 
an den akinetisch-hypertonischen Fallen sind folgende: 1. Bis auf ver- 
einzelte Ausnahmen besteht in diesen Fallen eine durch versc-hiedene 
Mittel zu demonstrierende und auf verschiedene Weise sich kundgebende 
Tremorbereitschaffc, auch dann, wenn die Rigiditat auBerst gering und 
mit den gewohnlichen Mitteln kaum nachweisbar ist. 

2. In vereinzelten durch wachsartigen Charakter der Rigiditat, 
stark kataleptische Erscheinungen und Langsamkeit der Bewegungen 


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Beobachtungen beim akinetisch-hypertonischen Symptomenkomplex. 211 


ausgezeichneten, besonders stark an katatonische Zustande erinnern- 
den Fallen fehltdiese Tremorbereitschaftund jeglicher Tremor in denri- 
giden Muskelgruppen und ist auch durch kein Mittel hervorzurufen. 

3. AuBer durch Abkiihlung und zuweilen psychische Einfliisse laBt 
sich in den unter 1 genannten Fallen durch subcutane Injektion von 
Kokain und Adrenalin ein starker Tremor hervorrufen oder der vor- 
handene erhebhch verstarken. Dieser Tremor kommt sehr wahrscheinlich 
durch Wirkung dieser Mittel auf das Zentralnervensvstem, und zwar 
vielleicht, beim Adrenalin ziemlich sicher durch Wirkung auf die Sym- 
pathikuszentren im Zwischenhirn zustande. 

4. Die gleichen Mittel bewirken bei intramuskularer Applikation 
in diesen Fallen eine Herabminderung der Rigiditat, wie auch 
schon anderweitig festgestellt wurde. 

5. Durch das wahrscheinlich direkt im Muskel angreifeude Atropin 
ist bis zu einem gewissen Grade eine Herabminderung der Rigiditat 
wie des Tremors zu erzielen. 

6. Diese Ergebnisse sprechen unter Berucksichtigung neuerer Er- 
gebnisse anderer Autoren sowie der Haufigkeit sonstiger partieller 
Storungen des vegetativen Nervensystems in den vorliegenden Fallen 
fiir eine Beteiligung dieses Systems an dem Zustandekommen der Rigi¬ 
ditat wie des Tremors in derartigen Fallen. Auch die Ergebnisse der 
Krcatininuntersuchungen sprechen nicht unbedingt dagegen. Jedoch 
kann es sich nur um eine Beteiligung, nicht um eine ausschlieBliche Wir¬ 
kung dieses Systems handeln, da die Ergebnisse der Aktionsstromunter- 
suchungen auf tctanische Vorgange hinweisen. Wahrscheinlich handelt 
es sich bei den erwahnten Erscheinungen um kombiniert tetanische und 
tonische Zustande. 

Meinem hochverehrten Chef Herrn Geh. Rat Prof. Dr. Siemerling 
spreche ich fiir Cberlassung der Falle, Herrn Prof. Dr. Schittenhelm 
fiir die Bereitwilligkeit, mit der er die Aktionsstromuntersuchungen in 
der medizinischen Klinik gestattete, ferner Herrn Privatdozenten Dr. 
Burger fiir die Kreatininuntersuchungen und die Anleitung und 
aktive Teilnahme bei den Aktionsstromuntersuchungen meinen ver- 
bindlichsten Dank aus. 


Literatur. 

Becker: Psychiatr.-neurol. Wochenschr. 23, H. 35/96. — Berger: Zur Patho- 
genese des katat. Stupors. Munch, rued. Wochenschr. 1921, Nr. 15. — Bethe: 
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Binz: Beitrage zur Kenntnis der Kaffeebestandteile. Arch. f. exp. Pathol, u. 
Pharmakol. 9, S. 31, 1878. — De Boer: Die autonome Innervation des Skelett- 
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212 


W. Runge: 


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Eppinger, Falta und Rudinger: Uber Wechselwirkungen der Driisen mit 
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Derselbe: Uber sarkoplasmatogene (tonogene) Fibrillenaktion (idomuskulare 
Zuckungen,' Sehnenphanomene). Dtsch. Zeitschr. f. Xervenheilk. 71, S. 146, 

1921. — Derselbe: Uber den gegenwartigen Stand der Lehre von der Vagotonie 
und Sympathicotonie. Dtsch. med. YY’ochenschr. 1921, S. 159 u. 190. — Frank 
und Katz: Zur Lehre vom Muskeltonus. Arch. f. exper. Pathol, u. Pharmakol. 
90, 1921. — Frank und Notmann: Uber die YY’irkung parasympathikotroper 
Mittel auf die quergestreifte Muskulatur des Menschen. Zeitschr. f. d. exp. Med. 
24, 1921. — Hober: Lehrbueh f. Physiol. Verb v. Julius Springer, Berlin 1919.— 
Hinsen: Cocainwirkung bei stuporosen Paralysen. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. 
Psychiatr. 74, 1922. — Jakob: Der amyostat. Symptomenkomplex und ver¬ 
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1910. — F. H. Lewy: Tonusprobleme in der Neurologic. II. Zeitschr. f. d. ges. 
Neurol, u. Psychiatr. 63, S. 256,1921. — Ders.: Die Grundlagen des Koordinations- 
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58, S. 310. 1920. — Martini: Uber den Muskeltonus. Miinchn. med. YVochenschr. 

1922, S. 558. — C. Mayer und John: Zur Symptomatologie des Perkinsonschen 
Fonnenkreises. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 25, S. 62, 1921. — K. 
Mendel: Die Paralysis agitans. Berlin 1911, v. Karger. - Meggendorfer: 
Uber Encephalitis lethargies, Schlaf und Scopolaminwirkung. Zeitschr. f. Nerven- 
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H. 3 und 4. — Ders.: Uber myoelcktrische Untersuchungen bei hvpnotischer 
Katalepsie. Klin. YY’ochenschr. 1922, S. 309. — Ders.: Myoelektrische Unter¬ 
suchungen bei Striatumerkrankungen. Klin. YY’ochenschr. 1922, S. 673. — Riesser: 
Uber Tonus und Kreatingehalt der Muskeln in ihren Beziehungen zur Warme- 
regulation und zentralsympathischer Erregung. Arch. f. exp. Pathol, u. Pharmakol. 
80, S. 183, 1917. — Ders.: Untersuchungen an iiberlebenden roten und weiflen 
Kaninchenmuskeln. Pflugers Arch. f. Physiol. 190, S. 137, 1921. — Ders.: 
Neuere Ergebnisse der Muskelpharmakologie. Klin. YVochenschr. 1922, S. 1317. — 


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Beobachtungen beim akinetisch-hvpertonischen Symptomenkomplex. 213 

Riesser u. Neuschloss: Physiologische und kolloidchemische Untersuchungen 
iiber den Mechanismus der durch Gifte bewirkten Kontraktur quergestreifter 
Muskeln. I. Arch. f. exp. Pathol, u. Pharmokol. 91, H. 6,1921 und II. ebenda 92. 
H. 4/6, 1922. — V. Sarbo: t)ber die Encephalitis epidemica usw. Dtsch. Zeitschr. 
f. Nervenheilk. 74, H. 5/6, 1922. — Schaffer: Vagus und Sympathicus. Klin. 
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Der Verlauf der Kreatininausscheidung irn Ham des Menschen mit besondrer Be¬ 
rtie ksichtigung des Einflusses der Muskelarbeit. Pflugers Arch. f. Physiol. 186, 
S. 125, 1921. — Siemerling und Oloff: Ober Pseudosklerose. Klin. YVochenschr. 
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d. ges. Neurol, u. Psychiatr. Referatenteil. 22, S. 142, 1920. — F. Stern: tlber 
das Salbengesicht bci epidomischer Encephalitis. Neurol. Zentralbl. Erganzungsbd. 
1921, S. 64. — Stertz: Der extrapyramidale Symptomenkomplex (das dystonische 
Syndrom) und seine Bedeutung in der Neurologic. Berlin 1921, Verb v. Karger. — 
Ders.: Die funktionelle Organisation des extrapyramidalen Systems und der 
Praedilectionstypus der Pyramidenlahmung. Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. 
68/69, S. 481, 1921. — Cecile u. Oskar Vogt: Zur Lehre der Erkrankungen des 
striaren Systems. Journ. f. Psychol, u. Neurol. 25, 1920. — Y\ T eigelt: Elektro- 
myographische Untersuchungen liber den Muskeltonus. Dtsch. Zeitschr. f. Nerven¬ 
heilk. 74, S. 129, 1922. — v. YY^eizsacker: Muskelkoordination und Tonusfrage. 
Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. 74, S. 262, 1922. 


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(Aus der Psychiatrischen und Nervenklinik zu Kiel 
[Direktor: Geh. Rat Prof. Dr. Siemerl ingj.) 

Beobachtungen beim akinetisch-hypertonischen Symptomen- 

komplex. II. 

Von 

Prof. Dr. W. Runge, 

Oberarzt der Klinik. 

(Eingegangen am 8. September 1922.) 

Die Beobachtung, daB Kaltereize den Tremor bei dem akinetisch- 
hypertonischen Symptomenkomplex vielfach erheblich verstarken oder 
ihn iiberhaupt erst hervorrufen und daB dieser Tremor dann dem 
Kaltetremor Gesunder durchaus gleicht, nur daB er erheblich starker als 
dieser ist, feruer dieTatsache, daB beim GesundenTremor und Steigerung 
desMuskeltonusFaktoren derWarmeregulation darstellen,legen dieFrage 
nahe, ob etwa bei den akinetisch-hypertonischen Fallen Storungen der 

Warmeregulation 

nachzuweisen sind. Schon bei der echten Paralysis agitans hatten einige 
Forscher vasomotor ische Storungen festgestellt. Es wird blaurote Ver- 
farbung der Haut an den Handen und abhangigen Teilen des Korpers 
(Klieneberger,Sch\vartz,Dierks,Mosse,s. Forster), fernerGlanz- 
hautbildung, Oedem der Akra (Alquier), starke Dermographie (Borg- 
herini, Mendel) erwahnt. Str umpel 1 fand bei der Paralysis agitans die 
innere Korpertemperatur normal, die pcriphere oft erhoht. Apolinari, 
Fuchs, Gowers, Bychow ski, Heimann, Alquier, Leva, Grasset 
fanden Erhohung der Hauttemperatur auf der starker zitternden Seite. 
Fuchs stellte einmal cine urn 0,3—0.4° C hohcre Achseltemperatur 
auf der nie zitternden Seite gegeniiber der andern fest. Dasselbe fand 
Klieneberger. Alquier (Mendel) kann die Temperatursteigerung 
nicht als Folge des Zitterns ansehen, da auch bei der Paralysis agitans 
sine agitatione eine Temperatursteigerung beobachtet und wiederum 
bei andern Kranken mit Zittern und andersartigen Bewcgungsstorungen 
(Chorea usw.) vermiBt werde. Fuchs (s. Mendel) will unter 26 Kran¬ 
ken 9 mal Temperatursteigerungen bis 39,4, und zwar wahrend der 
subjektiven Warmesensationen gefunden haben. Mendel fand dagegen 
Hitzegefiihl immer, Temperatursteigerungen nie. Speziell von einer 
Kranken mit postencephalitischera amyostatischem Symptomenkom- 
plex berichtet Griinewald. Diese saB oft trotz der Winterkalte im 


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W.Runge: Beobachtungen b. akinetisch-hypertonischen Symptomenkomplex. 215 

Garten, ohne die Kalte unangenehm zu empfinden. — Auch von meinen 
25 Fallen, die in der Mehrzahl dem postencephalitischen akinetisch- 
hypertonischen Syndrom, vereinzelt der Paralysis agitans sine agita- 
tione angehorten, klagten einige liber abnormes Hitzegefiihl, besonders 
im Kopf. Ebenso konnte gelegentlich eine subjektive Unempfindlich- 
keit, andererseits aber auch gelegentlich eine tlberempfindlichkeit 
gegen Kalte festgestellt werden, so bei einem Kranken mit oft auf- 
fallend niedriger Korper- und Hauttemperatur. Viele Falle hatten eine 
sehr starke Dermographie, in einem wahrseheinlich nicht encephali- 
tischen Fall fand sich eine stark livide Verfarbung beider Hande, zu- 
weilen auch eine eigenartige Schwellung der linken Vola manus und in 
einem andern Fall mit anfanglichen rhythmisch-myoklonischen Be- 
wegungen im r. Arm, die auch spater nicht ganz schwanden, und spii- 
terem ausgesprochenem akinetisch-hypertonischem Syndrom wurde 
eine voriibergehende Schwellung der r.Hand und des r. FuBes beobachtet, 
an den Extremitaten, in denen die amyostatischen Erscheinungen am 
starksten waren. Es kommen also sicher ausgesprochene vasomoto- 
rische Storungen in solchen Fallen vor. 

Es wurden ferner in einer Reihe von den genannten Fallen die 
Hauttemperaturen genauer festgestellt, und zwar die der unbe- 
deckten Gesichtshaut. Bei den ersten Hauttemperaturmessungen von 
12 amyostatischen Fallen (inklusive zweier sonst nicht beriieksichtigter 
Paralysis-agitans-Falle) fand sich eine durchschnittliche Temperatur 
der Gesichtshaut von 34,7 0 C, bei 22 andersartigen, nicht fiebernden 
Kranken eine solche von 34,0 0 C (bei einer AuBentemperatur von 
16 bis 21° C). Die hochsten Temperaturen bei den Amyostatikern 
waren: 35,8, 35,9, 36,0, 36,4, 36,5 bei den andern Fallen: 34,9, 35,0, 
35,4, 35,5. Ein Amyostatiker, der gelegentlich auch eine abnorm nie- 
drige Innentemperatur hatte, zeigt eine Hauttemperatur von 29,9 °, 
eine Zahl, die von keinem andersartigen Kranken erreicht wurde. Eine 
Wiederholung derMessungen nach einigerZeit ergabkeine so eindeutige 
Erhohung der Hauttemperaturen bei den Amyostatikern. Wegen dieser 
widersprechenden Ergebnisse wurde bei erneuten Messungen auf das 
VYrrhandensein einer stets gleiehen AuBentemperatur gcachtet, ferner 
Messungen zuerst nur in niichternem Zustand, spater nach dem Mittag- 
essen vorgenommen. Bei der Untersuchung in niichternem Zustand 
ergab sich, bei einer AuBentemperatur von 19° C fur 13 Amyosta¬ 
tiker eine durchschnittliche Gesichtshauttemperatur von 34,3, fur 15 
andersartige Falle eine solche von 34,5. Die Hochstzahlen waren bei 
den Amyostatikern: 34,8, 35,2, 36,0, bei den andern Fallen: 34,9, 35,2, 
35,6. Die Zahlen waren also hier in beiden Gruppen ziemlich gleich, 
obwohl ein Amyostatiker eine bei den andern Fallen nicht vorkommende 
Hohe von 36° C aufwies. — Die Messungen nach dem Mittagessen 


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216 


W. Runge: 


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ebenfalls bei einer AuBentemperatur von 19 0 C ergaben bei 7 
Amyostatikern eine Durchschnittstemperatur von 35,3, bei 16 anderen 
34,5° C. Die Hochstzahlen sind bei Amyostatikern 35,6, 35,8, 36,2, 
bei den andern: 35,2, 35,4, 35,5. Die Amyostatiker zeigten also naeh 
der Nahrungsaufnahme durchschnittlich etwas hohere Hauttemperaturen 
als in niichternem Zustand und als andersartige Falle, bei denen die 
Hauttemperatur im Durchschnitt die gleiche wie vor der Nahrungs¬ 
aufnahme war. Gelegentlich fiel bei ersteren auch eine sehr starke 
Rotung des Gesichts und starker Schweidausbruch nach dem Essen 
auf. Sie zeigen also eine starkere Warmezufuhr zur Haut nach der 
Nahrungsaufnahme, wahrscheinlich infolge starkererGefaddilatation.Um 
noch exaktere Resultate zu bekommen, wurden weitere Hauttemperatur- 
messungen bei jeweils den gleichen Fallen Va Stunde vor und 3 / 4 Stunden 
nach dem Essen vorgenommen. Die Resultate sind aus folgender Tabelle 
ersichtlich; da die Messungen an mehrerenTagen hintereinander im Som¬ 
mer vorgenommen wurden, war es nicht moglich, eine gleiche Atiden- 
temperatur, wie bei den ersten Untersuchungen im Winter zu erzielen. 


Antyostatische Fade. 


Nr. 

Name 

Diagnose 

Zahl d. 
Doppel- 
mes- 
sunKcn 

Temperaturdifferenz 
vor und nach d. Essen 

Zunalime Abnahme 

Kelno 

Different 

1 . 

M. 

Akinet.-hyperton. Syn- 






drom bei Encephalitis 

4 

3(0,1—0,5°) 1 

— 

2 . 

Be. 

>> 

4 

4(0,1— l,3°)l - 

— 

3. 

Bii. 

*» 

6 

6(0,2—0.7°) 1 

— 

4. 

Sch. 

>» 

5 

5(0,3—0,8°) 1 

— 

5. 

H. 

*» 

4 

3(0—0,4°) | 

1 

Sa. 

23 

21 = 91% 1 = 4,50/o 

1 = 4,50/„ 


Andere Fiille. 


1. 

E. 

Depress. 

5 

5(0,1—0,50) 

— 

— 

2. 

O. 

Depress. 

5 

5(0,2—0,6°) 

— 

— 

3 . 

M. 

Ale. 

5 

5(0,2—0,8°) 

— 

— 

4 . 

K. 

Psychop. + Kopfschuss. 

5 

5(0.1—0,5°) 

1 _ 

— 

5 . 

A. 

Ale. 

4 

3(0—0,5°) 

— 

1 

6. 

J. 

Neurasth. 

5 

5(0,3—0,7°) 

— 

— 

7. 

Arn. 

Hebephr. 

2 

2(0,6—0,80) 

— 

— 

8. 

J. 

Ale. 

4 

4(0,3—0,6°) 

1 _ 

— 

Sa. 

35 

34= 97% - 

1 = 2,9% 


Die Untersuchungen ergaben also bei den Amyostatikern und Nicht- 
amyostatikern keine wesentlichen Differenzen in den Temperaturzu- 
nahmen bzw. Abnahmen vor und nach dem Essen. Die Griinde fiir 
dieses gegeniiber dem friiheren verschiedene Ergebnis sind vielleieht 
darin zu suchen, dad die Amyostatiker zum Ted vor den letzten Ver- 


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Beobachtungen beim akinetisch-hypertonischen Symptomenkomplex. 217 

suchsreihen einer sehr intensiven Arsenkur unterworfen waren, durch 
die besonders die vegetativen Storungen beeinfluBt wurden. Bei den 
unbehandelten Fallen traten jedenfalls hohere Hauttemperaturen und 
starkere Erhohung der Temperaturen nach der Nahrungsaufnahme 
als in den andern Fallen zutage. Immerhin zeigt auch einer der zuletzt 
untersuchten Falle eine Steigerung von 1,3°, die von andern Fallen 
nie erreicht wurde. — Gewisse Abweichungen ergeben sich nun auch bei 
regelmaBiger Kontrolle der Korpertemperatur bei den Amyosta- 
tikern. Bei 10 von 16 amyostatischen Fallen fanden sich als niedrigste 
Achselhohlenteinperaturen 35,7—36,0° C, also auffallend niedrige 
Temperaturen. Ebenso waren die Rektaltemperaturen gelegentlich 
auffallend niedrig, betrugen 35,8, 36,1, 36,2° C. Nur bei einem 
Kranken von den speziell darauf untersuchten Fallen war aber die 
Temperatur langere Zeit auffallend niedrig, bei alien iibrigen nur 
gelegentlich. Auch von Sicard werden die niedrigen Rektaltempera¬ 
turen in solchen Fallen erwahnt. Messungen der Rektaltemperaturen 
V 2 Stunde vor dem Mittagessen und % Stunden nachher bei den gleichen 
Fallen mehrere Tage hintereinander durchgefiihrt ergaben bei den 
Amyostatikern gewisse Unterschiede gegeniiber andersartigen Fallen: 


Amyostatische Falle. 


Nr. 

Name 

Diagnose 

Zahl d. 
Doppel- 
messungen 

Tcmperaturdlfferenz 
vor und nach d. Essen 

Zunahme Abnahme 

Kelne 

Differenz 

1 . 

H. 

Hyperton.-akinet. Syn¬ 
drom b. Encephalitis 

14 

4 

9 

1 

2. 

Bii. 

99 

11 

2 

9 

— 

3. 

Br. 

99 

9 

7 

2 

— 

4. 

M. 

99 

5 

1 

3 

1 

5. 

Sch. 

99 

5 

4 

1 

— 

6. 

Be. 

99 

0 

2 

4 

— 



Sa. 

50 

20 = 40°/ 0 

28=56% 

o 

II 

<N 


Andere Falle. 


l. 

M. 

Imbec. 

5 

3 

1 

1 

2. 

J. 

Ale. 

5 

2 

2 

1 

3. 

J. 

Neurasth. 

6 

4 

1 

1 

4. 

Arn. 

Hebephr. 

4 

3 

— 

1 

5. 

O. 

Depress. 

5 

4 

— 

1 

6. 

E. 

Depress. 

5 

2 

2 

1 

7. 

A. 

Ale. 

5 

1 

3 

1 

8 . 

Ma. 

Ale. 

5 

2 

2 

1 

9. 

K. 

Psychop. + Kopfsehuss. 

5 

— 

4 

1 



Sa. 

45 

21 = 47°y 

/ 0 ll5=33% 

9 =20% 


Archiv (Ur Fsychlatrie. Bd. 07. 15 


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218 


W. Runge: 


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Die Amyostatiker zeigten also haufiger eine Abnahme als Zu- 
nahme der Korpertemperatur nach der Nahrungsaufnahme, 
die andersartigen Falle haufiger eine Zunahme oder gar keine Anderung 
der Temperatur. Insbesondere zeigten 4 Amyostatiker bei 5, 6, 11 und 
14 Tage lang fortgesetzten Messungen mit einigen Ausnahmen, bei denen 
die Temperatur hochstens um 0,1°, nur einmal um 0,3° stieg, fast 
dauernd eine Abnahme der Korpertemperatur nach der Nahrungs¬ 
aufnahme. Temperaturabnahmen kamen auch bei andersartigen Fal¬ 
len vor, aber regelmaBig nur in einem Fall von Psychopathie mit leichter 
Kopfschu Bverletzung mit Eroffnung der Stirnhohle, auch waren hier 
die Temperaturabnahmen nur minimale im Vergleich zu den amyosta- 
tischen und gingen nur einmal liber 0,5 0 hinaus. Uberhaupt kamen 
iiber 0,1 0 C hinausgehende Temperaturabnahmen nach der Nah¬ 
rungsaufnahme bei 45 Messungen andersartiger Falle nur 3 mal vor, 
miter 50 Messungen bei den Amyostatikern aber 21 mal, was dafiir 
spricht, daB wirkliche Temperaturabnahmen bei den Amyostatikern 
haufig sind, bei andersartigen Fallen nur ausnahmsweise vorkommen. 
0,1 0 nicht iibersteigende Abnahmen diirften auch kaum auf wirk¬ 
liche Abnahmen der Korpertemperatur schlieBen lassen, sondern inner- 
halb der Fehlergrenze liegen. Uberhaupt waren ganz allgemein die 
Temperaturdifferenzen vor und nach der Nahrungsaufnahme bei den 
Amyostatikern groBere als bei den andersartigen Fallen, so daB die 
Temperaturkurven bei den Amyostatikern groBere Zacken aufweisen, 
wahrend sie sich bei den andern Fallen mehr einer graden Linie nahern. 
Eine befriedigende Erklarung fiir die Temperaturabnahme ist nicht 
zu geben. Moglicherweise beruht sie auf einer vermehrten Wiirmeabgabe 
durch Dilatation der HautgefaBe, auf die ja auch schon die anfanglich 
festgestellte starkere Erhiihung der Hauttemperatur bei den ersten 
Versuchen hinwies. Aber gleichzeitige Messungen der Rektal- und 
Hauttemperatur vor und nach dem Essen ergaben keine bestimmten 
Korrelationen zwischen beiden. Andererseits kann man auch an eine 
Stoning der Wiirmebildung bei den Amyostatikern denken. Erinnert 
werdenwir beidiesen Ergebnissen an gewissevonGrafe erhobeneBefunde, 
der bei einigen katatonischen Stuporen nur cine geringfiigige Reaktion 
des Korpers auf die Nahrungszufuhr durch Stoffwechseluntersuchungen 
feststellen konnte; ob diese Befunde auch bei den hypertonisch-akine- 
tischen Fallen erhoben werden, ist naturlich nicht zu sagen. Es ist aber 
von Interesse, daB bei den ebenfalls bewegungsarmen und starren 
Stuporkranken Stoffw’echselbefunde festgestellt sind, die eine geringe 
oder fehlende Temperaturerhohung nach der Nahrungsaufnahme er- 
kliiren wiirden. —Jedenfalls also ergeben die Untersuchungen in unseren 
Fallen Unterschiede der Temperaturregulierung gegeniiber andersartigen 
Fallen, Unterschiede aber, die durch das Vorhandensein der Rigiditat 


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Beobachtungen beim akinetisch-hypertonischen Symptoraenkomplex. 219 

und des Tremors an sich nicht befriedigend erklart werden konnen, da 
man zunachst eher eine starkere Warraeproduktion hierbei erwarten 
wiirde. Immerhin sind Warmeregulationsstbrungen bei der Lokalisa- 
tion derKrankheitsprozesse in den vorliegenden Fallen im striaren System 
nicht weiter verwunderlich. Wiesen doch B e c h t er ew u. a. Beziehungen 
zur Warmeregulation fur den Thalamus, Aronsohn und Sachs, 
Richet, Gerard, White, Scliultze u. a. fur das Striatum, vor 
allem Isenschmid und Krehl fiir den Hypothalamus nach. Speziell 
der Hypothalamus, dessen Ganglienzellmassen in Abhangigkeit vom 
Striatum stehn (Spiegel), beeinfluBt dio autonomen Innervationen 
und enthalt bekanntlich, wie Karplus und Kreidl nachwiesen, ein 
Sympathikuszentrum, von dem aus die SchweiB- und Tranensekretion 
sowie die Konstriktion der Blutgefafie beeinfluBt wird, also Funktionen, 
die mit der Warmeregulation in inniger Beziehung stehen. AuchLeschke 
fand, daB die Warmeregulation und die Fahigkeit, auf eine Infektion 
mit Temperatursteigerung zu antworten, an das Erhaltensein des hin- 
teren Teils der Regio subthalamica gebunden ist. Nach Ausschaltung 
des Zwischenhirns blieben nach Citron und Leschke Infektionsfieber, 
Kochsalzfieber, Fieber durch Paraffin und Tetrahydronaphtylamin 
aus. H. H. Meyer nimmt in jenen Gegenden ein Warme- und Kalte- 
zentrum an, das erstere soli dem Sympathikus, das letztere dem Para- 
sympathikus angehoren. Ferner wird speziell die chemische Warme- 
regulation durch Zunahme des Muskeltonus und Muskelzittern mit der 
Regio subthalamica in Verbindung gebracht (Isenschmid). Alles 
dies laBt das Vorkommen von Temperaturregulierungsstorungen in 
unseren Fallen durchaus erklarlich erscheinen. Hinzu kommt, daB spe¬ 
ziell bei anderen Formed der Encephalitis epidemica von zwei Forschern 
eigenartige Temperaturabweichungen festgestellt wurden, die in enger 
Beziehung mit dem in diesen Fallen so haufig gestorten Schlaf standen. 
Es fand namlich Misch in einem Fall von choreatischer Form der En¬ 
cephalitis epidemica im Schlaf normale Temperaturen, w&hrend am 
Tage Fieber bestand. Lust konnte bei Kindern mit der bekannten 
postencephalitischen Schlafstorung und Unruhe in gewissem Gegensatz 
hierzu durch Fiebererzeugung Schlaf hervorrufen. Ferner fand Fischer 
in einem Fall von epidemischer Encephalitis mit linksseitigen rhyth- 
mischen Zuckungen, die den vielfach beschriebenen myoklonischen 
Zuckungen glichen und auch auf Lasionder Zentralganglienzuruckgefiihrt 
werden miissen, auf der linken Korperhalfte, solange Fieber infolge eines 
Decubitus bestand, liohereKorper- undHauttemperaturenalsrechts. Die 
Sektion ergab interessanterweise im rechten Thalamus und Linsenkern 
deutlich starkere Veranderungenalslinks. Fischerfiihrtdiehalbseitigen 
Temperaturdifferenzen darauf zurxick, daBdaspyrogene Agens (Toxin) auf 
das starker erkranktcGebietmehreinwirke,alsauf das schwiichererkrankte. 

13* 


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220 


W. Runge: 


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In Hinblick auf alle diese Beobachtungen w'urde versucht, in meinen 
Fallen noch auf andre Weise Tempera turregulierungsstorungen fest- 
zustellen. Es wurde dabei auf alte, aber immer noch zitierte Verstiche 
von R. Stern zuriickgegriffen, der durch langsame Abkiihlung und 
Erw&rmung in Badern unter Vermeidung jedes briisken Hautreizes 
(Kalte- oder Warmereiz) die Gegenregulation priifte. In derartigen 
Badern — so nimmt Stern an — sollen die Wasserverdunstung an der 
Hautoberflache, die Warmeabgabe durch Leitung und Strahlung 
groBtenteils zum Fortfall kommen. Die Kranken wurden also ent- 
snrechend dem Sternschen Vorschlag bei den Abkiihlungsversuchen 
in ein thermisch indifferentes Bad von 37 0 C (in den ersten 18 
Versuchen), bzw. 35 0 (in den iibrigen Versuchen) gesetzt, nachdem 
vorher die Korpertemperatur festgestellt war, dann das Bad, dessen 
Wasser sie bis zum Hals bedeckte, langsam abgekiihlt und der Versuch 
beendet, sobald deutliche und anhaltende Zeichen der Gegenregula¬ 
tion in Form von Zittern eintraten. Die Wasscrtemperatur und Korper¬ 
temperatur wurden auch am Ende des Versuchs gemessen. Die Mes- 
sungen wurden immer mit dem gleichen Thermometer in den ersten 
18 Versuchen im Munde vorgenommen, was von der Vorschrift Sterns 
abweicht, der 12 cm tief im Rectum maB, um die Korperinnentempera- 
tur zu erhalten. Die Mundmessung schien mir zunachst bcsser, da bei 
der Rectalmessung ein groBer Teil des Korpers aus dem Wasser heraus- 
kommt und abgekiihlt wird, bei der Mundmessung nicht. Da sich 
aber herausstellte, daB einige amyostatische Kranke den Mund bei der 
Mundmessung nicht geniigend geschlossen halten konnten, so daB 
Fehler moglich wurden, wurde diese Methode spater aufgegeben und 
nach Sterns Vorschrift rectal gemessen. Zur"Kontrolle wurden andere 
Fiille mit psychischen oder nervosen Storungen herangezogen. War 
Zittern schon vor dem Bade vorhanden, so wurde eine Verstarkung 
des Zitterns durch die Abkiihlung als regulatorisches Zeichen angesehen. 
Die erste Versuchsreihe bei Mundmessung ergab folcendes: 

Amyostatische Fiille (Badetemperatur im Beginn 37°). 

Durchschnittl. Differenz zwischen Kor- Durchschnittl. Endtemperatur des 
peranfangs- und Endtemperatur bei Bades 

5 Fallen = —0,21° 0 30,8° C 

3 „ = 0° C 

Andere Falle. 

bei 7 Fallen = —0,66° C I 29,5° C 

2 „ =4- 0,07° C 

Das Zittern setzte also bei den Amyostatikern durchschnittlich 
liei 1,3° hoherer Wassertempcratur als in den andern Fallen ein, 
ferner bei um0,45° geringerer Abkiihlung der Mundtemperatur. Ein Teil 


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Beobachtungen beim akinetisch-hypertonischen Symptomenkomplex. 221 


der andern Falle zeigte cine so prompte Warmeregulation, daB die 
Korpertemperatur bei Eintritt des Zitterns schon ganz geringfugig 
erhoht war. 

2. Versuchsreihe. Anfangstemperatur des Bades 35° C. Korper- 


Amyostatische Falle. 


Nr- 

Name 

Diagnose 

Differenz d. Korpertempe¬ 
ratur bei Beginn und Ende 
des Bades 

End tempera- 
turdes Bades 

1 . 

B. 

Akinct.-hyperton. Zu- 

- 0,1 

30,0 

2 . 

J. 

stand b. Encephalitis 

— 0,05 

31,0 

3. 

H. 

** 

+ 0,225 

28,0 

4. 


»» 

+ 0,05 

30,0 

5. 


99 

— 0,28 

30,0 

6 . 


)» 

— 0,05 

30,0 

7. 


Hyperton. Syndrom 





ohne sichere Encephal. 

— 0,05 

33,0 

8 . 

K. 

Paral. agit, sine agita- 





tione 

+ —0 

33,0 


|5 (63°/ 0 ) = — 0,12 30,6 

Durchschnittszahlen \2(25°/ 0 ) = +0,14 

ll (12°/ 0 ) = +-0 


Andcre Falle. 


1. 

B. 

Katat. 

— 0,18 

30,0 

2. 

B. 

Katat. 

+ —0 

31,0 

3. 

Sch. 

Hebephr. 

+ 0,45 

24,0 

4. 

A. 

Epil. 

— 0,11 

28,0 

5. 

L. 

Melanch. 

+ —0 

30,5 

6. 

B. 

Imbec. 

+ —0 

30,0 

7. 

B. 

Melanch. 

— 0,23 

25,5 

8. 

H. 

Infantil. Imbec. . . . 

+ 0,3 

25,5 

9. 

Br. 

Poliomyelitis. 

+ 0,25 

25,5 

10. 

M. 

Katat. 

— 0.1 

31,0 

11. 

K. 

Imbec. 

+ 0,2 

28,0 

12. 

P. 

Hebephr. 

— 0,1 

28,5 

13. 

J. 

Epil. 

— 0.02 

28.5 

14. 

K. 

Hyst. 

+ 0,05 

33,0 

15. 

R. 

Ale. chron. 

— 0,11 

30,3 

16. 

J. 

Paral. 

+ 0.15 

31,5 

17. 

G. 

Hebephr. 

— 0,09 

29,5 

18. 

G. 

Demenz (Alzheim?) . . 

— 0,18 

30,0 

19. 

R. 

Ale. chron. 

+ —0 

31,0 

20. 

K. 

Hvst. 

+ 0,2 

27,0 

21. 

Kl. 

Melanch. 

+ 0,1 

29,5 

22. 

P. 

Poliomyelit. 

— 0,2 

30,0 


1 10 (45°/ 0 ) = — 0,1 29,0 

Durchschnittszahlen < 8 (36°/ 0 ) = + 0,2 
1 4 (18°/ 0 ) = + —0 


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222 


W. Runge: 


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innentemperatur 12 cm tief im Rectum gemessen. Vor dem Messen 
und Beginn des Bades lagen die Kranken V 2 Stunde im Bett. 
Die Korperinnentemperatur wurde am Ende des Versuchs im Bade bei 
Knieellenbogenlage gemessen, wobei selbstverstandlich eine Beriihrung 
des Thermometers mit dem Wasser vermieden woirde. Die Versuche 
wurden vor dem Mittagessen in niichternem Zustande des Kranken 
vorgenommen. 

Sehr erhebliche Unterschiede zeigen also die beiden Gruppen von 
Fallen nicht. Immerhinsetzte das Zittern bei den Ainyostatikern 
bei durchschnittlich 1,6° hoherer Wassertemperatur ein, 
als bei den andersartigen Fallen. Ein Teil der Amyostatiker hatte 
zur Zeit des Zittereintritts bei geringer Erniedrigung der Wassertem¬ 
peratur durchschnittlich etwa die gleiche Senkung der Korperinnen- 
temperatur erfahren wie ein Teil der andersartigen Falle bei starkerer 
Erniedrigung der Wassertemperatur; die Abkiihlung erfolgte also bei 
den ersteren relativ schneller. Der Prozentsatz mit Abkiihlung der 
Innentemperatur war bei den Amyostatikern (63%) erheblich 
groBer als bei den andern Fallen (45%). Auch zeigten erheblich weniger 
Amyostatiker iiberhaupt keine Temperaturanderung oder -Steigerung 
als andere Fille. Die Temperatursteigerungen waren bei letzteren durch¬ 
schnittlich etwas, aber wenig groBer als bei den 2 Amyostatikern, die 
iiberhaupt nur eine solche aufwiesen. Der eine von letztern zeigte nur 
eine ganz geringe Rigiditat der Beine, der andere eine solche der Arme, 
aber ohne Tremor. Die Amyostatiker schienen also auf eine langsame 
Abkiihlung weniger haufig mit einer Steigerung der Innentemperatur 
zu reagieren wie andere Falle, wenigstens innerhalb der Zeit bis zum 
Eintritt des Zitterns. Dies, wie die schnellere Abkiihlung in einem Teil 
der Falle kann entweder damit erklart werden, daB die physikalische 
Regulation durch Konstriktion der HautgefaBe (und damit Verdrangung 
des Blutes in die GefaBe des Korperinnern) bei den Amyostatikern 
weniger prompt erfolgt, infolgedessen wolil doch entgegen der Annahme 
von Stern eine Warmcabgabe durch Leitung von der Hautoberflache 
stattfindet, oder daB die durch Tonussteigerung der Muskeln bedingte, 
gesteigerte Verbrennung, also die chemische Warmeregulierung bis 
zum Eintritt des Zitterns w'eniger intensiv ist, wie in den andern Fallen, 
was also grade das Gegenteil von dem bedeuten wurde, was man als 
Folge der schon vorher vorhandenen starken Spannungserhohung der 
Muskulatur, die durch die Abkiihlung noch gesteigert wird, erwarten 
sollte. Jedenfalls liegt eine weniger prompte Regulation vor, 
als in den andern Fallen, dafiir setzt allerdings das Zittern bei den 
amyostatischen Fallen friiher ein. Ob dies auf die schnellere Abkiihlung 
der Innentemperatur oder allein auf die vorhandene Tremorbereitschaft 
zuriickzufiihren ist, lafit sich nicht mit Bestimmtheit sagen, wahrschein- 


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Beobachtungen beim akinetisch-hypertonischen Symptomenkomplex. 223 

lich spielt beides hier eine Rolle. Sollte die schnellere Abkiihlung auf 
die mangelhaftere Funktion der Vasomotoren der Haut bei den Amyosta- 
tikern zuriickzufiihren sein, so wurde das mit der oben gefundenen Tat- 
sache in gewisser Obereinstimmung stehn, daB die Hauttemperatur 
der Amyostatiker ofter eine hohere als in andern Fallen ist. Bei der 
Mundraessung traten die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen 
nicht in dieser WeLse zutage, vielmehr erfuhren die Amyostatiker hier 
bis zum Eintritt des Zitterns seheinbar eine geringere Abkiihlung als 
die andern Falle, eine Erhohung der Korpertemperatur innerhalb dieser 
Zeit zeigten hinvviederum nur einige der andern Falle; dieAbweichungen 
sind aber auf die obengenannten Fehlerquellen zuriickzufiihren. Be- 
merkt sei noch, daB die Differenzen in beiden Gruppen nicht etwa mit 
einer verschiedenen Lebensweise in Zusammenhang gebracht werden 
konnen, da dieselbe bei alien Untersuchten ziemlich gleich war, vor 
allem die Kranken langere Zeit auBer Bett waren. Nebenbei ist zu be- 
merken, daB die Versuchsergebnisse bei den Nicht-Amyostatikern in 
gewissera Gegensatz zu den Ergebnissen von Stern stehen, der aller- 
dings Gesunde untersuchte. Er fand in seinen wenigen Fallen den Ein¬ 
tritt des Zitterns durchschnittlich erst bei 26° C Wassertempera- 
tur, ich in meiner erheblich groBeren Zahl von Untersuchungen bei 
29 0 C. Die Korpertemperatur sank bei diesen Versuchen in den 
Sternschen Fallen um 0,1—0,8°C, in meinen Fallen um 0,1—0,2°, 
wiihrend sie in nicht geringer Zahl der Falle um 0,2°stieg, in wenigen 
Fallen unverandert blieb. Die Differenzen beruhen nicht etwa darauf, 
daB meine Versuche nach wesentlich kiirzerer Zeit abgcbrochen wurden, 
wie die Sternschen. Die Versuchsdauer betrug in den Sternschen 
Fallen 10—30, vereinzelt 50 Minuten, in meinen Fallen 8—28 Minuten, 
vereinzelt bis 42 Minuten. Der Versuch wurde nach der Sternschen Vor- 
schrift dann beendet, wenn nicht rnchr unterdriickbare Muskelzuckungen 
auftraten. Es zeigte sich auBerdem bei mehrfacher Wiederholung 
der Versuche an den gleichen Individuen, daB fast durchweg 
diejenigen, die vorher eine Steigerung der Innentemperatur bei Ab- 
kiihlung aufgewiesen hatten, in der Regel jetzt ebenfalls eine solche, 
wenn auch nicht iminer um die gleiche Zahl von Graden zeigten, und 
daB bei den Fallen mit Temperatursenkung ebenfalls solche bei wieder- 
holten Versuchen festgestellt werden konnte, alles dies unabhangig da- 
von, ob die Abkiihlung etwas schneller oder langsamer vorgenommen 
wurde oder ob die Badetemperatur bei Beginn des Zitterns und Ab- 
schluB des Versuchs eine hohere oder niederere war. Es zeigte sich 
sogar, daB bei der Gruppe mit ansteigender Innentemperatur diese um 
so inehr anstieg, je langer die Versuchsperson im Bade blieb und je 
kiihler die AuBentemperatur wurde. Die Sternschen Ergebnisse be- 
diirfen also einer Revision. Es muB sich bei den Fallen mit ansteigen- 


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224 


W. Runge; 


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der Innentemperatur urn Individuen mit besonders prompt einsetzen- 
der Warmeregulation handeln, es mtissen individuelle Eigentiimlich- 
keiten hier eine Rolle spielen, und es lieB sich auch feststellen, daB die 
Versuchspersonen mit friihzeitig ansteigender Innentemperatur ,,ab- 
gehartete" Individuen waren, die im Sommer haufig oder mehr oder 
weniger regelmaBig kalt badeten. 

Als Zeichen der einsetzenden Warmeregulation bei Erbitzung sah 
Stern den SchweiBausbruch an. Bei den entsprechenden Versuchen, 
die im iibrigen in gleicher Weise durchgefiihrt wurden, wurde das Bade- 
wasser langsam erhitzt, der Versuch bei Beginn deutbcher SchweiB- 
sekretion abgebrochen und die Endtemperatur des Bades und Korpers 
bestimmt. Die Ergebnisse sind folgende: 


Amyostatische Falle. 


Nr. 

Name 

1 1 

Diagnose 

i 

Differenz 

Endtemperatur 
des Bades 

1 . 

J. 

Akin.-hyperton. Syn- 


| 



drom bei Encephalitis 

+ 0,9 

40,0 

2 . 

H. 

„ 1 

+ 1,15 

40,5 

3. 

M. 

** 

+ 0,45 

40,5 

4. 

K. 

Paral. agit. sine agitat. 

+ 0,93 

39,5 

5. 

1 B. 

Akinet.-hyperton. Syn- 


1 


1 ' 

drom bei Encephalitis 

+ 0,05 

j 38,0 



Durchschnittszahlen 

1 

+ 0,68 

39,7 



And ere 

Falle. 


1 . 

D. 

Hebcphr. 

+ 0,63 

40,0 

2 . 

F. 1 

Lues spinal. + Epil. 

+ 0,03 

37,6 

3. 

Sch. 

Epil. 

+ 0,65 

39,2 

4. 

H. , 

Ale. chron. 

+ 0,6 

39,0 

5. 

W. 1 

Katat. 

+ 0,55 

40,5 

6 . 

L. 

Ale. 

+ 1,3 

39,7 

7. 

St. 

Hebephr. 

+ 0,4 

37,0 



Durchschnittszahlen 

+ 0,59 

39,0 


Die Unterschiede in beiden Gruppen sind weniger erlieblich als bei den 
Abkiihlungsversuchen. Die Erwarmung des Bades bis zum Eintritt 
des SchweiBausbruchs zeigte in beiden Gruppen durchschnittlich nur 
einen Unterschied von 1 J.. °. In dieser Zeit war die Korpertempera- 
tur der Amyostatiker um durchschnittlich 0,09 0 mehr gestiegen 
als in den andern Fallen. Die Temperaturregulierung schien also wieder 
bei erstern nicht ganz so prompt wie bei den andern, was etwas auffallend 
ist, da einzelne dieser Falle sonst sehr stark und leicht scliwitzten. Die 


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Beobachtungen beim akinetisch-hypertonischen Symptomenkomplex. 225 


Unterschiede sind aber zu gering, um Bestimmtes daraus zu schlieBen, 
auch waren unter den Nicht-Amyostatikern 2 Falle, die aus unbekannten 
Griinden schon auffallend friihzeitig bis 37 und 37,6 0 C SchweiB- 
ausbruch zeigten. 

Nach den gesamten Untersuchungsergebnissen lassen sich also ge- 
wisse Storungen der Warmeregulation bei den akinetisch-hypertonischen 
Fallen nachweisen, und zwar hin und wieder auffallend hohe Haut- 
temperaturen, auffallend niedrige Korpertemperaturen, 
paradoxe Regulationserscheinungen im Sinne einer Tern- 
peratursenkung nach der Nahrungsaufnahme und schlieBlich 
eine weniger prompte Regulation bei Abktihlung trotz ver- 
fruhtem Eintritt des Zitterns, das dem auch sonst in unseren Fallen zu 
beobachtenden Zittern glich bzw. wie eine verstarkte Form desselben 
aussah. Im Hinblick hierauf waren genauere Bestimmungen der Warme- 
bildung und des Warmeverlustes und Stoffwechseluntersuchungen in 
derartigen Fallen erforderlich. Bei der Paralysis agitans hat Grafe 
(s. v. Weizsacker) bereits solche Untersuchungen vorgenommen und 
eine wesentliche Stoffwechselsteigerung trotz der Rigiditat und des 
Zitterns nicht feststellen konnen, was mit den in den akinetisch-hyper¬ 
tonischen Fallen festgestellten Regulierungsstorungen insofern iiber- 
einstimmen wiirde, als diese jedenfalls nicht auf eine Steigerung, sondern 
vielmehr auf eine Verminderung der Warmebildung schlieBen lassen. 


Literatur. 

Fischer: Zur Frage des cerebralen und halbseitigen Fiebers. Zeitschr. f. d. 
ges. Neurol, u. Psychiatr. 76, S. 131. 1922. — Grafe: Beitrage zur Kenntnis der 
Stoffwechselverlangsamung (Untersuchungen bei stuporosen Zustanden). Arch, 
f. klin. Med. 102, S. 15, 1911. — Isenschmid: fiber den EinfluB des Nerven- 
systems auf die Warmeregulation und den Stoffwechsel. Med. Klinik. 1914. Nr. 7, 
S. 287. — Krehl: Pathologische Physiologie. 10. Auflage. 1920. — Krehl 
und Matthes: Wie entsteht die Tern peratursteigerung im fiebernden Organismus? 
Arch. f. exp. Pathol, u. Pharmakol. 38, S. 284, 1897. — Leschke: t)ber den Ein¬ 
fluB des Zwischenhims auf die Warmeregulation. Zeitschr. f. exp. Pathol, u. Therap. 
14, S. 167, 1913. — Lust: fiber die Beeinflussung der postencephalitischen Schlaf- 
storung durch temperatursteigemde Mittel. Dtsch. med. Wochenschr. 1921. Nr. 51, 
S. 1545. —Mendel: Paralysis agitans. Verl. v. Karger, Berlin 1911. — Misch: 
Zur Pathologie des Himstammes. fiber Himstammfieber. Zeitschr. f. d. ges. 
Neurol, u. Psychiatr. 66, S. 59, 1921. — R. Stern: fiber die Wirkung der Hydro- 
naphtylamine auf den tierischen Organismus. Virchows Archiv. llo, S. 14, 1889. 
— Derselbe: fiber das Verhalten der Warmeregulation im Fieber unter der Ein- 
wirkung von Antipyreticis. Zeitschr. f. kLin. Med. 20, Heft 1 und 2, 1892. — 
v. Weizsacker: Muskelkoordination und Tonusfrage. Dtsch. Zeitschr. f. Nerven- 
heilk. 74, S. 262, 1922. 


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(Aus dem Hirnforschungsinstitut der University t Budapest 
[Voratand: Prof. Karl SchafferJ.) 


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Beitrage zur Klinik und pathologischen Anatomie der extra - 
pyramidalen Bewegungsstorungen. 

Von 

II. Richter, 

Assistenten des Institute. 

Mit 12 Textabbildungen. 

(Eingegangen am 4. September 1922.) 

Die Verhandlungen tiber das Thema der extrapyramidalen Be- 
wegungsstorungen auf dem vorjahrigen Kongreb der Gesellschaft 
<leutscher Nervenarzte, insbesondere die inhaltsreichen Referate von 
Poliak, Jakob und Bostroem zeigten uns den grobenFortschritt, 
den wir auf dem Gebiete der pathologischen Erforschung dieser Krank- 
heitsgruppe bereits verzeichnen konnen: in der kurzen Spanne Zeit, 
die seit den ersten, hochbedeutenden Veroffentlichungen von Wilson 
und C. Vogt verstrichen ist, \vurde durch scharfe Beobachter und 
geistreiche Forscher cine solche Fiille wertvollen kasuistischen Materials 
und sinnfalliger Aufbaugedanken zutage gefordert, dab heute nicht 
nur die Existenz einer wichtigen, anatomisch genau begrenzten 
Erkrankungsart des Zentralnervensy.stems gesiehcrt ist, vielmehr schon 
innerhalb derselben die Umrisse mancher GesetzmalJigkeit in klinischen 
und anatomisch-lokalisatorischen Einzelheiten inimer scharfer ins Licht 
treten und zur Hoffnung berechtigen, dab die endgiiltige Klarungder 
Pathophysiologie dieser heute noch mehr-weniger ratselhaften Erschei- 
nungen, namentlich ein Einblick in den funktionellen Aufbau der 
striar bedingten Bewegungsverrichtungen nicht mehr lange auf sich 
warten labt. Indes glaube ich aus dem bisher vorliegenden Tatsachen- 
material nicht unberechtigt den Eindruck gewonnen zu haben, dab 
es heute noch angezeigt bleibt, als vorlaufige Forschungsrichtung fiir 
die nachste Zukunft dis bisherige beizuhalten und sich anstatt der 
Forcierung von konstruktiven Hypothesen auch weiter eher darauf zu 
beschranken, unser bisheriges Tatsachenmaterial mit klinisch genau 
beobachteten und anatomisch eingehend durchforschten Fallen zu 
erweitern. Namentlich erscheint cine Bereichemng der Kasuistik 


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H. Richter: Beitrage zur Klinik uud pathologischen Anatomic usw. 227 

durch solche Falle als besonders wiinschenswert, in welchen das klinische 
Bild mit rein auf das Striatumsystem beschrankten anatomischen 
Veranderungen inZusammenhang gebracht werden kann, oder in welchen 
nur bestimmte anatomische Segmente dieses komplexen Neuronen- 
systems durch einen krankhaften ProzeB betroffen wurden. Diesem 
Bediirfnis entspringt die Mitteilung zweier Falle von Kohlengasvergif- 
tung mit einer frappanten Ahnlichkeit sowohl im klinischen Bilde, 
als auch in bezug auf das pathologisch-anatomische Substrat; und aus 
diesem Gesichtspunkte verdient ein wciterer mitgeteiltcr Fall von 
Hemiathetose ein gewisses Interesse. Die drei Falle standen auf der 
internen Abteilung des hiesigen Spitals der juclischen Gemeinde in 
klinischer Bcobachtung und wurden mir vom Vorstand dicser Abteilung, 
Direktor Prof. H. Benedikt, giitigst uberlassen, wofiir ihm auch hier 
mein ergebenster Dank ausgesprochen sei. Der vierte Fall betrifft eine 
Kranke mit typischer Torsionsdystonie, die zuletzt auf der Nervenabtei- 
lung des hauptstadtischen Armen- u. Siechenhausspitals (Vorstand: Prof. 
K. Schaffer) beobachtet wurde; fur die Oberlassung des Falles schulde 
ich dem Abteilungschefarzt, Doz. Dr. E. Frey vielen Dank. Die ana¬ 
tomische Bearbeitung des Materials crfolgte im hirnanatomischen Insti- 
tut der Universitat unter Leitung von Herrn Prof. Schaffer, der mir 
auch diesmal mit seinen bewahrten Ratschlagen in dankbarster Weise 
zur Hilfe stand. £ 

I. 

Die Krankheitsjournale der beiden Falle von Kohlengasver- 
giftung, die der gewesene Abteilungsarzt Herr Dr. J. Biedermann 
mir freundlichst iibcrlieb, enthalten auszugsweise folgende Aufzeich- 
nungen: 

Fall 1. Die 62jahrige Witwe, Frau J. F. wurde am 10. XI. 1019 mit der 
Anamnese ins Spital aufgenommen, sie sei vor 8 Tagen vor dem Gasofen zusammen- 
gestiirzt und habe ihr BewuCt.sein verloren; sie blieb von 6 Ukr abends bis zum 
nachsten Morgen, wo sie von den Angehorigen mit mehreren Brandwunden am 
FuB aufgefunden wurde, bewuCtlos; im Zimmer war starker Kohlengasgeruch 
zu verspiiren. Sie war nachher iiberaus matt, schwerbesinnlich, iminer schlafrig, 
konnto nur mit Unterstiitzung gehen; sie wurde noch am selben Tage zwecks 
Behandlung ihrer Brandwunden ins Roehusspital eingeliefert. wo sich ihr allgemei- 
ner Zustand allmiihlich verschlimmerte; am 8. Tage ihrer Krankheit liatten die 
Angehorigen die Kranke ins jiidische Spital gebracht. Bei der Aufnahme fiel schon 
der starre Gesichtsausdruck, das Fehlen mimischer Gesichtsregungen auf; seltener 
Lidschlag. Die Muskulatur des ganzen Korpers ist auBerst gespamit; beim Ver- 
such einer passiven Bewegung orhoht sich die Rigitat im betreffenden Glied. 
An der AuBenflfiche des rechten Oberschenkels eine etwa kleinhandtellergroBe, 
bereits in Heilung begriffene Brandwunde. Lungenbefund: normale, bewegliche 
Lungengrenzen, an der Basis etwas rauheres Atmen. Herzdampfung normal; 
der erete Ton ist nicht scharf abgegrenzt; iiber den GefaBen ist der erste Ton 
dumpf. Rhythmischer, kleinwelliger Puls, p. M. 82. Zunge rein, Nasenrachen- 


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228 


H. Richter: Beitrage zur Klinik und pathologischen 


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raura frei. Schlucken gut. Bauchmuskeln gespannt. Leber und Milz zeigen nor- 
male Konturen. Ham strohgelb, sp. Gew. 1020, EiweiB in Spuren, Eiterprobe 
portitiv. Im Sediment: zahlreiche weiBe Blutkorperchen und Plattenepithelien 
aus den unteren Harnwegen. Blutbild: 302.5000 rote, 11200 weiBe Blutkorper¬ 
chen, Hgbl.: 38. Qualitativ: 72°/ 0 neutroph. Leukoe., 14°/ 0 kleine, 5% groBe 
Lyniphocylen, 9°/ 0 t'bergangsformen. 

Nervensystem: Beim Stehen ist die Krankc stark vomiibergebeugt, die 
Wirbelsaule ist besondors im oberen Dorsalteil nach vorne gekriimmt. Arme 
an den Korper gezogen, in Geburtshelferstellung. Beim Gehversuch auBerordent- 
lich kleinschrittiger, trippelnder Gang; kann ohne Unterstiitzung nicht gehen; 
Propulsion. Die gesamte Muskulatur zeigt eine starke Rigidit&t, die passiven 
Bewegungen erheblichen Widerstand entgegensetzt. Passiv eingestellte, unge- 
wohnliche Haltungen der Arme werden lange beibehalten. In solcher Haltung 
erinnert sie an die Flexibilis cerea des Katatonikers. Die aktiven Bewegungen 
zeigen auch bemerkenswerte Anderungen. Es fallt vor allem die Bewegungs- 
armut auf; sie liegt stundenlang regungslos im Bett; weder mimische, noch ander- 
weitige Orientierungs-, Schutz- oder Abwehrbewegungen, wie sie beim Gesunden 
auf adaquate Reize sich prompt einzustellen pflegen, kann man bei ihr beobachten. 
Wenn sie auf mehrfach wiederholte Aufforderung eine aktive Bewegung mit dem 
Arm untemimmt, bleibt sie wahrend der Ausfiihmng ofters stehen und setzt die 
Bewegung in der gewiinschten Richtung erst auf neueres Zureden fort; manchmal 
wird diese trotz Zusprache nicht zu Ende gefiihrt und der Arm bleibt in einer 
zwecklosen Stellung durch mehrere Minuten fixiert. Sehnenreflexe gesteigert, 
rechts lebhafter (spastisch) als links; Babinski, Mendel, Oppenheim, Gordonsches 
Zeichen fehlten. Die groBen Zehen bcider FiiBe zeigen zeitweise spontan eine Dorsal- 
flexionsstellung (Pseudobabinski O. und C. Vogt). Bauchdeckenreflexe waren 
nicht auslosbar. Pupillen, Augen- und Zungenbewegungen sind frei. Sehen, 
Horen, Sprech- und Schluckakt blieben erhalten. Keine Sensibilitatsstorung. 

Die geistigen Verrichtungen sind stark herabgesetzt. Der Zustand entspricht 
einem leichten Stupor. Die Perception ist sehr verlangsamt; Fragen miissen 4- bis 
omal wiederholt werden, bis die Kranke sie versteht; meist wiederholt sie sich 
die Frage und gibt dann in wenigen Worten eine meist zutreffende Antwort. 
Beziiglich ihrer Erkrankung und Einlicferung besitzt sie keine Erinnerung. Ihr 
Gedachtnis iiber friihere Erlebnisse hat auch merklich gelitten. Die Sprache 
weist cbenfalls eine deutliche Storung auf; sie erkennt die einzelnen ihr vor- 
gesetzten Gegenstande, bezeichnet sie aber oft mit Umschreibung ihrer 
Venvendung: beim Vorzeigen eines Schliissels sagt sie: offnen, auf eine Kette: 
Halter, wieviel macht 5 X 5 = ,,Fiinfhundertfunfundzwanzig“, 5 X 20 = Fiinf- 
hundert. Die Sprache wird durch Paraphasien, Neigung zu Alliterationen und 
Perseverieren gestort. 

7. XII. Ihr Zustand ist im allgemeinen unverandert; sie kiimmert sich nicht 
um ihre Angehorigen, die sie besuchen, liegt regungslos im Bett und muB regel- 
maBig durch die Pflegerin in eine andere Lage gebracht werden. Seit gestern 
Harninkontinenz. 

12. XII. Die Muskelrigiditfit ist noch mehr ausgesprochen. Heute wurde 
auf kurze Zeit ein grobwelliges Zitt^rn in beiden Hiinden beobachtet. 

20. XII. Seit 2 Tagen Fieber (bis 39,1° C). Cber der rechten Lunge vom 
interscapularen Raum abwarts Diimpfung, geschwachtes Atmen, yerstarkte 
Bronchophonie. Harninkontinenz andauernd. 

22. XII. Deutlich fortschreitender Marasmus. Decubitus am Kreuzbein, 
nelaotische Bullen an Ik- iden Fersen und am Trochanter. Lungenbefund un¬ 
verandert. 


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Anatomie der extrapyramidalen Bewegungsstorungen. 


229 


5. I. 1920. Nervenstatus unverftndert. Mimische Gesichtsstarre. Die Kranke 
liegt vollkommen unbeweglich und starr im Bett, so, wie sie hingelegt wird. Ganz 
selten hebt sie den Kopf vom Polster in die Hohe und halt ihn auch eine Stunde 
lang so. Reflexe eher abgeschwacht. Babinski, Oppenheim negativ. Aktive 
Bewegungen der Glieder werden iiberhaupt nicht mehr ausgefiihrt; passive sind 
infolge des groBen Rigors sehr eingeschriinkt. Der sakrale Decubitus hat schon 
auf den Knochen iibergegriffen. Im Harn kein neuer Befund. Blutbild zeigt 
hochgradige Anamie (2080000 rote, 29700 weiBe Blutkorperchen). Puls 118, 
leicht unterdriickbar. Herztone dumpf. 

16. I. Agonale Erscheinungen. Odeme der Beine, Cyanose, arhythmischer 
Puls. Rigiditat der Muskeln ist noch immer sehr deutlich. 

20. I. Exitus. 

Fall 2. Die 56jahrige Witwe, Frau C. H. wurde am 13. VI. 1920 mit ge- 
stortem Sensorium eingeliefert. Xach Angabe ihrer Angehorigen ist sie vor 4 Tagen 
infolge Kohlengasvergiftung erkrankt; sie hat ihr BewuBtsein nicht ganz ver- 
loren, ist aber seither schwerbesinnlich, hat hiiufig Erbrechen. Seit 2 Tagen Husten 
und Fieber. 

Die Kranke ist von niedriger Statur, gut genahrt. Knochensystem, Gelenke 
normal. Keine Driisenschwellung. Haut und Schleimhaute blaB. t)ber der 
rechten Lunge von der Spitze des Schulterblattes abwarts ged&mpfter Perkussions- 
schall, hier Crepitation, Bronchialatmen, gesteigerte Bronchophonie. Die linke 
Lunge weicht beim Atmen etwas aus, hier trockene Gerftusche. Herzdampfung 
normal. Puls kleinwellig, leicht unterdriickbar, p. M. 100. Temperatur 38,6° C. 
Zunge trocken, belegt. Bauch nicht schmerzhaft, zeigt keine Resistenz. Die 
Grenzen der Leber und Milz sind normal. Im Ham kein EiweiB, kein Zucker. 
Blutbild: 3600000 rote, 3300 weiBe Blutkorperchen Hgbl.: 66. Qualitativ: 76% 
Leukocyten, 8% kleine, 4% groBe Lymphocyten, 6% Ubergangszellen, 4% Eosino- 
phile, 2% Myelocyten. 

Nervenbefund. Augenspalten weit geoffnet, seltener Lidsclilag. Mimische 
Gesichtsstarre; Nasolabialfalten tief eingeschnitten. Pupillen prompt reagiereud, 
Hirnnerven frei. Die Muskulatur der Glieder und des Rumpfes ist rigid; gegen 
passive Bewegungen starker Widerstand. Arme in einer Dauerhaltung, bei der 
sie in Schulter adduziert, im Ellbogen leicht gebeugt und proniert sind, die Finger 
in Parkinsonstellung. Die einmal eingenommene Stellung wird lange beibehalten. 
Aktive Bewegungen werden kaum ausgefiihrt, verlaufen sehr langsam, mit Unter- 
brechungen. Beim Versuch passiver Bewegungen gibt sie heftigen Schmerz an. 
Sie kann weder stehen, noch gehen. Beim Aufsitzen im Bett zeigt sie die typisch 
rigide Kopfhaltung. Beine im Knie- und FuBgelenk leicht gebeugt, Muskeln 
rigid. Reflexe lebhaft. Babinski, Oppenheim rechts stets, links nicht immer 
angedeutet. Klonus fehlt. Keine Sensibilitatsstorung. Harninkontinenz. Obsti¬ 
pation. Die Sprache ist monoton, manchnml imdeutlich, verschwommen. Zeit- 
weise Schluckbeschwerden. Psychisch zeigt sie eine Benommenheit, die rasch 
wechselt; zeitweise kliirt sich ihr Sensorium, wobei sie auf einfache Fragen richtige 
Antwort gibt. Manchmal fangt sie plbtzlich zu weinen an. 0ber ihre Erkrankung 
scheint sie keine Erinnerung zu besitzen. Von ihren Angehorigen nimmt sie 
manchmal Notiz; meistens liegt sie apatkisch, wort- und regungslos im Bett. 

23. VI. Die Rigiditat der Muskeln ist noch mehr ausgesprochen. Psychische 
Benommenheit im Zunehmen. Zeitweise psychische Unruhe mit heftigem Weinen 
und Schreien. Ernahrung ungeniigend. Reflexe kaum auslosbar; Babinski - 
Oppenheim beiderseits angedeutet. 


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230 


H. Richter: Beit rage zur Klinik unci pathologischen 


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1. VII. Die Pneumonie hat sich iiber die ganze rechte Lunge ausgebreitet; 
diffuse Bronchitis iiber der linken; minimale Expectoration. StAndiges hohes 
Fieber. Pulsus inaequalis, zeitweise aussetzend. Getriibtes Sensorium, reagiert 
auf Ansprache iiberhaupt nicht mehr. nur auf schmerzhafte Reize durch Aufschreien. 
Die RigiditAt der rechtsseitigen Glieder ist verschwunden, an ihrer Stelle zeigt 
sich eine schlaffe Parese mit kaum auslosbaren Sehnenreflexen; Babinski unsicher. 
Links besteht die RigiditAt weiter. Secessus involuntarii alvi et urinae. 

4. VII. Die RigiditAt der linken Hftlfte ist auch nur mehr angedeutet. 
Reflexe stark herabgesetzt. Babinski, Klonus negativ. 

6 . VII. Exitus. 

Die Sektion hat in beiden Fallen Lungeneritziindung mit konsekutiver 

Herzlahmung als Todesursache festge- 
stellt. Von den inneren Organen soil 
liier nur vermerkt werden, daB die 
Leber in beiden Fallen auBer Stauungs- 
erscheinungen, die mit den agonalen 
Storungen im Blutkreislauf zusammen- 
hangen, nichts Krankliaftes aufwies. 

Die anatomischen Verande- 
rungen im Gehirn zeigten sowohl im 
makroskopischen als auch im histolo- 
gischen Bilde eine so weitgehendo Ahn- 
lichkeit, daB eine gesonderte Be- 
sprechung derselben gar nicht ange- 
zeigt ist. Die makroskopische Unter- 
suchung erfolgte im ersten Fall auf 
frontalen, im zweiten auf horizontalen 
Schnittebenen. Es ergab sich dabei, 
daB in beiden Fallen eine bilateral- 
syminetrische Enveichung im innersten 
Teil des Pallidums vorliegt. Die Lage 
Abb. 1. Erweichungsherd im inneren Kern und Ausbreitung der Herde zeigte in 
des Globus pallid, aus dem Fall I von beiden Fallen eine weitgehende Gleich- 
Kohlenmonoxydvergiftung. Der auBere formigkeit. Im Falle 1 sieht man am 
Kern des Pallidums ist intakt, ebenso Frontabschnitt (Abb. 1) eine dreieckige 
Putamen, Nucl. caudatus. Medialwarts Aushohlung im medialsten Pallidum- 
begrenzt die innere Kapsel den Herd, gebiet, die sich medialwarts durch die 
(Frontale Ansicht.) intakt erscheinenden Biindel der inneren 

Kapsel, abwarts zu durch die vordere 
Kommissur, aber auch lateralwarts ziemlich scharf gegen das gesund gebliebene 
auBere Pallidum abgegrenzt ist. Die Durchmesser des Herdes betragen in dorso- 
ventraler Richtung 6 mm; in mediolateraler Richtung 7 mm, in frontooccipitaler 
Richtung 8 mm. Auf dem Horizontalschnitt des Falles 2 (Abb. 2) breitet sich der 
Herd longs des vordersten Teiles des Hinterschenkels aus, reicht vorne bis zur 
vorderen Kommissur, lfiBt lateralwarts den auBeren Teil des Pallidums frei, ist 
aber nach dieser Richtung nicht so scharf begrenzt, wie im ersten. Die Herde 
sind intensiv gelb gefiirbt, ilire Wand ist unregelmaBig ausgehohlt, namentlich 
sieht man an der medialenWand einzelneRandbiindelder inneren Kapsel, wie siebalk- 
chenformig ausgespartvomErweichungsprozeB.indieHohle hineinragen. Im Inneren 
der Herde befindet sich eine lockere Gewebsmasse, die leicht entfemt w r erden kann. 

Die mikroskopische Untersuchung wurde nach den iiblichen Methoden aus- 
gefiihrt und ergab in beiden Fallen gleichlautend folgende Verfindenuigen: 



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Anatomie der extrapyramidalen Bewegungsstorungen. 231 

Nissl- und Van-Gieson-Bilder veranschaulichen gut die noch im Herd be- 
findliche Triimmermasse. Diese besteht hauptsachlich aus dicht aneinander ge- 
reihten Kornchenzellen mit groBem, gitterigem Zelleib; zwischen diesen findet 
man zahlreiche, kleine, vom iibrigen Gewebe losgeldste GefiiBe, mit der gleich zu be- 
sprechenden markanten Wandver&nderung. Endlich liegen zahlreiche, kleinere- 
groBere, amorphe, kugelig geformte oder maulbeerenahnliche Schollen frei im 
Zerfallsgewebe, die sich mit Hamatoxylin blaulich schwarz, mit Toluidinblau 
dunkelblau farben. Die Wand der Herde gegen das Pallidum wird durch eine 
stark aufgelockerte, spongiose Schicht 
gebildet, in der die Ganglienzellen des 
Pallidums vollkommen fehlen, hin- 
gegen zwischen den kaum vermehrten 
Kemen des Gliagewebes dichte Massen 
von Kornchenzellen liegen. Herx- 
heimer - Priiparate zeigen, daB die 
Liickenfelder der spongiosen Grenz- 
schicht mit groben Fettklumpen aus= 
gefiillt sind, und die Kornchenzellen 
ebenfalls mit fein verteilten Fett- 
kornchen beladen sind; solche Fett- 
komchenzellen kann man in einer 
Verteilung um die GefiiBe auch in 
entfernteren Teilen des Pallidums in 
groBer Zahl auffinden; hingegen fehlen 
sie im Putamen schon ganzlich. Eine 
feinkornige Fettfiirbung begleitet die 
Markfasernbiindel des Pallidums, 
wahrend die benachbarten Biindel 
der inneren Kapsel eine solche weniger 
deutlich erkennen lassen. 

In beiden Fallen war die iiufiere 
Hiilfte des Pallidums vom ProzeB ver- 
schont geblieben; eine betriichtlichere 
Pigmentierung der Nervenzellen. die 
hier alseinzigeVeranderung festgestellt 
werden konnte, diirfte mit dem relativ 
vorgeschrittenen Alter der Kranken Abb. 2. Horizontaler Schnitt aus der linken 
zusammenhiingen. Ebenso zeigten Hemisphare des Falles II von Kohlen- 
Putamen (Abb.10) undNucl. caudatus, monoxydvergiftung. Erweichungsherd im 
Thalamus, Corp. Luysi und Nucl. inneren Teil des Pallidums. Siehe Text, 
ruber auBer einer gesteigerten Pigmen- 

tierung der Xervenzellen keine Abweichung vom normalen Bilde. 

Wir waren seinerzeit nicht in der Lage, zur V T erfolgung der absteigenden 
subpallidaren Markdegenerationen die in beiden Fallen angezeigt gewesene Marchi- 
Methode anzuwcnden. Markscheidenpriiparate nach Spielmeyer und Weigert 
lieBen in den Markstrahlvmgen zum lateralen Thalamuskern, Corp. Luysi und 
roten Kern keinen merklichen Ausfall erkennen. Hingegen fiel es an Weigert- 
schnitten, die die Umgebung der Herde umfaBten, auf, daB die dem Herd unmittel- 
bar benachbarten Faserbiindel der inneren Kapsel — in einem eng begrenzten 
Abschnitt — teils keine, teils nur schwache Markfftrbung zeigten; im zweiten Falle 
war dieser Befund ein ganz augenfalliger. 

Die Veranderungen der GefaBe konnten an mit Van-Gieson- und Resorcin- 



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H. Richter: Beit rage zur Klinik und pathologischen 


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Fuchsin gef&rbtenPrfiparaten gut verfolgt werden. Die schon vielfach beschrie- 
bene Kalkablagerung in der GefiiBwand war in beiden Fallen eine reichliche. 
Vomehmlich war die Media der kleinen Arterien (Prftkapillaren) von dieser be- 
troffen. Im ersten Fall war sie weiter vorgeschritten ala im zweiten (kiirzere 
Lebensdauer nacli der Vergiftung). Die Kalkablagenmg beschr&nkte sich in beiden 
Fallen auf den Herd und die spongiose Grenzschicht desselben. In jiingeren 
Stadien ist die Media, deren Kerne eine blasse Farbung zeigten, mit feinen, staub- 
formig eingestreuten, durch H&matoxylin hellblau geffirbten Kornchen besetzt; 
sie lagern ineist nur in einem Segment der GefaBwand. Ein spateres Stadium 
diirften die Bilder veranschaulichen, wo man neben kleinen Kornchen auch groBere 
Kugelchen findet, die eine dunklere Fftrbung zeigen und wahrscheinlich durch 
Verschmelzung zu den Bildern der vorgeschrittenen Stadien fiihren, auf welchen 
die Muskelschicht durch einen oder mehrere gleichmaBig dunkelblau gefarbte 
Streifen ersetzt ist. In diesem Stadium ist die Kernfiirbung der iibrigen GefaB- 
schichten bereits verschwunden. Oft zersplittert sich der Kalkring und fiihrt 
zu einem volligen Zerfall der GefaBwand. In den Herden sieht man haufig Frag- 
mente von Kalkringen, die von zerfallenen GefaBen herriihren. Manchmal bleibt 
die Kalkablagerung und spatere Zerkliiftung der Wandschicht nur auf einen Teil 
der GefiiBwand beschrfinkt. Eine zweite, weit seltenere Ablagerungsstatte bilden 
die periadventitiellen Virchow-Robinschen Raume, ausnahmsweisediefiuBere Schicht 
der Adventitia. Ahnliche Farbung und Struktur zeigende Gebilde lagen frei imGewebe: 
im Herd und in der spongiosen Grenzschicht. Im Falle 1 traf ich im benachbarten 
Pallidum vereinzelt Bilder, die den Anschein verkalkter Ganglienzellen erweckten. 

Im zweiten Fall bestand eine bilateral-symmetrische Thrombotisierung der 
Art. cerebri media, und zwar in ihrem Hauptast in der Fossa Sylvii. Die histo- 
logische Untersuchung zeigte, daB der Thrombus nirgends zum volligen VerschluB 
des GefaBlumens fiihrte. 

Die Veranderungen der Himrinde konnen kur/. dahin zusammengefaBt 
werden, daB diese in stellenweise wechselnder Intensitat, ziemlich diffus chronisch- 
regressive Verfinderungen zeigte, die im zweiten Fall vielleicht mehr ausgesprochen 
waren. Es fehlten dabei irgendwelche Zeichen einer Parenchymerwcicliung, wie 
iiberhaupt die Merkmale eines intensiveren Abbauvorganges. An den GefaBen 
waren wohl regressive Wandverfinderungen (schlechte oder fehlende Kernfarbung, 
Zerkliiftung der Wandschichten) otters zu sehen, doch fehlte die aus demPallidum 
bekannte Kalkablagerung giinzlich. Auch im freien Gewebe konnten keine Kalk- 
konkremente festgestelilt werden. Hingegen waren im zweiten Falle einzelue 
Rindenkapillaren dadurch aufgefallen, daB ihr Lumen durch eine homogene, 
mit Toluidinblau sich tiefblau, mit Hainatoxylin tiefschwarz fiirbende Masse aus- 
gefiillt war; die GefaBwand war auch bei diesen frei von Kalkschollen. t)ber die 
Bedeutung dieser Niederschlagsprodukte konnte ich Nftheres nicht erfaliren; daB 
es sich um keine gewohnlichen Blutthromben handelt, darauf weist ilire histolo- 
gischeStruktur und Farbung hin; sie unterscheiden sich in dieser Hinsicht gfinzlieh 
von dem Thrombus in der Art. fossae Sylvii. — Die Markfasern der Rinde lassen 
einen diffusen Ausfall in der Tangentialschicht und in den Rindengeflechten er- 
kennen, der aber nirgend zu herdformigen Ausfiillen fiihrte. Die Nervenzellen zeigen 
fast durchweg verschieden vorgeschrittene Stadien der chronischen Nervenzeller- 
krankung. Bei den meisten ist derZelleib geschrumpft, dieXissl-Schollen verschwun¬ 
den, das Protoplasma dunkelblau tingiert, die Fortsatze diinn, oft korkzieherartig 
gewunden; der Kern nurseltener verandert. DieWucherung derGliazellkerne ist haupt- 
sachlich in der Niilie der GefaBe ausgesprochen; hier waren im ersten Fall Bilder 
einer stiirkeren Gliafaserung offers zu sehen. Fur eine besondere Bevorzugung ge- 
wisser Rindengebiete anderen gegeniiber boten meine Bilder keine Anhaltspunkte. 


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Anatomic der extrapyramidalen Bewegungsstdningcn. 


233 


Falit man die wesentlichen Krankheitsziige der beiden Falle zu- 
sainmen, so ergibt sich. dab in beiden Fallen schon einige Tage nach 
einer stattgefundenen Kohlengasvergiftung eine hochgradige Verstei- 
fung tier gesamten Korpermuskulatur in Erscheinung trat. begleitet 
von mimischer Gesichtsstarre, Bewegungsarmut und Bewegungsverlang- 
saraung, Neigung zum Beibehalten abnorracr Stellungen und Ausfall 
der gewohnlichen Orientierungs-, Schutz- und Ab wehr bewegungen. 
Gemeinsam ist fiir beide Falle das Fehlen der bekannten extrapyrami¬ 
dalen Hyperkinesen (choreatisch-athetotische Bewegungen: im ersten 
Falle bestand einmal einige Stunden lang Tremor der Hande). Die 
Sehnenreflexe waren in beiden Fallen anfangs gesteigert, spater ab- 
geschwkcht, die Pyramidenzeichen fehlten im ersten Falle, im zweiten 
waren hie stets angedeutet gewosen. In beiden Fallen bestand Harn- 
inkontinenz (im ersten stellte sich diese erst etwa nach einem Monat 
ein). Im ersten Falle hatte die Sprachstorungeinen corticalenCharakter: 
im zweiten bestand neben Dysarthrie auch Dysphagie. Beide Falle 
zeigten wahrend ihrer ganzen Beobachtungszeit eine mehr oder weniger 
starke Trubung des Sensoriums. In beiden bestand eine Lungenent- 
ziindung, die aLs die unmittelbare Tcxlesursache angesehen werden kann. 

Das pathologisch-anatomische Substrat der Gehirnerkrankung war 
in beiden Fallen gleichlautend eine bilateral-symmetrische Erweichung 
des medialstcn Pallidumgebietes, fur deren Entstebung weder eine 
Kreislaufstorung (Thrombose, Embolie), noch eine in den betreffenden 
Gebieten sich abspielende Entziindung verantwortlich gemacht werden 
konnte; die Thrombose der Art. cerebri media im ersten Fall kann mit 
der Pallidumerweichung um so weniger in Zusammenhang gebracht 
werden, da die Blutversorgung des Pallidums bekanntlieh durch die 
Art. cerebri anterior erfolgt. Die anfanglich gesteigerten Sehnen¬ 
reflexe und die im zweiten Fall angedeutet gewescnen Pyramiden¬ 
zeichen diirften ihre ErklArung darin finden, dab die Erweichungs- 
herde in beiden Fallen sich eng der inneren Kapsel angrenzten, und 
zwar, wie der Horizontalschnitt aus dem zweiten Fall zeigt, gerade 
dem vordersten Drittel des Hinterschenkels, wo bekanntermaben die 
Pyranndenbiindel fur die Glieder verlaufen; einzelne Faserbiindel 
zeigten hier auch eine fehlende oder schwache Markfarbung. 

Die hier angefiihrten Beobachtungen kdnnen weder vom Stand- 
punkt des klinischen Bildes, noch weniger aber in bezug auf die patho- 
logisch-anatomische Grundlage auf Neuartigkeit Anspruch erheben. 
Namentlich hat zuletzt Wohlwill in der arztl. Verein. Hamburg iiber 
die Gehirnveranderungen bei Leuchtgasvergiftung berichtet, wo er 
uliter 8 Fallen von Kohlengasvergiftung sechsmal die symmetrische 
Erweichung des Globus pallidus nachweisen konnte. Man findet in 
dem summarischen Bericht liber diesen Vortrag neben den anato- 

.\rclilv fiir Pgvchiatrie. lid. 67. 

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236 


H. Richter: Beitrfige zur Klinik und pathologischen 


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mischcn Bemerkungen auch Hinweise auf das einformige klinische Bild, 
in welchem starke Rigiditiit tier Muskulatur die Hauptrolle spielt. 
Da aber in Wohlwills Fallen eine langere klinische Beobachtnng 
scheinbar nicht vorlag, glaubte ich, keine iiberflussige Arbeit zu ver- 
richten, wenn ich die Falle hier zur Mitteilung bringe. Den haupt- 
sachlichen Grund hierfiir erblicke ich in dem Umstand, daB wie Wohl- 
will auf tier vorjahrigen Tagung der Ges. D. N. hervorhob, diese Falle 
die erste GesetzmaBigkeit beziiglich der Lokalisation innerhalb der 
striaren Herderkrankungen in der sinnfalligsten Weise bekr&ftigen. 
Bekanntlich haben O. u. C. Vogt als Erste auf Grund mehrfacher 
Beobachtungen den Satz aufgestellt. daB bei beiderseitigem Ausfall 
der Pallidumfunktionen eine zunehmende Spannung der Korper- 
muskulatur eintritt, ohne choreatisch -athetotische Bewegungen und 
ohne Tremor, und daB dieser reine Rigor in seinem Endzustand zur 
,,Versteifung in vertrackten Stellungen" fiihrt. 

Die Falle, aus welchen O. u. C. Vogt die These des Pallidum- 
syndroms ableiteten, waren teils Eigenbeobachtungen der Falle vom 
,,Status dysmyelinisatus"*, teils die in der Literatur befindlichen Falle 
von sog.Totalnekroseder Stammganglien. Nun haftet abe r diesen Beweis- 
fiillen der ,,Schdnheitsfehler“ an, daB sie entweder klinisch nicht das 
reine Bild der Muskelstarre zeigten, oder wenn ein solches best and, da*- 
anatomische Substrat nicht auf das Pallidum beschrankt war. Das 
klinische Bild der zwei Falle von ,,Status dysmyelinisatus" enthalt 
in den weniger vorgeschrittenen Stadien anfallsweise auftretende, 
athetotische Bewegungen und spastische Krampfanfalle, erst spater 
kommt es zur ausgesprochenen Versteifung: das Krankheitsbild ent- 
spricht also der Begriffsbestimmung; progressive, mit allgemeiner 
Versteifung endigende Athetose. Anatomisch waren die Falle durch 
eine \ r olumvcrminderung des Pallidums, G. Luysi, der Thalamuskernc, 
durch teilweisen Ausfall tier striopallidaren und schweren Ausfall jener 
Faserziige gekennzeichnet, die aus dem Pallidum zum Thalamus und 
Hypothalamus fiihrcn. Ahnliche Verhaltnisse hot der in jugendliehem 
Alter stehende Fall 0. Fischers. 

Tn den Fallen von H. Deutsch und v. Econorao entsprach das 
klinische Bild einer reinen Muskelstarre, doch zeigte sich im anatomisehen 
Befund neben einer zweifellosen Pallidumschadigung die vorwiegendc 
.Affektion des Striatums. Im Thomallaschen Fall waren anfangs 
torsionsspastische Erscheinungen im Vordergrund, die spater zu einer 
\ r ersteifung fiihrten; an der Totalnekrose lieteiligte sich neben dem 
Pallidum in hohem MaBe auch das Striatum. Auch in den Fallen der 
Forsterschen arteriosklerotischen Muskelstarre, die von 0. u. (’. Vogt 
untersucht wurden, zeigte sowohl das Pallidum als auch das Striatum 
den ,,Status desintegrationis“. 


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Anatomie tier extrapyramidalen Bewegungsstorungen. 235 

Wir verfiigen also heute noch iiber keinen Fall, in welchem eine 
von Beginn an reine, durch Hyperkinesen nicht komplizierte Muskel- 
starre mit einer auf das Palliduragebiet beschrankten, isolierten Affek- 
tion verbunden war. Die beiden hier mitgeteilten Falle liefern aber 
— bekraftigt durch Wohlwills gleichlautende Beobachtungen — 
den strikten Beweis, daB die Vogtsche Feststellung, wiewohl sie auch 
nicht an unkoraplizierten P'allen erhoben wurde (und sie muB deshalb 
urn so hoher eingeschatzt werden), zu Recht besteht. In unseren Fallen 
war nicht das ganze Pallidumgewebe zerstort, sondern nur der innerste 
Teil; der Herd lieB das Gebiet das Globus externus frei und hier konnte 
histologisch intaktes Nervengewebe festgestellt werden. Der Herd von 
geringem Urnfang zerstdrte im medialen Pallidu rage biet lediglich die 
wichtige’Cbergangsstelle, wo der grbBte Teil der strio- und pallidofugalen 
Fasern vor ihrem Abstieg zu den subpallidaren Zentren auf einen ganz 
engen Raum verdichtet sind. Werden diese Knotenpunkte durch einen 
krankhaften ProzeB beiderseitig zerstort, so raiissen w r ir den Ausfall 
saratlicher strio-pallidofugalen Innervationen gewartigen und die auf- 
tretenden klinischen Symptome in diesem Sinne bewerten. Wir er- 
blicken also das pathologische Moment, das fiir das Krankheitsbild 
verantwortlich gemacht werden kann, nicht so sehr in der Las ion des 
Pallidum, vielmehr in einer schweren Schadigung und Leitungsunter- 
brechung im Fasergebiet der subpallidarenBahnen, die vom Erweichungs- 
herd gerade an jener Stelle getroffen wurden, wo sie am dichtesten 
aneinandergedrangt sind. Halt man sich vor Augen, daB — mit Aus- 
nahme der wenigen, separat verlaufenden Biindel der Ansa lenticu- 
laris — samtliche efferenten Ziige des Nucl. caudatus, Putamen und 
Globus pallidus durch diesen EngpaB durchziehen, um sich dann 
in die zohlreichen subpallidaren Zentren zu zerstreuen, dann wird 
man es fiir erklarlich finden, daB eine beiderseitige Zerstdrung dieser 
Stellen — auch wenn sie isoliert zustande komrat — zu einer allgemeinen 
schweren Muskelstarre und den iibrigen striopallidaren Ausfallserschei- 
nungen fiihrt. Die beiden Falle lassen auch erkennen, daB die klinischeji 
Symptome nur als Ausfallserscheinungen und nicht als Reizsymptome 
aufgefaBt werden diirfen: das klinische Bild zeigt in beiden Fallen eine 
Einformigkeit und Stabilitat, und das anatomische Substrat entspricht 
einer einfachen, durch Erweichung verursachten Leitungsuliterbrechung 
des striopallidofugalen Fasersystems. Es ist also naheliegend im Sinne 
Y 7 ogts anzunehmen, daB die Muskelrigiditat und die wahrscheinlich 
mit ihr einhergehende Bewegungsverlangsamung den Effekt einer 
subpallidaren Enthemraung darstellen, wahrend der Ausfall der als 
primare Automatismen bezeichneten Bewegungen, wie Mimik, Orien- 
tierungs- und Schutzliewegungen, als Folge der aufgehobenen strio- 
pallidiiren Innervieiungseinfliisse anzusehen ist. Bei dieser Auffassung 

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23CS H. Richter: Beitrnge zur Klinik und pathologischen 

kann man auch cine Erklarung finden fiir den Unterschied, dor 
im klinischen Bilde zwischen den Vogtschen Fallen von Status 
dysmyelinisatus und den unseren besteht. Dieser ist erstens in der 
verschiedenartigen Lokalisation, zweitens und hauptsachlioh aber in 
der Verlaufsart der Krankheit gegeben. In den Vogtschen Fallen 
entwickelt sich ein eminent chronischer ProzeB im ganzen Pallidum; 
zerstort hier in allmahlichem Fortschritt sowohl die striopallidaren, 
als auch die pallidofugalen Fasern: der Ausfall der ersteren bedingt 
Hyperkinesen, ebenso wie die Erkrankung eines Teils des Striatums 
solche verursacht. Diese bestehen unverandert so lange, als sie durch 
leitungsfahige pallidofugale Fasern weiter vermittelt werden. Werden 
aber letztere bei Fortschritt des Prozesses in immer groBerem Malle zer- 
stort, so tritt die hyperkinetische Komponente des KrankheitsbiIdes 
mehr in den Hintergruiul, und es treten die reine Muskelstarre aLs 
subpallidiire Enthemmung, sowie die Akinesen als pallidare Ausfalls- 
erscheinungen immer starker hervor. In unseren Fallen war der Prozell 
nur auf jenen Teil des Pallidums beschrankt, in welchem keine strio¬ 
pallidaren, sondern lediglich nur pallidofugale Fasern verlaufen, so, 
daB die plotzliche, schwere Lasion dieser Faserung eine hyperkineti- 
tische Bewegung, selbst wenn eine solche durch das tjbergreifen des 
anatomischen Prozesses auf das Striatum bedingt gewesen ware, unter- 
driickt hatte. In unserem ersten Falle war die spontane Dorsalflexion der 
grollen Zehe ofters zu beobachten, bei gleichzeitigem Fehlen derselben, 
wenn nach dem BabinskischenZeichen gepriift wurde. Wir konnen alsodie 
Ansicht V r ogts bestatigen, nach der es sich bei diesem Pseudobabinski uin 
eine striar bedingte Zwangshaltung handelt. Nur scheint gegen die V ogt - 
sche Annahme — es handle sich hier um eine rudimentare Athetose — 
in unserem Falle dieTatsache zu sprechen, daB hier die iiblichen Hyjx^r- 
kinesen fehlten, insbesondere athetotische Bewegungen; so daB wir 
geneigt waren, diese Zwangshaltung als eine mit der Muskelsteifigkeit 
einhergehende, also auch bei eminent striaren Erkrankungen zu ge- 
wilrtigende Erscheinung anzusehen. 

Ob die in beiden Fallen beobachtete Harninkontinenz im Sinne 
der Beobaehtungen von Marburg und v. Czilarz als eine striar 
bedingte Ausfallserscheinung aufzufassen sei, mochte ieh unentschieden 
lassen. Die gleichzeitig bestandencn psychischen Storungen und 
Rindenveranderimg lassen auch einen corticalen Ursprung als nahe- 
liegend erscheinen, dies um so mehr, als die Blasenstorung im ersten 
Fall erst einen Monat spater als das iibrigc ziemlich unverandert ge- 
bliebene Pallidumsvndrom auftrat und im zweiten Fall wahrend der 
ganzen Beobachtung schwere Storungen der corticalen Funktionen lx*- 
standen hatten. 

Dvsarthrie und Dysphagie striaren Charakters bestanden nur im 


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Anatomie tier extrapyramidalen Bewegungsstorungen. 


237 


zweiten Falle, im ersten hatte die Sprachstbrung einen ausgesprochen 
corticalen Charakter. 

Die psych ischen Ausfallserscheinungen waren in beiden Fallen 
ausgesprochen, im zweiten war cine mehr-weniger standige Triibung 
des Sensoriums vorhanden, an deren corticaler Natur nicht gezweifelt 
werden konnte. Der stupordse Zustand des ersten Falles zeigte manche 
verwandte Ziige mit Zustandsbildern, die bei encephalitischer Affektion 
ties Striatums und l)ei manchen Wilsonkranken beobachtet wurden. 
Auffallend war aber in diesem Falle die vdllige Amnesie der Kranken 
in bezug auf ihre Erkrankung und deren Verlauf und auch eine gewisse 
Gedachtnisabnahme beziiglich friiherer Erinnerungen. Dieses Symptom 
erschien mir deshalb bemerkenswert, da ich unlangst einen Kranken 
beobachten konnte, der naeh einer Kohlengasvergiftung als sozusagen 
einzige Ausfallserscheinung eine hochgradige Gedachtnisschwache 
zeigte, die noch D/ 2 Jahre nach der Vergiftung unverandert war. Es 
handelt sich um einen 33jahrigen Advokaten, der deshalb seinen Bemf 
aufgeben muBte und —merkwiirdigerweise — seine intakt gebliebenen 
friiheren Kenntnisse im Sprachunterricht verwertete. Es waren die 
Erinnennigen aus der Zeit vor der Vergiftung gut erhalten, nur das 
Gedachtnis fiir laufende Angelegenheiten war fast ganzlich aufgehoben; 
dabei fiel die Teilnahmslosigkeit und Gleichgiiltigkeit auch dem eigenen 
Zustand gegeniiber auf. Hatte er irgendwelche Agenden zu verrichten, 
so wurden sie ihm immer notiert; aber auch diese Ma I3nah me erwies 
sich aLs unzuverlassig. Ich priifte seine Merkfahigkeit (lurch die Auf- 
gabe von Erlernen kurzer Versabschnitte; es zeigte sich, daU er diese 
ziemlich rasch erlernte, aber schon nach einer Stunde vergaB: einen 
zu Hause gut hergesagten Abschnitt konnte er mir nur dann vorsagen, 
wenn er ihn vorher noch einmal durchlas. Dabei kam es vor, daB er 
an drei hintereinander folgenden Tagen diesellx‘ Aufgabe von neuem 
gelernt hat. Adressen von haufiger besuchten Wohnungen hat er oft 
verfehlt. Die korperliche Untersuchung ergab nichts Pathologisehes. 
Die schwere Stoning der Merkfahigkeit fiel besonders deshalb stark auf, 
weil die iibrigen geistigen Fahigkeiten, Allgemein- und Fachkenntnisse, 
iiberhaupt die Intelligenz keinen bemerkbaren Ausfall zeigten. 

In der zusammenfassenden Arbeit von Sibelius iiber die psychi- 
schen Storungen nach Kohlenoxydvergiftung werden neben eehten 
Psychosen psychopathisehe Folgezustiinde beschrieben, in deren Vorder- 
grund Storungen des Gedachtnisses stehen. Die retrograde Amnesie 
in bezug auf die Umstande der Vergiftung und nachherigen Erkrankung 
gehoren zum gelaufigen Krankheitsbild; aber auch Falle mit iiber- 
wiegender relativ isolierter Stoning der Merkfahigkeit (wie sie in meiner 
obigen Beobachtung vorlag), sind beschrieben, der erste von Briand. 
Sibelius erblickt in diesen Ausfallserscheinungen den klinischcn Aus- 


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H. Richter: Beitrage zur Klinik und pathologischen 


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druck der durch die CO-Vergiftung hervorgerufenen Rindenveranderun- 
gen, die er und andere schon friiher nachweisen konntcn; er weist die 
Moglichkeit, dab diese psychogen bcdingt sein konnen, zuriick. Auch in 
unseren Fallen deuten die, wenn auch nicht so schweren Veranderungen 
des Rindenparenchyras auf die organisch-toxische Herkunft der bestehen- 
den retrograden Amnesie und der iibrigen Bewubtseinsstorungen bin. 

Ober die Kalkablagerungen im Erwcichungsgebiet des Globus 
pallidus soli bier nach den ausfuhrlicben Beschreibungen von Kolisko, 
Poelchen, Diirck, YVohlwill und H. Spatz nur kurz angedeutet 
werden, dab ihre Spczifitat in unseren Fallen nicht durch den krank- 
machenden Faktor (CO-Vergiftung), sondern durch die Statte ihrer 
Ablagerung bcdingt ist. Wollenberg und Spatz zeigten, dab Kalk- 
ablagerungen im Globus pallidus auch unter normalen Verhaltnissen 
vorkommen: .sie wurden hier in Fallen von Chorea und epidemischer 
Encephalitis (Diirck) haufig gcfunden. Im eminent chronischen 
Falle von O. Fischer waren sie ebenfalls cine Begleiterscheinung des 
Destruktionsprozesses im Pallidum. In unseren Fallen war die Kalk- 
ablagerung strong auf das erkrankte Gebiet des Pallidums beschrankt; 
nichtdestoweniger ist die Annahme, dab die Erweichung mit der Gefiib- 
verkalkung in einem ursachlichen Zusammenhang stiinde, auf Grund 
obiger Befunde von der Hand zu weisen; auch zeigten sich keine Lunien- 
veranderungen, die die Moglichkeit einer Kreislaufsstorung wahrschein- 
lich machen konnten. 

Man wird sich heute die Entstehung der Erweichungsherde im 
Pallidum, die einen — man darf wohl sagen — hiiufigen Folgezustand 
nach Kohlengasvergiftung darstellcn, am leichtesten erklaren, wenn 
man eine spezifische Affinitiit dieses Hirnabschnittes zur Giftwirkung 
des Kohlenmonoxyds annimmt, wie es Wohl will tut. Die klinischen 
Beobachtungen von .Jaksch und Seelert lassen vermuten, dab das 
Pallidum auch dem Mangangift gegeniiber einen Locus minoris resisten- 
tiae darstellt. Die Kalkablagerungen im erkrankten Gebiet sollten aber 
im Sinne Jakobs so aufgefabt werden, dab ,,sie bei starkerer Betonung 
ein sinnfalliger Ausdruck der Affektion dieses Gebietes“ sind. 

II. 

Die Aufzeichliungen des im Folgenden zu besprechenden Falles 
von Hemiathetose verdanke ich der Freundlichkeit des Abteilungs- 
arztes Dr. E. Fodor; diese enthalten auszugsweise folgendes: 

Der 53jahrige Kranke. S. Sch., wurde das erstemal am 5. VII. 1919 auf die 
interne Abteilung des hiesigen judischen Spitals aufgenommen. Aus der Anamnese 
erfahrt man, daB seine Eltern gesund sind. Aus seiner ersten Ehe entstammen sieben 
Kinder, aus der zweiten drei (1 Friihgeburt). Lues negiert, starker Raucher. 
maBiger AlkoholgenuB zugegeben. Seit Jahren herzleidend. Seit 4 Wochen Herz- 
klopfen, ranches Ermiiden, schweres Atmen, haufig Schwindelgefiihl. 


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Anatomie der extrapyramidalen Be wegungsstor ungen. 


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Bei der Untersuchung ergab sich folgender Befund: Erweiterte Hautvenen, 
cyunotische Nase und Finger. Erweiterter Thorax, kaum bewegliche Lungengren- 
7 .en. Atmung sonst gut. Diimpfung der Aorta bedeutend vergroBert, hier neben 
deni svstolischen Ton blasendes systolisches Gerausch, scharfer, akzentuierter 
diastolischer Ton horbar. Pulsus celer et altus, schwer zu unterdriicken. Leber 
etwas vergroBert. Xervensystem: Himnerven frei. Keine motorischen und 
Sensibilitatsstorungen. Patellar- und Achillessehnenreflexe beiderseits gesteigert. 
FuBsohlenreflex in Form von Plantarflexion, Klonus fehlt. Bauchreflex vorhanden. 
Im Ham EiweiB. Die Diagnose lautete damals: Aortitis incompensata, Xephro- 
sklerosis. Emphysema. Xach ausgiebiger Venaesektion trat in seinem Zustand 
Besserung auf. so daB er nach einigen Tagen entlassen werden konnte. 

2. Spitalsbehandlung Xov.-Dez. 1919. Xach Angaben des Kranken und seiner 
Frau befielen ihn am 20. IX. nachts heftige Schmerzen in den rechtsseitigen Glie- 
dern und in der Friih konnte er diese nicht bewegen. Auch hatte er das Gefiihl in 
denselben verloren. Das BewuBtsein war dabei nicht gestort. Allm&hlich kelirte 
das Gefiihl in den Gliedern zuriiek, nach 2 Wochen konnte er schon gehen und 
etwas spater die Hand bewegen. Gleichzeitig mit der Riickkehr der Beweglich- 
keit traten in der Hand schmerzhafte Kriimpfe auf, die aus den Fingern ihren 
Ausgang nahmen und sich auf den Unter- und Oberarm erstreckten. Seit dieser 
Zeit fiihlt er die rechte Korperseite iramer kalt und hat hier oft nadelstichartige 
Gefiihle. Auch im Munde fiihlt er reehts anders als links. Er ist seit diesera Anfall 
stark vergeBlich, pflegt die Xamen der Gassen oder seiner Kinder zu vergessen. 
Kr hat nachts offers Anfalle von schwerem Atnien, so daB er aus dem Bette steigt 
und stundenlang herumgeht. Die Untersuchung der inneren Organe ergibt im 
wesentlichen den friiher erhobenen Befund. 

Xervensystem: MiiBige Vorvvolbung beider Augapfel. Pupillen mittelweit, 
rund, reagieren auf Lichteinfall und Akkomodation gut. Augenbewegungen frei. 
kein Xystagmus. Facialis beiderseits gut innerviert. Zungenbewegungen frei, 
die gestreckte Zungenspitze weicht etwas nach links ab. Die grobe motorische 
Kraft der rechtsseitigen Extremitaten ist kaum vermindert. die Beweglichkeit 
aber in hohem MaBe eingeschrftnkt dutch Spannungszustande und fortwahrende 
athetotische Bewegungen der Finger, des Unter- und Oberarmes; am Beine sind 
diese Erscheinungen viel weniger ausgesprochen. Der Gang weicht nur darin 
von der Xomi ab, daB er etwas breitspurig ist; das Bein wird nicht geschleift. 
Knie- und Achillessehnenreflexe beiderseits gesteigert. reehts lebhafter. FuB¬ 
sohlenreflex ergibt reehts und links Plantarflexion, Oppenheims Zeichen reehts 
manchmal angedeutet. Die Sensibilitatspriifung ergab eine Hyperiisthesie und 
Hyperalgesie der ganzen rechten Korperhalfte. Hier klagt er iiber das friiher er- 
wfthnte, standige Kaltegefiihl und andere schmerzhafte Parasthesien (Xadelstiche). 
Spraehe, Schlucken gut, Sinnesorgane ohne Ausfallserscheinungen. 

Wiederholte Venaesektion und Hyoscin brachten eine wesentliche Er- 
leichterung. Der Blutdruck sank von 198 auf 145; auch die Schmerzen und die 
motorische Unruhe lieBen etwas nach. In diesem Zustand wurde der Kranke 
Ende Dezember entlassen. Keine wesentliche Anderung bis zur anderthalb Jahre 
spater erfolgten 

3. Spitalaufnahme Juli 1921. Der Kranke berichtet. daB er seit ungefahr 
2 Monaten heftige Stichschmerzen in der linken Seite einpfindet, die von der 
Achselhohle bis zur Iliacalgegend reichen und unter den Rippen besonders stark 
sind; sie treten unabh&ngig von den Mahlzeiten auf, dauem einige Stunden lang 
und horen wieder auf. Die Schmerzen und Krampfzustande in den rechtsseitigen 
Gliedern bestehen wohl, sind aber etwas milder, als anfangs. Er fiihlt die rechte 


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H. Richter: Beitriige zur Klinik und pathologischen 


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Seite noch immer anders, als die linke; auch die nadelstichartigen Parftstheaien 
kehren oft zuriick. Der Kranke ist sehr erregt, schlafloe, beschfiftigt sich niit 
Sel bst mordgedanken. 

Stat. praes. Outer Ernahrungszustand. Lungen- und Herzbefund un- 
verandert. Im Harn EiweiB in minimalen Spuren, im Sediment 2 bis 3 rote Blut- 
korperchen. Augenuntersuchung ergab neben maBiger Myopie konzentrisehe 
Einengung des Sehfeldes um 10—30°; Augenhintergrund undeutlich, feine Nebel 
im Glaskorjjer. — Hininerven frei; Sprache, Nchluckvermogen unbeeintrfichtigt. 
Der rechte Arm befindet sich in stiindiger motorischer Unruhe; die fortwfthrend 
wechselnden SpannungszustAnde und athetotischen Bewegungen der Handfinger, 
des Unter- und Oberarmes storen die aktive Beweglichkeit in so hohem MaSe, 
daB er diese Hand zum Essen oder Halten von Gegenstfinden kaum mehr benutzt. 
Das Bild der Bewegungsstorung hat sich insofem geiindert, daB neben den friiher 
beobachteten rein athetotischen Bewegungen jetzt in kiirzeren Intervallen heftige, 
choreiforme Greif- und Ruckbewegungen des Armes, besonders in den distalen 
Partien dazugetreten sind. die den Kranken oft veranlassen. seinen Arm irgendwio 
fixiert zu halten; gewohnlich benutzt er seine linke Hand dazu. Die Finger der 
rechten Hand zeigen eine nuffallende Veriinderung: die interphalangealen Gelenke 
sind spindelformig verdickt; diese wird durch die Umfangszunahme der Phalanx- 
epiphysen verursacht, wahrend der iibrige Teil der Phalangen im Vergleich mit 
der linken Hand eher verdiinnt erscheint. Die Hand ist blaB, leieht cyanotisch. 
Am Bein ist die motorische Unruhe nur mehr wenig ausgesprochen; hier bel&stigen 
ihn nur die haufig auftretenden, mobilen Spasmen. Die Nehnenreflexe sind rechts 
an der oberen und unteren Extremitftt noch immer etwas lebhafter als links; die 
pathologischen Pyramidenzeichen fehlen. Der Gang ist kurzschrittig und etwas 
breitspurig. Keine Ataxie. Blutdruck: 165—70. 

29. Y'll. Nachdem sich die Nchinerzen nacli Hyoscinbehandlung etwas 
milderten, und die hartniickige .Schlaflosigkeit gebessert ist, wurde er entlassen. 

4. Spitalsbehandlung. Oktober-Dezeinber 1921. Xach Angabe seiner Frau 
sind die .Schmerzen in der rechten Korperhiilfte seit 6 Wochen wieder sehr heftig, 
manchmal so, daB der Kranke sich wie zerstort gebardet. Seit einer Woche ist 
er gar nicht zurechnungsfahig. Bei der Untersuchung zeigt er eine hochgradige 
psychomotorische Unruhe, sieht Schreckgespenster vor sich, die ihm Hiinde und 
Beine abschneiden wollen. „Sie waren zu Hause im Keller versperrt.“ Die athe- 
totisch-choreiformen Bewegungen des rechten Armes sind sehr lebliaft; auch 
am Bein vorhanden, doch weniger intensiv. ltei passiven Bewegungen beobaehtet 
man eine deutliche Rigiditat dieser Glieder. Knie-Achillesreflexe rechts etwas 
lebhafter als links, puthologische Pyramidenzeichen fehlen, kein Clonus. Die 
Kalteparilsthesie ist rechts noch vorhanden, die spontanen Schmerzen scheinen 
heftig zu sein. Priifung der objektiven Kensibilitat ergab keinen Ausfall; die Hyper- 
asthesie ist weniger ausgesprochen. Im Urin EiweiBprolje schwach positiv. im 
Sediment einige Hyalinzylinder. Trij>elphosphat und viel Bakterien. In den letzten 
Tagen zeigte sich Harninkontinenz. 

Wahrend der zweimonatigen Spitalsl>eobachtung stellte sich allmahlicli 
wieder eine leichte Besserung ein, die aber ofters durch eigentvimliche Schmerz- 
attacken unterbrochen wurde. Diese Attacken zeichneten sich durch das plotzliche 
Auftreten von besonders heftigen Schmerzen im rechten Gesicht, Arm, Brust 
und Bauch aus, waren auch in der Herzgegend sehr intensiv; der Kranke springt 
aus dem Bett und geht wie zerstort im Zimmer herum. Brechreiz und wiederholtes 
Erbrechen wurde dabei beobaehtet. Wahrend des Anfalles war die rechte Hand 
auffallend blaB und kiihl. die Wand der Radialis stark kontrahiert. Wiederholte 


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Anatomie der extrapyramidalen Bewegungsstorungen. 


241 


Messungen zeigten, daB die Schmerzattacke imraer mit einem plotzlichen Anstieg 
desBlutdruckes verbunden war; dieser betrug wahrend des Anfalles 172—85mm/Hg, 
nach dem Anfall 132—50 (Rr.). — Am 25. X. hat er bei einem solchen hyperto- 
niachen Schmerzanfall Blut erbrochen. 

Die spfiter durchgefiihrte Magenuntersuchung zeigte eine Hyperaciditfit 
(freie HC1 37,7, Gesamtaciditfit 54,6); Blutprobe blieb negativ. Eine Rontgen- 
nnterauchung des Magens muBte wegen des Allgemeinzustandes unterbleiben. 

Beim Abgang des Kranken war sein allgemeiner Emfthrungszustand stark 
herabgesetzt. Die Bewegungsunruhe hat sich insofem gebessert, daB die chorei- 
formen Ruckbewegungen nachgelassen haben, und wieder das fruhere Bild der 
reinen Athetose zum Vorschein kam. Reflexe zeigen reehts keine deutliche Steige- 
ning gegen links, Babinski-Oppenheim negativ. Die Rigiditfit des Beines hat 
etwas nachgelassen. Der Kranke ist niedergeschlagen, seine Korperhaltung eine 
gedruckte, der Gang miihsam. 

Die 5. Aufnahme erfolgte Ende Januar 1922. Zunahme der friiheren Beschwer- 
den, Schmerzen und Parfisthesien reehts wieder lebhafter; er fuhlt jetzt die rechte 
Halfte bald heiB, bald kalt. Die Spannung im rechten Bein hat stark zugenommen, 
er kann das Bein im Knie nicht strecken und kann deshalb nicht gehen. 

Die Untersuchung ergab eine ausgesprochene Rigiditfit in den reehtsseitigen 
Extremitfiten mit Neigung zu Contracturen. Fortwfihrende athetotisch-chorea- 
tische Bewegungen im rechten Arm, dessen aktive Beweglichkeit eine minimale 
ist. Hyperfisthesie der rechten Korperhfilfte, mit Ausnahme der EuBspitze, die 
eher hypftsthetisch zu sein scheint. Reflexe beiderseits erhoht. Pyramiden- 
zeichen fehlen. Pupillen gleichmfiBig mittelweit, rund, reagieren prompt. Augen- 
bewegungen frei. Zungenbeweglichkeit gut. Sprache, Schluckakt normal. Pro- 
trusio bulbi unverftndert. Bauchreflexe vorhanden. SpitzenstoB mit zwei Finger- 
breiten auBerhalb der Medioclavicularlinie; Herzdfimpfung auch nach reehts 
vergroBert. Lungenbefund unverftndert. Am 30. I. hatte der Kranke einen be- 
sonders heftigen Schmerzanfall, wobei der Blutdruck 240—90 Hg (nach Riva- 
Rocci) betrug. Leber 2 Querfinger unterhalb des Rippenbogens tastbar. Cvanose 
der Haut, Puls rhythmisch, prall, stark wellig, betragt 80 pro Minute. Reehts 
ist er kleinwelliger als links. Athetotische Unruhe unverfindert. Morphin-Papa- 
verin blieben ohne Wirkung. Xachmittags trat wiederholt starkes Erbrechen auf; 
nachher sank der Blutdruck rasch auf 75—45 Hg. reehts konnte man den Puls 
nicht mehr tasten. Abends gestorben. 

Die Sektion erwies neben den in vivo schon vermuteten V'erfinderungen des 
Herzens, der GeffiBe und Xieren ein calloses Magengeschwiir an der klemen 
Kurvatur, nahe dem pylorischen Anted, das mit der Umgebung stark verwachsen 
war. 

Das in Formol gehfirtete Gehirn wurde in Frontalschnitten untersucht 
und nachher histologisch untersucht. Die Ergebnisse varen folgende: 

Der Hauptsitz der auch makroskopisch wahmehmbaren Veranderungen 
war der Kopfanteil des linken Schweifkorpers. Abb. 3 veranschaulicht sie. Es 
fftllt auf dem Bilde vor alleni die betrfichtbche Volumverfinderung des linken 
Caudatums auf, die hauptsfichlich durch eine tief eingezogene Falte an der medialen 
• Ventrikelflfiche bedingt ist. In der Richtung dieser Falte zieht eine Erweichungs- 
cyste durch den Kopf des Schweifkorpers, die vorne, im oroventralen Gebiet des 
Caudatums, bis zur Ventrikelflfiche reicht, von dieser nur durch eine dunne, durch- 
sichtige Wand getrennt ist und von hier sich caudalwfirts immer mehr nach dem 
Inneren des N. caudatus verzieht und nach einem Sagittalverlauf von etwa D/ 2 cm 
I^finge noch im Caput aufhort. Der caudale Abschnitt der Cyste liegt schon in 
der Nfihe der Inneren Kapsel, lfiflt aber diese ganz frei. 


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H. Richter: Beitriige zur Klinik und pathologisehen 


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Die Cyste besitzt eine ziemlich dicke. eigene Wand; nur im Vorderteil des 
Caudatums besteht die Wand aus Ependym und einer darunterliegenden diinnen, 
glioeen Fasersehicht. Die iibrige Wand zeigt als innerste Wandschicht einen 
breiten, stellenweise sehr starken, dichten Gliafaserfilz, der in Form von einzelnen 
Biischeln in die Hohle hineinragt; Zellkerne enthalt diese Schicht nur in untergeord- 
neter Zahl. Die Faserschicht wird von einem dichten Wall glioser Zellkerne be- 
grenzt. Lateralw&rts, gegen die Bundel der inneren Kapsel ist diese Schieht 
weniger ausgesprochen, medialwarts reicht sie aber bis zum Ependym; so daB 
zwischen Erweichungscvste und Ventrikelflache das ganze Nervenparenchym fehlt 
und durch ein uberaus kernreiches Gliagewebe ersetzt ist. Dorsal und ventral ist 
der Herd eng begrenzt, indem die Gliazellschicht eine diinne ist; dann folgt die 
normale Struktur des Caudatums. Die Gliazellkerne sind verschieden grolJ, zeigen 
lebhafte Chroinatinkornelung. Kornchenzellen sind in den Wandschichten der 
Cyste oder im Nachbargewebe nur ganz selten zu finden. Herxheimer-Praparate 

zeigen. daB hier die Abbau- 
vorgiinge schon abgelaufen 
sind; der Herd und seine 
Umgebung waren fast fettfrei. . 
Die Cyste enthielt eine wasser- 
klare Fliissigkeit. 

Neben dieser Cyste wies 
die genauere Untersuchung 
noch weitere Substanzdefekte 
auf. Auf Abb. 3 bemerkt man 
lateral von der Cyste einen 
konvex nach innen gebogenen 
groBeren und hart daneben 
noch einen kleineren!Spalt,die 
auf dem Bilde noch innerhalb 
des Caudatumgebietes liegen. 
Die histologische Untersuch¬ 
ung zeigt, daB diese >S pal ten 
nichts anderes als stark er- 
weiterte perivaskulareRaume 
sog. Kribliiren darstellen, die 
durch Einschmelzung des 
Xervenparenchyms entstan- 
den sind; an manchen Stellen 
Form von Gewebstriiminern 
noch sichtbar. groBtenteils sind aber diese Spaltrjiume schon leer und entbnlten 
nur ein losgelostes GefiiB in ihrer Mitte. Verfolgt man diese Spaltr&ume auf 
fserienschnitten in caudaler Richtung, so beobaclitet man, daB sie sich all- 
raahlich seitwarts verschieben und zwischen den lose zusammenhangenden 
Biindeln der inneren Kapsel in das laterale Gebiet des beginnenden Putamens 
verziehen; im Anfangsteil des Putamens findet man einen solchen. langlichen 
•Spalt hart an der Grenze gegen die auBere Kapsel, der sich hier rasch verringert 
und bald aufhort. Diese als Kribliiren bezeichneten Substanzdefekte haben 
keine eigene Wand, sondern grenzen uberall an normales Gewebe. Sie liegen 
uberall im Striatumgewebe, namentlich auch dort, wo sie zwischen den 
Faserbiindeln der uineren Kapsel durchziehen; hier findet man sie in den Ver- 
bindungsbriicken des Striatumparenchyms. die Caudatum mit Putamen verbinden. 

Die histologische Untersuchung dieser Spaltraume zeigt, daB hier das Nerven- 



Abb. 3. Erweichungsherd im FallvonHemiatheto.se 
im Kopf des linken Schweifkorpers; rinnenformige 
Einsenkung der Ventrikelfliiche, durch die Erwei- 
chungscvste bedingt. Lateral von der Cyste ein 
bogenformiger Spaltraum, der durch die innere 
Kapsel in das Putamen fiihrt. 


sind Residuen dieses Einschinelzungsprozesses in 


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Anatomie der extrapyramidalen Be wegungsstor ungen, 


parenchym spurlos verschwand; nirgends kam es zur Bildung eines Ersatzgewebes. 
Der Umstand, daB die Spaltraume iiberall von normalem Gewebe begrenzt sind, 
das alle histologiechen Merkinale eines im Gang befindlichen Auflosungsprozesscs 
vermissen laBt und die Herxheimer-Bilder, die zellige Abbauprodukte in den 
Spaltraumen oder in ihrer Umgebung nur in sehr geringer Menge erkennen lassen, 
durften zur Annahme berechtigen, daB auch dieser ProzeB seit liingerer Zeit be- 
standen hat, wahrscheinlich mit der cystischen Erweichung im Kopfe des Cauda - 
tums gleichzeitig ent- 
stand und mit dieser Wgr 

denAusgangspunktdes 1 jfr 

vor etwa anderthalb g A 

•Jaliren entstandenen 

Nervenleidens bildete. I 


Anders liegen die 
X'erhaltnisse bei jener 
Kribliire, die auf Abb. 

4 abgebildet ist. Auf 
einem FrontaLschnitt 
durch das mittlereTha- 
lamusgebiet erkennt 
man im dorsomedial- 
stenTeil des lateralen 
Thalamuskernes dicht 
unter dem Stratum 
zonale eine streifen- 
formig verlaufende 
Marklichtung.die einen 
langlichen Spalt um- 
gibt; im Spaltraum 
liegt ein etwas lfing- 
lich getroffenes GefaB 
und auf mehreren 
Schnitten sind Triim- 
nier des zerfallenen 
Xervengewebes zu 
sehen. Die den Spalt 
l>egrenzende Schicht 
des lateralen Thala- 
muskemes ist ent- 
markt, zeigt aber auf 
Spielmeyer - Schnitten 
grau-blau gefarbte 
Klumpen, die im ent- 
markten Gewebe zer- 
streut sind und in den periadventitiellen Raumen dicht angehauft sind; 
man wird nicht fehlgehen, wenn man sie als die primaren Abbauprodukte 
(Myelin) des Markgewebes betrachtet, um so mehr, als die Herxheimer-Farbung 
auffallige Bilder eines akuten Zerfallsprozesses liefert. Man sieht namlich. 
daB im Spaltraum groBe Fettklumpen liegen. entsprechend dem Zerfallsgewebe, 
das das GefaB in der Mitte des Spaltraumes umgibt. Die entmarkte. aber 
mit dem gesunden Parenchym noch zusammenhiingende Grenzschicht enthalt 
ebenfalls Fettschollen von verschiedenem Umfang in groBer Anzahl, auch das an- 


Abb. 4. Markscheidenbild aus dem mittleren Thalamus- 
gebiet. Im dorsomedialsten Teil des lateralen Thalamus- 
kerns zieht liings eines GefaBspaltes ein entmarkter 
Streifen (S) unterhalb der Strat. zonale. Nahere Be- 
schreibung im Text. 


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H. Richter: Beitrftge zur Klinik und pathologi.selien 


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grenzende, normal aussehende Parenchym istmitfeinenFettkornchen reichlicheinge- 
streut. An diesenPr&paraten falltauch auf.daB dieNervenzellen desganzen lateralen 
Thalamuskemea fettig ver&ndert sind, indem der Zelleib durchwegs hellrot geffirbt 
ist. Die Marksubtanz zeigt, abgesehen von der erwahnten streifenformigen 
Lichtung, keinen bemerkbaren Ausfall. Der Herd erreieht in der auf Abb. 4 
wiedergegebenen Hohe die groBte Ausdehnung, caudalwiirts verliert er sich bald, 
in frontaler Richtung ist er unter der Stria und Vena terminalis in den Nucl. 
caudatus zu verfolgen; ein Zusammenhang mit der Cyste ini Kopf des Schweif- 
korpers war nicht zu erkennen. Sein Verlauf liiBt aber die Annahme zu. daB es 
sich um eine perivasculfire Erweichung uni einen GefaBast handelt, der aus dem 
Nucl. caudatus ins dorsomediale Thalamusgebiet zieht. Es ist wahrscheinlich, 
daB dieser Herd ein jiingerer ist, als die Veranderungen im Nucl. caudatus und 
Anfangsteil des Putamens, die Zeichen einer sclion seit liingerer Zeit bestehenden 
Gewebsveranderung bieten. 

Auf Nissl-Bildem, die aus dem lateralen Thalamuskern stammen. findet 
man im Einklang mit den Herxheimer-Praparaten Zeichen einer schweren Gan- 
glienzellerkrankmig. In derUmgebung der perivasculiiren Erweichung fehlendie.se 
in einer ziemlich breiten Zone ganzlich und sind durch ein zellreiches Gliagewebe 
ersetzt, das ein zartes Gliareticulum bildet. Im Thalamuskern selbst ist die Zahl 
derZellen deutlich verringert, und die noch vorhandenen sind durchwegs schwer 
ver&ndert. Der Zelleib ist geschrumpft, erscheint meist als eine tiefblau gefiirbte 
Kugel, ohne Fortsatze mit einem geschrumpften, ebenfalls blau gefarbten Kern; 
eine Nissl-Struktur ist nicht zu erkennen. An manchen Zellen sieht man auffallend 
lange, verbogene oder gewundene Fortsatze. Stellenweise ist das Gewebe auf- 
gelockert, ohne groBere Liicken zu zeigen. hier fehlen die Nervenzellen. an ihrer 
Stelle finden sich kleine Anhaufungen von Gliazellkemen. 

Die makroskopisch intakten Teile des Nucl. caudatus und Putamens. sowie 
des Globus pallidus weisen auBer einer stilrkeren Pigmentierung keine Zeichen 
einer pathologischen Veriinderung auf. Die GefiiBliicken sind hier nicht breiter 
als es im normalen Bild der Fall ist. Im Herxheiiner-Bild zeigen einige Zellen ein 
rosarot gefarbtes Protoplasma; im medialen Thalamuskern und im roten Kern 
fand ich durchaus normale Verhaltniase. 

Die Gegend der linken vorderen Zentralwindung erwies sich sowohl im Mark- 
scheiden-, als auch im Zellenbild als vollkommen normal; ebenso lieBen Mark- 
scheidenpriiparate aus der Pons- und Oblongatagegend eine normale Markfullung 
beider Pyramidenbatmen erkennen. 

Eine weitere, uns hier niiher nicht interessierende kleine Erweichungscyste 
lag im Uncusgebiet des rechten Gyrus hyppocampi, die zu einer auch makrosko- 
pisch sichtbaren Atrophie des rechten Fornix und des rechten Corpus mamillare 
fiihrte. 

Die uns hier besch&ftigenden klinischen Symptome des Fa lies 
konnen im folgenden. zueaniniengefaBt werden: 

Bei einem 53jahrigen Mann, der an vorgeschrittener Aortitis leidet, 
entstehen insultartig heftige Schmerzen in der rechten KorperhaJfte 
und eine Lahmung und Gefiihlsstorung dieser Seite; letztere Ausfillle 
bilden sich in wenigen Tagen bis auf eine geringe motorische Schwache 
zuriick und es entwickelt sich nun ein Krankheitsbild, aus folgenden 
Symptomen bestehend: 1.Mobile Spasmenund athetotischeBewegungen, 
vornehmlich im rechten Arm, weniger ausgesprochen im rechten Bein, 
das Gesicht, ganzlich freilassend: 2. Kaltepariisthesie und nadelstich- 


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Anatomie der extrapyramidalen Beweguugsstorungen. 


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artige Gefiihle auf der betroffenen Seite; 3. Hyperasthesie und Hyper- 
algesie daselbst; 4. lebhaftere Sehnenreflexe hier, doch ohne die Pvra- 
midenzeichen (nur ira Anfang war einmal das Oppenheimsche Zeichen 
angedeutet). Im Laufe der mehr als zwei Jahre lang dauernden Beob- 
achtung traten in diesem Zustandsbild folgende Veranderungen auf: 
a) die athetotischen Bewegungen wurden spater kompliziert durch 
choreiforme Ruek- und Greifbewegungen im rechten Arm; b) in der 
letzten Zeit war cine starke Rigiditat der rechtsseitigen Muskulatur zu 
beobachten, die sich zuletzt in einer Neigung zu Contracturen iiufJerte; 
c) die Schmerzen haben im Laufe der Krankheit an Intensitat zugenom- 
men, besonders im letzten halben .Jahr, wo sie zu besonders schweren 
Schmerzattacken fiihrten, die immer mit einer plotzlich auftretenden, 
bedeutenden Blutdruckerhohung verbunden waren; d) es traten tro- 
phische und vasomotorische Storungen der affizierten Seite dazu, als 
welche: die spindelformige Verdickung der Interphalangealgelenke, 
die Verdfinnung der Fingerknochen. konstante Blasse und Cvanose 
der rechten Hand, kleinwelliger Puls der rechten A. radialis im Vergleich 
zur linken vermerkt wurden. Die grobe motorisehe Kraft der rechts¬ 
seitigen GliedmafJen war kaum vermindert, die aktive Gebrauchs- 
fiihigkeit derselben nur in dem MaBe eingeschrankt, als es durch die 
athetotischen Bewegungen und Spannungszustande bedingt war. 
Allerdings waren diese in der zweiten H&lfte seiner Krankheit schon 
so intensiv, dad er die rechte Hand gar nicht benutzen konnte. Hervor- 
zuhelien ist, dad wahrend seiner ganzen Erkrankung Sjirach- und 
Schluckstdrungen niemals Ix'obachtet wurden. Harninkontinenz be- 
stand durch einige Tage zu einer Zeit, wo der Kranke infolge seiner 
riesigen Schmerzen sich in einem heftigen psychischen Erregungs- 
zustand befand; sie blieb dann wieder aus. Eine Ataxic wurdc beim 
Kranken nie beobachtet; es wird nur von einem etwas breitspurigen, 
kurzschrittigen Gang Erwahnung getan. 

Die Gehirnv'eranderungen waren zweifellos durch die arteriosklero- 
tischen Gefadverandeningen verursacht. Beziiglich ihrer Lokalisation 
wird es zweckmadig sein. sie in zwei Gruppen zu teilen. 1. Der Haupt- 
sitz der Veranderungen lag im Kopfgebiet des Schweifkorpers, wo 
eine, etwa die Halfte des C'audatumparenchyms ersetzende typische 
Erweichungscyste lag, die, am oroventralen Ende des t’audatums begin- 
nend, die vorderen zwei Drittel des Kopfes einnahm; als zweite Ver- 
anderung wurden im lateralen Kopfgebiet einige groliere Kribliiren 
festgestellt, die sich zwischen den Biindeln der inneren Kapsel (Vorder- 
schenkel) durchziehend noch im Anfangsteil des aulJersten Putamens 
in der Form eines einzigen Langsspaltes an der Grenze zur auBeren 
Kapsel nachweisen lieBen. Fur die beiden Arten der Caudatumlasion 
konnte histologisch festgestellt werden, daB sie alteren Ursprunges sind: 


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H. Richter: Beitrage zur Klinik und pathologischen 


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bei der Erweichungscytte deutete der Aufbau ihrer Wand, fiir die 
Kribliiren der Mangel von Zeichen eines Abbauprozesses auf einen 
liingeren Bestand. 2. Die systematische Durchsuchung der benach- 
barten Gehirngebiete entdeckte dann noch eine weitere Veranderung 
in der Form eines kriblurartigen Parenchymausfalles im dorsomedial- 
sten Teil des lateralen Thalamuskernes, der sich langs eines vom Cauda- 
turn zum Thalamus fiihrenden GefaBastes entwickelte. Dieser Herd 
lieB al>er mannigfaehe Zeichen eines noch im Gang befindlichen Abbau¬ 
prozesses erkennen, so daB die Annahme, hier einen jiingeren, relativ 
frischen ProzeB vor uns zu haben, nicht unbegriindet erscheint. 

Das Krankheitsbild entspricht der reinen, symptomatischen 
Hemiathetose, die durch einen lediglich auf den Kopf des Schweif- 
kdrpers und Anfangsteil des Putamens beschrankten arteriosklero- 
tischen Erweichungsherd verursacht, bzw. aufrechterhalten wurde. 
Die Anfangssymptome waren eine in einigen Stunden sich entwickelnde 
Hemiplegic und Hemianasthesie, die sich im Laufe der folgenden Tage 
allmahlich zuriickbildete, und nach et.wa zwei Wochen entstand der 
Dauerzustand, in dessen Vordergrund die Hemiathetose des rechten 
Armes und Spannungszustande im rechten Beine standen. Eine un- 
mittelbare Lasion der inneren Kapsel konnte nicht nachgewiesen wer- 
den, namentlich fehlten die anatomischen Veranderu ngen in den hin- 
teren Partien, wo die Pyramidenbiindel verlaufen, vollkommen; man 
wird daher von den im Anfang bestandenen Ausfallserscheinungen 
annehmen miissen, daB durch den plotzlich eingetretenen GefaB- 
verschluB im Caudatum Kreislaufstbrungen in den benachbarten Hirn- 
teilen, also auch in der inneren Kapsel auftraten, die zu einer voriiber 
gehenden Funktionsstorung in diesen Bahnen gefuhrt haben; so konnte 
auch das im Anfang nachweisbar gewesene Oppenheim-Zeichen gedeutet 
werden. Als sich dann in den ersten zwei Wochen die Kreislaufstdrung 
in den Naehbarsegmenten ausgeglichen hat, kehrte die Leitungsfahig- 
keit auch in der inneren Kapsel zuriick und jetzt trat der durch den 
Erweichungsherd verursachte Dauerzustand zum Vorschein, der neben 
einer geringen motorischen Schwache eine typische striar bedingte 
Hyj>erkinese darstellt. Die Entstehung des Krankheitsbildes bekraftigt 
in vollem Malic die von (). und C. Vogt vertretene Ansicht, nach der 
die striar bedingten Hyperkinesen keine Reizerscheinungen sind, 
sondern durch den Ausfall striarer Hemmungseinflusse hervortretende 
Bewegungszustande darstellen. Die vollige Unversehrtheit des Pallidums 
im vorliegenden Fall spricht entschieden gegen die Ansicht, die das 
Zustandekommen von Hyperkinesen von einer wenigstens Miter- 
krankung des Palldiums abhangig machen will. In dieser Hinsicht 
weicht unser Fall von der Beobachtung Stecks ab, in der bei einer 
posthemiplegischen Athetose neben hochgradiger Zerstbrung ties 


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Anatomic der extrapyramidalen Bewegungsstorungen. 


247 


Striatums auch die primare Miterkrankung des Palliudms sehr wahr- 
scheinlich gemacht wird durch sekundare Degenerationen, die in den 
Thalamuskernen, C. Luysi nachgewiesen wurden. Die Hyperkinese 
war in unserem Falle ausschlieBlich durch die Lasion des Striatums 
bedingt. 

Lehrreich ist der Fall auch hinsichtlich der Frage, ob die spezielle 
Art der Hyperkinese (choreatische, athetotische oder Zitterbewegung) 
durch irgendwelche Eigentiimlichkeit des Krankheitsprozesses deter- 
miniert wird. O. und C. Vogt fanden, daB angeborene oder in den 
ersten Lebensjahren auftretende Schadigungen des Striatums die 
Tendenz haben, unter den Hyperkinesen athetotische Bewegungen zu 
zeitigen (Falle von Status marmoratus, Falle von cerebraler Kinder- 
lahmung mit Status fibrosus), wiihrend der beim Erwachsenen ein- 
setzende ProzeB von Status fibrosus klinisch dem Bild der progressiven 
Chorea entspricht. Schon Jakob hob die beschrankte Giiltigkcit dieser 
Feststellung hervor, wobei e~ noch darauf hinwies, daB bei diesen beiden 
Gruppen von Striatumerkrankungen der pathologische ProzeB selbst 
gewisse Unterschiede erkennen ItiBt; beim Status marmoratus und der 
cerebralen Kinderlahmung befallt er namlieh die kleinen und groBen 
Striatumzellen gleichmaBig, bei den mit prog'-essiver Chorea einher- 
gehenden Fallen von Status fibrosus werden aber vornehmlich nur die 
kleinen Striatumzellen befallen. Jakob glaubt daher die Eigenart des 
pathologischen Prozesses fiir die Unterschiede verantwortlich zu machen 
die sich in der Offenbarung einer speziellen Fo r m von Hyperkinese 
•/eigen. Wenn ich nun zu dieser Frage auf Grund von Vergleich zweier 
Falle mit HerdprozeB des Striatums einen Beitrag liefern mochte, bin 
ich mir dessen bewuBt, daB Herdprozesse nur mit gewissem Vorbehalt 
zu den chronischen Striatumerkrankungen in Analogie gestellt werden 
diirfen. Im Falle Liepmanns (bei O. und C. Vogt) entstand bei einer 
Frau, die im 42. Lebensjahr an halluzinatorischer Verwirrtheit mit Ver- 
blodung erkrankte, im 67. Lebensjahr plotzlich choreatische Unruhe 
im rechten Arm ; nach einer neuen Attacke, die zu leichter Parese des 
rechten Mundwinkels und Gesichtes fiihrt, schwinden diese auf 24 Stun- 
den, um von neuem auch am Bein aufzutreten; sie dauerten zwei Jahre 
lang an. Die anatomische Untersuchung ergab einen arteriosklero- 
tischen Elrweichungsherd, der links den Kopf und das vordere Ende des 
Putamens zerstorte. 

Vergleicht man diesen mit unserem Fall, so zeigt sich: 1. daB in 
beiden Fallen der pathologische ProzeB derselbe war, eine 
durch Arteriosklerose bedingte Erweichung, 2. die in beiden Fallen 
der Kopf des linken Caudatums und den Anfangsteil des Putamens 
zerstorte, also dieselbe Lokalisation zeigte; 3. Fall Liepmann 
betrifft cine 67jiihrige Frau, unser Fall einen 54jahrigen Mann, in 


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H. Richter: Beitrage und Klinik z.ur pathologischen 


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beiden Fallen entstand also das Leiden in vorgeriicktem Alter: 4. bei 
dieser Obereinstimmung an Berte sich die striare Hyperkinese im Falle 
Liepraann als Hemichorea, in unserem Falle als Hemiathetose. Aus 
dieser Gegeniiberstellung wird man mit vollem Reeht den SchluB ziehcn 
konnen, daB (wenigstens bei halbseitigen Herdprozessen) die spezielle 
Art der zu erwartenden Hyperkinese unabhangig ist von der Eigenart 
des pathologischen Prozesses, von der Lokalisation desselben und aueh 
vora Alter des betreffenden Individuums, bzw. vom Entwicklungegrad 
des affizierten Nervensystems. Hinzufiigen mochte ich noch. daB im 
vorliegenden Falle das anfangliche Bild der reinen Athetose durch das 
Hinzutreten von choreatischen Greif- und Schleuderbewegungen kom- 
pliziert wurde, eine Beobachtung, die besonders bei den chronischen 
Striatumerkrankungen gar nicht selten verzeichnet ist. 

Die GesetzmaBigkeit der von O. und C. Vogt aufgestellten somato- 
topischen Gliederung innerhalb des Striatums kam auch in unserem 
Fall darin zum Vorschein, daB entsprechend der schweren Funktions- 
stdrung im rechten Arm der Kopf des Nucl. caudatus die schwersten 
Veranderungen aufwies. Auffallend war a her, daB die Bewegungsstdrun- 
gen der Zunge sowie Sprach- und Schluckstorungen, deren Sitz von (). 
und C. Vogt in das vorderste oroventrale Caudatumgebiet verlegt 
werden, vollkommen fehlten, obzwar der Herd, wie friiher schon an- 
gegeben wurde, auch diese Gebiete nicht verschonte. Allerdings konnte 
hier histologisch intaktes Caudatumparenchym noch in einem ziem- 
lichen Umfang festgestellt werden. Es muB dabei in Betracht gezogen 
werden, daB die Vogtsche funktionelle Gliederung des Striatums 
aus solchen Fallen aufgebaut wurde, wo beidereeitige Striata durch 
einen chronisch fortschreitenden ProzeB betroffen waren; in unserem 
Falle aber nur eine halbseitige Schatligung vorlag. Manche Analogicn, 
die im Aufbau und in der Funktion zwischen Cortex und Striatum 
bestehen, maclien es wahrscheinlich, daB fur obige Bewegungen ebenso 
wie im Cortex auch im Striatum eine bilaterale Innervation besteht. 

Die Spannungskrampfe im rechten Bein, die von Anfang an be- 
standen hatten, waren anfangs nur gering, fiihrten al>er spater zu 
contracturartigen Zustanden, die das Gehen unmoglich machten, 
konnen el>enfalls nur in dem angebenen Erweichungsherd ihre Erklii- 
rung finden, wobei vielleicht die im Anfangsteil des Putamens nach- 
gewiesene Erweichung die Hauptrolle gespielt haben wvirde. 

Die Storungen der Sensibilitat bildeten ein auffalliges Symptom 
des Dauerzustandes in unserem Falle. Es bestanden seit Beginn der 
Krankheit spontane Schmerzen in der rechten Korperhalfte, eine 
qualende Kalteparasthesie sowie nadelstichartige Parasthesien; bei 
objektiver Priifung zeigto sich eine Hyperasthesie der rechten Kor]x*r- 
halfte, die fast unveriindert bis zuletzt bestand, nur bei der letzten 


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Anatomie der extrapyraniidalen Bewegungsstorungen. 


249 


Priifung war die Gegend der rechten FuBspitze eher hypasthetisch. Es 
war von vornherein unwahrscheinlich, daB diese Symptome, wiewohl 
sie ebenso zum Dauerzustand gehorten, wie die motorischen Erschei- 
nungen, ebenfalls durch den Caudatumherd verursacht worden waxen. 
Mingazzini beschreibt Symptombilder bei Herdprozessen im Linsen- 
kern, in welchen neben einer leichten, spastischen Hemiparese auch 
Sensibilitatsstorungen im Sinne einer Hemihypasthesie vorkommen 
sollen. Er beschrankt aber diese ausdriicklich auf das Gebiet des Lenti¬ 
cular kerns; in unserem Falle war von diesem nur der Anfangsteil des 
Putamens einigermaBen betroffen, die kbnischen Ausfallserscheinun- 
gen aber, die er hierher verlegt, Bew’egungsstorungen der Gesichts- 
und Zungenmuskeln, fehlten in unserem Falle. Die Storungen der 
Sensibilitiit zeigten auch nicht den von Mingazzini angegebenen 
Charakter (Hemihypiisthesie, Pseudomelia paraesthetica). Eine Iden- 
tifizierung mit den Befunden Mingazzinis war also in unserem Falle 
nicht moglich. 

Die Erklitrung fur das Bestehen der Schmerzen und Parasthesien 
und Hvperiisthesie wurde leicht, als wir im auBeren Thalamuskern einen 
pt rivaskularen ErweichungsprozeB und eine schwere Erkrankung fast 
samtlicher Zellen dieses Kernes vorfanden. Dejerine und seine Schuler 
rechnen zur Symptomatologie der Thalamusherde, insbesondere wenn 
diese den auBeren Kern betreffen: 1. leichte, meist schlaffe, rasch zu- 
riickgehende Hemiplegic (ohne Babinskis Zeichen), 2. dauernde Herni- 
anasthesie, insbesondere Bathyanasthesie, zuweilen auch Hyper- 
ftsthesie, 3. heftige, halbseitige Schmerzen, 4. leichte Hemiataxie, 
5. Hemichorea bzw. Hemiathetose, 6. gelegentlich Blasenstorungen. 
lnwieweit die in unserem Falle bestandenen motorischen Symptome 
als Teilerscheinungen dieses Thalamussyndroms aufzufassen sind, will 
ich hier naher nicht untersuchen; ihre Abhangigkeit vom Caudatum¬ 
herd erscheint um so wahrscheinlicher, da hier die Hauptveranderung 
lag. Die Schmerzen, Parasthesien und Hyperasthesie weisen aber 
deutlich darauf hin, daB der auBere Kern des Thalamus vom Anfang 
an im Bereich des pathologischen Prozesses stand. Die sensiblen Sto- 
mngen hatten wahrend der ganzen Krankheit den Charakter von 
Reizerscheinungen, als die wir die Schmerzen, Parasthesien, Hyper¬ 
asthesie aufzufassen gewohnt sind; eine Ausfallserscheinung im Sinne 
einer Hypasthesie der FuBspitze wurde nur im letzten Krankheits- 
stadium beobachtet. Man wird also annehmen diirfen, daB im auBeren 
Kern des Thalamus im AnschluB an den ErweichungsprozeB im Cauda- 
tum eine Kreislaufsstorung sich eingestellt hat, die einen chronischen 
Charakter hatte und durch Ernahrungsstbrung in den Zellen und Bahnen 
desselben einen Reizzustand aufrechterhielt, der zu den obigen Sympto- 
men fiilirte. Die lange Dauer der Ernahrungsstbrung habe zur all- 

Archiv filr Psychiatric. Bd. 67. 17 


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H. Richter: Beitrage zur Klinik und pathologischen 


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mahlichcn Verschlimmerung dieser Reizsymptome gefuhrt; zuletzt 
kam es auch schon zu einem herdformigen Parenchymausfall, der 
vielleicht die terminale Hypasthesie der FuBspitze herbeifiihrte. Die 
schweren Veranderungen der ubrigen Ganglienzellen dieses Thalamus- 
kernes sprechen ebenfalls im Sinne einer chronischen Ernahrungs- 
storang. Wir ha ben die Blasse und Cyanose der rechten Hand, sowie 
die im Krankheitsblatt deutlich verzcichnete Herabsetzung des Blut- 
druckes auf der affizierten Seite als vasomotorische Storungen, und 
die eigentiimlichen Verschiebungen der Knochensubstanz an den Fin- 
gern der rechten Hand als trophische Storungen hervorgehoben. Als 
Herderscheinungen werden sie von einigen Autoren in das Striatum, 
von anderen in den Thalamus verlegt; Parhon - Goldstein vermuten 
ihre Leitungsbahn im vorderen Schenkel der inneren Kapsel. In 
unserem Falle kdnnten eigentlich alle drei Stellen als Ursprungsort in 
Betracht kommen. 

III. 

Obige kasuistische Mitteilungen bezogen sieh auf Fade, die vom 
pathogenetischen Standpunkte aus in die gut umschriebene Gruppe 
der Herdprozesse des Striatums eingereiht werden konnen. Es sind 
mehr-weniger stabile Zustandsbilder, die ein dureh einen bekannten 
exogenen Schadigungsfaktor verursachter Herd aufreehthielt. Anato- 
misch sind sie dureh eine Dauerschadigung des Striatumparenchyms 
gekennzeichnet, die keine Tendenz zur Progression oder Ausbreitung 
zeigt. Sie sind und bleiben unsere reinsten Testobjekte bei der Erfor- 
schung der prinzipiellen Frage,ob und inwieweit die Aussehaltung ge- 
wisser Zentren oder Bahnen zum Ausfall bestimmter Symptome im 
weitverzweigten Krankheitsbild der Striatumerkraukungen fiihren. 

Die Schvvierigkeiten, die sieh dem Bestreben entgegenstellen, wenn 
man sieh bei den ubrigen, chronisch verlaufenden Formen der Stria tum- 
krankheiten auf ein bestimmtes Einteilungsprinzip festlegen will, 
sind heutc noch sehr groB. Es kann sieh dabei vorliiufig, wie 0. und C. 
Vogt hervorhoben, lediglich um ein heuristisches Prinzip handeln. 
Der inhaltsreiehe Sammelbegriff vom amyostatischen Symptomen- 
komplex, den wir dcr Intuition Striimpells verdanken, braehte gewiB 
eine wesentliche, nosologische Kennzeichnung ad dieser Funktions- 
storungen, einen pathoj)hysiologischen Rahmen, der vieles daztt bei- 
tragen wird, daB wir in das Wesen der einzelnen Symptome einen 
besseren Einblick bekommen. Er wird aber eine Basis fiir die Grup- 
pierung der verschiedenen Krankheitsformen um so weniger bilden 
konnen, weil die Unzulanglichkeit der klinischen Symptome bei einem 
solchen Versueh schon heute als erwiesen gelten kann. Nimmt z. B. 
eine als einheitlich aufzufassende GrupjK* der athetotischen Erkran- 


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Anatomic der extrapyramidalen Bewegungsstorungen. 


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kungen an, die einen seit Kindheit bestehenden, meist fortschreitenden 
und oft mit psyehischen Veranderangen einhergehenden Zustand — 
die Athetose double — mit einer herdfdrmig entstandenen sympto- 
matischen Hemiathetose in sich faBt, so wird es klar, daB hier die Indi- 
zien eines das Wesen betreffenden Einteilungsprinzips fehlen. Die 
fast regelinaBige Kombination der verschiedenen Symptome in den 
einzelnen Krankheitsbildern macht eine solche Gruppierung ebenfalls 
sehr schwer. 

Sehr richtig betonen O. und C. Vogt, daB die kennzeichnenden 
Merkmale einer Striatumerkrankung nicht nur im Zustandsbild, son- 
dern vor allem in der Zeit des Auftretens und in seiner spezifischen 
Verlaufsart liegen. Sie haben uns tatsachlich durch vorbildlich exakte 
Analysen, bei denen auch diese Faktoren Beriicksichtigung fanden, 
mit einer Reihe von Striatumerkrankungen bekannt gemacht, die fiir 
lange Zeit den Grundstock unseres Tatsachenmaterials auf diesem 
Gebiete bilden werden. Auch darin muB dem illustren Forscherpaar 
beigepflichtet werden, daB die pathologisch-anatomische Veranderung, 
wenn sie durch eine genaue, methodische Untersuchung festgestellt 
wird, im Einzelfalle alle wesentlichen pathogenen Faktoren exogener und 
endogenerNatur aufdecken kann. Fraglich bleibt aber, imvieweit ihre rein 
anatomisch orientierte Einteilung der Striatumerkrankungen eine auch 
fur breitere Verw r endung brauchbare Gruppierung darstellt. O. und 
C. Vogt gelangten bei der Absonderung ihrer 33 Falle zur Aufstellung 
von 8 Gruppen, die durch besondere anatomische Kennzeichen aus- 
gezeichnet sind. Durchblickt man die in diese Gruppen eingeteilten 
Falle, so kann man sich nicht des Eindruckes erwehren, daB nicht alle 
mit gleichem Recht ihre Sonderstellung beanspruchen. Bei der Gruppe 
des Status dysmyelinisatus erhob schon Jakob Bedenken gegen die 
einheitliche Zusammenfassung dieser Falle, die man wird teilen miissen. 
Der Status marmoratus stellt eine sehr charakteristische anatomische 
Veranderung dar, in der Falle mit angeborenen striaren Ausfalls- 
erscheinungen, darunter solche Platz nehmen, die klinisch der Krank- 
heitsform der Athetose double entsprechen; alle hier untergebrachten 
Falle zeichneten sich durch die Tendenz zur Besserung aus. Nun 
wissen wir aber, daB die Athetose double oft eine progressive Krank- 
heit darstellt; und wenn die Progression des Krankheitsbildes einen 
fortschreitenden anatomischen ProzeB zur Voraussetzung hat, wie wir 
es schon auf Grand der Vogtschen Befunde annehmen miissen, dann 
ist es sicher, daB der Status marmoratus, eine stationare MiBbildung, 
nicht oder nicht allein das anatomische Substrat aller Falle von Athetose 
bilden kann 1 ). DaB die spezifische Art der anatomischen Veranderung, 

l ) Von der Richtigkeit dieser Vermutung konnte ich mich nachtraglich 
auch in einem jiingst mitgeteilten Fall von Atbetose double bei Filimonoff 

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H. Richter: Beitrage zur Klinik und pathologischen 


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die doch die Unterlage der Vogtschen Klassifizierung bildet, an sich 
fur die Verlaufsart und den Zeitpunkt des Auftrittes einer Erkrankung 
nicht kennzeichnend sein kann, beweisen die Falle mit Status fibrosus, 
die bei zwei in dieser Hinsicht so sehr verschiedenen Erkrankungen 
wie die chronisch-progressive Chorea und die nicht progressive Athetose 
(als Teilerscheinung der cerebralen Hemiatrophie Typus Bielschowsky) 
vorgefunden wurde. 

Ich habe die Gberzeugung, daB, wenn sich aus den Vogtschen 
Fallen bisher schon 8 Gruppen haben nachweisen lassen, diese Zahl 
sich durch weitere, schon heute bekannte Formen, die in der Vogt¬ 
schen Gruppierung noch nicht untergebracht sind, wie Pseudosklerose, 
Torsionsdystonie, Jakobs Falle von spastischer Pseudosklerose usw. 
urn ein wesentliches vermehren wiirde, und daB besonders die Gber- 
gangsfalle zwischen den einzelnen klinischen Erkrankungsforraen jeder 
eine besondere anatomische Charakteristik haben wird. Bei der konse- 
quenten Durchfiihrung der Vogtschen Untersuchungsmethode diirfte 
das immer mehr wachsende und immer neue Verlaufsarten und klinische 
Bilder aufweisende Material in so viel Gruppen zersplittert werden, 
daB durch diesen Umstand allein der Versuch einer anatomischen 
Gruppierung scheitern muBte. 

Diese Gberlegung fiihrt mich dazu, daB man, wenn es sich um eine 
vorlaufige, als Arbeitshypothese zu geltende Einteilung handeln soil, 
doch noch das bisher vernachlassigte pathogenetische Moment in Er- 
witgung ziehensollte. Es gibt unsvorderhand nur dieMoglichkeit,die chro- 
nisch verlaufenden Striatumerkrankungen in zwei groBe Gruppen ein- 
zuteilen. Die eine wiirde jcne Krankheiten umfassen, wo eine nachweis- 
bare exogene Schikllichkeit, die den ganzen Korper oder das Zentral- 
nervensystem diffus ergriff, durch ihr Ansiissigmachen im Striatum 
oder in bestimmten Teilen desselben zu einer klinischen Offenbarung 
fiihrt, in der die striaren Ausfallserscheinungen eine Hauptrolle spielen. 
Ich erwahne hier die arteriosklerotische Muskelstarre Forsters, 
die durch syphilitische Veranderungen verursachten Krankheitsbilder, 
besonders die von Fischer und 0. u. C. Vogt beschriebenen chorea- 
tischen Veranderungen bei Paralyse und die bei der Encephalitis epide- 
mica auftretenden parkinson-artigen Zustande, um zu illustrieren, daB 

(Ref. Zentralbl. f. d. ges. Neurol, u. Psych. Bd. 29, Heft 4, 1922) iiberzeugen. Das 
Iveiden begann im Alter von 3—4 Jahren mit Zwangsbewegungen, die allmahlich 
starker wurden bis zum Tode, der im 21. Lebensjahr erfolgte. Typisch athe- 
totische Bewegungen im Gesicht, in der Zunge, Gaumen, Kaumuskeln, weniger 
im Handgelenk, und in den Fingern, an den Beinen hauptsachlich in den 
distalen Partien. Anatomisch fand sich neben Hirnrindenveranderungen eine 
Atrophie der groBen und kleinen Zelleleinente im Striatum und Pallidum. Von 
cinem Status marmoratus, der gewiB einen sehr auffalligen Befund ergibt, wird 
keine Erwahnung getan. 


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Anatomie der extrapyramidalen Beweguiigsstorungen. 


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die Dftseinsberechtigung einer solchen Gruppe, die sich nur auf die 
chronisch progressiven Falle bezieht, also die Herdprozesse als Dauer- 
zustande auBer acht laBt, durch ein schon heute ansehnliches Tatsachen- 
material unterstiitzt werden kann. Auch die Vogtschen Falle von 
eerebraler Hemiatrophie mit nicht fortschreitender Athetose, bei welchen 
ein friihzeitiger encephalitischer ProzeB durch das anatoraische Bild sehr 
wahrscheinlich gemacht wird, diirfte hierher gehoren. Es ist fraglich, 
ob wir der Paralysis agitans selbst nicht einen Platz in dieser Gruppe 
einraumen miiBten, wenn die bei ihr beschriebenen Striatum veranderun- 
gen lediglich nur die scharfere Betonung eines allgemeinen senilen oder 
prasenilen Prozesses im Gehirn (F. H. Lewy) darstellen soli. 

Die zweite Gruppe weist unleugbar ein recht vielgestaltiges Material 
auf; und das vereinigende Prinzip, unter welchem sie in einer einheit- 
lichen Gruppe zusammengefaBt werden sollen, liegt auf den ersten 
Blick bloB in der negativen Feststellung, daB fur ihr Zustandekommen 
eine nachweisbare exogene Schadlichkeit nicht verantwortlich gemacht 
werden kann. Eine nahere Betrachtung diirfte jedoch auch andere, 
wichtige Ziige ihrer nosologischen Zusammengehorigkeit aufdecken, 
besonders dann, wenn wir ihr Verhaltnis zur groBen Gruppe der 
Heredodegeneration einer naheren Priifung unterziehen. 

Bekanntlich faBte Jendrassik unter diesem Begriff eine 
Anzahl von Nervenkrankheiten zusammen, deren spezifische Eigen- 
schaften in der Hereditat, Familiaritat, Konsanguinitat und Progression 
gegeben sind und deren Zusammengehorigkeit hauptsachlich noch da- 
durch gesichert erscheint, daB innerhalb und zwischen den einzelnen 
Hauptgruppen durch Ubergangs- und Mischbilder die Moglichkeit 
einer fast unerschopflichen Formenvariation gegeben ist. Gerade 
diese Moglichkeit der ,,flieBenden t)bergange“ fiihrte Jendrassik 
zur Erkenntnis, daB nicht die spezielle Syptomengruppierung das 
Wesentliche ist, sondern das Vorherrschcn der oben angefiihrten all¬ 
gemeinen pathologischen Kennzeichen. Unter den vier Hauptformen, 
in die R. Bing die Heredodegenerationen auf dieser Grundlage einteilt, 
enthalt die vierte die dyskinetischen Forraen, wohin Bing die myo- 
tonischen, myoklonischen, choreatischen, tremorartigen und sonstigen 
Bewegungsstdrungen zahlt. 

Die uns hier beschaftigenden Striatamerkrankungen, von denen 
als wohlbekannte Formen die Athetose double, die chronisch-progressive 
Chorea, die Huntingtonsche Chorea, Wilsons Krankheit, die Pseudo- 
sklerose und die uns hier nalier beschaftigende Torsionsdystonie an- 
gefiihrt werden sollen, sind Krankheitsbilder, die im Sinne der Jendras- 
sikschen Zusammenfassung schon beim heutigen Stand unserer Kennt- 
nisse all jene Merkmale erkennen lassen, die ihre Zugehorigkeit zur 
Gruppe der Heredodegenerationen bestimmen. Ihre endogene Natur 


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H. Richter: Bcitrage zur Klinik imd pathologischen 


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ist durch zahlreiche Beweise der Hereditat, bzw. Farailiaritat kasuistisch 
erhartet. Die Athetose double fand 0 ppe n he i m zweimal bei zwei 
Geschwistern; die Falle Wiemer, Mutter und Tochter gehoren auch 
in diese Gruppe. Fiir die chroniseh-progressive Chorea fehlt zwar noch 
der direkte Beweis, doch die ihr klinisch und anatomisch so nahe- 
stehende Form der Huntingtonschen Chorea gilt als Prototyp der 
direkten, meist gleichsinnigen Vererbung. Fiir die Familiaritat und 
Hereditat der Wilsonschen Krankheit hat schon ihr erster Beschreiber, 
fiir die Falle von Pseudosklerose Baum lei n und Fickler Beweise 
gedefert (C. Hall erachtet sie sogar in der Halfte aller, bisher be- 
schriebenen Fade als erwiesen). Endlich steden unsere bisherigen 
Kenntnisse iiber die Torsionsdystonie die Rassendisposition der 
russtechen Juden fiir dieses Leiden auBer Zweifel, wobei noch die 
familiare Disposition in den drei Fallen Schwalbes, die Geschwister 
betrafen, und bei den von Bernstein mitgeteilten zwei Geschwistern 
deutlich zum Vorschein kommt. 

Wichtiger erscheint mir jedoch die Priifung des anderen von 
Jendrassik hervorgehobenen Kennzeichens, das sich auf die Misch- 
forraen und Variationen innerhalb der einzelnen Hauptformen und 
zwischen diesen untereinander bezieht. Neben der klassischen Beob- 
achtung von Thom alia besitzen wir im Westphalschen Fall und 
in friiheren Beobachtungen von Oppenheim und Kramer klare Be¬ 
weise dafiir, daB es sich bei den vier Leiden: Pseudosklerose, Wilson, 
Athetose double und Torsionsdystonie um ,,stets ineinander verschwim- 
mende Krankheitsbilder“ handelt, fiir die Thomalla die gemeinsame 
Bezeichnung: Dystonia lenticularis in Vorschlag bringt. Thomalla 
kommt auf Grund eigener und fremder kasuistischer Beobachtungen 
zu der t)berzeugung, die hier wortlich wiedergegeben werden soil: 
,,Bcdenken wir also nochmals die zahlreichen Hinweise von der Athetose 
double zum Torsionsspasmus, von diesem zur Wilsonschen Lentikular- 
degeneration, ebenso von der Athetose zu Wilson, weiterhin von diesem 
zur Pseudosklerose und endlich entsprechend auch von Athetose und 
Torsionsspasmus zur Pseudosklerose einerseits, die nach den verschieden- 
sten Sektionsbefunden zweifellos gleiche anatomische Grundlage anderer- 
seits, so ist eineZusammenfassung naheliegend.“ NachAufzahlungderge- 
meinsamenSymptomefahrt er fort:,,Diese Symptoine fehlen undwechseln 
bei den verschiedenen Gruppen verschieden, der Charakter der patholo¬ 
gischen Bewegungen charakterisiert die einzelnen Typen, verschwimmt 
aber gleichfalls oft. Das psychische Verhalten ist wechselnd, abhangig 
von den oft gleichzeitigen GroBhirnrindenbefunden. Pyramidenbahn- 
storungen inachen das Bild unrein. Wechselnd rasche Progredienz ist 
fast stets da. Atiologisch kommen Entwicklungsfehler im Gehirn in 
Betracht, ferner Erkrankung der Leber, vielleicht infolge infektioser 


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Anatomie tier extrapyramidalen Bewegungsstorungen. 


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Allgemeinerkrankung, oder auch Entwicklungsfehler der Leber, jeden- 
falls anschlieBend Autointoxikation. Auch familiare Disposition liegt 
oft vor.“ 

Thomalla kommt also trotz Aufrechterhaltung der verschiedent- 
lichen pathogenetischen Grundlage zur Auffassung, daB vier bisher 
selbstandige Formen der Striatumerkrankungen nur verschiedene 
Variationsformen einer weitergefaBten nosologischen Einheit biiden. 
Ich bringe dies hier nur deshalb vor, um zu bekraftigen, daB hier die 
Lehre Jendrassiks von den Ubergangsformen zwischen den einzelnen 
Krankheitsbildern der Heredodegeneration bei der iiberwiegenden 
Zahl der in Betracht kommenden Striatumerkrankungen bereits die 
weiteste Anwendung findet. Ein unlangst mitgeteilter Fall Ewalds 
und die vorliegende Beobachtung deuten darauf hin, daB auch die 
Scheidewande zwischen der progressiven Chorea und der Torsions- 
dystonie bzw. den ubrigen hierher gehorigen Erkrankungen keines- 
wegs uniiberbriickbar sein diirften. Cbrigens kommt Ewald bei der 
Klassifizierung zur selben Anschauung, die ich hier vertrete, indem er 
den Fall zur Gruppe der autochthonen Degenerationserkrankungen 
rechnet. 

Die „unreinen“ Falle von Striatumerkrankungen, in denen 
psychische oder corticomotorische Ausfallserscheinungen mitspielen, 
weisen eben im Sinne Jendrassiks auf die mogliche Untermischung 
von Symptomen aus den anderen Hauptgruppen der Heredodegenera¬ 
tion. 

Es wurden hier einige Anhaltspunkte fur die Ansicht angefuhrt, 
daB sich bei den Striatumerkrankungen, wo eine exogene Krankheits- 
ursache nicht nachgewiesen werden kann, solche Kennzeichen auf- 
finden lassen, die nach der Lehre Jendrassiks ihre nosologische Identi- 
fizierung mit den Heredodegenerationen ermoglichen. Wir miissen dabei 
die pathogenetische Grundlage dieser Erkrankungen heute noch etwas 
weit fassen und uns mit dem Begriff der pathologischen Minderwertig- 
keit des betreffenden Organs zufrieden geben. DaB diese eine sehr 
verschiedengradige sein kann, zeigt die groBe Variabilitat in der Ver- 
laufsart auch bei den ubrigen Heredodegenerationen. Sie kann sich 
als anatomisch deutlich gemachte Entwieklungsstorung offenbaren 
und fiihrt dann zu Bildern, wie der Status marmoratus von O. und C. 
Vogt. Einen geringeren Grad der vermuteten Minderwertigkeit stellen 
die Falle dar, wo die Erkrankung mit dem Beginn des extrauteri- 
nen Lebens einsetzt und ein normal entwickeltes Organ schadigt 
(Athetose double). Bei den Striatumerkrankungen, die im spateren 
Lcbensalter ihren Beginn nehmen (chronisch progressive Chorea), ist 
sie noch weniger ausgesprochen; und wir werden dieses konstitutionelle 
Moment auch bei den mit Leberveranderung einhergehenden Fallen 


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H. Richter: Beitr&ge zur Klinik und pathologischen 


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(Pseudosklerose, Wilsonsche Krankheit), zur Erklarung der geschwjich- 
ten Widerstandskraft des Striatums toxischen oder endotoxisehen 
Einfliissen gegeniiber nicht entbehren konnen. 

In voller tlbereinstimmung mit der klinischen Charakteri>tik 
Jendrassiks gelangte Schaffer zur allgemeinen anatomischen Wesens- 
bestimmung der Heredodegenerationen. Er stellte als Grundprinzip 
dieser Charakteristik die ektodermale Elektivitat auf, d. h. die Beschran- 
kung des Prozesses auf die ektodermalen Elemente bei V T erschonung 
der Abkommlinge aus dem mesodermalen Keimblatt. Als zweites 
bestimmendes Moment stellte er die Extensitatskomponente, d. h. die 
Segmentwahl hin, die durch die spezifische Lokalisation des Prozesses 
das Symptombild bestimmt. Sie determiniert hierdurch die Einzel- 
formen der Heredodegeneration und bestimmt durch weitlaufige Varia¬ 
tion der verschiedenen Segmente das Auftreten von Misch- und t)ber- 
gangsformen. Der dritte bestimmende Faktor sei die Intensitats- 
komponente, die die Verlaufsart des Prozesses und den Zeitpunkt 
seines Auftretens determiniert. 

Es kann hier nicht der Platz sein, eine eingehende Analyse dariiber 
anzustellen, inwieweit. die von Schaffer hervorgehobenen Determi- 
nanten im anatomischen Bild der bisher erforschten Erkrankungsformen 
des Striatums zur Geltung kommen. Durchblickt man die zunachst 
von 0. und C. Vogt untersuchten Formen, so findet man, daB das 
Hauptprinzip der ektodermalen Elektivitat in weitgehendem MaBe 
seine Bestatigung findet. Der Status marmoratus, die elektive Zell- 
nekrose bei Chorea, die Totalnekrose betreffen anatomische Verande- 
rungen, in denen das elektive Befallensein des Nervenparenchyms 
als das wesentlichste Moment im Vordergrunde steht und die manch- 
mal an den GefaBen zu beobachtenden Veranderungen (Kapillarfibrose, 
Rundzellenanhaufungen) von samtlichen Forschern nur als sekundjire, 
durch den ParemchymprozeB bedingte Veranderungen aufgefaBt 
werden. Auch das Prinzip der Segmentwahl findet hier eine weit- 
gehende Bestatigung. Der Status marmoratus ist eine angeborene 
Mihbildung, die in diesem Grad bisher nur im Striatum beobachtet 
wurde (nur in viel leichterem Grade kommt er nach C. Vogt in der 
Hirnrinde vor). Die elektive Zellnekrose befallt bei der einfachen 
Chorea nur das Striatum; bei der Huntingtonschen Chorea ist auch die 
Hirnrinde beteiligt. Die Totalnekrose betrifft hauptsachlich das Puta- 
men. In den Vogtschen Fallen vom Status dysmyelinisatus wild 
vornehmlich die pallidare Faserung betroffen. Die elektive Zellnekrose 
bei weitgehender Verschonung der Markfasern, die sich im Bilde der 
chronisch progressiven Chorea verwirklicht, und die Falle von Total 
nekrose des Striatums, in welchem Nervenzellen und Markfasern dem 
ZerstorungsprozeB gleichmaflig zum Opfer fallen, lassen sogar eine 


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Anatomie der extrapyramidalen Bewegungsstorungen. 257 

weitere, noch feinere Differenzierung innerhalb eines Segmentes ver- 
muten. Das Walten einer Intensitatskomponente erhalt aus den ana- 
tomischen Befunden von O. und C. Vogt ebenfalls ihre voile Bestati- 
gung; sie konnten in jedem Einzelfalle aus der Art und Schwere des 
anatomischen Prozesses auf die Verlaufsart des klinischen Bildes und 
auf den Zeitpunkt seines Auftretens richtige Schliisse ziehen. 

Ich wollte mit diesen, mehr nur aphoristisch gehaltenen Betrach- 
tungen den Gedanken in Erwagung bringen, daB diejenigen Striatum- 
erkrankungen, in denen eine exogene, pathogenetische Grundlage 
fehlt, im Sinne der von Jendrassik und Schaffer gegebenen Charak- 
teristik als eine Gruppe der Heredodegenerationen aufgefaBt werden 
konnen. Wiewohl es unter ihnen einige klinisch und anatomisch schjirfcr 
gezeichnete Untergruppen gibt, erscheint es nicht am Platze zu sein, 
diesen eine Sonderstellung einzuraumen. 

Die Aufzeichnungen des im folgenden zu besprechenden Falles 
von Torsionsdystonie verdanke ich der Freundlichkeit meines Kollegen, 
des gewesenen Sekundararztes am Armenhausspital, Herrn Dr. Desi- 
derius Miskolczy. 

Johanna Hartan, gcboren im Jahre 1867, gestorben im Alter von 54 Jahren 
am 3. V. 1921. Die Kranke stammt aus einer russisch-jiidischen Familie. Uber ihre 
GroBeltern konnte nichts inErfahrung gebracht werden. Ihr Vater kam aus RuBland 
nach Ungam und hatte hier als Dolmetsch sein Brot verdient. Er ist im Alter von 
49 Jahren nach kurzem Leiden an Wassersucht gestorben. Ihre Mutter war bis 
zu ihrem 70. Lebensjahr gesund, damals erkrankte sie an einein Lungenleiden 
und starb daran im Alter von 74 Jahren. Unter den Eltern bestand keine Bluts- 
verwandtschaft. Sie hatten 10 Kinder, von welchen4 im Siluglingsalter an Krampfen 
gestorben sind. Uber die iibrigen konnte folgendes erhoben werden: Die 
Alteste, um ein Jahr alter, als unsere Kranke, ist im allgemeinen Sinne nervos, 
hat 6 Kinder, die alle gesund sind. Die dritte Tochter starb im Alter von 28 Jahren 
an einer Gemiitskrankheit, mit welcher sie durcli 2 Jahre auf der Geisteskranken- 
abteilung des hiesigen St. Johannspitals gepflegt wurde. Der vierte, ein Bruder. 
starb im Alter von 16 Jahren an Gehimerschiitterung, nach einem Sturz im Stiegcn- 
haus. Der fiinfte Bruder, um 9 Jahre jiinger als unsere Kranke, leidet seit meh- 
reren Jahren an Tabes amaurotica mit schwerer Ataxie; eine lOjahrige Tochter 
desselben ist gesund. Der sechste Bruder starb im Alter von 33 Jahren an einein 
Kehlkopfleiden; er war Artist von Beruf, seine Frau hatte eine Totgeburt. Johan¬ 
nas Mutter hatte eine Schwester; diese war gesund, von ihren 4 Kindern ist eine 
Tochter geliihmt (N&heres konnte hieriiber nicht festgestellt werden, da diese 
Familie in Amerika lebt). Zwei Bruder von Johannas Mutter sind gesund. 

Die Kranke ist schon in Budapest geboren. Uber ihre Kindheit wird bis zum 
11. Lebensjahr nichts Bemerkenswertes angegeben. Sie hatte zur rechten Zeit 
das Gehen und Sprechen erlernt, hat sich in jeder Hinsicht normal entwickelt 
und kam mit 6 Jahren in die Schule, wo sie das Lesen und Schreiben rasch er- 
lernte. Die erste Storung beobachtete sie im 11. Lebensjahr in der Schule, wo bei 
der Handarbeit (Htikeln) in ihrer linken Hand manchmal ganz unwillkiirlich 
und unvorhergesehen eine Ruck- oder Schleuderbewegung auftritt, so daB der 
Wollenfaden, mit dem sie arbeitete, wiederholt zerriB. Diese unwillkiirlichen Be- 
wegungen blieben anfangs nur auf die linke Hand beschrankt, nahmen aber immer 


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H. Richter: Beitrage zur Klinik und pathologischen 


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zu, so daB sie genotigt war, ihre Hand im SchoBe festzuhalten. Nach einigen Mo- 
naten begann das linke Bein zu zittern und zu schleudem, so daB sie im Gehen 
emstlich gestort wurde. Sie wurde damals elektrisch behandelt. Im nachsten 
Friihjahr verschlimmerte sich ihr Zustand durch die immer heftigeren Ruck- 
und Schleuderbewegungen hauptsachlich am Beine derart, daB sie iiberhaupt 
nicht gehen konnte, sondern auf dem Boden kriechend den Platz wechselte. Sie 
wurde damals auf der Nervenklinik in Budapest (Prof. Wagner) und in Wien 
(Prof. Douschek) beobachtet, wo ihre Krankheit nach ihrer eigenen Angabe mit 
der Diagnose: Chorea bezeichnet wurde. Ihr Zustand blieb einige Zeit lang ein 
unveranderter, sie w-ar in hauslicher Pflege, wurde durch 2 Jahre mit Hypnose 
behandelt. Allmahlich (ungefahr 4 Jahre nach dem Beginn des Leidens) traten 
auch im rechten Arm und Bein grobes Zittern und unwillkurliche Ruckbewegimgen 
auf, die aber nie die Stfirke dieser Erscheinungen im linken Bein erreichten. Wegen 
der motorischen Unruhe muBte ihr zeitweise am Boden gebettet werden, weil sie 
vom Bette herunterfiel. Im Schlafe horten aber diese Bewegimgen auf, oder waren 
nur kaum angedeutet. Am linken Arm und Bein trat zu den erwahnten Bewegungs- 
storungen aUmiihlich eine zunehmende Schwache hinzu, die die Gebrauclisfahigkeit 
noch mehr eingeschrankt hat. 

Dieser Zustand blieb da an durch etwa 20 Jahre ziemlich stationar. Eine 
wesentliche Versehlimmerung trat erst ungefahr 15 Jahre vor ihrem Tode auf. 
wo sich heftige Krampfe in den Halsmuskeln eingestellt haben, so daB sie ihren 
Kopf nur mit schwerer Anstrengung gerade halten konnte. Auch damals suchte 
sie mehrere Kliniken in Wien und Budapest auf; so war sie 1911 drei Monate lang 
auf der Nervenklinik von Prof. Jendrassik in Beobachtung, wo iiber ihren Zu¬ 
stand im Krankheitsjournal folgendes vermerkt ist: 

Die Kranke erweekt durch ihre eigentiimliche Korperhaltung, mit ihren 
fortwahrend sich bewegenden Handen und FiiBen, krampfhaft zuriickgebogenem 
Kopf und mit ihrer unangenehm krachzenden Stimine auf den ersten Blick 
einen be&ngstigenden Eindruck. Sie kann (in wachem Zustande) weder im Belt 
liegen, noch auf einern Sessel sitzen, sie stelit zumeist vor ihrem Bettgestell, halt 
mit der einen Hand dieses, mit der anderen einen Sessel fest. Sie fiihrt mit dem 
rechten und noch mehr mit dem linken Arm fortwiihrende, in langsamem Tempo 
sich vollziehende und in groBem Bogen ausgefiihrte Bewegungen, die den Eindruck 
von Zwangsbewegungen erweeken. Dabei schiittelt sich der ganze Korper. Der 
Kopf ist stets nach riickwarts gebeugt, sie kann ihn nur mit groBer Anstrengung 
auf kurze Zeit nach vorne bringen. Wenn sie von einem am Nachtkastchen be- 
findlichen Buch lesen soli, kann sie es nur mit hiiufigen Unterbrechungen, die 
durch das Zuriickprallen des Kopfes in die erwfihnte Krnmpfstellung verursacht 
ist, ausfiihren. Die Wirbelsaule zeigt eine extreme Skoliose, deren Konkavitiit 
im mittleren Teil der Brustwirbelsaule nach links, im Lendenteil nach rechts ge- 
bogen ist. Das linke Bein zeigt eine Equinusstellung. Am linken Arm zahlreiche 
Hautverdickungen und frischere Lasionsspuren. Die Muskulatur ist schwach 
entwickelt. Brust- und Bauchorgane ohne pathol. Befund. Stuhl, Ham in Ord- 
nung. Pupillen gleich, mittelweit, reagieren prompt. Augenbewegungen frei; 
Zungenbewegungen gut. Die Sprachc ist laut, hat einen unangenehmen, kreischen- 
den Klang, zeigt aber ansonsten keine Stbmng; die Kranke fiillt im Gegenteil 
durch das viele, laute Reden den iibrigen Kranken sehr zur Last. Die Druck- 
kraft des linken Amies ist im Vergleich mit der rechten sehr herabgesetzt; die 
aktive Beweglichkeit des linken Armes und Beines ist eine minimale. Der linke 
FuB infolge Achillesverkiirzung in Equinusstellung. An alien vier Extremit&ten 
bestehen neben einem grobschl&gigen Schiitteltremor die langsamen, ziehenden 
Krampfbewegungen. Im Schlafe horen sie auf. Sehenreflexe lebhaft, links ge- 


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Anatomie der extrapyramidalen Bewegungsstdrungen. 


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steigert (liber pathologische Pyramidenzeiclien kein Vermerk). t)ber die psychi- 
schen Funktionen wird bemerkt, daB diese normal sind; die Kranke ist von der 
Unheilbarkeit ihres Leidens iiberzeugt; ihr Gemiit ist gedriickt; sie ist zanksiichtig, 
unvertraglich, schiirt unter den Kranken gerne einen Zwist. Sie wurde wegen 
ihres unvertraglichen Benehmens von der Klinik auf eine Spitalsabteilung trans- 
feriert. Die Diagnose auf dem Krankheitsblatt der Klinik lautete: Athetose. 

Im Mtirz 1913 kam die Kranke auf die Nervenabteilung des hauptstadt. 
Armen- und Siechenhausspitals, wo sie bis zu ihrem Tode gepflegt wurde. Ihr Zu- 
stand verschlimmerte sich alhn&hlich, das Krankheitsbild kam erst hier zur voll- 
kommenen Entwicklimg, woriiber der im Jahre 1920 aufgenommene Status am 
besten Auskunft gibt. 

Bei der niedrigen Statur der Kranken sind die Arme auffallend lang, die Hande 
breitknochig; die Finger zeigen eine Trommelschlagerform. Die Wirbelsaule ist 
beim Stehen mehrfach gekriimmt; neben einer dorsolumbalen Skoliose zeigt sich 
noch eine tiefe Lordose; liegt die Kranke in ruhigem Schlaf, so verringern sich 
diese Krummungen auf ein Minimum. Die Muskulatur ist schwach entwickelt; 
beide FiiBe in SpitzfuBstellung, die am rechten weniger ausgesprochen ist. Die 
Druckkraft des linken Armes ist sehr gering; passive Beweglichkeit desselben 
infolge der Spastizitat der Muskeln stark verhindert; manchmal wieder sind passive 
Bewegungen hier ganz leicht auszufiihren. Dieses Wechseln von spastischen 
und spannungsfreien Zust&nden ist auch am rechten Arm, sowie an beiden Beinen 
zu beobachten. Der Gang ist ein wahres Herumtorkeln, es fiillt besonders die 
Ungeschicklichkeit des linken Beines auf; sie tritt mit der Spitze auf den Boden, 
vobei der FuB sich stark einwarts biegt, nach ein bis zwei hastigen Schritten tritt 
ein allgemeines Korperzittern auf und sie f&llt zu Boden. Die Spuren dieser haufigen 
.Sturze sind besonders am linken Knie, Ellbogen und Hand zu sehen. Die Hande 
befinden sich, wenn sie nicht etwas festhalt, in fortwahrender Unruhe; langsame 
athetotische Bewegungen der Finger setzen sich auf Unter- und Oberarm fort 
und werden durch plotzliche ganz ungewohnliche Exkursionen des Armes unter- 
brochen. Dabei tritt, besonders beim Versuch willkiirlicher Bewegungen, heftiges 
Zittern im ganzen Korper ein. Der Kopf ist fast standig nach riickwarts gebogen, 
beim Versuch, ihn aufrecht zu stellen, tritt ein Wackeln ein, das gewissermaBen an 
den Nystagmus erinnerte: brachte sie den Kopf langsam und mit groBer Anstren- 
gung etwas nach vorne, so stoBt ihn eine lieftige, ruckartige Bewegung rasch wieder 
zuriick, so daB ihre Anstrengungen zuletzt schon fruchtlos blieben. Diese Krampf- 
haltung des Kopfes hat sie in der letzten Zeit auch im Schlafe beibehalten. Auch 
der iibrige, ganze Oberkorper ist krampfhaft zuriickgebogen, wodurch sie meist 
am Sitzen verhindert ist. da sie vom Sessel gehoben wird. Beim Gehen tritt die 
eigentiimliche Korperhaltung: zuriickgebogener Oberkorper, lordotische Becken- 
stellung. am starksten in Erscheinung. die gemeinsam mit den absolut unzweck- 
mftBigen Bewegungen der Beine und mit dem fortwahrenden Heruinfuchteln 
mit den Handen ein ganz bizarres Bild zeigt. Die Sehnenreflexe sind 
lebhaft. der linke Achillesreflex nicht auslosbar. Die linke groBe Zehe stellt 
sich ofters spontan in eine Dorsalflexionsstellung. Babinski-Zeichen ist hier 
manchmal angedeutet. Klonus fehlt. Bauchreflexe nicht auslosbar. Sensibilitat 
frei. Seh-, Horvermogen intakt. Pupillen gleichinaBig, prompt reagierend, Augen- 
bewegungen nach jeder Richtung frei. Im Gesicht war in der letzten Zeit eine An- 
derung eingetreten; wahrend fruher die Gesichtsbewegungen gar keine Storung 
aufwiesen, ist jetzt auch hier, besonders in der linken Halfte eine gewisse Hvper- 
miinie zu beobachten; die Gesichtsziige sind nicht nur lebhaft, sondcrn oft ganz 
verzerrt (Grimassieren). Auch die Sprache zeigt in der letzten Zeit eine nicht 
bestiindige Verftnderung; sie spricht manchmal hastig, explosiv, undeutlich; 


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H. Richter: Beitriige zur Klinik und patkologischen 


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die Zunge liegt bei leicht geoffnetem Munde zwischen oder hinter den Zahrien, 
wodurch die Worte verschwommen ausgesprochen werden. Ansonsten waren die 
willkurlichen Zungenbewegnngen gut. Uber Schluckbeachwerden wurde nichts 
bekannt. Sie litt in den letzten Jahren an standigem, quiilendem SpeichelfluB. 

Psychisch war die Kranke bis zuletzt normal; sie wuBte iiber ihre eigenen 
Verhfiltnisse genauen Bescheid, besaB eine vorziigliche Erinnerung; sie interes- 
sierte sich um alles, was in ihrer Umgebung geschieht und war iiber alles orientiert. 
Sie konnte in der letzten Zeit wegen ihrer Kopfhaltung nicht mehr lesen, erkun- 
digte sich aber lebhaft um die Ereignisse der AuBenwelt. Ihr Gemiit war infolge 
ihres trostlosen Zustandes stets gedrvickt, sie klagte gerne, und in der letzten Zeit 
ist aus ihr eine echte Querulantin geworden, die sich immer gekrankt und zuriick- 
gesetzt fiihlte. Dabei war sie zanksiichtig und unvertraglich. 

Zu erwahnen ist noch, daB bei ihr die Menses zuerst im 45. Lebensjahre 
auftraten und sich drei Jahre lang ziemlich regelmaBig wiederholten. Mit 48 Jahren 
verlor sie sie endgiiltig. 

Ihr Tod erfolgte ohne vorausgegangene akzessorische Erkrankung, unerwar- 
tet und rasch. Sie lag in der Friih im Bett, verzehrte ihr Morgenbrot, und wahrend 
die Pflegeschwester mit anderen Kranken beschriftigt war, fiel J. im Bett zuriick; 
als der Arzt zu ihr kam, war sie schon leblos. 

Die Sektion ruachte einen Herztod wahrscheinlich. Von den inneren Organen 
soli hier nur erwahnt bleiben, daB die Leber keine bemerkbare krankhafte Ver- 
anderung zeigte. 

Die klinische Diagnose: Torsionsdystonie (K. Mendel) wurde 
bei der Kranken erst wahrend ihrer letzten Spitalsbehandlung im 
Armenhausspital aufgestellt. Bemerkensw r ert ist, daB ihr Leiden an- 
fangs auf den Kliniken Wagner und Douschek als Chorea bezeichnet 
wurde (allerdings in der zweiten Halfte der siebziger Jahre); im Jahre 
1911 fiihrte sie die Jendrassiksche Klinik als doppelseitige Athetose. 
Die Aufzeichnung des Krankheitsjournals, daB die Kranke in der 
Anfangszeit durch zwei Jahre mit Hypnose behandelt wurde, zeigt, da B 
ihrem Leiden die in diesen Fallen fast unausweichliche hysterische 
Bezeichnung auch nicht vorenthalten blieb. 

Die Uberzeugung, daB hier zum erstemnal ein typischer Fall 
von Torsionsdystonie mit anatomischem Befund vorliegt, laBt es fiir 
mich als zweckmaBig erscheinen, die klinische Identifizierung des Falks 
mit den bisherigen Beobachtungen bis in die Einzelheiten durch- 
zufiihren, wobei ich mich auf die vorziigliche monographische Bearbei- 
tung K. Mendels stiitzen will. 

Das Befallensein des weiblichen Geschlechtes ist seltener. Unter 
den von Mendel gcsammelten 33 Fallen war in 21 Fallen das mann- 
liche und in 11 das weibliche Geschlecht betroffen. Von 26 Fallen, 
in denen die Nationality vermerkt ist, stammten 19 aus RuBland 
bzw. Galizien; von 18 Fallen, in denen die Religion angefiihrt ist, 
waren 15 Juden. Unsere Kranke stammt auch aus einer russiseh- 
jiidischen Familie. Beziiglich der Familiaritat habe ich auf die Fallc 
von Schwalbe, die 3 Geschwister betrafen, und auf das von Bern- 


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Anatomie der extrapyramidalen Bewegungsstorungen. 


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stein beschriebene Geschwisterpaar bereits hingewiesen. Unser Fall 
bietet diesbezuglich keinen Anhaltspunkt. Hingegen liegen einige 
anamnestische Angaben vor, die auf eine hereditare Belastung 
hinweisen. Eine Schwester der Kranken starb im 28. Lebensjahr an 
einem Gemiitsleiden, nachdem sie 2 Jahre lang auf einer Geisteskranken- 
abteilung gepflegt wurde. Von den 10 Geschwistern sind 4 an Zahn- 
krampfen gestorben. Ein sonstiges atiologisches Moment lag in unserem 
Fall nicht vor; namentlich Traumen oder Infektionskrankheiten, die 
als auslosende Faktoren in einigen der bisherigen Beobachtungen eine 
Rolle spielen, werden hier nicht erwahnt. Das Alter des Krankheits- 
beginns liegt in den meisten Fallen zwischen 10 und 13 Jahren; der 
jiingste Kranke war 6 Jahre alt (bei unserem Falle mit 11 Jahren). 

Unter den Anfangssymptomen wird in einigen Fallen iiber Schmer- 
zen geklagt; das Leiden beginnt in den meisten Fallen in einem der 
unteren GliedmaBen, zumeist in der Form einer Gangstorung, die sich 
verschiedenartig auBern kann. Dann geht die Storung auf das andere 
Bein iiber oder es wird zunachst die gleichseitige obere Extremitat 
betroffen. Nicht selten findet sich eine gekreuzte Lokalisation. Unser 
Fall weicht in dieser Hinsicht ab, indem das Leiden in der linken Hand 
eingesetzt hat (auch dieser Beginn ist ofters beschrieben) und hat sich 
nach einigen Monaten auf das gleichseitige Bein erstreckt. Diese hemi- 
plegische Form der Bewegungsstorung bestand etwa 4 Jahre lang; 
erst dann zeigten sich die ersten Erschcinungen im rechten Bein. Die 
linke Korperhalfte blieb aber wahrend der ganzen Krankheit von alien 
Symptomen viel schwerer betroffen, als die rechte. 

Was nun die charakteristischen Symptome anbetrifft, hat Oppen- 
heim, dem wir die nosologische Sonderstellung des Leidens verdanken, 
als erster die sonderbare Tonusveranderung hervorgehoben, die in dem 
Wechsel von Hypotonie mit Neigung zu tonischer Muskelanspannung 
besteht; er bezeichnete deshalb das Leiden: Dystonia musculorum 
deformans. In unserem Falle war diese Erscheinung nur im letzten 
Zeitabschnitt des Leidens aufgefallen und ist im Krankheitsjournal 
so verzeichnet, daB die passive Beweglichkeit der Glieder infolgc ihrer 
Spastizit&t stark verhindert war, manchmal wieder sind diese ganz 
leicht auszufiihren; dieses Wechseln von spastischen und spannungs- 
freien Zustanden war an alien Extremitaten zu beobachten. 

Die unwillkurlichen Bewegungen bilden nach Mendel ,,ein Ge- 
misch von choreatischen, athetoiden, ticartigen, hemiballistischen, 
parkinsonartigen Bewegungen, von jedem dieser Leiden etwas habend 
und teils an dieses, teils an jenes erinnernd, doch in keinem derselben 
restlos aufgehend; die Bewegungen sind zwecklos, bizarr, klonisch- 
tonisch, mit Uberwiegen des tonischen Momentes, dysharmonisch, 
sehlangenformig, wurmartig, unkoordiniert, stereotyp. Besonders charak- 


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H. Richter: Beitrage zur Kliiiik und pathologischen 


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teristisch sincl die ziehend-drehenden, die ,torquierenden‘ Bewegungen 
des Rumpfes und der Extremitaten, die dureh plotzliches Emporwerfen 
oder Abduzieren einer Extremitat zeitwcise unterbrochen werden." 
Die allerdings durftigen Aufzeichnungen aus der Anfangszeit des Leidens 
machen es in unserera Falle wahrscheinlich, daB die Bewegungsunruhe 
mit choreiformen Ruck- und Schleu der bewegungen begonnen hat; 
typisch kennzeichnet sie die Kranke mit dem ReiBen des Wollenfadens 
bei der Handarbeit. Die Bewegungen ergriffcn beim Fortschritt des 
Leidens alie Extremitaten, blieben aber scheinbar durch lange Zeit 
ohne Hinzutreten andersartiger unwillkiirlicher Bewegungen eine 
ziemlich eintonige Form der Bewegungsunruhe. Denn sie berichtet. 
von einem ungefahr 20 Jahre lang dauernden stationaren Zustand, 
nach welchem sich eine wesentliche Verschlimmerung in ihrem Zu- 
stande eingestellt hat. Auf der Klinik Jendrassik, wo sie daruals in 
Beobachtung stand, fiel schon der krampfhaft zuriickgebogene Kopf, 
fortwahrende in langsamem Tempo sich vollziehende athetotische Be¬ 
wegungen und ein Schiitteltremor im ganzen Kbrper auf. In den 
letzten Jahren ihrer Beobachtung sind neben den choreiformen, atheto- 
tischen und groben Wackelbewegungen die torquierenden Bewegungen 
in den Hals- und Rumpfmuskeln in den Vordergrund getreten, die da» 
Sitzen, diegerade Kopfhaltung unmoglich machten und zur Verkrummung 
der Wirbelsaule fiihrten. Die Bewegungsrunruhe verstarkte sich bei 
willkurlichen Bewegungen, wobei heftiges Zittern im Korper auftrat. 
Als charakteristisch fiir das Leiden hebt Mendel das Aufhoren der 
Bewegungsunruhe im Schlaf liervor. Dieses Zeichen ist auch bei unserem 
Kranken wiederholt vermerkt. 

Die Haltu ng der Wirbelsaule ist ein sehr charakteristisches Zeichen 
des Leidens. Zumeist wird eine Lordose der unteren Brust- und Lenden- 
wirbelsaule beobachtet, zuweilen auch eine Skoliose. Die Kriimmung 
der Wirbelsaule ist in Riickenlage kaum bemerkbar, beim Sitzen wird 
sie deutlich und am starksten beim Gehen und Stehen. In unserem 
Fall bestand zuerst eine Skoliose im Brust- und Lendenteil der Wirbel¬ 
saule, erst spater gesellte sich eine Lordose dazu. Diese Haltung fiihrt 
dazu, daB die GesaBgegend stark nach hinten vorspringt und fiihrt ge- 
meinsam mit dem nach riickwarts gebogenen Kopf zu den charakte- 
ristischen Kbrperstellungen, die Oppenheim als Dromedarstellung, 
Mendel (vielleicht noch zutreffender) als Vogel-StrauB-Stellung be- 
zeichnete. Im Schlaf verringerte sich die Kriimmung der Wirbelsaule 
im hohem MaBe. 

Fiir die Gehstorung wird als pathognomonisch der eigenartig 
„torquierte' , ‘ Gang bezeichnet, der durch die mannigfaltigen anders- 
artigen unwillkiiilichen Bewegungen sowie die Haltungsanomalien 
des Rumpfes in den einzelnen Fallen recht verschiedene Bilder liefert; 


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Anatomic der extrapyramidalen Bewegungsstorungen. 


263 


deshalb die verschiedensten Bezeichnungen bei den einzelnen Beob- 
achtern: bizarr, clownartig, tanzelnd, grotesk, stampfend, steppernd, 
eigentiimlich schiebend, watschelnd, derajenigen des Dromedars ahn- 
lich. In unserem Fall verursachten anfangs die heftigen choreiformen 
Schleuderbewegungen eine ernste Gehstorung. Spater wird der Gang 
als ein wahres Hemratorkeln bezeichnet; typisch war dabei, da6 der 
FuB stark nach einwarts gebogen ist. Sie verfiel zuletzt nach ein bis 
zwei has tig ausgefuhrten Schritten unter allgemeinem Korperzittern 
zn Boden; die Spuren dieser schweren Gehstorung, bzw. der dadurch 
vemrsachten haufigen Stiirze zeigten sich deutlich an ihrer Haut. 

tTber die Gebrauchsfahigkeit der Hande sagt Mendel, daB die 
grobe Kraft derselben gut erhalten ist, doch sind die willkiirlichen 
Bewegungen, wie Schreiben, Essen, An- und Ausziehen durch die Mit- 
bewegungen, die Ungeschicklichkeit, das zeitweise Herumwerfen der 
Extremitat sehr gestort bzw. unmoglich gemacht. In dieser Hinsicht 
unterscheidet sich unser Fall von den meisten bisher verzeichneten 
Fallen, indem schon 1911 in den Aufzeichnungen der Jendrassik- 
schen Klinik berichtet wird, daB die Druckkraft und aktive Beweglich- 
keit des linken Armes und Beines eine minimale war, im Vergleich 
zu den rechtsseitigen stark herabgesetzt. Auch die Reflexe, die nach der 
Zusammenstellung Mendels in den meisten Fallen abgeschwacht sind, 
waren als lebhaft, links gesteigert verzeichnet. In den Aufzeichnungen 
des Armenhausspitals aus der letzten Beobachtu ngszeit sind beider- 
seits lebhafte Reflexe, links fehlender Achillesreflex vermerkt und hin- 
zugefiigt, daB die linke groBe Zehe zeitweise spontan eine Dorsal- 
flexionsstellung einnimmt, die sich manchmal auch auf den Babinski- 
reiz einstellt. Es bestand also in unserem Falle eine Hemiparese der 
linksseitigen Glieder, die sich in der Abschwachung der motorischen 
Kraft und Steigemng der Reflexe sowie im angedeuteten Babinski- 
Zeichen kundgab. Ich will hier gleich bemerken, daB der anatomische 
Befund im Einklang mit diesen Erscheinungen eine deutliche Rarefi- 
ziemng im linksseitigen Pyramidenareal des Ruckenmarks erkennen 
lieB. Von den bisher beschriebenen Fallen fand Seelert in seinem Fall 
lebhafte Knie- und Achillessehnenreflexe und Andeutung von FuB- 
klonus; in einem Fall Bregmanns waren die Archillessehnenreflexe 
gesteigert, in einem weiteren Falle Babinskis anscheinend beider- 
seits positiv. Ein anderer Fall Bregmanns, dessen Zugehbrigkeit 
zur Dystonie von Mendel bezweifelt wird, sowie im ,,unreinen“ Fall 
Thomallas war das Babinski-Zeiehen positiv (in letzterem nur rechts). 

Die SpitzfuBstellung des FuBes wurde in der Mehrheit der Falle 
beobachtet. Sie war auch in unserem Falle vorhanden, anfangs nur 
am linken, spater und weniger ausgesprochen am rechten FuB. 

Die Sprache weist in den meisten Fallen keine Veranderung auf. 


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264 


H. Richter: Beitrage zur Klinik und pathologischen 


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In Bernsteins Fall war sie krampfartig, stotternd, zuweilen explosiv; 
Thomalla vermerkt bei seinem Falle stark behinderte, nasale Sprache. 
Auch Ziehen beobachtete bei einem seiner Falle zeitweise Sprach- 
storung; ebenso gab die Mutter der einen Patientin von Mendel an, 
daB ihre Sprache zeitweise schwer zu verstehen sei. In unserem Fall 
war die Sprache — abgesehen von einem unangenehmen, kreischenden 
Klang — durch die lange Beobachtungszeit eine ungestorte. Nur in der 
letzten Beobachtungszeit fiel es auf, daB die Kranke zeitweise hastig, 
explosiv, undeutlich spricht, und daB die verschwommene Aussprache 
durch die ungewohnliche Lagemng der Zunge verursacht wird. Schluck- 
beschwerden sind in keinem Falle, auch in unserem nicht verzeichnet. 

Das Gesicht ist in den meisten Fallen von den unwillkiirlichen 
Zuckungen verschont; nur in den Fallen Maas, Bregmann und Tho¬ 
malla bestand auch gelegentlich leichtes Grimassieren im Gesicht. 
Im vorliegenden Fall zeigte in der letzten Zeit besonders die linke 
Gesichtshalfte lebhafte, oft verzerrte Gesichtsziige. Die Torsions- 
bewegungen des Kopfes, die nur in jeeinem Fall von Flatau-Sterling 
und Mendel beobachtet wurden, standen durch lange Zeit als die unan- 
genehmste Bewegungsstorung im Mittelpunkte des Krankheitsbildes. 

Gleichlautend negativ war der Befund in alien Fallen in bezug 
auf Pupillen, Augenhintergrund und die iibrigen Hirnnerven. Ein 
Pigmentsaum der Cornea fehlt ebenfalls. Eine Veranderurg der Leber- 
wurde mit Ausnahme des auch sonst nicht ganz hierher gehorigen 
Falles von Thomalla in keinem Falle gefunden. 

Als eine Veranderung, deren Zusammenhang mit dem Leiden 
jedoch zweifelhaft ist, erwahne ich gewisse Anomalien des Knochen- 
wuchses, die in unserem Fall vermerkt ist; die Arme waren auffallend 
lang, die Hande breitknochig, die Finger zeigten eine Trommelschlager- 
form. Frankel fand in einem seiner Falle eine Entkalkung im Schenkel- 
hals und Schenkelkopf und eine Periostitis, die vom Schenkelkopf zum 
Trochanter zog. Climenko fand den linken Femurhals abnorm kurz 
und verdickt, den linken Trochanter major von abnormer Konfiguration, 
die Knochenstruktur normal. 

Die Sensibilitat war in unserem Falle sowie auch in alien iibrigen 
intakt; Schwalbe beobachtete zeitweise eine allgemeine Hypalgesie 
(hysterischer Natur), Frankel in einem Falle eine Hypalgesie im Ge- 
biet beider Nn. cut. fem. und in der linken Gesichtshalfte. Schmerzen, 
von welchen in einigen Beobachtungen Erwahnung getan wird, waren 
in unserem Falle nicht vorhanden. 

Die Intelligenz ist in samtlichen Fallen und wie Mendel hervor- 
hebt, trotz eventuell langen Bestehens der Erkrankung, die doch — 
oft schon in der Kindheit — einen Teil des Gehirns in Mitleidenschaft 
gezogen hat, als normal angegeben; in keinem Fall wird von einer 


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Anatomie der extrapyramidalen Bewegungsstorungen. 


265 


Minderung der inteilektuellen Fahigkeiten oder gar von Schwachsinn 
gesprochen. Die aus der letzten Lebenszeit unserer Kranken stam- 
menden Aufzeichnungen betonen ebenfalls die vollkommene Intaktheit 
der psychischen Funktionen, das gute Erinnerungsvermogen, das 
wache Interesse und die Orientiertheit der Kranken auch in bezug auf 
die Ereignisse der AuBenwelt. Diese Feststellung ist besonders deshalb 
von Bedeutung, weil die Kranke mit ihrem in der friihen Jugend ein- 
setzenden, tiberaus qualvollen und ihren Geraiitszustand schwer be- 
driickenden Leiden ein Alter von 54 Jahren erreichte. Die bei ihr 
beobachteten Depressionszustande, ihre Unvertraglichkeit, Zanksucht 
und die zuletzt auffalligen querulanten Ziige konnten vielleicht — 
psychologisch — durch ihr trostloses Schicksal erklart werden. 

Fasse ich also nochmals die wesentlichen Ziige des klinischen Bildes 
zusaramen, so erscheint die Einreihung des Falles in die Gruppe der 
Torsionsdystonie durch folgende Momente gesichert: Abstammung 
aus russisch-jiidischer Familie, Beginn des Leidens um die Pubertat 
heruin, anfanglich stetige Progression, dann Stationarbleiben (letzterer 
Zustand hielt 20 Jahre lang an, nach welcher Zeit wieder eine schwere 
Progression sich eingestellt hat, die eigentlich das charakteristische 
Krankheitsbild zur vollen Entwicklung brachte; allerdings betrifft 
unsere Kranke mit ihrem Alter von 54 Jahren den altesten beobach¬ 
teten Fall, ihm folgt der 45jahrige Kranke Mendels), u nwillkurliche 
Bewegungen, fiir die das Torquierende charakteristisch ist, doch auch 
athetoide und choreiforme Bewegungen, Wechsel von Hypotonie und 
Spannungszustanden, bizarrer, auBerst ungeschickter Gang, Skoliose 
und Lordose der Wirbelsaule, die im Liegen abnimmt und beim Gehen 
besonders hervortritt (StrauB-Stellung), SpitzfuBstellung, Fehlen von 
Ver&nderungen an den Augen, in der Sensibilitat, bis zuletzt vollkommen 
gut erhaltene Intelligenz. 

Als seltenere, also in den engeren Rahmen des Krankheitsbildes 
nicht hineii^ehorende Veranderungen erw'ahne ich die in der letzten 
Beobachtungszeit etwa gleichzeitig aufgetretene Sprachstorung und 
u nwillkurliche Gesichtsbewegungen (Grimassieren) und das starke 
Hervortreten der Torsionsbewegungen am Kopfe. Ungewohnlioh war 
auch das Auftreten und die Art der umvillkiirlichen Bewegungen. Das 
Anfangsbild beherrschten ausgesprochen choreiforme Bew r egungen, die 
zuerst eine Seite befielen, dann auf die andere iibergingen und lange 
Zeit das Krankheitsbild Chorea vortauschten. In einem jiingst mit- 
geteilten Falle von Ew r ald gestaltete sich das Krankheitsbild ebenfalls 
in einer ungew'ohnlichen Weise. Ein 9jiihriges Kind erkrankt an mobilen 
Spasmen im reehten Arm, mit 18 Jahren war dieser unbrauchbar, 
mit 26 Jahren wird der linke Arm ausschlieBlich von choreatischen 
Storungen befallen, die seit mehreren Jahren unverandert bestehen. 

Archlv fiir Psychiatrie. Bii. 07. 18 


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266 


H. Richter: Beitrage zur Klinik und pathologischen 


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Bei dor Untersuchung fanden sich lebhafte torquierende Bewegungen 
im rechten Arm und im Hals beiderseits, die mit choreatisch-atheto- 
tischen und ticartigen Bewegungen gemischt den Eindruck einer 
typischen torsionsdystonischen Storung erwecktcn, im linken Arm 
bestand nur eine ausgesprochen choreatische Unruhe, Beine blieben frei. 
Atypisch ersehien der Fall auch durch das Bestehen von Grimassieren. 

Die athetotischen Bewegungen traten in unserem Falle zusammen 
mit den Torsions bewegungen erst in einem spateren Zeitabschnitt ties 
Leidens in Ersckeinung. Gewohnlich sind sie bei der Torsionsdystonie 
nieht sehr ausgesprochen und werden von den tibrigen Bewegungsarten 
verdeckt. In unserem Falle standen sie zu einer Zeit so sehr im Vorder- 
grund, daB das Leiden als Athetose double aufgefaBt wurde. Das spater 
aufgetretene Grimassieren und die Sprach,storung gehoren ebenfalls 
in den Symptomenkomplex der Athetose double, so daB es angezeigt ist, 
die Frage der Differentialdiagnose aufzuwerfen, insbesondere auch des- 
halb, weil die noch zu besprechende spastische Hemiparese mit Pyra- 
midenlasion als Herderscheinung seitens ties Gehirns bei der Athetose 
double ein regelmaBiges Vorkommnis bedeutet, bei der Torsionsdystonie 
hingegen bisher einwandfrei noch nicht bewiesen wurde. Bei Geltend- 
machung all jener Kriterien, auf die in unserem Falle die Diagnose 
der Torsionsdystonie gestiitzt wurde, sprechen noch gegen die An- 
nahme einer Athetose double: die Verkriimmung der Wirbelsaule, die 
im Liegen sich ausgleichende Lordose, das Aufhoren der Bewegungen 
im Schlaf, die der Athetose fremden Zitter- und Schiittelbewegungen, 
das Fehlen von epileptischen Kriimpfen und fixen Contracturen und 
die bis zuletzt ungestorte Intelligenz. Auch muB hier vor Augen gehalten 
werden, daB die Athetose double eine Krankheit des friiheren Kindes- 
alters ist, und die Torsionsdystonie zumeist — wie auch im vorliegenden 
Fall — um die Pubertatszeit beginnt. 

Man wird also an der Berechtigung der Diagnose Torsionsdystonie 
festhalten miissen und auf Grand dieses Falles die Mogliqjikeit dessen 
anerkennen, daB die Torsionsdystonie sich mit einer Pyramidenerkran- 
kung kombinieren kann, wie es im vorliegenden Fall klinisch durch eine 
ausgesprochene Hemiparese der linken Seite, gesteigerte Sehnenreflexe 
und links angcdeutetes Babinski-Zeichen, anatomisch durch einen 
deutlichen Ausfall im Areal der linksseitigen Ruckenmarkspyramide 
feststellen lieB. 

K. Mendel kommt im Gegensatz zu Thomallas friiher angefiihr- 
ter Ansicht zur SchluBfolgerang, daB man fur die auf Grand der oben 
besprochenen gemeinsamen Symptome zur Torsionsdystonie gerechneten 
Falle einen Morbus sui generis statuieren und die Falle, die als Misch- 
formen oder tj bergiinge von der Dystonie zu anderen Krankheiten 
erscheinen, auBerhalb des Rahmens dieser Krankheit stehen lassen 


Got)gle 


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Anatomic der extrapyraniidalen Bewegungsstorungen. 


267 


miis.se. Inwieweit diese Forderung zu Recht besteht, kanu erst dann 
entschieden werden,. wenn man im anatomischen Substrat der typischen 
Torsionsdystonie durch die Untersuchung von mehreren, hierher ge- 
horigen Fallen eine einheitliche Grundlage des Leidens hat, die als 
spezifisch fiir diese Krankheit zu betrachten ist und eine Auseinander- 
haltung der typischen Falle von den Mischfallen ermoglicht. Die bis- 
her untersuchten Falle gehoren nicht zur Gruppe der typischen Torsions¬ 
dystonie. Fiir mich ist der atypische Charakter dieser Falle darin gegeben, 
dali sie vom enger gefafiten pathogenetischem Standpunkt nicht zu den 
Fallen von echter Torsionsdystonie gerechnet werden konnen. Im Falle 
Westphal, der iibrigens auch im klinischen Bild nur wenig Beriih- 
rungspunkte init der Torsionsdystonie hat, wird durch den anatomischen 
Befund und auch den klinischen Verlauf eine exogene Schadigungs- 
ursache wahrscheinlich gemacht. Die Falle Thomalla und Wimmer 
zeigten bei eincm ziemlich akuten klinischen Verlauf die fiir die Wilson- 
sche Krankheit und Pseudosklerose typische Leberveranderung: ein 
Befund, der bei dem iiberaus chronischen Verlauf der typischen Torsions¬ 
dystonie hier als regelmaBiger Befund sehr unwahrscheinlich ist und 
in unserem Fall auch vermibt wurde. Die Zugehorigkeit des anatomisch 
untersuchten Fades von Cassirer zur Torsionsdystonie konnte even¬ 
tual vom klinischen Standpunkt in Zweifel gcstellt werden, so dab es 
berechtigt erscheint, unseren Fall als den ersten, anatomisch unter¬ 
suchten Fall von typischer Torsionsdystonie zu betrachten, wobei ich 
besonders die pathogenetischen Momente, die im Falle vorlagen, als 
maBgebend betrachte; also die Abstammung aus mssisch-jiidischer 
Familie, den Beginn um die Pubertat herum, ferner den chronisch- 
progressiven, durch Stillstand unterbrochenen Verlauf des Leidens, 
alles Krankheitsziige, die die typischen Falle von Torsionsdystonie auf 
eine gemeinsame Plattforru stellen. 

Oppenheim war der erste, der die funktionelle Natur der echten 
Torsionsdystonie (im Sinne von Schwalbe und Ziehen) in Zweifel 
gezogen und die Wahrscheinlichkeit einer organischen Grundlage aus- 
gesprochen hat. Flatau und Sterling machten die Liision der Klein- 
hirnbindearmbahn fiir das Entstehen des Leidens verantwortlich. 
K. Mendel kommt schon zu folgender Ansicht (1919): ,,Alles weist auf 
einen extrapyramidalen Herd hin, der bestimmte, den Muskeltonus 
regulierende Systeme betroffen hat und daher in den Hirnstamm, und 
zwar wahrscheinlich in die Gegend des Streifenhiigels und Linsenkerns, 
vielleicht aber auch in den Kleinhirnbindearm zu verlegen ist.“ 

Mogen nun die Befunde selbst sprechen! 

Die histologische Untersuchung des Gehirns erfolgte in der Weise, daB die 
linke Hemisphere in frontaler Serie nach Weigert-Pal bearbeitet wurde und 
die rechte Hemisphere zur genaueren histologischen Bestimmung des patholo- 

18 * 


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Klinik und pathologischen 

gischen Prozesses diente, wobei die Mark- 
far bung nach Spielmeyer, Fibrillenim- 
pragnation durch die Methode Biel- 
schowskys und die Herxheimersche 
Sclmrlachrotfarbung an Gefrierschnitten 
Anwendung fanden. Paraffinschnitte 
wurden nach Nissl und Van Gieson 
gefiirbt. t)ber die Verhaltnisse der Glia 
gewannen wir durch die Holzersche 
Kresyl - violett - Methode iibersichtliche 
Bilder. Neben dem Striatum wurden 
noch folgende Teile des Gehirns unter- 
sucht: In Weigert-Serien Teile des Me¬ 
sencephalons, der Pons, Oblongata und 
einige Hohen des Ruckenmarks. Eingehen- 
der untersucht: Thalamus, Hypothalamus, 
das Gebiet des roten Kerns mit der Sub¬ 
stantia nigra, die Gegend des Nucl. denta- 
tus; von der Hirnrinde: Stiicke aus der 
vorderen und hinteren Zentralwindung, 
dann aus der ersten Frontal- und ersten 
Temporalwindung. 

Ich beginne mit der Beschreibung 
der Weigertserie, die das Gebiet der 
linksseitigen Zentralganglien umfaBt. 



A'ob. 6. Vergrolierte Teilansicht des Striatums von einem Schnitt, der ungefahr 
aus der Mitte des Putamens stammt. Deuthch sieht man hier den durch die 
V'erdichtung der Markbiindel entstandenen Status fibrosus. 


268 H. Richter: Beitrage zur 



Abb. 5. Weigert-Bild aus dem frontalen 
Gebiet des St riatums. Schnitt etwas stark 
differenziert. Annahernd normale Ver- 
hSltnisse. 


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Anatomic der extrapyramidalen Bewegungsstorungen. 


269 


Abb. 5 veranschaulicht einen Schnitt aus der frontalen Halfte des Striatums. 
Man erkennt vor allem, daB sowohl Caudatum als Putamen an Umfang keine 
merkliche V T erringerung erlitten haben. Die Markfarbung ist etwas schwacher 
als auf den iibrigen Schnitten (infolge zu starker Differenzierung), doch erkennt 
man die Markbiindel des Putamens und Caudatums in einer normalen Dichte. 
Es fehlen die Spuren eines Markpilzes, wie beim Status marmoratus. Das Bild 
entspricht also in dieser Hohe dem normalen Weigertbild. 

Eine deut- 
liche V eriinderu ng 
zeigt uns schon 
das auf Abb. 6 
veranschauliclite 
Bild, das aus einer 
etwa in der Mitte 
gelegenen Hohe 
stammt. Hierfallt 
vor allem eine ge- 
wisse Verkleine- 
rung des Stria¬ 
tums auf; beim 
Vergleich mit nor¬ 
malen Pra para ten 
ist das Schmiiler- 
werden des Puta¬ 
mens leicht be- 
merkbar; das 
Pallidum zeigt 
keine erheblichere 
Schrumpfung. 

Der Schwundpro- 
zefi imParenchym 
des Putamens gibt 
sich auf dem 
Mar kfaserbild da- 
rin zu erkennen, 
daB die kleinen 
Markbiindel des 
Putamens auf- 
fallend dicht 
nebeneinander 
lagem, wie dies 
besonders in der 

unteren Halfte Abb. 7. VergroBerteTeilansicht desStriatums aus dem hinteren 
des Putamens Drittel. — Einzelheiten im Text, 

deutlich ist. Einen 

sinnfalligen Ausdruck des Parenchymschwundes bieten die maehtigen Spalten 
im Putamen, die in dieser Hohe durch mehrere Schnitte verfolgt werden konnten. 
Es sind dies Spaltraume, die von einer diinnen Markfaserschicht eingesaumt sind; 
in einigen sah ich in der Mitte des Spaltes ein GefiiB, das in anderen, speziell in 
den groBeren fehlte. Auf diesem Schnitte (Abb. 6) konnte ich die Vereinigung der 
in der Mitte vertikal aneinander gereihten Spalten sehen, wo der Spaltraum auch 
breiter ist. Die Spaltraume sind auch im korrespondierenden .\nteil des N. caudatus 



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270 


H. Richter: Beitrilge zur Klinik und pathologischen 


sehr ausgesprochen und kommen zahlreich, wenn auch mit geringerem Umfang 
in der Lam. med. externa des Globus pallidus vor. Der feine Faserfilz des Striatums 
zeigt im allgemeinen keine Veranderung, nur in der untersten Partie des Putamens 
ist er deutlich schiitterer. Das Pallidum ist vielleicht etwas schmiichtiger, sein 
Fasergehalt zeigt eine leichte Verarmung, die besonders in dem oberen, an die 
innere Kapsel grenzenden Abschnitt bemerkbar ist. Eine leichte Rarefizierung 
zeigt auf dera Schnitt aucli die auBere Markleiste des Pallidums. 

Abb. 7 bringt — etwas mehr vergroBert — eine weiter caudal gelegene Hohe. 
Auch hier ist die Schrumpfung des Striatums gut zu erkennen, aber auch das 
Pallidum scheint hier verringert zu sein. Der Markausfall im Putamen ist 
im unteren Segment desselben sehr ausgesprochen, hier sind sowolil die 
feinen Fasern, als auch die dickeren Markbiindel groBtenteils ausgefallen. Im 
oberen Teil, der der inneren Kapsel anliegt, ist eine Rarefizierung der Markfasern 
ebenfalls sehr auffallend. Entsprechend diesen Markausfallsgebieten sieht man, 
daB die fiuBere Markleiste in ihrem oberen und unteren Abschnitt eine deutliche 
Verdiinnung und Aufhellung zeigt, wahrend das mittlere Gebiet relativ gut 
erhalten ist. Die Markarmut des Pallidums macht sich im oberen Teil des¬ 
selben am meisten bemerkbar, wo auch die innere Markleiste einen deutlichen 
Ausfall erkennen lfiBt. Die durch das Pallidum diametral durchziehenden dicken 
Fasern sind im oberen Teil ganzlich ausgefallen, im unteren Pallidumabsclinitt 
auch in hohem Grad verringert; die innere Markleiste ist hier ebenfalls verdiinut. 
Lehrreich ist der Vergleich des Markzustandes auf den Abb. 6 und 7, die in ver- 
groBerter Ansicht das Putamen und Pallidum aus dem mittleren und hinteren 
(caudalen) Gebiet darstellen. Auf dem ersteren erscheint das Putamen infolge 
der Zu8ammenriickung der intakten Markbiindel, die durch den Schwund des 
Parenchyms herbeigefiihrt wird, noch markhaltiger als auf dem normalen Bild. 
Der Zustand entspricht dem Vogtschen Status fibrosus. Am zweiten Bilde fallt die 
hochgradige Verarmung der Marksubstanz im Putamen auf. Im oberen und unteren 
Teil derselben felilen sie fast ganzlich, oder sind in hohem MnBe atrophisch, auch 
im mittleren Teil erscheinen sie etwas schiitterer. 

Die Faserung der inneren Kapsel, des Thalamus und Hypothalamus laBt 
keinen bemerkbaren Ausfall erkennen. Namentlich ware hervorzuheben, daB das 
Forelsche Blind el H 2 als vollkommen intakt erscheint und der Luysische Korper 
keine bewertbare Verringerung aufweist. 

Auf Schnitten aus dem caudalsten Striatumgebiet fallt die helle Farbung 
des fioch vorhandenen Pallidums auf. Putamen und Nucl. caudatus lassen 
auBer ihrem Schmiilerwerden, die durch Vergleich mit analogen Xormalpriipa- 
raten auch hier festgestellt werden kann, nur eine Rarefizierung der feinen 
Markfasern im unteren Putamengebiet erkennen. Hingegen fallen die aus dem 
Temporallappen stammenden und hier durchziehenden „Fibres of passage' 4 durch 
ihre gute Markftirbung auf. 

Der rote Kern ist an Umfang niclit verringert, seine Markumhullung zeigt 
keinen bemerkbaren Ausfall. 

Die Markbildcr der Rinde zeigen normale Verhaltnisse, namentlich ware 
hervorzuheben, daB die vordere Zentralwindung keinen Markausfall zeigt. Die 
gute Markftirbung der inneren Kapsel ist auf alien Schnitten deutlich zu er¬ 
kennen. 

Weigert-Bilder aus der Gegend des caudalen Mesencephalons zeigen, daB die 
Bindearme einen normalen Markgehalt ha ben; die zentrale Haubenbalm laBt 
ebenfalls keinen erkennbaren Ausfall feststellen. Die Pyramidenbiindel erscheinen 
auf diesem Schnitt noch beiderseits gut gefarbt. Das Kleinhirn und die Gegend 
des Nucleus dentatus zeigte vollkommen normale Markverhaltnisse. In der Obion- 


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Anatomie der extrapyramidalen Bewegungsstorungen. 


271 



gata f&llt schon eine hellere Farbung der rechten Pyramidenbahn auf, die von hier 
nach abwarts konstant nachzuweisen ist. Die Markfasern sind diffus rarefiziert. 
Es fallt auf dem Schnitt noch die beiderseitge Aufhellung (links starker) der Hell- 
wegschen Dreikantenbahn auf. 

Interessanten Befund lieferten die Weigert-Bilder aus dem Riickenmark. 
Abb. 8 wiedergibt das Bild einer Cervical- und Lumbalhohe. Es fallt auf beiden 
Sclinitten eine leichte Einsenkung der konvexen Riickenmarkskontur an der 
linken Seite, entsprechend dem verringerten und deutlich gelichteten Pyramiden- 
areal dieser Seite, wahrend die rechte Pyramidenbahn vollkommen normal ist 
und als gutes Vergleichsobjekt dienen kann. Der diffuse Markausfall, den wir 
in der Oblongata im 
rechten Pyramiden- 
biindel fanden,macht 
sich hier im linken 
Seitenstrang bemerk- 
bar. 

Die genauere 
Untersuchung des 
Weigert-Bildes aus 
derCervicalhohe laCt 
aber noch ein weiteres 
symmetrisch ge- 
legenes Lichtungs- 
areal erkennen, und 
zwar im anterola- 
teralen Strangge- 
biete; rechts ist 
dieses Ausfallsgebiet 
deutlich begrenzt, 
veil es iiberall von 
normalen Ab- 
schnitten umgeben 
ist; es grenzt, vie 
man siebt, dorsal- 
warts direkt an das 
Gebiet des seitlichen Abb. 8. Weigert-Bilder aus dem Cervical- und Lumbalmark. 
Pyramidenstranges. Nahere Beschreibung im Text. 

Links ist das symme- 

trische Ausfallsgebiet weniger ausgeprochen, als rechts, auch fallt es auf 
dem Schnitt nicht so gut auf, weil es dorsalwarts an das ebenfalls gelichtete Pyra- 
midenareal grenzt. Ich glaube aber, dad man auch auf dem beigefiigten Bilde 
im linken Seitenareal zwei voneinander noch gut absonderbare lichtere Bezirke 
unterscheiden wird konnen, wie es auf den Praparaten deutlich zu sehen ist. Das 
vordere liegt symmetrisch zum gelichteten Gebiet der rechten Seite. Ich habe 
dieses symmetrische Ausfallsgebiet auch auf nach Spielmeyer gefarbtenSchnitten, 
die absichtlich zu kurz differenziert wurden, vorgefunden, und auf mit Fuchsin 
iiberfarbten Spielmeyer-Praparaten an Stelle der ausgefallenen Markfasern eine 
deutliche Zunahme des Gefadbindegewebes und faseriges Gliagewebe gefunden. 
Dieses symmetrische Ausfallsgebiet konnte ich nur im Cervicalinark nachweisen; 
vom Dorsalmark stand mir als verwertbar nur ein Teil des unteren Dorsalmarkes 
zur Verfiigung, und hier felilte es ebenso wie es das Bild auf der Lumbalhohe 
zeigt. Abb. 9 zeigt das rechte Ausfnllsareal in einer Vergro derung, die nahere 


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272 


H. Richter: Beitrage zur Klinik und pathologischen 


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Einzelheiten erkennen laBt. Man sieht neben groBeren Liicken, die das GefaB- 
bindegewebe einnimmt, ein diffuses Hervortreten der Markfaserzwischenschicht, 
die besonders auffallt, wenn man das links sichtbare Areal der normalen Pyramide 
zum Vergleich nimmt. Auch wird man diinne, atrophische Markfasem in groBer 
Anzahl zwischen den relativ erhaltenen auffinden. Ahnliches Bild zeigt die sym- 
metrische Stelle rechts, doch sind hier die markfreien Liicken nicht so groB, und 
der gelichtete Bezirk etwas kleiner. 

Das beschriebene Ausfallsgebiet liegt an jener Stelle, wohin wir bekanntlich 
den Verlauf der rubrospinalen Faserung verlegen. Ich habe deshalb in den fron- 
taleren Gehimsegmenten die Stellen untersucht, wo diese Bahn verlauft. Ich 



Abb. 9. VergroBerte Teilansicht im Ausfallsgebiet des Tractus rubrospinalis 
rechts. Links davon das intakte Pyareal. 

fand dabei. daB in der Oblongata in jenen kleinen Biindeln, die medialwarts von 
der Flechsigschen Bahn in der Substantia reticul. lateralis verlaufen, eine im 
Vergleich zu mehreren normalen Schnitten deutliche Rarefiziemng bestand, die 
sich darin kundgab, daB die vertikal verlaufenden kleinen Markbiindel deutlich 
schwacher gefiirbt waren, in manchen Biindeln waren nur 1—2 dicke Markfasem 
zu sehen, hingegen waren die diinnen, atrophischen Markscheiden ungewohnlieh 
zahlreich vertreten. Das ganze, ziemlich gut begrenzte dreieckformige Areal der 
Formatio reticularis lateralis war im Vergleich mit mehreren Normalschnitten 
aus dieser Hohe an Umfang deutlich verringert. Doch nniB ich bemerken, daB 
die Bestimmung einer diffusen Markrarefizierung in diesem Gebiete recht schwierig 
ist, und ich wiirde mich gar nicht berechtigt fiihlen, aus dem Oblongatabefund 
allein weitere Schliisse zu ziehen. Im Haubengebiet habe ich an der Verlaufs- 
stelle der rubrospinalen Faserung einen Markausfall mit Sicherheit nicht feststellen 
konnen. 


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Anatomie der extrapyramidalen Bewegungsstdrungen. 273 

Zellbilder aus dem Striatum (rechts). Der Unterschied, der auf den 
Weigert-Bildern zwischen den frontalen und caudalen Gebieten in bezug auf den 



Zustand der Markfasern beobachtet werden konnte, wird noch viel auffalliger, 
wenn man verschiedene Teile des Striatums auf Zellbildern untersucht. Die Zell- 
veranderungen konnen kurz dahin zusammengefaflt werden, daB sowohl die groBen 
als auch die kleinen Nervenzellen des Striatums von einem einfachen Schwund- 


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274 


H. Richter: Beitrage zur Klinik und pathologischen 


prozeB befallen sind, der im caudalen und mittleren Putamengebiet schon weit 
vorgeschritten ist, im Anfangsteil des Putamens auch deutlich ausgesprochen ist 
und im Kopf des Nucl. caudatus die geringste Intensit&t zeigt. Doch auch inner- 
halb der angefiihrten Segmente liiBt sich ebenso, wie im Markbild, die herdformige 
Ausbreitimg des Prozesses noch deutlich bemerken. So war im caudalen Putamen 
der auBere, unterste Abschnitt vom SchwundporzeB am schwersten heimgesucht. 
Die Abb. 10 und 11 veranschaulichen die Veranderungen an zwei verschiedenen 
Stellen aus dem hinteren und mittleren Teil des Putamens; als Vergleichsbilder 
stellte ich Nissl-Bilder aus ungefakr gleichen Gegenden eines normalen Putamens. 
der aus dem Falle I. von Kohlenmonoxydvergiftung stammt, zur Seite. Die auf- 
fftlligste Veranderung ist die hochgradige, zahlenmaBige Verringerung der Striatum - 
zellen. Durch die Abzahlung vieler Gesichtsfelder hier und in Normal priiparaten 



Abb. 11. Nissl-Bilder kongruenter Stellen aus dem mittleren unterenPutamen¬ 
gebiet: a) im vorhegenden Fall; b) aus Fall I von Kohlenmonoxydvergiftung. 

gelangte ich zu einer durchschnittlichen Verhiiltniszahl von 11: 38. Der Zell- 
schwund ist auch an ein und demselben Schnitt ein verschiedengradiger. Ich fand 
schwer verodete Stellen, die in einem Gesichtsfeld nur 4—5 schwer veriinderte 
Zellen aufwiesen, neben relativ besser erhaltenen mit 20—25 Zellen im Gesichts- 
felde. 

Eine weitere, auffallige Veranderung zeigt sich im inorphologischen Bild 
der noch erhaltenen Striatumzellen. Man wird sagen konnen, daB keine einzige 
Ner\ T enzelle in der caudalen Putamenlnilfte eine normale Struktur zeigt. Die meisten 
bieten das charakteristische Bild der chronischen Zellerkrankung Nissls (die 
„einfache Schrumpfung“ im Sinne Spielmeyers): Der Zellumfang ist verringert, 
derZelleib ist gleichmiiBig dunkelblau gefarbt, laBt keine Nissl-Strukturen, sondern 
meist nur einen Pigmentfleck erkennen. Das Plasma ist manchmal so stark 
reduziert, daB der Kern nur von einer Seite her von tiefblau gefarbten Plasma- 
schollen begrenzt ist. Die Zellfortsatze sind verdiinnt, oft korkzieherartig ge- 
wunden; bei vielen fehlen sie ganz. Der Kern ist auch kleiner geworden, ist nicht 


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Anatomie der extrapyranlidalen Bewegungsstorungen. 


275 


blaschenformig, sondem dreieckig oder ovalformig und ist ebenfalls blaulich ge¬ 
farbt. Das dunkelblaue, punktformige Kernkorperchen der normalen Zelle ist 
liier vergroBert, erscheint wie aufgedunsen, plump, unscharf gezeichnet. Diese 
Schrumpfungsart ist an den groBen und kleinen Striatumzellen gleichmaBig zu 
beobachten und ist im liinteren Putamenteil am meisten ausgesprochen, doch 
findet man auch hier noch Zellen, an welchen die Veranderung relativ weniger 
ausgesprochen ist; unter den groBen Zellen finden sich Exemplare, die nur eine 
pyknotische Umfangsverringerung zeigen, oline andere Strukturverauderungen; 
man bemerkt in diesen kleine Tigroidschollen in normaler Anordnung; fast alle 
noch erhaltenen Zellen enthielten reichlich Pigment. 

Eine andere Veranderungsart, die sich neben dunkel gefarbten Schrumpf- 
bildem im Striatum zeigt, entspricht den sog. Zellschattenbildern, die ebenfalls 
haufig und diffus zerstreut vorkommt. Auffalliger sind die groBen Zellen, die diese 
Veranderung zeigen: der Zelleib ist blaB gefarbt, Tigroidsubstanz fehlt, das Plasma 
zeigt eine wabige Struktur, die Zellkonturen sind unregelmaBig, ersclieinen mancli- 
mal wie ausgenagt. Manchmal findet man einige Gliakerne um solche Zerfalls- 
figuren, offers fehlen aber solche. Bilder von echter Neuronophagie habe ich 
hier nicht gesehen. 

Den schweren Zellveranderungen steht eine unverhaltnismaBig schwaclie 
Reaktion von seiten des Gliagewebes gegeniiber. In der liinteren Putainenhalfte 
ist die Zahl der Gliakerne im verodeten Parenchym kauin vermehrt. Die Zell- 
kerne sind fast durchwegs klein, rund, chroinatinreich, oft homogen dunkel- 
blau gefarbt und konnen von den gleich zu besprechenden Rundzellen der peri- 
vaskulftren Anhaufungen gar nicht unterschieden werden. GroBere, ovale Glia¬ 
kerne mit sparlicherer Chromatinkomelung waren in viel geringerer Anzalil zu 
sehen. Auf Bildern, die nach Holzer gefarbt wurden, sieht man stellenweise in 
der Umgebung von GefaBen eine leichte Zunahme von faserbildenden Gliazellen 
oder einen diinnen Faserfilz, der das Parenchym gegen die erweiterten perivascu- 
lhren Raume begrenzt. Progressive Gliazellformen sind mir iiberhaupt nicht 
entgegengetreten. Ebenso habe ich die von Alzheimer beschriebenen Riesen- 
gliazellen, die von ihm bei der Pseudoklerose, von Spielmeyer bei der Wilson- 
schen Krankheit gefunden wurden, in diesein Falle vollig vermiBt. 

Auch GefaBveranderungen waren im hinteren Putamen nur wenig ausgespro¬ 
chen. Von der auffallend groBen Erweiterung der perivascularen Raume wurde 
schon Erw'ahnung getan. Die GefaBliicken begrenzt eine etwas aufgelockerte 
Parenchymschicht, in der hauptsachlich nur einige Gliazellkerne zu sehen waren, 
manchmal aber auch Nervenzellen. Die GefaBwand bot keine besonderen Ver- 
anderimgen; auf Fibrillenbildern konnte festgestellt werden, daB eine merkliche 
Capillarfibrose fehlte, ebenso eine Kernvermehrung der GefaBwand. Pathologisclie 
Ablagerungen von Niederschlagsprodukten sahen wir weder in der GefaBwand 
noch im Parenchym. 

An einigen GefaBen, die im pathologisch veranderten Gebiet lagen, fand ich 
perivasculare Rundzellenanhaufungen. Zumeist waren es Venen, die diese Ver¬ 
anderung aufwiesen. Die Infiltrate bestanden meistens aus ein bis zwei Reihen, 
nur ganz seiten bot sich eine starkere Anhaufung. Die Zellen liegen zum 
groBten Teil periadventitiell, gewohnlich in einer weiten GefaBliicke. Die 
Zellkeme sind klein, rund, sind homogen blau gefarbt; seltener sind etwas 
groBere, hellere Formen mit einer femen Cliromatinkornelung zu sehen. Die 
Kerne liegen meistens frei; seltener sind die mit einem diinnen Plasmasaum 
umgebenen Kerne. Plasmazellen ahnliche Gebilde habe ich in diesen Anhaufungen 
nie angetroffen. Im ganzen gehoren sie zu den verhaltnismaBig seltenen Befunden; 
in mehreren Praparaten waren sie gar nicht angedeutet. Es soil noch bemerkt 


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H. Richter: Beitrage zur Klinik und pathologischen 


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werden, daB sicli die Infiltratkeme von den kleinen runden Gliazellen, die im 
Parenchym lagen, niorphologisch knuni unterscheiden lassen. 

Im Vorderteil des Putamens waren die Ver&nderungen bei weitem nicht so 
schwer, wie in dein bisher besprochenen Abschnitt. Man findet Stellen, wo 
die Nervenzellen an Zah] kaum vermindert sein konnen und niorphologisch 
den nornialen Zellen nahe stehen. Es gibt dann Stellen, wo der ZerfallsprozeB 
und die Schrumpfungsvorgange deutlich erkennbar sind. Man wird hier die herd- 
formige Lokalisation des Prozesses noch besser erkennen. Rundzelleninfiltrate 
um die GefaBe trifft man auch hier nur sparlich an; ein Zusammenhang zwischen 
ihrer Lagerung und der Ausbreitung der Zerfallsherde lieB sich nicht feststellen. 
Die morphologischen Veranderungen der Nervenzellen sind init denen im hin- 
teren Putamen identisch: auch hier dunkelgefarbte Schrumpfformen und Zell- 
schattenbilder. Das Gliagewebe ist hier etwas lebhafter am ProzeB beteiligt; 
man sieht ofters Anhiiufungen von Gliakernen um die veranderten Nervenzellen; 
kleine isolierte Kernanhaufungen. die hier dicht anzutreffen sind, diirften wolil 
mit den, die intakten Markbiindel begleitenden Gliakerngruppen identisch sein. 
Ihrer Form nach sind es dieselben kleinen, runden Gliakerne, die auch hier iiber- 
wiegen. Die aus dem hinteren Putamen bekannten weiten GefiiBraume waren hier 
nicht zu sehen. 

Herxheimer-Bilder aus dem hinteren Putamen zeigten, daB alle Nervenzellen 
fettig verandert sind. Abbauvorgange waren hier nur wenig ausgesprochen. Im 
vorderen Putamen waren mit Fettkornehen beladene Gliazellen haufiger zu sehen. 
GroBere Anhiiufungen um die GefiiBe wurden auch hier nicht gefunden. 

Im Kopf des Nucl. caudatuj waren die beschriebenen Veranderungen am 
wenigsten ausgesprochen. Die Nervenzellen lassen eine zahlenmaBige Abnahme 
nicht erkennen. An manchen Stellen fallen sie durch die hellere Fiirbung des 
homogenen Zell plasmas auf; auch dunkelgefarbte Schrumpfzellen sind stellenweise 
zu sehen. Das Gliagewebe zeigt keine merkliche Zunahme der Kerne. Die 
perivasculfiren Lymphrftume sind nicht erweitert, GefaBinfiltrate fehlen. 

Unverkennbar, wenn auch an Ausbreitung und Intensitat viel geringfiigiger 
waren die Veranderungen im Globus pallidus. Eine zahlenmaBige Verringerung 
der Zellen konnte mit Sicherheit nicht festgestellt werden. Die Zellen sind aus- 
nahmslos stark pigmenthaltig. Deutliche Schrumpfformen waren an manchen 
Stellen herdformig angesammelt; hier und da war ein zartes Gef&Binfiltrat zu sehen. 
Die zellige Gliawucherung war mehr ausgesprochen. Unter den Zellen fand ich 
ein zweikerniges Zellexeihplar. 

Interessantes Bild zeigte die groBzellige Gruppe der Substantia innominata, 
das den herdformigen Charakter des pathologischen Prozesses lebhaft illustrierte. 
Inmitten der Gruppe zeigt sich n&mlich eine Stelle, wo alle Zellen in einer herd¬ 
formigen Begrenzung schwer geschadigt erscheinen. Wahrend die iibrigen Zellen 
ilire normale GroBe. eine gute Tigroidfilrbung, einen hellen, blaschenformigen 
Kern zeigen, sind auf dieser Stelle alle Zellen hochgradig geschrumpft, dunkelblau 
gefarbt; kleine Haufchen von Gliazellkemen weisen darauf hin, daB einige Zellen 
bereits zugrunde gingen. Um die veranderten Zellen lagen oft 8—10 Gliakerne. 

Von den benachbarten Grisea des Striatums wurden noch genauer untersucht 
und histologisch als normal gefunden: das Claustrum, die Thalamuskeme, der 
Hauptkem des Nucleus ruber und Corpus Luysi. 

Eine schwere anatomische Veranderung deckten die Nissl-Bilder in jener 
Gegend auf, die dem caudalsten Ende des roten Kerns entspricht und das 
Gebiet oberhalb der Substantia nigra umfaBt. Abb. 12 sta nmt aus dieser 
Gegend. Ich wurde auf diese durch das im Bilde sichtbare, zarte Gef&B- 
infiltrat und den erweiterten GefiiBraum aufmerksam gemacht, die ich nur noch 


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Anatomie der extrapyramidalen Bewegungsstorungen. 


277 


ira Striatum vorfand. Die Pigmentzellen der Substantia nigra waren vom patho- 
logischen ProzeB groBtenteils verschont geblieben, nur auf engen Stellen, wie 
eine solche auf der Abb. 12 ersichtlich, trat Schrumpfung und Zerfall einiger Zellen 
ein; hier sieht man kleine Pigmentschollen frei im Gewebe liegen. Viel schwerer 
betroffen wurde das oberhalb der Substantia nigra liegende Gebiet, in deni 
als die caudalsten Auslaufer der Nucleus-ruber-Formation, die zum Nucl. magno- 
cellularis gehorigen groBen, motorischen Zellen einzelne. Nester bilden. Es ist 
dies ein schon ziem- 
lich verodetes Ge¬ 
biet, in dem noch 
einige schwer ver- 
anderte Zellen 
liegen. Manche 
Stellen lassen sie 
noch in kleinen 
Gruppen erkennen, 
doch alle sind 
schwer verandert; 
die aus dem Stria¬ 
tum bekannten 
Schrumpfformen 
sind hier nur selten 
anzutreffen, die 
meisten Zellen sind 
auffallend blaB ge- 
farbt, ihr Zelleib 
wabig zerkluftet 
und erinnert an 
vacuolisierte Zel¬ 
len ; oft ist ein Zell- 
kem nicht zu er¬ 
kennen. Die Zellen 
sind meist von 
Gliazellkernen um- 
ringt. Die Veran- 
derung ist auf den 
caudalen Pol des 
Nucl. ruber scharf 

begrenzt; der Abb. 12. Aus der caudalen Hftlfte des Hirnschenkelgebietes. 
Hauptkern dessel- In der Zellschicht der Subst. nigra einige in Zerfall be- 
ben, in welchem griffene Zellen in herdformiger Anordnung. Dorsal davon 
nur mittelgroBe erweiterter GeftiBraum mit leichten Rundzellenanh&ufungen. 
und kleine Zellen 

enthalten sind, zeigt eine vollkonunen normale Struktur. 

Kleinhirn und Nucl. dentatus wiesen auf den Nissl-Bildern gar keine patho- 
logisch zu bewertende Verflnderungen der Ganglienzellen, des Gliagewebes oder 
der GefftBe auf. 

Die motorische Rinde der rechten Hemisphare lieB auf Nissl-Praparaten 
folgende Veranderungen erkennen. Die einzelnen Zellschichten waren an Umfang 
nicht verringert und gegeneinander gut begrenzt. Die Beetzsehen Riesenpyra- 
midenzellen waren an Zahl kaum vermindert, die Struktur der Zellen im all- 
gemeinen gut erhalten. In einigen war das Tigroid feinkornig zerbrockelt; der 




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H. Richter: Beitrage zur Klinik und patliologischen 


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komige Zerfall der Nissl-Schollen war besonders in den Zellfortsatzen gut zu beob- 
achten. Man fand auch ein bis zwei Zellen mit ausgenagtem Zelleib, in dem 
ein oder mehrere Gliazellkerne lagen. Doch sind solche Bilder nur vereinzelt zu 
sehen, wiihrend die Zellen der dritten und vierten Schicht hfiufiger regressive 
Veranderungen aufwiesen. Neben einfach geschrumpften Zellformen fanden 
sich Bilder von echter Xcuronophagie in dieser Schicht zahlreich vor. Viele 
Residualknotchen weisen darauf hin, daB die kleinen und mittelgroBen Pyramiden- 
zellen einem ziemlich lebhaften ZerfallprozeB anheimfielen. Die Gliazellen sind 
auch diffus vermehrt, ihr Zelleib ist vergroBert und zeigt oft eine hellblaue Farbung; 
an den Kernen sail man hier und da Teilungsformen. Zu einer Faserbildung ist 
es aber in dieser Schicht nirgends gekommen. Die GefaBe sind nicht verandert, 
Kornchenzellen lieBen sich nur in maBiger Zahl nachweisen. Die Markbilder 
aus der motorischen Rinde, die an Gefrierschnitten gewonnen wurden, lieBen 
keinen bemerkbaren Ausfall erkennen. 

Die Ganglienzellen aus anderen Rindenteilen (hintere Zentralwindung, erste 
frontale, erste temporale Windung) zeigten im allgemeinen normale Verh&ltnisse. 

Durchblickt. man die im obigen geschilderten anatomischen Ver- 
anderungen, so lassen sich diese in Folgendem znsammenfassen: 

Die schwerste Veranderung lag im Striatum vor; und zwar, wie 
die Zellbilder und Markfaserbilder gleichlautend bestatigen, war diese 
im caudalen Drittel desselben am meisten vorgeschritten, im mittleren 
Teil auch noch schwer, im vordersten Drittel schon viel weniger aus- 
gesprochen; das frontalste Gebiet des Striatums, der Kopf des Schweif- 
korpers war nur leicht verandert. Es soil hier gleich darauf hingewiesen 
werden, da(3 dieser Befund im Sinne der topographischen Gliederung 
von 0. und C. Vogt mit dem Auftreten der klinischen Symptome in 
den verschiedenen Korperteilen, soweit dies in unserem Falle besonders 
vermerkt ist, recht gut in Einklang gebracht werden kann. Naraent- 
1 ich ware hervorzuheben, daB die im letzten Stadium der Krankheit 
beobaehteten Storungen in der Sprache und in den Gesichtsmuskeln 
mit den relativ leichten, also vermutlich nicht lange bestehenden Ver¬ 
anderungen im Kopf des Caudatums ubereinstimmen. 

Der pathologische ProzeB auBerte sich in erster Linie in einem 
chronisch progressive!! Zellschwund, der die kleinen und groBen Striatum - 
zellen gleichmaBig betraf und hierdurch zu einer fortschreitenden Ver- 
odung des Striatums fiihrte. Er waren ledighch zwei histologische 
Veranderungsarten an den Striatumzellen zu beobachten: Schrumpf- 
zellen, die wahrscheinlich einen stabileren Endzustand der chronischen 
Zellerkrankung Nissls darstellen und Zellsehattenbilder, die als Repra- 
sentanten eines rascheren Zcrfallsprozesses gclten keinnen. Auffallend 
schwach war die Beteiligung des Gliagewebes an den Ersatzvorgangen. 
Diese findet ihre Erklarung zunachst in der Tatsache, daB das Striatum 
zu jenen Segmenten gehort, in welchcn — wie es Spielmeyer hervor- 
liebt — die Ersatzwucherung des Gliagewebes infolge seiner besonderen 
lokalen Beschaffenheit weit hinter dem Schwund der Nervenzellen 


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zuriickbleibt; ein weitorer Grund diirfte in dom eminent chronischen 
Verlauf des Prozesses gegeben sein. Tatsache ist, daB eine mit dem 
schweren ParenchymprozeB in Verhaltnis stehende Wucherung der 
Gliazellen fehlte nnd daB die vorhandenen Gliazellkerne in iiberwiegen- 
derZahl aus kleinen, dunkelgefarbten, runden Kernen bestanden, so daB 
wir in diesem Befund auch noch ein Zeichen dafiir besitzen, daB das 
Gliagewebe selbst sich in einem regressiven Zustand befand. 

Das MiBverhaltnis, in dem die Ersatztatigkeit der Gewebs- 
glia zum Parenchymschwund des Pntamens stand, offenbarte sich 
makroskopisch in der deutlichen Umfangsverringerung des Putamens 
und in den pathologisch erweiterten perivascularen Ran men, fur deren 
Zustandekommen in erster Linie die Retraktion des Parenchyms ver- 
antwortlich gemacht werden muB; erst in zweiter Linie wird man die 
Einschmelzung der an das GefaB angrenzenden Parenchymschicht in 
Erwagung ziehen, umsomehr,dadie histologischenMerkmale eines solchen 
Prozesses, die man bei den echten Kribliiren in der Form von desinte- 
grierten Gewebsteilen fast immer auffindet, hier vermiBt wurden. Die 
Rundzellenanhaufungen, die um einige GefaBe des erkrankten Gebietes 
gefunden wurden, konnen mit dem ZellschwundprozeB in keinen ur- 
sachlichen Zusammenhang gebracht werden. Man wird einen primaren, 
echt-entzundlichen Charakter dieser Infiltrate aus mehreren Griinden 
ansschlieBen konnen. Sie waren im krankhaft veranderten Gebiet 
nur selten anzutreffen (zumeist in den perivenosen Gef&Blucken), auch 
dort, wo der ProzeB einen relativ lebhafteren Verlauf zeigte; speziell 
an solchen Stellen, wo der herdformige Charakter des Zellschwund- 
prozesses ausgesprochen war, konnte ihr Auftreten mit dem ProzeB 
in keine Beziehung gebracht werden. Auch fand ich nie unter diesen 
Zellen solche Formen, die man fiir Plasmazellen hatte halten konnen, 
wo doch bei lymphocvtaren Exsudationen, die einen entziindlichen 
Charakter haben, die Weitcrentwicklung der Lymphocyten zu Plasma- 
zellen eine regclmaBig beobachtete Erscheinung ist (es sei hier besonders 
an Westphals Fall erinnert). Ihrer morphologischen Struktur nach 
mochte ich die Zellen doch als Lymphozyten auffassen, obwohl sie — 
wie schon friiher bemerkt — von den kleinen Gliazellkernen, die im 
Parenchym zerstreut lagen, kaum unterschieden werden konnen. 
Raecke und andere Forscher, die ahnliche Rundzellenanhaufungen bei 
der chroniseh-progressiven Chorea gefunden haben, identifizieren sie 
mit den kleinen Gliazellkernen, da sie in der schwacheren Farbung 
und der feinen Granulation der Kerne auch eine morphologische Ab- 
weichung von den Lymphocyten feststellen konnten. Auf jeden Fall 
wird man den entziindlichen Charakter dieser Infiltrate ausschlieBcn 
konnen, und diese viel eher als durch den ParenchymprozeB sekundar 
bedingte Veranderungen auffassen. 


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Die Markfaserbilder aus dem Putamen lassen sich etwa dahin 
loewerten, dab die Veranderungen der Markfasern im allgemeinen viel 
weniger ausgesprochen sind als die der Nervenzellen, sie weisen aber 
darauf hin, dab bei einem gewis.sen Fortschritt des Zellprozesses auch 
die Markfasern eine erhebliche EinbuCe erlitten haben. So zeigt uns 
das Weigert-Bild aus dem hinteren Putamen, dab im oberen und un- 
teren Putamensegment das feine Eigenfasernetz des Putamens sehr 
stark gelichtet ist, und dab die kompakten Markbiindel, die aus dem 
Putamen gegen das Pallidum ziehen, an Zahl und Umfang stark ver- 
ringert sind. Der partielle Ausfall der striopallidaren Faserung fiihrt zu 
auffalligen, lokalen Markausfallen in den korrespondierenden Abschnitten 
der Lamina med. externa und in der Faserung des Globus paUidus, 
die an diesen Stellen im volligen Ausfall der radiar durchziehenden 
Faserziige sich bekundet. Das Markfaserbild aus der Mitte des Putamens 
labt einen Ausfall von Marksubstanz kaum erkennen; es tritt im Gegen- 
teil der von O. und C. Vogt beschriebene charakteristische Zustand 
von relativer Markiiberfullung in Erscheinung, der Status fibrosus, 
bedingt durch den Parenchymschwund, der ein Zusammendrangen der 
noch intakten Markbiindel bewirkt. Im vorderen Dritteil des Putamens 
lieben die Markbilder keine als pathologisch bewertbare Veranderungen 
erkennen. 

Im Globus pallidus war der pathologische Zellprozeb viel weniger 
ausgesprochen; die lokale Faserverarmung im Hinterteil desselben 
diirfte grobtenteils auf den Ausfall der striofugalen Fasern zuriick- 
gefiihrt werden. Ein Markausfall in der subpallidaren Faserung konnte 
nicht nachgewiesen werden. 

Von den benachbarten Grisea des Striatums hat der geschilderte 
Zellprozeb sich noch an zwei Stellen bemerkbar gemacht: im Nucleus 
substantiae innominatae, deren Zugehorigkeit zum Striatumsystem 
noch zweifelhaft ist, namentlich von O. und C. Vogt in Abrede gestellt 
wird, und im caudalsten Teil des Nucl. ruber. 

t)ber die Bedeutung dieser Stelle gibt uns die eingehende Studie 
v. Monakows Aufschlub, die den roten Kern und seine Umgebung 
behandelt. Aus dieser erfahren wir, dab beim Menschen der sog. Nucleus 
mugnocellularis (Hatschek) nur einen rudimentaren Bestandteil der 
Ru berformation bildet, der mit einigen Nestern von groben motorischen 
Zellen, den sog. Riesenzellen die caudalsten Auslaufer des roten Kerns 
bildet. Diese motorischen Zellen waren auch in unserem Fall vom 
pathologischen Prozeb am schwersten betroffen, wahrend der Haupt- 
kern des Nucl. ruber sich als anatomisch intakt crwies. Was nun die 
synaptologische Bedeutung dieser Zellgruppe betrifft, konnte v. Mona- 
kow in zwei pathologischen Beobachtungcn am Menschen durch Ver- 
folgung aufsteigender Degenerationen aus dem Ruckenmark den 


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Nachweis erbringen, daB die rubrospinale Faserung beim Menschen 
ausschlieBlich mit dieser Zellgruppe zusammenhangt. Experimentell 
zeigte Kohnstamm an Kaninchen, daB bei halbseitiger Durchschnei- 
dung des Riickenmarks nur die Zellen des Nucl. raagnocellularis zu- 
grunde gehen (die den sog. weiBen Kern bilden), wahrend der eigentliche 
rote Kern intake bleibt. Bei Tieren ist der Nucl. magnocellularis viel 
starker entwickelt und nimmt auch an der Bildung des Hauptkerns 
teil; beim Menschen besteht der Hauptkern nur aus kleinen und mittel- 
groBen Zellen, die mit den ubrigen rubrofugalen Faserungen in Verbin- 
dung stehen, der stark riickgebildete Nucl. magnocellularis ist nur durch 
die motorischen Zellgruppen vertreten, die im caudalsten Gebiet des 
roten Kerns oberhalb des Substantia nigra liegen. 

Ober den Verlauf des Fasciculus rubrospinalis sind wir aus den 
tierexperimentellen Untersuchungen von v. Monakow, Probst u. a. 
unterrichtet. Probst war der erste, der den Ursprung dieser Bahn, die 
v. Monakow schon friiher als ,,aberrierendes Seitenstrangbiinder' be- 
schrieb, aus dem roten Kern unzwcideutig festgestellt hat. Probst 
gibt in seiner Beschreibung liber diese Bahn folgendes an: Das Biindel 
ist durch uuffallend dicke Markscheiden ausgezeichnet. Die aus dem 
roten Kern austretenden Fasern ziehen durch die ventrale Hauben- 
kreuzung Forels auf die andere Seite, wo sie im ventrolateralen Teil 
der Formatio reticularis in sagittaler Anordnung verlaufen. Unter dem 
motorischen Trigeminuskern ziehen sie etwas ventral warts und kommen 
zwischen austretender Facialiswurzel und oberer Olive zu liegen. In 
der Oblongata verlaufen die Faserbiindel medial von der Gowers bahn, 
ventral vom dorsalen Trigeminuskern, lateral von den spinothala- 
mischen Biindeln, im lateralen Teil der Formatio reticularis. Im Cervi¬ 
cal mark erstreckt sich die Bahn im Seitenstrang vor dem Pyramiden- 
areal. Sie reicht im Hals- und oberen Dorsalmark nicht bis zur Peri¬ 
pherie, ist nach vorne und innen dreieckig. Im Brustmark nimmt sie 
an Umfang ab, erscheint hier nindlich und liegt im unteren Brust-und 
Lendenmark ganz am Rand des Seitenstranges. Probst konnte an 
Marchi-Bildcrn einige Fasern bis ins Sacralmark verfolgen. Er hat auch 
deutliche Einstrahlungen in das seitliche Vorderhorn feststellen kbnnen. 
Sehr bemerkenswert auBert sich Probst liber das Verhaltnis des 
v. Monakowschen Biindels zur seitlichen Pyramidenbahn. ,,Die Fasern 
<les Biindels und die Fasern der Pyramidenstrangbahn liegen dicht bei- 
sammen, so daB sie bei gemeinsamer Degeneration nicht voneinander 
zu trennen sind. Dadurch erklart sich die Tatsache, die schon friiheren 
Autoren auffiel, daB die Seitenstrangsbahndegeneration bedeutend star¬ 
ker ist nach einseitiger Riickenmarksdurchschneidung, als nach Dureh- 
schneidung der Pyramide selbst oder nach Blutungen in der inneren 
Kapsel.” 

Arohlv far Psychintrie. Bd. «7. 19 


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H. Richter: Beitrage zur Klinik und pathologischen 


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Cber den Verlauf der Bahn beim Menschen wissen wir eigentlich 
nur so viel, als sich im Falle von Collier und Buzzard, wo die beider- 
seitigen Ursprungszellen der Bahn zerstort waren, durch die angewen- 
dete Marchi-Methode feststellen lieB und v.Monakow in seinenFallen 
ermitteln konnte. Aus diesen ergab sich, daB die Bahn beim Menschen 
ungef&hr denselben Verlauf zeigt, wie bei den Versuehstieren beobachtet 
wurde, nur ist die Bahn beim Menschen viel schmachtiger. lhre typische 
Lagerung im Riiekenmark vor der Pyramidenhahn, in der Oblongata 
im dreieckigen Gebiet der Formatio reticularis lateralis ventral vom 
Trigeminuskern und im lateralen Haubengebiet der Pons ist auch beim 
Menschen sichergestellt. Fraglich ist, ob sie das gauze Riiekenmark 
durchzieht, oder schon in hoheren Segmenten aufhdrt. v. Monakow 
nimmt auf Grund seiner Beobachtung an, dab die Bahn die Hohe des 
V. Dorsalsegmentes unbedingt u berschreiten muB. 

Bei der Beschreibung der Ruckenmarksveranderungen unseres 
Falles habe ich die anatomischen Beweise ausfuhrlich angefiihrt. die 
mich dazu bewogen haben, den symmetrischen Faserausfall im vorderen 
Teil beider Seitenstrange und die nachweisbare Faserlichtung in den 
beiderseitigen Gebieten der Formatio reticul. lateralis in der Oblongata 
als einen Faserausfall im rubrospinalen Biindel v. Monakows auf- 
zufassen. Ich bin mir der Schwierigkeiten bewuBt, die der Identifizierung 
einer heute noch so wenig bekannten Bahn auf Grund von Weigert- 
Bildern im Wege stehen. MaBgebend war fiir mich dabei neben fler 
typischen Lagerung der Ausfallsareale — im Seitenstrang unmittelbar 
vor dem Pyramidenbiindel, in der Oblongata ventral vom Trigeminus¬ 
kern, medial von der Kleinhirnseitenstrangsbahn — auch der Umstand, 
daB an der Ursprungsstelle der nibrospinalen Bahn, in den caudalsten 
Zellnestern der Ruber formation ein schwerer SchwundprozeB in den 
hier liegenden motorischen Zellen nachgewiesen werden konnte. C'harak- 
teristisch war die Lagemng des Ausfallsareals im linken »Seiten.strang, 
wo die seitliche Pyramide ebenfalls gelichtet ist. Probst erwahnt, 
daB in solchcn Fallen das Ausfallsareal sich nach vorne vergroBert; 
allerdings stammt seine Beschreibung aus frischen, mit Marchi bearbei- 
teten Fallen. Ich konnte auf den Weigert-Bildern die beiden Ausfalls¬ 
areale, so innig sie auch aneiander grenzten, doch deutlich voneinander 
unterscheiden. Das rechtsseitige Ausfallsgebiet war wesentlich besser 
ausgesprochen, als das linke. Im Lumbalmark war die linksseitige 
Pyramidenlichtung noch deutlich zu sehen, die rubrospinalen Ausfalls- 
gebiete fehlten aber vollkommen: ebenso vermiBte ich sie in den unteren 
Thorakalsegmenten (die ubrigen Ruckenmarkssegmente standen mir 
nicht zur Verfiigung). 

Der Ausfall im linken Pyramidenstrang zeigte sich nicht nur in 
der helleren Markfarbung des betreffenden Areals, sondern auch darin, 


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Anatomie der extrapyramidalen Bewegungsstorungen. 


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da Li der Seitenstrang auf der linken Seite bedeutend schmaler war 
als auf der rechten und daB die Randlinie des Riickenmarks an dieser 
Stelle etwas eingebogen verlief; es ist daher naheliegend, anzunehmen, 
dali die Pyramideniasion schon seit langer Zeit bestand; dies wird 
auch durch die klinische Beobachtung wahrscheinlich geraacht. Inwie- 
weit einZusammenhang zwischen der Pyramideniasion und den in der r. 
motorischen Rinde beschriebenen Veranderungen besteht, raochte ich 
unentschieden lassen. Die Beetzschen Riesenpyramidenzellen waren in 
annahernd normaler Zahl zu sehen, und zeigten nur geringfiigige Ver¬ 
anderungen. Die Veranderungen der kleinen und mittelgroiien Zellen 
waren schon deutlicher; es fehlten jedoch auch in dieser Schicht die 
histologischen Kennzeichen eines seit langern bestehenden Prozesses, 
wie wir es fur die Pyramideniasion annehmen miissen; die Zellschichten 
waren noch gut erhalten, glios bedeckte groBere Ausfallsgebiete waren 
nicht zu sehen. 

Ich komme nun auf die Frage zu sprechen, welche Folgerungen 
aus dem klinisch-anatomischen Befund des vorliegenden Falles abgeleitet 
werden konnen. 

Was zunachst die Lokalisationsfrage betrifft, so fanden wir, 
daB in einem Falle, den wir auf Grund der klinischen Symptome in die 
Gruppe der Torsionsdystonie einreihen konnten, lediglich drei Steden 
des Zentralorgans anatomisch-pathologische Veranderungen aufwiesen. 
Die einseitige Lasion der Pyramidenbahn, die sich im klinischen Bilde 
in einer typischen spastischen Hemiparese kundgab, konnen wir bei 
diesem AnlaB, wo die anatomische Grundlage des torsionsdystonischen 
Krankheitsbildes erdrtert werden sod, ruhig ausschdeBen und diese 
als eine zufftdige, im adgemeinen sehr seltene Kombination der in 
Rede stehenden Erkrankung auffassen. 

Die schwerste, weil am meisten ausgebreitete pathologische Ver- 
anderung lag im Striatum, wo ein chronisch progressiver Schwund- 
prozeB ade nervosen-Elemente ergriffen hat, am schwersten die Nerven- 
zellen, weniger schwer die Markfasern und das Gliagewebe: eine leichtere 
Form der Erkrankung bot noch das benachbarte Pallidum und die 
Zellgruppe der Substantia innominata. Neben diesem groBen Er- 
krankungsherd fand sich eine ziemlich isolierte Affektionsstelle in der 
Gegend der Substantia nigra, die hauptsachlich die Utsprungsstelle der 
rubrospinalen Faserung geschadigt hat. Bekanntlich wird dieses Faser- 
system mit den extrapyramidalen Bewegungsfunktionen als eine der 
wichtigsten zum striaren System gehorigen efferenten Bahnen aufgefaBt, 
obwohl seine Beteiligung bei den striaren Erkrankungen anatomisch 
bisher noch nie bewiesen wurde. Nachdem dieser Befund in einem solchen 
Fade erhoben wurde, der als erster Fall von typischer Torsionsdystonie 
anatomisch untersucht wurde, wird man die Frage in Erwagung ziehen 

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284 H. Richter: Beitrage zur Klinik und pathologischen 

miissen, ob der Ausfall in der rubrospinalen Fasemng irgendeinen 
spezifisch bestimmenden Charakter fur das Zustandekomnien des 
torsionsdystonischen Symptomenkomplexes haben kann. 

Der groBen Bedeutung, die die Gegend der Substantia nigra beim 
Entstehen von striaren Ausfallserscheinungen zu haben scheint, wird 
durch die Beobachtungen der letzten Jahre immer mehr Auf- 
merksamkeit gewidmet. Es wurde aber dabei die Zellgruppe der 
Substantia nigra in den Vordergrund gestellt, und von anderen hier 
liegenden Zentren und Bahnen wenig Kenntnis genommen. In unserem 
Fall war der Locus niger nur leicht verandert, um so schwerer aber die 
dorsaler liegende Zellgruppe des Nucl. magnocell. (Hatschek), die 
dem System des roten Kerns cauda lwarts angeschlossen, von der Haupt- 
formation aber deutlich abgegrenzt ist; der Hauptkern selbst erwies sieh 
in unserem Fall sowohl im Zellbild, als auch auf Markbildern als voll- 
kommen intakt (nur eine doppelkernige Ganglienzelle konnte ich hier 
nachweisen). Ich mochte dies hervorheben, weil es mir als wahrschein- 
lich vorkommt, daB in einem Teil jener, striare Symptome bietenden 
Falle, wo die Substantia nigra besonders in ihrem caudalen Teile 
affiziert war, auch dieser Kern vom ProzeB nicht verschont blieb. 
Darauf weisen schon die kurzen Bemerkungen K. Goldsteins auf der 
Jahresversammlung d. Nervenarzte hin, der auf die Hiiufigkeit der 
Lasion der Substantia nigra bei den postencephalitischen parkinson- 
artigen Erkrankungen hinwies und dabei von der sekundaren Dege¬ 
neration solcher Fasern Erwahnung machte, die in der Forelschen 
Commissur iiber die Mittellinie dringen (also allem Anschein nach der 
rubrospinalen Fasemng angehoren). 

Schon die wenigen Beobachtungen, iiber die wir in dieser Hinsicht 
verfiigen, lassen erkennen, daB die Lasion der rubrospinalen Faserung 
an sich mit dem klinischen Typus der extrapyramidalen Erkrankung 
in keinen Zusammenhang gebraqht werden kann, speziell aber in unse¬ 
rem Fall mit der speziellen Form der torsionsdystonischen Bewegungs- 
storung nichts zu tun hat. DerUmstand, daB die Lasion in derGegend der 
Substantia nigra,diezum anatomischenSubstrat der postencephalitischen 
striaren Erkrankungen gehort, zu ganz verschiedenartigen Bewegungs- 
storungen fiihren kann, unter denen aber die torsionsdystonische Form 
am seltensten vorkommt, spricht schon gegen die Wahrscheinlichkeit 
eines solchen Zusammenhanges. Es sind uns aber andererseits solche 
Falle bekannt, die in ihrem klinischen Bilde eine groBe Ahnlichkeit 
mit der Torsionsdystonie zeigten, im anatomischen Befund jedoch 
die Lasion dieser Gegend nicht erwahnt wird. Im Falle Thomallas 
fanden zwar O. und C. Vogt auf Weigert-Bildern eine Verschmalerung 
der Substantia nigra, konnten aber dabei ein eventuelles Kunstprodukt 
nicht ausschlieBen. Im Falle Westphal ist iiber dieses Gebiet nichts 


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Anatomie der extrapyramidalen Bewegungestorungen. 


285 


verzeichnet; ebenso ini Falle Wiramer. Man wrrd also recht tun, 
wenn-man die in unserem Falle bestandene Affektion der rubrospinalen 
Faserung ebenfalls nur als eine begleitende Veranderung auffaBt und 
den GrundprozeB, der das Krankheitsbild hervorrief und aufrecht hielt, 
auch hier in das Striatum verlegen. DaB es sich aber dabei uin eine 
in gewissem Sinne einheitliche Erkrankung der genannten zwei Zentren 
handeln diirfte, dafiir spricht die vollkommene Identitat des patho- 
logisch-anatomischen Prozesses an beiden Stellen; die Annahme ist 
also naheliegend, daB das Striatum und die Ursprungsstelle der rubro¬ 
spinalen Faserung in diesem Falle eine gleich geschwachte Wiederstands- 
kraft dem krankhaften ProzeB gegeniiber zeigten. Und in diesem Sinne 
gewinnt durch vorliegende Beobachtung die bisher nur als theoretische 
Vermutung angesprochene Beteiligung der rubrospinalen Bahn als 
Leitungsbahn bei den extrapyramidalen Bewegungsvorgangen in hohem 
MaBe an Wahrscheinlichkeit. 

Es ist nach dem Obigen naheliegend, dieTorsionsdystonie als eine Er¬ 
krankung des Striatums zu betrachtenund in lokalisatorischer Beziehung 
mit der chronisch-progressiven Chorea und mit der Athetose double in 
eine gleiche Kategorie zu stellen. Das vorwiegende Befallensein des Puta- 
mens — wie es in unserem Falle vorlag — diirfte dabei gewissermaBen 
eine fur die Torsionsdystonie allgemeine Geltung haben, da die Sprach- 
und Schluckstdrungen, sovvie das Grimassieren, also all jene Ausfalls- 
erscheinungen, die im Sinne der Vogtschen somatotopisehen Gliederung 
auf die Affektion des vorderen Caudatums hinweisen, bei Torsions¬ 
dystonie nur selten anzutreffen siml (sie gehorten in unserem Fallzu 
den Erscheinungen der vorgesChrittensten Phase, wobei das Leiden 
43 Jahre lang dauerte). Demgegeniiber miissen wir liei der Athetose 
double, wo die erwahnten Storungen zum geliiufigen Krankheitsbild 
gehoren, annehmen, daB hier der ProzeB schon friihzeitig die Vorder- 
teile des Striatums zu befallen pflegt; die anatomischen Befunde von 
O. und C. Vogt bestatigen auch dies. In dieser Hinsicht weicht unser 
Fall auch von den bisherigen Fallen von chronisch-progressiver Chorea 
ah, wo nach den Untersuchungen von O. und C. Vogt, F. Stern, 
Jakob u. a. das ganze Striatum, also Putamen und Caudatum vom 
ProzeB gleichmaBig stark befallen zu sein scheinen (F. Stern fand sogar 
in seinen drei Fallen im Caudatum die schwersten Veranderungen). 

Wir konnen also die chronisch-progressive Torsionsdystonie zu 
den Eigenerkrankungen des Striatums rechnen, und dabei das vor¬ 
wiegende Befallenwerden des Putamens als eine spezifische Art der 
Lokalisation betrachten, die dieses Leiden von den anderen chronisch- 
progressiven Eigenerkrankungen des Striatums, von der Athetose 
double und der chronisch-progressiven Chorea bis zu einem gewissen 
Grad unterscheidet. 


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28l) H. Richter: Beitrage zur Klinik und pathologischen 

Eine weitere wichtige Frage. die *ich bei der Analyse des Falles 
erhebt, ist die. ob die Eigenart des pathologisch-anatomischen Prozesscs 
irgendwelche Ruckschlusse anf die spczifische Gestaltung des klinischen 
Bildes zulaBt, ob also in unserein Fall das Entstehen des torsionsdvsto- 
nischen Krankheitsbildes durch den vorgefundenen anatomischen Pro- 
zeB eigenartig bedingt sein kann. Hieriiber konnen wir uns nur dann 
Aufklarung verschaffen, wenn wir die schon friiher erwahnten und 
anatomisch untersuchten Fallc heranziehen, in denen ein ahnlicher 
klinischer Symptomenkoraplex vorlag. Der Fall Thomallas betrifft 
ein 12'/ 2 jahriges Kind arischer Abstammung, bei deni das Leiden 
mit anfallsweise auftretenden Torsionsbewegungen am rechten Beiii 
begann, die bald auf den rechten Arm und den Rumpf iibergingen. 
Vier Monate nach Krankheitsbeginn traten Sprachstorungen auf, zwei 
Monate spater Schluckbeschwerden. Im Krankenhaus zeigt der Patient 
Drehattacken des ganzen Korpers mit Ausnahme des freibleibenden 
linken Armes. Der Schlaf milderte im Anfang die Erscheinungen. 
Die grobe motorische Kraft, Sensibilitat und Intelligenz war gut. 
Sehnenphanomene auslosbar. Babinski rechts zeitweise angedeutet. 
Vorubergehend Fixationscontracturen, die durch passive Bewegungen 
iiberwindbar waren. Einmal wurden athetotische Bewegungen und 
beiderseitiger Babinski verzeichnet. Das Leiden dauerte 3 / 4 Jahre. 

Im anatomischen Befund (0. und C. Vogt) zeigte sich eine Total- 
nekrose des Putamens, bestehend aus weitgehendem Zerfall der Ganglien- 
zellen mit nur geringfiigiger Ersatzwucherung der Glia; diese blieb 
so schwach, daB es zur Entstehung eines schwammigen, zahlreiche 
Liicken aufweisenden Gewebes kam. Zahlreiche Fettkornchenzellen. 
An einzelnen GefaBen eine schwache Rundzelleninfiltration der AuBen- 
wand. Faserbildende Astrocyten in sparlicher Menge. Der anatomische 
Befund entspricht also der Totalnekrose, die mit dem pathologischen 
Substrat der Wilsonschen Krankheit schon deshalb identifi/iert werden 
kann, weil auch eine typische Leberveranderung vorlag. 

Wimmers Fall betrifft einen Kranken ohne erbliche Belastung, 
ohne Lues: das Leiden begann mit 12 .lahren mit einer langsam fort- 
schreitenden Bewegungsstoru ng, die die gesamte Korjiermuskulatur 
ergreift. Es bestnnden choreiforme und unwillkiirliche Drehbewegungen 
und sonderbare Haltungen ohne Muskelrigiditiit, ohne Liihmung, ohne 
Pyramidenzeichen, ohne Sensibilitatsstorung; kein Cornearing. Wim- 
mer vermag den Fall weder zur Athetose, noch zur Wilsonschen Krank¬ 
heit zu rechnen u nd findet am nachstliegenden die Anne lime einer Torsions- 
dystonie. Exitus nach zwei Jahren an Pneumonie. Die Sektion ergab 
eine typische Leberveranderung, wie bei Wilsonscher Krankheit. Das 
Gehirn bot makroskopisch nichts, mikroskopisch in weiter Ausdehnung 
im Geliirn (auch Rinde und Kleinhirn) die von Alzheimer beschriebe- 


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Anatomie der extrapyramidalen Bewegungeatdrungen. 


287 


lien und fur die Pseudosklero.se charakteristischen Veranderungen, am 
starksten im Striatum. 

Westphals Fall, der iihrigens nur wenig Beriihrungspunkte mit 
den iibrigen Fallen von Torsionsdystonie hatte und klinisch der Athetose 
double am nachsten stand, betrifft einen 43jahrigen Mann mit Lues 
in der Anamnese, bei dem plotzlich ein Krankheitsbild mit folgenden 
Svmptomen entstand: Eine allgemeine, mit Muskelrigiditat eiuher- 
gehende athetotische Unruhe, die durch psychische Reize gesteigert 
wurde, eigentiimliche torsionsspastische Haltungsanomalien, die an 
die Torsionsdystonie erinnerten, lcbhaftes Grimassieren, Sprach- und 
Schluckbeschwerden, Blasenstdrungen, Abnahme der Erinnerung. Die 
Bewegungsunruhe bestand auch beim Liegen. Krankheitsdauer zehn 
Woehen. Anatomisch zeigte sich neben gleichsinnigen Veranderungen 
in der Rinde hauptsachlich das Putamen schwer erkrankt. Hier waren 
einerseits entziindliche GefaBinfiltrate, stark erweiterte perivasculare 
Lymphraume, sehwere GefaBwandveranderungen, andererseits zahl- 
reiche Gliaproliferationsherde an Stelle der zugrunde gegangenen Gan- 
glienzellen zu sehen. 

Westphal nimmt als Krankheitsursache Lues oder Encephalitis 
an; der Krankheitsbeginn mit 43Jahren und der akute Verlauf machen 
eine exogene Schadigungsursache auch sehr ivahrscheinlich. 

Die Falle von Cassirer verdienen auch vom klinischen Stand- 
punkt aus eine besondere Beachtung. Sie zeigen uns den isolierten 
Torsionskrampf als das Symptom einer chroniseh fortschreitenden Er- 
krankung, das sich von den HaLsmuskeln auf die Glieder, oder in ent- 
gegengesetzter Richtung ausbreiten kann und zu einem der Torsions¬ 
dystonie nahestehenden Zustand fiihrt. Man wird auch Cassirer 
darin recht geben miissen, daB der Unterschied, der im Sitz des Muskel- 
krampfes zwischen den Fallen von echter Torsionsdystonie und seinen 
Fallen besteht, kein wesentlicher sein kann: die Haltungsanomalien 
und Gehstorungen der Dystoniker benihen auf den Torsions be wegungen 
der Rumpfmuskulatur, in Cassirers Fallen waren neben den Gliedern 
vornehmlich die HaLsmuskeln betroffen. Ich erinnere hier wieder an 
unseren Fall, in dem neben den Rumpfmuskeln auch die Hals- 
muskeln sehwere Torsionsstorungen zeigten. 

Der zweite Fall Cassirers wurde von Bielschowsky anatomisch 
untersucht, und zeigte neben diffusen Erscheinungen von Hirnschwel- 
lung einen subakuten Zerfall von Ganglienzellen im ganzen Striatum 
mit Zellschattenbildern, Neuronophagie usw.; die Fettpraparate deuteten 
auf einen lebhaften AbbauprozeB hin. Pyramidenbahn war unversehrt. 
Sowohl in diesem, wie im friiher erwahnten Fall Westphals war keine 
Leberveranderung nachweisbar. 

\'ergleicht man die hier angefiihrten Falle miteinander, so findet 


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288 


H. Richter: Beitrftge zur Klinik und pathologischen 


man ziemlich abweichende klinische Krankheitsbilder, in denen die 
Torsions be wegungsstorung als gemeinsames Symptom wiederkehrt. 
Vom pathogenetischen Standpunkt aus beurteilt, reprasentieren sie 
cine ganz heterogene Gruppe, in der exogene und endogene Schad- 
lichkeitsfaktoren angenommen werden mtissen, unter den letzteren 
solche, die mit einer Leberveranderung einhergehen neben anderen, in 
denen diese vermiBt wurde. Der pathologisch-anatomische ProzeB 
war ebenfalls ein sehr verschiedener: im Falle Thomalla lag eine 
fiir die Wilsonschc Krankheit charakteristische Totalnekrose des 
Striatums vor, der Fall Wimmer zeigte den fiir die Pseudosklerose 
typischen Befund (in beiden Fallen bestand auch Leberveranderung), 
im Falle Westphal war ein glioser HerdprozeB mit entzundlich-infil- 
trativen Veranderungen das anatomische Substrat, und der Fall 
Cassirers zeigte neben Hirnschwellung einen subakuten Zellschwund- 
prozeB. Vergegenwartigen wir noch den anatomischen Befund in 
unserem Fall, einen ausgesprochen chronisch-progressiven Zellschwund- 
prozeB mit Schrumpfung des Striatums, ohne Leberveranderung, so 
raiissen wir zur Ansicht gelangen, daB die Torsionsbcwegungsstorung 
zur Umfassung einer nosologisch einheitlichen Krankheitsgruppe nicht 
geeignet ist, sondem daB wir es hier mit einem Symptom zu tun 
haben, das in verschiedenen Krankheitsbildern auftreten kann und in 
Analogic zu stellen ist mit der choreatischen und der athetotischen 
Bewegungsstorung. In alien oben angefiihrten Fallen war das Striatum 
der Hauptsitz der pathologischen Veranderung (in den Fallen von 
Thomalla und Westphal ist das Putamen als Pradilekticnsstelle 
der Erkrankung besonders hervorgehoben, wie es auch unser Fall 
zeigte). Wir werden daher annehmen konnen, daB die Torsionsbewe- 
gungsstbrung eine besondere Art der strifir bedingten hyperkinetischen 
Bewegungsstorungen darstellt, deren Zustandekommen — ebenso 
wie bei der choreatischen oder athetotischen Bewegung — an irgend- 
eine Schiidigung des Striatums, hauptsachlich des Putamens gebunden 
ist, a her durch die Eigenart des hier sich abspielenden pat hologischen 
Vorganges nicht determiniert wird. Ebenso wie die athetotische Be- 
wegungsstorung durch einen Status marmoratus, durch einen Status 
fibrosus oder durch einen arteriosklerotischen HerdprozeB verursacht 
werden kann, konnen Torsionsbewegungen durch eine Totalnekrose 
fKler durch einen entzundlichen oder durch einen progressiven Zell- 
schwundprozeB l)edingt sein. Alle drei Arten der striaren hyperkine¬ 
tischen Bewegungsstdrung konnen als Teilerscheinungen in den ver- 
schiedensten Krankheitsbildern vorkommen, sie bilden aber auch 
einzeln selbstandige Erkrankungen, in denen je eine Art der Be¬ 
wegungsstorung das gauze Krankheitsbild beherrscht. Die Athetose 
double, die chronisch-progressive Chorea und die Torsionsdystonie 


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Anatomic der extrapyramidalen Bewegungsstorungen. 


289 


veranschauliehen drei solche Erkrankungen, wobei jedoch gleich be- 
raerkt werden soli, dab atreh bei diesen Fallen eine Untermiscbung mit 
anderen, nach der Bezeichnung des Leidens atypischen striaren Hyper - 
kinesen haufig vorkommt. Bei der echten Torsionsdystonie z. B. 
gehoren neben den charakteristischen Torsionsbewegungen die chorea - 
tischen und athetotischen Bewegungen zum gelaufigen Krankheitsbild. 
wie es auch unsere Beobachtung und der Fall Ewalds zeigt. 

Auf unsere oben gestellte Frage, welche Momente dabei bestim- 
mend wirken, dab es in einem Fall von Striatumerkrankung zur chorea- 
tischen, im zweiten zu einer athetotischen und in einem dritten zur 
torsionsdystonischen Bewegungsstorung kommt, werden wir auch lvier 
nur durch den Vergleich der anatomischen Befunde, die bei den er- 
wahnten drei Erkrankungsarten beschrieben wurden, eine Antwort 
erhalten. Ich mochte hier einen Vergleich mit den Fallen von Athetose 
double auber acht lassen, weil diese keine einheitliche anatomische 
Grundlage haben und auch im klinischen Verlauf Unterschiede zeigen, 
indem es stationare und progressive Falle gibt. Hingegen verfiigen wir 
uber zahlreiche, eingehende Untersuchungen bei Fallen von chronisch- 
progressiver Chorea, die bei manchen Abweichungen in den Details im 
ganzen eine recht grobe Ubereinstimmung in den Hauptziigen des 
anatomischen Bildes erkennen lassen und einen Vergleich mit den 
Befunden unseres Falles von Torsionsdystonie als zweckmabig er- 
scheinen lassen. Der Hauptsitz der krankhaften Veranderungen liegt 
bei beiden Erkrankungsarten im .Striatum; die geringe Mitbeteiligung 
des Pallidums, die wir in unserem Fall von Torsionsdystonie haupt- 
sachlich auf den Ausfall der striopallidaren Faserung zuruckfiihrten, 
wurde auch bei der chronisch-progressiven Chorea haufig beobachtet 
und von den meisten Autoren ebenso bewertet. Der schon friiher er- 
wahnte Unterschied in der anatomischen Lokalisation, namlich das vor- 
wiegende Befallensein des Putamens bei der Torsionsdystonie mub 
fur die Bestimmung der besonderen Art der Hyperkinese als belanglos 
angesehen werden, da eine ahnliche Lokalisation des Prozesses in ein- 
zelnen Fallen auch bei der Chorea beschrieben wurde. Der histopatho- 
logische Prozeb labt bei beiden Erkrankungen eine grobe Ahnlichkeit 
in den Hauptziigen erkennen: hier wie dort handelt es sich um einen 
fortschreitenden Schwundprozeb der Striatumzellen, mit relativer Ver- 
schonung der Markfasern, ohne Beteiligung der mesodermalen Elemente. 
Die durch den Parenchymschwund herbeigefiihrte Verdichtung der 
Markbiindel fiihre zum typischen Status fibrosus. An den Gefaben 
sind nur als sekundar aufzufassende Veranderungen zu beobachten. 
In den Einzelheiten zeigt jedoch der histopathologische Prozeb, den wir 
bei Torsionsdystonie fanden, manche bemerkenswerte Abweichungen 
von den meisten Fallen der chronisch-progressiven Chorea. Bei letzterer 


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H. Richter: Beitrage zur Klinik und pathologischen 


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wird allgeniein hervorgehoben, daB diekleinen Striatumzellen intensiver 
vom ProzeB befallen werden als die groBen, wahrend wir in unserem 
Fall eine solche elektive Affektion nicht deutlich feststellen konnten, 
vielmehr einen chronisch fortschreitenden, alle Striatumzellen scheinbar 
gleichmaBig schadigenden SchwundprozeB. Es soli hier gleich festgestellt 
werden, daB in den friiher erwahnten Fallen, wo Torsions be wegungs- 
storungen im Krankheitsbild vorkamen, die fiir die Chorea als charak- 
teristisch bezeichnete, elektive Schadigung der kleinen Striatumzellen 
ebenfalls nicht vorlag, sondern iiberall eine schwereAllgemeinschadigung 
des Striatu mparenchyms gefunden wurde. Den zweiten Unterschied 
im mikroskopischen Bild liefert das Verhalten des Gliagewebes, das 
durch seine iiberaus schwache Beteiligung am krankhaften Vorgang 
in deutlichem Gegensatz steht zu zahlreichen Befunden, die iiber leb- 
hafte, progressive Gliaveranderungen bei der chronisch-progressive!! 
Chorea berichten. Endlich war in unserem Fall im schwer affizierten 
hinteren Putamen auch die Marksubstanz deuthcher geschadigt, als es 
bei der chronischen Choreu zumeist angegeben wird. Ob at)er diese Untcr- 
schiede hinreichen, um die verschiedene Gestaltung des klinischen 
Bildes zu erklaren, kommt mir zweifelhaft vor. Erstens deshalb, 
weil, wie O. und C. Vogt zeigten, bei der Chorea auch die groBen Zellen 
schwer verandert sein konnen und zu merklichen Ausfallen in der 
striopallidaren Fasemng fiihren konnen, ohne daB sich das choreatische 
Krankheitsbild andern miiBte, zweitens, weil auch das Verhalten des 
Gliagewebes bei den verschiedenen Choreafallen eine reeht groBe Ab- 
wechslungzeigt; ubrigcns scheint dies ein durch den ZellschwundprozeB 
bedingter sekundarer Vorgang zu sein. Diese Unterschiede mochte ich 
iiberhaupt nicht mit dem spezifischen klinischen Bild, sondern mit der 
Dauer und dem Verlauf des Prozesses im Einzelfall in Zusammenhang 
bringen. Die Verlaufsdauer der meisten Falle von chronisch progressiver 
Chorea ist im Verhaltnis zu unserem Fall, wo diese 43 Jahre betrug, eine 
verhaltnismaBig kurze. Die Chorea beginnt ja gewohnlich im Erwach- 
senenalter, w&hrend in den Fallen von Torsionsdystonie der Krankheits- 
beginn zwischen 10 und 13 Jahren angegeben wird. Der Tod pflegt 
in beiden Fallen unabhangig von der eigentlichen Haupterkrankung 
einzutreten, der Fortschritt des Krankheitsprozesses, der sich in der 
Schwere der anatomischen Veranderungen im Striatum kundgibt, ist 
also eigentlich nur von der Dauer der Erkrankung abhangig. Hierauf 
deuten in unserem Falle die verschiedenen Befunde im Striatum selbst: 
im hinteren Putamen, wo nach alien Zeichen der ProzeB am langsten 
angedauert hat, finden wir neben dem hochgradigen Zellschwund auch 
schon einen schweren Markausfall; im mittleren Putamen war der Zell- 
schwundprozeB wohl noch sehr stark ausgepragt, die Marksubstanz 
blieb aber noch intakt, sie zeigt sogar eine relative Verdichtung der 


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Anatomic der extrapyramidalen Bewegungsstdrungen. 


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Markbiinclel, die ganz an den fur die chronisch-progressive Chorea 
charakteristischen Status fibrosus erinnerte. Im vorderen Putamen 
und noch mehr im Caudatumkopf war auch das Zellenparenchym 
groBenteils noch vom ZerfallsprozeB verschont, die Marksubstanz voll- 
kommen normal. Wir haben wohl in diesen weniger vorgeschrittenen 
Partien eine schwerere Affektion der kleinen Striatumzellen im Verhalt- 
nis zu den groBen nicht deutlich fest&tellen konnen, wie es bei der 
chronisch-progressiven Chorea regelmaBig der Fall ist, doch wird man 
gerade in Hinsicht auf die RegelmaBigkeit dieses Befundes bei der 
Chorea die friihere Affektion der kleinen Striatumzellen auf ihre groBere 
Vulnerabilit&t gegeniiber den groBen Zellen annehmen konnen und ihre 
vorwiegende Affektion bei diesem Leiden mit der kurzen Dauer der Er- 
krankung in Zusammenhang bringen, die schon durch den spaten Beginn 
des Leidens gewahrleistet ist. Es ist klar, daB in bezug auf die Dauer 
und den Verlauf des Leidens Unterschiede auch innerhalb der einzelnen 
Gruppen bestehen, die dann zu Abweichungen vom typischen Befund 
fiihren (so ware die Affektion der groBen Zellen bei Chorea zu erklaren), 
und der wechselvolle klinische Verlauf bei der Torsionsdystonie laBt 
es als wahrscheinlich annehmen, daB weitere anatomische Befunde, 
die sich auf diese Krankheit beziehen, in den erwahnten Einzelheiten 
manche Abweichungen von unserem Falle zeigen werden. 

Diese Betrachtungen fiihren mich zur Ansicht, daB die Torsions¬ 
dystonie und die chronisch-progressive Chorea in ihrem anatomischen 
Substrat eigentlich gar keine wesentliche Abweichung aufweisen, 
sicher aber keine solche, die als der bestimmende Faktor des spezifischen 
klinischen Symptomenbildes angesehen werden kann. Wir werden also 
unserer beim Fall von Hemiathetose gezogenen SchluBfolgerung, 
daB die spezielle Form der Hyperkinese von der Eigenart der patholo- 
gischen Veranderung unabhangig ist, die Giiltigkeit auch bei den 
chronischen Eigenerkrankungen des Striatums zuerkennen und einst- 
weilen uns mit der Feststellung begniigen miissen, daB hier ein anderer 
Faktor heute noch ganzlich unbekannten Wesens die bestimmende 
Rolle spielt. 

Kurz seit noch darauf hingewiesen, daB die von O. und C. Vogt als 
striare Akinesen beschriebenen Ausfallserscheinungen in unserem Falle, 
wie iiberhaupt in alien bisher veroffentlichten Fallen von echter Tor¬ 
sionsdystonie vermiBt wurden; es ist naheliegend anzunehmen, daB 
sie durch die hochgradige hyperkinetische Bewegungsunruhe des 
Rumpfes und der Glieder leicht verdeckt werden konnten. Im Gesicht 
fehlen in den meisten Fallen sowohl die hyperkinetischen, als die akine- 
tischen Symptome; in unserem Fall bestand zuletzt ein halbseitiges 
Grimassieren, das wir mit der beginnonden Lasion im linken Caudatum¬ 
kopf in Beziehung brachten. 


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H. Richter: Beitrage zur Klinik und pathologischen 


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Wenn wir die Ergebnisse obiger Ausfiihrungen zusammenfassen, 
so miissen wir zum SchluB kommen, daB die Torsionsdystonie als eine 
selbst&ndige Krankheit nicht aufgefaBt werden kann. Durch die verglei- 
chende Betrachtung anderweitiger in der Literatur niedergelegten 
Falle muBten wir namentlich erkennen, daB das klinische Bild keine 
nosologische Eigenzeichnung hat, sondern bloB einen torsionsdystoni- 
schen Symptomenkomplex darstellt, der analog ist der athetotischen 
oder der choreatischen Bewegungsstdrung; wir haben in demselben eine 
striar bedingte Hyperkinese kennengelernt, die bei Striatumerkran- 
kungen verschiedenster Art auftreten kann; pathologische Vorgiinge 
exogener und endogener Natur, mit akutem oder chronischera Verlauf 
konnen den Symptomenkomplex hervorbringen. Nur die Lokalisation 
im Striatum (speziell im Putamen) ist eine sichergestellte Bedingung 
seines Zustandekommens; in dieser Hinsicht unterscheidet es sich aber 
nicht von der choreatischen oder athetotischen Bewegungsstoning. 
Das anatomische Bild der echten Torsionsdystonie zeigt in den Haupt- 
ziigen eine Obereinstirnmung mit der chronisch-progressiven Chorea, 
die bestehenden kleinen histologischen Abweichungen sind durch die 
Dauer und den Verlauf des Leidens bestimmt und sind auch innerhalb 
ein und derselben Gruppe einer Variation unterworfen, hangen aber 
keinesfalls mit dem spezifischen Krankheitsbild zusammen. 

Die Torsionsdystonie gehort mit der chronisch-progressiven Chorea 
und mit der Athetose double zu den autochthonen Degenerationen des 
Striatums. Die biologische Minderwertigkeit dieses Himteils bildet 
ihre gemeinsame pathogenetische Gnindlage. Diese kann sich auch 
anatomisch bemerkbar machen: in einigen Fallen offenbart sie sich 
als eine ausgesprochene Entwicklungsstdrung, wie die Falle von Athetose 
double mit dem Status marmoratus zeigen. In unserem Fall deutet 
das Auffinden von doppelkernigen Ganglienzellen im Pallidum und 
Nucl. niber auf eine Entwicklungshemmung in jenen Kernen, die mit 
dem Striatum funktionell zusammenhangen. Bei alien drei Erkran- 
kungen sind klinisch Beweise der Hereditat und Familiaritat vorhanden, 
sowie Beobachtungen von Misch- und Gbergangsformen zwischen ein- 
ander und den iibrigen Heredodegenerationen. In ihrem anatomischen 
Bild ist das elektive Befallenwerden des ektodermalen Nervenparen- 
chyms das hervorragende Kennzeichen der histopathologischen Ver- 
anderung. Ihre segmentare Elektivitat auf das Striatumgebiet bedingt 
das rein striare Krankheitsbild, das aber oft durch die Mitaffektion 
von anderen Hirnsegmenten (Rinde bei Athetose double, bei Hunting- 
ton-Chorea, Pyramidenbahn in unserem Fall von Torsionsdystonie) 
kompliziert werden kann. Die Intensitatskomponente bestimmt den 
Verlauf und die Dauer der Erkrankung; dieses Kennzeichen der Schaf- 
ferschen Charakteristik l&Bt nun die drei erwahnten striaren Heredo- 


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Anatomie der extrapyramidalen Bewegungsstorungen. 


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degenerationen am deutlichsten voneinander unterscheiden: Bei der 
Athetose double beginnt das Leiden mit der Geburt oder in den ersten 
Lebensjahren (es kann dabei station&r bleiben, wenn eine dauernde 
Entwicklungsstorang vorliegt, oder fortschreiten, wenn ein progressiver 
Destra ktionsproze B besteht). Bei der Torsionsdystonie beginnt das 
Leiden um die Pubertat herum (zwischen 10—13 Jahren). Die chronisch- 
progressive Chorea setzt erst im erwachsenen Alter ein. Man wird 
also annehmen konnen, daB die biologische Minderwertigkeit des Stria¬ 
tums bei den drei Erkrankungen spezifische Unterschiede aufweist, 
durch die die einzelnen Formen am meisten gekennzeichnet bleiben. 
DaB aber auch in dieser Hinsicht eine breite Variationsmoglichkeit 
besteht, wie schon fruher erwahnt wurde, deutet nur auf eine Eigentum- 
lichkeit hin, die fur die groBe Gruppe der Heredodegenerationen als 
charakteristisch hervorgehoben wurde. 


Nachtrag bei der Korrektur. 

Bedauerlicherweise erhielt ich erst nach Fertigstellung der Arbeit 
Kenntnis von einer kurzen Mitteilung Bielschowskys (Journ. f. 
Psychol, u. Neurol. 24, 1918), in der die Striatumerkrankungen — 
in Ubereinstimmung mit meinen obigen Ausfuhrungen — als Heredo¬ 
degenerationen im Sinne der Jendrassikschen Charakteristik auf- 
gefaBt und auf dieser Grundlage klassifiziert werden. Der Autor unter- 
scheidet hier Dysplasien als Storungen der Organogenese von den Abio- 
trophien (im Sinne von Gowers), bei denen die inh&rente Schwache 
gewisser Hirnsegmente erst im postfoetalen Lel)en zutage tritt. Zu 
den ersteren rechnet er als reine Dysplasie den Status marmoratus und 
als Dysplasie mit blastomatosem Einschlag die tuberose Sklerose; bei 
den Abiotrophien unterscheidet er auf Grand der anatomischen Veran- 
derangen 1. eine Form mit blastomatosem Einschlag (Pseudosklerose), 
2. eine Form mit lokaler Totalnekrose des Parenchyma (Nekrose des 
Putamens und Pallidums bei Wilsons Krankheit und beim progressiven 
Torsionsspasmus) und 3. eine dritte Form mit elektiver Nekrobiose der 
Ganglienzellen (hierher wird die chron. progressive Chorea, als elektive 
Zellnekrose des Nucl. caudatus und N. lentiformis gerechnet). Die 
Griinde, die fur die Richtigkeit und ZweckmaBigkeit einer Grappierang 
auf dieser Grundlage sprechen, habe auch ich in meinem Aufsatze an- 
gefiihrt; andererseits wird man aber die vom Autor selbst gemachten 
\'orbehalte in bezug auf die Vollstandigkeit und genaue Abgrenzung 
der einzelnen Untergrappen teilen miissen. Ich mochte mir dabei er- 
lauben die Ansicht zu auBern, daB in der Gruppe der Abiotrophien die 
Falle mit Leberveranderangen eine einheitliche, vom pathogenetischen 
Standpunkt enger zu fassende Unterabteilung bilden konnten. B. rech- 


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294 H. Richter: Be it rage zur Klinik und pathologischen Anatomic usw. 

net —offenbar auf Grand des bekannten Thomallaschen Falle.s — die 
Torsionsdystonie zu den Totalnekrosen des Striatums. DaB es sich in 
diesem Fade um keine typische Torsionsdystonie handelte, wurde friiher 
ausfiihrdch erortert. Hingegen weisen die anatomischen Befunde im 
hier mitgeteilten klassischen Fad darauf hin, daB der typischen Torsions¬ 
dystonie ein ahnlicher, elektiver ZedschwundprozeB des Striatums 
zugrande liegt, wie bei der progressiven Chorea. Auch war in unserem 
Fad keine Leberver&nderung vorhanden. Nimmt man noch hinzu, daB 
in Fallen von chronisch-progressiver Athetose — wie im Fade Fili¬ 
nn onoffs — ebenfalls ein elektiver ZedschwundprozeB im Striatum 
stattfindet, auch ohne Leberveranderung, so konnte man in der Grappe 
der striaren Abiotrophien auf Grand des Vorhandenseins oder Fehlens 
von Leberveranderungen zweierlei Erkrankungsarten uliterscheiden: 
1. Abiotrophien mit Leberveranderungen; hierher gehoren die 
Wilsonsche Krankheit und die Pseudosklerose. Ihre Zusammeiigehorig- 
keit ist heute nach Spielmeyers Untersuchungen auch durch das 
1 istologische Bild sichergestedt. 2. Abiotrophien ohne Leber¬ 
veranderungen. Eminent chronische Erkrankungen mit elektiver 
Nekrobiose der Ganglienzellen. Diese Grappe w'iirde die striar-hyper- 
kinetischen Erkrankungen umfassen: die chronisch-progressive Chorea, 
die chronisch-progressive (typische) Torsionsdystonie und die Fade 
von chronisch-progressiver Athetose mit Beginn in den ersten Lebens- 
jahren (wahrend die Fade von angeborener, stationarer Athetose double, 
deren anatomisches Substrat der Status marmoratus bildet, zu den 
Dysplasien des Striatums gehoren). 

Literaturverzeichnis. 

t'bcr die ineistcn im Aufsatz zitierten Arbeiten befinden sich nahere An- 
gaben in den Ref era ten von Poliak und Jakob zumThema: „Der amyostatiache 
Symptomenkomplex und verwandte Zustiinde", Verhandl. d. Ges. dtsch. Nerven- 
itrzte. 11. Jahresversamnil., bei F. C. W. Vogel, Leipzig 1922 und in der Arbeit 
von O. und C. Vogt: „Zur Lehre der Erkrankungen des striaren Systems." Journ. 
f. Psychol, u. Neurol. 25, Ergfinzungsheft 3. 1920. 

AuBer den hier angefuhrten Arbeiten wurden noch beriicksichtigt: 

Cassirer, Berl. klin. Wochenschr. Heft 2. 1922. 

Ewald, Munch, med. Wochenschr. Heft 8. 1922. 

Wimmer, Originalmitteil. in der Rev. Neurol. Jg. 28. Referiert im Zentralbl. 
f. d. ges. Neurol, u. Psych. 28, 6/7 und 29, 2/3. 

Steck, Schweiz. Arch. f. Neurol, u. Psychiatr. 8, 1. 

K. Mendel, Monatsschr. f. Neurol, u. Psychiatr. 45, 6. 

v. Monakow: Der Rote Kern, die Haube und die Regio Hypothalamiea 
(Arbeiten aus dem him-anatomischen Institut Zurich). J. F. Bergmann. Wies¬ 
baden 1910. 

Probst: Cber vom Vierhiigel, von der Brucke usw. absteigende Bahnen 
(Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. 15). 


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(Aus dem Himforschungsinstitut der Universitat Budapest 
[Vorstand: Prof. Dr. Schaffer].) 

Bpmerkuugeu zur Histogenrse der Tabes. 

Von 

H. Richter, 

Assistenten des Instituts. 

Mit 5 Textabbildungen. 

(Eiiigegangen am 4. September 1922.) 

Die Veranlassung zu vorliegenden Beraerkungen gibt mir ein in 
dieser Zeitschrift Bd. 65, Heft 1/3 unlangst veroffentlichter Aufsatz 
Jakobs, in welchem meine im Vorjahr mitgeteilten (Bd. 67 der 
Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psych.) Untersuchungen und die auf diese 
gestiitzte pathogenetische Erklarang der Tabes einer kritischen Bespre- 
chung unterzogen wurden. Die Wichtigkeit der zur Diskussion stehen- 
den Frage, von der ich mich auch aus den zahlreichen, autoritativen Be- 
sprechungen raeiner Arbeit uberzeugen konnte, aber auch der vornehnie 
Forscherrang meines Kritikers — besonders auf dem Gebiete der syphi- 
litischen Erkrankungen des Zentralnervcnsystems — lassen es fiir mich 
als dringend geboten erscheinen, zu den von ihm erhobenen Eimvanden 
Stellung zu nehmen und zu versuchen, den zwischen uns bestehenden 
Meinungsverschiedenheiten auf den Grand zu kommen. Einiges, 
was ich dabei hervorheben miiBte, wurde in raeiner vorjahrigen Arbeit 
eingehend besprochen und ich werde deshalb — um Wiederholungen 
zu vermeiden — an den betreffenden Stellen auf die Originalarbeit ver- 
weisen. 

Es soli zunachst die weniger wichtige, mehr personliche Frage 
hPreinigt werden, die meine Stellungnahme zu den Befunden Hassins 
lietrifft. 

Jakob sagt: ,,Wahrend Richter von den Hassinschen Befunden 
gerade die herausgreift, denen Hassin selbst, wie aus seiner kurzen 
V r eroffentlichung hervorgeht, keine prinzipielle Bedeutung beiraiBt, 
erwahnt er jene nicht, die Hassin als die echten tabischen Veranderan- 
gen aus dem Gesamtkomplex der Erscheinungen in seinem Material 
herausschalte.“ 

Wer meinen Aufsatz nicht gelesen hat, konnte dirrch diese Ein- 
stellung meiner Vorgangsweise leicht den Eindrack erhalten, ich hatte 


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206 


H. Richter: 


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gewisse Ursachen gehabt, von den ,,echttabischen” Veranderungen 
Hassins keine Kenntnis zu nehmen. Ich berufe mich aber in dieser 
Hinsicht ruhig auf die Arbeit selbst, in welcher ich — oft vielleicht 
zum Nachteil der Ubersichtlichkeit — beflissen war, alle mit meineni 
Gegenstand nur irgendwie zusammenhangenden Arbeiten einer ge- 
wissenhaften Priifung zu unterziehen. Hassins vorlaufige Bemer- 
kungen erschienen urn einige Monate spater, als raeine erste diesbeziig- 
liche Veroffentlichung (beide im Neurol. Zentralblatt 1914), in welcher 
ubrigens alle wesentlichen Feststellungen der spateren Arbeit enthalten 
waren; Prioritatsriicksichten konnten also meinerseits gar nicht in 
Betracht kommen. Ich habe in der Einleitung zu rneiner Arbeit auf 
die grobe Bedeutung hingewiesen, die der richtigen Auswahl der zur 
Untersuchung verwendeten Tabesfalle zukommt und fiihrte zur Be- 
kraftigung dieser Oberzeugung einige Arbeiten aus der letzten Zeit, 
danmter auch die summarisch mitgeteilten Befunde Hassins an, fur 
die heute schon sichergestellt ist, was ich seinerzeit als Vermutung aus- 
sprach, dab es sich in keinem einzigen Fall um eine reine unkomplizierte 
Tabes handelte. Ich zitierte einige Befunde Hassins um zu illustrieren, 
dab bei Untersuchungen an einem ungeeigneten Material Ver¬ 
anderungen gefunden werden, die mit dem tabischen Prozeb gar nicht 
zusamraenhangen konnen und hob gleichzeitig vor, dab diese dann ge- 
eignet sind, die richtige Wertung der von Hassin gefundenen iibrigen 
,,echttabischen“ Veranderungen unmoglich zu machen. Auf diese niiher 
einzugehen, fand ich aber deshalb keinen Anlab, weil ich zwischen den 
Befunden Hassins, die er in den Hinterstrangen, Meningen, Wurzeln 
beschreibt, und seiner auch von Jakob zitierten Auffassung (Punkt 11 
bei Hassin) iiber die Pathogenese der Tabes eine solche Dissonanz 
fand, die ich mir nicht gut erklaren konnte. Ich will dies hier naher 
begriinden. Hassin fand eine fleckweise Degeneration in den Hinter¬ 
strangen und stellt diese Ver&nderung als pathognomonisch fiir die Tabes 
hin. Er beschreibt diese auf Bielschowskypraparaten, wo er in den 
marklosen Partien neben Stellen mit erhaltenen Axonen solche fand. 
wo gar keine oder nur zarte Silberfasern anzutreffen sind. Auf Mallory - 
bildern verzeichnet er in diesen Flecken zuerst die regressiven und 
proliferativen Erscheinungen der sekundaren Degeneration, dann 
bemerkenswerte Entmarkungsvorgange an einzelnen Fasern, ahnlich 
denen der multiplen Sklerose, Markscheidenerkrankungen bei relativ 
normalem Axon und schlieblich marklose Achsenzylinder. Schon aus 
dieser Beschreibung Hassins ist zu erkennen, dab in seinen Fallen 
im tabischen Hinterstrang neben dem sekundar-degenerativen Prozeb 
noch ein unmittelbarer primarer Degenerationsprozeb des Paren- 
chyms vorliegt. Er bekraftigt dies, indent er im tabischen Opticus eben- 
falls eine fleckformige Degeneration der Randfasern beschreibt, die er 


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Bemerkungen zur Histogenese der Tabes. 


297 


mit den Riickenmarksveranderungen in Analogie stellt; die Entstehung 
dieser Ausfalle auf sekundar-degenerativem Wege ist aber liier sicher 
auszuschlieBen, es kann sich hier nur um einen direkten, herdformigen 
Ausfall handeln. Es war daher fur mich naheliegend anzunehmen, 
daB die fleckformige Degeneration im Hinterstrang, die Hassin 
in seinen Fallen beschrieb, den Effekt eines auch unmittelbar im Hinter¬ 
strang sich abspielenden pathologischen Prozesses darstellt, auf keinen 
Fall aber als ein rein sekundar-degenerativer Folgezustand aufgefaBt 
werden kann, wie man es im Sinne der pathogenetischen Erklarung 
Hassins erwarten rnochte. Obrigens wiirde die „fleckweise“ Degenera¬ 
tion eine ganz ungewohnliche Form des seku nd&r-dege nerativen Faser- 
ausfalles darstellen; man begegnet dieser Bezeichnung bei myelitischen 
Herdprozessen oder bei der Beschreibung der kleinen Markausfalls- 
herde in der paralytischen Hirnrinde, mit einem sekundar-degenerativen 
ProzeB — wie es Hassin will — wurde sie aber bisher noch nicht in 
Beziehung gebracht. Hassin beschreibt dann entzvindlich-infiltrative 
Ver&nderangen und hyperplastische Vorgange an den Meningen, an 
den mesodermalen Hiillen der spinalen Wurzeln, mit besonderer Ver- 
starkung an der Nageotte-Stelle und an der Redlich-Obersteinerschen 
Einschmirung, bemerkt aber, daB auch die weiBe und graue Substanz 
des Riickenmarkes diffuse GefaBinfiltrationen und Kapillarvermehrung, 
zuweilen auch endarteriitische Vorgange aufweist, wenn auch nicht so 
ausgesprochen, wie die Meningen; die Infiltrationszellen waren uberall 
Lymphozyten und Plasmazellen. Wenn nun Hassin in seiner patho¬ 
genetischen Auffassung nur die Veranderungen an der Nageotteschen 
und Redlich-Obersteinerschen Stelle fiir die tabische Hinterstrangs- 
erkrankung verantwortlich macht, dann vernachlassigt er dabei von 
seinen Befunden die von ihm als pathognomonisch bezeichnete 
,,fleckformige Degeneration" der Hinterstrange und die im Riicken- 
mark gefundenen entziindlichen Veranderungen vollkommen und ver- 
legt die primare Schadigung der Hinterwurzeln willkurlich auf gewisse 
Stellen ihres Verlaufes, ohne daB er dabei irgendwelche Beweise dafiir 
aufbringen konnte, daB die hier vorgefundenen infiltrativen und proli- 
ferativen Erscheinungen tatsachlich an dieser Stelle und nur hier die 
primAre Lasion der Nervensubstanz bewirken. Hassins Tabeserkla- 
ning ist eine — wie mir scheint — durch seine eigenen Befunde nicht 
recht begriindete Zusammenfassung der pathogenetischen Lehren von 
Nageotte und Obersteiner, die tatsachlich nur durch ein ,,Heraus- 
schalen" aus seinen Befunden zustande kommen konnte. Dieses Heraus- 
schalen ist aber ein individuelles Verfahren, bei welchem die Schale 
nach Belieben einmal dick, das andere Mai diinn ausfallen katm. Auch 
koramt es hier nicht auf die Erklarung, sondern auf die Befunde an, 
Hassins Falle waren aber durchweg komplizierte Tabcsfalle, ein groBer 

Archlv fiir Psychiatrie. lid. 67. 20 


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298 


H. Richter: 


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Teil seiner Befunde, namlich die bisher unbekannten, gehoren auch 
nicht in die Histopathologie der Tabes; der rein tabische ProzeB aber 
ist in alien seinen Fallen durch die Kombination mit Paralyse oder 
anderen luetischen Veranderungen verdeckt. 

Die Beteiligung der Lymphozyten und Plasmazellen am tabischen 
WurzelnervprozeB ist eine Frage, deren Losung mich schon bei Fertig- 
stellung meiner vorjahrigen Arbeit nicht ganz befriedigte, und das Gefiihl 
in mir hervorrief, daB diese zu mancherlei MiBverstandnissen AnlaB geben 
konnte. Ich mochte es also hier versuchen, diese Frage bei Beriicksich- 
tigung der Jakobschen Einwande und an der Hand einiger instruk- 
tiver Bilder nochmals zu erortern, zumal ich mich mit diesem Gegen- 
stand an einigen neuen Fallen von reiner Tabes und Taboparalyse 
auch seither eingehend beschaftigte. Beziiglich der geschichtlichen 
Antezedentien dieses Streites, der seit den ersten Veroffentlichungen 
Nageottes schon mehrere Forscher beschaftigte, verweise ich auf 
meine ausfiihrliche Arbeit. Auf Grund von vergleichenden Unter- 
suchungen an reinen und mit Paralyse kombinierten Tabesfallen ge- 
langte ich zur Erkenntnis, daB der rein tabische WurzelnervprozeB durch 
ein syphilitisches Granulationsgewebe verursacht wird, das zwar 
Lymphozyten und Plasmazellen in verschwindender Menge enthalten 
kann, diesen aber dabei keinesfalls die Bedeutung beigemessen werden 
darf, zu der sie durch Nageotte erhoben wurden, der den tabischen 
Vorgang auf einen entziindlichen (vascular-infiltrativen) und prolifera- 
tiven Vorgang zuriickfiihrte und dabei in den entziindlichen Zellelemen- 
ten (Lymphozyten, Plasmazellen) das Wesentliche des Prozesses er- 
blickte, wahrend er die proliferativen Vorgange, die mit dem von mir 
beschriebenen Granulationsvorgang identisch sind, vernachlassigte. 
Ich konnte nun durch die Untersuchung von mit Paralyse komplizier- 
ten Tabesfallen feststellen, daB in diesen Fallen oft neben dem rein 
tabischen Granulationsgewebe die von Nageotte beschriebenen 
Lymphozyten- und Plasmazellenansammlungen teils in perivascularer, 
toils in diffuser Anordnung anzutreffen sind, und nachdem auch die 
Falle Nageottes fast ausnahraslos taboparalytische Falle waren, 
fiihrte ich diese Veranderung im WurzelnervprozeB auf die paralytische 
Miterkrankung zuriick. Ich mochte dabei hervorheben, daB es sieh 
keineswegs um eine konstante Veranderung bei Taboparalyse handelt, 
denn ich vermiBte sie schon wiederholt auch in diesen Fallen, wo nur 
das rein tabische Granulationsgewebe vorhanden war. Es war auch 
mir bei der Fertigstellung meiner Arbeit die von Jakob aufgeworfene 
Frage nicht ganz klar, „weshalb gerade an einer Stelle, die die reine 
Paralyse an sieh verschont, Veriinderungen sich etablieren sollen, die 
auf sie zu beziehen sind“, und ich habe mich deshalb auf Vermutungen 
beschrankt, die mir jedoch heute als uberholt vorkommen, da neuere 


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Benierkungen zur Histogenese der Tabes. 299 

Untersu chungen mich zu einer — wie mir scheint — einwandfreien 
Erklarung der in Rede stehenden histopathologischen Eigentiimlich- 
keit fuhrten. Vor allem mufi ich erklaren, daB ich meinen Befund, 
laut welchem das Granulationsgewebe Lymphozyten und Plasmazellen 
nur in verschwindend geringer Menge enthalt, in vollem Made aufrecht 
halte und daB mich diesbezuglich die Bilder, die Jakob als Beweise 
fiir die gegenteilige Ansicht anfiihrt, nicht iiberzeugen kbnnen. Er bringt. 
auf Abb. 7 einen — nach der Kernfarbung beurteilt — alteren Granu- 
lationsprozeB, in welchem Lymphozyten und Plasmazellen unter- 
mischt sein sollen. Tatsache ist, da!3 unter den durchweg dunkel- 
gefarbten Kernen, von welchen ein groBer Teil infolge ihrer unregel- 
miiBigen Lagerung schief oder quer getroffen ist, die Erkennung 
dieser Zellarten auch jenem Untersucher Schwierigkeiten macht, 
der mit der histologischen Eigenart des Granulationsgewebes 
einigermaBen vertraut ist. Doch liegt nicht hier das Wesen der 
strittigen Frage; denn hier beruht unsere Meinungsverschiedenheit 
auf einer quantitativ verschiedenen Bewertung des histologischen 
Bildes. Es kommt nicht darauf an, ob im Granulationsgewebe weniger 
oder mehr Lymphozyten und Plasmazellen auffindbar sind, sondern 
es handelt sich in der Hauptsache um die Beteiligung der GefiiBe des 
Wurzelnerven am histopathologischen ProzeB. Ich habe schon in meiner 
vorjahrigen Arl>eit darauf hingewiesen, daB im taboparalytisch erkrank- 
ten Wurzelnerv neben der reinen tabischen Granulation, die als eigenes 
Gewebe wenige Lymphozyten und Plasmazellen enthalt, eine andere 
Veranderung darin besteht, daB diejenigen GefaBe, die in den ein- 
zelnen Wurzelnervbiindeln und ihren Eigenhiillen verlaufen, aus Lym¬ 
phozyten und Plasmazellen bestehende perivaskulare Infiltrate auf- 
weisen, und daB gleichzeitig mit diesen entziindlichen Infiltraten eine 
Ausstreuung der Lymphozyten und Plasmazellen in das benachbarte 
Gewebe erfolgt, wo diese sich dann mit den Zellen der Granulation 
untermischen kbnnen. Auf Abb. 10 meiner Arbeit zeigte ich einen 
Querschnitt aus dem Wurzelnerv eines Taboparalytikcrs, wo Lympho¬ 
zyten und Plasmazellen mitGranulationselementen reichlich untermischt, 
imfreien Gewebe liegen; ich wollte damit ein Vergleichsbild schaffen zu 
Abb. 9 meiner Arbeit, wo in einem Fall von reiner Tabes fast ausschlieB- 
lich Granulationselemente in das Nervenparenchym eingestreut sind. 
Der wesentliche Unterschied liegt aber — das mochte ich hier betonen 
— nicht in dieser zahlenmaBig verschieden starken Untermischung von 
Lymphozyten-Plasmazellen und Granulationselementen, sondern darin, 
daB bei der Tabesparalyse im Wurzelnerv entziindliche, vaskular- 
infiltrative Veriinderungen auftreten, und daB diese bei reiner Tabes 
fehlen. Abb. 1 und 2 zeigen uns solche Infiltrate aus zwei Fallen von 
Taboparalyse. Man sieht auf Abb. 1 ein groBeres, ausschlieBlich aus 

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300 


H. Richter: 


Lymphozyten bestehendes Infiltrat um ein GefaB, das in der Hiille 
eines Nervenbiindels verlauft; neben diesem zeigen zwei weitere Ge- 
faBe, darunter eines im Biindel selbst, kleinere Zellanhaufungen, in 
denen auch Plasraazellen enthalten sind. Abb. 2 bringt das Bild 
eines Nervenbiindels, auf welchem ein ziemlich breites Infiltrat fast 
ausschlieBlich aus Plasmazellen besteht. Wir sehen also hier die Korn- 
ponenten des vascular-infiltrativen Prozesses in ihrer reinsten Form. 
Ich stelle dazu im Gegensatz auf Abb. 3 ein Bild des tabischen Granula- 



Abb. 1. Perivasculiire Lymphozyteninfiltrate um die GeftiBe (G) der Nerven- 
biindel und ihrer Hiillen. Aus einem Fall von Tabesparalyse (Van- 

Gieson-Praparat). 


tionsgewebes aus einem Fall von reiner Tabes; es ist hier die frische, 
kompakte Granulationsmasse zu sehen, die den zwischen den Biindeln 
liegenden perifascicularen Raum ausfiillt. Ihre Ausbreitung und 
Lagerung erfolgt ganz unabhangig von den GefaBen. Lymphozyten 
oder Plasmazellen enthalt sie iiberhaupt nicht. Vergleicht man diese 
zwei Veranderungsarten miteinander, so wird man den groBen Unter- 
schied erkennen, der zwischen den beiden Prozessen besteht. Bei der 
Taboparalyse findet man also neben dem tabischen Granulations- 
gewebe eine zweite, selbstandige Gewebsveriinderung, namhch einen 
vascular-infiltrativen ProzeB in den Nervcnbiindeln und ihren Hiillen. 


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Bemerkungen zur Histogenese der Tabes. 


301 



Die beiden Prozesse konnen sich miteinander vermischen, wenn 
die Infiltrationszellen sich auBerhalb des GefaBbereiches in das 
freie Nervengewebe oder in das umherliegende Granulationsgewebe 
ausstreuen. 

Verfolgt man nun solche Wurzelnervbilder, die neben dem Granu- 
lationsvorgang die erwahnten exsudativ-infiltrativen Veranderungen 
zeigen, auf Serien gegen das Riickenmark, so findet man, daB die In¬ 
filtrate langs der GefaBe bis zur Ruckenmarkspia verfolgt werden 
konnen und 
daB diese selbst 
in diesen Fallen 
regel maBig sehr 
schwere, eben- 
falls vaskular- 
infiltrative 
Entziindungs- 
erscheinungen 
aufweist. Diese 
Bilder machen 
es sehr wahr- 
scheinlich, daB 
in den Fallen 
von Tabespara- 
lyse die ent- 
ziindlich infil¬ 
trative Veran- 
derung des 
Wurzelnerven 
ein von der 
schwer ent- 
ziindlichen Pia 
langs der Wur- 
zelgefaBe wei- 
tergeleiteter 
ProzeB ist; sie 

ist eine sekundare Veranderung im Wurzelnerv und ist streng 
zu scheiden von dem Granulationsvorgang, der das wesentliche 
anatomische Substrat der tabischen Wurzelnervschadigung bildet. 
Das Granulationsgewebe entsteht, wie ich es an vielen Wurzel- 
nervbildern beobachten konnte, in der Tiefe des Wurzeltrichters, 
nahe zum Ganglion, und zwar in der auBeren gcmeinsamen Hiille des- 
selben. Dieses ,,Epineurium‘‘ entsteht aus der Verwachsung der Dura 
mit der Arachnoidea, und zeichnet sich durch seine Armut an Blut- 


Abb. 2. Perivascultires Plasmazelleninfiltrat urn ein Rand- 
gefaB innerhalb eines Nervenbiindels in der medvdlaren 
Hftlfte des Wurzelnerven. In der Umgebung ziemlich unver- 
anderte Struktur desjNervenparenchyms (Tabesparalyse). 


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302 


H. Richter: 


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gefiiBen aus. In den Bindegewebsspalten und Lymphraumen dieser 
Hiille fand ich bei beginnendem WurzelnervprozeB die ersten Zell- 
nester des Granulationsgewebes, das sich dann durch die Wege des 
Gewebssaftverkehrs ausbreitet, und zwar zuerst in den subarachnoidalen 
Spaltraum, der zwischen den einzelnen Biindeln des Wurzelnerven 
liegt, ura dann durch die LymphgefaBe der Eigenhiillen der einzelnen 
Nervenbiindel in die Nervensubstanz selbst einzudringen. Hier in der 
Tiefe des Wurzelnervtrichters liegt die Stelle der primaren Nerven- 
schadigung, die man in der Form von Lokalherden gut erkennen kann. 



Abb. 3. Reines Granulationsgewebe in junger Entwicklung als 
kompakte Masse im subarachnoidalen Spaltraum. der sich zwischen den 
Wurzelnervbiindeln ausbreitet (Fall von reiner Tabes). 

Das Granulationgswebe breitet sich bei weiterem Fortschritt gegen 
das Riickenmark zu aus, und kann in vorgeschrittenen Fallen die 
Riickenmarkspia auch erreichen. Jakob sah diese Erscheinung 
wiederholt auf Hass ins Priiparaten und mochte deshalb diesent 
Befund in der Pathogenese der Tabes eine gewisse Rolle zukoin- 
raen lassen; auf Abb. 9 bringt er ein Bild, auf welchem die 
Hinterwurzel nahe zum Riickenmark von einer Granulationswuche- 
rung umgeben ist. Ich habe unter meinen Befunden, die etwa 
100 Wurzelnerven umfassen, in einem einzigen Fall beobachten 


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Bemerkungen zur Histogenese der Tabes. 


303 


konnen (die Beschreibung befindet sich unter den nicht mitge- 
teilten Befunden), daB die Granulationswucherung bis zum Riicken- 
mark sich ausbreitete, und habe deshalb eine Bedeutung diesem Befund 
nicht beimessen konnen. 

Auf Grund dieser zum Teil neugewonnenen Erfahrungen mochte 
ich mir die Rolle der Lymphozyten- und Plasmazelleninfiltrate im 
tabischen WurzelnervprozeO folgendermaBen vorstellen: 

Die echt-tabische Veranderung wird durch das von mir beschriebene 
Granulations ge we be verursacht, in welchem Lymphozyten und Plasma- 
zelleninganz geringer Menge enthalten sind. In solchen Tabesfallen, die 
durch Kombination mit Paralyse oder anderen luetischen Erkrankungen 
des Zentralorgans eine intensive Entzundung der Riickenmarkspia 
zeigen, pflegt sich dieser entzundliche Vorgang langs der WurzelgefaBe 
bis in den Wurzelnerv fortzusetzen, wo er mit dem tabischen Granula- 
tionsvorgang zusammentrifft. Die vascular-infiltrativen Veranderungen 
habe ich in reinen Tabesfallen im Wurzelnerv bisher stets vermiBt, 
da aber die Bedingung fiir ihr Zustandekommen nur in einer intensiven 
Ruckenmarksmeningitis liegen diirfte, so erblicke ich in diesen nicht 
mehr eine fiir die Paralyse spezifische Veranderung, sondern erachte 
es fiir moglich, daB in all jenen Tabesfallen, in welchen eine schwere 
Meningitis vorliegt, diese Veranderungen im Wurzelnerv auftreten 
konnen. Bei den Tabesfallen, die ich zu untersuchen Gelegenheit hatte, 
waren die entziindlichen Veranderungen der Pia im allgemeinen nur 
wenig ausgesprochen, in einigen habe ich sie ganzlich vermiBt; auf diese 
Tatsache mochte ich es zuriickfiihren, daB in meinen Fallen von reiner 
Tabes die vascular-infiltrative Komplikation im WurzelnervprozcB 
fehlte. Hingegen beschreiben Nageotte und Hassin in alien ihren 
Fallen schwere meningitische Veranderungen der Riickenmarkspia 
und gleichzeitig die vascular-infiltrativen Erscheinungen im Wurzel¬ 
nerv. 

Die Klarung dieser Frage scheint mir deshalb von groBer Wichtig- 
keit zu sein, weil Jakob die prinzipielle Bedeutung des von mir im 
Wurzelnerv beschriebenen Granulationsvorganges dadurch in Frage 
zu stellen sucht, daB er auch in reinen Tabesfallen eine Untermischung 
des Granulationsgewebes mit Lymphozyten und Plasmazellen beschreibt, 
in akut fortschreitenden Fallen sogar eine starke Gberwucherung des 
Granulationsgewebes durch Lymphozyten und Plasmazellen fest- 
gestellt hat. Bei Aufrechterhaltung meiner Bedenken, die sich auf die 
Schwierigkeit der Erkennung dieser Zellen in einem alteren Granulations- 
gewebe, wie es auf Abb. 7 bei Jakob dargestellt ist, beziehen, hangt 
nun fiir mich die Beurteilung dieser Frage davon ab, ob in diesen Fallen 
1. ein intensiverer meningitischer ProzeB bestanden hat und 2. ob im 
Wurzelnerv selbst vascular-infiltrative Veranderungen vorlagen. Die 


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304 


* H. Richter: 


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Bilder, die Jakob als Beweise mitteilt, stammen beide aus Hass ins 
komplizierten Tabesfallen, in denen eine schwere Piameningitis und 
vascular-infiltrative Vorgange im Wurzelnerv als konstanter Befund 
beschrieben sind. Nach meiner oben skizzierten Auffassung uber die 
Entstehung der Lymphozytenanhaufungen ira Wurzelnerv mochte 
ich aber die Moglichkeit dessen nicht ausschlieflen, dafl es auch Falle 
von reiner Tabes geben kann, in denen eine gleichzeitig bestehende 
schwere Meningitis — die aber nach meinen Erfahrungen keineswegs 
zu den wesenthchen Veranderungen der Tabes gehoren, bloB eine lueti- 
sche Begleiterscheinung derselben bilden — sich durch die GefaBe in 
den Wurzelnerv weiterverbreitet und auch hier zu vascular-infiltrativen 
Veranderungen fiihrt, aus welchen die Infiltratzellen sich in das freie 
Nervengewebe oder in die Granulation austreuen, wobei es zu einer 
Unterraischung der beiden Zellarten kommen kann. Ich muB aber 
daran festhalten, daB dieser Befund nur eine histologische Komplikation 
des tabischen Wurzelnervprozesses darstellt, welchen ich ausschlieBlich 
durch den beschriebenen Granulationsvorgang gekennzeichnet betrachte. 
Ich konnte die hier besprochene Beteiligung der Infiltratzellen am 
WurzelnervprozeB in meinen reinen Tabesfallen nicht auffinden und 
im Einklang darnit nur eine leichte, oft ganzlich fehlende Piameningitis 
feststellen. Hingegen war der GranulationsprozeB in alien meinen 
Fallen, sowohl in den rein tabischen, als auch in den taboparalytischen 
nicht nur gut ausgesprochen, sondern ich konnte seine Ausbreitung 
und Lokalisation mit der Nervenlasion in einen unmittelbaren Zu- 
sammenhang bringen. Jakob bestatigt meine Beschreibung, nach 
der die Zerstorung des Nervengewebes parallel mit dem Vordringen 
der Granulation im Nervenbiindel erfolgt. So entstehen die herdformi- 
gen, lokal eng begrenzten Ausfallsherde im Wurzelnerv, die die un- 
mittelbar-pathogene Einwirkung des Granulationsgewebes am deut- 
lichsten beweisen. Ich mochte dem gcgeniiber auf Abb. 2 vorliegender 
Arbeit hinweisen, wo innerhalb eines Nervenbiindels ein Plasmazellen- 
infiltrat liegt (das Bestehen des Infiltrates aus reinen Plasmazellen 
deutet auf einen offenbar schon seit langerer Zeit bestehenden ent- 
ziindlichen ProzeB) und das umgebende Nervenparenchym eine fast 
normale Struktur erkennen laBt. 

Gegen die von mir angenommene Wirkungsart des Granulations¬ 
gewebes liegen Bedenken von seiten Jakobs und Wohlwills 1 ) vor. 
Jakob glaubt einer von mir abgelehnten Druckwirkung, die die Granu¬ 
lation auf die Nervenbiindel ausiibt, eine gewisse Rolle zuerkennen 
zu miissen. Meine Bedenken gegen eine solche Annahme stammen aus 
dem Vergleich von Wurzelnervpriiparaten, die die sog. hypertrophischen 


i) Zentralbl. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr., Heft 2, Bd. XXVI. 


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Bemerkungen zur Histogenese der Tabes. 


305 


und atrophischen Formen der Granulationswucherung darstellen; ich 
habe diese auf S. 63 meiner Arbeit besprochen und glaube diesen nichts 
weiter zufiigen zu miissen. Wohlwill bemangelt meine lakonische 
Au Boning iiber die Wirkungsweise der Granulationszellen auf die 
Nervensubstanz, von der ich nur soviel angab, daB das pathogone 
Gewebe durch sein Erscheinen innerhalb des Nervenparenchyms — 
sei es auf mechanischem, sei es auf biochemischem Wege — die empfind- 
liche Nervensubstanz schadigt. Darauf kann ich nur soviel erwidern, 
daB ich inich bei der Beschreibung meiner Befunde nur darauf be- 
schrankte, was ich im histologischen Bild wahrnehmen konnte. Ich 
fand, daB die Granulationseleraente durch die Lymph- und Gewebs- 
spalten der Hiille in das Nervenbiindel eindringen und dort zu den 
Markfasern in innige Beziehungen treten, wo bei die letzteren oft massen- 
haft Zerfallerscheinungen bieten. Diese Bilder fuhrten mich neben 
anderen, zwingenden Beweisen zur Annahme, daB die Aifektion des 
Nervengewebes im tabischen Wurzelnerv als der unmittelbare Wirkungs- 
effekt des in die Nervensubstanz eingedrungenen Granulationsgewebes 
aufzufassen sei. Im iibrigen mochte ich nur bemerken, daB die Wir¬ 
kungsweise von pathologischen Prozessen auf das Nervenparenchym 
heute noch auf puiun Hypothesen beruht ; mehr, als uns das anatomische 
Substrat zeigt, wissen wir dariiber nicht; es handelte sich also auch bei 
meiner Angabe um hypothetische Vermutungen, unter welchen natiir- 
lich auch die von Wohlwill erwahnte Verlegung der Lymphbahnen 
durch die Granulation und eine dadurch bedingte Ernahrungsstorung 
Platz finden kann. Von einem Durchbruch der natiirlichen Schranken, 
wie Wohlwill sich das Eindringen der Granulation ins Nervengewebe 
vorstellt, war in meiner Beschreibung nirgends die Rede; ich habe im 
Gegenteil gezeigt, daB die Granulation zuerst die Gewebsspalten der 
Hiille ausfiillt, hier oft stehen bleibt und durch ihre sklerotische Um- 
wandlung zur Verdickung der Hiille fiihrt, ohne daB es zum Eindringen 
der Granulation in das Nervengewebe gekommen ware. Nur wo massen- 
hafte Granulation um die Nervenbiindel sich ansammelt und die Hiille 
reichlich Durchgangsspalten zeigt, dringt die Granulation weiter in 
das Nervengewebe vor. Es blieb mir iiberhaupt ratselhaft, wieso 
der von mir beschriebene WurzelnervprozeB mit den bosartigen 
Geschwulsten irgendeine Ahnlichkeit auch nur vortauschen kann, 
wenn man in Betracht zieht, daB ich als das am meisten charak- 
teristische Merkmal die lokal eng begrenzte, herdformige Schadigung 
des Nervenparenchyms hingestellt habe; eine solche Parenchym- 
schadigung gehort doch nicht zu den Kennzeichen maligner Ge- 
schwulstprozes.se. Es soil hier noch kurz die Einwendung Wohlwills 
erwahnt werden, meine Falle waren durchweg in relativ spaten 
Stadien zur Untersuchung gekommen, so daB die Anfangserschei- 


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306 


H. Richter: 


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nungendes Prozesses verdeckt bleiben konnten. Dem habe ich entgegen- 
zusetzen, daB der tabische WurzelnervprozeB sich nur ganz allmahlich 
auf die Wurzeln der verschiedenen Riickenmarkshohen ausbreitet, 
wobei die Zervikalwurzeln noch in relativ spaten Stadien entweder 
intakt bleiben konnen, oder nur erst anfangliche Stadien der 
Wurzelschadigung aufweisen; man kann also diese auch an alteren 
Fallen studieren; die mitgeteilten Befunde liefern hierfiir zahlreiche 
Beweise. 

Ubrigens stammt Abb. 3 meiner vorjahrigen Arbeit aus dem 

Lumbalwurzel- 


nerv ernes 
Paralytikers, wo 
ich das anfang- 
lichste Stadium 
der Granula- 
tionsbildung im 
Wurzelnerv ver- 
folgen konnte : 
die Nervensub- 
stanz selbst war 
noch intakt, nur 
die Gewebsspal- 
ten der Binde- 
gewebssepta 
waren mit Gra- 
nulationszellen 
ausgefiiUt. — 
Die Bedeu- 
tungderRedlich- 
Obersteiner- 
schen Ein- 
sch niiru ngsstelle 
fiir die Patho- 
genese der Tabes 

hatte ich in meiner Arbeit in Abrede gestellt, und meinen ablehnenden 
Standpunkt ausfuhrlich bogriindet. Jakob nimmt aufGrund derHassin- 
schenBefunde an,dab auch dieserStelle beider primarenWurzellasioneine 
Rolle zukommt und stiitzt sich teils auf die entziindlichen und prolifera- 
tiven Veranderungen, die an dieser Stelle gefunden werden, teils aber auf 
Erfahrungen, die das Verhalten dieserStelle bei anderenKrankheitspro- 
zessen (Trauma, Tumoren) zeigt. Er bemerkt zwar, daB er keine Beweise 
dafiir finden konnte, daB die Lasion der Hinterwurzeln durch die hier ge- 
fundenen entziindlichen Veranderungen verstarkt wurde. Ich rnochte als 


Abb. 4. Weigert-Fuchsin-Bild aus dem Zervikalmark des 
Falles 8. Zur Itedeutung der Redlich-Obersteinerschen 
Stelle bei Tabes. G = GefaB, P = Pia, RO = Redlich- 
Obersteinersche Taille, Re = extramedull. Wurzel, Ri = 
intramedull. Wurzel. 


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Bemerkungen zur Histogenese der Tabes. 


307 


Beitrag zu dieser Frage auf Abb. 4 noch ein Bild aus dem Zervikalmark 
meines Falles8 zeigen, der ubrigens S. 92 meiner Arbeit besprochen wurde. 
Hier sind die markarme Redlich-Obersteinersche Taille und die extra- 
und intramedullaren Abschnitte einer Zervikalwurzel in einem gliick- 
lich gefiihrten Schnitt getroffen und das Bild rechtfertigt in iiber- 
zeugender Weise meinen ablehnenden Standpunkt gegen die patho- 
genetische Bedeutung dieser Stelle. Das Weigert-Fuchsinbild laBt eine 
l>etrachtliche Verdickung des pialen Schniirringes und die verdickte 
Wand des hier verlaufenden GefaBes erkennen. Van Giesonpraparate 
aus dieser Hohe zeigen eine schwere Piaraeningitis mit perivascularen 
und diffusen Lymphozyten- und Plasmazelleninfiltraten. Wenn die 
Hinterwurzelschadigung an dieser Stelle einsetzen sollte, so miiBte 
man — in Anbetracht der schweren und allem Anschein nach schon 
lange andauernden entziindlichen Veranderung, die diese Stelle .zeigt, — 
einen intensiven Faserausfall besonders in der intramedullaren Wurzel- 
partie beobachten; diese zeigt aber in der Wurzeleintrittszone ein an- 
nahernd normales Bild. 

Am wenigsten iiberraschte es mich, daB J akob trotz der vorliegen- 
den neuen Befunde an seiner friiheren Auffassung uber die Pathogenese 
der Tabes festhalt. Die kurzen Bemerkungen aber, mit welchen er seine 
Stellungnahme begriindet, kann ich nicht unwidersprochen gelten 
lassen. Jakob erklart, daB er sich zu einer einheitlichen Auffassung 
iiber den histopathologischen Vorgang bei Tabes nicht durchringen 
konnte und beruft sich dabei auf die Ausfuhrungen Schaffers, der 
das Prinzip der Elektivitat bei der tabischen Hinterstrangserkrankung 
auch beim heutigen Stand unserer Kenntnisse nicht aufzugeben ver- 
mochte. Ich habe hier keinen neuen AnlaB auf diese Frage naher ein- 
zugehen, da in meiner vorjahrigen Arbeit alles vorgebracht wurde, 
was ich diesbeziiglich fur beachtenswert halte. Sonderbar mutet es 
aber an, wenn Jakob aus den Bemerkungen Schaffers zu Ansichten 
gelangt, die weder mit jenen meines verehrten Chefs, noch mit den 
Tatsachen iiberhaupt ubereinstimmen. Jakob faBt namlich seine 
Bedenken gegen die wahllos radikulare Natur der Tabes in folgendem 
lapidaren Satz zusammen: ,,Es ist dies vor allem die elektiv-syste- 
matische Degeneration gewisser endogener Faserziige, fiir die heute 
noch eine zwingende Erklarung fehlt.“ Jakob fiigt hinzu, solche Falle 
selbst nicht gesehen zu haben, sie seien aber von so autoritativer Seite 
(zitiert werden Dejerine, Nageotte, Marie und Schaffer) fest- 
gelegt worden, daB man sie unmoglich bei der Beurteilung des ganzen 
Krankheitsprozesses ubersehen darf. Wenn Jakobs Stellungnahme 
auf dieses Argument gestiitzt ist, dann muB ich darauf aufmerksam 
machen, daB endogene Hinterstrangsfasern bei unkomplizierter 
Tabes nicht ergriffen werden. daher von einer elektiv-systeraatischen 


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308 


H. Richter: 


Degeneration endogener Faserziige bei Tabes koine Rede sein kann. Die 
Arbeiten Schaffers und der anderen, von Jakob angefiihrten Autoren 
bieten auch gar keine Anhaltspunkte fur diese Auffassung. Schaffer 
war doch seit jeher gemeinsam mit Dejerine, Nageotte u. a. 
der eifrigste Verkiinder der fundamentalen Tatsache, daB die Tabes 
keine Hinterstrangs-, sondern eine Hinterwurzelerkrankung sei, daBim 
Hinterstrang nur die aus den Hinterwurzeln stammenden exogenen 
Fasern degenerieren und die endogenen — bei reinen Tabesfallen — 
immer unversehrt bleiben. Und Striimpell, der Schopfer der elektiv- 
systematischen Tabestheorie, hob schon als charakteristisch fiir diese 
Falle das vollige Intaktbleiben gewisser Hinterstrangszonen hervor 
(ventrocoramissurale, dorsomediale, ovale Zone), die erst durch die 
spater gewonnenen anatomischen Kenntnisse iiber den Aufbau der 
Hinterstrange, als Verlaufsstellen der endogenen Faserziige erkannt. 
wurden. Gerade diese Tatsache, daB die Tabes die endogenen Faser¬ 
ziige iramer verschont, wahrend die Riickenmarksveranderungen bei 
Paralyse haufig gerade an diesen Stellen Ausfalle zeigten, lieB eine ganz 
verschiedene Beurteilung dieser beiden Veranderungsarten als gerecht- 
fertigt erkennen. Jakob bespricht auch letztere in seiner Arbeit und 
faBt sie als primare Systemdegenerationen auf; andere fiihren sie als 
sekundar-degcnerative Folgeerscheinungen auf die paralytische Er- 
krankung der grauen Substanz des Riickenmarks zuriick. Wie dem auch 
sei, gehoren sie — wie dies schon Alzheimer hervorhob —zum wesent- 
lichen Bestandteile der paralytischen KrankheitsauBerung und haben mit 
dem tabischen ProzeB, wenn auch ein solcher vorliegt, nichts zu tun. 
Ich mochte mit dieser vielleicht etwas entschiedenen Richtigstellung 
keinesfalLs der auch von mir hochgeschiitzten wissenschaftlichen Person- 
liehkeit Jakobs nahetreten wollen; es fuhren mich dabei ausschlieB- 
lich die ernsten Bedenken, die gegen Bemerkungen dieserArt, besonders 
wenn sie unter dem Namen eines Autors vom Range Jakobs segeln, 
nur allzu begriindet sind. Zur Rechtfertigung meiner Stellungnahme 
diene allein das Referat im Zentralbl. f. d. g. N. u. Psych. (Heft 4, XXIX), 
das bereits auf der oben beanstandeten irrigen Spur wandelt, indem 
es zu folgendem SchluBsatz kommt: ,,Die sekundare Hinterstrangs- 
erkrankung wird durch die geschilderten Prozesse zwanglos verstand- 
lich, wahrend fiir die elektiv-systematische Degeneration gewisser 
endogener Faserziige bei Tabes die Erklarung noch ausstelit.“ Es ist 
zu bedenken, daB die meisten Leser dieser Aufsatze nicht in der Lage 
sind, die Frage der Elektivitat bei Tabes an der Hand von Original- 
praparaten zu studieren und daB sie lediglich auf fremde Mitteilungen 
angewiesen sind. Liest aber jemand in einem Aufsatz aus dem Jahre 
1922 iiber die elektiv-systematische Degeneration endogener Faserziige 
im tabischen Hinterstrang, dann wird er wohl nicht viel iiberlegen miis- 


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Bemerkungen zur Histogenese der Tabes. 


309 


sen, am die Unzulanglichkeit all jener Untersuchungen und Erklarungs- 
versuche festzustellen, die die Tabes als einen rein radikularen ProzeB 
darzustellen sich bemiihten. Durch solche Bemerkungen kann wieder ein 
neuer Ziindstoff in den Kampf geworfen werden, der uns das Ziel, das wir 
doch gemeinsam fordern wollen, die endgiiltige Klarung der Tabesfrage in 
eine weitere Zukunft zu verlegen droht. Wir haben dafiir schon lehr- 
reiche Beispiele in der Geschichte der Tabesforschung, daB einzelne, ohne 
geniigend Beweise aufgestellte Dogmen von einem Autor zum anderen 
wanderten und jahrzehntelang als unantastbare Wahrheiten galten. 
Ich erinnere nur an die Lehre, die die schwerere Lasion der intramedul- 
laren Wurzelpartie gegeniiber der extramedullaren als eine Gesetz- 
maBigkeit des tabischen Prozesses statuierte. 

Um also neuerenMiBverstandnissen vorzubeugen,mochte ich wieder- 
holen, daB die elektiv-systematische Gliederung, wenn von einer solchen 
im tabischen Hinterstrang die Rede ist, sich nie auf die Affektion der 
endogenen Ruckenmarksfasern bezieht, sondern, wie dies auch Schaffer 
in seinem letzten, diesbeziiglichen Aufsatz beleuchtete, auf die Beob- 
achtung, daB in manchen Tabesfallen, besonders in jiingeren, das Ge- 
biet der exogenen, also von den Hinterwurzeln abstammenden Mark- 
fasern in der Intensitat des Markausfalles solche Unterschiede aufweist, 
daB es durch die verschieden starke Rarefizierung zur Absonderung ge- 
wisser Abschnitte, und zwar einer starker gelichteten mittleren und einer 
leichter rarefizierten hinteren Wurzelzone kommt (die vordere Wurzel- 
zone entspricht der ventrocommissuralen Zone, in der endogene Fasern 
verlaufen; diese bleibt bei der Tabes intakt). Durch Gbereinstimmung 
dieser Gliederung mit gewissen Bildern aus der Periode der Myelinisa- 
tion kam man zur Auffassung, daB bei beiden Prozessen das Prinzip 
der Elektivitat zur Geltung kommt, und daB in diesen beiden Zonen 
Hinterwurzelfasern von verschiedener anatomischer und biologischer 
Dignitat verlaufen. In meiner vorjahrigen Arbeit habe ich ausfiihrlich 
dargelegt, welche Beobachtungen und Uberlegungen mich dazu be- 
wogen haben, den Intensitatsunterschied in der Markaffektion zwischen 
der mittleren und hinteren Wurzelzone auf andere Ursachen, wie die 
hypothetische Annahme einer besonderen Elektivitat zuriickzufiihren; 
ich halte eine weitere Diskussion in dieser Frage deshalb fur unzeit- 
gemaB, weil ich der Ansicht bin, daB nur neues Tatsachenmaterial 
zur Bereinigung der hier obwaltenden Meinungsverschiedenheiten ctwas 
beitragen konnte. 

Als Erganzung zu meiner vorjahrigen Studie mochte ich zum 
SchluB mit einigen Bemerkungen der Frage nahertreten, welche Fol- 
gerungen aus meinen histopathologischen Befunden beziiglich der 
Pathogenese der Tabes abgeleitet werden konnen, ob iiberhaupt die 
von mir versuchte Klarung der Histogenese uns irgendeinen Einblick 


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H. Richter: 


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gewahrt in die noch vollig ratselhaften Bedingungen, unter welchen 
es zum Entstehen der tabischen Erkrankung kommt. Bei Besprechung 
dieser Frage tritt vor allem die groBe Bedeutung der Lokalisation 
des histopathologischen Grundprozesses hervor. Ich gelangte 
beziiglich der Nervenveranderungen im Riickenmark zur Feststellung, 
daB die fur die Tabes charakteristische Liision des peripheren sensiblen 
Neurons durch die unraittelbare Schadigung des sog. Wurzelnerv- 
abschnittes erfolgt; der schadigende Faktor sei ein luetisches Granula- 
tionsgewebe, das in den Gewebsspalten und Lymphraumen der den 
Wurzelnerv umgebenden auBeren Bindegewebshiille entsteht und 
von hier aus sich zuerst in die Spaltraume des Subarachnoidalraumes 
ausbreitet, die die einzelnen Biindel des Wurzelnerven umgeben und 
schlieBlich in die Nervenbiindel selbst eindringt und dort lokale Zer- 
storungsherde verursacht. Der ProzeB spielt sich in der Tiefe jener 
trichterformigen Auslaufer des Subarachnoidalraumes ab, die den 
groBen Subarachnoidalraum gegen die Spinalganglien absperren. Hier 
liegt die primare Schadigungsstelle des Hinterwurzelsystems, alles, 
was da von distaler liegt, erkrankt infolge sekundarer Degeneration; 
die Erkrankung der Riickenmarkshinterstrange ist also ein durch den 
WurzelnervprozeB bedingter sekundar-degenerativer Vorgang. Be- 
ziiglich der Hirnnervenschadigung konnte ich Beweise liefern, daB ihre 
primare Schadigung ebenfalls durch einen histopathologischen Vorgang 
verursacht wird, der auBerhalb der Nervensubstanz in den Hiillen der 
Nerven einsetzt und sich von hier in das Nervenparenchym fortsetzt. 
Mit Ausnahme des Opticus konnte ich bei alien iibrigen denselben 
Granulationsvorgang als das histopathologische Substrat der Nerven- 
lasion feststellen, beim Opticus selbst — im Einklang mit den Be- 
funden von Stargardt — einen vascular-infiltrativen Vorgang im 
inneren Hiillenanteil des intrakraniellen Opticus, des Chiasmas, im 
Anfangsteil des Tractus und in den benachbarten Teilen der Hirnbasis. 
Fur diesen Unterschied in der histologischen Form brachte ich eine 
Erklarung, nach welcher der differente Bau jener Gewebe, in denen der 
ProzeB beginnt, ihre spezifische histologische Reaktionsform auf die 
pathologische Reizwirkung bestimmt. Gemeinsam fiir alle Hirnnerven 
konnte aber die Feststellung gemacht werden, daB die primare Schadi¬ 
gung den extracerebralen Nerven betrifft, an einer Stelle, wo dieser 
mit dem Subarachnoidalraum eng zusammenhangt, bzw. durch den¬ 
selben verlauft. Hierdurch erhalten w'ir fiir alle Angriffsstellen des 
tabischen Prozesses ein gemeinsames lokalisatorisches Kennzeichen, 
das bei der Frage der Pathogenese nicht ohne Bedeutung sein diirft-e. 
Man erhalt aus diesen Befunden Griinde fiir die Annahme, daB der 
ganze tabische GrundprozeB sich lediglich im Subarach¬ 
noidalraum abspielt. Seine zahlreichcn Angriffsstellen, 


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Bsmerkungen zur Histogenese der Tabes. 


311 


vora Opticus bis zur letzten Sakralwurzel, stehen mit 
dem Su barachnoidalraum in innigster Beziehung; der 
Inhalt desselben, die Cerebrospinalfliissigkeit, umspiilt 
all diese Stellen und vereinigt sie zu einem einheitlichen 
Angriffsgebiet, vermittelt das Obergreifen des Prozesses 
von einem Wurzelnerv auf den anderen und auf die Hirn- 
nerven, und sichert hierdurch das mehr oder weniger 
typische Fortschreiten eines einheitlichen Prozesses. Die 
Affektion eines Wurzelnerven oder eines Hirnnerven ist zwar ein in 
sich abgeschlossener ProzeB, der zu einer bestimmten Ausfallserschei- 
nung fiihrt; er hat aber nichts Spezifisches fiir die Tabes an sich. Erst 
durch die allmahliche Ausbreitung des Prozesses auf das ganze Wurzel- 
nervsystem und auf gewisse Hirnnerven erhalt die Erkrankung den fiir 
die Tabes spezifischen Charakter. Diese Ausbreitung des Prozesses 
aber kann man sich nicht anders vorstellen, wie durch die Vermittlung 
des Liquors, der die zahlreichen, ziemlich weit entfernten Angriffs- 
stellen miteinander verbindet. Fassen wir also die Tabes als eine ein- 
heitliche Erkrankung auf — und dies braucht wohl nicht naher be- 
griindet zu werden —, dann konnen wir sie nur als einen im Subarach- 
noidalraum sich abspielenden ProzeB betrachten, der gewisse Pradi- 
lektionsstellen dieses Raumes begiinstigt und hierdurch zu den typi- 
schen histopathologischen Veranderungen und klinischen Ausfalls- 
erscheinungen fiihrt. Der tabische GrundprozeB spielt sich also auBer- 
halb des Zentralnervensystems ab, die Veranderungen des letzteren 
haben ausnahmslos einen sekundaren Charakter, sie sind Folgezustande 
der primaren Lasion, die im Wurzelnerv, im Opticus usw. stattfindet. 
Man wird also vom Standpunkt der Lokalisation rechttun, wenn man 
die Tabes und die Paralyse als zwei grundverschiedene Erkrankungen 
betrachtet. 

Das zweite Moment, das bei einer pathogenetischen Betrachtung 
auf Interesse Anspnich erheben kann, sind die bisher vorliegenden 
Spirochatenbefunde bei Tabes. Die Zahl der positiven Falle ist heute 
noch eine geringe (seit meiner vorjahrigen Veroffentlichung habe ich 
weitere vier Falle mit den Methoden Jahnels, Levaditis und 
Noguchis untersucht, ohne einen neuen positiven Befund erlangt zu 
haben). Ich teile die Ansicht von Jahnel und Raecke, daB die bis 
heute vorliegenden Spirochatenbefunde im Wurzelnerv viel zu sparlich 
sind, um uns ein auch nur annahernd verlaBliches, parasitologisches Bild 
iiber ihre allgemeine Beteiligung am tabischen ProzeB gewahren zu 
konnen, und glaube auch, daB erst das Ausfindigmachen einer fur das 
Wurzelnervgewebe spezicll geeigneten Modifikation der Spirochatcn- 
impragnierung imstande sein wird, die Zahl der positiven Falle wesentlich 
zu erhohen. Auf zwei wichtige Feststellungen, die sich aus den 


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H. Richter: 


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bisherigen Befunden ergaben, kann ich jedoch schon heute aufmerksam 
inachen. Erstens auf die Tatsache, dab die Spirochaten im tabisch 
affizierten Wurzelnervgebiet ausschlieBlich in dem reinen Granulations- 
gewebe vorgefunden warden, und zwar iiberall dort, wo dieses Gewebe 
anzutreffen ist: in den Lymph- und Gewebsspalten der Hiille, in den 
LymphgefaBen, die mit Granulationselementen gefiillt im Subarach- 
noidalraum liegen (es sind dies die von Nageotte als kleine Gummen 

bezeichneten Ge- 
bilde) und in den 
Granulations- 
massen, die im 
Su barachnoidal- 
raum frei um die 
Nervenbiindel 
herumlagen. 
Abb. 5 zeigt 
mehrere Spiro¬ 
chaten in einem 
solchen, perifas- 
cicular liegenden 
Granulomge- 
webe. Ich fand 
sie vomehmlich 
in den jungen 
Granulationenin 
groBerer Zahl, 
im sklerotischen 
Gewebe sah ich 
nur vereinzelte 
Exemplare. Die 
zweite Beobach- 
tung, die ich fur 

bemerkenswert halte,ist,daB imNervengewebe selbst,also in denBiindeln 
derWurzelnerven Spirochaten bisher nicht nachgewiesenwerdenkonnten; 
natiirlich werden erst weitere Untersuchungen entscheiden konnen, ob es 
sich hier umein konstantes,gesetzma8igesVerhaltenhandelt. Dieunlangst 
mitgeteilten Untersuchungen Igersheimers am Opticus scheinen 
jedenfalls diese Feststellung zu bestatigen. Er fand in drei Fallen 
von Opticusdegeneration (zwei Falle von Taboparalyse, ein Fall von 
Tabes) Spirochaten, und zwar in einem Fall dicht am Chiasma, in 
einem weiteren eine Ansammlung dicht hinter dem Chiasma am be- 
ginnenden Tractus opticus in der angelagerten grauen Substanz, sowie 
herdformig im grauen Anteil des Corp. geniculatum; bei einem dritten 



Abb. 5. Spirochatenherd im perifaseicularen Granulations- 
gewebe wie es auf Abb. 3 veranschaulicht ist. (Methode 

Noguchi.) 


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Bemerkungen zur Histogenese der Tabes. 


313 


Patienten ergab die Dunkelfelduntersuchung positiven Befund aus dem 
Corp. genicul. und ein sicheres Exemplar in der aus dem intrakraniellen 
Opticus hergestellten Emulsion, wobei es nicht zu entscheiden war, 
<>b die Spirochate im Opticusgewebe selbst oder in der Scheide lag. 
Bei den anderen zwei positiven Fallen fanden sich die Spirochaten 
zweifellos nicht in der Sehbahn selbst, sondern im dicht benachbarten 
Gewebe. lgersheimers Befunde bestatigen in vollem MaBe die in 
meiner Arbeit ausgesprochene Vermutung, die ich auf Grund meiner 
Befunde im Wurzelnerv aufgestellt habe, daB die Spirochate im atro- 
phischen Opticus auch nicht im Opticus selbst vorhanden sein 
diirfte, wie es Stargardt annahm, sondern in der Scheide und in dem 
Xach barge webe, das die vaskular-infiltrativen Veranderungen zeigte. 
In meinen Fallen waren diese Veranderungen hauptsachlich im hinteren 
Drittel des intrakran. Opticus, im Chiasma und im Anfangsteil des 
Tractus ausgesprochen (das Corp. genicul. wurde nicht untersucht). 
Abb. 2o meiner vorjahrigen Arbeit veranschaidicht ein entziindliches 
Infiltrat am hinteren Chiasmarand, dessen Ausgangsherd im Tuber 
cinereum lag. Die histologischen Veranderungen und die Spirochaten- 
befunde weisen also in gleichem Sinne darauf hin, daB die primare 
krankhafte Veranderung auch bei der tabischen Opticusatrophie nicht 
im Opticusgewebe selbst, sondern in den dicht benachbarten Stellen 
ties Sehnerven und seiner basalen Fortsatze liegen. Diese Cbereili¬ 
st im mu ng zwischen lgersheimers Befunden am Opticus und den 
Spirochatenbildern, die ich im Wurzelnerv sah, erscheint mir deshalb 
von Bedeutung zu sein, weil dadurch meine obige, auf Grund der histo¬ 
logischen Veranderungen gemachte Feststellung — der tabische Grund- 
prozeB etabliere sich auBerhalb der geschadigten Nerven, diese werden 
erst spater durch das Cbergreifen des Prozesses auf die Nervensubstanz 
geschadigt — auch durch Spirochatenbefunde eine voile Bestatiguug 
erhielt. 

Die aus meinen histologischen Befunden hervorgehende Erkenntnis, 
daB der tabische Krankheitsvorgang sich lediglich im Subarachnoklal- 
rauin abspielt und daB er durch den Syphiliserreger selbst aufrecht- 
erhalten wird, laBt die Moglichkeit dessen, daB die im Liquor befind- 
lichen Spirochaten sich nicht nur an den typischen Affektionsstellen 
der Tabes niederlassen, sondern iiberall in jenen Gewebsschichten sich 
ansiedeln konnen, die den Subarachnoidalraum begrenzen, als sehr 
naheliegend betrachten. So konnte der unlangst mitgeteilte positive 
Befund Jahnels aufgefaBt werden, wo in der Arachnoidea des Dorsal- 
markes ein ansehnlicher Spirochatenbefund entdeckt wurde. Die Spiro¬ 
chaten lagen hier in dichten Massen in den Nischen auf der Innenflache 
der Arachnoidea, also auch innerhalb des Subarachnoidalraumes. Es 
braucht auch heute nicht mehr bezweifelt zu werden, daB die entziind- 
Archlv filr Pgvchlatrle. Hd. 67. 21 


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H. Richter: 


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lichen Veranderungen der Riickenmarkspia, die eine hiiufige Begleit- 
erscheinung der Tabes bilden, ebenfalls auf einer unmittelbaren Spiro- 
chateneinwirkung beruhen, wobei die Spirochaten auch aus dem Liquor 
stammen und sich in der Pia, als der inneren Begrenzungsschicht des 
Subarachnoidalraumes ansiedeln. In dem Fall Noguchis, wo im 
Hinterstrang eines Tabikers die Spirochate vorgefunden wurde, kann 
ich mir die Richtung ihres Eindringens am leichtesten nur durch den 
Weg aus dem Liquor liber die Riickenmarkspia in das Riickenmark vor- 
stellen, in welchem Falle eine syphilitische Meningomyelitis vorgelegen 
haben diirfte. Denn dab die im Hinterstrang aufgefundene Spirochate 
nicht die eigentliche Ursache der Tabes bilden kann, kann kaum be- 
zweifelt werden, wenn man die histologischen Veranderungen im 
Wurzelnerv einerseits und im Hinterstrang andererseits in Betracht 
zieht. Man konnte sich dabei iiberhaupt nicht erklaren, warum die 
Spirochate innerhalb des Hinterstranges nur diejenigen Fasern zerstort> 
die aus den Hinterwurzeln stammen, und die iibrigen, endogenen Fasern 
freilaBt. Es ist aber klar, dab die friiher erwahnten Ansiedlungsstellen 
der Pallida (an der Arachnoidea und Pia) mit dem tabischen Hinter- 
wurzelprozeB ebensowenig in ursiichlichen Zusammenhang gebracht 
werden konnen. Sie bedeuten nur einen akzidentellen Befund bei Tabes, 
wo die Liquorspirochaten neben ihren typischen Ansiedlungsstellen 
sich noch liberal 1 in den Geweben festsetzen konnen, die den Sub- 
arachnoidalraum begrenzen. 

Die fiir die Tabes spezifische Lokalisation der Spirochaten mull 
aus Griinden, die auf der histopathologischen Erkenntnis des Wurzel- 
nervprozesses beruhen, in den Wurzelnerv selbst verlegt werden. 
Hier fand ich nun in einigen Fallen die Spirochaten in der Tiefe der 
seitlichen Wurzeltrichter, in das Granulationsgewebe eingelagert. Es 
ist naheliegend anzunehmen, dall auch diese Spirochaten aus dem 
Liquorraum stammen und durch ihre Ansiedlung in den seitlichen 
Auslaufern des Subarachnoidalraumes den GranulationsprozeJl einleiten. 
Nachdem wir hcute schon sowohl im tabisch affizierten Wurzelnerv, 
als auch bei tabischer Opticusatrophie die Amvesenheit der Spiro- 
cheten und ihre unrnittelbare Beteiligung am histopathologischen 
Prozefl auf strikte Beweise stiitzen konnen, so steht der Annahme nichts 
mehr im Wege, dafl an alien Angriffsstellen des tabischen Prozesses 
der histopathologische Vorgang durch die Ansiedlung von Spirochaten 
eingeleitet wird. 

Man wird sich daher die Rolle der Spirochatenansiedlung 1km der 
Entstehung der Tabes folgendermaflen vorstellen konnen: 

Die Entstehung der Tabes ist an die Anwesenheit des Syphilis- 
erregers in der cerebrospinalen Fliissigkeit gebunden. Bekanntlich 
erfolgt bei der Mehrzahl der Luetiker schon im friihsekundaren Stadium 


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Bemerkungen zur Histogenese tier Tabes. 


315 


eine Invasion der Spirochaten in den Liquor, die sich im positiven Aus- 
fall der Reaktionen kundgibt. Einen solchen ohne klinische Symptome 
bestehenden latenten Zustand der Liquorspirochetose miissen wir 
als den regelmaBigen Vorlaufer der Tabes betrachten. Die bedeutungs- 
volle Phase, in der die Liquorspirochaten aus dem inaktiven, klinisch 
symptomlosen Stadium in ein aktives mit organischen Gewebsverande- 
rungen und meist auch klinischen Symptomen einhergehendes Stadium 
iibertritt, hangt mutmaBlich mit jenem Moment zusammen, wo die 
Spirochaten, dis bis dahin nur in der Liquorfliissigkeit suspendierte 
Elemente sein diirften, sich in jenen Geweben ansiedeln, die den Sub- 
arachnoidalraum begrenzen. Solche Ansiedlungen kdnnen an der 
Riickenmarkspia erfolgen, wo sie dann zu einer Meningitis fiihren, die 
manchmal klinisch in Erscheinung tritt, manchmal auch nicht. Dali 
die Ansiedlung der Spirochaten in der den Liquorraum von auBen 
begrenzenden Arachnoidca auch stattfinden kann, bcweist der oben 
angefiihrte Befund Jahnels. 

Gegeniiber diesen mehr zufallsmaBigen Ansiedlungsarten der 
Liquorspirochaten miissen wir fur die bei der Tabes aktiv wirkenden 
Spirochaten eine scheinbar mehr systemisierte Ansiedlungsart in Er- 
wagung ziehen. Zwei Momente sind es, die das Bestehen einer solchen 
wahrscheinlich machen. Erstens gehort es zu den Eigentiimlichkeiten 
des tabischen Prozesses, daB dieser sowohl unter den Riickenmarks- 
wurzeln, als auch unter den Hirnnerven gevvisse Pradilek + ionsstellen 
hat, die am friihesten und am haufigsten vom krankhaften ProzeB be- 
troffen werden. Eine zweite bemerkenswerte Eigenschaft der Spiro- 
chatenansiedlung bei Tabes liegt darin, daB diese im Wurzelnerv sich 
in den tiefsten Stellen der trichterfdrmigen Auslaufer niederlassen, dort, 
wo dieser Raum gegen die Spinalganglien abgeschlossen ist, und dab 
sich der ganze tabische ProzeB lediglich hier abspielt. Die beiden er- 
wahnten Eigentiimlichkeiten deuten darauf hin, daB der Ansiedlungs- 
vorgang der Spirochaten im Wurzelnerv bei Tabes ein durch eine 
gewisse GesetzmaBigkeit ausgezeichneter Vorgang sei und sich in dieser 
Hinsicht von den anderen, mehr zufallsmaBigen Ansiedlungsarten in 
der Pia oder Arachnoidca unterscheidet. So wissen wir, daB unter 
den Ruckenmarkswurzeln die Lumbalwurzeln als die ersten Anwarter 
der Spirochatenansiedlung bei der Tabes zu betrachten sind und unter 
den Hirnnerven der Oculomotorius und der Opticus am friihesten und 
haufigsten da von betroffen werden. 

Durch welche Momente die Pradilektion dieser Stellen geschaffen 
wird, ist uns heute noch unklar. Doch aus dem Umstand, daB die 
Ansiedlung der Spirochaten bei Tabes manche Ziige einer mccha- 
nischen GesetzmaBigkeit erkennen laBt, und in gewisser Hinsicht an 
einen Sedimentierungsvorgang erinnert, diirfte auch die Annahme 

21 * 


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316 


H. Richter: 


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eine gewisse Wahrscheinlichkeit erhalten, nach der die physikalischen 
Verhaltnisse der verschiedenen Angriffspunkte innerhalb des Sub- 
arachnoidalraumes hierbei eine gewisse Rolle spielen. In meiner vor- 
jahrigen Arbeit erwahnte ich schon diesbeziiglich die experimentellen 
BeobachtungenTinels, dernachChinatusch-undKarmineinspritzungen 
in den subarachnoidalen Raum eine reichliche Ansammlung der Farb- 
kornchen in den seitlichen Wurzeltrichtern vorfand und dabei bemerkte, 
daB diese in den lumbalen Wurzeltrichtern fruher und in groBerer Zahl 
sich anhaufen, aLs in den zervikalen. Tinel fiihrt zur Erklaning dieser 
Tatsache physikalische Argumente heran, indent er annimrat, daB in 
den tieferliegenden und aus dem groBei\ Liquorraum schief nach ab- 
wiirts fiihrenden Lumbaltriehtern, die im Liquor kreisenden Form- 
elementc sich infolge der Gravitation leichter niederlassen konnen, 
als in den Zervikaltrichtern, die hoher liegen und aus dem Liquorraum 
rechtwinklig abzweigen. Eine gewisse Analogie zwischen den experimen¬ 
tellen Beobachtungen Tine Is und dem Beginn und Verlauf des tabischen 
Prozesses ist nicht von der Hand zu weisen. Die Affektion beginnt 
meist in den Lumbalwurzeln, man miiBtc also annehmen, daB die den 
WurzelnervprozeB einleitenden Spirochaten sich zuerst in den Lumbal- 
trichtern niederlassen und der Fortschritt des Prozesses durch eine 
fraktioniert fortschreitende Sedimentierung der Spirochaten bedingt 
ware, bei der neben den bereits affizierteu Wurzeln, die aber noch 
weitere, frische Zufuhren aus dem Liquor erhalten, immer neue und 
hoher gelegene Wurzelhohen mit Spirochaten bevolkert werden. Der 
hypothetische Charakter dieser Erklaning ist offenkundig; auch ist 
es nicht wahrscheinlich, daB die Spirochatenansiedlung im tabischen 
Wurzelnerv nur den von Tinel angefiihrten mechanischen Gesetzen 
unterworfen ware. Denn es bliebe z. B. bei dieser Annahme unerklart. 
warum die am tiefsten liegenden und fast vertikal verlaufenden Sakral- 
wurzeln, die doch nach dem Gesetz der mechanischen Sedimentiening 
am fruhesten Spirochaten aufnehmen sollten, gewohnlich spater er- 
kranken als die Lumbalwurzeln. Auch ware die gar nicht seltene 
atypische Reihenfolge der Wurzelaffektion mit obiger Erklaning schwer 
zu vereinbaren. Man muB hier jedoch auch vor Augen halten, daB die 
Spirochaten keine Farbkornchen, sondern Lebewesen mit ausgespro- 
chener Eigenbewegung sind, die allein schon manche Abweichung 
vom mechanischen Sedimentierungsvorgang erklaren konnte. 

Auch bei den Hirnnerven konnte man die auffallende Bevor- 
zugung einiger Hirnnerven (II., III.) gegeniiber den iibrigen am leich- 
testen so erklaren, wenn wir in der verschiedentlichen Gestaltung 
des Subarachnoidalraumes um die einzelnen Hirnnerven den be- 
stimmenden Faktor erblicken und annehmen, daB bei den haufig 
affizierten Hirnnerven eine etwa den Wurzelnervtriohtern ahnliche 


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Bemerkiingen zur Histogenese dcr Tabes. 


317 


Einscheidung des Subarachnoidalraumes die Ansiedlung der Spiro- 
chaten an diesen Stellen begiinstigt. 

Meine im Vorjahr verbffentlichten Untersuchu ngen haben den 
Beweis erbracht, daB die Tabes eine vom Anfang bis zum Ende an 
Spirochatenvirulenz gebundene, echt syphilitische Erkrankung sei. Es 
zeigte sich weiter, daB der ProzeB, obwohl er auf zahlreichen, vonein- 
ander ziemlich entfernten und verschiedenartigen Stellen verlauft, 
dennoch eine weitergefaBte, einheitliche Lokalisation zeigt, indem alle 
Angriffsstellen im Subarachnoidalraum im Bereich der Liquorzirkula- 
tion liegen, so daB es vom. pathogenetischen Standpunkt naheliegend ist, 
anzunehmen, daB der tabischen Erkrankung ein im Liquorraum sich 
abspielender ProzeB zugrunde liegt.. Naheres iiber diesen ProzeB lassen 
uns die bei Tabes vorbegenden Spirochatenbefunde erkennen: diese 
gewahren die Annahme von zweierlei Ansiedlungsarten der Spiro- 
cheten bei Tabes; eine mehr akzidentelle, vom tabischen ProzeB un- 
abhangige, diesen mehr nur begleitende Spirochatenansiedlung an der 
Riickenmarkspia oder Arachnoidea und eine zweite, mehr systemisierte 
Ansiedlung der Spirocheten in den Wurzeltrichtern des Ruckenmarks 
und an einigen Hirnnerven der Hirnbasis. Aus dem mehr-weniger 
tvpischen Verlauf und aus der Progression der Tabes haben wir Grand 
anzunehmen, daB letzterer Ansiedlungsart, durch die der tabische 
ProzeB eingeleitet und aufreehterhaltcn wird, eine gewisse Gesetz- 
maBigkeit in der Reihenfolge der einzelnen Ansiedlungspunkte inne- 
wohnt und manche Analogien scheinen darauf hinzuweisen, daB diese 
mit den mechanischen Verhaltnissen im Subarachnoidalraum zusammen- 
hangt; die Ansiedlung der die Tabes verursachenden Spirochaten, zeigt 
namlich gewisse Eigenschaften, die an eine im Subarachnoidalraum 
vor sich gehende Sedimentierung der Spirochaten erinnern. 

Die hier vorgebrachte hypothetische Annahme bedarf sicher noch 
weit-erer Beweise, um als begriindet betrachtet zu werden; insbesondere 
iniissen die bisherigen Ergebnisse der Spirochatenforschung erweitert 
werden. Erweisen sich aber die oben angefuhrten GesetzmaBigkeiten in 
der Entstehung und Lokalisation des tabischen Prozesses als zu Recht 
bestehend, dann verdichtet sich das Problem der Tabespathogenese 
in die Hauptfrage: welche Faktoren dafiir verantwortlich zu machexi 
sind, daB die Spirochaten des Liquors von'einem bestimmten Zeit- 
punkt an, der dem Beginn des tabischen Prozesses entspricht, einem 
systematisierten Sedimentierungsvorgang an den Pradilektionsstellen 
der tabischen Affektion unterliegen. 


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(Aus deni hirnhistologischen und interakademisehen 
Hirnforschungsinstitut der k. ungar. Univereitftt zu Budapest 
[Direktor: Prof. Dr. Karl Schaffer].) 


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Beitrage zur Histopathologic der Spinalgaiiglieiizelleii. 

Von 

Karl Schaffer. 

Mit 4 Textabbildungen. 

(Eingegangen am 4. September 1912.) 

Vor kurzem hat aus dem Cajal-Institut Fernando de Castro 1 ) 
iiber die Struktur der Spinalganglienzellen unter normalen wie patho- 
logischen Verhaltnissen berichtet; diese sehr eingehende und wertvolle 
Arbeit veranlaBt mich, das pathologische Material derselben durch die 
Mitteilung von jenen Veranderungen zu erganzen, die die Spinalganglien¬ 
zellen im Verlauf der infantil-araaurotischen Idiotie erleiden. Wohl 
hatte mein Schuler Ernst Frey 2 ) diesbeziigliche Untersuchungen vor 
Jahren angestellt, doch war seine Darstellung eine sehr summarische 
und ohne Ulustrationen, besonders aber lieB er die Histogenese der 
Zellveranderungen ganz unberiicksichtigt. Diese Liicken sollen nach- 
folgende Zeilen ausfiillen, um so mehr da in der einschlagigen Literatur 
auBer der Arbeit von Frey kein Hinweis iiber das Verhalten der Spinal¬ 
ganglienzellen bei der infantil-familiaren Idiotie enthalten ist. 

Die flir diesen FrozeB charakteristische ubiquitare Nervenzellver- 
anderung lftBt sich an den Spinalganglienzellen ebenfalls auffinden. 
Diese auBert sich in erster Linie in der Neuronophagie des Zellkorpers, 
verursacht durch die histiolytische Wirkung der Cajalschen Satelliten, 
ferner durch die Neubildung von pericellularen Knaueln und schlieBlieh 
durch die Gegenwart von Endkeulen. 

Bekanntlich wird das normale Fibrillengeriist des Zellkorpers 
einesteils durch ein derberes Oberflachennetz gebildet, das, als 
eine Schale oder Rinde erscheinend, das feingesponnene Tiefennetz in 
sich schlieBt. Hervorzuheben ware noch der wichtige Umstand, daB 
das Tiefennetz um den Kern herum eine recht bedeutende Verdichtung 
erfahrt, wodurch das bekannte Donaggiosche Sieb entsteht, d. h.ein 
auBerst engmaschiges Netz, dessen allerfeinste Fascrchen oft nicht 
einzeln zur Darstellung gelangen. — Somit besteht das Fibrillen- 


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Karl Schaffer: Beitrfige zur Histopathologie der Spinalganglienzellen. 319 

geriist der Spinalganglienzellen aus drei Schichten, wie dies zuerst 
•Cajal 3 ) darstellte und fiir aile somatochromen NervenzeUen als gc- 
setzm&Big nachwies: 1. aus der oberflachlichen oder corticalen Schicht, 
bestehend aus derberen Langsstreifen, 2. aus der mittleren oder haupt- 
sachlichen Schicht, die aus feinen Faserchen zu polygonalen Maschen 
gebildet wird, 3. aus der perinuclearen Schicht, die sich aus allerfeinsten 
Faserchen zusammensetzt. 

1. Betrachten wir nach diesen normal-anatomischen Bemerkungen 
die Veranderungen des Zellkorpers der GanglienzeUen bei der in- 
fantil-fainiliaren Idiotie, so ware in erster Linie als dominante Erschei- 
nungdieNeuronophagieanzufiihren (Abb. 1). Dadurch, daB die intra- 
kapsularen Satelliten, nachdem aie proliferierten, eine histiolytische Wir- 
kung auf den Zellkorper der Spinalganglienzelle austiben, entstehen die 
variabelsten Formen der Zellveranderung. Die Ansammlung der ver- 
mehrten Satelliten kann teils mehr lokal etwa um den Achsenzylinder 
henan, oder diffus um den Zellkorper herum stattfinden und es kann somit 
im allgemeinen entweder eine mehr lokale oder aber eine zirkulare Form 
der Neuronophagie entstehen. Natiirlich ist die Unterscheidung von 
diesen beiden Formen nicht immer strikt durchfiihrbar. Auf Grand der 
histiolytischen Wirkung der Satelliten erscheinen die von de Castro 
so eingehend geschilderten diversen Formen der pathologischen Spi¬ 
nalganglienzellen, wie die henkelformigen (ansiformen), dann die ober- 
flachlich vielmals ausgcnagten und fein durchlocherten (retikidaren), 
ferner die kollateralartig ausgehohlten (dendriformen), endlich die zen- 
tral durchlocherten (perforierten) Zellkorper, die man insgesamt als 
Cajals fenestrierte Zellen bezeichnen konnte. Im Verlauf der Histio- 
lvse kann einesteils die Farbbarkeit des Tiefennetzes hochgradig leiden, 
so daB GanglienzeUen entstehen, die durch ihre schattenhafte Blasse 
auf fallen, anderseits kann man aber die Auflosung des Tiefennetzes be- 
obachten, nebst mehr oder minder gewahrtem Oberflachennetz. Letz- 
teres Verhalten konnte ich bekanntlich vor Jahren fiir die Fibrillen- 
bilder der Rinden- und Riickenmarkszellen bei Tay-Sachs als cha- 
rakteri8tisch feststellen. — Durch die zunehmende Neuronophagie ver- 
mindert sich der Zellkbrjier bis auf einen kleinen, unansehnlichen Rest, 
von dem aus der anscheinend intakte Achsenzylinder entspringen 
kann. Ganz zuletzt schwindet die Spinalganglienzelle und ihre Stelle 
nimmt die proliferierte Satellitenmasse ein, wodurch das bekannte 
Nageottesche ,,Restknotchen‘‘ zustande kommt. 

Nicht unerwahnt sei die Tatsache, daB die fiir das zentrale Nerven- 
svstem bei Tay-Sachs so charakteristischen lecithinoiden Degene- 
rationskorner im Zellkorper der Spinalganglienzellen nur in hochst 
sparlicher und angedeuteter Weise in der Form von einigen blau ge- 
farbten allerfeinsten Piinktchen vorkommen. Ziehen wir in Betracht, 


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320 


Karl Schaffer: 


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daB die lecithinoiden Kornehen in den Rindenzellen massenhaft, in den 
Ruckenmarksnervenzellen zumeist den Zelleib nur partiell besetzen, 
endlich in den Spinalganglienzellen in auBerst geringem MaBe vor- 
kommen, so ware hieraus zu folgern, daB der degenerative ProzeB, ob- 
schon auf das gesamte Nervensystem sich erstreckt, jedoch am zeit- 
lichsten in der GroBhirnrinde einsetzt und von hier gegen die Spinal¬ 
ganglienzellen zu hinabsteigt. 

2. Eine fur die Spinalganglienzellen im Fall von infantil-familiarer 
Idiotie am meisten charakteristische Erscheinung besteht in den peri¬ 
cellularen und perinodularen Knaueln, d. h. in jenen faserigen 

Umwicklungen, die 
teils um veranderte 
Spinalganglien¬ 
zellen, teils um die 
Restknotchen i n 
auffallend 
groBer Zahl er- 
scheinen (s. Abb. 1, 
2, 3). De Castro ist 
auf Grand seiner 
umfassendenUnter- 
suchungen der An- 
sicht, daB die peri¬ 
cellularen Knauel in 
normalen Spinal¬ 
ganglienzellen un- 
gemein selten sind. 
bzw. an gewissen 
Stellen derselben 
iiberhaupt nicht 

vorkommen; ferner hebt dieser Autor hervor, daB in pathologischen 
Fallen (Alkoholismus, Pottsche Krankheit usw.) diese Knauel eine ganz 
besondere Entwicklung erfahren konnen; endlich stammen die Fasern 
dieser Knauel entweder vom Achsenzylinder derselben Ganglienzelle 
oder von einer fremden ab. Aus diesen Feststellungen diirfte zu folgern 
sein, daB die pericellularen bzw. perinodularen Knauel keine sympa- 
thischen Endaufrollungen darstellen, sondern neugebildete Faserein- 
richtungen sind. 

Diese Knauel treten in zwei Hauptformen auf, denn man sieht 
solche aus drahtahnlichen starkeren bzw. aus feinen, ja feinsten, haar- 
scharfen Fasern gebildet; natiirlich gibt es Gbergange zwischen diesen 
zwei Extremen, wie man auch Mischformen sieht, d. h. Knauel, die 
wohl iiberwiegend aus feinen Faserchen bestehen, jedoch untermischt 


Abb. 1. Ganglienzellrest mit circularer Xeuronophagie. 
Wohlausgebildeter pericellularer Knauel, der kalotten- 
artig abgeschnitten ist. ZweiKnauelfasern bilden typische 
solideEndkeulen, von welchen eineFaser einevolJeKreisli- 
nie beschreibend, den Ganglienzellrest umf&Bt. Zu beach- 
ten der Eintritt fremder Fasern in den pericellularen Knauel 
(homoneuronaleKnauelfasern). Tay-Sachs. Fibrillenimpr. 


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Beitrage zur Histopathologie der Spinalganglienzellen. 


321 



1 bis 2 starkere Fasern enthalten, ferner wie man auch in einem drahtahn- 
lichen Knauel noch immer einige sehr schwache Faserchen vorfindet. Im 
allgemeinen fallt der starre Charakter der pericellularen Knauel auf, wo- 
mit ausgedriickt sei, daB besonders die starke ren Fasern sich einem 
Drahtgewinde ahnlich verhalten (s. Abb. 2). — Hervorzuheben ware 
ferner, daB der Faserreichtum der einzelnen Knauel verschieden ist. 
denn man findet neben fast unentwirrbaren, also an Fasertouren iiber- 
reichen 

Knaueln noch 
auBerst faser- 
arme. Als eine 
sehr wichtige 
Beobachtung 
ware zu ver- 
zeichnen, daB 
die feinsten 
Knauelf a- 
sern stellen- 
weise Bifur- 
kationen 
auf weisen 
konnen, wo 
dannansolchen 
Stellen eine 
konische Ver- 
breiterung zu 
sehen ist. — 

Der Verlauf der 
Fasern ist iiber- 
wiegend ein pa- 
ralleler, wobei 
aber t)ber- 
kreuzungen 
vielfach vorkommen konnen (s. Abb. 2). 

Beziiglich der Herkunft der Knauelfasern lieB sich folgendes feststel- 
len. Wie dies aus Abb. 3 hervorgeht, konnen einem zirkular reduzierten 
Zellkorper faserige Seitensprossen entspringen, die gleichmaBig fein und 
tiefschwarz impragniert, ganz den Eindruck eines axonalen Fortsatzes 
machen, und diese Natur des letzteren wird noch gesteigert durch dessen 
interessantes Verhalten, das in dem pericellularen und welligen Verlauf 
gegeben ist. Aus derselben Abbildung ist es ferner ersiehtlich, daB solche 
kollateralartige Fasern auch dem Achsenzylinder entspringen konnen (s. 
Abb. 3, 1), endlich bemerkt man eine Faser (Abb. 3, 3), die, sich teilend, 


Abb. 2. Immersionsphotographie einer schwer entarteten 
Ganglienzelle, die von einem derbfasrigen Knauel eingehiillt 
ward; letzterer ist schief aquatorial abgeschnitten, daher 
kommt nur die eine Hfilfte des Knfiuels zur Darstellung. Die 
Ganglienzelle liegt im abgeschnittenen Knauel, wie eine Eichel 
in der Schale. — Tay-Sachs. Fibrillenimpr. 


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322 


Karl Schaffer: 


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zwei pericellulare Fasern entstehen laBt. Sennit kann man die Beob- 
achtungen, die an einer einzigen Spinalganglienzelle anzustellen sind, 
in folgenden Punkten zusammenfassen: Die Knauelfasern nehmen ihren 
Ursprung: 1. aus deni pathologischen Zellkorper, 2. aus dem Axon, 
3. zeigen sie eine Vermehrung infolge Bifurkation. Alle diese pericellu¬ 
laren Fasern weisen als gemeinsames Merkmal den subkapsularen 
Verlauf auf, d. h. sie umrahmen als geschlangelte Fasern innerhalb 
der Ganglienzellkapsel die Ursprungszelle also zwischen Kapsel und 

Spinalganglienzelle. Solche 
Knauelfasern, weil sie die Ur¬ 
sprungszelle umwickeln, waren 
als autoneuronale zu be- 
zeichnen. 

Nun gibt es Beobachtungen. 
die darauf hinweisen, dali Knauel¬ 
fasern von benachbarten Ele- 
menten herstammen, indent sie 
als neugebildete Seitenaste eines 
starken Achsenzylinders nahe zu 
dessen Bifurkation entspringend, 
zu einer fremden Spinalganglien¬ 
zelle ziehen, um in deren peri¬ 
cellularen Knauel einzutreten. 
Das ist ein Beispiel fur die h o- 
moneuronale Knauelfaser. So- 
mit sind die pericellularen 
Knauel pluricellularer Na- 
tur. 

Ein bemerkenswerter Um- 
stand ist es, dali die pericellularen 
Knauel sich um angegriffene bzw. 
um bereits hochgradig veranderte 
und redu zierteSpi na lganglienzellen u nd besonders umRestknotchen heru m 
entwickeln, und somit ist es naheliegend, in den Knauelfasern abnorroe 
Elemente zu erblicken, die mit dem pathologischen Zustand der Spinal- 
ganglienzellen zusammenhangen. Somit laBt sich behaupten, daB die 
Entwicklung der cellularen Verandentngen und die Ausbildung der 
subcapsularen Faserknauel so ziemlich parallel gehende Erscheinun- 
gen sind. 

3. Die Endkeulen anlangend waren kurz folgende Momente her- 
vorzuheben: Es finden sich im Parenchym des Spinalganglions auBerst 
gewundene Fasern, die ihr neugebildetes Wesen einesteils durch ihre 
Bifurkation, anderteils durch die den Faserenden aufsitzenden keulen- 



Abb. 3. Spinalganglienzelle, deren Korper 
durch zirkulare Neuronophagie (Ansamm- 
lung von Satelliten) stark verniindert ist ; 
das Tiefennetz dekomponiert. Man beachto 
bei „A“ (axon) den feinen geschliingelten 
Seitenzweig (1); den axonartigen Fortsatz 
des Zellkorpers bei 2; endlich Itei 3 eine 
Stammfaser, deren Ursprung hochstwahr- 
scheinlich aus dem Zellkorper wohl nicht 
sichtbar, doch ist deren Bifurkation seltr 
bemerkenswert. Die sub 1, 2, 3 erwiilinten 
feinen wellig verlaufenden Fiiserchen bilden 
einen Kniiuel um denGanglienzellrest(auto- 
neuronaler Knauel), der aber nur frag- 
mentarisch zur Darstellung gelangt. Tay- 
Sachs. Fibrillenimpr. 


Gottgle 


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Beitrage zur Histopathologie der Spinalganglienzellen. 


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formigen Endanschwellungen dartuen (Abb. 4). Diese Endkeulen kon- 
nen solid bzw. homogen, dann aber auch strukturiert erscheinen, und 
es hat den Anschein, daB die groBten Endanschwellungen zugleich die 
strukturierten, wahrend die kleinen die homogen-schwarzen Endkugel- 
ehen sind. Es l>edarf keines eingehenden Nachweises, daB die struk¬ 
turierten Endkeulen infolge der hochstgradigen lokalen Bl&hung zu- 
standekommen, wodurch namlich die fibrill&ren Elemente auseinander- 
gedrangt werden; die Schwellung besorgt die lokale Massenzunahme des 
Hyaloplasma. — Die mit Endkeulen versehenen Fasern dringen dann 
in die Kapsel naheliegender Spinalganglienzellen ein und formieren 
dann den pericellularen 
Knauel. 

Nachdem wir in ge- 
drangter Kiirze die Ver¬ 
anderungen der Spinal- 
ganglienzellen in Augen- 
sehein nahmen, bleibt uns 
deren Erklarung iibrig. 

Es sei vorwegge- 
nommen, daB die Nerven- 
zellen der Spinalganglien 
bei der infantil-familiaren 
Idiotic so ziemlich jene 
Veranderungen auf- 
vveisen, die bei der ex- 
jierimentellen Transplan¬ 
tation der Spinalganglien 
des Kaninchens auftreten. Nageotte war der erste 4 ), der eine t)ber- 
pflanzung unter die Haut des Ohres bei demselben Tier vornahm; das 
versetzte Ganglion verwaehst schon am Ende des ersten Tages mit der 
Umgebung, schwillt dann etwas an und Yvird rotlich und harter, nach 
14 Tagen plattet sich das Gebilde ab, um sich sehlieBlich bis zur Un- 
kenntlichkeit zu verlieren bzw. zu verkleinern. Die Veranderungen an 
den Spinalganglien bestehen in den ersten Tagen 1. im iippigen Wachs- 
tura neugebildeter Fortsatze, die am Zellkbrper der Ganglienzellen, 
ferner am Glomerulus des Axons, endlich am extrakapsuliiren Axon 
erscheinen. Beziiglich der Fortsatze an dem Zcllkorper kamen vor allem 
monstrose Bildungen zu Gesicht; es sind dies machtige und zahlreiche 
Vegetationen mit Verastelungen und knollenformigen Endbildungen, 
die, von mehreren Punkten des Zelleibs als breite, plumpe Stamme 
hervorsprossend, in einige wechselnd starke Aste sich teilen. Dann er- 
seheinen sog. gelappte Zellformen, wie wenn der Zellkbrper in mehrere 
lappenformige Segmente sich geteilt hlttte, dabei bleibt der Axon 



Abb. 4. iS Stanimfaser, die zwischen den Nerven- 
fa.sern des Parenchyms im Spinalganglion liegt; 
sie setzt sich in die Faser S' fort, die eine mftchtige 
strukturierte Endkeule aufweist. S entsendet 
einen Seitenzweig (C), der mit einer soliden End¬ 
keule AbschluB findet. Zu beachten der gekriimmte 
Verlauf des S' und C.-Tay-Sachs. Fibrillenimpr. 


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324 


Karl Schaffer: 


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ganz unverandert. Endlich kommen Ganglienzellen niit glatten, gleich- 
kalibrigen und langen fortsatzahnlichen Auswiichsen vor, die von der 
Ursprungszelle fernziehen, urn sich dann dichomotisch zu teilen, ganz 
dem Typus der sympathischen Zellen entsprechend. — Hinsichtlich der 
Glomerulusauswuch.se kommen Seitenaste aus dem Glomerulus zustande. 
die a) diesen solenoidartig reichlich umwickeln (,,pelotons periglomeru- 
laires“); b) den Glomerulus verlassend zu irgendwelcher benachbarten 
abgestorbenen Ganglienzelle ziehen um an dessen Stelle, die durch das 
Restknotchen eingenommen wird, eine reichliche terminate Verzwei- 
gung ,,arborisation nodulaire“ zu bilden; c) solche Verzweigungen 
konnen auch um benachbarte Ganglienzellen als pericellulare Umwiek- 
lungen vorkommen und imitieren in dieser Form jene Normalbildung, 
die als Dogielscher pericellularer Knauel bekannt ist. — Endlich die 
Fasern, die dem extrakapsularen Teil des Axons entspringen, erscheinen 
als feine Kollateralaste, die oft den Axon einfach begleiten und mit 
Eindringen in die Kapsel der Spinalganglienzelle ihren AbschluB 
finden. 

Obiger Oberblick von Nageottes Befunden ergibt die Tatsache. 
dab mit Ausnahme der periglomerularen Aufrollungen die iibrigen 
Wucherungserscheinungen der transplantierten Spinalganglien, obschon 
in maBigerer Form, bei der infantil-familiaren Idiotic vorkommen. 

Hinsichtlich der Bedeutung dieser Wucherungserscheinungen, spe- 
ziell der pericellularen und perinodularen Knauel hegte Nageotte 6 ) 
die Ansicht, daB es sich keineswegs um internepronale Artikulationen 
handeln kann, wie dies fur die Dogielschen Korbe als sympathico-sen- 
sitive Synapse besteht, denn die Restknotchen enthalten keine aktiven 
Ganglienzellen mehr, und es ware noch zu erwagen, daB im Fall eines 
autoneuronalen Knauels dieser keiner neuronalen Artikulation dienen 
kann. Die Hypothese eines mechanischen Hindernisses, das die Fasern 
im Verlassen der Kapsel hindernd diese formlich dazu zwingen wtirde, 
sich um die Ganglienzelle zu wickeln, erschien Nageotte nicht im 
mindesten plausibel. Hingegen neigte er zur Annahme, daB die ge- 
wucherten Satelliten die faserigen Auswiichse auf Grund von chemo- 
taktischer Wirkung anzogen. Indem er sich auf Cajals neuro-satel- 
litare Symbiose stutzte, ferner auf die Hypothese von Holmgren, die 
ein Netz von den Fortsatzen der Satelliten, das Trophospongium, an- 
nahm, dessen Aufgabe der Transport von Nahrsubstanzen unmittelbar 
in den Korper des nervosen Cytoplasma ware, gelangt Nageotte 6 ) zu 
folgendem SchluB. Es erscheint als moglich, daB die perinodularen 
Knauel solche Wurzeln darstellen, mit deren Hilfe gewisse Neuronen 
ihr Nahrgebiet vergroBern, wozu sie die Satellitenanhaufungen Ih*- 
niitzen, die infolge des Todes der Ganglienzelle zwecklos geworden sind. 
Die pericellularen Knauel scheinen eine dem Trophospongium iihnliche 


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Beitiage zur Histopathologie tier Spinalganglienzellen. 


325 


Rolle zu spielen, indem sie die Bcriihrungsoberflache zwischen dem 
Neuron und seinen eigenen Satelliten vergroBert. 

Meine eigene Auffassung weicht von jener Nageottes wesentlich 
ab, schon aus dem Grund, weil ich die Rolle der Satelliten fur eine ganz 
anders geartete erachte als der franzbsischeAutor. Wie ich dies in meinem 
letzten, der Histopathologie der infantil-familiaren Idiotie gewidmeten 
Aufsatz 6 ) ausfiihrte, besaBen die apolaren Gliaelemente (und als solche 
sind auch die subkapsularen Satelliten der Spinalganglienzellen zu be- 
trachten), im normalen Zustand keine erkennbare Funktion, im Gegen- 
satz zu den normalen multipolaren Gliaelementen, die als Fixations- 
und Nutritionselemente fungieren. Die Satelliten scheinen nur im Fall 
der Erkrankung der Spinalganglienzellen aktiv zu werden, wo sie dann 
eine histiolytische Tatigkeit auf Kosten der Ganglienzellen entfalten, 
somit zum Bild der Neuronophagie fiihren. Die apolaren Elemente re- 
prasentieren im Normalzustand der Spinalganglien nur Reserveele- 
mente, Poliaks Bereitschaftszellen. Auf Grund dieser Betrachtungs- 
weise ist den Satelliten keine nutritive Funktion zuzusehreiben, daher 
kann man auch die pericellularen und perinodularen Knauel nicht 
als Nutritionsorgane betrachten. Diese Knauelbildungen, sei es im 
transplantierten Spinalganglion, sei es in jenem der infantil-familiaren 
Idiotie, diirften Reizerscheinungen darstellen, wie solche eben in den 
genannten Fallen gegeben sind. Ob die Produktion der Knauel das 
Ergebnis einer regenerativen Tendenz sei, ist eine Frage fiir sich. Biel- 
schowsky 7 ) ist der Ansicht, daft die Achsenzylinder der Purkinjeschen 
Zellen bei der infantil-familiaren Idiotie Seitenaste mit Endkeulen vor- 
treiben als Effekt einer ziellosen Regeneration; ich 6 ) betrachtete die 
axonalen wie dendritischen Anschwellungen in denselben Fallen als 
degenerative Erscheinungen, da doch das gesamte Nervensystem mit 
all seinen nervosen wie gliosen Elementen in einer schweren und un- 
aufhaltsamen Auflosung begriffen ist. In den Spinalganglien handelt 
es sich mit Bezugnahme auf Nageottes experimentelle Untersuchungen 
wohl um einen regenerativ orientierten Vorgang: nach meiner An- 
schauung handelt es sich um eine krankhafte Reizung, um einen ProzeB, 
der gleichzeitig pro- und regressiv ist, der einen FaseriiberschuB als 
luxuriose Vegetationen scheinbar ohne Zweck und Ziel produziert. 

Bei der Wertung dieser maBlosen Faserproduktion haben wir auf 
Cajals Experimente 8 ) 9 ) zuriickzugreifen, die zeigten, daB in Fallen 
von traumatischer Lasion so des zentralen wie des peripheren Nerven- 
systems dieses mit lokalen Schwellungen des Neurons und mit Axon- 
sprossungen reagiert. Wahrend aber die Peripherie lebensfahige Neu- 
bildungen entstehen lalJt, neigen jene des Zentrums rasch zur Dege¬ 
neration. Das Spinalganglion verhalt sich wie die Periphe¬ 
rie; seine Nervenzellen reagieren auf traumatische Eingriffe (Cher- 


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326 


Karl Schaffer: 


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pflanzung) oder auf anderc schadigende Eingriffe mit Vegetationen, 
deren Gestaltung von lokalen Verh&ltnissen abhangt. Die axonalen 
Kollateralen nehmen einen recht geschlangelten Verlauf, wobei sie sicb 
eben den sehr variablen Spalten und Lucken des Ganglienparenchyms 
fiigen; gelangen diese dann zu einer Kapsel, so durchdringen sie diese 
mit einer Leichtigkeit und rollen sich nun subkapsular auf. Diese Auf- 
rollung wird dadurch bedingt, daB die eindringende und formlich tastend 
vordringende Faser sich in einer spharischen Spalte befindet, die eines- 
teils durch die konkave Innenflache der Zellkapsel, andernteils durch 
die konvexe Oberflache der Ganglienzelle bzw. des Restknotchens 
bedingt wird (s. Abb 1). Diese spharische Spalte scheint zur Aufrollung 
neugebildeter Nervenfasern wie geschaffen zu sein, und tatsachlich be- 
obachtet man die Knauel immer nur innerhalb der Ganglienzell- 
kapsel. Wie sehr sich das Spinalganglion bei traumatischen Eingriffen 
dem peripheren Nervensystem gleich verhalt, geht nebst der relativ 
iippigen Faserneubildung noch aus den pericellularen und periuodu- 
laren Knaueln hervor, die entschieden an die Perroncitoschen Spi- 
ralen erinnern. Letztere sind ebenso GberschuBbildungen wie die spi- 
raligen Aufrollungen um kranke Ganglienzellen, bzw. um Restknotchen; 
die spiralige Beschaffenheit der neugebildeten Fasern wird, wie soeben 
dargetan, durch lokale Verhaltnisse in der Ausbreitungsmoglichkeit 
bedingt. Dabei ware noch zu erwagen, ob die neugebildeten Fasern 
nicht etwa durch die neurotropische Wirkung der proliferierten Satel- 
liten ,,herangelockt“ werden, welche Wirkung als chemotaktische man 
seitens der Schwannschen Zellen auf die zentral herauswachsenden 
Achsenzylinder annimmt; mit dieser Vorstellung gewannen wir eine 
Erklarung fiir die Tatsache, daB die extrakapsular entsprungenen 
Axonen insgesamt dazu tendieren, sich intrakapsular auszubreiten und 
daselbst die spiraligen Faserwindungen zu bilden. 

Zur richtigen Beurteilung und Auffassung der reaktiven Verande- 
rungen des Nervensystems so an der Peripherie wie im Zentruni im 
Falle von Lasionen waren folgende Momente zu vergegenwartigen. 

Vor allem ist die Tatsache bemerkenswert, daB seitens des Neu¬ 
rons Faserbildungen mit kugeligen Endigungen sich an beiden Stellen 
zeigen, somit erscheint vom morphologischen Standpunkt weder bier 
noch dort eine Differenz. Allerdings diirften an der Peripherie die Neu- 
bildungen durch ihre iiberwaltigenden Massen auffallen gegen jene im 
Zentrum, die verhaltnismaBig bescheidener sind. Eine Differenz er- 
gibt sich doch in einem Punkt: an der Peripherie kann es zu einer 
Leitungsherstellung kommen, in welchem Fall also das ladierte Neuron 
als regeneriert betrachtet wird, wahrend im Zentrum eine Restitution 
nie erreicht wird. Warum? Die richtige Antwort gab m. E. zuerst 
Bielschowskv, der darauf wies, daB im Zentrum jene plasmatischen 


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Beitrage zur Histopathologie der Spinalganglienzellen. 


327 


Streifenstrukturen fehlen, die, an der Peripherie durch die Schwann- 
schen Zellen gebildet, dazu dienen, urn die faserigen Bildungen vor- 
dringen bzw. bis zum Endpunkt der Peripherie vorwachsen zu lassen. 
Somit erscheinen die Biingnerschen Streifen als jenes Material, dessen 
Gegenwart bzw. Abwesenheit das Phanomen der ,,Regeneration” be- 
dingt und ermoglicht, bzw. unmoglich macht; die sog. Sprossungen des 
Neurons sind nur reaktive Erscheinungen, die zu regenerativen allein 
vermoge der plasmatischen Streifen werden. Und da letztere allein an 
der Peripherie vorkommen, kann es eine Regeneration nur hier geben 
und niemals im Zentrum; hier verfallen die reaktiven Bildungen als- 
bald dem Untergang, sie degenerieren. Somit ist die Bedingung und 
die Moglichkeit einer Regeneration allein an der Peripherie ge- 
geben. 

Nach obigem hatten wir zwischen zwei Erscheinungen im Fall 
von Neuronverletzung genau zu unterscheiden. Vor allem die generelle 
Neuroneigenschaft der Reaktion, die in lokalen Schwellungen so im 
Verlauf wie am Ende des Axons bestehen, nebst Faserbildungen als 
Kollateralen (wie im Spinalganglion bei Tay-Sachs) oder als Spal- 
tungen (an der Peripherie im zentralen Axonstumpf); diese Bildungen 
zeigen die Tendenz zum UbermaB, daher rollen sie sich gern auf, wo 
dies die lokalen Verhaltnisse eben ermoglichen (Perroncitosche Spi- 
ralen, subkapsulare Knauel). — Dann die Existenzbedingung 
der Neubildungen, die auf Grund der Biingnerschen Streifen an der 
Peripherie gegeben ist, im Zentrum aber infolge mangelnder Streifen¬ 
strukturen fehlt. 

In diesem Sinn ware den faserigen Neubildungen keine regenerative 
Tendenz zu unterschieben; das Neuron reagiert ebcn mit Schwellungen 
und Faserauswiichsen bei Verletzungen; es ist dies eine allgemeine 
Eigenschaft des Neurons, das noch keineswegs eine Regeneration be- 
deutet. Erst bei gegebener Existenzbedingung dieser Bildungen 
bleiben diese erhalten und werden zu brauchbaren Leitstrukturen 
ausgebildet; mangelt diese Bedingung, wie eben im Zentrum, so unter- 
gehen diese Neubildungen. Wie sehr man diese Neubildungen a priori 
nicht als AusfluB einer regenerativen Tendenz betrachten kann, erhellt. 
aus der morphologischen Identitat der sog. regenerativen und degene- 
rativen Reaktionen des Neurons, vermoge der man oft nicht in der Lage 
ist zu bestimmen, was progressiv und was regressiv zu deuten ist. Da¬ 
her sind ,,Sprossungsphanomene“ nicht eo ipso Regenerationserschei- 
nungen; sie werden erst zu solchen vermoge der als Gleitbahnen die- 
nenden plasmatischen Streifen. Und so ware m. E. imrner unprajudi- 
zierlich von reaktiven Phanomen des Neurons zu sprechen, die von 
Haus aus von pro- und regressiver Befahigung sind. 


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Karl Schaffer: 


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Zu sain menf assu ng. 

Die Spinalganglien weisen bei der infantil-familiaren Idiotie zweier- 
lei Phanomene auf: einesteils die fortschreitende Verminderung des 
ganglionaren Zellkorpers durch die proliferierenden Satelliten (Neurono- 
phagie), andernteils die progressiven Sprossungen, so des Ganglienzell- 
korpers wie des Axons. Die Ganglienzellen, als das Angriffsobjekt des 
heredodegenerativen Prozesses, offnen den Reigen der Veranderungen, 
und diese — in deni Zerfall des Tiefennetzes bei ziemlicher Verscho- 
nung des Oberflachennetzes bestehend — werden gefolgt durch die 
histiolytische Tatigkeit der Satelliten. Der pathologische Reiz pro- 
duziert nun seitens der Ganglienzellen und Achsenzylinder die Erschei- 
nung der pericellularen und perinodularen Knauel. Der Ganglienzell- 
korper entsendet feine und zahlreiche Fortsatze, die ura die Ursprungs- 
zelle geschlangelt verlaufen und bilden einen lockeren, subkapsularen 
Knauel aus feinen Faserchen. Der Achsenzylinder partizipiert in diesera 
Fall ebenfalls an der Bildung des pericellularen Knauels, wo dann dieser 
unraittelbar nach seinem Ursprung subkapsular Kollateralaste aus sich 
entstehen laBt. Doch entspringen dem Axon auch extrakapsulare Seiten- 
aste, die, mit ihren Endkeulen auf Ganglienzellen stoBend, deren Kapsel 
durchdringen und nun im bogenfdrinigen Verlauf die Ganglienzelle bzw. 
deren Rest umwickeln, wodurch sie einen Knauel von zumeist star- 
keren Fasern bilden. Diese aufrollenden, manchmal wirklich solenoid- 
artig sich um die Ganglienzelle windenden Fasern scheinen progressiv 
starker werden zu konnen, womit auch der Knauel zunehmend koni- 
plizierter, d. h. aus reicheren Windungen bestehend wird. Es gibt also 
jiingere und altere Knauel: erstere sind arm an Touren und werden 
von schwachen Fasern gebildet, letztere erscheinen in Form fast un- 
entwirrbarer Aufrollungen als starkere Fasern. Dieses Wachstum von 
Windungsfasern gibt sich aber nicht allein durch die zunehmende 
Starke, also durch das Kaliberwachstura, sondern auch durch Ver- 
mehrung von Fasern auf Grund vr>n Bifurkation kund. Somit sind die 
pericellularen Knauel bei der infantil-familiaren Idiotie neugebildete 
Fasereinrichtungen, die als luxuriose Vegetationen das Produkt eines 
pathologischen Reizes darstellen. Es sei betont, daB fiir die patholo- 
gischen Knauel der Spinalganglien deren subkapsularer Verlauf 
gegen den extrakapsularen der normalen Knauelbildungen cha- 
rakteristisch ist. Letztere sind teils varikos-sympathische also marklose, 
endbaumchenformige Verastelungen um den Zellkorper herum, teils 
extrakapsulare Umwickelungen einfacherer oder komplizierterer Art- 
seitens markhaltiger Nervenfasern, die einen korkartigen Knauel um 
die Spinalganglienzelle (Dogiels Korbe) bilden, deren Ursprung bislang 
unbekannt ist. 


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Beitrage zur Histopathologie der Spinalganglienzellen. 329 

Llteratur. 

l ) Castro, de Fernando: Estudio sobre los ganglios sensitivos del hombre 
en eatado normal y pathologico. Trabajos etc. 19, 4. 1922. — 2 ) Frey. Ernst: 
Zur Histopathologie der infantilen Form der familiar-amaurotischen Idiotie (Typus 
Tay-Sachs-Schaffer). Virchows Arch. f. pathol. Anat. u. Physiol. 218. 1913. — 
3 ) Cajal, S. R.: Systeme Nerveux. — 4 ) Nageotte, Jean: Recherches experi- 
mentales sur la morphologie des cellules et des fibres des ganglions rachidiens. 
Rev. neurol. N. 8. 1907. — 5 ) Idem: Etude sur la greffe des ganglions rachidiens; 
variations et tropismes du neurone sensitif. Anatom. Anz. 39, 9, 10. 1907. — 
6 ) Schaffer, Karl: Tatsachliches und Hypothetisches aus der Histopathologie 
der infantil-amaurotischen Idiotie. Arch. f. Psychiatr. u. Nervenkrankh. 64, 5. 
1922. -— 7 ) Bielschowskv, Max: Zur Histopathologie und Pathogenese der 
amaurotisclien Idiotie usw. Joum. f. Psychol, u. Neurol. 26. 1920. — 8 ) Cajal. 
S. R.: Les metamorphoses precoces des neurofibrilles dans la regeneration et la 
degeneration des nerfs. Trabajos etc. 5. 1907. — 9 ) Idem: Note sur la degenerescence 
traumatiques des fibres nerveuses du cervelet et du cerveau. Trabajos etc. 
o. 1907. 


Arcliiv (Ur Psychiatrie. Bd. 67. 


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(Aus deni hirnhistologischen imd interakademischen Hirnforschungsinstitut 
der k. ung. Qniversitiit zu Budapest [Direktor: Prof. Karl Schaffer].) 

Zur Markscheideiientwicklung des Rautenhirns. 

Von 

Dr. Desiderius Miskolczy. 

Assistenten des Instituts. 


Mit 4 Textabbildungen. 
(Eingegangen am 4. September 1922.) 


Folgende Ausfiihrungen schlieBen sich den Untersuchungen Hoe- 
sels 1 ) liber die Myelogenese des Rhombencephalons an, und da er die 
ersten Markspuren des Rautenhirns verfolgend die Zunahme der Mark- 
scheidenentwicklung bei 4-, 5- und 6 monatigen Foeten beschrieb, konnen 
diese meine Schilderungen als Fortsetzung seiner Studien betrachtet 
werden. Mein Untersuchungsmaterial bildeten namlich Foeten aus der 
zweiten Halfte des intrauterinen Lebens, und zwar: 


1. Ein 38 cm langer Foetus aus dem VII. Monat, 

2. ,, 40 ,, ,, „ ,, ,, VIII. ,, 

3 44 VIII 

9J. yy TT , , y, yy yy yy » J-O-i. ,, 

4. ,, 46 ,, ,, ,, ,, ,, IX. m 


Da eine liickenlose Darstellung der Myelogenese des Rauten¬ 
hirns aus der zweiten Halfte des intrauterinen Lebens bisher noch aus- 
stand, glaube ich diesen Mangel durch meine Befunde behoben zu 
haben. 

Das Rhombencephalon bietet ein sehr wechselvolles Bild fiir das 
Auge des Untersuchers aus mehrfachen Griinden: 

1. Es besteht aus phylo- und ontogenetisch sehr verschiedenwerti- 
gen Teilen. 

2. Es ist der Durchzugsort der den verschiedensten Hohen und 
Tiefen entspringenden afferenten und efferenten Bahnen, die selbst den 
Gesetzen der Phylo- und Ontogenese unterworfen sind. 

3. In ihm endigen bzw. entspringen die meisten Gehirnnerven. — 


t) Hoesel, Otto: Beitrftge zur Markscheidenbildung imGehim und in der 
Medulla oblongata des Menschen. Monatsschr. f. Psychiatr. u. Neurol. 6. 1899 
und 7, 1900. 


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Desiderius Miskolczy: Zur Markscheidenentwicklung des Rautenhims. 331 


Daraus folgt, daB in diesem entwicklungsgeschichtlich gut abgrenzbaren 
Organ, das in sich die Briicke, das verlangerte Mark und das Kleinhirn 
vereinigt, mit Haematoxylin tiefblau gefarbte markhaltige Systeme an 
vollkommen marklose Felder grenzen konnen, u. z. gemaB der zeit- 
lich differenten Myelogenese dieser verschiedenwertigen Bahnen, 

Meine Aufmerksamkeit erregten folgende Fragen: 

1. Welche Schliisse lassen sich fur die normale Phylo- und Onto- 
genese gewinnen? 2. Was fur eine Reihenfolge laBt sich in der Um- 
markung einzelner Bahnen bzw. Markscheidengruppen bestimmen? 
3. Welche Vergleiche konnen zwischen normaler Ontogenese und ge- 
wissen degenerativen Veranderungen angestellt werden? 

Die Beobachtung jiingerer, aus der ersten Halfte des intrauterinen 
Lebens stammenden Entwicklungsstufen liiBt eine sehr genaue Ab- 
grenzung zwischen den ontogenetisch verschiedenwertigen Teilen, so 
ini Pons wie ira Cerebellum durchfiihren. Niro Masuda 1 ) teilt zu 
diesem Zwecke die Entwicklung der Briicke in fiinf Entwicklungsab- 
schnitte ein. Er fand namlich die erste deutliche Anlage der Briicke bzw. 
des Pars basilaris pontis beim 4 cm langen, zw-eimonatigen Foetus. In 
dieser ersten Phase der Briickengestaltung kann man ventral von der 
schon machtig angelegten Haubenetage die erste Briickenanlage nur 
als ein schmales, spindelformiges Feld erkennen (Masudas ,,primitives 
Briickengrau“). 

In der zweiten Phase (3 J / 2 bis 4monatige Foeten) ist die Briicke 
ira Verhaltnis zur Haube noch immer „dorsoventral abgespalten und 
eiformig“. In diesem Zeitalter erscheinen die ersten deutlichen Nerven- 
fibrillen. Erst wahrend der 3. Phase (6. bis 7. Foetalmonat) kommt es 
zur kraftigeren Gliederung auch in dem ventralen Briickenfelde, so daB 
am Ende dieser Periode die allmahliche Annaherung an das endgiiltige 
GroBenverhaltnis zwischen FuB und Haube immer mehr und mehr zu- 
tage tritt. In dieser Phase w’eist der BriickenfuB die ersten Markfasern 
auf, wohingegen in der Haube schon von der zweiten Stufe an eine fort- 
schreitende Zunahme an Markfasern beobachtet w r erden konnte. 

In der vierten Phase nimmt der Umfang der Briicke immer noch 
zu, und zwar zugunsten des BriickenfuBes. Diese Phase umfaBt die 8. 
bis 9. Foetalmonate und die ersten Lebensw'ochen des Sauglings. — 
Die immer deutlicher sich fortsetzende Formausbildung bzw. Mark- 
entwicklung findet erst in der 5. Phase ihren vorlaufigen AbschluB bei 
3 monatigen bis 2jahrigen Kindern. 

Aus dieser kurz geschilderten Einteilung erhellt, daB die onto- 
genetischen Verhiiltnisse der Briicke sehr leicht mit den phylogenetischen 


i) Masuda, Niro: t)ber das Briickengrau des Menschen. Arlr. a. d. hirnanut. 
Inst, in Zurich. H. IX. Wiesbaden 1914. 


22 * 


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332 Desiderius Miskolczy: 

Ergebnissen in Einklang gebracht werden konnen. Die erste Phase der 
Entwicklung erinnert sehr an Formverhaltnisse niederer Sauger, so dalJ 
die Edingersche Einteilung zwischen palaeo- und neoencephalen An- 
U'ilen des Gehirns aueh im Rhombencephalon mit vollem Recht durch- 
gefiihrt werden kann. 

Vor der Beschreibung meiner Befunde sehe ich mieh genotigt, 
einc Zusammenfassung der Ergebnis.se Hoesels zu geben, denn nur auf 
diese Weise konnen meine von der Untersuchung spaterer Entwick- 
Inngsstufen gewonnenen Daten mit seinen von jiingeren Fruchten stain- 
menden Resultaten verglichen und so die Liickenlosigkeit in der Dar- 
stellung erreicht werden. 

Die ersten markhaltigen Fasern in der Medulla oblongata zeigen 
sich erst bei 4monatigen Fruchten, und zwar im Gebiete des vorderen 
Grundbiindels. Diese verlieren sich in der Gegend des Hypoglossus- 
kerns. Sonst sind nur die austretenden Wurzelfasern des N. XII schwach 
markhaltig. 

Im 5. Monat sendet das vordere Gnindbiindel bzw. der aus ihm sich 
entwickelnde Fasc. long. med. schon zu den Kernen der Augenmuskeln 
markhaltige Fasern; im Seitenstrang gibt nur das Seitenstranggrund- 
biindel und der Tr. spinocerebellaris dors, gute Markscheidenfarbung. 
Das Seitenstranggrundbiindel gliedert sich in seinem spateren Verlauf 
folgendermaBen: einerseits sendet er einen raphealen . Teil zum N. 
centralis, anderseits verlieren sich seine ungekreuzten, diesseits der 
Raphe bleibendenFasern in drei Biindelchen gespalten im l.Nucl. reti¬ 
cularis tegmenti, 2. im N. Deiters, und im vorderen Seitenstrangkern. — 
lm Hinterstrange sind markhaltig: 1. Die im Gollschen Kern endigen- 
den Fasern, sowie das erste System der mittleren Wurzelzone Flech- 
sigs, 2. von den beiden Abteilungen des Burdachschen Kerns weisen 
nur Flechsigs vordere Wurzelzone, das zweite System der mittleren 
Wurzelzone und der lateraleTeil der medialen Wurzelzone einen Mark- 
besitz auf. Markhaltig sind noch: Beginn der Schleifenkreuzung, die 
aus der vorderen medialen Kerngruppc stammenden Fasern des Vorder- 
horns und Fasern, die von der hinteren Wurzel zur Clarkeschen Saule 
ziehen, ferner der N. XI und XII vom letzteren diejenigen Fasern, die 
aus dem ventralen Abschnitt des Hypoglossuskerns stammen. Vom 
N. IX und X sind die Fasc. solitarius und Fasern aus dem dorsalen 
Vaguskerne markhaltig; ebenso verhalten sich jene Markfaden des 
vestibularen Anteils des N. VIII, die zum Nucl. Deiters und von dort 
zur Raphe ziehen. Markhaltig fand Hoesel bei omonatiger Frucht 
noch den aufsteigenden Schenkel, das Knie, den absteigenden Schenkel, 
die raphealen und Wurzelfasern des N. VII, sowie die Raphe- und Wurzel¬ 
fasern des N. VI. — Es erscheinen in der aufsteigenden Wurzel des N. V 
die ersten Anfange der Markscheidenbildung, markhaltig sind die sen- 


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Zur Markscheidenentwicklung des Rautenhirns. 


333 


sibJen, motorischen sowie diegekreuzten Wureelfasern. Voile Uni markung 
zeigen die Fasern, die vom Trochleariskern und vom zentralen und late- 
ralen Oculomotoriuskern stammen. Endlich wurden der Stiel der oberen 
Olive und die von der oberen Olive zur Raphe ziehenden Fasern, die 
die ersten Spurendes Corpus trapezoides darstellen, markhaltig gefunden. 

Im sechsten Monat bereichert sieh folgendermalJen dieser Mark- 
gehalt: 

Der Fasc. long. med. gewinnt einen Zuwachs durch den aus deni 
Kerngebiet des N. trigeminus und N. vestibularis stammenden, sowie 
vom N. retie, lat. zum Vestibular kern ziehenden Fasern. Der Mark- 
gehalt des Seitenstranges wird mit den ersten Fasern des Gowersschen 
Biindels und den ersten Ansatzen der seitliehen Grenzschicht ergiinzt. 
Die vordere Wurzel bekommt schon aus der vorderen und hinteren seit¬ 
liehen Kerngmppe Markfasern und im Hinterhorn erscheinen die Re- 
flcxkollateralen. Der Hypoglossuskerti schickt schon auch zur Raphe 
einige Fasern und seine Wurzelfasern werden durch solche aus dem 
dorsomedialen Abschnitte kommenden ergiinzt; so bereichert sieh der 
N. IX und X mit Fasern, die aus dem Nuel. ambiguus stammen. Nur 
im 6. Monat gelangen zuerst jene Fasern des Ramus cochlearis N. VIII 
zur Darstellung, die mit der medialen Halfte des vorderen Acusticus- 
kerns im Zusammenhang sind; zu gleicher Zeit wird die Kleinhirn- 
wurzel des Vestibularastes markhaltig. Es zeigen sieh ferner Anfange 
der Markbildung. in der absteigenden Trigeminuswurzel. Der Trapez- 
korper wird durch Fasern, die aus dem ventralen Acusticuskern stam- 
men, vermehrt, und gleichzeitig stellen sieh die ersten Markfasern der 
lateralen Schleife ein. In diesem Alter konnte endlich Hoesel zwisehen 
den unteren Oliven commissurale Fasern beobaehten. 

Nun sollen meine Befunde aufgeziihlt werden. 

Das Markreifungsbild des 38 cm langen Foetus gestaltet sieh 
folgendermaSen: 

Der Burdachsche Strang weist den dichtesten Markgehalt auf, 
das Vorder- und Seitenstranggrundbiindel sowie die hintere Klein- 
hirnseitenstrangbahn wetteifern mit ihm betreffs Farbenton und Dich- 
tigkeit; viel blasser ist schon die Farbung der im Gebiet des Gollschen 
Stranges sieh befindenden Fasermasse, und die Fasern der absteigenden 
Trigeminuswurzel zeigen nur cine schwache Tinktion. Der Burdach- 
sehe Strang scheint seine endgiiltige Diehtigkeit schon beinahe erreicht 
zu haben, in seinem Kern erscheint in nestartiger Anordnung sein aus 
feinen Fasern bestehendes Fasergeflecht. 

Im Gollschcn Strang findet man in viel beseheidenerer Anzahl die 
schwacher gefarbten Faserquerschnitte, w'obei im Kern das Mark- 
geflecht sieh auch sehr gering und unvollkommen zeigt. Vollstandig 
marklos ist die Substantia gelat. cent., ebenso findet.man keine weilJe 


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334 


Desiderius Miskolczy: 


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Commissur. Auch die Fasern der absteigenden Trigeminuswurzel sind 
sp&rlich und blaC gefarbt, die ihr sich anschmiegende Subst. gelat. Ro¬ 
lando wird von etlichen Radiarfasern durchzogen. Medial von ihr, an 
der Stelle, die dein Hinterbornhalse entspricht, ist ein femes blasses 
Fasernetz und darin die schwach gef&rbten Bundelchen der Fibrae 
concomitantes trigemini zu sehen. 

Im Seitenstrang heben sich die quergeschnittenen und sich auf die 
AuBenflache der absteigenden Trigeminuswurzel verschiebenden Fasern 
der Flechsigschen Bahn lebhaft vom Gebiete der Subst. retie, lat. ab, 
wo die blassen Faserquerschnitte sparlich zerstreut liegen. Der Seiten¬ 
strang wird auBen von einem schmalen tiefblauen Marksaum umrandet, 
zwischen ihm und dem gesattigt gefarbten Seitenstranggrundbiindel er- 
scheint ein markarmer Streifen, der mit Querschnitten gut gefarbter 
Markscheiden sparlich besat ist. 

Im Vorderhorn ist schon eine nestformige Faseranordnung zu be- 
obachten, die aber noch von der Vollendung weit entfernt ist; die vor- 
deren Wurzeln sind tiefblau gefarbt, ebenso weist das vordere Grand - 
biindel einen tiefblauen Farbenton auf. 

In dem sich kreuzenden Pyramidenbiindel sowie im Felde der un- 
gekreuzten Pyramide findet sich keine einzige quergeschnittene Mark- 
scheide. Wohl erbliekt man im ungekreuzten Biindel querverlaufende, 
offers sich schlangelnde feine Faserchen, diese stammen aber von der 
ventralen weiBen Commissur, bzw. vom Vorderstranggrundbundel, wenn 
sie nicht vom Vorderhorngebiet auf die andere Seite himiberstreben. 
Es drangen sich auch zwischen die gekreuzten Pyramiden solche Faser- 
ehen durch, die teils vom Vorderhorn, toils vom Burdachschen 
Kern ihren Ursprung nehmen. Einige setzen ihren Weg nach Umkreisen 
der einzelnen marklosen Bundelchen fort, um damit die Marklosigkeit 
der Py-Bahn noch scharfer hervorzuheben. 

Der Ease, cornu anterioris (Ziehen) ist gut abgrenzbar und hin- 
langlieh bemarkt. 

Auf hoheren Querschnitten erscheinen die Fibrae arcuatae internae, 
die hauj)tsachlich aus dem Burdachschen Kern stammen; der 
Gollsche Kern sendet solche entsprechend seiner unvollstandigen Mark- 
reife nur in sehr bescheidener Anzahl. 

In diesem Alter erscheinen die ersten auBeren ventralen 
Bogenfasern, die aber nur bis an den Burdachschen Kern heran- 
reichen, hintere auBere Bogenfasern sind noch nicht markreif. Die inne- 
ren Bogenfasern sammeln sich im Areal des Lemniscus medialis, ohne 
aber die vollstandige Dichtigkeit erreicht zu haben (s. Abb. 1). Eine 
andere Gruppe dieser Fasern folgt nach Cberschreiten der Mittellinie 
folgende Wege: 

1. Es sind Fasern, die in der Regel bis zur Fissura medians ant. 


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Zur Markscheidenentwicklung des Rautenhirns. 


335 


hinabgleitend die Py. als Pi brae circumpyramidales von au Ben uin- 
saumen. 2. Fibrae intrapyramidales, die ihren Weg im marklosen 
Py-Feld fortsetzen. 3. Der groBte Teil der inneren Bogenfasern aber be- 
nimrat sich so, daB sie am dorsalen Rand der Py auf die Oberflache 
des verlangerten Marks streben, wobei manche Fasern den Nucleus oli- 
varis accessorius medialis als Fibrae chordales (Ziehen) durchsetzen. 
Diese ventralen auBeren Bogenfasern schlieBen sich dem Strickkorper 
an. Anfangs konnen noch die zarteren langs- oder schragverlaufenden 
Fasern von den quergeschnittenen der Flechsigschen Bahn unter- 
schieden werden, spater aber vermengen sich diese Fasern miteinander. 
Der Nucleus reticularis lateralis und Nucl. arcuatus entsendet keine 
markhaltigen Bogenfasern. Der Tractus solitarius ist geniigend mark- 
haltig. 

Das zarte Kerngeflecht des Nucl. ambiguus hebt sich schon hervor 
von der fast marklosen Umgebung der Substantia reticularis grisea. 
Einige Ambiguusfasern konnen auch in die Raphe verfolgt werden. 

Die untere Olive ist beim 38 cm langen Foetus vollkommen mark- 
los (Abb. 1), sie entbehrt eines jeden eigenen markhaltigen Fasersyste- 
mes, die zwischen seinen dorsalen Lamellen erscheinenden schwachen 
Faserchen miissen als von andersher durchziehende fremde Fasern be- 
trachtet werden, es sind dies ebenfalls innere Bogenfasern, die ihren 
Weg durch die Olivenblatter nehmend zur AuBenflache streben. 

Die Substantia reticularis grisea ist nicht vollkommen marklos. 
Es kann eine Anreicherung ihrer Faserquerschnitte an folgenden 
Stellen beobachtet werden: 1. Es lehnt sich an den Fasciculus longitudi- 
nalis medialis ein mit schwach gefarbten Fasern sparlich besates Feld 
an, das sich vom sonst markarmen seitlichen retikulierten Feld gut 
abhebt: die Area acclinis (Ziehen). 2. Einwarts von der Gowers- 
schen Bahn an der dorsalen Fliiche der unteren Olive: die dorsoolivaren 
Fasern Hoesels. 

Die Raphe zeigt sich am besten in der Hohe der Fasciculi longitudi- 
nales mediales bemarkt. Weiter ventral wird dieses Geflecht immer ar- 
mer, um in der Hohe der Oliven eine Bereicherung zu erfahren. Man 
sieht zwar eine sehr schwache interolivare Faserung auch vertreten, 
aber diese entspricht noch durchaus nicht der Fasermenge der vollstan- 
digen Ausbildung, es zeigt sich hingegen, daB die beiden Lemnisci me¬ 
diales von parallelen marklosen Spalten mehrfach durchfurcht werden, 
und diese Gliederung ist eben durch die Unreife der Fibrae inter- 
olivares bedingt. 

Die thalamoolivare Bahn ist marklos. 

Der Strickkorper enthalt nur die friihmarkreifen Fasern der 
Flechsigschen Bahn und die Fibrae arcuatae ext. ventr. aus den gegen- 
seitigen Hinterstrangkernen. Durch die Marklosigkeit der olivocerebel- 


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Desiderius Miskolczy: 


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laren Balm, die als ein spatmarkreifender Bestandteil des Strickkorpers 
zu betrachten ist, erblickt man diese friihmarkreifen Svsterue zuerst 
ganz lateral an der Oberflache ein halbmondformiges seitliches Feld 
vom Gebiet des Corpus restiforme (C R) einnehmend. Das mediale 
marklose Feld ist die Anlagerungsstatte der olivocerebellaren Bahn, 
deren Fasern als Fibrae prae-, trails- und retrotrigeminales ihren Weg 
durch die Substantia reticularis lat. und Radix dcscendens N. V nehmen. 



Abb. 1. 38 cm langer Foetus. Pyramidenbahn (Py) und Oliva inferior 

(Oi) marklos. Der Verlauf der von der Olive stammenden olivocerebellaren Bahn 
(Oc am = Tractus olivocerebellaris amyelinicus) wird durch marklose Streifen 
vorgezeichnet. Der markbaltige Teil des Corpus restiforme (CR myelinicum) 
enthalt auBer der Flechsigschen Bahn noch die Fibrae arcuatae ext. vent (Faev) 
das Corpus restif. amyelinicum (CRam), wird hauptsaclilich vom Ocani gebildet, 
und wird links durch einen vom CRm medial liegenden, rechts von einem das 
CRm umzingelnden markleeren Rauni vertreten (CRam). Die Gehirmierven, und 
zwar N. hypoglossus (XII), Vagus (Xs, Xrn, Ts — Tractus solitarius), Tractus 
vestibularis descendens (17// vd). Radix trigemini descendens ( Vd), und Tractus 
desc. nervi intermedii (Ni) sind geniigend bemarkt. In der Flocke (FI) angehende 
Myelogenese. In der Substantia reticularis lat. (Sri) sparliche Markfaserbildung, 
nur die Area acclinis (Art) bereichert sich allmahlich an Markscheiden. 

Da diese Fasern erst im spateren Alter ihre Umhiillung erlangen, sind 
ihre Verlaufswege an den Oblongataquerschnitten iiberall als freigelassene 
marklose Streifen vorgezeichnet (s. Abb. 1). 

An hoheren Querschnitten in der Hohe des VIII. Gehirnnerven 
(wie auch an der Abb. 1 rechts ersichtlich, wo durch die schiefe Ein- 
stellung die rechte Halfte des Praparates etwas weiter frontal liegt) 
nehmen die friiher reifenden Fasern des C. R. eine zentrale Lage ein, 
so dali dieses Biindel wie von einem marklosen Hof eingesaumt er- 


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Zur Markscheidenentwicklung des Rautenhirns. 


337 


scheint. Dieses anfangs mediale Areal ist von feinen zartesten Faser- 
chen durchwoben, ob aber diese verspatete innere Bogenfasern oder 
nucleocerebellare Fasern sind, entzieht sich der weiteren Beurteilung. 

In der Substantia reticularis alba erbiickt man zwischen dem Fas¬ 
ciculus longitudinalis med. und Lemniscus med. die praedorsalen Bun- 
delfasern, die sich fortschreitend ummarken, ohne dab man eine weitere 
Gliederung im Entwicklungsvorgang beobachten konnte. 

Der Fasciculus longitudinalis dorsalis (Schiitz) ist nicht mark- 
haltig. 

In der Markleiste der Flocke erscheinen schon schwach gefarbte 
Fasern, diese horen aber noch vor der Erreichung der Lamina granu- 
laris interna auf. Der Flockenstiel ist auch unvollstandig bemarkt. 

Die Gehirnnerven sind alle geniigend markreich, es kann sogar der 
N. intermedius Wrisbergii als ein von der absteigenden Vestibularis- 
wurzel lateralwarts gelegenes rundes Biindelchen unterschieden werden. 
Die Fibrae concomitantes trigemini erhalten ihrc Markscheiden 
mit der absteigenden Trigeminuswurzel anscheinend zu gleicher Zeit. 

Im Nucl. triangularis ist das Fasergefleclit noch unentwickelt. Die 
Biindelchen der absteigenden Vestibulariswurzel, die beim Erwachse- 
nen in ein dichtes Fasergewirr eingebettet verlaufen, stehen noch beinahe 
frei, zwischen ihnen sich kreuzende Lichtungen freilassend. 

Der ventrale Cochleariskern weist einen dichten Markgehalt gegen 
den dorsalen Cochleariskern auf, auch die Bodenstriae fehlen noch. 
Man kann Cochlearisfasern beobachten, the zum C. R, andere, die zum 
Tuberculum acusticum und solche, die zur Mittellinie streben. 

An Schnitten, die vom Briickengebiet stammen, findet man den 
BriickenfuB und Briickenarm vollkommen markleer. Nur die Briicken- 
haube enthalt markgefarbte Fasern in der schon geschilderten Anord- 
nung. Trigeminus, Facialis, Abducens verhalten sich wie bei Hoesels 
Entwicklungsphasen. Die gut gefarbten Fasern des ventralen Cochle- 
ariskerns stromen in den Trapezkbrper und hauptsachlich in die oben- 
01 ive, deren Stiel schon bei jiingeren Foeten gut bemarkt gefunden 
wurde. Um die obere Olive legen sich die Faserbiindel des Lemniscus 
lateralis. 

Man findet im BriickenfuB auch keine Fibrae rectae markhaltig. 
Im Stratum profundum hingegen erbiickt man aber einige sehr schwach 
gefarbte kurze Faserchen, die wagerecht verlaufen und in der Raphe 
sich zu kreuzen scheinen. Die Radix mesencephalica trigemini zeichnet 
sich (lurch ihren geniigenden Markreichtum aus. 

In hoheren Querschnitten scheint die mediale Lemniscusbahn ab- 
zublassen, wohingegen die absteigende Trigeminuswurzel bis zu ihrer 
Austrittsstelle eher eine allmahlich zunehmende tiefblaue Farbung er- 
fahrt. 


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Desiderius Miskolczy: 


Das Kleinhirn. Der ventrale Teil des gezahnten Kerns (N. D.) ist 
vollkommen marklos, nur in die Lamellen seiner oberen Spitze und gegen 
seinenHilusverirrensich einige sehr blasseFasern. ImStratuminterciliare 
findet man schon in viel groBerer Anzahl die markhaltigen Fasern, die 
um den Nucl. globosus und emboliformis sich in ein loses Geflecht ver- 
dichten. Man erblickt zwar stellenweise Fasern, die im Unterwurm 
endigen, diese konnen aber nur in den Markleisten gefunden werden 
und reichen nicht bis an die innere Kbrnerschicht. Zwischen dem Pfropf- 





r,";'.-* 


Abb. 2. 38 cm langer Foetus. Die Kleinhimhemispharen und der Nucleus 

dentatus (ND) sowie der Vermis inferior sind vollkommen marklos. Um die zen- 
tralen Kleinhirnkeme beginnt die Markscheidenbildung. Im Nucleus emboliformis 
(Ne) sehr schwaches Fasemetz, links fiihrt ein Faserstiel vom Ne in die vordere 
Kreuzungskommissur ( VKk) unterhalb deren eine, aus beiden Nuclei fastigii (Nf) 
8tammende Decussatio interfastigiosa (Dif) zu erkennen ist. Die restiformialen 
Fasern der Fibrae semicirculares externae (Fse) streben gegen den Oberwurm. 
Ng = Nuclei globosi. Die markhaltigen feinen vom Cortex vermis senkrecht zu 
den Kleinhirnkernen ziehenden Faserchen tragen den Namen: Fibrae cortico- 

nucleares. 

kern und Rinde desOberwurms ziehen feine senkrechte Fasern, die Fibrae 
corticonucleares Edingers. Sie werden also in dieser Phase 
zuerst markhaltig gefunden. Sehr schwache Andeutungen von 
Fibrae semicirculares internae, schwache Ziige von Fibrae semicirc. ext., 
dessen Fasern vom Strickkorper herruhren. Von der Kreuzungskom¬ 
missur kehren Faserziige in den Pfropfkern ein, wie auch an Abb. 2 er- 
sichtlich. 

Nach dera Auftreten des Dachkerns entsteht. folgendes Bild (Abb.2): 



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Zur Markacheidenentwicklung des Kautenhirns. 


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Der Dachkern wird von innen und unten von einem losen Fasermantel 
umhiillt. Oberhalb des Kernes liegt die Decussatio interfastigiosa, die 
von der Faserschicht der vorderen Commissur iiberdacht wird. Dach- 
und Pfropfkerne sind mit der Rinde des oberen Wurms durch zarte 
dorsoventral gerichtete Fasern in inniger Verbindung. Die Kerne selbst 
besitzen sehr schwache Fasernetze. 

Entsprechend der Marklosigkeit des N. D. und der Markarmut der 
medialen Kleinhirnkerne ist der Bindearm auch sehr markarra, er 
besteht in dieser Phase noch aus sehr schwach sich farbenden Fasern. 

YVenn wir diese kurzgeschilderten Befunde, wo unwichtige Einzel- 
heiten oder schon bekannte Tatsachen weggelassen warden, an Hoesels 
friihere Phasen angliedern wollen, erhalten wir folgende Ergebnisse: 

Beide Hinterstrangkerne erfahren bei der 38 cm langen Frucht 
cine erhebliche Bereicherung; der Gollsche Kern wird schon mit den 
blaBblau gefarbten Fasern des Funiculus gracilis ganz umgenommen, 
das Burdachsche Biindel bezeigt seine sehr vorgeschrittene Mark- 
reife durch den tiefblauen Farbenton seiner dichten Fasern. 

Es muB ferner die Zunahme der Schleifenbahn hervorgehoben 
werden, deren Fasern vorlaufig hauptsachlich vom Burdachschen 
Kern geliefert werden, der Gollsche Kern nimmt nur einen bescheidenen 
Anteil in der Entwicklung der inneren Bogenfasern. 

Die Gehirnnerven bzw. ihre Kerne schicken alle Bogenfasern in 
die Mittellinie, ihre Anzahl wachst je nach der Ursprungshohe des be- 
treffenden Nerven. 

Hand in Hand mit der Zunahme der inneren Bogenfasern geht die 
Entwicklung der vorderen auBeren Bogenfasern, die, da sie alle vom 
Nucl. fun. cuneati der Gegenseite stammen und durch Vermittlung des 
Strickkorpers dem Kleinhirn zustreben, als gekreuzte bulbocerebellare 
Faserung bezeichnet werden konnen. Diese Tatsache wird des weiteren 
auch durch die hier zuerst auftretendenFibrae circum-et intrapyramidales 
bestatigt. Man sieht zwar die ersten bescheidensten Anfange der gleich- 
seitigen bulbocerebellaren Fasern angedeutet, aber besser entwickelte 
hintere auBere Bogenfasern sind erst der nachsten Phase aus dem VIII. 
Foetalmonat eigen. 

Der Ramus vestibularis weist keine morphologische Anderung 
mehr auf, wohingegen der ventrale Cochleariskern durch die Anmarkung 
seines lateralen Abschnittes sich vervollstandigt, auch der dorsale Cochle¬ 
ariskern sowie das Tuberculum acusticum besitzt schon die Anfange 
der fortschreitenden Anmarkung gegen die Marklosigkeit der sechs- 
monatigen Phase. 

Im Areal der Lemniscusbahn konnte Hoesel nur in der Hohe der 
unteren Oliven einen Markgehalt aufweisen, bei der 38 cm langen Frucht 
kann man diese Bahn in ihrer zentraleren Ausdehnung bis zum Mesence- 


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Desiderius Miskofczy: 


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phalon verfolgen, obzwar sich ihre Faserquerschnitte hier allmahlieh 
abblassen; andererseits aber belegt die Bahn noch immer nicht das 
endgiiltige Areal: in der Hohe des Corpus trapezoides sind z. B. ihre 
Faserquerschnitte zwischen den Biischeln des Trapezkorpers zu finden. 

Den Bindearm fand Hoesel noch oline Markfarbung bei der 6-nio- 
natigen Frucht. Beim 38 cm langen 7-monatigen Foetus beobachtete 
ich schon sparliche Markfasern im Verlaufsgebiet des Bindearmes. Den 
Ursprung dieser Fasern muli ich von den medialen Kleinhirnkernen ab- 
leiten aus dem Grunde, weil neben der Marklosigkeit des gezahnten 
Kerns die erwahnten Kerne in der Markscheidenbildung einen guten 
Anlauf zeigen. 

Im Kleinhirn ist der Fasergehalt der Flocke, des Dach- und 
Pfropfkernes eine neue Bereieherung, ebenso gelangt das Kleinhirn er>t 
in diesem Alter in den Besitz der corticonuclearen und fastigiobulbaren 
Fasern. 

Das verlangerte Mark des 40 cm langen Foetus weist eine weitere 
Fortentwickelung in dem Sinne auf, dali einige Systeme durch Zunahme 
neuer Fasern und kraftigere Farbung eine scharfere Abgrenzung er- 
fahren. Die Substantia reticularis lateralis erganzt sich mehr und mehr, 
es erscheinen schon Fibrae radiantes (Ziehen) darin, die untere Olive 
blieb noch immer marklos, keine Fibrae fimbriatae, kein Amiculum 
olivae und Fibrae olivocerebellares zu sehen. 

In der Hohe der Py-Kreuzung erscheint als zufalliger Befund ein 
abnorm verlaufendes Biindel, dessen Verhalten folgendermaBen 
geschildert werden kann: In die Jinke Flechsigsche Bahn miinden 
drei tiefblau gefarbte Biindelchen ein, die sich von der schwach 
bemarkten Umgebung kraftig abheben. lhr Ursprung kann auf 
Grund der frontaleren Serienschnitte verfolgt werden. So bemerkt 
man, daI3 von dcr lateralen Spitze des Burdachschen Stranges eine 
umschriebene Fasergruppe sich abspaltet, die den Nucleus spinalis N. V 
in einwarts konvexem Bogen umkreisend sich in drei kleinere Biindel- 
chen teilt, die sich der Flechsigschen Bahn immer mehr nahern. Diese 
Biindelchen miissen so aufgefafit werden, dali sie sich vom Burdach¬ 
schen Strang trennend sich an die Flechsigsche Bahn anschlielien, in¬ 
dent sie einen caudalwarts sinkenden Bogen beschreiben. Da die Fasern 
im Corpus restiforrae ihren Weg fortzusetzen scheinen, konnen sie als 
abnorm verlaufende bulbocerebellare Fasern aufgefalit wer¬ 
den. Dali sie zum Py-Biindel keine Beziehung haben, beweist die Tat- 
sache, dali sie zu einerZeit, wo noch die Py in diesem unteren Abschnitt 
vollkommen marklos ist, eine kraftige Markscheidenfarbung aufweisen. 

Als Neuerwerb kann betrachtet werden, dali vom Gollschen Kern 
einige Faserchen zum gleichseitigen C. R. verfolgt werden konnen. Die 
mediale Schleifenbahn hat sich schon beinahc vervollstandigt. Sie nimmt 


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Zur Markscheidenentwicklung des Rautenhirns. 


341 


schon eine groBere Ausdehnung ein und wird z. B. in der Hohe des 
Corpus trapezoides von wagerechten, gleichverlaufenden, marklosen 
Streifen zerlegt, die hoehstwahrscheinlich fur die Fibrae profundae 
pontis vorbehalten sind, wenn nicht die Nachziigler des Corpus tra- 
jjezoides diese Stellen belegen werden. Der BriickenfuB ist mitsamt 
<len Fasciculi pyramidales pontis marklos in den caudaleren Abschnitten. 
Je hohere Schnitte man durchpriift, um so mehr Fibrae rectae konnen 
entdeckt werden; auch im Querschnitt der Py-Btindel erscheinen einige 
zerstreute Markschollen mit urivollstandiger Farbung. 

Die Markstrahlen der Flocke und auch des Flockenstiels erfahren 
eine gewisse Zunahme an neuen Fasern, ohne den endgiiltigen Mark- 
gehalt erworben zu haben, es konnen schon einige U-Fasern in der 
Flocke verfolgt werden, die in die Markleiste der Nachbarlamelle ein- 
dringen. Der Flockenstiel schmiegt sich bis zur lateralen Ecke der 
Fossa rhomboidea eng an den Ramus cochlearis an, um spater eine neue 
Richtung gegen die unteren Lamellen des gezahnten Kerns einzuschlagen. 
Die Striae medullares sind noch iminer marklos, wohingegen das Faser- 
geflecht des Nucl. triangularis sich schon verdichtet hat, es werden 
einige Fasern auch zur Mittellinie entsendet. 

Da das Markbild des Cortex cerebelli von O. Vogt 1 ) schon ge- 
niigend untersucht und ausfiihrlich beschrieben wurde und meine Be- 
obachtungen denen von Vogt vollstandig entsprechen, verzichte ich 
auf eine ausfiihrliche Schilderung dieser Hirnteile. Mein Augenmerk rich- 
tet sich insbesondere auf den gezahnten Kern: vor allem fallt es auf, 
daB die caudalen Abschnitte des Nucl. dentatus keine einzige Mark- 
scheide enthalten. Die ersten schwachen Anzeichen einer beginnen- 
den Markscheidenbildung um die Dentatusblattchen werden erst in 
der Hohe der hinteren Kreuzungscommissur wahrgenommen. Zu glei- 
cher Zeit erscheinen die Fibrae semicirculares extraciliares, d. h. auBere 
bogenformige Fasern, die vom Oberwurm gegen den BriickenfuB und 
Hemispharenmark gerichtet verlaufen, ohne aber auch nur die Mark- 
lcisten der Hemispharen zu erreichen oder in die Schichten der Briicke 
tiefer einzudringen. Einige dieser Fasern biegen ins Stratum prof, pontis. 
Ob aber diese Fasern mit dem Bechterewschen 2 ) Tractus cerebello- 
tegmentalis oder mit der pontopaleocerebellaren Bahn Schaffers 3 ) 
identisch waren, entzieht sich der sicheren Entscheidung. 

Je oralere Schnitte man durchmustert, desto mehr Fasern werden 
in den Falten des N. D. beobachtet. In der Gegend des Dachkerns, 

l ) Vogt, 0.: Die myelogenetisehe Gliederung des Cortex cerebelli. Journal 
f. Psychol, und Neurol. 5, 1905. 

*) Bechterew: Die Leitungsbahnen im Gehirn u. Riiekenniark. Leipzig 1899. 

*) Schaffer: Cber einige Bahnen d. menschlichen Rhombencephalons. Hirn- 
pathologische Beitrage Bd. II. 2. H. Berlin 1919. 


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De8iderius Miskolczy: 


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dort, wo die Decussatio fastigiobulbaris und die Fibrae fastigiobulbares 
am schonsten entwickelt sind, hat sich schon ein allerdings noch zarter 
Faserfilz zwischen seinen Lamellen gebildet; so sieht man feine Fibrae 
fimbriatae externae und internae und U-Fasern, die bogenformig von 
einer Lamelle zur nachsten hiniiberbiegen. Die untere Spitze dieses 
feinen lockeren Fasergewebes scbeint mit dem Kerngeflecht des Tuber- 
culum acusticum im Zusammenhang zu sein. Zwischen dem Vellus 
nucl. dentati und der schon markhaltigen extraciliaren Faserung schiebt 
sich ein nach oben sich verjungender markloser Streifen ein. In diesen 
Streifen dringen dann an oraleren Abschnitten die friihreifen restifor- 
mialen Fasern ein, die insgesamt zum Oberwurm hinaufstreben (vgl. 
auch Abb. 4 vom 46 cm langen Foetus). 

Auch das Fasernetz um die medialen Kleinhirnkerne ummarkt sich 
zunehmend; in den Kernen selbst zeigt sich aber die Markgeflecht- 
bildung in den bescheidensten Anfangen. 

Es wird entsprechend der unvollstandigen Markreife des gezahnten 
Kerns auch im Bindearm eine bemerkenswerte ontogenetische Reihen- 
folge in der Markfaserbildung beobachtet. Diejenigen Fasern namlich, 
die in dieser anfanglichen Phase der Bindearmausgestaltung von den 
vorderen Partien des N. D. herziehen, nehmen eine mehr oberflachliche, 
auBere Lage im Bindearmquerschnitt ein in der Weise, daB eine me¬ 
diate marklose Zone fur die spater reifenden Anteile freigelassen wird. 
Ein Verhalten, das bei den alteren Phasen eine w’eitere Wiirdigung be- 
ansprucht. Obrigens wird der Bindearm in diesem Alter noch nicht von 
Fibrae perforantes lemnisci durchdrungen, diese erscheinen erst im 
9. Mon at markhaltig. 

Bei m 44 cm langen Foetus fand ich beinahe dieselben Verhalt- 
nisse wie beim vorigen. Die Py-Bahn, BriickenfuB und untere Olive 
bieten grundsatzlich die bisherige Markleere dar. Als ein weiterer be* 
scheidener Fortschritt im verlangerten Mark ist der Befund aufzuzeich- 
nen, daB vom Nucl. reticularis lat. einige Faserchen in den Strick- 
korper unmittelbar verfolgt werden konnen. 

Etwas abwechslungsvoller ist das Bild im Kleinhirn. Der fort- 
schreitende Ummarkungsvorgang in der Flocke, wo die Markfasern 
schon die Tiefe der Kornerschicht zu erreichen scheinen, greift auf die 
benachbarten Kleinhirnlamellen liber, wie es auch schon von O. 
Vogt 1 ) geschildert wurde. Die hinteren Kleinhirnlappen sind 
vollkommen marklos, demgemaB auch die entsprechenden Dentatus- 
windungen. Bei oraleren Schnitthohen wird eine Markscheidenzunahme 
im N. D. beobachtet, und zwar fiillt es besonders auf, daB die oberen 
gewundenen Lamellen imraer mehr Fasern entsenden als die ventraler 


J ) Vogt, 0.: 1. c. 


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Zur Markscheidenentwicklung des Rautenhirns. 


34 ^ 


liegenden. Dieser Unterschied wird in den oraleren Gegenden nur zum 
Teil ausgeglichen. 

Nun erscheinen in schonen blaBblauen Ziigen auch die Fibrae semi- 
circulares int., die sich zwischen den Zellgruppen des Nucl. embolifor- 
mis und globosus verlieren; ventralwarts kann ihr Verlauf bis in die 
Briickenhaube verfolgt werden. 

Briickenarm, Bindearm, Strickkorper verhalten sich wie friiher. 

Im Mesencephalon bemerkte ich die gut entwickelten Fasern eines 
neuen Systems, die sich an die mediale Spitze des Lemniscus med. an- 
legen und oralwarts eine Kreuzung unterhalb der Wernekinkschen 
Commissur erlitten haben,: anscheinend die Monakowsche mbrospinale 
Bahn. 

Beim 46 cm langen Foetus sind im wesentlichen dieselben Ver- 
haltnisse aufzufinden. In der Oblongata sind nur kleinere Einzelheiten 
aufzuzahlen: so z. B. eine schwaehe interolivare Commissur zwischen 
ilen unteren Oliven; doch erhielten weder die olivocerebellare noch die 
thalamoolivare Bahn ihre Markscheiden. 

Das Markscheidenbild des Kleinhirns kann am besten an den bei- 
gelegten zwei Zeichnungen erklart werden. Die Schnitte stain men nam- 
lich von einem Praparat, wo das Messer nicht genau die frontale Ebene 
eingehalten hat, sondern durch die etwas schrage Einstellung die linke 
Seite des Priiparates etwas caudaler liegt als die rechte. Dadurch 
kann an einem einzigen Schnitte das schon beim 44 cm langen Foetus 
besprochene Verhalten des gezahnten Kerns iiberblickt werden. Auf 
dem Schnitte (Abb. 3, links), der links den N. VIII, rechts aber schon 
den sensiblen N. V getroffen hat, sieht man den caudaleren sehr mark- 
armen Abschnitt des Nucl. dentatus. Oralwarts aber (rechte Seite) 
vermehren sich die von ihm entspringenden Fasern in der Weise, dafi 
die oberen Lamellen bedeutend mehr Fasern entsenden als die ven- 
traler liegenden. Auf der Abb. 4, die von der Eintrittsstelle des sen¬ 
siblen Trigeminus stammt, sind diese Verhaltnisse durch das Auftreten 
der medialen Kleinhirnkerne zwar etwas verwischt, doch genugend be- 
merkbar. Hier besitzt schon der N. D. feine Fibrae fimbriatae ext. und 
int. Auf den oralsten Abschnitten des N. D. (Abb. 4, rechts) wird na- 
tiirlich keine genauere Abgrenzung mehr moglich, dafiir kann aber 
das schon vorhin geschilderte Verhalten des Brachium conjunctivum 
in Augenschein genommen werden. Hier sieht man namlich, daB das 
Bindearmgebiet nur dorsolateral von Markfasern ausgefiillt ist, das 
ventrolaterale Feld bleibt marklos bzw. nur sparlich mit Markscheiden 
besat; der Cbergang vom marklosen Gebiet ins gut entwickelte ist ein 
allmahlicher, und es konnte keine scharfe Grenzlinie zwischen den zwei 
Feldern gczogen werden, ohne den natiirlichen Verhaltnissen Zwang 
anzutun. Die an den oralsten Abschnitten gut fortschreitende 


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Desiderius Miskolczy: 


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Markscheidenentwicklu'ng im Album gyrorum ist auf der rechten 
Seite der Abb. 4 zu bemerken, hier fallt es noch auf, daB der 
X. D. in eine markarme Kapsel eingeschlossen liegt, die Kapsel 


Ves 



Ry 

Bp 


Abb. 3. 46 ciu langer Foetus. Die neoencephale Pars basilaris pontis (Bp) 
und Hemisphaeriae (H) cerebelli sind marklos; die palaencephale Pars tegmentalis 
pontis (Tp), ferner der Vermis ( V es, Pei) und Flocculus mit seinem Stiel (fs) 
schreiten in der Myelogenese fort. Im Briickenfuli (Bp) findet man in den Quer- 
schnitten der Fasciculi pyramidales (Py) eine Andeutung der beginnenden Mark- 
scheidenbildung. In der Briiekenhaube (Tp) sind auBer denGehirnnerven(F/// C — 
Ramus cochlearis N. octavi, VIII V — R. vestibularis n. oct., N. VII = Facialis- 
kern mit dem aufsteigenden >Schenkel, VII = absteigender Facialisschenkel. 
VI = N. abducens, Vs = sensible Trigeminuswurzel) noch folgende Systeme 
gut bemarkt: Corpus trapezoides (Ctr), dessen Faserung nach Durchsetzung 
der medialen Schleife (Lm) teils zur Gegenseite strebt, teils aber in der Oliva 
superior (Os) ihr Ende findet. Gut ausgepriigt sind die Verhaltnisse im S trick- 
korpergebiet, wo das friih markreife CRm (Corp. restif. mylinicum) ringformig 
vom CRam (Corp. restif. amyelinicum) umgenommen wird; das ganze System 
wird in die zwei Aste des achten Gehimnerven, medial vom vestibularen (VIII V), 
lateral vom cochlearen ( VIIIC) Ast sozusagen eingeklemmt. Auf der linken 
Seite des Bildes, die caudalere Verhaltnisse darstellt, ist der gezahnte Kern (N D) 
markarm, etwas weiter oral (rechts) verstarkt sich seine Faserung, die dorsalen 
medialen Kernblattchen entsenden dichtere Biischel als die ventralen. Den 
N D umsaumen die Fibr. semieirculares ext., die aus der unbemarkten olivocere- 
bellaren Faserung (Ocam) und den frii hmarkreifen CRm Fasem bestehen. Die 
Fibr. semicirc. int. werden hier von denfastigiobulbftren Fasern (fb) vertreten. 


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Zur Markscheidenentwicklung des Rautenhirns. 


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wird in spateren Entwicklungsphasen mit den cerebelloolivaren Fasern 
ausgefiillt. Im Briickenarm sehr sparliche Fasern, die sich sehr bald 
ira Briickengrau verlieren. lhre genaueren Beziehungen zn den Brucken- 
kernen wurden von Niro Masuda eingehend geschildert. 


Ves 



Abb. 4. 46 cm langer Foetus. Schnitt aus der Trigeminushoho. Links die 

eintretende sensible Trigeminuswurzel (F), rechts die inotorisehe Portion des 
Trigeminus mit der Radix mesencephalica quinti (Km I ). in der hochst. markarmen 
Basis {K)ntis (Bp) sind Markspuren der Py-Bahn, vereinzelte Fibrae rectae (Fr, im 
Brachium pontis (Brp) zarte Faserchen zu beobachten. Links enthalt die Hemi¬ 
sphere (H) keine cinzige Markfaser, weiter oral (rechts), wo der vordere Pol des 
ND in einer von den feinen corticonuclearen Faserchen durchbohrten markarmen 
Kapsel der olivocerebellaren Bahn (OCam) ruht, weisen schon die Markstrahlen 
der Kleinhimlappen einen Anlauf in der Myelogenese auf. Die zentralen Klein- 
hirnkerne und der Vermis ( V es) bereichern sich Schritt fiir Schritt mit Mark- 
fasern. Vom Cortex vermis gleitet zu den zentralen Kemen ein feines Biischelchen 
corticonuclearer Fasern (fen) hinab. DerDachkern (Nf) entsendet eine miichtige 
fastigiobulbare Faserung, die sich in der Mittellinie kreuzt (Dif = Decussatio 
interfastigiosa). Der Briickenarm bezieht von den oberen Lamellen des ND mehr 
Markfasern als von den unteren, und diese werden von feinen Faserziigen der 
Fibrae semicirculares internae (Fsi) durchsetzt. Der Bindearm besteht aus einem 
marklosen (BCam = Brach. conj. amyelinicum) und einem bemarkten Feld 

(BCm). Der t)bergang von einem Feld ins andere ist ein allmahlicher. 

t)berblickt man diese myelogenetisch-anatomisehen Datcji im Sinne 
der eingangs erwahnten Gcsichtspunkte, konnen folgende Ergebnisse 
festgestellt werden: 

Archiv fiir Psychiatric. Bd. 67. 23 


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Desidorius M iskolczy: 


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Vor allem fand ich bestatigt das bekannte Prinzip der Myelogcnesc, 
wonach die morphogenetiseh sich friih ausbildenden Hirnteile, in denen 
selbstverstandlich auch die Achscnzylinder sich frlilier anlegen, rait 
ihren Markscheiden auch eher umklcidct werden. Auf ahnliche Weise 
konnte man eine scharfe Grenze ziehen zwischen den phylogenetisch 
verschiedenwertigen Teilen; der BriickenfuB z. B., der in der phylo- 
genetischen Reihenfolge erst bei den Saugern zur Ausbildung gelangt, 
also ein neencephaler Hirnteil ist, bleibt im groBen und ganzen marklos 
wahrend der ganzen Dauer ties intrauterinen Lebens mitsamt den in 
ihm endigendenfronto-temporo-occipitopontinen Bahnen und der dureh- 
ziehenden Pyramidenbahn, obzwar in dieser letzteren die vom achten 
Foetalmonat an blaugrau sich farbenden Fasern schon den Anfang der 
Markscheidenentwicklung zeigen. Diese Markspuren konnen aber bei 
den von mir durchgepriiften Entwicklungsstadien nur in den cerebral 
liegenden Bruckenschnitten aufgefunden werden, an caudaleren Prii- 
paraten waren dagegen die Py-Biindel marklos. Dieses in der Myelo- 
genese der Pyramidenbahn sich offenbarende Verhalten scheint jenes 
Flechsigsche 1 ) Gcsetz zu bestatigen, nach dem der fortschreitende 
Aufbau tier Markscheiden und die Achsenfasern cellulifugal ist, d. h. 
von der Zelle zur Endverastelung strebt. Marklos sind die Bruckenarme 
auch, abgerechnet die sehr sparliche Faserung, die ihren Ursprung vom 
Stratum profundum pontis zu nehmen scheint und sich bei den Fasern 
cles C. R. verlierend nicht genauer untersucht werden kann. Diese 
Faserung konnte entweder fiir die Bechterewsche nucleocerebellare 
oder die Schaffersche pontopaleocerebellare Bahn gehalten werden 
(beidenfalls erweisen sie sich als palaoencephale Abkommlinge). 

Im verlangerten Mark enthalten die ventral liegenden unteren 
Oliven und die neencephale Py-Bahn keine einzige Markscheide, 
wahrend der von mir untersuchten Entwicklungsphascn. Die auch 
sonst diinnfaserige spinoolivare bzw. olivos pin ale Bahn Helwegs, 
die die Olive mit dem Riickenmark verbindet, erlangt ihre Markumhul- 
lung erst nach der Geburt. Die Hauptfaserung der Olive, die olivo - 
cerebellare Bahn, die die Verbindung mit dem Kleinhirn aufrecht 
halt, bekam noch nicht ihre Markscheiden, so daB an derStelle der den 
Querschnitt des verlangerten Marks so scharf charakterisierenden pra-, 
intra- und retrotrigeminalen Fasern marklose Streifen den spateren Ver- 
lauf zwischen den palaoencephalen Faserquerschnittcn der Subst. ret. 
grisea vorzeichnen. Im Gegensatz hierzu weisen die dor sale n Teile 
der Oblongata und Briicke eine betrachtliche Anzahl gut gefarbter 
Markscheiden auf, was mit der ontogenetischen Tatsache in Einklang 


1 ) Flechsig: Anatomic des menschlichen Gehirns und Riickenmarks auf 
myelogenetischer Grundlage. I. Bd. Leipzig 1920. 


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Zur Murkscheidenentwicklung ties Rautenhirns. 


347 


gebracht werden kann, wonach die Pars basilaris pontis als ein An- 
hangsel der Pars tegmentalis beim 4 cm langen, 2monatigcn Embryo 
durch einen schmalen Streifen vertreten wird, und eine kraftige Zu- 
nahme der Entwicklung nur im 6. Monat erfahrt, also zu einer Zeit, 
wo in der Pars tegmentalis die Markscheidenbildung schon in volleru 
Umfang fortschreitet. Der N. hypoglossus wird bekanntlich schon 
im 4. Monat markhaltig gefunden, im 5. kleiden sich samtliche Wurzel- 
fasern der Gehirnnerven um, mitsamt den die Hirnnervenkerne mit- 
einander verkniipfenden Fasern des Fasciculus longitudinalis me¬ 
dial is, der bekanntlich die phylogenetische alteste Balm des verlanger- 
ten Marks ist. 

In der Myelogenese der vom Goll- und Burdachschen Kern ent- 
springenden Fasern konnte ich drei Abschnitte unterscheiden: 

1. Im 6. Monat schickt sich der Tractus bu 1 bothalamicus zu 
myelinisieren an: Fasern des zweiten sensiblen Neurons, die von den 
Hinterstrangskernen zum Thalamus hinaufstreben (Hoesel). 

2. Im 7. Monat beginnt die Myelogenese des Tractus bulbo- 
cerebellaris cruciatus, dessen Fasern von den Hinterstrangskernen 
als innere Bogenfasern entspringen und die AuBenflache der Oblongata 
erlangend als auliere vordere Bogenfasern ihren Weg durch Vermitt- 
lung des C. R. zum Kleinhirn einschlagen. 

3. Die ersten Spuren der hinteren au Keren Bogenfasern, die sich 
ins gleichseitige C. R. vermischend den Tractus bulbocerebellaris 
directus darstellen, konnte ich nur im 8. Foetalmonat auffinden. 
Alle diese Fasern schmiegen sich der im 5. Monat schon reifen Flechsig- 
schen Bahn innigst an und setzen ihren Weg gemeinsam im friih mark- 
reifen Abschnitt des C. R. fort. 

Die olivocerebellare Faserung aber, die einen betrachtlichen 
Teil des C. R. ausmacht, ist noch immer marklos und dementsprechend 
ladt sich in seinem Querschnittsfeld ein mediales leeres und ein laterales 
tiefblau gefarbtes Gebiet unterscheiden. In der Hbhe des VIII. Gehirn¬ 
nerven hiillt das markleere Feld die reifen Bestandteile allmahlich ein, 
woraus die in der pathologischen Anatomic schon bekannte Tatsache 
gefolgert werden kann, dali die olivocerebellaren Fasern die iibrigen 
Systeme des C. R. ringformig umhiillen. 

Das seitliche retikulierte Feld wird, wie schon erwahnt, 
Schritt fur Schritt raarkreicher, doch erreicht es bis zum 9. Monat seinen 
endgiiltigen Markgehalt noch nicht. Ahnliche Verhaltnisse kcinnen 
auch in den Kcrnen der im Rautenhirn endigenden bzw. entsprin- 
genden Gehirnnerven beobachten werden: von den motorischen Ker- 
nen werden immer mehr Fasern zum Fasciculus longitudinalis med. 
entsendet, wohingegen von den sensiblen Kernen in fortschreitend sich 
vermehrender Anzahl cerebellarwarts gerichtete Fasern zum C. R. stre- 

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Desiderius Miskolczy: 


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ben, als Fibrae cerebellonucleares, deren genauere Gliederung aber mit- 
tels der rayelogenetischen Forgchungsweise undurchfiihrbar ist. Nur 
das Einstrahlen des Ramus vestib. N. VIII ins Kleinhirn kann unmittel- 
bar verfolgt werden. (Die Zergliederung des VIII. Gehirnnerven in einen 
vestibularen und cochlearen Ast fiihite bekanntlich Beehterew mit- 
tels der myelogenetischen Methode durch.) 

Die markreifen Teile des Strickkorpers streben zura Vermis 
cerebelli und somit sind diese vom Riickenmark und Oblongata stain- 
menden fremden Hcrkommlinge die cn ten Markfasern des Kleinliirns, 
desseneigene Faserung sich viel spater ausbildet (Saute de Sanctis 1 ).) 

Im Kleinhirn verhalt sich die Markentwicklungsreihe folgend: 

Zuerst bauen sich die Flocke und der Wurm, also die phylogene- 
tisch iiltesten Abschnitte aus. Es setzt sich die Bildung der Markhiillen 
unterhalb des Stratum gran. int. in den Markleisten an, und erreicht 
nicht einmal beim 46 cm langen Foetus die Schicht der Purkinjeschen 
Zellen. AuBer den von G. R. und Gower sscher Bahn herziehenden Pro- 
jektionsfasern sind im Lobus me dianus cerebelli noch andere mit Hii- 
matoxylin farbbare Fasern am Ende des 7. Monats aufzufinden; diese 
sind die corticonuclearen Fasern, die von der Kleinhirnrinde in 
vertikaler Richtung zu den zentralen Kernen, in erster Linie zum Nucl. 
emboliformis und globosus hinstreben. (S. Abb. 2.) Vom Vermis su¬ 
perior erstreckt sich allmahlich die Myelogenese nach den hinteren und 
unteren Wurmpartien. Zur selben Zeit baut sich die fastigiohu 1 bare 
Bahn aus. 

Im Nucleus dentatus konnte ich die ersten Ansiitze der fort- 
schreitenden Anmarkung nur beim Bmonatigen Foetus feststellen, und 
zwar in den cerebralen Abschnitten, hingegen zeigen die hinteren La- 
mellen nur beim 44 cm langen Foetus einen schwachen Beginn der 
Myelogenese. Aber auch in den oraleren Abschnitten rnussen wir einen 
Unterschied zwischen den der Mittellinie naher liegenden oberen und 
seitlicheren unteren Lamellen in dem Sinne wahrnehmen, dad sich die 
Markscheidenbildung zuerst um die oberen medialen Kernblattchen 
ansetzt. 

Gemali dicsen Vcrhaltnissen baut sich der Bindearm, der seine 
Bestandteile von den zentralen Kleinhirnkernen und hauptsachlich 
vom N. D. bezieht, folgendermaBen aus: Beim 38 cm langen Foetus 
sind die blaBblau gefiirbten Fasern im Bindearmquerschnitt in s])iir- 
licher Anzahl vertreten, und diese nehmen cine dorsale auBere Lage ein. 
Diese Fasern miissen in Anbetracht der volligen Mark- 
losigkeit des N. D. und der beginnenden Bemarkung der 

i) de Sanctis, Sante: Untersuchungen iiher den Bau und die Markschcidcn- 
bildung des menschlichen Kleinhirns. Monatsschr. f. Psychol, u. Neurol. 5. 1898. 


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Zur Markscheidenenlwicklung ties Rautenhirns. 


349 


ubrigcn medialen Kerne als vom Nucl. fastigii, embolifor- 
mis und globosus entsendeten Bindearmf asern aufgefaBt 
werden. 

Beim 40 cm langen Foetus schlieBen sich zu diesen die ersten Den- 
tatusfasern an, und so bereichert sich allmahlich der Bindearm, in 
seinem Querschnittsfeld bleibt aber sogar noch beim 46 cm-Foetus 
cine schmale mediale markleere Zone iibrig. Die von Bechterew ge- 
schilderte Entwicklungsweise des Bindearms nach umschriebenen Faser- 
gruppen konnte ich nicht beobachten. Der Anbau der Markseheiden 
ist vielmehr ein allmahlicher, der von auBen nach inncn sich ausdehnt 
und mit der Markscheidenentwicklung des Nucleus dentatus Schritt 
halt, was so zu deuten ist, da6 die friiher reifenden dorsalen Bindearm- 
fasern vom frontalen Pol des N. D. stammen, das mediale innere leere 
Feld ist fUr die spater reifenden, von den hinteren Dentatuslamellen her- 
ziehenden Fasern des hinteren Poles vorbehalten. 

Als wiehtigstes Ergebnis vorliegender Untersuchungen verdient 
also neben dem wesentlichen Unterschied zwischen der 
Myelogenese der Pars basilaris und tegmentalis pontis die 
Marklosigkeit der oberen Olive, ferner die ontogenetische 
Reihenfolge im Ausbau des geziihnten Kerns hervorgehobcn 
zu werden. 

Nun drangt sich aber unwillkurlich die Frage auf, warum die untore 
< )live, die seheinbar ein Urbesitz des verlangerten Markes ist, so 
spat ihre Markseheiden gcwinnt. Die Erkliirung dieses sonderbaren 
Verhaltens gibt uns die Stammesgeschichte. Es ist wahr, daB auch bei 
den niederen Wirbeltieren die Oliva inferior immer aufzufinden ist, 
aber sehr oft nur in Gestalt einer unbedeutenden Zellgruppe, die neben 
den uralten Nucl. olivares access, med. und lat. cine untergeordnete 
Rolle spielt; diese letzteren sind eigentlich die bestandigsten Oliven- 
kerne, wobei der die mittlere Lage einnehmende Nucl. ohvaris princi- 
palis eine immer groBere Ausdehnung erwirbt. Beim Schweine weist 
er schon eine S-formige Umbiegung auf, bei den niederen Affen er- 
scheint schon der Hilus, bei den Anthropoiden zeigt sich eine beschei- 
dene Faltelung, aber nur beim Menschen erscheint der Kern in seiner 
machtigen Ausdehnung und reichen Faltenbildung (Brunner) 1 ). Diese 
verspatete stammesgeschichtliche Ausbildung bekundet sich in der 
Ontogenese durch die spate Markscheidenbildung seiner Faserung. 

Dieselbe phylogenetische Betrachtungsweise wirft auch auf die 
Entwicklungsfolge der den Kleinhirnkernen entspringenden Fasern ein 
erklarcndes Lieht, wenn man weiB, daB der Vermis und der Dacbkern 


J ) Brunner: Zur Kenntnis der unteren Olive bei den Saugetieren. Ober- 
steiners Arb. 22, S. 113. 


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Desidcrius Miskolczy: 


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bzw. Nucl. medialis die altesten Kleinhirnteile sind, und in dem MaBe, 
wie die Hemispharen sich ausbilden, gliedert sich der anfangs noch in 
die Hemisphare sich erstreckcnde einzige Nucl. med. in zwei und spater 
drei Kerne, so daB bei den niederen Affen schon drei Kerne deutlich 
unterschieden werden konnen: Nucl. lateralis, interpositus und medialis 
(Brunner) 1 ). Die laterale Kerngruppe erhalt nur bei den anthropoiden 
Affen einen Hilus, und von nun an verdient sie den Namen Nucl. den- 
tatus; die machtige Ausdehnung aber, mit der er die iibrigen pala- 
encephalen Kerne weit uberfliigelt, gewinnt der Kern ebenfalls nur 
beim Menschen, und so widerspiegelt sich das stammesgeschichtliche 
Bild einerseits dadurch, daB der Kern seine Markumhullung verspatet 
erlangt, andrerseits aber muB er das phylogenetische Nacheinander auch 
darin einhalten, daB die Myelogenese von den der Mittellinie naher lie- 
genden Blattchen sich gegen die lateralen hinteren Lamellen ausdehnt. 

Interessant sind die Folgeningen, die vom Markbildungsvorgang 
fur die Physiologie verwertet werden konnen: 

Es kann eine Bahn nur dann ihrer Aufgabe gerecht werden, wenn 
sich die Markscheiden um ihre Achsenfasern schon ausgebildet haben. 
Als Beispiel kann uns aus der Pathologic die multiple Sklerose dienen, 
wo die schweren Bewegungsstorungen ihre anatomische Erklarung im 
Nacktwerden der Achsenzylinder finden. Der beim Neugeborenen aus- 
losbare extendierende FuBsohlenreflex (Babinski) ist mit der Mark- 
losigkeit der Py-Bahn geniigend begriindet. Hingegen bewegt sich die 
Frucht schon im 5. Foetalmonat, was durch den Markreichtum der 
vorderen Ruckenmarkswurzel ermoglicht wird, vcrschluckt Frucht- 
wasser, was durch die friihe Ummarkung der Hypoglossusfasern bedingt 
ist. Da die Gehirnnerven zur Zeit der Geburt schon allc beinahe voll- 
standig ausgebaut sind, werden die Saug- und Schluckreflexe, das 
Weinen, Grimassieren ermoglicht; lauter solche Bewegungskomplexe, 
die allein durch das Rhombencephalon besorgt werden, wie uns die Bo- 
obachtung des Goltzschen Hundes und Edingers ,.Menschen ohne 
GroBhirn“ 2 ) gelehrt hat. 

Auf das Bewerten der Entwicklungsgeschichte des Kleinhirns wirft 
ein lebhaftes Licht die interessante Beobachtung Lowys 3 ), daB bei 
jener Gruppe von Tieren, die sofort nach ihrer Geburt flott herum- 
laufen, die Myelogenese schon vollendet gefunden wurde: z. B. beim 
Hund, Schwein, Kalb, von den Vogeln beim Huhn. 

*) Brunner: Die zentralen Kleinhirnkerne bei den S&ugetieren. Ober- 
steiners Arb. 22, 8. 200. 

2 ) Edinger und Fischer: Ein Mensch ohne GroBhirn. Arch. f. d. ges. 
Psychol. 152. 

3 ) Lowy: Zur Frage der superficiellen Kornerschichte und Markscheiden- 
bildung des Kleinhirns. Arb. a. d. neurol. Inst. d. Wiener Univ. 18. 1910. 


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Zur Alarkscheidenentwicklung des Kautcuhims. 


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Dagegen aber vollendet sich die Myelogenese ini Kleinhirnkerne 
der blindgeborenen, sich ungeschickt bewegenden Tiere (u. a. Katze, 
Kaninchcn, Taube) erst nach kiirzerer oder liingerer Zeit post partum. 
Das menschliche Kloinhirn erwirbt ebenfalls spat nach der Geburt seinen 
endgiiltigen Aufbau, daher das unentwickelte Gleichgewichtsgefiihl, die 
inkoordiniert erscheinenden Bewegungen bzw. ihre an tierische Koordi- 
nationen erinnernde Form. 

Auf das Rhombencephalon segmentartig sich erstreckende heredo- 
degenerative Nervenkrankheiten ahmen mit ihren Markerkran- 
kungsbildern die Myelogenese so auffallend nach, daB wenigstens mit 
einigen Worten auch auf diese hingewiesen werden muB. 

Es rufen insbesondere die cerebellare Heredoataxie (Form Pierre- 
Marie) und die auf das Rhombencephalon sich erstreckende Form der 
Tay-Sachsschen Krankheit solchc Markausfalle hervor, bzw. verur- 
sachen jene Hemmung in der Entwicklungsfolge der Markscheiden, die 
eine Parallele ermoglichen. So z. B. in Schaffers 1 ) Fallen, und auch 
in den bekannten Fallen der ponto-olivo-rubrocerebellaren Atrophien 
waren vorwiegend jiingere rhombencephale Systeme in verschiedener 
Kombination befallen. In Schaffers Fallen waren Wurm und Flocke 
gesund, die Hemispharen und der Briickenarm wiesen eine betrachtliche 
Abnahme der Markfasern auf. In seinem jiingst verdffentlichten Tay- 
Sachsschen Falle sah er 2 ) 3 ), daB wieder der Wurm, die Flocke, Binde- 
arm und Strickkorper es waren, die dem Krankheitsvorgang langere 
Zeit widerstanden haben, ale die neoencephale Briicke, Briickenarm und 
Kleinhirnhemispharen. 

Herr Prof. Schaffer untersttitzte mich in meiner Arbeit mit Rat 
und Tat; es sei ihm dafiir auch an dieser Stelle mein ergebener Dank 
ausgesprochen. 

1 ) Schaffer: Beitrage zur Lehre der cerebellaren Heredegeneration. Journ. 
f. Psychol, u. Neurol. 27. 1921. 

2 ) Schaffer, TatMchliches und Hypothetisches aus d. Histopath. der 
infantil-amaurotischen Idiotie. Arch. f. Psychiatr. u. Nervenkrankh. 64. 1922. 

3 ) Schaffer: Die allgemeine histopathologische Charakterisierung der 
Heredodegeneration. Schweiz. Arch. f. Neurol, u. Psychiatr. 7. Zurich 1920. 


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Riclitigstellung zu „Die Bedeutung der Abderhaldenschen 
Reaktion fur Psychiatrie und Nervenkrankheiten nach dem 
heutigrn Staiide unserer Keniitiiisse** von Max Kastaii. 

Von 

Emil Ahderhaldcu, Halle a. S. 

(Eingegangen am IS. November 1922.) 

Es ist auBerordentlich zu begriiBen, daB die Bedeutung nieiner 
Reaktion fur die Pathologie und namentlich fiir die Diagnostik von dem 
Standpunkte aus eingeschatzt wird, den ieh immer betont habe. Die 
A.-R. vermag keine Diagnosen direkt zu vermitteln, aie kann nur in 
bestimmten Fallen solche unterstiitzen und vielleicht da und dort die 
Aufmerksamkeit auf Storungen innerhalb bestimmter Zellarten lenken. 
Die A.-R. stellt feat, dafi aus bestimmten Zellen Inhaltsstoffe in das 
Blut iibergetreten sind: vergleiche hierzu die 5. Auflage meines Buches 
iiber die A.-R., Julius Springer, Berlin 1922. In diesem ist genauer be- 
griindet, weshalb ich den Ausdruck ,,Abwehrfermente“ fallen gelassen 
habe. Es handelt sich bei einem positiven Ausfall der A.-R. wohl in den 
meisten Fallen, wenn nicht immer, um deit Ubertritt von zelleigenen 
Inhaltsstoffen mit den zugehorigen Fermenten in das Blut und nicht 
um eine Neubildung von Fermenten. Eine andere Deutung erfordern 
vielleicht die durch parenterale Zufuhr bestimmter EiweiBarten hervor- 
gerufenen Fermente, doch besteht auch hier die Moglichkeit, daft eine 
unmittelbare Neubildung von Fermenten nicht vorliegt. Kastan hat 
in seiner Abhandlung zwei Darstellungen gegeben, die eine Richtig- 
stellung notwendig machen. Er schreibt: ,,War es bei der Art dcs 
Nachweises dieser Fermente und bei ihrem Ban und ihrer Zusammen- 
setzung natiirlich, daB von einer Spezifitat, l)esonders einer Organ- 
spezifitat, nicht die Rede sein konnte, so war es Abdcrhalden ein iiber- 
raschendes Untersucliungsergebnis, als er zunachst mit der optischen 
Methode fand, daB Peptone, also EiweiBspaltproduktc, von sj)ezifischeji 
Fermenten gespalten werden. Er kam zu diesen Ergebnissen bei seinen 
Forschungen iiber die Eklampsie, nachdem es endlich seinem Schuler 
Pincusson gelungen war, ein fiir das Studium der Fermente geeignetes 
Plazentapepton herzustellen.” Aus dieser Darstellung muB der unein- 
geweihte Leser den SchluB ziehen, als ware durch die Darstellung des 
Plazentapeptons durch Pinctisson das ganze Forschungsgebiet erst er- 


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E. Abderhalden: Richtigstellung. — F. Sioli: Berichtigung. 353 

off net worden. Nach einer brieflichen Mitteilung bezieht sich Kastan 
auf die folgende Stelle in der Monographie iiber die Abderhaldensche 
Reaktion von Gottfried Ewald (Seite 17)'): ,,Nunraehr versuchte Abder- 
halden , ob es nicht geliinge, aus Plazenta ein angreifbares Pepton her- 
zustellen, und endlich gelang auch Pincusson unter Leitung Abder- 
haldens die Darstellung eines solchen." Die beiden Darlegungen unter- 
scheiden sich ganz wesentlich. Sie sind beide nicht richtig. Die Methode 
zur Darstellung von Organpeptonen war schon Jahre zuvor, ehc die 
A.-R. zur Ausfiihrung kam, bekannt, und ist von Emil Fischer und mir 
und dann in zahlreichen Arbeiten von mir selbst beim Studium des 
stufenweisen Abbaus von Proteinen zur Anwendung gekommen. Es 
handelt sich bei der Darstellung des Plazentapeptons um eine Ober- 
tragung bereits vorhandener, in alien Teilen ausgearbeiteter Methoden, 
die iibrigens sehr einfach sind. Ich wiirde die nicht zutreffende Dar¬ 
stellung der Entwicklung der A.-R. nicht ricbtigstellen, wenn nicht die 
Gefahr bestunde, daB an Stelle derOriginalarbeiten Bezug aufZusammen- 
fassungen genoramen wil'd. 

Viel wichtiger ist die Richtigstellung des folgenden Satzes: ,,Wichtig 
ist es ja auch, daB in den letzten Monaten der Graviditat ein Abbau der 
Plazenta von Abderhalden nicht nachgewiesen werden konnte.“ Eine 
solche Angabe ist von mir nie gemacht worden. Es ist richtig, daB die 
A.-R. in den letzten zwei Monaten und insbesondere im letzten Monat 
der Schwangerschaft zumeist schwach ausfallt. Eine negative Re¬ 
aktion ist nur in ganz seltenen Fallen zur Beobaehtung gekommen. 


Berichtigung zu: „Ueber Spirochaten hei Endarteriitis syphili¬ 
tica des Gehirns u ini vorigen Heft dieses Archivs. 

Von 

F. Sioli. 

(Eingegangen um 30. November 1922.) 

In meiner Arbeit ,,die Spirochaete pallida bei der progressiven 
Paralyse" im Band 60 dieses Archivs steht S. 435 ein Druckfehler. 
Es muB dort Absatz 2, Zeile 3 statt Taf. VII lauten ,,Taf. IV“. Der 
Tafelhinweis gilt dem Fall 13 der damaligen Arbeit, die Figuren der 
Tafel VII aber gehoren zu Fall 16. Beide Falle von Paralyse batten auf- 
fjillige, aber unter sich verschiedene, Beziehungen der Spirochaten zu 
den GefaBwanden, der Fall 13 dazu cine auffallige Endarteriitis, 

') Verlag S. Karger, Berlin, 1920. 


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F. Sioli: Berichtigung. 


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der Fall 16 keine solche, aber die Ablagerung einer eigenartigen homo- 
genen Substanz in den GefaBwanden und ini Gehirngewebe. Der Druck- 
fehler des Tafelhinweises auf S. 435 geht aus andern Stellen der Arbeit 
hervor, z. B. S. 420, 426, 435 Absatz 4, 464. 

Hauptmann ist in seiner Arbeit ,,Spirochaeten und Hirnrinden- 
gefaBe bei Paralyse” (Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr., Bd 57) 
auf S. 167 und 168 auf meine Falle eingegangen und wurde durch den 
genannten Druckfehler veranlaBt, Angaben liber endarteriitische Er- 
scheinungen des Falles 13 auch auf den Fall 16 zu beziehen. Ich, der 
ich auch den Druckfehler noch nicht kannte, sah darin ein Versehen 
Hauptmanns und stellte es in meiner Arbeit ,,t)ber Spirochaten bei 
Endarteriitis syphilitica des Gehirns” im vorigen Heft dieses Archives 
auf S. 333 richtig. 

Nun schreibt mir Hauptmann in einem personlichen Brief, daB 
er den Vorwurf der Verwechslung der Falle 13 und 16 nicht als berechtigt. 
anerkenne und ,,wenn iiberhaupt eine Schuld vorliegt, was ich noch 
bezweifeln mochte, diese mindestens so viel auf Ihrer Seite liegt”. 

Hauptmann hat recht, das Versehen ist durch den Druckfehler 
im Tafelhinweis meiner Arbeit entstanden und die Schuld fallt mir zur 
Last; ich stelle das richtig unter besonderer Anerkennung der loyalen 
Art und Weise, in der Hauptmann die Aufklarung herbeigefuhrt hat. 

Sachlich ist die Aufklarung deshalb von Bedeutung, weil durch den 
genannten Druckfehler mein Fall 16 ev. erneut mit miBverstandlicher 
Bedeutung in die Diskussion der Beziehungen von Spirochaten zu 
endarteriitischen Erscheinungen gezogen werden konnte. Das Spiro- 
chatenvorkommen bei dem Fall von Paralyse mit endarteriitischen 
Erscheinungen, Fall 13 meiner friiheren Arbeit, und bei dem Fall von 
Endarteriitis im vorigen Heft dieses Archive ist ganz anders als das der 
vaskularen Spirochatenverteilung Jahnels, der Spirochatenumwallung 
und Durchwachsung der GefaBwande Hauptmanns, zu denen 
mein Fall 16 gehort; bei den letzteren Typen des Spirochatenvorkom- 
mens scheinen endarteriitische Erscheinungen nicht zu bestehen. 


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Biieherbesprechungen. 

Oswald Buinke, Das Unterbewulltseln. Eine Kritik. Berlin, Julius Springer, 
1922. 

In dieser often tlichcn Antrittsvorleaung beschaftigt sich Verfasser mit dem 
interessanten Problem des UnbewuBten. Er faBt seine Kritik dahin zusammen, 
daB die angeblich unbewuBtcn Vorgange zwar nur dunkel, aber doch noeh bewuBt 
auftreten, daB der Mensch sie nur — mit oder ohne sein Zutun — vergiBt oder 
auch vor sich und anderen verechweigt. Der anregende Vortrag sei sehr zur 
Lektiire empfohlen. S. 

Hermann Heymann, Lehrbuch der Irreiiheilkuiide fiir Pfleger und PFlegcrin- 
nen. Berlin, Julius Springer, 1922. 

Es ist ein erfreuliches Zeichen, daB heutigen Tages das allgemeine Interesse 
an der Entwicklung der Irrenpflege und der Ausbildung eines geeigneten und 
brauchbaren Pflegepersonals ein regeres geworden ist. Die Einrichtung von 
Krankenpflegerschulen hat auch auf den Ausbau der Irrenpflege giinstig gewirkt. 
Zur Erziehung eines zuverlassigen und geschulten Pflegepersonals, das beobachten 
lernt und den Arzt bei seinen Beobachtungen unterstiitzen kann, ist dieses Lehr¬ 
buch fiir Pfleger und Pflegerinnen geschrieben. Wer auf diesem Gebiet Unter- 
richt erteilt, weiB, wie schwierig es oft ist, bei der Darstellung sich nur auf das 
in das Wirken des Pflegepersonals fallende Gebiet zu beschranken. Auswahl und 
Anonlnung des Stoffes sind hier gut getroffen. Vielleicht erhebt sich die Frage, 
ob es angebracht ist, Krankenpf lege personal so in die Psycho pathologic einzu- 
fiihren, wie es in dem Buch zura Ausdruck kommt. Ich mochte diese Frage un- 
bedingt bejahen und rede einem solchen Unterricht das Wort in der festen l)ber- 
zeugung und gestiitzt auf die Erfahrung, daB ein bessercs Verstandnis des Pflege- 
personals fiir die Krankhcitserseheinungen dem Kranken in einer seiner Eigenart 
angepaBten Pflege zugute kommt. 

Die Teilgebiete der Medizin sind so ausgewachsen, daB sie auch besonders 
geschultes Pflegepersonal verlangen (z. B. Operationen, Sauglings- und Wochen- 
bettpflege, Geburtshilfe, Kinderpflege usw.). Von diesem Standpunkt aus ist 
das Erscheinen des vorliegcnden Buches als erwiinscht zu begriiBen. Wer nerven- 
und gemiitsleidenden Kranken in der Pflege wirklich nutzen soil, muB auch Kennt- 
nis haben von der vorliegenden Erkrankung. S. 

Karl Jaspers, Strindberg und van Gogh. Versuch einer pathographischen 
Analyse unter vergleiehender Heranziehung von Swedenborg und Hiil- 
derlin. Arbeiten zur angcwandten Psychiatric. Bd. V. Leipzig, Ernst Bircher. 

In fesselnder W'eise wird in diesem Buch die bei Strindberg vorhandene 
Geisteskrankheit analysiert, ohne iilier seine Bedeutung als Dichtcr ein Urteil 
zu fallen. Es wird gezeigt, wie diese Geisteskrankheit ein entscheidender Faktor 
in seiner ganzen Existenz und auf die Entwicklung seiner Weltanschauung ge- 
wesen ist und dadurch EinfluB auf den Inhalt seiner Werke gewonnen hat. 

Um dieser geistigcn Abweichung bei Strindberg einen besseren Hintergrund 


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Biicherbesprechungen. — Mitteilung. 


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7.u geben, wird er mit drei anderen hervorragenden Intellektuellen und Produk- 
tiven, die gleichfalls geistige Storungen aufwcisen, verglichen. In einem beson- 
deren Kapitel werden auBer dem ihm verwandten Swedenborg die anders gear- 
teten Falle Holderlins und van Goghs gegeniibergestellt. 

Gas Ergebnis dieser interessanten pathographischen Betrachtung finden wir 
in zwei Abschnitten zusammengestellt: iiber die Beziehung zwischen Schizo¬ 
phrenic und Wahn, sowie Schizophrenic und die Kultur der Zeit. Hier wird be- 
sonders das Verhaltnis der Produktivitat zum Krankhaften erortert. S. 

S. Auerbach, Die Difterentialdiagnose und Behandlung der verschiedenen 
Formen des Kopfschmerzes. Sammlung diagnostisch-therapeutischer Ab- 
handlungen. Heft 10. Munchen, Verlag der Arztlichen Rundschau Otto 
Gmelin, 1922. 

Verfasser, dem wir cine gute Monographic iiber den Kopfschinerz verdanken, 
bringt in diesem Vortrag eine auf reiche Erfahrung gestiitzte Darstellung der 
verschiedenen Formen des Kopfschmerzes und ganz besonders dem Bediirfnis 
des praktischen Arztes entsprechend seiner Behandlung. S. 

Theodor Friedrichs, Zur Psychologie der Hypnose und der Suggestion. Mit 
einem Vorwort von Arthur Kronfeld. Kleine Schriften zur Seelenforschung. 
H. 1. Stuttgart, Julius Piittmann, 1922. 

Friedrichs beschaftigt sich in seiner Schrift mit der einheitlichen psyeholo- 
gischen Erfassung der hypnotischen und suggestiven Phanomene. Ihn beschaftigt 
die Frage: welcher Art ist die affektive Bindung zwischen dem Suggerierten und dem 
Suggestor und welche psychologischen oder charakterologischen Voraussetzungen 
lassen eine solche Bindung wirksam werden? Nach ihm an Bert sich die Sug- 
gestibilitat in bestimmten archaistischen (friihen und primitiven) Erlebens- und 
Reaktionsweisen im Sinne der „Glaubigkeit“ und ihrer ,,magischen“ Symbolik. 
Diese Suggestibility stammt aus affektiver Quelle. Die suggestive Bindung ist 
in vieler Hinsicht analog der Liebesbindung anzusehen. S. 

Arthur Kronfeld, t'ber Gleichgcschiechtliehkelt (ErklUrungstvege und We- 

senschau). Kleine Schriften zur Seelenforschung 2. Stuttgart, Julius Piitt- 
mann, 1922. 

In diesem Vortrag setzt sich Verfasser mit dem Wesen der Gleichgeschlecht- 
lichkeit auseinander. Nach ihm ist sie fiir den Trager etwas WesensmaBiges, mit 
seiner Konstitution schicksalshaft verwachsen; sie ist nicht eine zufallige Per- 
vertierung der Seele und der Triebe, sondern sie entspricht einem notwendigen 
und tiefen Wesensbedurfnis in den Grundlagen des gesamten Menschen, der sie 
tragt. S. 


Mitteilung. 

Medizinisch-literari8che Zentralstelle. Der bisherige Leiter, Herr 
OI>erstabsaizt a. D. Berger, hat aus Gesundheitsrucksichten die Leitung 
der „Medizin.-literar. Zentralstelle* 1 niedergelegt. An seine Stelle ist 
deren langjiihriger Mitarbeiter, Herr Dr. M. Schwab, Berlin, getreten, 
der auch die Verwaltung der ,,Sonderdtuekzentrale“ ubernommen 
hat. — Alle Zuschriften nur'an: Dr. M. Schwab, Berlin W. 15. 
Pariser StraBe 3. 


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Sigbert Ganser, zum 24. Januar 1923. 


Von 

Georg Ilberg. 

Mit Freuden habe ich den Auftrag iibernommen, ein Lebensbild 
Gangers zu seinem 70. Geburtstag zu entwerfen, habe ich doch das Gluck 
gehabt, von 1887 biB 1891, erst an der 2. inneren Abteilung des Stadt- 
krankenhauses Dresden-Friedrichstadt, dann in der Dresdener Heil- 
uncl Pfleganstalt fiir Geisteskranke und Sieche sein Assistent zu sein 
und die letzten 10 Jahre mit ihm im Sachs. Landesgesundheitsamte 
zusammen zu arbeiten und immer wieder von ihm zu lernen. An Gamer 
war stets sein groBes Wohlwollen fiir die Kranken zu bewundern, und 
sein hervorragendes Gescbick, mit Geisteskranken umzugehen. Aus 
Dresden und Umgegend kommen in seine Abteilung fast alle, die ver- 
sucht haben, ihrem Leben ein Ende zu machen. UnvergeBlich ist es 
seinen Schiilern, wie er diese im Lebenskampfe Gestrandeten trotz 
ihrer Verstimmung und anfanglicher Ablehnung zum Erzahlen ihres 
Schicksals zu bestiramen weiB, wie er durch seine vertrauenerweckende 
Personlichkeit Geangstigte und Verzweifelte wieder aufzurichten ver- 
steht. Schnell iiberschaut er die Lebenslage jedes Kranken und paBt 
auf natiirliche Weise sein Verhalten dem Stand, dem Bildungsgrad 
und der psychischen Krankheit des einzelnen an. Stets hat er Zeit fiir 
seine Patienten; zu alien ist er freundlich, zu den einen mehr ernst, 
zu den andern mehr humorvoll. Mit vornehmer, giitiger Ruhe tritt er 
dem Aufgeregten, mit liebenswiirdigen Trostworten dem Schwermiitigen 
gegeniiber, mit aufmunternder Energie dem Willensschwachen. Jeden 
der vielen Trinker, die aus seiner Beobachtungsabteilung entlassen 
werden, belehrt und warnt er nochmals aufs eindringlichste, und keine 
Miihe laBt er sich verdrieBen, die Angehorigen der Kranken aufzu- 
klaren und zu berateu. 

VVer die psychiatrische Abteilung des Friedrichstadter Kranken- 
hauses in den Jahren 1886—1889 gekannt hat, weiB, wie unzuliinglich 
und ungeeignet die auBeren Verhaltnisse damals waren. Nur durch 
die strengste Ordnung war es iiberhaupt moglich ; Geisteskranke liier 
zu behandeln; da immer Platz fiir neue und schwere Falle sein muBte, 
war eine schnelle Beurteilung und Weiterleitung notig, mit unermiid- 
Archiv fiir Psychiatric. Bd. 67. 24 


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358 


G. Uberg: 


lichem FleiB und groBer Urteilsscharfe bewaltigte Ganser diese Auf- 
gabe. Es waren ihm aber damals nicht nur die Geisteskranken an- 
vertraut. Unter seiner Leitung stand noch eine groBe Abteilung fur 
Nervenkranke und chronisch innere Kranke, und gerade die aller- 
schwersten Falle von Tuberkulose, unheilbarem Unterleibskrebs usw. 
waren hier arztlich zu versorgen ; nicht ganz mit Unrecht vertraute die 
Verwaltung gerade diese Kranken, denen nicht mehr zu helfen war, 
denen ihr trauriges Schicksal aber doch in vieler Hinsicht erleichtert 
werden konnte, den Psychiatern an. Kein Geringerer als Kraepelin 
war ubrigens, ehe er an die Universitat Dorpat berufen wurde, der 
Vorganger Gansers gewesen und hatte dessen Berufung nach Dresden 
vermittelt. Beide haben die Plane der schonen Beobachtungsabteilung 
der Dresdener Heil- und Pfleganstalt ausgearbeitet, in die wir 1889 
mit der psychiatrischen Abteilung umzogen. Eine ungemein schwere 
Arbeit fiel Ganser nun zu, denn er hatte zunachst mit nur 2 bis 3 As- 
sistenten die arztliche Leitung der ganzen Anstalt, zu der auBer der 
Beobachtungsabteilung mehrere groBe Gebaude mit chronisch Geistes¬ 
kranken und chronisch korperlichen Kranken gehorten, zu besorgen. 
Nach und nach hat sicli der Krankenbestand immer mehr vergroBert, 
die Zahl der Assistenten wurde vermehrt und die Abteilungen der 
chronisch Geisteskranken sowie der korperlich Siechen wurden selb- 
standig gemacht. Am Ausbau dieser umfangreichen stadtischen An¬ 
stalt und ihren neuzeitlichen Einrichtungen ist Ganser bis zur Gegen- 
wart in erster Linie beteiligt gewesen. Seit 1908 ist ihm im Speziellen 
die Beobachtungsabteilung unterstellt, die an Bedeutung einer Uni- 
versitatsirrenklinik entspricht, aber eine wesentlich groBere Aufnahme- 
zahl hat als die meisten psychiatrischen Kliniken: gegen 1500. Gansers 
Klugheit, Sorgfalt, Menschenfreundlichkeit und seiner groBen Energie 
ist es zu verdanken, daB seiner Anstalt alle die Fortschritte, die die 
Irrenbehandlung und Irrenpflege in den letzen 36 Jahren gemacht hat, 
zugute gekommen sind. Von seiner Assistentenzeit bei Gudden war es 
ihm in Fleisch und Blut iibergegangen, daB Rippenbriiche, Ohrblut- 
geschwiilste und Druckbrand auch bei fortgeschrittener Schwache ver- 
rnieden werden konnen, was Ende der achtziger Jahre in Dresden noch 
keineswegs bekannt war. Er sorgte fur Bettbehandlung, gute Lagenuig 
und untersuchte grundsatzlich jede Beschwerde, die ein Kranker vor- 
brachte. Sehr besorgt war er fiir gute Ernahrung und saubere Kleidung 
der Kranken, jede Unordnung bemerkte er auf seinen Rundgangen 
und stellte sie ab. Sehr schwer war es in den ersten Jahren, zuverlas- 
siges Pflegepe'rsonal zu bekommen. Es gab damals keinerlei Berufs- 
vorbildung fiir Pfleger und Pflegerinnen. In irgendeinem anderen Beruf 
stellenlos Gewordene meldeten sich zur Krankenpflege, und es war l>ei 
dem haufigen Wechsel des Personals oft sehr muhevoll, einen richtigen 


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Sigbert Ganser, zum 24. Januar 1923. 


359 


Krankenpflegedienst aufrechtzuerhalten. Aber auch diese Schwierig- 
keiten hat Ganser einerseits durch Bestimmtheit, andererseits durch 
Belehrung und vor allem durch das eigne gute Beispiel strengster 
Pfhchterfiillung iiberwunden. Es ist heute noch nicht iiberall iiblich, 
die Geisteskranken auch korperlich so genau zu untersuchen, wie dies 
Ganser tut; jeder von den vielen Neuangekomraenen wird nicht nur 
iiber seine Vorgeschichte von ihm befragt und psychisch gepriift, dies 
geschieht auch neurologisch und somatisch. Von sich selbst verlangt 
Ganser sehr viel, auch an seine Assistenten stellt er groBe Anforderungen; 
wer aber seine Pflicht tut, hat auch die Freude, mit groBeren Aufgaben 
betraut zu werden. Ganser besitzt die Kunst zu dirigieren, er stellt 
seine Mitarbeiter an, erzieht seine jungen Hilfskrafte und versteht sie 
fur die Psychiatrie zu interessieren. Bei der Krankenuntersuchung 
halt er streng wissenschaftliche Methoden ein und bedient sich aller 
modernen Hilfsmittel. Trotz seiner groBen Sparsamkeit scheut er sich 
nicht, auch kostspielige Behandlungsarten anzuwenden oder umfang- 
reiche Anderungen in den Anstaltseinrichtungen einzufiihren, wenn sie 
ihm notig und niitzlich erscheinen (Dauerbader, Liegehallen, hirnpatho- 
logisches Laboratorium, Weilerschen Pupillenuntersuchungsapparat u. 
dgl.). Die Grundsymptome jeder einzelnen Erkrankung analysiert er 
sorgfaltig, er wiirdigt aber auch Eigenart und Charakter des ganzen 
Menschen. Ein Lieblingsthema seiner Studien ist die Hysterie, die in 
ihren verschiedensten Formen beim Dresdener Krankenmaterial auBer- 
ordentlich haufig ist. Ganser veroffentlichte 1895 in der Allg. Zeitschr. 
f. Psychiatr. eine Arbeit iiber hysterische Psychose, 1897 schrieb er im 
Arch. f. Psychiatr. Bd. 30 seine beriihmte Arbeit: t)ber einen eigen- 
artigen hysterischen Dammerzustand, in demselben Jahr hielt er in der 
Vereinigung mitteldeutscher Psychiater und Neurologen einen Vortrag: 
Ober eine besondere Form des hysterischenDammerzustandes, und 1902 
in derselben Vereinigung: Zur Lehre vom hysterischen Dammerzustand, 
eine Arbeit, die er 1904 im 38. Bd. des Arch. f. Psychiatr. veroffent- 
licht hat. Es folgte im Jahre 1912 eine weitere Arbeit iiber Hysterie 
in der Munch. Med. Wochenschr. Die ungeheure Zahl der Alkohol- 
kranken in seiner Anstalt hielt sein arztliches und menschliches Interesse 
an dem Alkoholelend unseres Volkes dauernd wach und hat mehrfache 
Arbeiten und Vortrage gezeitigt, 1901: Die Trunksucht eine heilbare 
Krankheit (Vortrag in der Jahres versa mmlung des sachsischen Landes- 
verbandes gegen den MiBbrauch geistiger Getranke in Dobeln), 1902: 
Mord im Sauferwahnsinn (Allg. Zeitschr. f. Psychiatr. Bd. 59, S. 542). 
1907 veroffentlichte er in der Munch, med. Wochenschr. einen thera- 
peutisch iiuBerst wichtigen Aufsatz zur Behandlung des Delirium tre¬ 
mens; dank sorgfaltigster Pflege und Verordnung verschiedener Herz- 
mittel gelang es Ganser, die Zahl der Todesfalle im Sauferwahnsinn 

24* 


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360 


G. Ilberg: 


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ganz erheblich herabzusetzen. Von 1909 stammt seine Arbeit iiber 
Alkohol und Geisteskrankheiten (Alkoholfrage VI, 1—23). Person- 
lich gibt er Kranken und Gesunden schon langst das Beispiel totaler 
Abstinenz. —In der Festschrift zur Feier des 50jahrigen Bestehens 
des Stadtkrankenhauses zu Dresden-Friedrichstadt, 1899, Verlag von 
Baensch in Dresden, hat Oanser ferner eine bedeutungsvolle Arbeit: 
Die neurasthenische Geistesstorung (ref. im Neurol. Zentralbl. 1900) 
veroffentlicht. 1908 sprach er im Verein zur Fiirsorge fiir Strafent- 
lassene im Konigreich Sachsen vom psychiatrischen Standpunkt zum 
Entwurf eines Gesetzes iiber die Fiirsorgeerziehung. In demselben 
Jahre hat er zur Kasuistik der Akromegalie, der Tabes dorsalis und 
der hereditaren Ataxie Beitrage geliefert (Miinch. med. Wochenschr. 
1908), und von 1910 stammt sein Vortrag auf der 16. Versammlung 
mitteldeutscher Psychiater und Neurologen iiber die Behandlung der 
unruhigen Geisteskranken (Arch. f. Psychiatr. 49. Bd., S. 637). — 
Eine ungeheure Zahl von psych iatrischen Gutachlen hat er im Laufe 
der Jahrzehnte bewaltigt. Bei der forensischen Begutachtung unter- 
stiitzt ihn seine Exaktheit, seine Welt- und Menschenkenntnis und 
seine genaue Bekanntschaft mit den gesetzlichen Bestimmungen. Da- 
bei ist er mild und giitig und verkennt die guten Seiten nicht, die 
schlieBlich auch am Verbrecher zu finden sind. Mit groBem Entgegen- 
kommen hat sich Gamer auch den Zielen der forensisch-psychiatrischen 
Vereinigung in Dresden gewidmet. Er hat hier oft geistvoile Vortrage 
gehalten und in geradezu klassischer Weise Kranke demonstriert. 
Nicht nur die Juristen, auch die Gerichtsarzte und Psychiater konnen 
viel von den in mustergiiltiger Ruhe und Geschicktheit ausgefiihrten 
Krankenvorstellungen lernen. Von Vortragen in der forensisch-psychia- 
trischen Vereinigung sind zu nennen: 1894: Ober die Methoden der 
psychischen Untersuchung; eine wiederaufgehobene Entmiindigung 
wegen Querulantenwahnsinns, 1895: t)her Wahnideen; iiber Hypnose: 
iiber die Mariaberger Angelegenheit, 1922: Die Gesundheit des deutschen 
Volkes vor und nach dem Kriege. Es ist nicht zu verwundern, daB ein 
so bedeutender Mann auch in der Privatpraxis hochgeschatzt ist. In 
Dresden, ja im ganzen Lande wird er oft als Konsiliarius begehrt. 

Es ist charakteristisch fiir Gamer, daB er sich in all den Jahren 
seiner Dresdener Tatigkeit nicht nur mit Psychiatrie und Neurologie 
besehaftigt, sondern seinen weiten Blick auf die gesamte Medizin ge- 
richtet hat. Das tritt namentlich in seiner regelmaBigen Teilnahme 
an der Dresdener Gesellschaft fiir Natur und Heilkunde, deren Vor- 
sitzender er jahrelang war, hervor. Auch hier hat er mehrfach Vor¬ 
trage gehalten, z. B. 1886/87 iiber Simulation von Geisteskrankheiten, 
1894 iiber einige Symptome der Hysterie und iiber die Beziehungen 
der Hysterie zum Alkoholisinus. — In alien den genannten Vortragen 


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Sigbert Ganser, zum 24. Januar 1923. 


361 


und Veroffentlichungen ist aber nur ein kleiner Teil der Lehrtatigkeit 
Gansers zu erblicken. Ungefahr 100 Assistenzarzte und Volontararzte 
ha ben in all den Jahren seiner Dresdener Tatigkeit von ihm gelernt. 
Er selbst war von 1881 bis 1884 Privatdozent fiir Psyehiatrie an der 
Universitat Miinchen, und aus der Miinchener Zeit stammen seine vor- 
trefflichen anatomischen Arbeiien : Vergleichende anatomische Studien 
liber das Gehirn des Maulwurfs (Morpholog. Jahrb. VII); Uber die vor- 
dere Hirncommissur der Saugetiere (Arch. f. Psychiatr. 9. Bd.); Zur 
Anatomie der Katzenretina; tTber die Anatoiuie des vorderen Hiigels 
vom Corpus quadrigeminum (Vortrag in Baden-Baden am 5. Juni 1880 
— Arch. f. Psychiatr. 11. Bd.); Uber die periphere und zentrale An- 
ordnung der Sehnervenfasern und iiber das Corpus bigeminum anterius 
(Arch. f. Psychiatr. 13. Bd., 1882), endlich der gemeinsame Beitrag 
von Ford, Mayser und Ganser zur Festschrift Nageli-Kolliker: tTber 
das Verhaltnis der experimentellen Atrophie- und Degenerations- 
methoden zur Anatomie und Histologie des Zentralnervensystems. Ur- 
sprung des 9., 10. und 12. Hirnnerven, Zurich 1891 (A. Muller). Auch 
in dem schonen VVerk Grasheys : Bernhard v. Guddens gesammelte und 
hinterlassene Abhandlungen, Wiesbaden 1889 (Johann Friedrich Berg- 
rnann) finden sich im Text ehrende Erwahnungen der Mitarbeit Gansers, 
von dem in den Tafeln mehrere meisterhafte Zeichnungen wiederge- 
geben sind, z. B. zu folgenden Abhandlungen: Experimentalunter- 
suchungen iiber das peripherische und Zentralnervensystem, iiber die 
Frage der Lokalisation der Funktionen der GroBhirnrinde, iiber die 
Kreuzung der Fasern in Chiasma nervorum opticomm, Beitrag zur 
Kenntnis des Corpus mammillare und der sogenannten Schenkel des 
Fornix, iiber die verschiedenen Nervenfasern in der Retina und dem 
Nervus opticus, Augenbewegungsnerven. 

Bei dem groBen Wissen und Kbnnen und der jugendlichen Frische 
des Jubilars ist zu hoffen, daB er die Mit- und Nachwelt noch mit wei- 
teren Mitteilungen aus dem gewaltigen Beobachtungsmaterial be- 
schenkt, das seine Anstalt bietet. Ubrigens sind viele seiner Gedanken 
in den wissenschaftlichen Arbeiten seiner Schiiler niedergelegt. In den 
verschiedenen medizinischen, neurologischen und psychiatrischen Ver- 
einigungen, denen er angehort, hat sich Ganser in der Diskussion als 
glanzender, schlagfertiger Redner bewahrt, der, wenn er sich fiir eine 
Sache begeistert oder iiber einen Vorgang entriistet, sich nicht nur 
lebhaft- und frisch, sondern auch karapfesfroh und kampfesmutig zeigt. 

Allezeit ist Ganser ein treues Mitglied des drztlichen Slandes ge- 
wesen. Fiir die Standesehre trat er bei vielen Gelegenlieiten kraftig 
ein. Stets betont er die Rechte der Arzte und tritt, wer es auch sei, 
dem entgegen, der Anforderungen an die Arzte stellt, die ihm unberech- 
tigt erscheinen. 


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362 


G. Ilberg: Sigbert Ganser, zum 24. Januar 1923. 


Hoch zu bewerten ist endlich die Tatigkeit Gansers im Landes- 
gesundheitsamt. Hier tritt seine Vielseitigkeit und sein weiter Gesichts- 
kreis deutlich hervor. Nicht nur wissenschaftlichen Fragen, nein auch 
solchen der Medizinalverwaltung bringt er groBes Interesse entgegen. 
An der Verbesserung aller Wohlfahrtseinrichtungen nimmt er teil. 
Seine eignen psychiatrischen Gutachten zeichnen sich durch groBe 
Griindlichkeit aus; die Fragen der Gerichte und Behorden beantwortet 
er mit logischer Scharfe, aber nicht starr dogmatisch, sondern in Er- 
fassung des tieferen Sinnes der gesetzlichen Bestimmungen und unter 
Beriicksichtigung der individuellen Eigenart des zu Begutachtenden, 
seiner Familiengeschichte, des Einflusses seiner Umgebung und vor 
allem niemals ohne menschliche Empfindung. Auch das Landesgesund- 
heitsamt hofft, daB ihm die Mitarbeit dieses ausgezeichneten anreg- 
baren und anregenden, besonders tatkraftigen Mitglieds noch lange 
erhalten bleiben raoge. 

t)ber den Lebensgang des Jubilars ist noch zu erwahnen, daB Sig¬ 
bert Joseph Maria Ganser am 24. Januar 1853 in Raunen (Bernkastel) 
als Sohn eines Kgl. PreuB. Notars das Licht der Welt erblickte. Seine 
Kinderzeit verlebte er in Prim (Eifel), das Gymnasium besuchte er in 
Munster (Eifel), und auf den Universitaten Wurzburg und StraBburg 
studierte er. Nachdem er kurze Zeit an der Psychiatrischen Klinik in 
Wurzburg Assistent von Professor v. Rinecker gewesen war, war er 
von 1877 bis 1884 bei Bernhard v. Gudden in Miinchen, wahrend der 
letzten drei Jahre als Privatdozent der Miinchener Universitat. Dann 
war er 2 Jahre lang als Oberarzt an der Brandenburgischen Landes- 
anstalt Sorau N.-L. unter Direktor Adolf Schmidt tatig. Seit 1886 hat 
er den groBten Teil seiner Arbeitskraft der Stadt Dresden gewidmet. 
1908 wurde er zum Geheimen Sanitatsrat, nach Berufung als ordent- 
liches Mitglied ins Landesgesundheitsamt zum Geheimen Medizinalrat 
ernannt. Er erhielt den PreuBischen Kronenorden, das Ritterkreuz 
I. Klasse des Albrechtsordens mit der Krone, sowie das Kriegsverdienst- 
kreuz. 1922 wurde ihm die Dienstbezeichnung Direktor der 1. Ab- 
teilung der Stadtischen Heil- und Pfleganstalt zu Dresden gegeben. 

Seit 1889 fuhrt Ganser ein sehr gliickliches Familienleben mit 
seiner liebenswiirdigen, vortrefflichen und welterfahrenen Frau Mary 
geb. Cloete-Brown; eine Tochter lebt, ein hoffnungsvoller Sohnstarb 
zum groBten Schmerz seiner Eltern an den Folgen einer Verwundung, 
die er im Weltkrieg erlitten hatte. 

Wir, seine Schuler, wiinschen dem hochverehrten Jubilar zu seinem 
70. Geburtstag, daB ihm seine Frische und Tatkraft noch recht lange 
erhalten bleibt und daB er den Abend seines arbeitsreichen Lebens im 
Gefiihl innerer Befriedigung froh genieBen kann. 


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Multiple Verodungen in der Hirnrinde. 

(Herrn Gehehnen Medizinalrat Dr. Ganger zum 70. Geburtstage.) 

Von 

Georg Ilberg. 

[Mit 2 Textabbildungen. 

(Eingegangen am 12. Dezember 1922.) 

Spielmeyer hat in seiner Histopathologie des Nervensystems die 
groBe Bedeutung durch zirkulatorische Storungen bedingter Verodungen 
fur das anatomische Bild arteriosklerotischen Irreseins hervorgeboben 
und betont, daB das pathogenetisch Wesentliche der Verodungen ist, 
daB die GefaBerkrankung nicht einen volligen VerschluB herbeifiihrt, 
sondern allmahlich eine hochgradige Verengerung. Solche Verodungs- 
herde finden sich bei Arteriosklerose, aber auch bei GefaBsklerose 
anderer Art, z. B. bei GefaBlues; das hochdifferenzierte und deshalb 
empfindliche Nervengewebe leidet Not, die Glia aber bleibt erhalten 
und proliferationsfahig. Solche Verodungsherde sah Spielmeyer in der 
Regel in einer Windung oder in einer Windungsgnippe dicht beieinander 
liegend. Sie hatten haufig Sektorenform mit der Basis an der Ober- 
flache. Die Randzone war entsprechend der Atrophie der narbigen 
Schrumpfung oft eingezogen. Tiefer in der Rinde hegende Verbdungs- 
bezirke lieBen ein Zusammenriicken der umgebenden Gewebsteile, 
Schiefstellung der Ganglienzellen, Verzerrung der Schichten gegen den 
Herd u. dgl. erkennen. Die Ganglienzellen wurden anfangs nur kleiner, 
spater gingen diese in einfache Schnxmpfung, Sklerose und Verfettung 
iiber. In den Gliafaserwucherungen solcher Verodungen sah man keine 
gemasteten Gliaelemente oder Monstregliazellen, die Gliazellen hatten 
mehr eine kurze, stabchenformige Gestalt oder die kleiner Spinnen- 
zellen mit schmalen Fortsatzen. Kornchenzellen waren iiberaus selten. 
Die Wand der erkrankten GefaBe war meist hyalin verdickt. Mitten im 
Gliafilz der keilformigen Herde waren Netze von Mesenchymfasern 
ausgespannt. Neben den Verodungen lagen oft in der gleichen Win- 
dung kleine Erweichungen. — AuBer und neben den glios-faserigen 
Herden sah Spielmeyer in der Rinde wie im Mark noch andere Lich- 
tungsbezirke, in denen die Glia nicht gewuchert ist. An solchen Stcllen 
der Hirnrinde waren die Nervenzellen verkleinert, auffallend schmal 
oder auch sklerotisch, oft waren sie aus ihrer Stellung gebracht. Es 
handelte sich weder um eine Zunahme der Gliafasern noch um eine 
Vermehmng der Gliazellen; die Gliaelemente erschienen nur relativ 


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364 


G. Ilberg: 


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vermehrt, wenn das ganze Gebiet etwas zusammengeriickt war; hier 
handelt es sich also um Fehlen einer gliosen Reaktion bei Parenchym- 
schwund. Zweifellos sind die kleinen. umschriebenen Verodungen in 
einer Windung abhangig von den Eigentiimlichkeiten des corticalen 
GefaBsystems. Sie sind die Folgen nnzureichender Ernahrung. 

Kraepelin erwahnt in der 8. Auflage seines Lehrbuchs, Band II, 
Seite 620, daB bei seniler Arteriosklerose vorzugsweise die kleinen von 
der Oberflache her in die Rinde eintretenden GefaBe befallen zu werden 
pflegen und daB hier ein ganz allmahlicher VerschluB der GefaBe ein- 
tritt, so daB es gewohnlich weder zu Blutungen, sondern zu einem ein- 
fachen Schwund der nervosen Gewebsbestandteile komrat, wodurch 
jene Verodungen entstehen, die von Alzheimer als senile Hirnverodungen 
beschrieben worden sind. In der von Kraepelin mitgeteilten Figur 141 
erkennt man den strangformigen, umschriebenen Ausfall von Nerven- 
zellen im Zuge eines von der Oberflache her die Rinde durchziehenden 
kleinen GefaBes. In Figur 142 erblickt man an zahlreichen Stellen 
kleine Einziehungen der Oberflache, unter denen tief in die Rinde 
hineinreichende keilfdrmige Ausfalle von Nervenzellen erkennbar sind. 
Die Ausbreitung der Rindenveranderungen ist in der Regel keine gleich- 
maBige, sondern mehr inselformig. Die einzelnen Hirngebiete pflegen 
in verschiedenem Grade befallen zu sein. Haufig finden sich unmittelbar 
neben stark gekrummten Partien andere, die nahezu gesund erscheinen. 
Auch bei der Alzheimer* chen Krankheit, bei der es sich um die lang- 
same Entwieklung eines ungemein schweren geistigen Siechtums mit 
den verwaschenen Erscheinungen einer organischen Hirnerkrankung 
handelt, die zuweilen schon im Senium praecox auftritt, bietet der 
Leichenbefund Veranderungen dar, die schwerste Formen der senilen 
Verodungen darstellen. 

Wenn ich einen einschlagigen, in der Heil- und Pflegeanstalt Son- 
nenstein beobachteten Fall mitteile, vermag ich zu der schwierigen 
Fragc keine Stellung zu nehmen, ob es sich in diesemFall umNekrosen 
handelt, die im Sinne Spielmeyers noch nicht der Colliquation verfallen 
sind, oder um Lichtung und herdformige Verodung mit einfacher, bzw. 
degenerativer Atrophic, oder um Herde, in denen das rein nervose 
Gewebe nekrobiotisch zugrunde gegangen ist, wahrend der Gewebs- 
grund geronnen und schollig erscheint (koagulierte Verodungsherde). 
Eine einfache Darstellung des klinischen und histologischen Befunds 
ohne weitere theoretische Erwagungen scheint mir das zweckmaBigste 
zu sein. Wir Anstaltsarzte wollen iiber derartige Falle nur berichten, 
um denen Material zu unterbreiten, die in der Lage sind, weitergehende 
Schliisse daraus zu ziehen. 

Yorgeschichte: Frau R. J. ist 1860 geboren. 'Ihr Vater starb mit 43 Jahren 
an Geisteskrankheit (angeblicb Gebirnerweichung). Sie batte mit 15 Jahren 


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Multiple Verodungen in der Himrinde. 


365 


Gelenkrheumatismus und war danach herzkrank. Auch magenkrank war sie eine 
Zeitlang. Vielfach litt sie an Ohnmachten und Blutarmut. Geistig entwickelte 
sie sich normal, heiratete mit 19 Jahren, gebar ein Kind, das von Jugend an ge- 
lahmt war, nicht laufen konnte und im Alter von 20 Jahren starb. Die Ehe war 
gliicklich, aber namentlich seit der 1910 erfolgten Pensionierung des Mannes 
sorgenvoll. Seit 1915 war Frau R. J. sehr nervos und rechthaberisch, geistig 
ging sie nach und nach zuriick. Ende 1918 magerte sie unter den Emfihrungs- 
schwierigkeiten des Kriegs sehr ab und brach zuweilen ohnmachtig zusammen. 
Sie machte sich ungeheuer viel Sorgen und untemahm im April 1919 einen ener- 
gischen Selbstmordversuch, indem sie sich mit einem Hammer sehr heftig auf 
den Kopf schlug. Danach war sie einige Zeit bewuBtlos. In der Folgezeit be- 
nahm sie sich kindisch, spielte mit Steinen, redete irre, hielt sich fiir vollstandig 
verarmt und quillte sich mit Versiindigungsideen. Anfang Juli suchte sie sich 
zu erdrosseln. Sie war gehemmt in ihren Bewegungen, sprach nur davon, daB 
sie ihre Familie an den Bettelstab gebracht habe und ins Gefflngnis gehore. Wieder- 
holt traten Ohnmachtsanfalle auf. Am 30. VIII. 1919 Aufnahme in die Heil- 
und Pfleganstalt Sonnenstein. 

Krankhcitsverlauj: Das Korpergewicht betrug bei der 165 cm langen Frau 
nur 34 kg. Die korperliche Untersuchung ergab schlechte Ernahrung und Blut¬ 
armut, groBe strahligo Xarbe an der Stirnhaut (s. o.), Verstrichensein der linken 
Nasenlippenfalte, leichtes Zittem der Zunge. Gang schwankend. Etwas Strabis¬ 
mus divergens. Verlangertes Exspirium. Schwache Herzaktion. Fehlen der 
Bauchdeckenreflexe. Bewegungen der Glieder kraftlos. Xarben von abgeheiltem 
Decubitus. Urin hellgelb, klar, frei von EiweiB und Zucker. Leichtes (idem 
der FiiBe. Die sehr erschopfte Kranko war schwer beftngstigt und muBte erst 
beruhigt werden, ehe sie imstande war, Antwort zu geben. Sie war orientiert 
iiber ihre Person, Zeit und Ort, gab an, woher ihre Stirnnarbe herriihrte, sagte, 
sie sei schon seit lfingerer Zeit sehr matt und sei zuweilen umgefallen, ftngstige 
sich iiber ihr und ihrer Familie Auskommen und ha lie sich aus Verzweiflung 
selbst mit einem Kohlenhammer geschlagen, als sie kurz vorher umgefallen ge- 
wesen sei; sie habe sterben wollen. Auch in der Anstalt machte sich die Patientin 
schwere Vorwiirfe, hatte Versiindigungsideen und heftige Angstzustande. Xach 
einiger Zeit wurde sie ruhiger und jammerte nur zeitweise, blieb aber dauernd 
gedriickt, driingtc fort, hatte keine Krankheitseinsicht. In ruhigeren Zeiten 
konnte man iiber ihr Vorleben Auskunft von ihr erlangen. Sie rechnete gut und 
verfiigte iiber geniigendes Schulwissen. Im Herbst 1919 machte Frau R. J. eine 
Pleuritis durch. Andauemd blieb sie deprimiert und geangstigt. Im Friihjahr 
1920 besserte sich ihr Befinden etwas, das Korpergewicht nahm auch zu. Sie 
blieb aber sehr still, verharrte in miBmutiger Stimmung und zeigte deutlichen 
Schwachsinn. Im Sommer 1920 anderte sich das Krankheitsbild nicht. Patientin 
meinte, sie sei im Zuchthaus, aB oft schlecht, starrte triibe vor sich hin, nahm 
keinen Anted an den Vorgangen der Umgebung. Auch im Winter 1920/21 
blieb sie unzuganglich, gehemmt und zeigte sich dement. Am 18. Februar er- 
krankte sie mit leichtem Fieber und Entziindung der Gaumenbogen, an die sich 
eine Schwellung der linken Ohrspeicheldriise anscldoB. Sie wurde iminer sellwacher 
und starb am 20. II. 1921. 

Selction, 11 Stunden nach Tod vorgenommen, ergab folgendes: Fettgewebe 
leidlich entwickelt, Muskulatur schlaff. hellbraun. groBe alte Hautnarbe an Stirn. 
Schadeldach ohne Veriinderungen. GefaBe an Him basis zart. Hirnwindungen 
und Rindensubstanz teilweise schmal. Marksubstanz zeigt Fiillung und Klaffen 
der GefaBe. Herzbeutelbliitter initeinander verklebt. Herz vergroBert, Endokard 
glatt. Herzmuskulatur gelblich-blaBbraun, morsch, durchsetzt von gelben Streifen 


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366 


G. Ilberg: 


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und Flecken. Mitralklappen verdickt. Anfangsteil der Aorta und innere Haut 
der Kranzadem zeigen gelbe Flecken und Streifen. Alte pleuritische Verwach- 
aung beiderseits. Unterer Teil des Oberlappens blutreich. Schilddriise klein. 
Milz 13:6:4, morach, Kapsel stellenweise verdickt. Leber 25:18:5, Oberflacha 
stark gerunzelt, derbe Konsistenz, Schnittflache uneben, hellgelb gefleckt. Magen 
von Sanduhrform, zeigt alte strahlige Narbe. Nieren in Fettmasse eingebettet. 
Bindegewebskapsel nur mit Substanzverlust abziehbar, Oberfluche hockerig, derb, 
JDurchschnitt zeigt verschmalerte Rinde, kleine Infarktnarben, undeutliche Zeich- 
nung. Nierenbecken erweitert. Nebennieren derb, mittelgroB. Ovarien atro- 
phisch. Auf Uteruaachleimhaut Blutung. 

Mikroskopische L’ntersuchung der Hirnrinde: 

Toluidinbla ufarbu ng, Zen tralwindu n g. 

ZeiB, Okular 4, Objektiv 16: Pia nicht verdickt. Schon bei achwacher Ver- 
groBerung aieht man innerhalb der Ganglienzellenachicht, und zwar in verschie- 
denen Tiefen deraelben zahlreiche kleine und ganz kleine belle Herde, in denen 
die Ganglienzellen zugrunde gegangen aind. Diese ,,verikieten“ Stellen enthalten 
Zellen in sehr atark verminderter Anzahl; ganz zello8 aind aie nicht. In der Um- 
gebung ist die Zellarchitektonik offenbar durch Verzerrungen und Verschiebungen 
gestort. In derartigen verodeten Herden finden aich oft pigmentreiche Zellen. 
Auf einem Schnitt von 1 qcm GroBe, der aenkrecht durch die Hirnrinde geht, 
aind ohne weiterea 13 solcher Verodungsherde zu unteracheiden; hierbei ist eine 
Reihe sehr kleiner Verodungsstellen nicht mitgerechnet. Weitaus die meisten 
von ihnen befinden aich in der Tiefe der Ganglienzellenachicht; rnanche liegen 
in der ftuBersten Schicht der Hirnrinde, andere in der mittleren. Die Betzachen 
Zellen zeigen auBerhalb dieser Herde normale NiBlkorperchen und ziemlicli hellen 
Kern, manchmal aber ist der Kern hellviolett und der groBte Teil des Zelleibs 
diffua dunkelviolett. In der Ganglienzellen- und der auBersten Rindenschieht 
bemerkt man stark gewundene und auch kernreiche GefiiBe. Viele von oben in 
die Hirnrinde einmiindende Arteriolen zeigen ein verengtes Lumen. Neben den 
Arteriolen der Marksubstanz, namentlich in den Verfistelungsstellen, liegt oft 
reichlich grimes Pigment. Neben einem quergetroffenen, mit Blut gefullten, nicht 
verengten GefaB der unteren Ganglienzellenschicht liegen pigmentreiche Kugeln; 
auch finden sich runde, blasse, kernlose Kugeln in der Nit he der GefiiBe. Manche 
groBeren, quergetroffenen GefaBe — auch aolche mit verengtem Lumen — zeigen 
eine gefaserte Struktur. Neben den mehr graugriinen Pigmentkugeln liegen auch 
scharfgriine brockelige Elemente neben groBeren GefiiBen. An manchen Stellen 
zeigt das GefiiB geringe oder stftrkere aneurysmatische Auftreibung. In einem 
Verodimgsherd liegt ein Haufen blaugriines Pigment. 

Ok. 4, Immersion 2,0: Zwischen den beschriebenen Herden zeigen die Gan¬ 
glienzellen meist einen ziemlicli hellen Kern mit dunklem Kernkorperchen und 
undeutlicher Kernmombran. Der Zelleib ist stellenweise dunkel, stellenweise 
hellviolett und laBt tigroide Substanz— oft in Punkten und Streifen—erkennen. 
Sodann kommen Ganglienzellen mit blassem, schattenhaftem, etwas wabigem 
Zelleib ohne Kern vor. wenn auch nicht sehr hftufig. Endlich finden aich ge- 
achrumpfte Ganglienzellen mit diffua dunklem Zelleib, der in dem ebenfalls dunk- 
len Kern schwer abzugrenzen ist; inmitten des Kerns liegt das dunkle Kern¬ 
korperchen. In der Ganglienzellenschicht liegen mehr oder weniger zahlreiche 
kleinere dunkle und groBere blasae Gliakenie auch als Trabantzellen neben den 
Ganglienzellen. In dem Gebiet zwischen den Herden sieht man stark gekriimmte 
GefiiBe und Capillaren. In ersteren sind die Endothelkerne oft stark vermehrt, 
so daB das Lumen verengt wird. Auch die Kerne der Media sind vermehrt. Neben 


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Multiple Verodungen in der Hirnrinde. 


367 


den Gef&Ben und Capillaren, zuweilen auch in der GefaBwand selbst, griinliches 
Pigment und Gbakeme in perlschnurartiger Anordnung. — Die Herde entbehren 
der Gangbenzellen fast ganz; nur einzelne Reste sind vorhanden und zeigen ge- 
sclirumpften Zelleib. Oft Uegen an ihnen zahlreiche Gbazellen. Im iibrigen er- 
kennt man in den Herden sehr zahlreiche blasse Gbazellen, teils vereinzelt, teils 
zu mehreren beieinander Uegend. — In den Herden sieht man femer sich mehr- 
fach ver&stelnde, zarte Capillaren, neben denen blasse Gbazellen liegen. An der 
GefaBwand blaugriine Pigmentpunkte. — Neben den Herden liegen auch langs- 
getroffene, weniger zarte Capibaren, die reichhche l&ngbche Kerne aufweisen. 
Inmitten einiger Herde begt eine kleinere oder groBere Masse griinen Pigments 
mit Konglomeraten von stark bchtbrechenden Komchen (Kalk). Dies Pigment 
liegt mit Vorbebe in der Nahe eines dickeren Gef&Bes, bzw. zwischen GeffiB&sten. 

Toluidinblaufarbung, Stimvrindung. 

Ok. 4, Obj. 16: Die Stimwindung erscheint ohne weiteres im ganzen ver- 
schmalert. Die Gangbenzebenschicht zeigt zahlreiche verodete Stellen, noch viel 
mehr als in der Zentralwindung. Auch hier findet sich ein Teil der Verodungen 
in der auBersten Rindenschicht, oft bis in die Mitte der Gangbenzebenschicht 
hineinreichend, wahrend ein anderer Teil in der an das Mark angrenzenden Partie 
der Gangbenzebenschicht begt; endlich kommen auch verodete Stellen in der 
Mitte der Gangbenzebenschicht vor. Die Zellarchitektur ist in der Nahe dieser 
Herde gestort. In manchen Schnitten ist die Zahl der Verodungen sehr groB, 
in manchen gering. In den verodeten Stellen sieht man keine Gangbenzeben, 
die Herde sind aber nicht kernlos. Die sichtbaren Zellen sind schwach gefarbt. 
Inmitten einiger Verodungsherde liegen griinliche Brockel, ebenso in der Nahe 
einiger GefaBe des Marks. Die GefaBe zeigen hie und da im Mark, in nicht ver- 
odeter Rinde und namentbch in den Verodungsstellen verdickte Wande und 
gekriimmte Konturen. AuBerdem finden sich Stellen, in denen die erwaluiteri 
griinbchen Brockel reichlicher sind und einen Spalt auszufiiben scheinen. Ein¬ 
zelne quergetroffone GefaBe der Gangbenzebenschicht sowie der Pia zeigen Ver- 
mehrung der Endothelkeme, auf die nach auBen in manchen Praparaten eine 
blasse, kemlose Schicht folgt, an die sich weiter nach auBen vermehrte langliche 
Kerne anschbeBen; das Lumen ist hier verengt. — Die Pia ist an manchen Stellen 
verdickt und dann maBig kemreich. Die von der Pia in die oberste Hirnrinden- 
schicht einziehenden langsgetroffenen GefaBchen zeigen gekriimmte Kontur und 
vermehrte Kerne in ihrer Wand. In der Randzone, aber auch in verschiedenen 
Schichten der Gangbenzelleiste und insbesondere auch in der Nahe von Ver- 
odungsherden sind nicht nur die Wandungen der GefaBe sehr kemreich, teilweise 
enthalten die GefaBe auch mehrere Lumina. 

Ok. 4, Immersion 2,0: Manche Gangbenzeben in den nicht verodeten Stellen 
haben einen blauen, andere einen hellen Kem. Die groBeren Gangbenzeben 
zeigen einzelne NiBlschollen im Zelleib. Der Zelleib der Gangbenzeben mit dem 
blauen, ovalen Kem ist diffus violett, oft rotlich violett bei dunklerer Farbung 
der Randpartie, manchmal auch so diffus dunkelviolett, daB die Grenze zwischen 
Kern und Zelleib nicht scharf zu sehen ist. Einige Gangbenzeben mit schatten- 
haftem Zelleib haben keinen sichtbaren Kem. Die verodeten Stellen zeigen sehr 
blasse Ghakerne von runder Kontur, auch blasse polygonale Zellen von geringer 
GroBe und vereinzelte Gangbenzellenschatten, zum Teil mit Kernen. Um die 
Gliakerne herum sieht man Andeutungen eines blassen Zelleibs. Die Gliakerne 
liegen oft auch zu mehreren, zu vier und fiinfen beieinander. Das bei der schwachen 
VergroBerung erwahnte grime Pigment begt bald in kleinen Brockeln, bald in 
runden Scheiben angeordnet, ist bald mehr blaugriin, bald mehr gelbgriin. In 


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G. Ilberg: 


der die Verodungsherde umgebenden Ganglienzellenschicht sind die Gliakerne 
deutlich vermehrt; sie sind hier besser gefiirbt als im Herd. Die an der Peripherie 
der Herde liegenden Ganglienzellen sind bald geschrumpft, bald verzogen (an- 
nehmbar durch Zusammenziehung des Herdes). Liingsgetroffene GefaBe haben 
eine unregelmftBig gekriimmte Kontur. Die Kerne aller Schichten sind vermehrt, 
das Lumen ist bald verengt, bald erweitert. GefaGchen mit mehreren Lumina 
zeigen Wucherung der langlichen wieder zarteren ovalen Kerne; die Wucherungen 
sind mehrfach mit dunkelblauen, strukturlosen Brockeln versehen. In einem 
stark gewundenen, langsgetroffenem GefaB liegt eine Ansammlung von weiBen, 

kemhaltigen Blut- 
korperchen; auch 
Diplokokken und 
Streptokokken fin- 
den sich hier. Eben- 
so sieht man in eini- 
genCapillaren Leu ko - 
cyten. 

Hamatoxylin-Eosin - 
fdrbung, Zentralwin- 
dung. 

Ok. 4, Obj. 16: 
An mit salzsaurem 
Alkohol behandelten 
Hamatoxylinprafw- 
raten treten die bei 
den Schnitten mit 
Toluidinblaufarbung 
beschriebenen Ver- 
odungen nicht son- 
derlich hervor. Man 
sieht nur hie und 
da in der Molekular- 
schicht und in der 
Pia vereinzelte und 
nurselten ingroBerer 
Anzahl herdweise 

Abb. 1 und Abb. 2 geben Mikrophotographien von Toluidin- auftretende blaue. 
blaupriiparaten der Zentral- und Stirnwindung wieder, die runde Scheiben und 
im Forschungsinstitut zu Miinchen hergestellt wurden. auBerdem nur einen 

grau erscheinenden 

Herd mit zahlreichen blauen Kernen inmitten der Ganglienzellenschicht, viel- 
leieht 1 / 30 des Gesichtsfeldes einnehmend. 

Ok. 4 , Immersion 2,0: Die Wand der zuweilen gekrummt verlaufenden und 
ein verengtes, auf Langs- und Querschnitten manchmal geschlossenes Lumen 
darbietenden Arteriolen enthalt. reichliche langliche Kerne. In der Molekular- 
schicht und der Marksubstanz liegen stellenweise diffus blaue, runde, kernlose 
Scheiben, vermehrt in der Nahe groBerer GefiiBe. Neben manchen groBeren Ge- 
faBen und herdweise finden sich gelbbraune Kornchen, bald vereinzelt, bald in 
groBerer Anzahl. Am deutlichsten sieht man diese gelbbraunen Brockel in dem 
bei Obj. 16 erwahnten grauen Herd. Hier liegen auch runde und ovale Schei!>en 
mit schnrfem Rand von der GroBe eines Ganglienzellkemes (groBe Gliakerne), 



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Abb. 1. Zentral windung. 



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Multiple Verodungen in der Hirnrinde. 


369 


die zahlreiche feine, blaue Punkte enthalten. Oft liegt am Rand der gelbbraunen 
Gebilde ein dunkelblauer ovaler Kern, — eine Randkontur um das graue Brockel 
ist nicht zu erkennen. 

In der Marksubstanz liegen oft neben den GefaBen Gliakerne in perlschnur- 
artiger Anordnung. 

Hdmatozylin-Eosinfdrbung, Stimwindung. 

Ok. 4, Obj. 16: Kleine, dunkelblaue Scheiben liegen an einigen Stellen der 
auBersten Hirnrinde. Zuweilen sind diese Scheiben herdweise zahlreicher und 
reiehen keilformig bis 
an die Ganglienzellen- 
schicht heran. Auch 
finden sich derartige 
runde Scheiben ver- 
streut in der Marksub¬ 
stanz (Myelintropf- 
chen?). 

Ok. 4, Immersion 
2,0: Die erw&hnten 
runden Scheiben lassen 
keinen Kern und keine 
Schichtung erkennen. 

An lftngsgetroffenen 
Arteriolen sind die 
langlichen Kerne ver- 
mehrt. Die bei Be- 
schreibung der Zentral- 
windung geschilderten 
gelbbraunen Brockel 
neben den GefaBen ent¬ 
halten auch hier inei- 
stens, aber nicht im- 
mer, einen blauen Kern. 

Eine Umrandung ist 
nicht sichtbar. 

Heidelberger Gliafaserfdrbnng, Zentralmndung. 

Ok. 4, Obj. 16: Vom helleren Untergrund heben sich die durch Kernreichtum 
und -Fiillung stark blaugefarbten GefaBe in Ganglienzellenschicht und Mark grob 
hervor. Auch die Umgebung der Arteriolen ist durch vermehrte Kerne und Fasern 
starker blau gefarbt. Die auBerste Schicht der Hirnrinde zeigt einen dunkelblauen 
faserigen Saum, der verschieden dick ist und an einigen Stellen keilformig als 
feiner Filz bis an die Ganglienzellenschicht heran und in sie hinein l&uft. An einer 
anderen Stelle findet sich in der Ganglienzellenschicht ein langlicher, stark blau 
gefarbter faseriger Streifen. 

Ok. 4, Immersion 2,0: Um viele GefaBe heruin liegen Gliafasern und neben 
einigen GefaBen rundliche, hellbraune Brockel ohne Umrandung mit blauem, 
ovalem Kern. An einigen Stellen finden sich in der Ganglienzellenschicht Herde 
von Gliafasern. Hier sind auch die Gliakerne — und zwar die kleinen dunkleren 
wie die groBen helleren — stark vermehrt. Ein Gliafaserherd entspricht einem 
verodeten Herd im Toluidinblaupraparal. Die Herde mit Gliafaservermehrung 
finden sich aber nicht so haufig wie die verodeten Stellen im Toluidinblaupriiparat. 



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Abb. 2. Stimwindung. 


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G. Ilberg: 


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Abgesehen von sole hen Herden enthalt die Ganglienzellenschicht nur wenige Glia- 
fasem. Xeben manchen GefftBen liegen runde, hellblaue Scheiben, die innen eine 
dunklere und am Rande eine hellere Ffirbung haben. 

Heidelberger Gliafaserfdrbung, Stimwindung. 

Dieselben Verhfiltnisse wie bei Zentralwindung beschrieben. 

Herxheimer-Fettfarbung, Zentralwindung. 

Ok. 4, Obj. 16: Die Wand einiger groBerer GeffiBe in der Ganglienzellen- 
schicht ist stellenweise diffus grellrot gefarbt (hyaline Degeneration). Besondere 
Herde wie bei der Toluidinblauffirbung lassen sich nicht abgrenzen. Einzelne 
quer- oder lfingsgetroffene GeffiBe sind verschlossen. Ein Teil des Zelleibs der 
Ganglienzellen ist rot punktiert. 

Ok. 4, Immersion 2,0: Der Leib der meisten Ganglienzellen ist reichlick mit 
roten Pimkten durchsetzt. Xeben vielen Kemen der Gliazellen liegen sehr zahl- 
reiche rote Punkte. Auch neben den GeffiBwandzellen der Capillaren und Ar- 
teriolen imd im adventitiellen Lymphraum sind feine und dickere rote Punkte 
zu erkennen. In alien Schichten des Priiparats ist diese starke Verfettung deut- 
lich. Ein herdweiser Unterschied fftllt nicht auf. Auch neben den Gliakernen 
der Randzone und besonders am Zelleib der kleinen Ganglienzellen der obersten 
Schichten sieht man viele rote Punkte. Die bei Obj. 16 erwahnten hellroten 
Stellen der Gef&Bwand sind auch bei Immersionsbetrachtung diffus rot, nicht 
wie die verfetteten Stellen punktiert rot. 

Herxheimer- Felt farbung, Stimwindung. 

Ok. 4, Obj. 16: Dieselben Verhaltnis.se wie bei der Zentralwindung; eine 
deutliche Abgrenzung von Herden ist auch hier nicht zu erkennen. 

Ok. 4, Immersion 2,0: Einzelne GeffiBe haben infolge Kernwucherung ein 
verschlossenes Lumen. Es findet sich dieselbe starke Verfettung wie bei der 
Zentralwindung beschrieben. An den Arteriolen bemerkt man cinwfirts von der 
Adventitia auch hier stellenweise GefftBwandabsclmitte, die diffus leuchtend rot 
gefftrbt sind, nicht rot gesprenkelt wie bei Verfettung (hyaline Degeneration). 

Farbung nach PlasmazeUen mit Unna-Pappenheims Methylgriin-Pyronin-Gemisrh. 

Ok. 4, Immersion 2,0: Stiicke von Stimwindung und von Zentralwindung 
zeigen die verodeten Stellen wie die mit Toluidinblau gef&rbten Pr&parate; in 
den verodeten Stellen sind die Ganglienzellen fast ausgefallen; dafiir finden sich 
reichliche groBere helle und kleinere dunklere Gliazellen. Die Gliakeme sind auch 
in den nicht verodeten Stellen und hier teilweise um die Ganglienzellen vermehrt. 
Die GeffiBe zeigen hier und da Vermehrung der Endothel- wie der l&nglichen 
Kerne. PlasmazeUen finden sich nicht. 

Alaunkarmin farbung, Zentralwindung und Stimwindung. 

Ok. 4, Immersion 2,0: Teile der Intima der GeffiBe sind verdickt, die Media 
hat vermehrte Kerne. Einzelne Partien des GeffiBquersclmitts sind strukturlos; 
sie entsprechen den hyalin degenerierten Stellen des Fettprfiparates. Einzelne 
quergetroffene GeffiBe zeigen Anh&ufung von kemhaltigen Zellen einwfirts von 
der Intima. Xeben vielen groBeren GefftBen liegen hellere, kernartige Partien. 

Resorcinfuchsinfarbung, Zentralwindung und Stimwindung. 

Ok. 4, Immersion 2,0: Die Elastica ist an manchen GefftBen teilweise diinn, 
teilweise fehlt sie. Zuweilen ist sie aufgesplittert. Oft ist sie gut erhalten. — An 
einigen GefaBen der Pia liegt einwfirts von zusammengedrfingten Elasticafasern 


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Multiple Verbdungen in der Himrinde. 


371 


eine diffus dunkelrosa gefarbte Masse im Gef&Blumen ( wands tdndiger Thrombus)', 
die gerade unter diesem Thrombus liegende Oegend der Himrinde enthalt einen Ver- 
odungsherd. 

Pikrocarminfdrbung, Zentralwindung und Stirnwindung. 

Ok. 4, Immersion 2,0: Stellenweise findensich schattenhafte Ganglienzellen, 
zuin Teil ohne Kern, sowie geschrumpfte Ganglienzellen mit diffus dunkelblauem 
Zelleib, der vom dunklen Kern nur schwer abzugrenzen ist. Intima und Media 
der kleineren GefaBe zeigen vermehrte Kerne. An vielen Ganglienzellen und 
neben vielen Capillaren liegen Gliakerne. Viele kleine Gef&Be der oberen Partien 
der Himrinde zeigen ein diffus leuchtend rot gefftrbtes Innere, oft schon beim 
Eintritt aus der Pia in die Randzone. Man sieht diese leuchtend roten Stellen in 
der GefaBwand und ira Innem des GeffiBlumens auf Quer- wie Langsschnitten, 
inGanglienzellenschicht undMarksubstanzfTAro/niett und hyaline Degenerationen). 

Bielschowskysche Farbung, Zentralwindung. 

Ok. 4, Obj. 16: Querschnitte einiger groBerer und L&ngsschnitte vieler klei- 
nerer GefaBe sind diffus dunkelviolett gefarbt. Einige mittelgroBe GefaBe in der 
Randzone zeigen auf Querschnitten einen dicken, diffus violetten Ring. Das 
Lumen einiger langsgetroffener GefaBe der Randzone hat unregelmaBige Breite. 
An einer Stelle finden sich vier quergetroffene GefaBlumina dicht nebeneinander. 
(Knauelbildung — Teilung?) 

Ok. 4, Immersion 2,0: Langsschnitte von Capillaren weisen oft langsziehende 
oder um das GefaB herum gewundene Fasem auf. Langs- und quergeschnittene 
GefaBe enthalten zuweilen dunkelvioletten, etwas marmorierten GefaBinhalt. 
(Thromben); solche Gebilde finden sich in einigen Abschnitten der Randzone 
wie der Ganglienzellenschicht. 

Herrn Kollegen Schob in Dresden spreche ich fur mehrfache Beratung und 
Hilfe auch an dieser Stelle meinen besten Dank aus. 

Vberblickt man alles Vorstehende, so zeigt sich folgendes: die 
untersuchten Stellen der Zentralwindung und Stirnwindung, die, wie 
der Sektionsbericht angibt, teilweise schmal waren, weisen zahlreiche 
Verodungsherde auf, in denen die Ganglienzellen atrophiert, zum Teil 
schattenhaft sind. In den Herden finden sich Pigmentbrockel und 
pigmentreiche Zellen; Gliakerne und Gliafasern sind in den Herden 
vermehrt. Endlich sind in manchen Herden sich mehrfach verastelnde 
zarte GefaBchen zu erkennen. In der Umgebung der Herde sind die 
Gewebselemente oft verzerrt und verschoben. Viele GefaBchen der 
Pia und der Ganglienzellenschicht haben eine stark gewundene Kontur. 
Die Wand der GefaBe ist oft verdickt, die Kerne namentlich der mitt- 
leren und der inneren Schicht sind vermehrt. Die Elastica ist sparlich, 
diinn, zuweilen aufgesplittert. Einige Male zeigen GefaBlangsschnitt-e 
aneurysmatische Auftreibung. Die GefaBwand ist mehrfach hyalin 
degeneriert; es ist hier und da zu thrombotischer Verengerung des Lu¬ 
mens gekommen. Auch die Kernvermehrung der mittleren und in¬ 
neren Schicht hat zuweilen zu Verengerung des Lumens gefiihrt, 
manchmal zu seiner VerschlieBung. Einige Male finden sich mehrere 
Lumina nebeneinander; ob es sich hier um einen Schnitt durch ein 


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G. Ilberg: Multiple Verodungen in der Himrinde. 


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Gefaliknauel oder um Teilung des GefaBes handelt, ist nicht vollig 
geklart. Wie im Sektionsbericht angegeben, sind verschiedene Stellen 
der Hirnwindung und der Rindensubstanz teilweise verschmalert. Die 
Ursache dieser Verschmalerung beruht, wie die Untersuchung der 
Zentralwindung und der Stirnwindung gezeigt hat, auf dem Vorhanden- 
sein zahlreicher Verodungsherde, in deren Umgebung infolge von 
Schrumpfung Verzerrungen und Verschiebungen des Gewebes statt- 
gefunden haben. Zweifellos sind diese Verodungen durch VerschluB 
der kleinen GefaBe zu erklaren, denen die Ernahrung der betreffenden 
HirnrindensteUe zufiel. Die kleinen GefaBe sind arteriosklerotisch ver- 
andert und durch Kernwucherung, Verminderung der Elastica, hyaline 
Degeneration und Thrombenbildung geschlossen. In dem zu den ge- 
schlossenen GefaBen gehorigen Bezirk sind die Ganglienzellen atrophiert 
oder geschwunden; dafiir ist das GUagewebe gewmchert; groBe Gliazellen 
finden sich nicht. Die vorhandenen Pigmentbrockel sind als Abbaupro- 
dukte anzusehen, die nach und nach fortgeschwemmt werden — finden 
sie sich doch auch im adventitiellen Lymphraum vieler GefaBe. In den 
Verodungsherden zeigt das mesodermale Gewebe schwache Neigung zu 
YVucherung, wie die neu gebildeten Capillarnetze erweisen. Die GefaB- 
wand ist auch in Form fettiger Degeneration entartet. Die perlschnur- 
artige Anlage von Gliakernen an die GefaBe weist auf perivasculare 
Gliose hin. Abgesehen von den Verodungsherden finden sich in den 
Praparaten noch unregelmaBige Verdickung des Gliasaumes der Rand- 
zone, Vermehrung der Gliakerne in der Ganglienzellenschicht, Anhau- 
fung von Fettkornchen im Zelleib der Ganglienzellen und neben den Glia¬ 
kernen; neben den Ganglienzellen liegen nicht selten mehrere Gliakerne. 
Die nervosen Erscheinungen, die in der Krankengeschichte mitgeteilt 
sind, lassen sich durch die zahlreichen Verodungsherde erklaren, zweifel¬ 
los auch die in der letzten Zeit bestehende Demenz. Ob die arteriosklero- 
tischen Veranderungen teilweise auf luetischer Grundlage entstanden 
sind, ist nicht genau aufgeklart worden, da serologische Untersuchungen 
seinerzeit leider nicht angestellt worden sind. 


Gougle 


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BewuBtseinstrubungen bei Dementia praecox. 

Von 

Dr. W. Medow. 

(Aus der psych, u. Nervenklinik Rostock-Gchlsheim 
[Direktor: Prof. Dr. Rosenfeld].) 

(Eingegangen am 11. Oktober 1922.) 

Als BewuBtsein bezeichnet man die innere Wahrnehmung von Vor- 
stellungen, Gedanken und Gefuhlen. Bewufitseinsstorungen sind also 
nicht Storungen von Vorstellungen, Gedanken und Gefuhlen, sondern 
solche dieser inneren Wahrnehmung. BewuBtseinstrubungen haben im 
allgemeinen als Kennzeichen organischer Geisteskrankheiten gegolten 
und sie werden vom Charakter schlafriger Dammrigkeit, aber auch 
von dem einer deliridsen Gberhelligkeit in der Regel bei den verschie- 
denen Arten anerkannter exogener Erkrankungen gefunden. Sie be- 
herrschen in den Delirien und den organischen Dammerzustanden das 
Krankheitsbild und geben in den symptomatischen Psychosen das 
wichtigste Merkmal ab. Scheint somit das Symptom der BewuBtseins- 
triibung in erfreulicher Weise klarend zu wirken, so erwachst eine be- 
deutende Schwierigkeit in erster Linie aus der Tatsache, daB es eine 
messende Methode fur die Feststellung derselben nicht gibt. Es begriin- 
det sich dieses darin, daB das BewuBtsein eine subjektive GroBe ist, die 
nicht objektiv in Erscheinung tritt und nicht direkt wahrgenommen 
werden kann. Als ein allgemeiner cerebraler Zustand werden ihre Sto¬ 
rungen auch solche der greifbareren psychischen Teilzustande, die Eb- 
binghaus die TatigkeitsauBerungen des BewuBtseins nennt, nach sich 
ziehen und somit nach auBen wirksam werden. Hingegen lassen Sto¬ 
rungen der letzteren keinen unmittelbaren RiickschluB auf den Be- 
wuBtseinszustand zu. Jaspers hat zwar als greifbare Kennzeichen 
der Besonnenheit, d. h. der gesunden BewuBtseinsklarheit, die Orien- 
tiertheit und die Fahigkeit, sich auf Fragen zu besinnen und sich 
etwas zu merken, angefiihrt, doch beziehen sich diese Feststellungen 
nicht auf das BewuBtsein selbst, sondern auf die nachgeordnete, nach 
auBen wirksam werdende BewuBtseinstatigkeit. Fehlleistungen des 
Orientierungsvermogens, der Auffassung, der Merkfahigkeit werden nur 
auf dem Wege des indirekten Riickschlusses auf BewuUtseinsstorungen 
bezogen werden konnen. Der RiickschluB wird erleichtert, wenn wir 
iiberzeugt sein werden, daB nach Art des Eindruckes eine BewuBt- 

Archlv fUr Psychiatrie. Bd. 67. 25 


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seinsstorung vorliegt oder die Art des Krankheitsvorganges eine solche 
erwarten la lit. Derselbe verlangt den AusschluB primarer, isolierter 
Storungen der TatigkeitsauBerung des BewuBtseins, ebensowohl wie 
den von sekundaren Einwirkungen anders gearteter psychischer Krank- 
heitsvorgange; beides wird aber aus praktischen Griinden oft nur mit 
Schwierigkeiten festgestellt werden konnen. Wenn auch eine Unter- 
suchung der Orientiertheit, der Auffassungsfahigkeit, der Merkfahig- 
keit, der Aufmerksamkeit, fiber deren diagnostischen Wert zur Erken- 
nung von BewuBtseinstriibungen im einzelnen spater gesprochen wer¬ 
den soil, hilfsweise herangezogen werden muB, so bleibt das entschei- 
dende Urteil iiber die Bewu Btseinsklarheit selbst doch dem Eindruck 
des Beobachters iiberlassen. Die Mangel der subjektiven Auffassung 
miissen bei dieser Lage auch in den Resultaten der BewuBtseinsprii- 
fung wiederkehren. Aus allem ergibt sich die Schwierigkeit, mit der 
eine genaue Feststellung des Bewu Btseinszustandes zu rechnen hat. 

Gleichwohl ist im praktischen Falle die Erkennung einer vollent- 
wickelten BewuBtseinstriibung vom Charakter der Dammrigkeit keine 
schwierige. Erheblich unsicherer wird jedoch das Urteil, w r enn niedere 
Grade von BewuBtseinstriibung vorliegen, wenn die BewuBtseinstrii- 
bung nicht im Gewande der Schlafrigkeit, sondern in jenem der deli- 
riosen Erregtheit und der traumartigen Lebendigkeit auftritt und wenn 
anders geartete, von einer anderen Seite des Seelenlebens angreifende, 
aber ahnlich auf die Denkvorgange wirkendeErscheinungen hinzutreten. 
Es sei hier angedeutet, daBes sich bei einer derartigenErregtheit und der 
hyperluziden Veranderung der BewuBtseinstatigkeit nur um eine schein- 
bare, nicht um eine wirkliche Vermehrung der Bewu Btseinshelligkeit 
handcln kann, ahnlich wie bei dem manischen IdeenfluBdieForderung der 
Assoziationsleistungen nur eine scheinbare ist. Ahnlich tvird es sich 
auch bei den mit der Hyperluziditat einhergehenden analogenErregungen 
auf dem Gebiete der TatigkeitsauBerungen des Bew’uBtseins (Auffassung, 
Aufmerksamkeit) handeln. Wenn man entsprechende, mit Erregungen 
oder einer Mischung aus Erregung und Lahmung der Bewu Btseinstatig¬ 
keit einhergehende Krankheitsfalle iiberblickt, tvird man sich der 
Schwierigkeit der Beurteilung bewuBt werden und sich gestehen miissen, 
daB fur den Untersucher bisweilen mehr die Kenntnis iiber ein vor- 
liegendes oder fehlendes organisches Grundleiden als die sichere Fest¬ 
stellung und genaue Zergliederung des BetvuBtseinszustandes die prak- 
tische Entscheidung abgeben wird. Man wird sich leicht von der 
bisherigen, etwas dogmatischen Auffassung von der Beschrankung der 
BewuBtseinstriibung auf die engere organische Krankheitsgruppe un- 
bewuBt leiten lassen und die feineren, schwerer zu erklarenden Erschei- 
nungen in den BewuBtseinszustanden, der bisher als endogen geltenden 
Krankheitsbilder miBdeuten. 


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BewuBtseinstriibungen bei Dementia praecox. 


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Wie hiermit schon angecleutet, gesellt sich zu der eingangs geschil- 
derten Schwierigkeit, die in der Erfassung der BewuBtseinstriibungen 
beruht, noch die weitere, daB der bisher ziemlick scharf begrenzte Gel- 
tungsbereich der BewuBtseinstriibungen, der auch ihre Kenntnis zu- 
nachst erleichterte, bei genauer Priifung doch eine erhebliche Erweite- 
rung erfahren muB. Wie allgemein wird die Vertiefung der Kenntnisse 
auch die Schwierigkeiten vermehren, denen erst die Zuriickfiihrung auf 
einheitliche Linien Einhalt tun kann. Die folgenden Untersuchungen 
werden sich insbesondere mit der Frage beschaftigen, ob die bisher 
gezogenen Grenzen zwischen organischen und nicht organischen Psy¬ 
chosen in ihrer bisherigen Auffassung zu Recht bestehen und ob die 
Feststellung einer BewuBtseinstriibung den Ausschlag fur eine Zu- 
teilung zur exogenen oder endogenen Krankheitsgruppe abgeben kann. 
Es wird sich die Frage erheben, ob nicht die Besonderheit endogener 
Krankheitsgruppen, von denen ich speziell die Dementia praecox ins 
Auge gefaBt habe, sich aus einer feineren, nur gelegentlich den Grad 
greifbarer BewuBtseinstriibung erreichenden Schadigung des BewuBt- 
seins erklart, die dem Funktionellen Spielraum zur ins Auge fallenden 
Entfaltung belaBt. 

Die Frage der BewuBtseinstriibung bei der Amentia, dem Binde- 
glied zwischen exogenera und endogenem Krankheitstyp, hat wie diese 
selbst seit Meynert eine wesentliche Wandlung erfahren. Meynert 
hat das grundlegende Symptom der gedanklichen Verwirrtheit durch 
Assoziationsmangel und nicht durch BewuBtseinstriibung erklart. Er 
sagt: ,,Mit Mangel des BewuBtseins ist die Verworrenheit nicht zu 
verwechseln. Der Verwirrte hat die Wahrnehmungen, aber er versteht 
sie nicht. Wenn die Wahrnehmungen fehlen oder herabgesetzt sind, 
so liegt nicht Verwirrtheit, sondern Betaubung vor. Solche kann ir- 
gend einmal die Verwirrtheit komplizieren, gehort ihr jedoch nicht 
wesentlich an.“ Seitdem hat das Krankheitsbild der Amentia eine Ein- 
engung und Verschiebung erfahren. Gegenwartig wird sie als selb- 
standiges Krankheitsbild fiir eine Gruppe symptomatischer Psychosen 
vorbehalten, die den Infektionsdelirien nahestehen. Gleichzeitig hier¬ 
mit ist die BewuBtseinstriibung gerade zu einem wesentlichen Sym¬ 
ptom des Krankheitsbildes erhoben worden. Nach Kraepelin ist die 
Amentia hauptsachlich durch das Auftreten einer leichteren oder tiefe- 
ren BewuBtseinstriibung mit mannigfaltigen Reizerscheinungen auf 
sensorischen oder motorischen Gebieten gekennzeichnet. Die Verworren¬ 
heit ist eine traumhafte. Er miBt der BewuBtseinstriibung eine Be- 
sonderheit bei, insofern als Aufmerksamkeit und das elementare Auf- 
fassungsvermogen erhalten bleiben und der Mangel assoziativer Ver- 
kniipfung und die Schwere der Denkstorung viel mehr im Vordergrund 
stehen. In letzterem findet ohne Zweifel eine erhebliche Annaherung 

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an den Meynertschen Standpunkt statt. — Es ist jedoch zweifelhaft, 
ob ein solcher Standpunkt theoretisch haltbar ist, da BewuCtseins- 
triibungen eine Storung der Bewu Qtseinstatigkeit nach sich ziehen 
miissen; immerhin konnte an gewisse graduelle Besonderheiten gedacht 
werden. Wieg-Wickenthal halt den BewuBtseinszustand der Amentia 
flir einen traumhaft getriibten und deliriosen. Einen ahnlichen Stand¬ 
punkt nimmt Bleuler ein, ohne der von Kraepelin gefundenen Wahr- 
nehmungshelligkeit eine charakteristische Bedeutung beizumessen. An- 
dere Autoren diirften zu dem Krankheitsbilde der Amentia eine ab- 
weichende Stellung einnehmen. Racke fiihrt unter den Grundsym- 
ptomen nicht die BewuBtseinstriibung, hingegen den Zerfall der Asso- 
ziationen, die Schwache der Apperzeption und das Auftreten zahl- 
reicher Phantasmen an, wobei in der Apperzeptionsstorung wohl die 
Tatsache der BewuBtseinstriibung angedeutet ist. Kleist faBt die 
Amentia als Symptom auf und kennzeichnet sie kurz als Verwirrtheit 
durch Inkoh&renz. Die Loslosung des Amentia-Begriffes von der sonst 
iiblichen Verkniipfung mit dem organischen Krankheitsprozesse hat in 
diesem Falle auch den Fortfall der BewuBtseinstriibung nach sich ge- 
zogen. Als Syndrom erlangt hiermit die Amentia eine umfassendere 
Ver wend bar keit und verbreitert sich wieder auf das weite Gebiet des 
Meynertschen Krankheitsbegriffes. Fiir jene Autoren, die die Amentia 
auf eine Gruppe von Krankheitsbildern mit organischen Krankheits- 
grundlagen beschrankt haben, ist es verlockend gewesen, gerade in der 
BewuBtseinstriibung ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal gegen- 
iiber anderen Krankheitsbildern zu sehen, bei denen organische Sym- 
ptome weniger augenfallig oder nur episodisch und in besonders ge- 
arteten Fallen hervortreten; es sind dieses namentlich zur Krankheits- 
gruppe der Schizophrenic gehorige Krankheitsbilder. Insbesondere hat 
Wieg-Wickenthal geglaubt, hier einen scharfen Trennungsstrich 
ziehen zu konnen. Einesteils behauptet er, daB bei den mit akuter Ver- 
worrenheit beginnenden Bildern der Dementia praecox primare Ver- 
wirrtheit und primare Assoziationsstorungen im Gegensatz zur Amen¬ 
tia fehlen; die Assoziationsstorungen wvirden hier vielmehr sekundar 
durch Mangel der ,,treibenden Faktoren fiir eine geordnete BewuBt- 
seinstatigkeit (Wille, Aufmerksamkeit)“ hervorgerufen. Niemals mache 
die Verwirrtheit den Eindmck der schweren primaren Assoziations- 
storung mit sekundarer Ratlosigkeit. Die Auffassung sei bei diesen 
Verwirrten nur ganz geringfiigig oder gar nicht gestort. Hierzu sei dar- 
auf aufmerksam gemacht, daB Kraepelin gerade umgekehrt die ele- 
mentare Auffassung bei der Amentia ungestort sieht. Ferner spricht 
Wieg-Wickenthal den verwoiTenen Bildern der Dementia praecox 
die BewuBtseinstriibung und die Auffassungsstorung, die er als die we- 
sentlichsten Merkmale der Amentia bezeichnet, giinzlich ab. Immer- 


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BewuBtseinstnibungen bei Dementia praecox. 


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hin gibt er fiir seltene Falle der Dementia praecox, namentlich unter 
der Einwirkung erschopfender Ursachen, wozu er auch das Wochen- 
bett rechnet, wenigstens eine primare Inkoharenz, allerdings verkniipft 
mit Willens- und Aufmerksamkeitsstorung und Erregungszustanden zu, 
in welchen Fallen dann eine Unterscheidung unmoglich sei. Dem Fehlen 
oder Bestehen von Aufmerksamkeitsstorung will er keine trennende 
Bedeutung beimessen. Einen beweglicheren Standpunkt vertritt Bleu- 
ler, der in der besonderen Art der BewuBtseinstatigkeit, namentlich 
auch der Auffassung keinen entscheidenden Unterschied erblickt. Er be- 
zeichnet zwar auch den BewuBtseinszustand bei der Amentia als einen 
traumhaft getriibten, doch legt er bei der Trennung das Hauptgewicht 
in das Fehlen oder Bestehen schizophrener Zeichen. Einen auffallen- 
den Standpunkt nimmt Tromner ein, indem er der Amentia gerade 
eine gewisse Besonnenheit zuerkennt, aber als Unterscheidungsinerk- 
mal die bei Hebephrenie selten zu beobachtende Desorientierung und 
Ratlosigkeit anfiihrt. Das Zusammentreffen von Besonnenheit mit 
Desorientierung und Ratlosigkeit muB aber als eine besonders kompli- 
zierte Kombination bezeichnet werden, die bei Trommer keine Erkla- 
rung findet. Gabe es scharf getrennte Zustandbilder, so ware nach 
dem Gesagten im allgemeinen zu erwarten, daB bei Amentia keine 
schizophrenen Erscheinungen, insbesondere weder Willensstorung noch 
Negativismus, bei ahnlich gearteten Zustanden der Schizophrenic da- 
gegen keine BewuBtseinstrubung und keine primare Assoziationsstorung 
auftreten diirften. Diesen Standpunkt vertritt im allgemeinen Krae- 
pelin, indem er sagt: ,,Fiir die Unterscheidung der Infektionsdelirien 
ist die schwere Benommenheit gegeniiber der Besonnenheit katatoner 
Kranker zu beachten, ferner das Fehlen des Negativismus und trieb- 
artiger Stereotypie.’ 4 An anderer Stelle miBt er der Amentia andauernde 
Ratlosigkeit und Verworrenheit bei erhaltener Aufmerksamkeit, der 
Katatonie, auch in der starksten Erregung, Verstandnis der Umgebung, 
richtige Zeitrechnung und gutes Gedachtnis der letzten Zeit bei. Im 
folgenden wird sich die Frage ergeben, ob diese Annahmen den wirk- 
lichen Verhaltnissen voll gerecht werden und ob es wirklich gestattet 
ist, nach diesen Gesichtspunkten scharfe Trennungsstriche zu ziehen. 
Es ist mit der Frage der BewuBtseinstrubung in der Dementia 
praecox auch jene nach der Art des zugrunde liegenden Prozesses und 
nach der Eingruppierung zu den exogenen oder endogenen Verlaufs- 
tvpen verkniipft. 

Alle diese Fragen haben schon bei Bonhoffer in seiner Arbeit 
iiber die Infektionspsychosen eine eingehende Beantwortung gefunden. 
In der Tat gibt es nach ihm keine scharfen Trennungslinien zwischen 
den Auslaufern beider Krankheitsgruppen. Er sagt: ,,Die Differenzie- 
rung beider Krankheiten nach dem Zustandsbilde ist keineswegs ein- 


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fach, vielleicht nicht moglich. Die echte Katatonie kann ganz ahnlich 
schwere Bilder erzeugen, sogar die neurologischen Begleitsymptome 
konnen iibereinstimmen.“ Katatonische Symptome und Benommenheit 
sind keine Unterscheidungsmerkmale, denn ,,es gibt tatsachlich kein 
einziges katatonisches Symptom, das sich nicht auch bei Infektions- 
psychosen fande, ausgesprochener Negativismus ist sogar eine haufige 
Erscheinung bei Infektionspsychosen. Benommenheit kann in beiden 
Fallen ausgesprochen sein. Sie kann in den schweren Katatonie-Fallen 
durchaus den Charakter der Betaubung haben.“ 

Es bleibt zu erortern, welche Stellung die Autoren zur Frage des 
BewuBtseinszustandes l>ei der Dementia praecox und deren Unter- 
formen einnehmen. 

Zunachst wird von den meisten Autoren die groBe Vielgestaltig- 
keit der Bilder, die fast alie denkbaren Verlaufsformen annehinen kon- 
nen, hervorgehoben. Von alien diesen Formen sind es insbesondere 
die akut einsetzenden Bilder, die katatonen und inkoharenten Formen 
und die Stupor-Zustande, bei denen die Frage des BewuBtseinszustan¬ 
des am meisten erortert worden ist. Bleuler hebt die Unklarheit des 
BewuBtseinsbegriffes hervor. Aus praktischen Griinden nimmt er Fol- 
gendes als Kennzeichen einer BewuBtseinstriibung an: ,,Storung der Zu- 
sammensetzung der Sinneseindriicke zu einem Ort- und Zeitbild (ort- 
liche und zeitliche Desorientierung), Alteration der Empfindung und 
Wahrnehmung (Auffassungsschwache). Die Sinnesreize werden zum 
Teil nicht erfaBt und illusionar umgedeutet;dafiir schafft sich die Psyche 
von innen heraus eine eigene Welt, die nach auBen verlegt wird, und 
man redet dann von Dammerzustanden.“ 

Besonders tief leuchtet Wernicke in die krankhaften BewuBt- 
seinsvorgange hinein an einer Stelle, wo er iiber das Entstehen von 
Wahnbildungen aus BewuBtseinsstorungen spricht. Nach ihm sind die 
Bewu Btseinstriibungen nicht als etwas Einheitliches und unbedingt 
Kontinuierliches anzusehen. AnschlieBend an einen Krankheitsfall, der 
wohl in die Gruppe der paranoiden Erkrankungen gehort, zeigt er auch 
auf diesem Gebiete die eigenartigsten Teilstorungen und den fliichtig- 
sten Wechsel der Zustande. Er findet bei ihm momentweise traum- 
hafte Abgelenktheit durch innere Vorgange, die er mit deliranten Zu- 
standen vergleicht, denen er eine traumhafte Trtibung des BewuBt- 
seins zuerkennt. Diese Zustande konnten sich in ununterbrochenem 
Wechsel der Bew'uBtseinszustande in einen Grundzustand von Luzi- 
ditat mit guter Fixierbarkeit und wohlerhaltener Merkfiihigkeit ein- 
schieben. Sie ahnelten den physiologischen Zustanden der sogenannten 
Fassungslosigkeit. Jedenfalls ist es unrichtig, anzunehmen, daB kon- 
tinuierliche Be wu Btsei nst r ii bu nge n nur bt‘i den als organisch geltenden 
Gehirnerkrankungen, fliichtiger Wechsel der Luziditat demgegen- 


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BewuBtseinstriibungen bei Dementia praecox. 


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fiber bei besonderen Arten endogener Psychosen vorkommen. Die 
wirklichen Verhaltnisse dfirften so liegen, daB nur bei den hohen Gra- 
den von BewuBtseinstriibungen, die zu einer volligen Lahmung des 
BewuBtseins ffihren, ohne irgendwelche Rficksicht auf die qualitative 
Art des Vorganges die kontinuierliche Tiefe der Somnolenz oder des 
Komas erreicht wird und daB diese Tiefe in der Regel nur bei schweren 
organischen Prozessen auftritt. Bei alien geringeren Graden von Be¬ 
wu Btseinstrtibungen ist die Luziditat standigen, verschieden schnell 
ablaufenden Schwankungen unterworfen, gleichgfiltig ob sie bei einer 
als exogen oder als endogen geltenden Krankheitsform auftritt. Ich 
erinnere an die fiberraschenden Wechsel der Bewu Btseinshelligkeit im 
Alkohol- und vielen Fieberdelirien. Bezfiglich der Amentia sagt Krae- 
pelin: ,,Nicht selten kommt es schon im Beginn der Krankheit zu 
kurzen, ganz tiefen Nachlassen, in denen ffir Stunden und selbst Tage 
vollstandige Klarheit, Einsicht und Schwinden der Tauschungen be- 
obachtet wurde.“ Bekannt ist die Sprunghaftigkeit der BewuBtseins- 
vorgange in den hierher gehorenden Krankheitsbildern der Dementia 
praecox. Es wfirde also verfehlt sein, diese Art der BewuBtseins- 
schwankungen auf die schizophrene Bewu Btsein-stoning besehranken 
zu wollen. Es gibt andererseits auch hier, wie ich im folgenden werde 
zeigen konnen, in das Kapitel der BewuBtseinstrfibung zu rechnende 
BewuBtseinsveranderungen, die einen sehr langen Zeitraum einnehmen. 
Es erscheint mir notwendig hervorzuheben, daB neben der Schwere 
des Prozesses auch dessen Plotzlichkeit dahin wirksam ist, in uns den 
Eindruck der BewuBtseinstrfibung zu erzeugen. Ein schnell einsetzen- 
der Dammerzustand scheint uns viel mehr Benommenheit zu zeigen 
als ein paralytischer Endzustand mit hochgradigstem Bewu Btseins- 
mangel. Diejenige Art und Starke der BewuBtseinsveranderung, die 
wir als Trfibung bezeichnen, wird deshalb besonders in den akuten 
Phasen von Psychosen vermerkt. Es ist auch zu bemerken, daB die 
Schlafrigkeit und Dammrigkeit wohl ein haufiges, leicht erkennbares 
Zeichen von BewuBtseinstrfibung darstellt, daB es aber ein erheblicher 
Fehler ware, ihn als alleinigen MaBstab zu nehmen. In vielen Zu- 
standen veranderter BewuBtseinsluziditat, in Dammerzustanden, im 
deliriosen Traumzustand, vor allem bei den mit Hyperluziditat einher- 
gehenden Prozessen laBt uns dieses Merkmal im Stich. 

Fast ebenso schwer wie der Begriff des BewuBtseins ist der in der 
Psychiatrie so wichtige Begriff des Stupors einer Klarung naher zu 
biingen. Kraepelin sucht die Schwierigkeit von der praktischen Seite 
zu losen, indem er in praktischer Beschrankung einen melancholischen 
und einen katatonischen Stupor unterscheidet und den einen auf Af- 
fekthemmung und den andern auf Willensstorung zurfickffihrt. Es kann 
hiermit jedoch die Ftille der Erscheinungen, schon allein bei den Stujx»r- 


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formen der Dementia praecox, nicht erschopft sein. Bleuler faCt den 
Stupor nicht als ein einheitliches Syndrom auf, sondern als eine auBere 
Erscheinungsform verschiedener Zustande. Ziehen unterscheidet von 
der Denkhemmung der Melancholie die Stupiditat, als deren Haupt- 
symptom er die Hemmung der Ideenassoziation benennt, an die 
sich motorische Hemmung und Apathie anreihen. Fur die schweren 
Falle fiihrt er Traumhaftigkeit, Ratlosigkeit, Unaufmerksamkeit und 
Mangel an Apperzeption an. Wenn ich die Sumine der zirkularen, kata- 
tonischen, hysterischen und symptomatischen Stuporen uberblicke, so 
scheinen sich mir in der Tat zwei Hauptgruppen herauszuschalen, je 
nachdem es sich um Affekt- und Willensstorungen handelt oder hin- 
gegen Denkstorungen vorliegen, die letzten Endes mit mehr oder we- 
niger hochgradigen BewuBtseinsveranderungen und BewuBtseinstrii- 
bungen verknupft sind. Letztere Arten mochte ich fur die katatonischen 
und symptomatischen Stuporen als die ganz vorwiegenden bezeichnen. 
Beziiglich des BewuBtseinszustandes im Stupor sagt Bleuler an einer 
Stelle: ,,Unter Benommenheit verstehen wir verschiedene Zustande 
eingeengten, unklaren, langsam ablaufenden Denkens, bei denen Reiz- 
symptome fehlen oder doch zuriicktreten. Ein Teil dieser Bilder kann 
natiirlich ebensowohl Stupor genannt werden.“ Es sind dieses also 
solche Benommenheitszustande, bei denen infolge der Tiefe der Lah- 
mung oder Ausdehnung und Lokalisation des Prozesses es zu einem 
Ausfall der Zielvorstellungen und Bewegungsantriebe kommt. Bleuler 
findet bei der Dementia praecox Zustande von Benommenheit mit und 
ohne Lahmung der Zielvorstellungen und Bewegungsantriebe. Einen 
breiten Raum nehmen bei ihm in der Dementia praecox die Dammer- 
zustande ein, die er als traumartig bezeichnet. Wenn er auch geneigt 
ist, in ihrer auBeren Gestaltung mehr etwas Sekundares, eine rein psy- 
chische Reaktion zu sehen, so muB doch wohl auch ihnen eine primare 
Veranderung der BewuBtseinslage und der BewuBtseinsklarheit zu- 
grunde liegen. Demgegeniiber schildert Bleuler auch schwerere Be- 
wuBtseinstrubungen bei der Dementia praecox, er sagt: ,,Es gibt eine 
Form von Benommenheit, die einen organischen Charakter hat. Die 
Kranken dammern unklar herum, lassen sich durch psychische Einfliisse 
nicht wecken, trotzdem man mit ihnen intellektuellen Rapport hat und 
diese sich oft alle Miihe geben, unsereFragen zu beantworten. Der Gedan- 
kengang ist langsam, unklar, kurz. Schon bei einfachen Rechnungen ver- 
sagen die Leute, im Schreiben machen sie ungewollte orthographische 
und grammatische Fehler; dabei konnen Orientierungsstorungen fehlen, 
auch die Affektivitat kann relativ gut erhalten sein.“ Wenn er dann 
anfiigt: ,,Dennoch lassen sich diese Zustande oft schwer von einer psy- 
chogcnen Form von Benommenheit abgrenzen,“ so muB man sich ver- 
gegenwartigen, daB Bleuler eine besondere Auffassung des Psycho- 


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BewuBtseinstriibungen bei Dementia praecox. 381 

genen hat, die weit in das sonst als organisch angesehene Gebiet hinein- 
reicht. 

Nach Kraepelin ist das BewuBtsein bei den katatonischen Kran- 
ken, namentlich wahrend der Entwicklung und auf der Hohe der akuten 
Storungen, meist etwas getriibt, bisweilen sogar recht erheblich. An 
anderer Stelle meint er, die Bewu Btseinstriibung in den Erregungs- 
und Stuporzustanden sei meist weniger hochgradig, als es auf den ersten 
Blick scheine. 

Bleuler findet BewuBtseinsstorungen nicht allein in den akuten 
Phasen der Dementia praecox, sondern er sah dieselben sich sogar Jahr- 
zehnte hinziehen. 

Die abweichende Stellung Wieg-Wickenthals, wonach er bei 
schizophrener akuter Verworrenheit Bewu Btseinstriibung ausschlieBt, 
scheint mir einesteils in der Subjektivitat der Erfassung von damme- 
rigen und erregten BewuBtseinstriibungen sowie in der Fliichtigkeit 
und dem Wechsel dieser Erscheinungen zu liegen, andererseits diirfte 
ihn die Einschrankung auf gewisse Formen zu diesem Urteil veranlaBt 
haben, wahrend ihm die Einbeziehung anderer Verlaufsarten mit stu- 
porosem und katatonem Einschlag wohl den Fingerzeig zu einer an- 
deren Auffassung gegeben hatte. 

Nachst dem allgemeinen BewuBtseinszustande sind zu einer Be- 
urteilung auch die TatigkeitsauBerungen des BewuBtseins, die Auf- 
merksamkeit, die Auffassungstatigkeit, die Merkfahigkeit und das 
Orientierungsvermogen einer Priifung zu unterziehen. Schwierig ist es 
zu entscheiden, in welcher Beziehung dieselben und deren Storungen zu 
dem eigentlichen BewuBtsein stehen. Vielleicht konnen die verschiede- 
nen Arten der BewuBtseinstriibungen, Dammerigkeit, Unbesinnlich- 
keit, Hyperluziditat als allgemeine diffuse Veranderungen des BewuBt- 
seins aufgefaBt werden. FaBt man nach Ebbinghaus das BewuBt¬ 
sein als ein ,,sehr umfangreiches, zusammenhangendes, einheitliclxes 
System 11 der psychischen Vorgange auf, so miissen solche Storungen, 
die es insgesamt verandern, auch als insgesamt-angreifend gedacht 
werden. Bei den TiitigkeitsauBerungen des BewuBtseins handelt es 
sich hingegen um genauer definierte Teilzustiinde von beschranktem 
Tatigkeitsbereich. Storungen auf diesen Teilgebieten brauchen nicht 
den BewuBtseinszustand insgesamt erheblich zu verandern, so daB der 
Eindruck der Luziditat mehr oder minder erhalten bleibt. Dabei ware 
es denkbar, daB die Beziehung dieser Teilzustiinde zum Gesamtzustande 
des BewuBtseins eine verschieden innige und bedeutungsvoile ware 
und deren Storungen im einzelnen auch einen ungleich wertvollen 
Fingerzeig fiir die etwa nebenher gehende Bewu Btseinstriibung ab- 
geben wiirden. Es wird uns hier aber weniger die rein wissenschaft- 
liche, einer Klarung schiver zugiingliche Beziehung dieser Erscheinungen 


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interessieren, als vielmehr die durch Krankheitsvorgange verursachte 
praktische Verkniipfung bestimrnter BewuBtseinsstorungen mit be- 
stimmten Veranderungen in ihren TatigkeitsauBerungen. So verlockend 
eine Erorterung dieser Fragen ist, so stellen einer solchen jedoch im 
Falle psychischer Erkrankungen die Fiille der Veranderungen, die in 
den akuten Stadien zu einer mehr oder minder volligen Desorganisation 
des psychischen Gesamtgeschehens fiihrt, das Ineinandergreifen und 
die Abhangigkeitsverhaltnisse der einzelnen psychischen Elemente und 
mancherlei Nebenumstande, die dem Untersucher oft schon an der 
Schwelle der Psyche Halt gebieten, die groBten Schwierigkeiten ent- 
gegen. Es wird daher nur moglich sein, in groben Umrissen und be- 
dauerlicher Unvollkommenheit einige praktische Fingerzeige zu ge- 
winnen. 

Von alien TatigkeitsauBerungen des BewuBtseins scheint die Auf- 
fassung (Wahrnehmung, Apperzeption im Herbartschen Sinne) am un- 
mittelbarsten den Bewu Btseinszustand auszudriicken und am wenig- 
sten anderweitigen Einfliissen unterworfen zu sein. Indem ich bei den 
von mir untersuchten Krankheitsfallen die BewuBtseinstriibungen und 
die EntauBerungsveranderungen in Form eines Diagramms aufzeich- 
nete, fand ich, daB BewuBtseinsstorung und Auffassungsstorung ein- 
ander immer kongruent waren, daB die Auffassung alle Schwankungen 
der Luziditat mitmachte in Gestalt von Erschwerung oder Erleichte- 
rung der Auffassung. Diese Erscheinungen diirften Beriihrungspunkte 
haben zur Kraepelinschen Aufmerksamkeitsfesselung, zur Hyperpro- 
sexie und zur Wernickeschen Hypermetamorphose. Wennes nur mog¬ 
lich war, eine GewiBheit iiber eine primare Auffassungsstorung zu er- 
langen, so fand sich bei einer Auffassungshemmung auch immer eine 
BewuBtseinstrubung oder es bestand die Verkniipfung von Hyperluzi- 
ditat und Wahrnehmungserregung. Fehlte eine BewuBtseinstrubung, 
so erwies sich auch das Auffassungsvermogcn immer als intakt. Es er- 
scheint mir daher, daB Auffassungsstorungen, soweit sie primar bedingt 
sind, am ehesten einen RiickschluB auf den BewuBtseinszustand ge- 
statten; da dieselben bis zu einein gewissen Grade einer objektiven 
Feststellung zuganglich sind, so ware dadurch eine exaktere Feststel- 
lung der BewuBtseinsluziditat ermoglicht. Ist der Untersucher iiber 
den BewuBtseinsumfang (Vorstellungsschatz) unterrichtet, vermag er 
somit eine Demenz auszuschlieBen, so obliegt ihm nur, festzustellen, 
ob der Untersuchte sich willensgemaB zur Auffassung einstellt. Es 
kann durch organische Vorgiinge der perzeptive Anteil gestort sein, 
es konnen durch Besonderheiten des Vorstellungsschatzes einzelne 
Wahrnehmungen unverstandlich bleiben, es kann auf sekundarem 
Wege durch Ablenkung des Interesses auf innere und auBere Vorgange 
bei affektiven Zustanden und bei dissoziierenden und wahnbildenden 


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BewuBtseinstriibungen bei Dementia praecox. 


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Denkstorungen die spontane Auffassung versagen. In diesen besonde- 
ren, im allgemeinen wohlerkennbaren Fallen muB eine BewuBtseins- 
anderung ausgeschlossen werden. Eine Priifung der passiven Auffas- 
sungsfahigkeit wird in der Regel klarstellen konnen, ob eine allgemeine 
primare Auffassungsstorung vorbegt. Eine solche ist mit Sicherheit 
auf eine Luziditatsanderung des gesamten BewuBtseinsinhaltes zu be- 
ziehen. Kraepelin stellt diese innige Beziehung der Auffassungssto- 
rungen zur Unbesinnlichkeit, zur Benoramenheit und Schlafsucht fest 
und findet sie bei der Ermiidung, den Ubergangen zum Schlaf, schwe- 
ren Erschopfungszustanden, beim Kollapsdelir, der Amentia, der In- 
toxikation durch Narkotika, bei Fieber- und Vergiftungsdelirien und 
epileptischen Dammerzustanden. Bemerkenswerterweise vermerkt 
Kraepelin dieselben an dieser Stelle auch bei den versehiedenen Zu- 
standen des manisch-depressiven Irreseins, besonders im depressiven 
und manischen Stupor, wie in den starkeren Graden der manischen 
Erregung, so dab auch hier neben sekundaren Affektwirkungen und 
andersartigen Denkstorungen mit einer primaren Bewubtseinsverande- 
rung zu rechnen ware. 

Kraepelin findet auch bei der Dementia praecox auf Grund ge- 
nauerer Messungen die Zuverlassigkeit der Auffassung entschieden ver- 
ringert, am starksten in den akuten Krankheitszustanden und dann 
wieder in den letzten Abschnitten des Leidens. Ebenso findet Bleuler 
in den mit BewuBtseinstriibungen einhergehenden Zustanden der De¬ 
mentia praecox die Auffassung gestort. Es bestehe eine Unmoglich- 
keit, sich in einigermaBen komplizierten und ungewohnten Verhalt- 
nissen zurechtzufinden, wobei der eigenthche Wille zur Auffassung 
relativ oder ganz erhalten sei, wodurch die primare Natur der von 
Bleuler ins Auge gefaBten Veranderungen gekennzeichnet ist. Es zeige 
sich zunehmendes Versagen vom Leichteren zum Schw r ereren, es konne 
sich ein ausgesprochenes Bild der Apraxie, verkehrte Handlungen in- 
folge einer Art Verwirrung einstellen. Die Patienten konnten die noti- 
gen Ideen nicht zusammenbringen. Bei nicht benommenen Kranken 
hingegen konnte Bleuler keine Auffassungsstorung feststellen. Auf- 
fallenderweise behauptet er das lctztere auch von delirierenden Kran¬ 
ken, eine Anschauung, die sich jedoch mit den Grundauffassungen iiber 
das Wesen des Dehrs nicht vereinigen laBt, insbesondere wenn man die 
durch Hyperluziditat und Auffassungserregung gekennzeichnete Art 
der BewuBtseinstriibung nicht iibersieht. In Gbereinstimmung mit 
seiner Ablehnung von BewuBtseinstrubung bei den inkoharenten For- 
men der Dementia praecox findet Wieg-Wickenthal die Auffassung 
nur ganz geringfiigig oder gar nicht gestort. 

Weit unzuverlassiger scheinen mir die Riickschliisse zu sein, die 
aus Aufraerksamkeitsstorungen auf den BewuBtseinszustand gezogen 


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384 


W. Medow: 


werden konnen. Ebenso wie in der Psychologie die scharfere Heraus- 
hebung der Aufmerksamkeit aus der Gesamtheit des BewuBtseins ihr 
eine gewisse Selbstandigkeit verleiht, so miissen wir auch in der Psycho- 
pathologie erfahrungsgemaB feststelJen, daB der Umfang der Aufmerk- 
samkeitsstorungen weit iiber den Kreis der erkennbaren BewuBtseins- 
triibungen hinausreicht und daB Aufmerksamkeitsstorungen keines- 
wegs regelmaBig mit erkennbaren Storungen der Luziditat verbunden 
sind. Man konnte daher zu der Annahme gelangen, daB die Aufmerk- 
samkeit mehr isoliert und unabhangig vom GesamtbewuBtsein be- 
troffen sein kann. Es ist ferner zu beachten, daB die Aufmerksamkeit 
in besonders hohen Graden noch von anderen psychischen Vorgangen 
als denen der allgemeinen BewuBtheit, besonders von solchen affektiver 
Art abhangig ist, so daB gerade in den affektiven Psychosen Auf¬ 
merksamkeitsstorungen ohne greifbare Luziditatsveranderungen an der 
Tagesordnung sind. Die Erscheinungen bei Neurosen und nervosen 
Erschopfungszustanden deuten nun darauf hin, daB die Aufmerksam¬ 
keit ein besonders feiner Indikator der Psyche ist, der nach auBen schon 
auffallig wird, wenn die BewuBtseinsklarheit noch kaum erkennbar er- 
griffen ist. Es ist fast selbstverstandlich, wenn ich erwahne, daB meine 
Diagramme dort, wo BewuBtseinstriibungen vorliegen, auch die Auf¬ 
merksamkeit stets als schwer gestort anzeigen, daB hingegen Aufmerk¬ 
samkeitsstorungen auch sehr haufig zu verzeichnen sind in Fallen, die 
kaum BewuBtseinstriibung erkennen lassen. Da sich diese Diagramme 
nicht auf affektive, sondern nur auf schizophrene Psychosen beziehen, 
bei denen sekundare Einwdrkungen auBer Negativismus kaum in Frage 
kommen, so nehme ich an, daB es primare Aufmerksamkeitsstornngen 
gibt, ohne daB das BewuBtsein eine erkennbare Veranderung der Klar- 
heit erlitten hat. Diese Selbstandigkeit im Rahmen der BewuBtseins- 
entauBerungen scheint mir jedoeh nur eine scheinbare zu sein, indem 
die Aufmerksamkeit ein objektiv und auch subjektiv besonders leicht 
sichtbares Reagens darstellt, wohingegen die leichtesten Schwankun- 
gen der BewuBtseinsluziditat noch lange Zeit unbeachtet im Verborge- 
nen bleiben. Die Aufmerksamkeitsstdrung stellt somit eine erste Stufe 
von Bt'wu Btseinstriibung dar. Eine ahnliche Ansicht beziiglich der Auf¬ 
merksamkeit hat Ewald vertreten. Oppenheim bezeichnet die Zer- 
streutheit und Konzentrationsunfahigkeit als erstes Zeichen der bei 
Hirntumor beginnenden BewuBtseinstriibung. So ist es zu erklaren, 
daB in Krankheitsfallen von weniger intensiver Schadigung des Be¬ 
wuBtseins oder sehr schleichendem Krankheitsablauf, in denen das 
BewuBtsein noch klar erscheint und die BewuBtseinstatigkeit wenig 
betroffen ist, gerade Aufmerksamkeitsdefekte stark in die Augen sprin- 
gen. Ebenso erkliirt sich auch, daB trotz der besonders innigen Ver- 
kniipfung der Bewu Btseinstatigkeit mit der Aufmerksamkeit — be- 


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BewuBtseinstriibungen bei Dementia praecox. 


385 


zeichnet doch Ebbinghaus die letztere als Veranderungen in der 
Hohe des BewuBtheitsgrades im Sinne von Klarheits- und Aufdring- 
lichkeitsanderungen — die Storungen der Sperrung, Hemmung, Be- 
stimmbarkeit, Ablenkbarkeit der Aufmerksamkeit keineswegs mit sicht- 
baren BewuBtseinstriibungen verkniipft zu sein brauchen, wahrend sie 
gleichwohl der Ausdruck einer wenn auch nicht hochgradigen und stiir- 
mischen BewuBtseinstriibung sind. Von den psychischen Zustanden, 
die auf die Aufmerksamkeitstatigkeit einwirken, kommen auBer den 
BewuBtseinszustanden vorwiegend der Vorstellungsreichtum, die Wil- 
lenstatigkeit und die Affektivitat in Frage. Es ist dieselbe somit von 
mehreren Polen aus storenden Einfliissen unterworfen. Hieraus ent- 
springen die groBen Schwierigkeiten, aus der Aufmerksamkeit unmittel- 
bare Ruckschliisse auf die BewuBtseinsklarheit zu ziehen; sie wird im 
aligemeinen nicht als Gradmesser von BewuBtseinsveranderungen ver- 
wertet werden konnen. Ihre Unversehrtheit wird jedoch mit Sicherheit 
auch eine solche der BewuBtseinslage anzeigen. Sie wird ferner unter 
vorsichtiger Abwagung aller Begleitumstande und unter AusschluB 
sekundarer Einwirkung wegen der Feinheit ihrer Reaktion gerade bei den 
leichtesten Graden von BewuBtseinsveranderungen nicht vernachlas- 
sigt w r erden diirfen. 

Zur Frage der Aufmerksamkeitstatigkeit bei der Dementia prae¬ 
cox ist die Voraussetzung gestattet, daB diejenigen Autoren, die Be- 
wu Btseinstriibungen bei der Dementia praecox anerkennen, auch pri- 
mare, durch die BewuBtseinslage bestimmte Aufmerksamkeitsstorungen 
zugeben. Fur das Gros der schizophrenen Erkrankungen scheint man 
jedoch groBtenteils die primare Aufmerksamkeit als funktionstuchtig 
anzusehen. Man ist bestrebt, das Versagen der Aufmerksamkeit auf 
sekundare Ursachen, insbesondere krankhafte Affekt- und Willens- 
einfliisse zu beziehen. Kraepelin hat hierfiir den Begriff der Auf- 
merksamkeitssperrung gepragt und bezeichnet damit eine krankhafte 
Unterdriickung der an sich funktionstiichtigen Aufmerksamkeit. Als 
Besonderheit gegeniiber dem Verhalten bei organischen Psychosen, in 
welchen die maximale Aufmerksamkeit die habituelle uberwiegt, findet 
er dieses Verhaltnis bei der Dementia praecox umgekehrt liegen. Bleu - 
ler findet in der Mehrzahl die Aufmerksamkeit nicht nur ungestort, 
sondern tatiger als normal. Er sagt, es konne die Aufmerksamkeit so- 
wohl im positiven wie im negativen Sinne alteriert sein. Bei dieser be- 
merkenswerten Feststellung ist daran zu denken, daB einer solchen 
wahrscheinlich nicht eine wirkliche Leistungsvermehrung, sondern eine 
hyperluzidive Veranderung der BewuBtseinstatigkeit zugrunde liegt. 
Hierauf deutet vielleicht auch die von Kraepelin gefundene Schwache 
der maximalen Aufmerksamkeit hin. In anderen Fallen erblickt Bleu ler 
die Ursache der Unaufmerksamkeit in Storungen des Interesses und der 


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W. Medow: 


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Assoziationen, doch spricht er auch von primaren Hemmnissen, die die 
Intensitat der Aufmerksamkeit herabsetzen. Sehr bemerkenswert er- 
scheint rair, daB Wieg-Wickenthal in seinen Fallen die Aufmerk¬ 
samkeit durchweg schwer gestort und das Symptom krankhafter Zer- 
streutheit vorherrschend fand. Ziehen ist geneigt, bei der Dementia 
hebephrenica die Unaufmerksamkeit teils als primare Assoziations- 
storung, teils als sekundare Wirkung der Apathie aufzufassen. 

Als Grundlage des BewuBtseins mu0 die Fahigkeit, Assoziationen 
zu erwerben, betrachtet werden. Mithin wird die Merkfahigkeit als 
unaufloslich mit dem BewuBtsein und seinen TatigkeitsauBerungen ver- 
kniipft gedacht werden miissen. Kraepelin sagt: ,,Die Merkfahigkeit 
ist im allgemeinen am groBten fur Eindriicke, die mit moglichster Klar- 
hcit aufgefaBt sind. Man beobachtet daher Storungen derselben bei 
alien ausgepragteren BewuBtseinstrubungen. Aus den hierdurch ent- 
stehenden Erinnerungsliicken ist meist ein RuckschluB auf eine statt- 
gehabte Aufhebung des BevvuBtseins gestattet. Streng genommen ist 
die Amnesie der einzige Anhaltspunkt, der mit einiger Sicherheit die 
Annahme einer vorangegangenen BewuBtlosigkeit gestattet.“ Die Merk¬ 
fahigkeit kann jedoch auch auf dem Umwege der Auffassung und der 
Aufmerksarakeit und mithin auch von Affekt- und Willensvorgangen 
aus beeintrachtigt werden. Ihr Umfang wird ferner durch Umfang und 
Ablauf der Vorstellungen mitbestimmt. Verblodungen und Denk- 
storungen vermindern die Merkfahigkeit. Sie erscheint gut bei ma- 
nischen Kranken bei intakter Wahrnehmung trotz Unaufmerksamkeit. 
Amnesie bei psychogenen Erkrankungen wird von der Seite der Affek- 
tivitat hervorgerufen werden, ohne daB primare BewmBtseinstrubungen 
oder Auffassungsstorungen vorliegen. Die Erfahning in der Psycho- 
pathologie bestatigt, daB ii be rail dort, wo die BewuBtseinshelligkeit ver- 
iindert ist, auch die Merkfahigkeit erheblich leidet. Geht man aber vom 
anderen Ende der Reihe aus, so erschwert eine erhebliche Komplikation 
einen RuckschluB auf die BewuBtseinslage. Zunachst miissen Verblo- 
dungszustande und Denkstorungen in Rechnung gestellt werden, es 
miissen die sekundaren Affektwirkungen in den Affektpsychosen aus- 
geschlossen werden. Ist das geschehen, so tvird man zu einer Gruppe 
von psychopathologischen Zustanden gelangen, in denen die Merk¬ 
fahigkeit primar gestort ist. Ziehen sagt, der Merkdefekt beruht am 
hiiufigsten auf einer organischen angeborenen oder erworbenen Er- 
krankung der Hirnrinde. Gleichwohl werden wir nicht in all diesen 
Fallen den Eindruck gewinnen, daB das BewuBtsein erkennbar getriibt 
sei. Anfangszustande der progressiven Paralyse, der senilen Demenz, 
die Korssakowsche Psychose gelten dem praktischen Urteil im allge¬ 
meinen nicht als bewuBtseinsgetriibt, trotzdem hier gerade die Merk- 
schwache sehr charakteristisch ist; und doch wird man bei genauester 


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BewuBtseinstriibungen bei Dementia praecox. 387 

Betrachtung sagen konnen, daB in alien diesen Fallen die Luziditat in 
leichtesten und sehr schwankendcn Graden verandert ist und daB die 
ersten Stufen einer BewuBtseinstrubung erreicht sind. Die Merkschwache 
ist ebenfalls ein verhaltnismaBig feiner Anzeiger der Psyche, der erheb- 
lich fniher und starker ins Auge fallt als eine BewuBtseinstrubung, die 
wenigstens bis zum Grade der Dammrigkeit schon sehr schwerer und 
sturmischer Einwirkungen bedarf. Es ist also festzustellen, daB es eine 
primare Merkschwache gibt ohne bereits nachweisbare BewuBtseins- 
triibung, die aber in feinster Weise als dem Vorgange zugrunde liegend 
gedacht werden muB. Steigerung der pathologischen Vorgange lassen 
dann neben der Vertiefung der Merkschwache auch die BewuBtseins- 
unklarheit erkennen, bis bei hoheren Graden von Merkfahigkeitsverlust 
auch BewuBtseinsumdammerung eintritt und nach dem Abklingen 
eine Amnesic hinterbleibt. Lassen sich psychogene Erinnerungsverluste 
ausschlieBen, so ist die Amnesie ein sicheres Anzeichen fur BewuBt- 
seinstriibungen und wird sie in solchen Fallen, die nach Riickkehr der 
Besonnenheit eine diesbeziigliche Ausforschung gestatten, neben der 
Auffassungsschwache in erster Linie zur Erkennung solcher heran- 
gezogen werden miissen. Leider wird dieses Erkennungszeichen bei den 
unheilbaren und nicht zu erheblicher Remission gelangenden Psycho¬ 
sen, zu denen das Gros der Dementia praecox zu rechnen ist, seltener 
aufgefunden werden konnen; w r o es aber festgestellt werden kann, wird 
es ein besonders bemerkenswertes Beweismittel fur Bewu Btseinstrii- 
bungen sein. Auch wenn ich hieriiber beine direkten AuBerungen vor- 
finde, ist zu folgern, daB jene Autoren, die BewuBtseinstriibungen bei 
besonderen Fallen bei Dementia praecox zugeben, im gleichen Um- 
fange auch Defekte der Merkfahigkeit anerkennen. Dariiber hinaus 
findet Bleuler das Gedachtnis intakt, hingegen niinmt er sekundare 
Storungen durch assoziative und affektive Prozesse an. Auch Kraepe- 
lin fiihrt im allgemeinen nur sekundar durch Aufmerksamkeitsschw'an- 
kungen und Interessenlosigkeit bedingte Storungen der Merkfahigkeit 
an. Nach schwerem Stupor beobachtete er amnestische Erscheinungen, 
fiir die er neben BewuBtseinstriibungen Merkschw'ache als Grundlage 
annimmt. 

Einer der praktisch wichtigsten seelischen Zustande in der Psych¬ 
iatric fiir die Erkennung organisch bedingter Psychasen ist seit jeher 
die Orientiertheit gewesen. Ihre Gestortheit stellt eine Stufe dar, deren 
Uberschreitung anzeigt, daB Ursachen sturmischer und unterbrechend 
in die psychischen Vorgange eingegriffen haben. Die Orientiertheit ist 
eine zusammengesetzte GroBe, an der primar Luziditat und Tatigkeits- 
auBerungen des BewuBtseins, sekundar Affekt, Willenstatigkeit, Um- 
fang und Ablauf der Vorstellungen beteiligt sind. Kraepelin glaubt 
drei Gmppen der Desorientiertheit unterscheiden zu konnen, je nachdem 


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W. Medow: 


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die Ursache in Storungen der Aufmerksamkeit, des Gedachtnisses oder 
des Urteils liegt, wobei mehrere dieser Storungen miteinander verbunden 
sein konnen. Hiervon unterscheidet er die apathische Desorientiert- 
heit, die durch Mangel an geistiger Regsamkeit verursacht wird, und 
die wahnhafte Desorientiertheit. In diesen beiden Fallen werde der Aus- 
fall sekundar ohne primare BewuBtseinsveranderung hervorgerufen. 
Es ergibt sich, daB nur die ersteren Formen einen Hinweis auf Veran- 
derung der BewuBtseinsklarheit geben und unbeschadet mancher, im 
einzelnen ungeklarter Kombinationen wird die praktische Diagnostik 
hiervon Gebrauch machen konnen, um ein allgemeines Urteil iiber den 
BewuBtseinszustand zu erlangen. In der Anwendung auf die Dementia 
praecox findet Kraepelin die Orientierung entweder ungestort oder 
sekundar durch Apathie oder durch Wahnbildung beeintrachtigt; nur 
im Stupor oder in heftigen Angstzustanden findet er die richtige Auf- 
fassung der Umgebung zeitweise starker getriibt. Bleuler findet bei 
der Schizophrenic nur eine sekundare Stoning durch Halluzinationen 
und Wahnbildungen; er rechnet hierzu auch eine solche durch Asso- 
ziationsstorung. Wenn er jedoch sagt, die Orientierung in Raum und 
Zeit sei nie primar gestort, so steht dieses im Widerspruch zu seiner 
Stellungnahme zum Vorkommen von BewuBtseinstriibungen, Delirien 
und Dammerzustanden bei dieser Krankheitsgruppe. Aus dem bisher 
Gesagten folgt, daB bei primaren Storungen der BewuBtseinsklarheit 
auch die Orientiertheit mehr oder weniger gestort sein muB. Pfersdorf 
findet in den akuten Stadien der Dementia praecox namentlich die 
zeitliche Orientierung gestort. 

Es bleibt noch ein Blick zu werfen auf die Beziehungen der Be¬ 
wuBtseinsklarheit und der BewuBtseinstatigkeit zu dem Vorstellungs- 
inhalt und zum Vorstellungsablauf. Bei der Zusammengehorigkeit von 
BewuBtsein und Vorstellungen ist es klar, daB eine exakte Trennung 
nicht moglich ist. Aus den nachfolgenden Erorterungen miissen zu- 
nachst alle sekundar bedingten Storungen der Gedankentatigkeit fern- 
gehalten werden. Hierher mochte ich insbesondere die Affektzerfahren- 
heit und die psychogenen paranoischen Zustande rechnen. Im xibrigen 
wird man aus praktischen Griinden drei Gruppen unterscheiden konnen, 
die D»fektzustande, die chronisch und langsam verlaufenden und die 
akuten Prozesse. Bei Defekten des Vorstellungsinhaltes muB auch die 
Klarheit des BewuBtseins von Stufe zu Stufe sinken, bis bei der Idiotie 
und der tiefen Demenz ein Zustand von Dammerleben erreicht ist. Es 
erhebt sich die Frage, ob diese Unklarheit nur in gewisser Hinsicht 
oder grundlegend verschieden ist von den BewuBtseinstriibungen. Ist 
ein KrankheitsprozeB mit maBigem Defekt zum Stillstand gekommen, 
so werden als besonders leicht ins Auge springend Mangel der sozialen 
Personlichkeitsentfaltung vermerkt werden, beruhend auf Mangeln des 


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BewuCtseinstrlibungen bei Dementia praecox. 


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Affekts oder der Urteilsfahigkeit, wahrend bei ungenauer Beobachtung 
das BewuBtsein als klar beurteilt wird. Ich glaube aber, daB bei ein- 
gehender Beobachtung Mangel der BewuBtseinstatigkeit nicht vermiBt 
werden, insbesondere werden dies die besonders erapfindlichen Teile 
derselben, die Aufmerksamkeit, die Konzentrationsfahigkeit und die 
Merkfahigkeit sein. Ich mochte da besonders erinnern an Defektzustande 
nach schweren Traumen, nach Encephalitis und an alkoholische De¬ 
fektzustande. Wie es sich mit den schizophrenen Defektzustanden ver- 
halt, wird diese Arbeit im folgenden selbst zeigen. Ich glaube, daB 
den Beobachter stark beeinfluBt ein Unterschied, der darin besteht, 
daB der Defekte nicht unklar ist im Verhaltnis zu seinem Habitual- 
zustande, sondern nur relativ im Verhaltnis zu inhaltlich Vollwertigen, 
wahrend der an einem fortschreitenden ProzeB Leidende unklar ist im 
Verhaltnis zu dem noch vor kurzem vollwertigen Umfange seines ge- 
sunden BewuBtseinsinhaltes. Ein wesentlicher Unterschied diirfte darin 
zu erblicken sein, daB erfahrungsgemaB die benommene und hyper- 
luzide Farbung der BewuBtseinsunklarheit verkniipft mit einem hohen 
Grade gestorter Bewoi Btseinstatigkeit an einen mit einer gewissen Ge- 
schwindigkeit ablaufenden ProzeB gebunden ist. Bei den Defekt¬ 
zustanden liegt die Unklarheit uberwiegend auf der gedanklichen Seite 
des BewuBtseins, bei den fortschreitenden Prozessen in erster Linie 
und die gedankliche Seite iiberdeckend auf der Seite der Luziditat und 
der BewuBtseinstatigkeit. Ich glaube aber, daB ein grundlegender Un¬ 
terschied nicht gemacht werden kann. Zur Unterscheidung der akuten 
und chronischen Prozesse kann gesagt werden, daB die Starke und 
Schnelligkeit des Prozesses in erster Linie entscheidet, ob Denkstorun- 
gen von greifbaren, d. h. von starkeren Luziditatsveranderungen be- 
gleitet sind, die uns als dammrig, schwerbesinnlich oder hyperluzide 
erscheinen. Je feiner und schleichender ein KrankheitsprozeB zu den- 
ken ist, urn so mehr wird wie bei der Paranoia die Denkstorung uns den 
Eindruck der Klarheit hinterlassen. Je stiirmischer der Vorgang, um 
so getriibter erscheinen auch die Gedankengebilde. Man koimte daran 
denken, daB es auch Storungen des BewuBtseins gibt, in denen der 
gedankliche Anteil selektiv betroffen ist, daB es also eine rein gedank¬ 
liche BewuBtseinsstbrung gebe, im Gegensatz zu den BewuBtseins- 
triibungen. Man konnte hierbei an die Inkoharenz der Amentia denken, 
wie Meynert getan hat, aber es besteht kein Zweifel, daB die Inkoha¬ 
renz in der Regel mit Storungen der BewuBtseinstatigkeit verbunden 
ist, wobei an die Storungen der Orientiertheit und der Aufmerksamkeit 
in erster Linie erinnert sei, auch stellen sich sehr haufig amnestische 
Erscheinungen ein. Es ermangelt ihnen nur der Ausdruck der Damm- 
rigkeit. Es ist mir wahrscheinlich, daB solche Bilder in dem Zugrunde- 
liegen einer hyperluziden Triibung ihre Erkliirung finden. Immerhin 
Ar«hiv fUr Psyi hiatrie Bd. 67. 26 


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ist es wahrscheinlich, daB gewisse Verkniipfungen noch eine besondere 
Bedeutung haben. Wir beobachten, daB scheinbar gleich tiefe Denk- 
storungen, die in annahernd gleichen Zeiten entstehen, einraal von Be- 
nommenheit, ein andermal von Unbesinnlichkeit oder von gesteigerter 
oder krankhaft abgeanderter Luziditat begleitet sind, daB die Grade 
der Luziditat sehr schwanken konnen. Ich glaube aber, daB sie me¬ 
ntals ohne begleitende BewuBtseinsunklarheit gedacht werden konnen, 
wenn es sich wirklieh um primare und akut entstandene Denkstorungen 
handelt. Im letzteren Falle gestatten sie auch einen positiven Riick- 
schluB auf die BewuBtseinshelligkeit. Es kann deshalb die Frage, ob 
Storungen der BewuBtseinstatigkeit allein durch Denkstorungen ohne 
BewuBtseinstriibung hervorgerufen werden konnen, dahin beantwortet 
werden, daB dieses nicht der Fall sein kann, wenn es sich um primare, 
einigermaBen akut verlaufende und auf einem ProzeB beruhende Denk¬ 
storungen handelt. Diese Voraussetzungen scheinen mir bei den im 
folgenden zu schildernden Krankheitsfalien gegeben. Die Denksto¬ 
rungen sind in ihnen nichts Selbstandiges, sondern Teilerscheinungen des 
das BewuBtsein und die Bewu Btseinstatigkeit befallenden Krankheits- 
prozesses, welehe nur mehr oder minder je nach der Geschwindigkeit 
des Krankheitsprozesses in den Vordergrund geriickt werden. Ich habe 
daher, um die Komplikation nicht zu erhohen, von ihrer Erorterung 
abgesehen. Es werden bei den nachfolgenden Unters-uchungen neben 
den schon geschilderten elementaren psychischen Gebilden auch noch 
andere komplizierte psychische Zustande beachtet werden miissen, die 
erfahrungsgemaB in besonderem MaBe der Ausdruck eines organisch 
ablaufenden Gehirnvorganges sind. Es sind dahin insbesondere die 
Ratlosigkeit, die delirante Beschaftigungsunruhe, Traumhalluzinatio- 
nen, Personen- und Situationsverkennungen, Konfabulationen, Haften 
und Denkhemmung zu rechnen. 

Wenn es sich ergibt, daB primare Veranderungen der BewuBtseins¬ 
helligkeit und der Bewu Btseinstatigkeit bei der Dementia praecox auf- 
treten konnen und wenn damit die Moglichkeit naher geriickt wird, 
daB auch andere den organisch bedingten Psychosen zugehorige Sym- 
ptome in ihrem Bereich auftreten konnen, so ist die Abgrenzung auch 
nach einer andern Richtung hin zu treffen. Es ist bereits wiederholt 
diskutiert worden iiber die Zugehorigkeit gewisser schizophrener Psy¬ 
chosen verbunden mit Erscheinungen des Hirndruckes, mit neurolo- 
gischen und Herdsymptomen. Eine endgiiltige Entscheidung diirfte 
bisher noch nicht gefallt sein. Es soli diese Frage hier nur insoweit 
gestreift werden, als sie ihrerseits geeignet ist, das Auftreten der BewuBt- 
seinstriibungen in ein verstarktes Licht zu riicken und positive Fest- 
stellungen auf diesem Gebiete zu unterstiitzen. 

Im AnschluB an seine Untersuchungen iiber Hirnschwellung hat 


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BewuBtseinstriibungen bei Dementia praecox. 391 

Reichardt einen Krankheitsfall veroffentlicht, der im Beginn mit epi- 
sodischen Hirndruckerscheinungen und Stauungspapille verlief und der 
sich spater zu einer typischen Katatonie entwickelte. Er glaubt, daft 
ein Teil der Erkrankungen an Pseudotumor cerebri in das Gebiet der 
Katatonie gehort. Potzl hat diesen Gedanken weiter ausgefiihrt. Er 
halt die Hirnschwellung fiir eine Episode, die bei verschiedenen Psy¬ 
chosen und auch bei der Katatonie auftreten kann. Bei der letzteren 
waren insbesondere die Zustande von Benommenheit, die an Hirndruck 
erinnern, hierher zu rechnen. Im AnschluB an die Schilderung einer 
sonst typisch verlaufenden Katatonie, die im Anfang meningitische Er- 
scheinungen darbot, sagt er, dieser Fall sprache dafiir, daB in man- 
chen vereinzelten Fallen wahrend des akuten Eruptionsstadiums einer 
Katatonie Erscheinungen von Hirndruck und meningealer Reizung auf¬ 
treten konnen, ohne daB man zur Annahme einer Komplikation genotigt 
ware. Man konnte davon sprechen, daB eine Meningitis serosa das akute 
Stadium der Katatonie einleite. Er stiitzt seine Annahme ferner durch 
Hinweis auf die der Dementia praecox eigenen Reizerscheinungen des 
autonomen Systems und die in 2 Fallen nachgewiesene Steigerung des 
Liquordruckes in katatonen Anfallen. In einer Reihe weiterer Krank- 
heitsschilderungen von Potzl scheint mir jedoch die Diagnose der De¬ 
mentia praecox nicht vollig gesichert zu sein. Auch eine Veroffentlichung 
von Rosenthal fiber einen schizophrenen ProzeB im Gefolge einer 
Hirndruck steigernden Erkrankung leidet darunter, daB die Diagnose 
der Dementia praecox nicht sichergestellt ist, wie er auch selbst sol- 
chen schizophrenen Prozessen im Gefolge von Hirndruck steigernden 
Erkrankungen eine Sonderstellung einraumen will. Bleuler sagt: 
,,Man trifft manchmal bei der Katatonie Zeichen von Hirndruck, die 
teils einem Odem in der Schadelhohle, teils einer besonderen Hirn¬ 
schwellung zuzuschreiben sind. Manchmal, namentlich in akuten Fallen 
der Katatonie, gleicht der Zustand des Korpers dem einer schweren 
Infektion.“ Er fiigt hinzu: ,,Die Abtrennung der Schizophrenic von 
gewissen psychotischen Zustanden, die grobe Hirnherde begleiten, liegt 
noch ganz im argen.“ Er weist auf das Vorkommen schizophrenie- 
ahnlicher Psychosen bei chronischen Meningitiden, Hirngliose und Hirn- 
traumen hin. Stransky schildert Schizophrenien von letaler Verlaufs- 
art mit meningitischen und Hirndmckerscheinungen. Aus einer Zu- 
sammenstellung von Michel liber korperliche Symptome bei Dementia 
praecox entnehme ich folgendes: Bei alten Fallen von Dementia prae¬ 
cox fanden sich ahnliche Symptome wie bei organischcn Erkrankungen, 
feiner Tremor, Nystagmus, choreiforme und athetoide Bewegungs- 
storungen. Schfile und Rosenfeld sahen solche Falle halbseitig mit 
Hypotonie. Bleuler sah apoplektiforme und epileptiforme Anfalle, 
aphasische Storungen namentlich amnestischer Art. Petzner und 

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Gianilli beobachteten einen Status epilepticus. Urstein sah in 
8 Prozent, Kraepelin in 16 bis 19 Prozent bei Katatonie epileptiforme 
Anfalle. Meyer, Pfortner und Kleist stellten Steigerung, Ab- 
schwachung, Differenzen der Kniesehnenreflexe fest. Rosenfeld sah 
3 Falle mit teils spastischer, teils schlaffer Hemiplegie mit anfallsweisem 
Sprachverlust. Kraepelin beobachtete amnestische Aphasie, Kleist 
fand psycho-motorische Apraxie und Aphasie, er hebt die Ahnlichkeit 
solcher motorischer Storungen mit den bei Erkrankungen des Stirn- 
hirn-Kleinhirnsystems gefundenen hervor. Hierher gehort auch Wer¬ 
nickes klassischer Fall von Aphasie bei einer schizophrenen Psychose. 
Dufour hat geglaubt einen cerebellaren Typ bei Dementia praecox 
aufstellen zu konnen. Andere Autoren wie Blumenthal sind geneigt, 
solche strittigen Falle als eine besondere Gruppe von Psychosen bei 
cerebralen Prozessen, insbesondere der Meningitis serosa, der Hirn- 
schwellung und bei Hydrocephalus aufzufassen. Er fiihrt jedoch in 
seiner Arbeit auch einen im Beginn mit Hirnschwellung einhergehen- 
den Krankheitsfall an, der mit Sicherheit als Katatonie bezeichnet wer- 
den mu Bte und beobachtete in einer akuten Phase der paranoiden De- 
menz ein amnestisches Zustandsbild. Es scheint mir zur weiteren Kla- 
rung nicht unwesentlich zu sein zu erwahnen, daB der Fall 5 Meta P. 
dieser aus der Rostocker Klinik hervorgegangenen Arbeit, der mit Be- 
wuBtseinsumdammerung und Albuminurie einherging und daraals als 
chronisch gewordene symptomatische Psychose mit Verdacht auf einen 
endogenen ProzeB aufgefaBt worden ist, sich nachtraglich im Sinne 
einer Dementia praecox weiterentwickelt hat. 

In der Rostocker Klinik ist in den letzten Jahren eine Reihe von 
schizophrenen Erkrankungen beobachtet worden, bei denen BewuBt- 
seinstriibungen in so erheblichem Grade entwickelt waren, daB bei ihnen 
die Diagnose langere Zeit nach der Seite der symptomatischen Psy¬ 
chose, sei es nun infektioser oder anderer organischer Genese, hinneigte. 
Hiervon werde ich im folgenden einige Falle so ausfiihrlich, wie es die 
Klarung der Sachlagen notwendig macht, schildern. Es fanden nur 
solche Krankheitsbilder Verwendung, bei denen die Diagnose der De¬ 
mentia praecox gesichert erschien. Die bei Durchsicht dieser Falle ge- 
wonnenen Uberzeugungen fiilirten mich dahin, auch andere typische 
Falle von Dementia praecox in groBerer Anzahl gerade unter dem Ge- 
sichtswinkel der BewuBtseinsvorgange zu durchpriifen. Letztere Be- 
funde werde ich in kurzer Ausfiihrung beifiigen, da sie mir fiir einige 
Grundfragen iiber Wesen und Stellung der Dementia praecox belang- 
reich erschienen. 

Fall I: Frau Emma K., geb. 25. IV. 1883. 

Vorgeschichte: Mutter wortkarg und verschlossen. Erblichkeit im iibrigen 
o. B. Ala Kind normal entwickelt. Gute Schulleistungen. Im Hauahalt der 


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BewuBtseinstrubungen bei Dementia praecox. 


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Eltern tatig. Mit 23 Jahren verheiratet. GleichmaBig lebhafter Stimmung, ge- 
sellige Xatur. Ein gesundes Kind. Mann 1914 gefallen. Seitdem zuriickgezogener, 
jedoch ohne psychische Veranderung. Seit Mitte Oktober 1921 peychisch ver- 
andert. Unruhe, ging viel und selbst bei starkem Unwetter spazieren, litt an 
tlbelkeit, horte Stimmen, war deprimiert. Sprach viel davon, daB ihr Lebens- 
gltick auf dem Spiel stande. War beeinfluBbar. Starke Kopf- und Augenschmerzen. 

Erste Aufnahme in Gehlsheim 26. X. bis 12. XII. 1921. Diagnose: Schizo¬ 
phrenic. 

Aufnahinebefund: Korperorgane gehorig. Steigerung der Knie- und 
Achillessehnenreflexe. Personalien werden richtig angegeben. Bei der Wieder- 
gabe der Lebensgeschichto maBige Reproduktionsschwache. Die Affektlage er- 
scheint blaB, die Kranke lachelt bald, bald klammert sie sich angstlich an, sie 
schwankt zwischen einer befehlsautoinatischen Willfahrigkeit und angstlichem 
Widerstreben. Sie verkennt die Personen, belegt den Arzt mit einem Namen 
aus ihrer Bekaimtschaft. Ortlich und zeitlich mangelhaft orientiert, ohne daB 
hierbei Xegativismus mitspielt. Betrachtliche Merkschwache, Auffassung er- 
scheint besser. 

Krankheitsverlauf: 

27. X. Liquorbefund normal, keine Druckerhohung. Wassermann im Blut und 
Liquor negativ. 

29. X. Erbrechen. BlaB. Etwas benommen. Verlangsamte Auffassung. Ant- 

worten erfolgen erst nach langen Reaktionszeiten. Ortliche Orientierung 
vorhanden, zeitliche fehlt. Unaufmerksam, schwerfallig. Schwerer Aus- 
fall bei Urteilspriifung, ohne daB Patientin widerstrebt. Rechnet nur 
ganz leiehte Aufgaben richtig, versagt bei schwereren. Leichter Grad 
von BewuBtseinstriibung. Teilnahmslos. Willenlos. 

30. X. Schwerbesinnlicher, fast benommener Eindruck. Die psychischen Reak- 

tionen bei vorhandenem Bestreben, das Richtige zu finden, sehr wech- 
selnd. Glaubt, der Arzt wisse das selbst, was er fragt. Beim Lesen eines 
Textes unaufmerksam, kommt zu keiner verstandlichen Auffassung. 

31. X. Ortlich desorientiert. 

1. XI. Etwas luzider, aber ablehnend, ratios. Schwere Aufmerksamkeitsstbrung, 

die keineswegs sekundar durch Widerstreben erzeugt ist. 

2. XI. Sehr matt, ruiide und hinfallig. Starke Bltisse, Krankheitsgefiihl, starke 

Kopfschmerzen. Patientin ist zuganglich. Sie benennt den Arzt jetzt 
richtig. Teilweise Amnesie fur die letzten Ereignisse. Glaubt langer 
hier zu sein, als es wirklich der Fall ist. Zeitlich mangelhaft orientiert. 
Sehr verlangsamte Antworten, Schwerbesinnlichkeit. Denkt sehr lange 
nach, beantwortet nur die leichtesten Fragen richtig. Ratios. Bekommt 
einen kurzen, l / 2 Minute dauernden Zitteranfall ohne ersichtlichen An- 
laB. Auffassung sehr schlecht, spricht nur Reihen von 3—4 Ziffern 
richtig nach. Merkleistungen sehr vermindert. Kann die Binetschen 
Bilder fur Zwolfjahrige nicht erklaren, obwohl sie sich bemiiht. 

3. XI. Heute wieder ablehnend. FaBt von einem gelesenen Text sehr wenig 

auf, u'obei schwere Aufmerksainkeitsstorung zum mindesten mitspielt. 
5. XI. Zuganglicher, miide, unaufmerksam, sehr verlangsamte Auffassung. 
Gibt an, sie kdnne nicht mehr so denken wie fruher, sie vergesse alles, 
es falle ihr nichts ein. 

7. XI. Zeitlich desorientiert. Schlechte Auffassung. Sehr schlechte Urteils- 

leistungen. 

8. XI. Heute Krankheitseinsicht, zuganglich, ortlich und zeitlich orientiert. 

9. XI. Orientiert, teilnahmslos, fiihlt sich verandert. Urteilsleistungenetwas besser. 


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W. Medow: 

Zustand leichter Umdammerung. Auffassungserschwerung und Auf- 
merksamkeitsschwache. 

Erbrechen. Leichtes Taumeln. Kommt beim Schreiben einer Karte 
nicht weiter, deren Inhalt arm, aber formal geordnet ist. Zeitlich richtig 
orientiert. 

Geringe Spontaneitat. Liegt mit abgehobenem Kopf. Unmotiviertes 
Lachen. Neben Unaufmerksamkeit Haften. Merkschwache fiir Namen 
und Da ten, bisweilen Personenverkennungen. 

Bei Priifungen anfangs widerstrebend, dann folgsam. Perseveriert. 
Schlechte Auffaasung. Erkennt auf einer Landkarte nicht die einzelnen 
Lander, weiB sie nicht zu benennen. 

Lebhaftere und schnellere Antworten. Etwas besser orientiert. Kopf- 
sausen. Unmotiviertes Lachen. Berichtet iiber Stimmen, die sie inner- 
lich hore und die ihr Befehle erteilen. 

Nachts traumartige, szenenhafte Erlebnisse aus dem Krieg. Verharren 
in Haltungen. Manirierte Bewegungen. Beklagt sich iiber Gedanken- 
iibertragung. Desorientiert. Phoneme, redet Arzte mit Du an, ratios. 

5. XII. Naehtliche traumartige Erlebnisse. Physikalische Beeinflussung. 

11. XII. Springende Affekte, Maniriertheiten, abnorme Haltungen, Grimas- 
sieren. Ungeheilt entlassen. 

Zweite Aufnahme in Gehlsheim 2. I. 1922. 

War inzwischen dauernd psychisch verandert, Wechsel von ruhigeren Tagen 
und solchen mit Unruhe und verworrenem Rededrang. Horte Stimmen, fiihlte 
sich von der Klinik aus beeinfluBt. 

Aufnahmebefund: Gesicht etwas gedunsen. Schilddriise leicht fast bar. 
Feiner Tremor. Starke Hautschrift. Arm-, Knie- und Achillessehnenreflexe leb- 
haft. Spannungen. Lappisch. Standig wechselnde Affektlage, inkoharenter Rede¬ 
drang, Wortneubildungen, somatopsychische Erklarungsideen, Phoneme, unauf- 
merksam, abschweifend. Orientierung mangelhaft. Auffaasung herabgesetzt, 
Denkschwache, wobei Unaufmerksamkeit und negativistische Stromungen storend 
eingreifen. Merkfiihigkeit vermindert. 

4. I. Mangelhaft orientiert. Ratios. In der folgenden Zeit maflige Erregtheit. 
Starke Inkoharenz. Fortschreiten der gedanklichen Storungen mit ver- 
worrener Wahnbildung. V r ereinzelte Zeichen, die noch auf BewuBtseins- 
unklarheit hindeuten. Bisweilen schlafrig, klagt selbst iiber Gedachtnis- 
schwaehe. Die Orientiertheit bessert sich, zeigt aber noch immer ein- 
zelne Mangel. Im Februar nimmt die inkoharente Erregtheit zu. Starke 
Abgelenktheit durch Sinneseindriicke, verarbeitet dieselben, Andeutung 
von Hypermetamorphose. Mischt sich in die Unterhaltung ein. Es ent- 
wickeln sich verworrene GroBenideen. Affekt immer flach und sprunghaft. 

Weiterer Verlauf bis zur Gegenwart: Inkoharente Erregtheit, sehr verw r orrene 
Fehlvorstellungen. Meist zuganglich, sehr abspringend. Liegt mit abgehobenem 
Kopf. Zeitweise vollig desorientiert. Rechnet leichte Aufgaben richtig. Bei 
Denkleistungen vollig inkoharent, unproduktiv. Phoneme. 

Zusammenfassung: Bei einer 38jahrigen Frau von normaler Konstitution 
akutes Einsetzen einer Psychose, die die ersten Wochen leicht stuporos verlauft, 
spater in zunehmende inkoharente Erregtheit iibergeht. Die Diagnose Schizo- 
phrenie (inkoharente Verblodung) stiitzt sich auf die Besonderheiten der Affekt- 
storungen (Teilnahmlosigkeit, Farblosigkeit trotz lebhafter seelischer Vorgange, 
Xegativismus), die motorischen Erscheinungen (Verharren in Haltungen, Para- 
kinesen, Grimassen, vereinzelte Spannungen), die Willensschwiiche (Untatigkeit), 


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10. XI. 

11. XI. 

15. XI. 

18. XI. 

22. XI. 

28. XI. 


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BewuBtseinstriibungen bei Dementia praecox. 


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die sensorischen Erscheinungen (Phoneme), die sprachlichen und gedanklichen 
Storungen (Wortneubildungen, faselige Inkoharenz). 

Der BewuBtseinszustand: Das BewuBtsein ist in den ersten Wochen 
getrubt und macht den Eindruck maBiger Dammrigkeit und Schwerbesinnlichkeit. 
Dieser Eindruck wird gestiitzt durch den Nachweis von Amneaie und bemerkens- 
werter Auffassungsschwache. Einzelne luzidere Tage sind eingeachoben. Der 
Eindruck der Dammrigkeit schwindet mit dem Umschlag in Inkoharenz. In 
letzterer Phase sind einzelne Anzeichen von Hyperluziditat, wenn auch nicht 
sehr ausgesprochen, vorhanden (optische Hyperasthesie, leichte Hypermetamor- 
phose). Die Merkfahigkeit, die Orientiertheit ist dauemd, etwas schwankend 
gestort. Hochgradige Storungen zeigt die Aufmerksamkeit. Die BewuBtseins- 
triibung besteht zeitlich eher, als sich Negativismus entwickelt, der in spateren 
Wochen schwankend, nicht sehr hochgradig zutage tritt. Auch der gedankliche 
Zerfall entsteht erst spater. Auch spater erklart der Negativismus die Abgelenkt- 
heit, die Unaufmerksamkeit, die Mangel der BewuBtseinstatigkeit nicht, er geht 
nur nebenher und verstarkt sie bisweilen. Als sonstige Kennzeichen von Be- 
wuBtseinsverandevungen sind Ratlosigkeit, Schlafrigkeit, Hemmungsgefiihl, Per- 
sonenverkennungen und traumhafte Halluzinationen zu verinerken. Es zeigt sich 
bei der akut und stiirmisch einsetzenden Schizophrenic eine primare BewuBtseins- 
triibung mit primaren Storungen der TatigkeitsauBerungen des BewuBtseins. 

Differentialdiagnose: Dieselbe bleibt nur gegeniiber einer symptomati- 
schen Amentia zu stellen. In erster Linie entscheidet gegen letztere das Fehlen 
eines korperlichen Krankheitsprozesses. Bei dem sonstigen IneinanderflieBen 
der Symptomatologie kann vielleicht fiir die gestellte Diagnose angefiihrt werden 
die verhaltnismaBige Blasse des Affekts, die Abulie und die Wortneubildungen. 

Fall II: Karl G., geb. 8. II. 1902. 

Vorgeschichte: Bruder des Vaters, eine einsiedlerische Natur, war mit 
46 Jahren wegen einer angstlich-paranoiden Psychose 9 Monate in Gehlsheim. 
Er wurde ungeheilt entlassen. Mutter neigt zu reaktiven Verstimmungen. Nor- 
male Kindheitsentwicklung. Gute Schulleistungen. Mit 11 Jahren Rippenfell- 
entztindung, anschlieBend Keratitis eczematosa, Mittelohreiterung und AbczeB 
an der rechten Hand. Arbeitete 1 / i Jahr bei einem Bauer, dann wegen korper- 
licher Schwachlichkeit beim V r ater. War etwas still, zutraulieh, uberall beliebt. 
GleichmaBige Affektlage. Herbst 1918 entwickelte sich ein kalter AbczeB am 
Riicken. Vor der in Aussicht genommenen Operation leicht angstlich verstimmt. 

Aufnahme in die chirurgische Klinik Rostock, 5. bis 13. XI. 1919. Diagnose: 
Kongestions-AbszeB. Befund: Schlechter Ernahrungszustand. Gesicht gedunsen. 
Fluktuierende Geschwulst in der Hohe des 4.—-5. Lendenwirbels. Rontgenolo- 
gisch: Aufhellung im 5. Lendenwirljel. der etwas eingebrochen zu sein scheint. 
Patient war schon vor der Operation etwas auffallend und angstlich. In Chloro- 
formnarkose Punktion und Ablassen von diinnfliissigem Eiter. Injektion von 
30 cbcm Chloroformglycerin. In der darauffolgenden Nacht psychisch verandert, 
lief nackt umher, betete, lag teilnahmlos im Bett, l>cantwortete Fragen langsam, 
aber sinngemaB, auBerte Versiindigungsideen. Da man mit einer Jodoform- 
intoxikation rechnete, so wurde dieses am 11. XI. wieder entfcrnt. Am 13 XI. 
Erregungszustand, schrieb und betete laut, zerriB, muBte gehalten werden. Ver- 
kannte den Arzt. 

AnschlieBend Aufnahme in Gehlsheim 13. XI. 1919. Diagnose: Katatonie 
(anfangs Eindruck einer symptomatischen Psychose). 

Aufnahmebefund: Es findet sich im Riicken neben der Lendenwirbel- 
saule eine in Abheilung lx'griffene Kreuzincision. deren Umgebung geschwollen 


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W. Medow: 


ist. Temperatur 37,6. Leichte Hornhauttriibung links. Neurologischer Befund 
normal. Gibt Personalien richtig an. Ist bestrebt, iiber Lebensgeschichte Ans- 
kunft zu geben. Fiir die letzten Ereignisse teilweise Amnesie. FaBt schlecht 
auf, gibt verkehrte Antworten. Ziemlich mangelhaft orientiert. AuBert un- 
zusammenhangende religiose Ideen, verkennt die Situation in entspreehender 
Weise. Die Auffassung wechselt sehr, fragt bei jeder Frage nochmals, braueht 
lange Zeit, bis er verstanden hat. Vermag nur leichte Rechenaufgaben zu losen, 
schwerere dagegen nicht. VergiBt die Aufgabe und versteht sie schlecht. Manche 
Frage faBt er wieder sohnell auf. Ratloser, verstandnisloser Gesichtsausdruck. 
Verhalt sich teilweise ablehnend, kataleptisch, Affekt indifferent, zum Teil ratios 
oder angstlich. Hort die Stimme Gottes. Unmotiviertes Lachen. 

Krankheitsverlauf: 

14. XI. Mangelhaft orientiert, Personenverkennungen, Versiindigungsideen. Ant- 

wortet langsam, oft beziehungslos. Die Resultate wechseln sehr. 

15. XI. Ortlich orientiert, zeitlich mangelhaft. Zutraulich. Korrigiert die reli- 

giosen Ideen. Erinnert sich besser an die letzten Ereignisse. Heiter. 
Denkleistungen besser. Andeutung von Stereotypie. Bald darauf ist 
die Auffassung wieder erschwert, unaufmerksam, ratios, teilnahmlos. 
Liquorbefund normal, keine Drucksteigerung. Wassermann negativ. 

16. XI. Macht einen schwer besinnlichen Eindruck. Angst mit angstlichen Ver- 

kennungen. FaBt schlecht auf. Rechen- und Urteilsleistungen langsam, 
erschwert, obwohl er sich bemiiht. Unaufmerksam. Andeutung von 
Negativismus und Stereotypie. Knie- und Achillessehnenreflexe herab- 
gesetzt. 

17. XI. Pseudoflexibilitas. Leicht stuporos. Erschwerte Auffassung. Fragt nach 

jeder Frage „wie“. Vermag einfache Bilder trotz Bemiihens nicht zu 
erklaren. Alle Denkleistungen hochgradig vermindert. Beim Markieren 
von Zweckbewegungen zum Teil apraktisch mit Stereotypien. 

18. XI. Etwas luzider. Auffassung und Merkfiihigkeit besser. Leichte Katalepsie 

und Verharren in Haltungen. 

21. XI. Akinetisch. Leichtes Verharren. Affekt indifferent. 

23. XI. Vollige Amnesie fur die Operation. 

25. XI. Merkschwache. 

3. XII. Seit 2 Tagen leichte Temperatursteigerung. Zunahme der Akinese. 

4. XII. Vertraumt, zutraulich. Vereinzelte optische und akustische Halluzina- 

tionen. 

5. XII. Auffallende koordinierte Bewegungen, an die er Fehlurteile ankniipft. 

Verharren in Haltungen. Auffassung erschwert. Zeitlich desorientiert. 
Visionen religiosen Inhalts. 

7. XII. Leichtes remittierendes Fieber. Exanthem im Gesicht. Diazoreaktion 
positiv. Zeitlich desorientiert, glaubt viel langer hier zu sein, als es der 
Fall ist. Erschwerte Auffassung. Szenenhafte Visionen. Haltungen und 
Stereotypien. 

10. XII. Schlafsucht. Akinese, Einnassen. Fieberfrei. 

15. XII. Erschwerte Auffassung. Orientierung etwas besser. 

24. XII. Schmerzen in der Wirbelsaule, jedoch kein Befund. Unaufmerksam. 

Schlafsucht. Schwerbesinnlich. Zeitlich mangelhaft orientiert. Speicheln. 

26. XII. Schlafsucht. Kniesehnenreflexe abgeschwacht. Achillessehnenreflexe 

rechts.fehlend, links schwach vorhanden. Sehr unaufmerksam. 

5.1.1920 Traumhaft.. Mangelhaft orientiert. Katalepsie. Verharren in Haltungen. 

Leichte parethische Erscheinungen in den Oberschenkelbeugem und 
Dorsalflektoren der FiiBe. Sehnenreflexe abgeschwacht. 



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BewuBtseinstriibungen bei Dementia praecox. 


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6. I. Leichte Hyperkinese mit Stereotypic. 

15. I. Bei standig mangelhafter Orientiertheit schwankend freier und schlaf- 
riger, schlaft sogar beim Essen ein. 

29. I. Traumhaftes Wesen, schlaft wahrend der Untersuchung ein. Hoch- 
gradige Aufmerksamkeitsstorung. Verharren in Haltungen. 

31. I. Nachts deliriose Unruhe wechselnd mit Schlafsucht. Amnestische Er- 
scheinungen. Speicheln. 

14. II. Mutacismus. Liegt unter der Decke. 

Patient ist die folgenden 3 Monate stuporos, zeitweise unzuganglich, ist vollig 
desorientiert, obgleich er nachdenkt und willig antwortet. Kopfweh, Speicheln, 
Einn&saen. Allmahlicher Ubergang in leicht hyperkinetische inkoharente Erre- 
gung, sehr unaufmerksam. 

Seither bis zur Gegenwart in dauerndem bald Jangerem, bald kiirzerem 
Wechsel von hyperkinetischen, inkoharenten und stuporosen Phasen. Zunehmen- 
der Negativismus, ausgesprochene Apathie. Vollige Abulie. Immer unaufmerk¬ 
sam und mangelhaft orientiert. In den stuporosen Phasen ausgesprochene Schlaf- 
rigkeit, klagt stcreotyp iiber Miidigkeit. In den hyperkinetischen Phasen albern, 
lappisch, stereotj'p, verworren und unfixierbar. 

Zusammenfassung: Unter zeitlichem Zusammenfall mit einer Karies der 
Lendenwirbelsaule entwickelt sich bei einem 17jahrigen Mann von normaler Kon- 
stitution nach einem ganz kurz dauemden angstlichen Vorstadium akut eine 
Katatonie, die in einem periodischen Wechsel von akinetischen und hyperkine¬ 
tischen Phasen verlauft. Die schizophrene Natur der Erkrankung wird begriindet 
durch die Eigenart der Affektveranderung (Apathie, Negativismus, hinter denen 
Angstlichkeit, Zutraulichkeit und Ratlosigkeit allmahlich immer mehr verschwin- 
den), die motorischen Erscheinungen (Haltungen, Katalepsie, Stereotypien 
Pseudo-Spontanbewegungen), die sensorischen Erscheinungen (optische und 
akustische Halluzinationen), sekretorische Storimgen (Speicheln), Willensstorun- 
gen (Willenlosigkcit, Untatigkeit), die gedanklichen Storungen (faselige In- 
koharenz), den progressiven Verlauf. 

BewuBtseinszustand: Das BewuBtsein ist von Anfang an ansteigend und 
Monate sich auf maBiger Hohe erhaltend, dann allmahlich abklingend getriibt. 
Es bestehen Unbesinnlichkeit und amnestische Erscheinungen, die Auffassung 
ist in erheblichem MaBe gestbrt. Es besteht Merkschwache, die Orientiertheit 
bleibt dauemd maBig und die Aufmerksamkeit hochgradig herabgesetzt. Be- 
wuBtseinsklarere Tage mit besserer Auffassungsfahigkeit und Orientiertheit 
schieben sich haufig ein. Die Aufmerksamkeitsstorung zeigt geringere Abhangig- 
keit von der BewuBtseinstriibung und bleibt auch nach deren Zuriicktreten 
stationar. Wahnhafte und sensorische Erscheinungen sind verhiiltnismaBig gering 
und wenig sturmisch, eine Erklarung der BewuBtseinslage und des Ausfalls der 
TatigkeitsauBerung des BewuBtseins geben sie nicht. Negativismus besteht zwar 
von Anfang an in maBigem Grade, jedoch keineswegs gleichlaufend mit den Be- 
wuBtseinsveranderungen, er begleitet sie, er erklart aber die erheblich ausge- 
sprocheneren Veranderungen der BewuBtseinstatigkeit nicht; er nimmt progressiv 
zu, wahrend die BewuBtseinstriibung mit dem Abklingen der akuten Phase naeh- 
laBt. An sonstigen Kennzeichen der BewuBtseinsveranderung ist hervorzuheben 
Ratlosigkeit, Schlafsucht, Traumhaftigkeit, Personenverkennungen, Traumhallu- 
zinationen. Es handelt sich um eine primare Storung des BewuBtseins und seiner 
TatigkeitsauBerungen. 

Differentialdiagnose: Dieselbe ist gegeniiber einer symptomatisch be- 
dingten Amentia zu stellen. Der zeitliche Zusammenfall mit einer korperlichen 
Erkrankung fiihrte anfanglich zu einer solchen Annahme. Der chronische Ver- 


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W. Medow: 


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lauf hat dagegen entschieden. Das Zusamnientreffen ist wahrscheinlich als zu- 
fallig zu erklaren, wenn man nicht eine Begiinstigung des Ausbruches der Kata- 
tonie annehmen will. Symptomatologisch spricht wohl die fortschreitende Apathie 
und Abulie fiir den schizophrenen ProzeB. Abgesehen von dem Beginn mit star- 
kerer BewuBtseinstriibimg ist das Krankheitsbild fiir Katatonie vollig schulgemaB. 

Fall III: Hermann J., geb. 18. II. 1901. 

Vorgeschichte: Erblichkeit o. B. Normale Kindheitsentwicklung und 
Schulleistungen. Tiichtiger landwirtschaftlicher Arbeiter. Unauffallige Konsti- 
tution. Seit 1 / i Jahr zunehmende Langsamkeit bei alien Verrichtungen, Zuriick- 
gezogenheit, Verschlossenheit. Er wurde mit der arztlichen Diagnose Meningitis- 
Epilepsie eingewiesen Aufnahme in Gehlsheim 9. X. 1921. Diagnose: Katatonie. 

Aufnahmebefund: Diirftiger Ernahrungszustand. Leichte Kyphoskoliose. 
Temperatur o. B. Puls 90. Leichte EiweiBtriibung des Urins. Pupillen weit, von 
normaler Reaktion. Starke Spannungen in alien GliedmaBen. Knie- und Achilles- 
sehnenreflexe abgeschwacht. Leib etwas eingezogen, die Beine werden an den 
Leib adduziert. Geringe Nackensteifigkeit. Augenhintergrund normal. Lumbal- 
punktion: Liquor flieBt mit etwas erhohtem Druck ab, Nonne Phase 1 schwach 
positiv, GesamteiweiB leicht vermehrt (2 Teilstrich Nissel), Zellen 18/3 (Lympho- 
cyten), Wassermann im Blut und Liquor negativ. Kulturell weder Meningokokken 
noch Tuberkelbazillen. Pat. macht einen schwerbesinnlichen Eindruck. Er liegt 
mit geschlossenen Augen da, reagiert nur mit leichten Kopfbewegungen und 
Zucken mit der Kopfschwarte und den AugenschlieBmuskeln. Bei Fragen nach 
Schmerzen deutet er auf den Hinterkopf. Er befolgt einfache Aufforderungen, 
schwerere dagegen nicht. Bei passiven Bewegungen federnder Widerstand. 

12. X. Die BewuBtseinstriibung ist etwas geringer als in den ersten Tagen. Er 

faBt Fragen sehr langsam und erst nach mehrfacher Wiederholung auf. 
Spricht nur Reihen von 3 Ziffem nach. Gibt Personalien mit fliisternder 
Stimme an. Ortlich und zeitlich desorientiert. Benennt einfache Bilder 
und Gegenstande langsam und miihsam, bei schwereren versagt er. 
Nestelt dauernd mit den Handen am Hemd und Bett umher. 

13. X. MaBige deliriose Bewegungsunruhe. 

16. X. Kauert Tag und Nacht auf dem Bettrand, die Beine bis ans Kinn heran- 
gezogen, die Augen zugekniffen, die Hande nach Art eines Beschafti- 
gungsdelirs in dauernder Bewegung. Federnder Widerstand bei passiven 
Bewegungen. Bleibt auch die Nacht hindurch trotz ausgiebiger Schlaf- 
mittel so sitzen, reagiert nur mit einzelnen stereotypen Worten. 

23. X. Auffassung standig schwer gestort, nur leicht schwankend. 

25. X. Verharrt ununterbrochen in Hockerstellung. Der Blick ist geradeaus ins 

Leere gerichtet. AuBer der fedemden Muskelspannung kein eigentliches 
Widerstreben. Er bemiiht sich zu antworten, bewegt die Lippen, bleibt 
mitten im Wort stecken. Eindruck schwerster Denkhemmung. Erkennt 
den Arzt und benennt einige Gegenstande. 

26. X. Tiefer Stupor. Das BewuBtsein erscheint stark getriibt, wenn auch nicht 

schlafrig. Einzelne AuBerungen iiber Angstvorstellungen. Er fliistert: 
„Ich will mich nicht totschlagen lassen.“ Miene unbewegt. Hockerstel¬ 
lung. Fliistert hie und da stereotyp vor sich hin. Befolgt einige Auf¬ 
forderungen, best die Uhr nach dem groBen Zeiger ab. Einnassen. Wider- 
strebt motorisch, dagegen nicht gedanklich. Puls 80. Nie Erbrechen. 
Starrt geistesabwesend ins Leere. Nimmt zu keiner Zeit von irgend 
etwas Notiz. Verbigeriert leise. Bemiiht sich bei alien Fragen, macht 
aber schon beim Fingerzahlen Fehler. 


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BewuBtscinstriibungen bei Dementia praecox. 


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29. X. Konzentrationsschwache ohne Spur einer auBeren Abgelenktheit. AuBer- 
ordentlich gehemmt. VergiBt die Fragen, faBt nicht auf. Rechnet 3x4 
richtig, 4x6 falsch. Klagt liber Kopfschmerzen. Antwortet langsam 
in abgerissenen Satzen. Gibt Monat und Tageszeit richtig an. Er be- 
schreibt das Binetsche Bild „Eingeworfene Fensterscheibe“ wie folgt: 
„Kind . .. Glas ein ... kaputt... er schlagt.. . er steht da . ..“ Wort- 
findung ziemlich gut. Beim Schreibversuch faBt er den Bleistift sehr un- 
geschickt an, ist aueh nicht zu einem besseren Anfassen zu bewegen. 
Schreibt kurze Diktate immer agrammatisch. 

31.X. FaBt sehr schlecht auf, Konzentrationsschwache. Tag und Nacht in 
Hockerstellung. 

1. XI. Urin jetzt frei. Augenhintergrund normal. Blickt ins Leere wie geistes- 
abwesend, verbigeriert leise. Bei alien gedanklichen Leistungen bemiiht 
er sich ersichtlich, es gelingt ihm aber nur das Leichteste miihsam nach 
zahlreichen VViederholungen. Nur bei motorise hen Einwirkungen trieb- 
artiges Widerstreben. Ausfall jeglicher Spontaneitat. Das einfache op- 
tische Erkennen ist normal, jedoch versagt er bei alien erheblichen 
Kornbinationsaufgaben. Affektleer. Gesicht unbewegt, wenn auch nicht 
maskenhaft. Er bekommt gelegentlich Tranen in die Augen, murmelt: 
„Ich bin doch kein Verbrecher." 

3. XI. Halt Urin zuriick und naBt dann ein. 

4. XI. Schilddriise leicht vergroBert. Er liest die Uhr immer nur nach dem 

groBen Zeiger ab. 

7. XI. Tags und meist auch nachts in Hockerstellung. VVird mit Loffel gefiittert, 

widerstrebt etwas, kaut aber gut, sobald das Essen im Munde ist. 

8. XI. Sieht sich angstlich um. Scheint optisch zu halluzinieren. 

10. XI. Ortlich ungenau, zeitlich vollig desorientiert. Gibt Personalien langsam 

auf Drangen an. Benennt einfache Gegenstande, hantiert richtig damit, 
aber immer langsam und mit groBer Miihe; widerstrebt hierbei nicht. 
Rechnet immer nur leichte Aufgaben. Halt ein Buch sehr unzweckmaBig, 
so daB es hinunterfallt, hilft nicht mit der anderen Hand. 

11. XI. Dauemd auBerordentlich schwerbesinnlich. Hochgradige Konzentrations¬ 

schwache. Pupillen weit. Cyanose der Hande. Hockerstellung. Wider¬ 
strebt bei passiven Bewegungen, besonders wenn sie briisk erfolgen. 
Aus seinen AuBerungen ist zu entnehmen: „Dies ist hier die Holle; Sie 
konnen mich hier doch wohl nicht umbringen.“ Gibt einmal an, er hore 
die Stimme des Vaters, scheint optisch zu halluzinieren. Vollige Abulie. 
Puls 108. Augenhintergrund normal. Leichtes Grimassieren. 

14. XI. Verhalten unverandert. Es wird folgende Verbigeration notiert: ,,Rostock 
nach Augenklinik hin. .. will mich nicht schlagen lassen von euch 
(fliichtige Weingrimasse). . . zufrieden ... ich will mich doch nicht. . . 
Kinder verderben lassen . .. zu Vater .. . nach Rostock . . . Rostock . . . 
niemals schlagen lassen . . . Vater ... hinfahren . . . zu Hause ... hin- 
fahren . . . nach Rostock . . . zufrieden . .. hinfahren nach Rostock . . . 
Augenklinik . .. sollte ich hin . . . nach Rostock zur Augenklinik . . . hier 
Qual. .. hier zu Schanden (plotzlich auftretende und verschwindende 
Weingrimasse). . . Wesen . . . Rostock.. . bei Kindern . . . am Stamm des 
KreuzeB . . . nicht hin . . . hin nach ... die armen Kinder . . . Wesen . .. 
zu Schanden ... nach Rostock . .. mir nichts anschlagen . .. Wesen hin 
... Vater .. . Himmel. .. hin .. . Rostock . .. hinbringen ... die Holle ge- 
qualt (plotzliche Weingrimasse).' 1 Hierbei blickt Pat. abwesend ins Leere 
und ist vollig unablenkbar. 


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W. Medow: 


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15. XI. Spricht heute riehtig von seinem Aufenthaltsort. 

In der folgenden Zeit ist Patient wenig verandert, standige Hockeratellung, 
blickt ins Leere, Unbesinnlichkeit. Er bemiiht sich zu antworten, es gelingt ihm 
aber nur miihsam das Leichteste, dagegen motorisches Widerstreben, zeitweise 
leise Verbigerationen, abgerissene Angstvorstellungen. Beira Benennen von Ge- 
genstanden verwendet er oft die Oberbegriffe. Zeitweise echopraktisch, leichte 
Katalepsie. Zeitlich immer desorientiert, ortlich dagegen riehtig. Motorisch 
macht er zeitweise einen gesperrten Eindruck, er verwendet die zweite Hand auch 
in sehr unbequemen Haltungen nicht. Eine episodische fieberhafte Erkrankung 
bringt keine Anderung in das Bild. Patient muB lange Zeit mit Schlundsonde 
ernahrt werden. Das Korpergewicht sinkt kontinuierlich trotz reichlieher Nah- 
rungszufuhr und volliger Ruhe. Bei Denkleistungen erscheint er nie erheblich 
negativistisch, bezeigt vielmehr gegeniiber dem Arzt eine gewisse Zutraulichkeit. 
Im Januar 1922 tritt zeitweise eine leichte motorische Erregung auf, er wird bett- 
fliichtig, klammert sich an, widerstrebt bei alien Korperbewegungen unsinnig. 
Die Sprache nimmt an der Erregung nicht toil. Der neurologische Befund bleibt 
negativ. Am 18.1. 1922 sind die Pupillen weit, zeigen geringe Lichtreaktion. Ver- 
fallenes Aussehen, halt den Kopf immer nach links gedreht, Hockerstellung am 
Bettrande, standig vollig abwesend, er bleibt jedoch fur leichte Priifungen meist 
zuganglich. Die Auffassung und Merkfahigkeit ist immer schlecht, alles muB 
mehrfach vorgesprochen werden. Auch bei Besuch der Angehorigen ganz unver- 
andert. Leichte Hyperleukocytose im Blutbild. Liegt ganz kontrahiert im Bett, 
geht ungeschickt, balanciert aber ziemlich gut. Lumbalpunktion am 2. II. 1922: 
Druck 50 mm Wasser, Nonne schwach, aber deutlich positiv, GesamteiweiB leicht 
vermehrt (2 Teilstrich Nissel), keine Zellen. Seit Februar iBt Patient wieder von 
selbst, trotzdem fortschreitender Krafteverfall, schmutzig-gelbe Hautfarbe. Die 
linke Hand schilfert in groBen Lamellen ab. Lumbalpunktion am 21. II. ergibt 
200 mm Wasser, sonst gleichen Befund wie zuvor. Nach der Punktion kurze Zeit 
hyperkinetisch erregt. Ohne den Eindruck der Schlafrigkeit macht Patient immer 
einen auBerat schwerbesinnlichen Eindruck. Die Spannungen und Haltungen 
bestehen unverandert fort. Die Orientierung bessert sich nicht, die ortliche ist 
vorhanden, er benennt den Arzt gelegentlich riehtig beim Namen. Es fallt auf, 
daB er personlichkeitsfremde Dinge, soweit es sich um leichte Fragen handelt, 
beantwortet, hingegen personlichkeitseigene nicht, auBer den einfachsten Per- 
sonalien. Beim Gehen driickt er immer mit dem ganzen Korper nach der ent- 
gegengesetzten Richtung. Die Aufmerksamkeit ist nur ganz schwach erweekbar. 
Die Auffassung ist hochgradig reduziert. 

Im Mai ist das Gewieht auf 70 Pfd. gesunken, obgleich er ausreichend und 
spontan Nahrung nimmt und noch daruber hinaus mit Sonde hinzugefiittert wird. 
Es entwickelt sich ein schwerer gangranoser Decubitus, jedoch ohne Fieberbewe- 
gung. In den letzten Tagen vor dem am 31. V. an plotzlicher Herzschwache er- 
folgenden Tode erscheint er psychisch etwas regsamer. Er beantwortet willig 
einfache Dinge, wenn auch unter groBter Miihe. Er macht spontan einige AuBe- 
rungen iiber Angstvorstellungen und Beeintrachtigungen. Die zeitliche Orien- 
tiertheit war etwas besser, doch glaubte er, schon ein paar Jahre hier zu sein. 
Er leugnete Phoneme. Er war bis zum Ende vollig abulisch und ohne Spon- 
taneitat. Keine aphasischen Eracheinungen. Kein Negativismus bei Denkauf- 
gaben, hingegen in hohem Grade bei alien Veranderungen der Korperlage. 

Sektionsbefund: Koriiersektion ausgefiihrt durch das Pathol. Institut 
Rostock am 1. VI. 1922: Ausgedehnte Decubitalphleginone. Sepsis. Multiple 
subpleurale Abszesse in beiden Lungen. Konfluierende Bronchopneumonie in 
beiden Unterlappen mit frischer fibrinoser Pleuritis rechts. Starke Atrophie des 


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BewuBtseinstriibungen bei Dementia praecox. 


401 


Herzens. Hypoplasie der groBen GefaBe. Abdominale Stauungsorgane und 
Stauungskatarrh am Magendarmkanal. Hochgradigste allgemeine Macies. Die 
von Prof. Walter in Gehlsheim vorgenommene anatomische und histologische 
Gehimsektion ergibt keine mit der Diagnose im Widerspruch stehende Befunde. 
insbesondere besteht weder Hirnschwellung, noch Hydrocephalus, noch Lepto¬ 
meningitis oder Gehimodem. 

Zusammenfassung: Bei einem 20jahrigen Mann von normaler Konsti- 
tution entwickelt sich, subakut von Anfang mit stuporosen Erscheinungen ein- 
setzend und dauemd unter dem Bilde des Stupors verlaufend, eine schwere Ka- 
tatonie, die nach achtmonatigem Bestand unter fortschreitendem Krafteverfall 
zum Tode fiihrt. Die Diagnose eines schizophrenen Prozesses stiitzt sich in nega- 
tivem Sinne auf das Fehlen eines andersgearteten organischen Leidens, in posi- 
tivem Sinne auf die motorischen Erscheinungen (Spannungen, motorisches Wider - 
streben, Katalepsie, Grimassieren), auf die affektiven Erscheinungen (Affekt- 
blasse, der gcgeniiber Angstlichkeit zuriicktritt), die schwere Willenstorung 
(Abulie, Inaktivitat). 

Der BewuBtseinszustand: Es besteht dauemd hochgradige Schwerbesinn- 
lichkeit, die jedoch nicht die Farbung der Schlafrigkeit aufweist. Auf erhebliche 
BewuBtseinstriibung deutet die dauemde schwere Auffassungsschwache, neben 
der auch Merkschwache zutage tritt. Die Orientiertheit ist dauemd und die Auf- 
merksamkeit besonders hochgradig gestort; bei letzterer fehlte jede auBere Ab- 
gelenktheit. Als Ursache, die sekundar den Ausfall der BewuBtseinstatigkeit hatte 
hervorrufen konnen, kommt nur Negativismus in Frage. Derselbe erstreckt sich 
aber in hohem Grade nur auf das motorische Gebiet. Soweit die BewuBtseins¬ 
tatigkeit in Frage kommt, besteht BeeinfluBbarkeit und Bestreben zu aktiver 
Leistung. Bei Denkleistungen ist Patient keineswegs ablehnend, er bemiiht sich 
etwas zu leisten, er versagt vollig gleichmaBig vom Leichteren zum Schwereren; 
niemals besteht irgendein Anhaltspmikt, daB er bessere Leistungen durch Nega¬ 
tivismus unterdriickt. Der Negativismus ist nur eine Begleiterscheinung der Be- 
wuBtseinsschwache. Auch wahnhafte Vorgange, besonders Angstvorste 11 ungen. 
konnen den elementaren Ausfall an BewuBtseinsleistungen nicht erklaren; ebenso- 
sehr fehlte eine sekundare affektive Abgelenktheit. Die Schwankungen der Luzi- 
ditat sind in diesem Falle ganz gering. Die Denkschwache ist hochgradig ent¬ 
wickelt, sie ist aber hier unaufloslich und primar mit der Unbesinnlichkeit ver- 
kniipft. Es handelt sich uni eine primare BewuBtseinstriibung mit primarer 
Stbrung aller BewuBtseinstatigkeiten. 

Differentialdiagnose: Die Schwere der Unbesinnlichkeit. die anfang- 
lichen meningitischen Symptome (Nackensteifigkeit, eingezogener Leib) lieBen 
anfangs an einen organischen HirnprozeB denken. Die Fieberlosigkeit, der Liquor- 
befund entschied gegen Meningitis. Das Fehlen der Stauungspapille, der Puls- 
verlangsamung, der Herdsymptome sprach gegen einen Tumor. Die initiale leichte 
Albuminurie ist, wie auch sonst beobachtet, auf den katatonischen ProzeB zu 
beziehen. Die iibrigen neurologischen und somatischen Erscheinungen (Pupillen- 
weite, die zeitweise von Lichtstarre begleitet war, Cyanose der Hande, Marasmus) 
fallen in den Itahmen des katatonen Prozesses. Bemerkenswert ist der EiweiB- 
befund des Liquors (leicht positiver Nonne und leichte EiweiBvermehrung bei 
wochselnder Druckliohe). Der Sektionsbefund hat keinen Anhaltspunkt ergeben. 
denselben auf irgendeinen anderen Grund als den des schweren katatonischen 
Prozesses zu beziehen. Auch fur selbstandige Meningitis serosa hat die Sektion 
keinen Anhaltspunkt ergeben. Die Art des I^eidens, bei dem keine erheblichen 
meningitischen Erscheinungen vorlagen und bei dem dauernde schwere Storung 
aller Denkvorgange im Vordergrund stand, spricht elninfalls gegen eine solche 


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402 


\Y. Medow: 


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Annahme. Die Erhohung des Liquordruckes mit deni anfanglich angedeuteten 
Meningismus laBt jedoch an eine der Meningitis serosa auBerlich vielleicht ahn- 
liche Veranderung der Liquorproduktion denken; es liegt jedoch kein Grund 
vor, ihn ursachlich von dem die psychische Storung veranlassenden katatonischen 
Prozeli zu trennen. Fiir die Annahme eines toxischen oder infektiosen Stupors 
hat weder der Krankheitsverlauf noch die Sektion Anhaltspunkte ergeben. 

Ich mochte an dieser Stelle auf zwei in gleicher Zeit in Gelsheim be- 
obachtete und von Blumenthal veroffentlichte schizophrene Psy¬ 
chosen hinweisen, bei denen BewuBtseinstriibungen gleich schweren 
Grades auftraten (Fall 6 Toni B. und Fall 5 Meta P.). Der letztere Fall, 
der anfangs einen so ungewohnlich organischen Anstrich trug, daB die 
Diagnose Meningitis serosa gestellt wurde, hat sich im spateren Ver- 
lauf als einwandfreie Schizophrenic aufgeklart. 

Ich schlieBe in gekiirzter Form eine zweite Gruppe von Krank- 
heitsfallen an, die den harmonischen tjbergang von den soeben gesehil- 
derten Krankheitsformen zu dem gewohnlichen Typ der Dementia 
praccox bilden und die zu jenen Fallen hintiberleiten, bei denen Be¬ 
wu Btseinsveranderungen ganz im Hintergrunde stehen und deren Be- 
deutung nur durch den Hinweis auf die eingangs geschilderten schwe- 
reren BevmBtseinstriibungen geklart wird. 

Fall IV: Frida G., geb. 23. IX. 1889. 

Vorgeschichte: Zaghaftc, scheue Natur. In letzter Zeit getausehte Heirats- 
hoffnung. 

Erste Aufnahme in Gehlshcim 26. IV.—14. VIII. 1921. Seit 14 Tagen 
akuter Beginn mit Depression. Aufnahme im Stupor. Mutistisch, widerstrebend 
leichte Katalepsie. Anfangs leichte Temperaturerhohung. Wird etwas freier. 
Desorientierung. Leichte Umdammerung. Zeitweise abgelenkt. Auffassung 
schwankt, meist sehleeht. Xach 3 Wochen schwindet die Dammrigkeit, worn it 
Riiekkehr der Orientiertheit und des Auffassungsvermogens eintritt. Sie gibt 
jetzt iiber die Vorgeschichte Auskunft, wobei sich teilweise Amnesic fiir die letzten 
Ereignisse zeigt. Ziemlich gute Urteilsfahigkeit. Nach achttiigigem luzidem In- 
tervall Ruckfall in Stupor, gemischt mit deliranter Unruhe. Hyjiermetamorpho- 
tisch. Angstlich-negativistisch. Klagt iiber Miidigkeit. Schlafsucht. Erscheint 
gehemmt. Auffassung ist wieder sehleeht. Xach 14 Tagen wiedcr Aufhelluug des 
BewuBtseins. Gebessert entlassen. 

2. Aufnahme in Gehlsheim 13. IX.—22. XII. 1921. Patientin war zu Hause 
einige Wochen lebhaft, beschiiftigte sich, dann wurde sie wieder depressiv. Bei 
der Aufnahme Unbesinnlichkeit, Merkschwache. Unaufmerksam. Delirante L T n- 
ruhe in den Handen. Stupor. Einnassen. Sonderfiitterung. Nach 3 Wochen 
schiebt sich ein erneutes luzides Intervall ein. Sodann entwickelt sich eine all- 
miihlich zunehmende inkohiirente Erregung. Die Orientiertheit bleibt mangelhaft. 
Starke Aufinerksamkeitsstorung. L T rteilsleistungen sehleeht. Die Affektlage ist 
zeitweise euphorisch verbunden mit leichtem Beschaftigungsdrang. Hicran schlieBt 
sich ein 4 Wochen dauernder Stupor, in dem Patientin eine verblaBte Angstlich- 
keit zeigt. Sie ist gehemmt, zeitlich desorientiert, es treten Spannungen, Nah- 
rungsverweigerung, impulsive Handlungen und Parakinesen auf. Kurz dauernde 
hyperkinetische Erscheinungen sind eingestreut. Es entwickeln sich zahlreiche 
katatonische Erscheinungen, wie Katalepsie, Schnauzkrampf, Lachausbruche, 


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BewuBtseinstriibungen bei Dementia praecox. 


403 


Grimassieren, Speieheln, Stereotypien und Befehlsautomatie. Im Stupor wird 
Patientin ungeheilt entlassen. 

3. Aufnahme in Gehlsheim 7. II. 1922. Auch in der Zwischenzeit haben 
akinetische und hypcrkinetische Zustiinde gewechselt. Patientin befindet sich 
seither in einem Zustand maBiger inkoharenter Erregung mit zahlreichen katatoni- 
schen Erscheinungen. Sie ist in maBigem Grade negativistisch, obwohl sie gegen- 
iiber Eragen und Priifungen leidlich zuganglich bleibt. Im ubrigen ist der Affekt 
bisweilen leicht angstlich, meist blaB. Motorisch findet sich Katalepsie, Ver- 
harren in bizarren Haltungen, Stereotypien, Maniriertheiten und Speieheln. Es 
besteken Phoneme. Der Gedankengang zeigt faselige Inkoharenz ohne Produk- 
tivitat. Den Eindruck der Dammrigkeit hat Patientin in letzter Zeit nicht mehr 
gemaeht, dagegen reagiert sie sehr langsam, besinnt sich lange. Die Auffassung 
erscheint sehr schlecht, obwohl sie sich wenigstens auBerlich einstellt. Sie ist 
desorientiert, zeigt Merkschwache und schwere Aufmerksamkeitsstorung. 

Beurteilung: Der AnscliluB der Erkrankung an eine gemutliche Erachiit- 
terung, die Storung der BewuBtseinsvorgange, der anfangs ausgesprochene Wechsel 
von stuporoser Hemmung und leichter euphorischer Erregtheit lieBen zunachst 
an der Diagnose Schizophrenie zweifeln. Das anfangliche Fieber lieB an eine 
Amentia denken, fur die auch die BewuBtseinstriibung und der Wechsel akineti- 
scher und hyperkinetischer Zustande ins Feld gefiihrt werden konnte. Der weitere 
Verlauf hat jedoch dagegen entschieden. Es hat sich kein grundlegendes korper- 
liches Leiden ergeben, der psychische ProzeB erwies sich als ein fortschreitender. 
Wenn auch die Symptomatologie im einzelnen nichts Entscheidendes gegeniiber 
einer Amentia besagen kann, so paBt doch die Fulle der katatonischen Erschei¬ 
nungen, die Affektblasse, der Negativismus, die faselige Inkoharenz weitaus eher 
zu der Diagnose einer Katatonie. Der BewuBtseinszustand ist in den stuporosen 
Zeiten dammerig, unbesinnlich und unklar. Es bestehen teilweise Amnesie und 
leichtc deliriose Erscheinungen. Die BewuBtseinstriibung nimmt zeitweise den 
Charakter der Hyperluziditat mit Hypermetamorphose an, wobei aber gleichwohl 
die Orientiertheit gestort bleibt. Die Auffassung ist stark gestort, die Aufmerk- 
samkeit bleibt durch alle Phasen hindurch erheblich geschwacht. Es besteht zwar 
dauernd ein erheblicher Grad von Xegativismus, er ist aber nicht so stark, um 
Priifungen zu verhindern und Denkleistungen dauernd zu unterdriicken. Die 
BewuBtseinsstorungen bestehen gleichmaBig auch in zuganglichen Zeiten fort. 
Wahrend Negativismus und Zuganglichkeit momentweise wechseln, schwanken 
die Elementarsymptome der BewuBtseinsstorung mehr in groBeren Zeitraumen 
oder bestehen dauernd wie die Konzentrationsschwache und die Desorientiertheit. 
Apathie erklart die Ausftille der BewuBtseinstatigkeit nicht. Es handelt sich 
auch hier um eine primare Storung der BewuBtseinstatigkeit, die nur nicht so 
hochgradig entwickelt ist wie in den vorhergehenden Fallen. 

Fall V: Martha B., geb. 4. XI. 1895. 

Vorgeschichte: Keine Hereditat. Gute Schulleistungen. Normale Kon- 
stitution. Seit 2 Jahren wird eine leichte Veranderung des Wesens im Sinne eines 
starkeren Betatigungsdranges wahrgenoinmen. Unmittelbar anschlieBend an das 
Abklingen einer schweren mit Pneumonie verbundenen GripjKi Einsetzen einer 
akuten Psychose. Ekstatische Verwirrtheit und Erregtheit. Optische und aku- 
stische Halluzinationen. Pcrsonenverkennungen. Zeitliche Desorientiertheit. 

Aufenthalt in Gehlsheim 16. XI. 1918—7. VII. 1920. Der korperliche 
und neurologische Befund bieten hier nichts Besonderes. Mangelhafte Orientiert¬ 
heit. Personenverkennungen. Patientin ist lebhaft, lacht viel, auch unmotiviert. 


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\V. Medow: 


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zornmiitig, inkoharent, ekstatischer Gedankengang, Traumhaftigkeit. Die Be- 
wegungsunruhe ist ziellos, einformig, zum Teil parakinetisch abgeandert. Hoch- 
gradige Unaufmerksamkeit. Die passive Auffassung erscheint bisweilen gut, meist 
ist sie schwer gestort. Auch die Merldeistungen schwanken sehr. Wahrend der 
ersten Wochen macht Patientin dauemd einen traumhaften Eindruck, sie dost 
oft vor sich hin. Die Unaufmerksamkeit und die Desorientiertheit erhalten sieh 
durch die ganze Beobachtungszeit in hohem Grade fort. Abgelenktheit durch 
Sinneseindriicke. Der Gedankengang ist inkoharent, inhaltlich ekstatisch-expansiv. 
Es finden sich Paralogien, Klang- und Ahnlichkeitsassoziationen, Haften, er- 
Bchwerte Vorstellungserweckbarkeit. Wahrend anfangs kein merklicher Negativis- 
mus besteht, entwickelt sich dieser allmahlich, wobei er in der ersten Zeit starken 
Schwankungen unterworfen ist. Es wechseln erregte und leicht stuporose Zu- 
stande, in denen Denkhemmung auftritt. Die anfangs bestehende Lebhaftigkeit 
des Affektes laCt nach. Sie wird vorwiegend apathisch, zeitweise ratios, jedoch 
standig sehr wechselnd. zunehmende Gewalttatigkeit und Impulsivitat, Grimas- 
sieren, Vorbeireden, Laehausbriiche, ungeordnete GroBenideen, Phoneme. Die 
ortliche Orientiertheit kehrt zuriick, was trotz des Negativismus sehr wohl fest- 
stellbar. Dabei wird sie standig unzuganglicher, untatig, abulisch und teilnahm- 
los. Begriffliche Verwechselungen. Juli 1920 auBert sie: „Ich als Laborantin 
danke fur Betschemel. Das kommt mir so russenhaft vor. Ich weiB, daB Sie Herr 
Ruwold sind. Ich habe gemerkt, daB die Toten unter den Grabern noch bliihen. 
Ich heiBe die deutsche Kaiserin, ich bin die abgesetzte Papstin von Rom.“ Zu¬ 
nehmende sprachliche Storung und Wortneubildungen. Vorwiegend inkoharent 
erregt, stuporose schlafrige Zeiten eingeschoben. Patientin wird ungeheilt ent- 
lassen. Seit 16. II. 1921 bis zur Gegenwart befindet sie sich in der Anstalt Sachsen- 
bcrg. Sie befindet sich hier dauernd in inkoharenter, gewalttatiger, katatonischer 
Erregung. Die Personenverkennungen verschwanden. 1921 waren einige ruhigere, 
zuganglichere Tage eingeschoben, in denen sie sich orientierte und die Dauer des 
Aufenthaltes in Gehlsheim ganz falsch angab. 

Beurteilung: Bei einem 23jahrigen Made hen von norinaler Konstitution 
entwickelt sich nach einer langere Zeit vorangehenden ganz leichten Personlich- 
keitsveranderung im AnschluB an eine Grippe akut eine schizophrene Erkrankung 
unter dem Bilde einer progressiv verlaufenden inkoharenten Verwirrtheit, in die 
sich kurz dauernde, wenig tiefe stuporose Zeiten cinschieben. Der zeitliche An¬ 
schluB an eine Grippe, die Traumhaftigkeit der BewuBtseinslagc, die schweren 
Storungen der BewuBtseinstatigkeit lieBen an eine Grippe-Amentia denken. Die, 
wenn auch nur geringe vorauslaufende Personlichkeitsveranderung, der schwere 
progressive Verlauf lassen jedoch nur an ein zufalliges Zusammentreffen, evtl. 
an eine Begtinst igung des Ausbruches denken. Die Diagnose der Schizophrenic 
stutzt sich neben dem Verlauf auf die zunehmend negativistische, vorwiegend 
apathische Affektveranderung, die vollige Abulie, die motorischen Erscheinungen 
(Parakinesen, Grimassieren, Laehausbriiche), die schwere Denkstorung mit Para¬ 
logien und Wortneubildungen. 

BewuBtseinszustand: Es besteht akut einsetzend eine dauernd betracht- 
liche Unklarheit des BewuBtseins, die anfangs eine traumhafte, dosige Farbung 
tragt, spater in den stuporosen Zeiten auch von Schlafrigkeit begleitet wird. Die 
Luziditat ist anfangs bemerkenswerten, kurzdauernden Schwankungen unter¬ 
worfen, die auch von der Auffassung und der Merkfahigkeit kongruent mitgemacht 
werden. Als sonstige Kennzeichen der BewuBtseinsstorung sind Personenverken¬ 
nungen und Ratlosigkeit zu vermerken. In einem lichteren Zeitabschnitt kann 
eine maBige Amnesie festgestellt werden fiir den ersten Krankheitsabschnitt. Der 
Negativismus entwickelt sich erheblich spater als die BewuBtseinsstorung, er be- 


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BewuBtseinstriibungen bei Dementia praecox. 


405 


gleitet nur dieselbe und erklart sie nicht. Auch die Abgelenktheit ist nur unbedeu- 
tend und vermag etwa auf dem Wege liber die Aufmerksamkeit die Ausfalle auf 
dem Gebiete der BewuBtseinstatigkeit nicht zu erklaren. Die Denkstorung ist 
primar und untrennbar mit der BewuBtseinstrubung verbunden. Es handelt 
sich um eine primare BewuBtseinsstorung und Veranderung der BewuBtseins¬ 
tatigkeit. 

Fall VI: Berta L., geb. 14. IX. 1878. 

In Gehlsheim 8. X. 1911—18. IV. 1912 und vom 5. X. 1912 bis zur Gegenwart. 
Diagnose: Schizophrenic. Hereditat und pramorbide Personlichkeit ist ohne 
Belang. Patientin machte 13. VIII. 1911 einen Partus durch und war seither 
etwas auffallig. Bald darauf erkrankte sie an Pneumonie, an die sich eine akute 
angstlich-erregte Verwirrtheit anschloB, die anfangs durchaus einer Amentia 
glich. Wahrend der ersten 3 Wochen des klinischen Aufenthaltes holies Fieber 
bis 40°. Leicht iibelriechender Fluor und mangelhafter SchluB des Muttermundes 
deuten auf eine Endometritis. Es bestanden traumhafte Visionen und schwere 
Inkoharenz, deren Inhalt durchaus aus reproduktivem Material bestand. Vollig 
desorientiert. Vorwiegend hyperkinetisch, kurze akinetische Zustande eingestreut. 
Impulsivitat und Verbigeration. Verkennung von Ort und Personen. Schwere 
Aufmerksamkeitsstorung und Merkschwache. Nach Entfieberung bleibt die Er- 
regung zunachst auf unverminderter Hohe. Nach 4—5 Monaten folgt ein tlber- 
gangsstadium, in dem die Orientiertheit stark wechselt. Bei Fragen besinnt sie 
sich lange. Andeutung von Amnesie. Allmahlicher Ubergang in ein orientiertes 
chronisches Stadium, das dauernd in abgeschwachter Foim hyperkinetische und 
hypokinetische Zeiten wechseln lafit und progressiven Zerfall der Denkvorgange 
aufweist. Die anfangs vorwiegend freundliche Stimmung geht allraahlich und 
fortschreitend in Negativismus iiber. Unmotiviertes Lachen, faselige Inkoharenz, 
Urteilsschwache, Wortneubildungen, optische und akustische Halluzinationen. 
Vorwiegend Apathie und Abulie. Merkfahigkeit und Auffassung bessern sich, 
wahrend die Aufmerksamkeit dauernd gestort bleibt. Dem Eindrucke nach er- 
scheint Patientin bewuBtseinsklar. 

Beurteilung: Eine 33jahrige Frau von normaler Konstitution erkrankt im 
AnschluB an eine Wochenbettspneumonie akut an einer Schizophrenie. Der An- 
schluB an den korperlichen ProzeB, die Fieberbewegung, der Wechsel hyper- und 
akinetischer Phasen, die Verwirrtheit verbunden mit Storungen der BewuBtseins- 
tatigkeit lieBen zunachst an eine infektiose Amentia denken. Das Fortschreiten 
der Psychose nach der Entfieberung, der progressive gedankliche Zerfall sprachen 
gegen diese Annahme. Bei der Hohe des Fiebers liegt die Annahme nahe, daB es 
sich im Beginn der Erkrankung wirklich um eine putride Endometritis gehandelt 
hat, wenn auch eine entsprechende Diagnose nicht gestellt wurde. Wahrschein- 
licher als ein rein zufalliges Zusammentreffen mit dieser korperlichen Krankheit 
ist die Annahme, daB das voraufgehendc korperliche Leiden den Ausbruch der 
Schizophrenie begiinstigt hat, Eine endgultige Entscheidung hieriiber wird nach 
dem gegenwartigen Stand der Kenntnisse jedoch nicht mbglich sein. Das End- 
stadium charakterisiert sich nicht als ein einfacher residuarer Schwachezustand, 
sondern als ein schweres, zu fortschreitendem Zerfall fuhrendes Leiden. Es ist 
deshalb auch ein residuarer Schwachezustand nach Infektionspsychose abzulehnen. 
Die Diagnose der Schizophrenie griindet sich auf die fortschreitende affektive und 
intellektuelle Verblodung, die in Negativismus und faseliger Inkoharenz ilire 
charakteristische Fiirbung erhalt. Daneben sind Abulie, Manicriertheiten, Laeh- 
ausbriiche, Halluzinationen vermerkt. 

BewuBtseinszustand: Gleichzeitig mit dem akuten Beginn setzt eine 
Archiv (jir Psycniatrie. BJ. 67. 27 



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W. Medow: 


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schwere unldare BewuBtseinshyperluziditat mit starkem Vordrangen von Erin- 
nerungsbruchstUcken ein, die von traumhaften Visionen, Desorientiertheit, Merk- 
und Aufmerksamkeitsstorung und Andeutung von Amnesie begleitet wird. Die 
BewuBtseinstrubung geht durch ein Zwischenstadium von starkeren tageweisen 
Scliwankungen der Luciditat in ein Endstadium iiber, das keine greifbaren Ver- 
anderungen der BewuBtseinsklarheit mehr erkennen laBt. Wahrend die Orien- 
tiertheit zuriickkehrt, bleibt die Aufmerksamkeitsschwaehe auch jetzt fort- 
bestehen. Negativismus entwickelt sich erst im spateren Verlauf der Psychose 
und kommt fiir den initialen Ausfall der BewuBtseinstatigkeit nicht in Frage. 
Bei dem Fehlen von Abgelenktheit, bei den nur maBig lebhaften sensoriellen Er- 
scheinungen sind auch andere sekundare Ursachen fiir dieselben auszuschbeflen. 
Es handelt sich im akuten stiirmisch verlaufenden Anfang der Psychose um eine 
primare BewuBtseinstriibung und primare Stbrungen der BewuBtseinstatigkeit, 
wahrend die residuare Aufmerksamkeitsschwaehe das letzte erkennbare Zeichen 
einer Veranderung des BewuBtseins bleibt. 

Fall VII: Martha Schl., geb. 27. IX. 1896. Aufgenommen 31. V. 1921. 
Diagnose: Schizophrenic, depressive Form mit katatonischen Symptomen. Pa- 
tientin zeigt im Beginn der akut im AnschluB an eine Grippe einsetzenden Krank- 
heit BewuBtseinstrubung vom Charakter der Schwerbesinnlichkeit und Umdam- 
merung. Als Ausdruck derselben findet sich Desorientierung, Merkschwache, Auf- 
merksamkeitsstorung und Amnesie. An sonstigen Kennzeichen sind Personen- 
verkennungen und Katlosigkeit zu vermerken. Der Affekt ist anfanglich lebhaft, 
angstlich, spater geht er progressiv in Negativismus iiber. Weder Negativismus 
noch Abgelenktheit iiben im Beginn einen erheblichen EinfluB auf die BewuBt¬ 
seinstatigkeit aus. Nach 1 / 2 jahriger Krankheitsdauer tritt der Eindruck der 
Dammrigkeit nicht mehr auf. Die Orientiertheit bessert sich, ohne jedoch voll- 
standig zu werden. Es handelt sich um eine primare BewuBtseinstrubung mit 
primaren Storungen der BewuBtseinstatigkeit. 

Ich habe aus dem Gros der Schizophrenien des gleiehen Zeitab- 
schnittes, aus dem die obigen Krankheitsfalle entnommen sind, eine 
Anzahl herausgegriffen und daraufhin untersucht, welche Merkmale 
von BewuBtseinstrubung oder Unklarheit sich nach den bisher erorter- 
ten Grundsatzen bei ihnen auffinden lassen. Ich habe hierbei keine 
systematische Auswahl getroffen, mich aber tvenigstens teilweise sol- 
chen Fallen zugewendet, bei denen ich greifbare Merkzeichen von Be- 
vvuBtseinsveranderung zu finden hoffte. Ich gebe im folgenden nur in 
Stichworten das iiber den BewuBtseinszustand Erhobene wieder. Es 
handelt sich hierbei nach dem Stande der Kenntnisse um diagnostisch 
sichere Krankheitsfalle. 

Fall VIII: Berta M., geb. 28 IV. 1886. Aufgenommen 11. III. 1920. Diagnose: 
Schizophrenic. Akuter Beginn der Erkrankung, keine Dammrigkeit, jedoch 
Storungen der BewuBtseinstatigkeit, Merkschwache, Unaufmerksamkeit. Des- 
orientiert. Auffassung besser. Daneben finden sich Personenverkennungen und 
Ratlosigkeit. Negativismus ist friihzcitig entwickelt, er hemmt die Zuganglich- 
keit, ohne die Ausfalle der BewuBtseinstatigkeit zu erklaren. Orientierungs- 
storung und Merkschwache halten im weiteren Verlaufe an. Der Grad einer greif¬ 
baren BewuBtseinstrubung wird hier nicht erreicht, dementsprechend keine 
Amnesie und leidliche Auffassung. dagegen finden sich primare Storungen der 
BewuBtseinstatigkeit beziiglich Merkfahigkeit und Aufmerksamkeit. 


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BewuBtseinstrubungen bei Dementia praecox. 


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Fall IX: Henny L., geb. 24. IV. 1894. Aufgenommen 8. V. 1916. Diagnose: 
Schizophrenic. Patientin war zeitweise geistesabwesend, ratlose Verkennungen. 
Klagt iiber Miidigkeit und Denkunfahigkeit. Konfabulationen. Schlaft zeitweise 
viel. Stuporose Phasen wechseln mit katatonischen Erregungen. Sehr langsame 
Reaktionen bei Assoziationsversuch. Amnesie fur die erregten Zeiten. In der 
Regel, wenn auch nicht immer richtig orientiert. Auffassung vermindert. Zeit¬ 
weise in sich versunken. Aufmerksamkeitsschwache. Die BewuBtseinsklarheit 
weist starkere Schwankungen auf, abwesendes, versunkenes Verhalten, Miidigkeit, 
Denkunfahigkeit, Amnesie weisen auf BewuBtseinstrubungen hin; daneben findet 
sich die BewuBtseinstatigkeit in Gestalt von Auffassungsschwache und Unauf- 
merksamkeit gestort. Als weitere Zeichen fur BewuBtseinsstorung finden sich 
Ratlosigkeit und Verkennungen. Die Orientiertheit ist weniger gestort. Der Ne- 
gativismus nimmt spater einen breiten Raum ein, erkliirt jedoch nicht die Aus- 
falle der BewuBtseinstatigkeit. 

Fall X: Grete L., Schwester von Fall IX, geb. 7. II. 1898. Aufenthalt in 
Gehlsheim vom 4. VII.—13. IX. 1913. Diagnose: Katatonie. Akuter Beginn mit 
angstlicher hyperkinetischer Erregung ohne den greifbaren Eindruck einer Be- 
wuBtseinstrubung. Infolge Heftigkeit der motorischen Entladungen ist es an- 
fangs nicht moglich, einen Einblick in ihren BewuBtseinszustand zu erhalten. 
Nachdem nach Ablauf einiger Wochen ein Umschlag in Akinese eingetreten ist, 
deuten schwere Denkhemmung und Ersehwerung des Gedankenablaufes auf Un- 
besinnlichkeit. Die Orientierung ist gestort, die Auffassung erschwert. Es be- 
stehen Verkennungen. Patientin glaubt viel langer in der Klinik zu sein, als 
es der Fall ist. Merkschwache. Negativismus ist stark entwickelt, jedoch nicht 
so kont.nuierlich, um nicht in zuganglicheren Zeiten einen richtigen Einblick in 
den BewuBtseinszustand zu erhalten und dessen Storungen als prinmr zu er- 
kennen. Die nur gering entwickelte Halluzinose und Abgelenktheit kommen als 
Ursachen nicht in Frage. Patientin kommt nach der Entlassung in eine gute 
Remission. 

Fall XI: Martha A., geb. 1. I. 1882. Aufgenommen 14. X. 1921. Diagnose: 
Katatonie. Chronischer Beginn Beit einem Jahr. Dann akute Steigerung zu hoch- 
gradiger, angstlicher Erregtheit, in der delirante Unruhe vermerkt wird. Auf- 
nahme im Stupor. Infolge von stark ausgepragtem Negativismus ist es sehr schwer, 
den primaren BewuBtseinszustand festzustellen. Starkere Triibung scheint zu 
fehlen, in zuganglichen Momenten ist der Gedankenablauf ungehemmt, die Auf¬ 
fassung und Merkfiihigke t leidlich. Ratlose Verkennung der Situation. Auch 
in zuganglichen Momenten zeigt sich Desorientiertheit. Ablenkung durch wahn- 
hafte Denkvorgange. Progressive Zunahme des Negativismus und der katatoni¬ 
schen Verworrenhc it, die kaum noch einen Einblick in den BewuBtseinszustand 
gestatten. Die Auffassung scheint erheblich gestort zu sein. In diesem chronisch 
beginnenden Falle scheint die BewuBtseinstriibung nur gering entwickelt zu sein. 
Die deliriosen Erscheinungen, die ratlosen Verkennungen, die Desorientiertheit, 
die Auffassungsmangel deuten darauf hin, daB eine solche nicht ganz fehlt, Der 
Ausfall der BewuBtseinstatigkeit wird vorwiegend sekundar durch Negativismus 
und lebhafte Wahnbildungen verursacht. 

Fall XII: Anna W., geb. 25. X. 1901. Aufgenommen 13. VII. 1921. Diagnose: 
Katatonie. Akuter Beginn. Stiindiger Wechsel von inkoharenter hyperkinetischer 
Erregtheit, die sich zu delirioser Verworrenheit steigert und stuporosen Zustanden. 
Haufiger Wechsel des BewuBtseinszustandes, niemals dammerig. Zeitweise sehr 
abgelenkt, hypermetamorphotisch. Ebenso haufiger Wechsel der Orientiertheit. 
Wechselndcr Negativismus. Ratios. Die BewuBtseinsstorung triigt oft einen 
hyperluziden hyperasthetischen Anstrich („sie weiB mchr wie fruher"), zeitweise 

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408 W. Medow: 

besteht delirante Farbung. Auch in den von Xegativismus freien Momenten ist 
die BewuBtseinstatigkeit nicht intakt. 

Fall XIII: Elisabeth Sell., geb. 23. VIII. 1890. Aufgenommen 3.1.1915. 
Diagnose: Schizophrenic mit katatonischen Erscheinungen. Subakuter Beginn. 
Eine greifbare BewuBtseinstriibung ist nicht feststellbar. Gefiihl allopsychischer 
Veranderung. Ratlosigkeit. Die Auffassung erscheint vermindert. Antworten 
oft erst auf wiederholtes Fragen. Spiiter erscheint die Auffassung leidlich. Die 
Orientiertheit ist wenig gestort. Die Luziditat und BewuBtseinstatigkeit ist nur 
wenig affiziert. Sekundare Stdrungen durch Xegativismus und lebhafte Wahn- 
bildungen. 

FallXIV: Wilhelm B., geb. 5. III. 1900. Aufgenommen 8. IV. 1920. Diagnose: 
Katatonie bei Debilitat. Subakuter Beginn. Patient zeigt in periodischer Wieder- 
kehr katatonische Erregungszustande, in denselben werden ekstatisch-expansive 
Ideen neben somatopsychischen Wahnvorstellungen geauBert. Der BewuBtseins- 
zustand ist infolge Vorbeiredens und Xegativismus nicht direkt feststellbar. Es 
scheint jedoch eine gewisse Schwerbesinnlichkeit vorzuliegen. In den Z wise hen - 
zeiten ist Patient zuganglich, maBig dement. Es zeigt sich, daB eine fiir die ein- 
zelnen Phasen wechselnde, meist betrachtliche Amnesie fiir die Erregungen be- 
steht, so daB dieselben, abgesehen von den gehiiuften parakinetischen Erschei¬ 
nungen und sprachlichen Besonderheiten manchen epileptischen Dammerzustan- 
den ahneln. Zeitweise konnte erschwerte Auffassung, Desorientiertheit und 
vollige Verwirrtheit festgestellt werden. 

Fall XV: Martin A., geb. 6. XII. 1894. Aufgenommen 30. V. 1918. Diagnose: 
Katatonie. Chronischer Beginn. Uber den BewuBtseinszustand wird vermerkt: 
gehemmt, besinnt sich sehlecht, in Sprache und Bewegung langsam, miides Ver- 
halten. Leichte Benommenheit. Er gibt an, das Sprechen falle ihm schwer, er 
konne nichts behalten, er habe alles vergessen, sei wie zerschlagen gewesen. Die 
Orientiertheit ist intakt. Bei im allgemeinen kontinuierlichem Verlauf werden 
einige katatonische Erregungszustande beobachtet, die mit ihrer deliranten Un- 
ruhe Dammerzustanden ahneln. Er zeigt hierbei dammrigen Gesichtsausdruck, 
Personenverkennungen, Ratlosigkeit und Desorientiertheit. Ein Bruchstiick einer 
Beobachtung sei hier angefiihrt: „Er ist damit beschaftigt, ein kleines Stiiekchen 
Papier in die Mitte eines Sonnenfleckes auf der Bettdecke zu legen. Er deckt 
dann ein zweites Stuck Papier dariiber. Als Grund gibt er an, es habe gebrannt, 
er habe es schon fliuimern sehen. Er wolle die Sonne abhalten. Dabei ist das 
Papierstiickchen viel kleincr als der Sonnenfleck. Er nimmt dann das untere 
Ende der Bettdecke und legt sie iiber den Sonnenfleck, darauf ein Stiiekchen 
Tuch und eine Rcihe weiterer Gegonstande. Er nimmt immer das eine weg, urn 
das andere dafiir hinzulegcn; bedeckt dabei immer nur die Hiilfte des Sonnen¬ 
fleckes, indem er den Rand des Papiers genau parallel mit dem Rande des Son¬ 
nenfleckes legt. Bald darauf auBert er: , Vorsicht, der Mond kommt! Zwei sind 
abgefallen, die sind unterwegs, die werden gleich einfallen. Gestcrn abend wurde 
von dem einen Stern zum andern geschossen. Die Figur, die den Mond darstellt, 
habe ich entzwei geworfen. Der ganze Himmelsbogen ist abgesaust. 4 Hierbei 
zeigt Patient groben Tremor und kongestioniertes Gesicht. Er kramt ununter- 
brochen mit Bettstiicken und Bettgestellen, um sich toils zu schiitzen, toils die- 
sclben aus dem Gefahi-sbereich zu bringen. Auf Fragen nach Orientiertheit geht 
er nicht ein.“ Im spateren Verlauf wird Patient immer unzuganglicher, so daB 
kaum noch etwas iiber seinen BewuBtseinszustand gesagt werden kann. Im 
Begiim der chronisch verlaufenden Psychose werden leichte Zeichen von BewuBt- 
seinstrubung in Form von leichter Benommenheit, Unbesinnlichkeit, Hemmung, 
Mudigkcit, Zerstreutheitsgefiihl beobachtet. Sie sind im allgemeinen gering und 


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BewuBtseinstriibungcn bei Dementia praecox. 


409 


lassen die Orientiertheit intakt. Sie erreicht hohere Grade in deni akuten Schub 
einer katatonischen Erregung, die einem Dammerzustand ahnelt. Sekundare 
Einfliisse kommen fiir diese Ausfallserscheinungen nicht in Frage. 

Fall XVI: August A., geb. 5. IX. 1849. Aufgenommen 4. VI. 1889. Diagnose: 
Hebephrenie. Ausgesprochen chronisch verlaufender Fall. In den ersten Jahren 
der Krankheit wird vermerkt: Mangelhafte Orientiertheit. FaBt die Fragen viel- 
fach falsch auf. Unbesinnliches Wesen. Konfabulationen. In den spateren Jahren 
zeigt er annahemd normale BewuBtseinstatigkeit, doppelte Orientiertheit. Bei 
einem schleichend verlaufenden KrankheitsprozeB sind BewuBtseinstriibungcn 
sehr gering, werden jedoeh nicht ganz vermiBt. 

FallXVII: Paul D., geb. 21. XII. 1897. Aufgenommen 2. II. 1920. Diagnose: 
Schizophrenie. Subakuter Beginn. Der BewuBtseinszustand 1st anfangs traum- 
haft benommen und schwerbesinnlich. Patient ist langsam, schwerfallig, schlafrig, 
er faBt langsam und schwer auf, die Aufmerksamkeit ist erheblich gestort. Merk- 
schwache. „Es ist mir, als ob alles weg ist. “ Ratios. Bei Priifungen versteht 
er nicht, was von ihm verlangt wird. Im spateren Verlauf sind BewuBtseins- 
veranderungen nicht mehr sichcr feststellbar, da durch Xegativismus und ver- 
worrener Wahnbildung der primare Zustand uberdeckt wird, wahrscheinlich sind 
sie nur noch gering. 

Fall XVIII: Ida H., geb. 2. II. 1888. Aufenthalt in Gehlsheim 11. VIII. 
1919—2. XII. 1920. Diagnose: Katatonie. Akuter Beginn, nachdem P /2 Jahre 
zuvor ein ereter Krankheitsfall voraufging. Patientin zeigt anfangs ein ekstatisches 
religiosverzucktes Wesen. Die Auffassung ist erscliwert und verlangsamt, sie 
macht den Eindruck starker Denkhemmung. Sie ldagt wiederholt, es liege wie 
ein Bann auf ihr und bittet den Arzt, ihr den Bann abzunehmen. „Ich war im 
Bann des Herm der Welt, das Gedachtnis versagt manchmal, manchmal bin ich 
verwirrt geworden.“ Zeitliche Orientiertheit mangelhaft. Mit Riicktritt der 
stiirraischen Erscheinungen treten die BewuBtseinsstorungen zuriick, Patientin 
wird besser orientiert, hingegen entwickelt sich fortschreitender Xegativismus. 
Bei Entlassung ist Orientiertheit und Merkfahigkeit noch reduziert. 

Fall XIX: Anna S., geb. 21. VIII. 1886. Aufgenommen 22.1. 1920. Diagnose: 
Katatonie. Chronischer Beginn, nachdem sie schon vor 7 Jahren einmal erkrankt 
war. Sie wurde vergeBlich. Personenverkennungen. Die Orientiertheit ist man¬ 
gelhaft, schlechte Auffassung, Merkfahigkeit besser. Zeitweise ablehnendes Ver- 
halten, verwirrte Handlungen. Auffassung und Merkfahigkeit verschlechtem 
sich. Sehr unaufmerksam. Sitzt wie geistesabwesend da. Vertraumter Ausdruck. 
Die BewuBtseinsklarheit wechselt betrachtlich. Bei an sie gerichteten Fragen 
fragt sie immer wieder: „Was denn?“ Unter Schwankungen des BewuBtseins- 
zustandes vertraumt, ablehnend. Auf BewuBtseinstriibung deutet die Auffas- 
sungs- und Merkschwache, daneben finden sich Personenverkennungen und Auf- 
merksamkeitsstorungen. Die Orientiertheit wechselt mit der BewuBtseinsklarheit. 
Xegativismus ist vorhanden, erklart jedoeh die Ausfallserscheinungen nicht. 
Sekunddre Storungen durch Abgelenktheit, lebhafte Wahnbildimgen bestehen nicht. 

Die in letzter Gruppe kurz geschilderten Krankheitsfalle lieBen 
sich in unbegrenzter Zahl verniehren. Doch werden in Ansehung der 
beschrankten Raumverhaltnisse die angefiihrten Falle die SchluBfolge- 
rungen zur Geniige stiitzen. 

In den geschilderten Krankheitsfalien sind uns Krankheitsbilder 
aus der Gruppe der Schizophrenie mit BewuBtseinsstorungen vierfacher 


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W. Medow: 


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Abstufung vor Augen getreten. Fall 1 bis 3, denen sich 2 Falle von 
Blumenthal anreihen, zeigten die starksten BewuBtseinsverande- 
rungen; daran reihen sich Fall 4 bis 7 mit maBigen Triibungen, wahrend 
der Rest nur geringe Anzeichen, die auf eine getriibte BewuBtseins- 
lage hinweisen, aufwies. Es lieBe sich noch eine 4. Gruppe anreihen, 
zu denen Fall 11, 13 und 16 gehoren, bei denen das BewuBtsein fast 
klar erscheint und nur Storungen der BewuBtseinstatigkeit als An¬ 
zeichen fiir nicht greifbare Klarheitsanderungen bemerkbar werden. 
Ich glaube, daB sich in diese 4. Gruppe samtliche Formen von Schizo¬ 
phrenic, soweit ihr BewuBtseinszustand in Frage steht, einteilen lassen. 
Bestimmte Angaben fiber das prozentuale Verhaltnis dieser 4 Gruppen 
verraag ich nicht zu geben, da hierzu eine ungleich groBere Anzahl 
von Krankheitsfallen hatte durchforscht werden miissen. Da jedoch 
alle Krankheitsfalle aus dera gleichen Zeitabschnitte stammen, so 
kann schatzungsweise angegeben werden, daB, wenn man von der 
paranoiden Demenz und der Dementia simplex absieht, die ich nicht 
in das Bereich meiner Untersuchungen gezogen habe, sondern nur die 
Hebephrenie, Katatonie und inkoharente Verblodung ins Auge faBt, 
vielleicht die Halfte aller Falle in die 3. Gruppe fallt, wahrend die 
andere Halfte sich annahernd gleich auf die iibrigen Gruppen verteilt. 
Jedenfalls scheinen mir Formen der Gruppe 1 mit starkeren BewuBt- 
seinstriibungen im Gegensatz zu der Annahme mancher Autoren keines- 
wegs selten zu sein. 

Ich mochte zunachst nochmals die Aufmerksamkeit auf die Be- 
wuBtseinstriibungen im allgemeinen hinlenken. Indem ich die durch- 
forschten Krankheitsbilder iiberblickte und indem ich eine Reihe von 
symptomatischen und Infektionspsychosen mit herbeizog, schien es 
mir moglich, 4 allerdings unscharf getrennte, sich haufig mischende 
und sogar im Verlauf der gleichen Krankheit einander vertretende 
Pradilektionstypen von BewuBtseinstrubungen zu erkennen. Es ware 
dieses auf der lahmungsartigen Seite der Triibungen die dammrige und 
die unbesinnliche BewuBtseinstriibung; auf der erregungsartigen Seite 
dagegen zwei Formen, die ich als die sensorisch-hyperluzide und als die 
reproduktiv-hyperluzide bezeichnen mochte. Die dammrige Triibunger- 
halt ihren sinnfalligen Ausdruck durch die traumhafte Schlafrigkeit, eine 
hochgradige Schwache der Auffassung bis zum Verlust jeder Beziehun- 
gen zur Umwelt, wohingegen innere, traumhafte Vorstellungen von 
mehr oder minder starker Inkoharenz in einem dfimmrigen Lichte 
vortiberschweben. Die unbesinnliche Triibung ermangelt hingegen des 
dammrigen Ausdruckes, sie empfangt ihr besonderes Geprage durch 
die Erschwerung und Verlangsamung der begleitenden gedanklichen 
Vorgange, mit dem BewuBtseinsausdruck der Abwesenheit und des 
Insichversunkenseins. Die Kranken maehen einen gehemmten Ein- 


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BewuBtseinstrubungen bei Dementia praecox. 


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druck, w'omit jedoch nicht die Affekthemmung der Melancholiezuverwech- 
seln ist. Der Affekt ist ratios, der Zusammenhang mit der Umwelt 
ist besser, die Kranken bemuhen sich aufzufassen und nachzufolgen, 
doch sind Auffassung, Merkfahigkeit und Aufmerksamkeit schwer 
gestort. Die Orientiertheit ist nicht so vollstandig wie im ersten Fall, 
jedoch erheblich beeintrachtigt. Traumhalluzinose ist seltener. Es 
liegt der Gedanke nahe, die erste Form als einen hoheren Grad, die zweite 
als einen geringeren Grad von BewuBtseinslahmung aufzufassen. Ich 
mochte mich im allgemeinen hierfiir entscheiden, ohne zu verkennen, 
daB auch noch andere Griinde fiir das Auftreten der einen oder der 
anderen Form mitzuwirken scheinen. Es scheint dagegen zu sprechen, 
daB dammrige Trubungen auch bei geringer Gehirnschadigung (Miidig- 
keit, Narkose, Schlaf), Unbesinnlichkeit, bei schwereren destruktiven 
Prozessen auftreten konnen, so daB wohl auch an Verschiedenartigkeit 
der Ursachen zu denken ware. Sehr haufig ist eine Mischung beider 
Arten von Triibung vorhanden und schien mir dieses bei den unter- 
suchten Fallen auf einen hoheren Grad der Triibung hinzudeuten. An 
Stelle der Dammrigkeit und Denkhemmung findet sich bei anderen 
Fallen von BewuBtseinstriibung eine gesteigerte Lebendigkeit der Be- 
wuBtseinsvorgange von sehr eigenartigem Geprage, verbunden mit 
affektiver und motorischer Erregtheit. Bei der einen Form, die ich als 
die reproduktive bezeichnen mochte, handelt es sich vorwiegend uni 
einen gesteigerten Zustrom von Erinnerungsbruchstiicken, wahrend 
die Beziehung zu den Gegenwartseindriicken, die Tatigkeit der Sinnes- 
wahrnehmungen mehr oder minder abgeschnitten ist. Die Kranken 
sind wenig oder gar nicht fixierbar. Kraepelin findet dieselbe beson- 
ders bei den Delirien. Er sagt hier: ,,Der Schwellenwert fiir auBere 
Einwirkungen ist erheblich erhoht aber fur iimere Erregungen ver- 
mindert.“ In einer kleinen Anzahl von Fieberdelirien, die ich darauf- 
hin untersucht habe, fand ich ebenfalls diese Form. Die zweite von mir 
als sensorisch bezeichnete Form zeigt gerade umgekehrt eine gesteigerte 
Abgelenktheit durch Sinneseindriicke, die sich bis zur Hypermetamor- 
phose steigern kann. Bonhoffer schildert dieselbe bei der Amentia 
und auch bei Delirien, sie findet sich auch bei epileptischen Ausnahme- 
zustanden. Ob sie auch Beziehungen zu ahnlichen Zustanden bei der 
Paralyse und der verworrenen Manie besitzt, mochte ich dahingestellt 
sein lassen. Bonh offer charakterisiert dieselbe als ein zwangsmaBiges 
Achten auf Sinneseindriicke mit deutlicher optischer und akustischer 
Hyperasthesie. Er sah diese Erscheinungen auch die Form der Ideen- 
flucht annehmen. Er fand bei den Kranken das subjektive Geftihl des 
erleichterten Gedankenablaufes und weitere manische Symptome. In 
dem Fall eines Fieberdelirs entwickelten sich an Paralyse erinnernde 
GroBenideen. Das BewuBtsein fand er hierbei erheblich getriibt, zum 


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W. Medow: 


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Teil jedoch leidlich luzide, so daB die Unterscheidung von Manie 
schwierig wurde. Es scheinen also moglicherweise keine scharfen Gren- 
zen zwischen einer hyperluziden BewuBtseinstriibung und dem mani¬ 
schen Symptomkomplex zu bestehen. Ich selbst vermiBte bei der von 
mir als hyperluzide Triibung bezeichneten Erregtlieit die manischen 
Kennzeichen einer Ideenflucht und des Betatigungsdranges. Der Affekt 
war wohl lebhaft, aber nicht heiter, eher leicht angstlich. Oft beschaf- 
tigten sich die Kranken mit einer unheimlich wirkenden Lel>endigkeit 
mit Todesvorstellungen. Bonhoffer ist geneigt, fiir den Obergang 
in ein manisches Bild eine individuelle Anlage als Ursache anzuerkennen, 
im iibrigen aber den verschiedenen Benommenheitszustanden Quanti- 
tatsunterschiede der Bcnommenheitstiefe zugrunde zu legen. Man 
konnte geneigt sein, hyperluzide Erregtheit als Vorstufe der lahmungs- 
artigen Benommenheit aufzufassen, es trifft dies sicher auch fiir viele 
Falle zu. Man findet bei schweren Infektionsdelirien die lebhafteste 
BewuBtseinserregtheit mit agonalem Eortschreiten des Prozesses in 
Somnolenz und Koma iibergehen. Ahnlich liegen die Verhaltnisse auch 
bei vielen Nervengiften, insbesondere bei der akuten Alkoholintoxika- 
tion. Aber es muB fiir andere Falle diese Annahme wieder in Zweifel 
gezogen werden infolge der Beobachtung, daB manche deliriose Pro- 
zesse viel schwerer sein konnen als die Veranderungen bei leichten 
dammrigen Traumzustanden. Es miissen also neben der Schwere des 
Prozesses noch andere Momente, die in der Konstitution oder der Art 
der Schadigung liegen, mitspielen. Nicht minder ungekliirt ist es, 
wantm in dem einen Fall selbst bei der gleichen Krankheitsform einmal 
eine reproduktive, ein andermal eine sensorische Hyperluziditat auftritt. 
Mischungen und gegenseitiger Wechsel und Verkniipfung mit Lah- 
mungssymptomen sind auch hier sehr haufig. 

Ewald will das oft beobachtete manieartige Vorstadium von In- 
fektionspsychosen als ersten Ausdruck der beginnenden BewuBtseins- 
lahmung, die zunachst denFortfall von Hemmung verursacht, ansehen, 
und er trennt diese Zustande grundlegend von dem manischen Sympto- 
menbilde. Es fragt sich, ob die Zustande, die Ewald im Auge hat, 
sich mit den von mir als hyperluzide Triibung bezeichneten Zustanden 
decken. Wenn ich ihn recht verstehe, hat er auch besonnenere, ideen- 
fliichtige Bilder im Auge, die ich in die hyperluzide Triibung vorerst 
nicht einbeziehen mochte, infolgedessen ist die von mir vorgenommene 
Trennung vom manischen Bilde jener von Ewald nicht vollig gleicli 
zu setzen. Ich selbst bin geneigt, hyperluzide Triibung von manischen 
Bildern, die beide im Verlauf organischer Psychosen vorkommen konnen, 
aus praktischen Griinden zu trennen. Bei der hyperluziden Erregtheit 
fand ich vorwiegend Haften, Inkoharenz und die ausgepr&gten Merk- 
male der Bewu Btseintriibung. Andererseits sehen wir bei Steigening des 


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BewuBtseinstrubungen bei Dementia praecox. 


413 


manischen Krankheitsprozesses bis zur verworrenen und inkoharenten 
Manie diese Erscheinungen bis zu einem gewissen Grade auch auftreten, 
so daB man auBer an die Verschiedenheit der Vorgange doch auch 
wieder nur oder neben diesen an Unterschiede in der Schwere und dem 
zeitlichen Ablauf des Prozesses zu denken berechtigt ware. Vielleicht 
sind die Verhaltnisse so zu denken, daB das BewuBtsein in der Tat 
gewissermaBen nur mit einer quantitativ abgestuften Skala von Tonen 
auf verschiedenartige Schadigungen zu antworten vermag, daBaber Ver- 
laufsart und spezifische F&rbungen durcb ursachliche Faktoren und viel¬ 
leicht auch dieKonstitution bedingt werden. Eskonntedann.trotzdemdie 
Skala der BewuBtseinsstufen nur auf quantitative Reize reagieren wiirde, 
doch der Gesamtzustand,der eben noch andereBausteine als jene ausdem 
Be wu Bt se i ns zu s t ande enthalt, nicht nur genetisch, sondern symptomato- 
logisch grundlegend verschieden sein. Aus praktischen Grtinden erscheint 
mir eine Sonderung dieser Formen schon jetzt geboten, wenn auch 
eine restlose Klarung der Unterschiede zurzeit noch nicht moglich ist. 
Ich stimme mit Ewald darin uberein, daB die Anfange von BewuBt- 
seinstrubung fiir unsere direkte Wahrnehmung in der Begel verborgen 
bleiben. Sie treten dagegen sehr fruhzeitig mit Aufmerksamkeits- 
storungen in die Erscheinung, wir haben aber keinen Beweis, daB 
solche geringgradigen BewuBtseinstrubungen nicht auch bei dem ein- 
fachen manischen Symptomenbild schon vorliegen. 

Wenn man die geschilderten Krankheitsfalle iiberblickt, so muB 
zunachst die Tatsache festgestellt werden, daB BewuBtseinstrubungen 
zum Teil erheblicher Art in breitem Umfange bei der Dementia praecox 
vorkommen. Bei den Krankheitsfallen der beiden ersten Krankheits- 
gruppen fallt dieses ohne weiteres in die Augen. Es besteht D&mm- 
rigkeit und Unbesinnlichkeit oder eine Mischung von beiden. Daneben 
finden sich auch hyperluzide Triibungen. Alle werden begleitet von 
erheblichen Ausfallen in der BewnBtseinstatigkeit, groBtenteils finden 
sich amnestische Erscheinungen. Beziiglich der hohen Beweiskraft der 
letzteren fiir den Nachweis von BewuBtseinstrubungen verweise ich auf 
das eingangs Gesagte. Kontinuierliche Ubergange finden sich zu der 
Gruppe 3 und 4, deren Deutung ermoglicht wird durch starkere Zeich- 
nung der voraufgehenden Gruppe. Die Erscheinungen von BewuBt- 
seinstriibung treten in ihnen zuriick. In Gmppe 3 sind sie noch leicht 
vorhanden, wahrend sie in Gmppe 4 zu fehlen scheinen. Hingegen 
sind Storungen von Auffassung, Merkfahigkeit, Aufmerksamkeit und 
Orientiertheit als besonders feine Anzeiger von BewuBtseinstrubungen 
noch immer in betrachtlichein Umfange nachweisbar. Es kann gesagt 
werden, daB in alien untersuchten Fallen der schizophrene Krank- 
heitsprozeB zu einer allgemeinen Schadigung des BewuBtseins gefiihrt 
hat. Der Unterschied bestand nur darin, daB der Grad der Schadigung 


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ein sehr verschiedener war. In leichtesten Fallen wurde dem Unter- 
sucher nur die gestorte BewBtseinstatigkeit bemerkbar, wahrend das 
BewuBtsein leidlich klar erschien. Bei den schwereren Sch&digungen 
wurden dann die BewuBtseinstriibungen immer greifbarer. Mit dieser 
Annahme einer zunehmenden allgemeinen Schadigung des BewuBtseins 
stimmt auch die Beobachtung zusammen, daB, wenn man von Gruppe 4 
zur Gruppe 1 hinaufgeht, die Triibungen zuerst episodisch, sehr fliichtig, 
singular auftreten, sich besonders in akuten Steigerungen und katato- 
nischen Erregungen finden, wobei sie in Fall 14 und 15 den Grad eines 
umschriebenen Dammerzustandes erreichen. Sodann gewinnen sie im¬ 
mer mehr an Umfang und beherrschen in der ersten Gruppe durchaus 
das Krankiieitsbild. Sie erreichen aber auch hier nicht den Grad einer 
kontinuierlichen BewuBtseinslahmung, wie in der Somnolenz oder im 
Koma, sondern weisen immer noch Schwankungen und luzide Inter¬ 
vals auf. Nur der besonders schwere und in direkter Wirkung todlich 
verlaufende Fall 3 zeigt eine kontinuierliche besonders tiefe Unbe- 
sinnlichkeit. Ich mochte an dieser Stelle nochmals darauf hinweisen, 
daB mir die Durchsicht einer Anzahl von Benommenheitszustanden 
organischer Erkrankungen das gleiche Bild der standigen Luziditats- 
schwankungen ergeben hat. Ich fand letztere selbst noch bei den 
schwersten und furibundesten Prozessen, die erst mit dem agonalen 
Koma in eine kontinuierliche BewuBtseinslahmung iiberging. Es ist 
also auch hierin ein grundlegender Unterschied zwischen organischer 
und schizophrener BewuBtseinstriibung nicht zu erblicken. Bei jedem 
einzelnen Krankheitsbilde ist bereits nachgewiesen, daB die BewuBt¬ 
seinsstorung primar war. Es wurde hervorgehoben, daB der Negativis- 
nxus, der am meisten fiir den Beobachter den Be wuBtseinszu stand zu 
verdecken und auseinander zu zerren scheint, in der Mehrzahl im 
Beginn der starksten BewuBtseinsstorung noch kaum angedeutet war 
und sich erst spater nach dem Zuriicktreten der BewuBtseinsstorung 
progressiv entwickelte. Er begleitete die BewuBtseinsstorungen und 
verdeckte oft die BewuBtseinsausfalle, vermochte sie aber nicht ur- 
sachlich zu erklaren. Ebensowenig vermochten Abgelenktheit, die nur 
selten starkere Grade erreichte und meist vollig fehlte, Wahnbildungen, 
halluzinare Vorgange, die selten sehr sturmisch auftraten, die Er- 
scheinungen auf dem Gebiete des BewuBtseins zu begriinden. 

|. Es fragt sich, welche Ursachen eine so verschiedengradige Er- 
griffenheit des BewuBtseins bei den vier unterschiedenen Gruppen 
veranlassen. Es scheint mir, daB hierfur die Schwere des Krankheits- 
prozesses und der zeitliche Ablauf verantwortlich zu machen sind. 
Die 7 Falle der ersten beiden Gmppen zeigten mit nur einer Ausnahme 
einen akuten Beginn. Es schienen mir dies auch besonders schwere 
Verlaufsformen zu sein. Fall 3 fiihrte durch den schizophrenen Krank- 


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BewuBtseinstriibungen bei Dementia praecox. 


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heitsprozeB direkt zum Tode, die andern gingen ohne Remissionen in 
schwere Endzustande mit gedanklichem Zerfall aus. Bei den iibrigen 
Gruppen finden sich auch noch akute, aber wesentlich zahlreicher 
subakute und chronische Verlaufsformen, die im Endstadium oft nur 
einen Teilabbau bis zum Erhaltenbleiben einer gewissen Arbeitsfahig- 
keit bewirkten. Auf einen Zusammenhang mit dem zeitbchen Ablauf 
deutet auch der Umstand, daB bei chronischen Fallen die BewuBt- 
seinstriibungen sich vornehmlich an die Schiibe und katatonischen 
Erregungen anschlossen. 

Es ist noch ein weiterer Punkt in Erwagung zu ziehen. Von den 
ersten 7 Fallen schloB sich bei 4 Fallen das akute Stadium an korper- 
liche Krankheiten an (einmal KongestionsabszeB, einrnal fieberhafte 
Endometritis, zweimal Grippe). Es ist bei den einzelnen Krankheits- 
geschichten dargelegt worden, daB es sich nicht um symptomatische 
Psychosen, sondern um echte Schizophrenien handelt. Es ware aber 
daran zu denken, ob nieht das Symptomenbild erst durch den korper- 
lichen Krankheitsvorgang die Zutat der BewuBtseinstriibung erhalten 
hat. Der Umstand, daB Fall 1, 3 und 4 ohne ein korperliches Leiden 
die gleichtiefe BewuBtseinstriibung aufwiesen, scheint mir dagegen zu 
sprechen. Die BewuBtseinsstdrungen nehmen bei der Schizophrenic 
einen viel breiteren Raum ein, wahrend das Zusammentreffen des 
Beginns mit korperlicher Krankheit ein erheblich selteneres ist. Die 
Erfahrung zeigt auch nicht, daB bei spater interimistisch auftretenden 
korperlichen Krankheiten ein erneutes Anschwellen der BewuBtseins- 
triibungen eintritt. Das Verhaltnis zu dem korperlichen ProzeB lag 
auch bei diesen Fallen keineswegs gleichartig. Bei Fall 2 und 6 setzten 
die Psychosen erst nach Ablauf des korperlichen Leidens ein; bei Fall 3 
gingen die Vorboten der psychischen Krankheit der korperlichen 
monatelang vorauf; nur bei Fall 5 fielen Fieberstadium und Beginn 
der Psychose direkt zusammen. Es ist daher nicht angangig, die Be- 
wuBtseinstrubungen auf symptomatisch-infektiose Prozesse zu be- 
ziehen, hingegen ist daran zu denken, ob nicht in vereinzelten Fallen, 
wie in Fall 5, der korperliche ProzeB auslosend oder beschleunigend 
auf den psychischen Krankheitsvorgang einwirkt, mit dem dann natur- 
gemaB auch eine starkere BewuBtseinstriibung verkniipft ware. Bon- 
h offer bemerkt hierzu: ,,Schwere Katatoniefalle gehen erfahrungs- 
gcmaB im ersten Beginn nicht selten mit Fieberbewegung einher (Fall 4 
meiner Beobachtung). Es muB auf die Erfahrung hingewiesen werden, 
daB nicht selten endogene Psychosen durch einen fieberhaften ProzeB 
und besonders durch den Fieberabfall ausgelost werden. In anderen 
Fallen handelt es sich darum, daB bisher unbeachtet gebhebene Initial- 
erscheinungen der Dementia praecox (vielleicht Fall 3) durch die Fie- 
bererregung eine starkere AuBerung erfahren.“ Es wird zu dieser 


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W. Medow: 


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Ansicht Bonhoffers nichts weiteres zur Klarung hinzuzusetzen 
sein. 

Es ist von Interesse festzustellen, ob sich besondere der von mir 
angedeuteten Typen von BewuBtseinstrubung bei den untersuchten 
Fallen herausheben und ob dieselben einen Hinweis auf den Grad und 
die Art des Krankheitsprozesses bieten. Bei den ersten 7 Fallen fand 
ich einmal eine vorwiegend unbesinnliche, einmal eine vorwiegend 
dammrige, viermal eine gemischt dammrig-unbesinnliche Form, ein¬ 
mal war ein sensorisch-hyperluzider Zustand eingestreut; ein Fall war 
vorwiegend reproduktiv-hyperluzide getriibt. Bei den Gruppen 3 und 4 
herrschte die unbesinnliche Form ganz tiberwiegend (8mal), nur zwei- 
mal trat in akuten Schuben eine unbesinnliche-dammrige Trubung auf, 
ein Fall trug eine sensorisch-hyperluzide Farbung. Wenn sich auch 
scharfe Grenzen nicht finden lassen, so scheint mir das Ergebnis dafiir 
zu sprechen, daB die dammrige Trubung oder solche mit dammrigem 
Einschlag der Ausdruck von starker und akuter verlaufenden Be- 
wufltseinsschadigungen sind, wahrend die unbesinnlichen Formen den 
chronischer verlaufenden und geringgradigeren Bcavu Btseinsverande- 
rungen entsprechen. Aus dieser Feststellung fallt jedoch Fall 3 heraus, 
der bei seiner besonderen Schwere doch nur eine tiefe unbesinnliche 
Trubung aufweist. t)ber die Stellung der hyperluziden Trubungen 
laBt sich bei der geringen Anzahl von Beobachtungen nichts aussagen, 
nur scheinen beide Arten bei der Schizophrenic vorzukommen. 

Von jenen psychischen Vorgangen, die einen RiickschluB auf die 
BewuBtseinsklarheit gestatten, stehen, wie bereits ausgefiihrt, die Auf- 
fassxing und das Symptom der Amnesie oben an. Beide zeigen, wenn 
deutlich ausgepragt, recht bemerkenswerte Grade von Bewu Btseins- 
trubung an. Es ist darum beachtenswert, daB ich amnestische Er- 
scheinungen bei einer ganzen Reihe von Schizophrenien nachweisen 
konnte. Auffassungsstorungen primarer Art lieBen sich, wenn auch 
oft sehr schwankend, ebenfalls in der Mehrzahl der Falle nachweisen. 
Im groBen genommen stimme ich hierin mit der Mehrzahl der Autoren 
iiberein, nur finde ich dieselben in viel groBerer Ausdehnung und Hau- 
figkeit. Kraepelin ist geneigt,den Wahrnehmungsausfall im katatonen 
Stupor durch Aufmerksamkeitsfesselung, d. h. durch Abgelenktheit 
durch innere und auBere Vorgange, die fiir andere Wahrnehmungen 
unzulanglich machen, zu erklaren. Wenn dieser sekundar bedingte 
Wahrnehmungsausfall auch vorkommt, so muB ich demgegeniiber l)e- 
tonen, daB die von mir festgestellten zahlreichen Auffassungsdefekte 
bei richtiger Willens- und Aufmerksamkeitseinstellung gefunden wut- 
den und somit primarer Natur tvaren. 

Als ein feinerer Anzeiger bei oft noch kaum greifbarer BewuBtseuis- 
triibung ist die MerkschAvache anzusehen. Ich finde sie in sehr groBem 


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BewuBtseinstriibungen bei Dementia praecox. 


417 


Umfange bei der Schizophrenie gestort, auch in solchen Fallen, bei 
denen weniger der Anschein der Dammrigkeit als jener der Unbesinn- 
lichkeit erreicht wird. Ich stimme hier mit der Ansicht der Autoren 
nicht xiberein, die geneigt sind, allzusehr in sekundaren Affekt- und 
Willenseinflussen die Ursachen von Ausfallserscheinungen zu erblicken. 
Bei unbefangener Pnifung meiner Falle konnte ich immer wieder fest- 
stellen, dab wohl Abulie und Negativismus zeitweise den Einblick in 
das Seelenleben verwehrten, dab aber ebenso beim Schwinden der 
verdeckenden Einfliisse und bei eintretender Zuganglichkeit und wil- 
lensgemaber Einstellung das Resultat der Merkschwaehe unverandert 
blieb und die Art einer durchaus primaren Merkschwaehe trug. Erst 
bei den geringeren Graden von Bewubtseinstriibung in den chronisch 
verlaufenden und den Endzustanden schien die Merkfahigkeit oft 
nor male Werte zu erlangen. 

Der feinste Anzeiger leichter oder beginnender Bewubtseinstriibung 
scheint mir die Aufmerksamkeit zu sein. Hierauf deutet die Beobach- 
tung hin, dab sie das erste Zeichen der Ermiidung und Erschopfung 
ist. Sie iibertrifft daher bei ausgesprochenen BewuBtseinstriibungen 
dem Grade nach alle anderen Storungen der Bewubtseinstatigkeit und 
scheint noch bei abflauendem und in Chronizitat iibergehendem Krank- 
heitsprozeb alle andern Erscheinungen der Bewubtseinstriibung zu 
iiberdauern. Sie scheint so eine gewisse Selbstandigkeit zu erlangen, 
im praktischen Sinne nicht mehr an Bewubtseinstriibungen gekniipft 
zu sein, wenn sie auch der wirklichen Bedeutung nach von solchen nicht 
zu trennen ist. Die Aufmerksamkeitsstbrungen spielen wie iiberhaupt 
in der Psycho-Pathologie so auch in der Dementia praecox die grobte 
Rolle und ich habe keinen der untersuchten Krankheitsfalle ohne Auf¬ 
merksamkeitsstbrungen gefunden. Ich will mich nicht im einzelnen 
damit auseinandersetzen, ob die aufgestellten Typen der Sperrung, 
Hemmung, Bestimmbarkeit, Abgelenktheit der Aufmerksamkeit wirk- 
lich der Ausdruck von Unterschieden der Aufmerksamkeitsstbrungen 
selbst sind oder ob diese Farbungen nicht vielmehr von anderen psycho- 
pathologischen Vorgangen her durch psychische Verkniipfung an- 
geheftet sind. Ich konnte mich jedenfalls nicht davon iiberzeugen, 
dab es bei der Schizophrenie dem Grunde nach eine besondere Art 
von Aufmerksamkeitsstbrungen gabe, die eine Absonderung von solchen 
bei anderen Krankheitsgruppen gestatten wiirde. Das Spiel der Auf- 
merksamkeitsveranderungen in einem psychischen Kranklieitsablauf 
eresheint mir so komplizierten, so mannigfachen Einfliissen unterworfen 
zu sein und so vielerlei Gestaltungen annehmen zu konnen, dab Fest- 
stellungen hieriiber doch nur fiir Einzelmomente, Einzelfalle oder 
Einzelgruppen Giiltigkeit haben wurden. Kraepelin findet Ixi der 
Dementia praecox die maximale Aufmerksamkeit stiirker gestort als 


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die habituelle. Es wiirde dieses doch fur das tlberwiegen einer primaren 
Stoning sprechen, da die habituelle Aufmerksamkeit mehr sekundaren, 
affektiven und ablenkenden Einfliissen unterworfen ist als die maxi¬ 
male. Ieh selbst vermag nichts Allgemeingiiltiges zu dieser Besonder- 
heit auszusagen. Interesselosigkeit, Apathie, Negativismus, die ihre 
Domane bei der Schizophrenic haben, werden allerdings ilirerseits auch 
auf die Art der BewuBtseinstatigkeit abfarben, und in diesem Sinne 
wird man von einer apathischen Aufmerksamkeitsstorung und einer 
Sperrung der Aufmerksamkeit sprechen konnen, doch sind dieses meines 
Erachtens zusammengesetzte Gebilde, die durch sekundare Verkniip- 
fungen mit dem Grundsymptom der reinen Aufmerksamkeitsstorung 
ihre Farbung erhalten. Ich befinde mich hier mit den Autoren in 
Widerspruch, die bei der Schizophrenic die Aufmerksamkeit primar 
intakt und nur sekundar gestort finden; hingegen stimme ich mit 
Wieg-Wickenthal iiberein. Es erschien mir bei meinen Beobach- 
tungen moglich, sekundare Einfliisse abzusondern und ausgebreitete 
Aufmerksamkeitsstbrungen sui generis festzustellen; ja sie schienen 
mir durchaus fruhere und grundlegendere Krankheitserscheinungen 
zu sein, als die erst bei langer fortwirkendem KrankheitsprozeB ein- 
tretenden Affekt- und Willenslahmungen. 

Das zusammengesetzte Gebilde der Orientiertheit zeigt bei aus- 
gesprochener Stoning bereits einen merklichen Grad von BewuBtseins- 
triibung an. Es findet dieselbe daher ihren besonderen Platz bei den 
organischen Psychosen mit BewuBtseinstriibungen. Leichteste Grade 
werden jedoch auch in Fallen zu finden sein, in denen die Triibung 
noch nicht greifbar geworden ist. Ich finde die Storungen der Orientiert¬ 
heit bei der Schizophrenic einen sehr breiten Raum einnehmen, wenn 
sie sich auch bei der Mehrzahl in maBigen Grenzen halten und beson- 
ders auf Mangel der zeitlichen Orientiertheit erstrecken werden. Ich 
sehe mich veranlaBt, an dieser Stelle die Aufmerksamkeit auf einen 
Punkt hinzulenken, der meines Erachtens besonders leicht den AnlaB 
zu Fehlschliissen gibt. Es sind dies die im AnschluB an Schwankungen 
der BewuBtseinsklarheit auch haufig wechselnden Grade der Orientiert¬ 
heit. Nur zu haufig finden wir die Orientiertheit bei der Schizophrenic 
tageweise wechselnd; in langer andauernden, scheinbar tiefen Ver- 
wirrtheitszuptanden iiberrascht uns auf einmal eine An Berung, die auf 
richtige Orientiertheit hindeutet, und wir sind leicht geneigt, die Orien¬ 
tiertheit als den wirklichen Dauerzustand anzunehmen, die darauf 
folgende Desorientiertheit aber als scheinbare und auf negativistischer 
Unterdriickung beruhend zu erklaren. Nach meinen Beobaehtungen 
kann es wohl derartig bedingte Verhaltnisse geben; und doch ware es 
ein FehlsehluB, die Mehrheit solcher Schwankungen so zu erklaren. 
Ich gestehe, daB mich erst die gegenwartige genaue Beschaftigung mit 


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BewnBtseinstriibungen bei Dementia praecox. 


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dieser Erscheinung zu der Erkenntnis fiihrte, daB es sich sehr haufig 
urn einen wirklichen Wechsel der primaren Orientiertheit und der Be¬ 
wu Btseinstatigkeit handelt. Es bestarkte mich hierin auch das Auf- 
finden genau analoger Erscheinungen bei symptomatischen und deli- 
riosen Psychosen. Ahnlich wie bei der Orientiertheit schienen mir 
auch mit dem Wechsel der BewuBtseinsklarheit kongruent gehende 
Schwankungen der Auffassung und Merkfahigkeit sowohl bei der 
Schizophrenic als auch bei organischen Psychosen gang und gabe zu 
sein. Durch eine Verkennung dieser in Wirklichkeit primaren Schwan¬ 
kungen wird mir die Ansicht der Autoren erklarbar, daB bei der Schizo¬ 
phrenic die Orientiertheit in der Regel intakt sei und bestenfalls Sto- 
rungen durch sekundare Einfliisse verursacht wiirden. Bei den End- 
zustanden und bei durchweg chronischen Verlaufsarten fand ich eben- 
falls die Orientiertheit intakt, haufig verdecken apathische und nega- 
tivistische Einfliisse den eigentlichen Orientieru ngszu stand, wahnhafte 
Vorgange konnen die sogenannte doppelte Orientiertheit hervorrufen, 
doch wird eine fortlaufende Beobachtung meist den wirklichen Zu- 
stand der Orientiertheit erkennen lassen. 

Es ergibt sich die Frage, ob es bei der Schizophrenie eine besondere 
Art von BewuBtseinsveranderung gibt, die eine Unterscheidung von 
solchen bei organischen Psychosen gestattet. Denkt man sich aus den 
verschiedenen Stufen der BewuBtseinsveranderungen bei der Schizo¬ 
phrenie einen Durchschnittsgrad derselben gebildet, so wird derselbe 
nicht hochgradig sein, ein Bild ergeben, das nur in besonderen Episoden 
Dammrigkeit oder Unbesinnlichkeit aufweist, im ubrigen nur mehr 
oder minder ausgepragte Veranderungen der Bewu Btseinstatigkeit er¬ 
kennen laBt. Dieses Durchschnittsbild bleibt ohne Zweifel beziiglich 
der Tiefe der BewuBtseinstrubung erheblich hinter dem Durchschnitts¬ 
bild zuriick, das wir aus der Suinme organischer Psychosen gewinnen. 
Ich kann den Unterschied jedoch nur in einem quantitativen Grade 
der BewuBtseinstriibung erblicken. Die Form der dammrigen und un- 
besinnlichen, der sensorisch- und reproduktiv-hyperluziden Bewu Bt- 
seinstrubung sind keine anderen als sie bei organischen Psychosen auch 
auftreten, nur der Grad der Auspragung ist verschieden. Wenn es 
qualitative Unterschiede im Symptomenbilde beider Psychosengnippen 
gibt, so mxissen sie auf einem andern Gebiete als dem der BewuBtseins- 
storung gesucht werden. Gehen wir aber nicht von den Durchschnitts- 
bildern beider Gruppen aus, sondern vergleiclien die Tiefe der Be- 
wuBtseinstrubung bei den Endgliedern der organischen Psychosen mit 
jener der Anfangsglieder der schizophrenen Reihe, so muB dieselbe 
durchaus gleichgesetzt werden. Die BewuBtseinsunklarheit bei .sympto¬ 
matischen Psychosen vom Charakter der Amentia und bei den in meiner 
ersten Kranklieitsgruppe vereinigten Kranklieitsfalien ist genau die 


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gleiche. Kraepelin hat geglaubt, der Amentia eine besondere BewuBt- 
seinslage (Traumhaftigkeit bei Erhaltenbleiben der Aufmerksamkeit 
und des elementaren Auffassungsvermogens) zuerkennen zu iniissen, 
wogegen Bleuler Einspruch erhebt. Gegen Kraepelins Auffassung ist 
zu sagen, daB schon theoretisch eine Bewu Btseinstrii bung ohne Auf- 
merksamkeits- und Auffassungsschwache schwer zu denken ist. Ich 
glaube, daB die BewuBtseinstrubung bei beiden Fallen keine verschie- 
dene sein kann, daB aber verschiedene sekundare Farbungen durch 
Willenseinfliisse vorkommen konnen. Ich finde jedoch, daB diese for- 
dernden oder hemmenden Willenseinfliisse, wenn auch nicht in gleicher 
Haufigkeit, bei beiden Krankheitsgruppen auftreten konnen, was sich 
mit Bonhoffers Ansicht deckt. Eine typische Anordnung der Aus- 
fallserscheinungen der verschiedenen Arten der Bewu Btseinstatigkeit, 
wie etwa bei der epileptischen Degeneration, wo die Auffassungsschwache 
von einer besseren Merkfahigkeit und Aufmerksamkeit absticht und 
was vielleicht mit einer besonderen Schwache der begrifflich-spraclilichen 
Vorgange zusammenhangt, konnte ich bei der schizophrenen Triibung 
nicht finden. Mir schien sie im allgemeinen sehr diffus, ahnlich gerade 
jener bei der Amentia und beim Infektionsdehr zu sein. Wenn mir im 
allgemeinen die Aufmerk amkeit am friihesten und starksten betroffen 
zu sein schien, so halte ich dieses bei der besonderen Empfindlichkeit 
dieser Bewu Btseinsau Bcrung gerade fur den typischen Ablauf von Be¬ 
wu Btseinstriibungen. Die Ahnlichkeit zwischen den Gruppen der 
Amentia und der ersten Gruppe meiner Beobachtungsreilie besteht je¬ 
doch nicht nur in der Art der BewuBtseinsstorung, sondern kann auch 
in der Mehrzahl der andern Symptome vorhanden sein. Ich verweise 
diesbeziiglich auf die eingangs erwahnten Darlegungen Bonhoffers, 
denen ich mich anschlieBe. Wenn ich mir die Frage vorlege, welche 
Merkmale eine Unterscheidung beider Gmppen ermoglichen konnen, 
so kann ich zu den Merkmalen, die Bonhoffer von der symptomati- 
schen Seite her aufgestellt hat (kombinierte optisch-taktile Sinnes- 
tauschungen, besonders starke Auspragung von psycho-motorischen 
Reizerscheinungen im Bereich der Gesichts-, Mund- und phonetischen 
Muskulatur), von der schizophrenen Seite her neben dem Verlauf und 
dem Fehlen einer korperlichcn Begleiterkrankung anfiihren, die Hau- 
fung katatonischer Ziige, das Auftreten von Storungen des gedanklich- 
sprachlichen Ausdmcks (Paralogie, Wortneubildungen, Verquickungen) 
das Durchschcinen von Zerfall der Persbnlichkeit und die meist erst 
allmahlich deutlich werdende Abulie und Affektblasse. Es konnen 
aber alle diese Symptome im ersten Stadium mehr oder minder im 
Stich lassen, es konnen auch Ixn der Schizophrenic korperliche Be- 
gleitkranklieiten auftreten, das von Bonhoffer fiir die symptomato- 
logische Seite noch angefiihrte Auf- und Abschwanken der Symptome, 


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BewuBtseinstriibungen bei Dementia praecox. 


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das Erhaltenbleiben eines gewissen Krankheitsgefuhls konnen sich sehr 
haufig im Beginn der Schizophrenic^ ebenfalls finden, so daB oft nur 
der Verlanf cine Entscheidung bringen kann. 

Es fragt sich zumSchluB, welche Folgerungen aus der Feststellung 
fiber das Vorkommen und die Ausbreitung von BewuBtseinstriibungen 
bei der Schizophrenic sich fiir die Ursachen und die Stellung derselben 
ira allgemeinen finden lassen. Ich lenke neben meinen Resultaten die 
Aufmerksamkeit nochmals auf die Feststellungen von organischen 
Syraptomen durch Reichardt, Potzl, Rosenfeld und andere Au- 
toren hin. Sind langer fortbestehende mit destruktiven Vorgiingen 
verbundene primare BewuBtseinstorungen der Ausdruck eines organi¬ 
schen Krankheitsprozesses, woran wohl nicht zu zweifeln ist, so muB 
auch die Schizophrenic als eine organische Gehirnerkrankung auf- 
gefaBt werden. Sie muB mithin ihre Stellung in der Gruppe der organi¬ 
schen Psychosen finden. Sollte dieser organische ProzeB im Gegensatz 
zu anderen aLs ein endotoxischer aufgefaBt werden miissen, so ware 
wenigstens beziiglich der BewuBtseinsveranderungen kein grundlegen- 
der Unterschied zwischen ekto- und endotoxischen Formen zu machen. 
Sie erhalt ihre Besonderheit gegeniiber den gewohnlich als organisch 
bezeichneten Psychosen dadurch, daB die BewuBtseinstrubung durch - 
schnittlich bei langsamem Krankheitsverlauf nur geringe Grade der 
Tiefe erreicht und die Trubung in der Mehrzahl nur in Storungen der 
BewuBtseinstatigkeit ihren Ausdruck findet. In nicht zu seltenen 
Fallen haben beschleunigter und stiirmischer Ablauf der Vorgange 
jedoch auch hohere Grade der BewuBtseinstrubung zur Folge. Ich 
finde mich hier, wenigstens soweit es den von mir untersuchten Be- 
wuBtseinszustand bei der Schizophrenic anbelangt, mit einer Ansicht 
von Specht zusammen, der den wesentlichsten Unterschied der endo- 
genen und exogenen Symptome in dem Unterschied der Quantitat und 
der zeitlichen Entfaltung der Ursachen erblickt. Je feiner und lang- 
samer eine allgemeine Schadigung das Zentralnervensystem trifft, um 
so geringer werden auch die BewuBtseinsveranderungen sein, um so 
mehr wird der Zusammenhang der BewuBtseinsvorgange erhalten blei- 
ben und den psychologischen Reaktionen und Vorgangen Spielraum 
zur Entfaltung verbleiben. Specht nennt es die Mitarbeit des intakten 
Seelenanteils. Und so werden auch bei der Schizophrenic, sobald die 
BewuBtseinsunterbindungen zuriicktreten, die mehr oder minder ge- 
sehlossenen Wahnbildungen in sichtbare Erscheinung riicken. Ich 
mochte mich der Ansicht Spechts in vollem Umfange anschlieBen, 
soweit dieselbe sich auf den immerhin in erster Linie zu nennenden 
Anteil erstreckt, den die Bewu Btseinsstorungen und deren Folgeerschei- 
nungen in der Psychopathologie haben. Diese scheinen mir durch die 
von Specht angefuhrten Ursachen der Quantitat und Akuitiit allein 
Archiv filr Psychiatrie. Bd. 67. 28 


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in Bewegung gesetzt zu werden. Ob vielleicht noch andere Seiten der 
Psyche den gleichen oder ahnlichen Gesetzen folgen, mochte ich mit 
Specht fur moglich halten. Ich* mochte aber annehmen, daB Kon- 
stitution und andere spezifische Vorgange iiber die Wirkungen der 
Quantitat und Akuitat hinaus einen Trennungsstrich zwischen die 
Psychosen des erweiterten Rahmens der auf einem organischen Prozefi 
beruhenden Psychosen ziehen. Es bleibt daher unerschiittert, daB 
Eigenart des Krankheitsvorganges, Ausdehnung und Lokalisation Ver- 
lauf, Besonderheit der Forrnen und Eigenart der Farbung der Psychosen 
bestimmen und dadurch die Abgrenzung von Krankheitsbildern er- 
moglichen. 

Zusammenfassung: Der Schizophrenic liegt ein organischer Kra nk- 
heitsprozeB zu Grunde, der zu Veranderungen des BewuB^seins fuhrt. In 
den chronischen Verlaufsformen undindenEndzustandenerreichtdieselbe 
nicht den Grad der greifbaren BewuBtseinstriibung, sondern fuhrt nur zu 
mehr oder minder ausgepragten Veranderungen der BewuBtseinstatigkeit. 
Die TatigkeitsauBerungen des BewuBtseins besitzen eine verechieden 
abgestufte Empfindlichkeit gegeniiber krankhaften Einfliissen, dieselbe 
nimmt zu von der Auffassung iiber die Merkfahigkeit zur Aufmerksam- 
keit. Bei den akuten Forrnen und in den Schiiben erreicht die BewuBt- 
seinsveranderung den Grad der BewuBtseinstriibung, die ahnlich wie bei 
organischen Psychosen die Form der dammrigen, der unbesinnlichen, 
der sensorisch-hyperluziden und reproduktiv-hyperluziden BewuBt¬ 
seinstriibung annehmen kann. Bei der hier gewohnlich erreichten mitt- 
leren Hohe der Triibung ist die Luziditat standigen mehr oder minder 
ausgesprochenen Schwankungen unterworfen. Affekt und Willens- 
einflusse verdecken oft sekundar die BewuBtseinsveranderungen, doch 
erklaren sie dieselben nicht. Bei den akuten Forrnen beginnt die Krank- 
heit mit BewuBtseinstriibungen, wahrend Negativismus und Willens- 
schwache erst erheblich spater zur Entfaltung kommen. Der Durch- 
schnittsgrad der BewuBtseinstriibung bei der Schizophrenic ist erheb¬ 
lich geringer als der, der durchschnittlich bei den gewohnlich als orga- 
nisch bezeichneten Psychosen erreicht wird, doch ist der Unterschied 
beziiglich der BewuBtseinstriibung nur ein quantitativer. 


Literatur: 

Bleuler: Lehrbuch der Psychiatrie. 1916. — Derselbe: Gruppe der Schizo- 
phrenien. Aschaffenburgs Handbuch, sp. Teil 4,1. — Blu menthal: Psychosen bei 
Hydrocephalus, Meningitis serosa, Hirnschwellung und Pseudotumor. Zeitschr. 
f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 64. — Bonhoffer: Die Psychosen im Ge- 
folge von akuten Infektionen, allgemeinen Erkrankungen und inneren Erkran- 
kungen. Aschaffenburgs Handbuch, sp. Teil 3, I. — Ebbinghaus: GrundriB 
der Psychologic. 3. Aufl. 1911. — Ewald: Zur Frage der klinischen Zusammen- 


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BewuBtseinstriibungen bei Dementia praecox. 


423 


gehorigkeit der symptomatischen Psychosen. Monatsschr. f. Psychiatr. u. Neurol., 
-14. — Kraepelin: Lehrbuch der Psychiatrie. 8. Aufl. — Michel: Die korper- 
lichen Storungen bei Dem. praecox. Psychiatr.-neurol. Wochenschr. 1913. — 
Pfersdorf: Uber eine Verlaufsart bei Dem. praecox. Neurol. Zentralbl. 1909. — 
Potzl: Zur Frage der Hirnschwellung imd ihre Beziehungen zur Katatonie. 
Jahrbiicher f. Psychiatr. u. Neurol. Bd. 31. — Rosenfeld: Zur klinischen Diagnose 
der Hirnschwellung. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 53, H. 3/4. — Der- 
selbe: Uber atypische Psychosen. Arch. f. Psychiatr. u. Nervenkrankh. to, 
H. 1/3. — Rosenthal: Uber einen schizophrenen ProzeB im Gefolge einer hirn- 
drucksteigernden Erkrankung. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 25. — 
Specht, G.: Zur Frage der exogenen Schadigungstypen. Zeitschr. f. d. ges. 
Neurol, u. Psychiatr. 19. — Stransky: Lehrbuch der Psychiatrie. — Trommer: 
Das Jugendirresein. Sammlung von Abhandlungen a. d. Gebiet der Nerven- und 
Geisteskrankheiten von Alt. Bd. 3. — Wernicke: GrundriB der Psychiatrie. 
2. Aufl. — Wieg-Wieckenthal: Zur Klinik der Dem. praecox. Aschaffenburgs 
zwanglose Abhandlungen. Bd. 7 u. 8. 


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Zur Frage tier Pyknolepsie. 

(Geh&ufte kleinc Anf&lle der Kinder.) 

Von Dr. Kurt Pohlisch. 

(Aus der Psychiatiischen und Nervcnklinik der Charite Berlin 
[Direktor Geh. Rat Bonhoeffer].) 

(Eingegangen am 18. Oktober 1922.) 

1906 wiesen Friedmann und nach ihm Heilbronner auf eine 
Form von gehauft auftretenden absenceartigen Anfiillen hin, die ihrem 
ganzen Symptombild, besonders ihrer giinstigen Prognose nach, 
grundsatzlich von der genuinen Epilepsie zu trennen sind. Durch 
weitere Arbeiten von Friedmann und anderen Autoren vvurde im 
Laufe der nachsten Jahre, besonders in der Zeit von 1913—18, die 
symptomatische Einheit dieser abzutrennenden Anfallsform schiirfer 
erkannt und folgende differentialdiagnostischen Kriterien im Vergleich 
zur Kranklieitsgruppe der genuinen Epilepsie aufgestellt: Ausheilen 
der Anfalle ohne Hinterlassung einer e{)ileptischen Personlichkeits- 
veranderung: Nutzlosigkeit der Epilepsie-Medikamente, gehauftes Auf- 
treten vom Beginn der Anfallszeit an, im allgemeinen von der Schulzeit 
bis zur Pubertat, nur selten von kurzen Pausen unterbroehen, Mono- 
tonie der Anfallsform, vor allem Fehlen der Krampfanfalle und epilep- 
tischen Aquivalenten. Besonders Friedmann betonte, dab es sich bei 
diesen Anfiillen lediglich um eine momentane Unterbrechung des Den- 
kens und der Fahigkeit Willkiirbewegungen auszufiihren handele ohne 
Auftreten groberer motorischer Reizerscheinungen. Andererseits sei der 
Tonus der Korpermuskulatur nur selten so weit herabgesetzt, dab der 
Kranke einknicke oder hinfalle. Als Bezeichnung dieser Anfalle fiilirte 
Sauer, einer Anregung Schroders folgend, den Ausdruck Pyknolepsie 
ein, den tvir ; obwohl er die giinstige Prognose als wesentlichstes Merk- 
mal nicht in sich schliebt, beibehalten werdcn, weil er sich einmal ein- 
gebiirgert hat. Der neue Krankheitsbegriff erwies sich in der Praxis 
wegen seiner noch nicht scharf genug durchgefiihrten Abgrenzung und 
der grobcm, zuweilen tiber Jahre hinaus sich erstreckenden Ahnlichkeit 
mit bestimmtcn Epilepsieformen als sehr schtvierig anwendbar. Eine 
Reihe anfangs als pyknoleptisch angeseliener und veroffentlichter Fiille 
stellte sich spiiter als epileptisch oder zu anderen Anfallsformen ge- 
horig heraus, so dab schlieblich kaum ein Dutzend der zahlreichen in 


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Kurt Pohlisch: Zur Frage der Pyknolepsie. 


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die Literatur iibergegangenen Beobachtungen als einwandfreies und 
geniigend lange beobachtetes Erfahrungsmaterial zur Beweisfiihrung 
fur die Richtigkeit des neuen Krankheitsbegriffes iibrig blieb. Bei 
dem Rest der Falle wiederum war eine einheitliche pathogenetische 
Grundlage nicht nachweisbar. Von mehreren Autoren wurde an eine auf 
psychopathisch - neuropathischer Konstitution entstandene Neurose 
gedacht, andere dagegen glaubten Beziehungen zur spasmophilen 
Diathese, zur Hysterie und Narkolepsie gefunden zu haben. So er- 
schien der neue Krankheitsbegriff klinisch und theoretisch zu wenig 
sicher fundiert, um in der Sprechstunde und am Rrankenbett sicher 
mit ihm arbeiten zu konnen. Den Kinderarzten z. B. wurde er kaum 
bekannt, und in der Psychiatrie ist die Diskussion iiber die Pyknolepsie- 
Frage in den letzten Jahren nicht wesentlich gefordert worden 1 ). Schuld 
daran ist in erster Linie die Schwierigkeit, geeignetes Erfahrungsmaterial 
zu bekommen, d. h. Falle, die nicht nur iiber mehrere Anfallsjahre, 
sondern auch Jahre iiber die Zeit des Abklingens hinaus verfolgt wor- 
den sind. Gerade das letztere ist aber eine unumgangliche Voraus- 
setzung zum Nachweis der giinstigen Prognose, also des wesentlichsten 
differentialdiagnostischen Unterschiedes mit der genuinen Epilepsie. 
Wahrend der Krankheit entziehen sich die Kinder meist wegen der 
oft erfolglosen Therapie der weiteren Beobachtung, und nach dem spon- 
tanen Abklingen besteht fiir die Eltern erst recht kein AnlaB zur polikli- 
nischen Wiederv r orstellung. Gberdies ist die Pyknolepsie recht selten. 
Die groBe poliklinische Besucherzahl ermoglicht es, eine verhaltnis- 
maBig groBe Zahl lang beobachteter und klarer Falle zu bringen, (lurch 
die ein Beitrag zur Symptomatologie und — was noch notwendiger 
ist — zur Pathogenese der Pyknolepsie geliefert werden kann. 

Fall 1—11: Pyknolepsie, 2—8 Jahre iiber das Aussetzen der Anfalle hinaus 
beobachtet. 

Fall 12—26: Pyknolepsie, sicher oder sehr wahrseheinlich, Anfallsdauer 
2—14 Jahre, noch nicht oder erst seit Monaten abgeklungen, darunter Fall 18—26 
stationar beobachtet. 

Fall 27—30: Genuine Epilepsie mit mehrjahriger Verlaufsform ahnlich der 
Pyknolepsie. 

Fall 31—32: Genuine Epilepsie? Pyknolepsie? Diagnose nach ojahriger 
Anfallszeit noch fraglich. 

Die kurz abgefaBten Krankengeschichten konnen wegen Raum- 
mangels keine differentialdiagnostischen Erwagungen enthalten, die 
selbstverstandlich eingehend gemacht worden sind. Wenn z. B. das 


x ) Stier hat am 12. V 7 . 1922 im Verein fiir Innere Med. u. Kinderheilk., 
Padiatr. Sekt. Berlin, iiber 8 abgeklungene, langjahrig beobachtete Falle ein¬ 
gehend berichtet. Die ErgebnLsse, die sich in vielem mit denen des Verf. decken, 
konnten hier nicht inehr beriicksichtigt werden. 


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426 


Kurt Pohlisch: 


Fehlen anderer Anfallsformen (Krampfformen, Anfallaquivalente) nicht 
verzeichnet ist, so sind diese ausdriicklich auszuschlieBen. Ebenso 
verhalt es sich mit Aurasymptomen, psychischen Veranderungen im 
Nachstadium des einzelnen Anfalls, Auftreten der Anfalle aus dem 
Schlaf heraus, hereditaren Besonderheiten und anderen zur Abgrenzung 
mit der genuinen Epilepsie oder anderen kindlichen Anfallsformen 
wichtigen Symptomen. 

Fall 1. Wally Kr. 

Beobaehtungszeit, Alter bei Anfallev: Polikl. I.—IV. 1915. Nachunters. 22. 
III. 1922. Anf. vom 4.—8. Jahr (1913-—1917). Frei seit 5 Jahren. 

Form der Anfalle: Stiert vor sich hin, manchmal langsamee Lidzwinkern. In 
Polikl. zweimal unmotivierte Greifbewegung. Amnesie dafiir. Zweimal kurzes 
Zusammenknicken ohne Zuckungen. Fragt manchmal nach dem Anf all: ,,Was 
ist denn.“ Anfall so kurz, daB Reaktion auf ituBere Reize nicht zu priifen ist. 
Frequenz: Von Anfang an gehauft. In der ersten Zeit 5—10 taglich, spater 10—12, 
unverandert 4 Jahre hindurch. Seit 1917 Anfalle aufgehort. Auslosende Momente: 
Ereter Anfall vielleicht durch Schreck, durch Anspringen einer Katze. Spater 
bei Aufregungen keine Haufung beobachtet. 

Therapie: Brom und Luminal wochenlang erfolglos. Nach 4jahrigem Be- 
stehen Aussetzen ohne erkennbare Ursache im 8. Jahr, vielleicht nach Nieren- 
entziindung. (Ungenaue Angabe.) 

Psychische Konstitution: Bis zum 11. Jahre als einziges Kind aufgewachsen. 
Verwohnt, im Mittelpunkt des hauslichen Interesses. Krankelte friiher viel. Gute 
Auffassungsgabe und gutes Gedachtnis. Sehr interessiert, altklug. Erteilt Kla- 
vierunterricht. Macht korperlich und psychisch den Eindruck einer 16—-17jah- 
rigen (14jahrig). Keine psychische Veranderung 9 Jahre nach Beginn der An¬ 
falle. Korperlicher Befund: o. B. Hereditat: Mutter nervos, hysterische Wein- 
krampfe. Schwester rachitisch. Diagnose: Pyknol. 

Fall 2. Erich Sch. 

Beobaehtungszeit, Alter bei An fallen: Polikl. 1913—1914. Nachunters. 21. 
III. 1922. Anf. vom 9.—14. J. (1912—1917). Frei seit 5 J. 

Form der Anfiille: Behalt meist Korperhaltung bei. Manchmal auch auto- 
matische Bewegungen „wie eine Puppe“ mit Rumpf und Armen. Bulbi starr. 
Keine Zuckungen. Keine Reaktion auf Anrufen oder Schiitteln. Kurzes Unter- 
brechen der Tatigkeit, dann Fortfahren. Bleibt auf Treppe stehen. Einmal vom 
Turngeriist gestiirzt. Dauer des Anfalls wird auf 1—2 Min. geschatzt. Frequenz: 
Wahrscheinlich von Anfang an gehauft, 20—25 taglich. Spater 40—50 und 100. 
Jeden Tag ohne Unterbrechung 5 J. hindurch. Auslosende Momente: Anfalle 
sollen seit StraBenbahnunfall bestehen; spater von Erlebnissen unabhangig. Auf- 
horen 1917. Angaben ungenau. 

Therapie: Medikamente venveigert. Anfalle haben sich von selbst verloren, 
wahrscheinlich im 15. J. 

Psychische Konstitution : Einziges, von Mutter sehr verwohntes Kind. Un- 
ehelich. Bis zu 10 J. Bettnassen. Nach Bericht des Lehrers schwer erziehbar, 
eigensinnig. Gutmiitig, gute Intelligenz. 1922 (19 J.) asozialer, haltloser, weich- 
licher Psychopath. Gibt an, homosexuell zu sein. Seit 3 Jahren arbeitslos, wegen 
schlechter Leistungen als Lehrling und Laufbursche entlassen. LaBt sich von 
Verwandten ernahren. Keine epil. Ziige 10 J. nach Beginn der Anfalle. Intellekt 


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Zur Frage der Pyknolepsie. 427 

gut. Korperlicher Befund: 1913o. B. 1914 Fac.-Ph&n. +. Hereditat: o. B. Diagnose: 
Pyknol. 

Fall 3. Arthur Sch. 

Beobachlungszeit, Alter bei AnfdUen: Polikl. VI.—XII. 1912. Katamnest. 
Angaben der Eltern M&rz 1922. Anf. vom 9.—15. J. (1908—1914). Frei seit 8 J. 

Form der Anfalle: Kopf riickwarts gelegt. Bulbi starr geradeaus oder ver- 
dreht. Keine anderen Krampferscheinungen. Korperhaltung steif, jedoch keinen 
eigentlichen Starrkrampf. Handlungen ausgesetzt, gleich nach Anfall fortgefiihrt. 
Dreht sich manchmal um sich selbst oder geht einige Schritte vor- und riickwarts. 
Keine Reaktion auf Schiitteln oder Kneifen. WeiB, daB Anfall war, aber keine 
Erinnerung an Einzelheiten. Dauer: einen Augenblick. Frequenz: Zahl anfangs 
uruddier, spater 1—5mal taglich. Vielleicht auch tageweise ausgesetzt, aber nie 
langer als einen Tag. Am haufigsten morgens in der Schule. Im 16. J. (1914) 
allm&hlich ganz aufgehort. Seitdera nie wieder Anfalle. Auslosende Momente: 
1. Anfall ohne erkennbare Ursache: 1 Jahr vorher Fall auf Hinterkopf, angeb- 
lich */ 4 Stunde bewuBtlos. Anfalle hiiufiger bei Erregungen. 

Therapie: 20 Flaschen Broin und Polypragmasie ohne Erfolg. Nach 6jahrigem 
Bestehen Aussetzen ohne erkennbare Ursache. Seit 1914 frei. 

Psychische Konstitution: 14 J. nach Beginn der Anfalle keine epil. Verande- 
rung. 1 Jahr Front-Infanterist, jetzt tiichtiger Kaufmann. Nach psychopathi- 
schen Ziigen nicht besonders geforscht. Bis 4. Jahr einziges Kind. Korperlicher 
Befund: 1912 geringe rechts-konvexe Skoliose. Differenz der Corneal- und Patellar- 
Reflexe (vielleicht Folge des Schadeltraumas). Spater offenbar vollig gesund: 
Infanterist im Felde. Hereditat: o. B. Diagnose: Pyknol. 

Fall 4. Charlotte G. 

Beobachtungszeit, Alter bei AnfaUen: Polikl. VIII. 1911—-V. 1912, II.—V. 
1918. Nachunters. 9. II. 1922. Anf. von —17 J. (1910—1919). Frei seit 3 J. 

Form der Anfalle: Plotzliches Aussetzen der Tatigkeit, dann sofort weiter- 
gefiihrt. Bulbi zuweilen nach oben verdreht. Kein Lidflattern, keine motorischen 
Reizerscheinungen. Korperhaltung bleibt, Selten einige Schritte vor- oder ruck- 
warts oder kurze Drehbewegung. Gegenstande werden festgehalten. Meist nur 
absenceartig ohne motorische Erscheinungen. In Polikl. Pupillen weit, Licht- 
reaktion nicht sicher. Leichte Gesichtsverfarbung. Keine Reaktion auf auBere 
Reize. Amnesie, weiB aber oft, daB Anfall war. Ein Anfall beim Schwimmen, 
Bewegungen dabei kurz ausgesetzt. Frequenz: Am 1. Tag 4—5 Anfalle. Spater 
20—-30 taglich und mehr. 1917 3 Wochen ohne erkennbare Ursache Pause. Im 
ubrigen 9 Jahre unverftndert. 1919 allmahliche Abnahme, tageweise frei, zuletzt 
mehrere Wochen. Dann — nach kurzem Riickfall — vblliges Aufhoren. Aus¬ 
losende Momente: Erste Anfalle ohne erkennbare Ursache. Spater bei Aufregun- 
gen hfiufiger, z. B. beim Deklamieren. 

Therapie: Mehrmals wochenlang Brom und Bettruhe. Danach hiiufiger. 
Ebenso nach Luminal. 

Psychische Konstitution: Lebhaft, quirlig, fiir alles interessiert. Weint 
leicht bei Kleinigkeiten. Unruhiger Schlaf. Sehr gutes Gediichtnis und Auffas- 
sungsgabe. Zur Zufriedenheit im Kontor tatig. Zurzeit, 12 J. nach Anfallsbeginn 
keine epil. Veranderung. Korperlicher Befund: 1913 leichte Ptosis links. Kein 
Fac. Ph£ln. K. 0. Z > 8 M. A. (1918). Neurol, o. B. Deni Alter entsprechend 
entwickelt. Hereditat: Vater leicht erregbar. Mutter reizbar, schlechter Schlaf. 
Schwester der Mutter Resp. Affektkrampfe. Tante der Mutter nichtepil. Anfalle. 
Diagnose: Pyknol. 


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Kurt Pohlisch: 


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Fall 5. Martha G. 

Beobachlungszeit, Alter bei Anfallen: Polikl. 1918—1919. Nachunters. III. 1922. 
Anf. vom 7.—11. J. (1915—1919). Frei aeit 3 J. 

Form der Anfalle: Bulbi werden nach oben und seitwarts verdreht. Lid- 
flattern. Gesichtsausdruck starr; etwas blab. Korperhaltung wird beibehalten. 
Keine Kranipfbewegungen. Unterbrechen von Beschaftigung. Keine Reaktion 
auf Riitteln und Kneifen. Eininal fast gegen die Strabenbahn gelaufen. Zu- 
weilen nachher VerlegenheitsfiuBerungen. Keine Erinnerung an Anfall. Frequenz: 
Bei Beginn mehrmals wochentlich, dann haufiger. Nach 3 jahrigem 
Bestehen 30mal und mehr taglich. Einmal 3 Wochon ausgesetzt. Seit Juli 1919 
aufgehort. Auslosende Momente: 1. Anfall nicht beobachtet. Vielleicht Haufung 
bei Erregungen. Abends bei Schularbeiten haufiger. 

Thera pie: 3maliger Landaufenthalt erfolglos. Ebenso homoopathische Mittel. 
Nach Luminal 3 Wochen Aussetzen, dann allmahlich steigende Haufung. So- 
fortiges Aufhoren bei Klinikaufnahme in Gottingen 1919. Seitdem frei. Diagnose 
dort „psychogene Anfiille“. 

Psychische Konstitution: Lebhaft, munter, zeigt gutes Verstandnis fiir die 
Umwelt. Fiir alles interessiert. Gibt gute und klare Antworten. Gute Zeugnisse. 
Nicht reizbar, keine Verstimmung, leicht erziehbares, williges Kind ohne beson- 
dere psychische Auffiilligkeiten. Korperlicher Befund: Keine Ubererregbarkeit 
am Ulnaris r. und 1. Andeutung des Lippenphan. Kein Chvostek. Dem Alter 
entsprechend entwickelt. Hereditat: 6 Geschwister Zahnkrampfe. Pat. ebenfalls. 
Sch wester der Mutter 10 Jahre ,,Krampfe“, seitdem aufgehort. Diagnose? Pyknol. 

Fall 6. Erich S. 

Beobachlungszeit, Alter bei Anfallen: Polikl. 1912—1913. Nachunters. 1919 und 
III. 1922. Anf. von 3i / 2 —11 J. (1912—1919). Frei seit 3 J. 

Form der Anfalle: Bulbi starr nach oben oder einzelne klonische Zuckungen, 
ebenso in Stirnmuskulatur. Sonst keine motorischen Reizerscheinungen. Kopf 
nach hinten, Korperhaltung steif. Keine Verfarbung. Manehmal unartikulierte 
Laute. Bewufitlosigkeit nicht immer gleich tief. IQt und singt manehmal weiter, 
bleibt zuweilen vor Hindernissen stehen. Keine Reaktion auf Anruf. Dauer 
kaum 1 Minute. Frequenz: Im Anfang 5—6 taglich, allmahlich Haufung auf 
12—20. Im 7. Anfallsjahr erst tageweise, dann ganzliches Aufhoren nach Zu- 
stand, bei dem es sich offenbar um hyclroc. Drucksteigerung handelte: 2 Tage 
matt, 2mal Erbrechen, mehrstiindl. Oszillieren der Bulbi. Nie andere Zeichen 
von hydroc. Drucksteigerung. Auslosende Momente: Ohne erkennbare Ursache 
aufgetreten. Haufiger nach Arger und abends vor dem Schlafengehen. 

Therapie: Wahrend 2jtihr. Bromkur einmal 4 Wochen ausgesetzt. Klinik¬ 
aufnahme und psychische Behandlung erfolglos. Plotzliches Aussetzen. Seit 
1919 kein Anfall. 

Psychische Konstitution: Als Kind keine Auffalligkeiten im Verlialten. Bis 
1922 keine Wesensveranderung. Bescheiden, willig. Eigen im Essen. Kori>er- 
licher Befund: 1912 (4jahrig) Schiidelurnfang 53 cm. Fac.-Phan. links neurol. 
sonst o. B. 1919 korperlich o. B. 1922 dem Alter entsprechend entwickelt. Schiidel 
hydroc. (von Geburt an). Umfang 55 cm (normal 52,5). Keinerlei Stauungs- 
erscheinungen. Elektr. Erregbarkeit des Fac. normal. Hereditat: Mutter hypo- 
manisch. Diagnose: Wahrscheinlich pyknol. Anfalle. Auffallend ist hydroc. 
Schadelbildung und 1 Anfall von vielleicht hydroc. Drucksteigerung. 

Fall 7. Doris M. 

Beobachlungszeit, Alter bei Anfallen: Polikl. 1917—1919. Nachunters. 27. I. 
1922. Anf. vom 5.-9. J. (1916—1920). Frei seit 2 J. 


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Zur Frage der Pvkno'epsie. 


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Form der Anfdlle: Blick starr geradeaus, Bulbi manchmal vereinzelte Zuckun- 
gen. Leichtes Lidflattern und Zucken der Augenbrauen, keine weiteren motor. 
Reizerscheinungen. Korperhaltung unverandert. Unterbricht Tatigkeit. Auf An- 
ruf keine Reaktion, aber Abwekrbewegung bei Kneifen; sagt: „Au“. Gibt dann 
an, gekniffen worden zu sein. Mutter glaubt, durch Bespritzen mit kaltem Wasser 
Anfall coupiert zu haben. F&hrt sofort mit unterbrochener Tatigkeit fort. Gibt 
oft spontan an: ,,Ich habe eben wieder geguckt. 11 Frequenz: Taglich von An- 
fang an 4—5 Anfalle, sp&ter 6—7 taglich 4 Jahre hindureh. Dazwischen wochen- 
weise ausgesetzt und mehrere Wochen 1—2mal taglich. Seit 1920 aufgehort. 
Auslosende Momente: Erster Anfall ohne erkennbare Ursache. Anfalle besonders 
haufig beim Schreiben. 

Tkerajrie: Nach Luminal 2mal wochenlanges Aussetzen, dann seltener auch 
ohne Luminal. Spater wieder 4—6mal tftglich. Seit 1920 Aufhoren ohne erk. 
Ursache. 

Psychische Konstitution: Einziges Kind. Intellektuell durchaus gut. Nie 
sitzen geblieben. Quirlig, lebliaft, fliichtig. Nicht reizbar, nicht launisch, keine 
Verstimmungen. Wahrend der ojahrigen Beobachtung (davon 4 Jahre Anfalle) 
keine epil. Veriinderung. Korperlicher Befund: 1917 dem Alter entsprechend 
entwickelt. K. 0. Z. > 5 M. A. Kein Fac.-Phan. 1922 zartes, etwas blasses 
Kind. Fac.-Phfin. bds. K. 0. Z. > 7,5 M. A. (Fac.). Hereditat: o. B. Diagnose: 
Pyknol. 

Fall 8. Willi F. 

Beobachtungszeit, Alter bei Anfalien: Polikl. 1917. Nachunters. 6. III. 1922. 
Anf. vom 3.—11. J. (1912—1920). Frei seit 2 J. 

Form der Anfdlle: Bleibt plotzlich stehen. Augapfel nach oben verdreht. 
Zuckungen der Augapfel, Lidflattern. Sonst keine krampfhaften Zuckungen. 
Keine V'erfarbung. Handluugen unterbrochen, fahrt dami gleich fort. Keine 
Reaktion auf Anruf und Kneifen. Einmal beinahe von Pferd iiberfahren. Nach- 
her zuweilen Verlegenheitsfragen. Anfangs mehrmals Urinabgang beim Anfall 
(Bettnasser). Keine nachtlichen Anfalle. Frequenz: Anfangs mindestens 5—10 
taglich, spater 20 und mehr, ganze Serien. Ohne. Pause 8 Jahre. Seit 1920 aus- 
gesetzt. Auslosende Momente: 1. Anfall ohne erkennbare Ursache. Nach Aus- 
sagen des Privatlehrers haufiger beim Schreiben. Mutter gibt an, auch beim 
Ausschelten. 

Therapie: Arsen und Brom erfolglos. Nach glaubwiirdiger genauer Schilde- 
rung plotzliches Aussetzen seit der Feier der Kommunion. Stunden vorher nocli 
Anffille. Seitdem (1920) vollig frei. 

P.syrhisrhe KonMilution: Stark psychopathisches Kind. Muttersohnchen. 
Friiher schlechter Schlaf. Bettnasser bis zum 5. J. Uberempfindlichkeit der Haut. 
Maklig, eigenwillig, verwohnt, iingstlich, madchenhaft. Intellektuell gut. Eltern 
konnten sich aus geschaftl. Griinden nicht um Erziehung kiiinmern. Wegen An- 
falle bis 11. Jahr Privatunterricht. 10 Jahre nach dem ersten Anfall keine epil. 
Verftnderung. Lebhaft, interessiert, altklug. Korjterlicher Befund: o. B. Here¬ 
ditat: Mutter nervos, macht hyjwmanischcn Eindruck. Bruder Stickhusten und 
Schreikrampfe. Diagnose: Pyknol. 

Fall 9. Helene O. 

Beobachtungszeit, Alter bei Anfdllen: Polikl. 1912. Nachunters. 1922. Pyknol. 
Anf. von 6 1 /*—9 J. (1912—1915). Frei seit 7 J. 

Form der Anfdlle: 3 Anfallsformen. 1. Pyknol. Anfalle: Bulbi starr geradeaus 
oder verdreht, einzelne automatische Armbewegungen, behiilt sonst Korperlml- 


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Kurt Pohlisch: 


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tung bei. Bleibt stehen, macht beim Schreiben langen Strich. Keinerlei krampf- 
hafte Zuckungen. Keine Reaktion auf Anruf und Schiitteln. Amneeie. 2. Hy¬ 
sterische Anfalle, immer nur bei psych. Emotionen, besonders als Reaktion gegen 
Ausschelten. Immer nur einzelne Zuckungen im 1. Bein. Lehnt sich vorher an. 
Andere Form: Strauchelt, Augen bleiben geoffnet, sinkt „wie bewuBtlos“ zusam- 
men. BewuBtsein erhalten. Der Schilderung nach bestimmt hysterisch. Frequenz: 
1. Form vom 6.—9. Jahr. Im 1. Jahr nur vereinzelt, spater mehrmals taglich, 
oder Tage frei. Seit dem 9. Jalir Auftreten der hyster. Anfalle. Vereinzelt vom 
9.—15. J. Auslosende Moinente: Pyknol. Anfalle nur vereinzelt im 1. Anfalls- 
jahr ohne erkennbare Ursache. Im 9. Jahr im AnschluB an Masem haufiger. 
Hyster. Anfalle nur bei unangenehmen psychischen Emotionen. 

Therapie: Angaben fehlen. 

Psychische Konstitution: Einziges Kind. Flaschenkind. Seit Sauglingszeit 
immer sehr verpappelt und viel gedoktert. Mit Sahne groB gezogen, konnte 
Milch nicht vertragen“. AB auch spater immer nur bestimmte Speisen. Haut sehr 
empfindlich. „Zu allem zu schwach 11 ; deshalb erst mit 7 Jahren zurSchule. Steht 
im Mittelpunkt des hauslichen Interesses. Darf keinen Beruf ergreifen. Jetzt 
17 J. Intell. durchaus gut. Menstr. (seit 2 J.) unregelmaBig, muB dann tagelang 
im Bett bleiben. Korperlicher Befund: Sehr zart, schwachlich gebaut. BlaB. 
Neurol, o. B. Hereditat: Vater Hypoehonder, Sonderling. Mutter stark hysterisch. 
Diagnose: Pvknolept. Anfalle von (5 1 / 2 —9 J. Auffallig ist das nur vereinzelte 
Auftreten im 1. Jahr. Vom 9.—15. J. einzelne hyster. Anfalle. 

Fall 10. Vera M. 

Beobachtungszeit, Alter bei Anfdlkn: Polikl. 1915. Nachunters. 14. I. 1922. 
Pyknolept. Anf. vom 10.—14. J. (1911—1915). Frei seit 7 J. 

Form der Anfalle: 2 Formen: 1. Pyknol. Anfalle: Bulbi starr, wird blaB. 
Keine Reaktion auf Schiitteln und Anrufen. Bleibt stehen, fiihrt Loffel nicht 
zum Mund weiter, kaut nicht weiter. Halt Gegenstande krampfhaft fest. Keine 
Zuckungen. Je 1 mal mit Rad in Graben und Schaufenster gefahren, ohne sich 
zu verletzen, 1 mal fast gegen Auto. Spricht nicht weiter, findet oft Faden nicht 
mehr. Amnesie, weiB aber, daB Anfall war. Dauer 1 Sek. bis 1—2 Min. 2. Form. 
Immer nur bei Menstr. Zuckt stundenlang angstlich zusammen. „Eigentiimliche 
Gefuhle in Augen und Armen, dann mehrere Stunden weg.“ Beim Ausziehen 
und Untersuchung in Polikl. ahnlicher Anfall, zweifellos hysterisch. Frequenz: 
1. Form: Zahl anfangs unsicher. Spater 5—20 taglich. 1915 (14 J.) allmahlich 
ausgesetzt. 2. Form: Bei den 3 ersten Menstruationen (15 J.), dann jahrelang 
frei, in letzten Jahren nur noch zuweilen. Auslosende Moinente: 1. Form. Erster 
Anfall beim Baden. Vielleicht haufiger abends nach langerem Aufbleiben. Sonst 
unabhangig von exogenen Momenten. 2. Form. Immer nur bei Menstruation. 

Therapie: 1915 3 Fla.sehen Brom erfolglos, ebenso andere Arzneimittel und 
Elektrisieren. Aufhoren der pyknol. Anfalle ohne Therapie. 

Psychische Konstitution: Von jeher zart, „blutarm“. Kunn kein Blut sehen, 
keine Wolle vertragen. Schiichtern, nicht frisch wie andere Kinder. Schlechter 
Appetit. Weinerlich, iibelnehmerisch. Vom 12. Jahr aus Schule, wegen der An¬ 
falle in Psychopathen-Heim. In letzten Jahren Besserung der psychischen Auf- 
falligkeiten. Intellektuell gut. Keine epileptische Veranderung. Als Kontoristin 
tatig. Korperlicher Befund: 1922 grazil. Anamisch. Fac.-Plmn. bdst. angedeutet. 
Seit 15. J. Menstr. Hereditat : Mutter Schreikrampf und hysterische Zuckungen. 
Eine Schwester debil. Eine Schwester „Gehirnhautentziindung“ nach Schlag der 
Lehrerin, zart, „nervos“. Diagnose: Pyknolept. Anfalle vom 10.—14. J. Jetzt 
7 Jahre frei. Seit 15. J. vereinzelte hysterische Anfalle. 


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Zur Frage der Pyknolepsie. 


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Fall 11. Franz B. 

Beobachtungszeit, Alter bei Anfallen: Polikl. 1921—1922. Anf. vom 6.—8. J. 
(Februar 1917—Weihnachten 1918). Frei seit 3 J. 

Form der Anfalle: Einen Augenblick absent. Behalt Korperhaltung starr bei. 
Unterbricht das Spiel oder bleibt beim Gehen plotzlich stehen ohne Versagen 
der Motilitilt. Fahrt dann gleich mit Tatigkeit fort. Keine Zuckungen. Hin 
und wieder Einnassen. Meist keine Erinnerung an den Verlauf. Frequenz: 2 bis 
3mal taglich, ob von Anfang an ist unbestimmt. Nie mehr als 4—5mal. All- 
m&hlich seltener, dann seit Ende 1918 giinzliches Aufhoren. Auslosende Mo¬ 
menta: 1. Anfall ohrie erkennbare Ursache. Anfalle gehauft durch Schlage. 

Thera pie: Mehrere Medikamente erfolglos, wahrscheinlich auch Brom. Ebenso 
Uindaufenthalt. 

Psychische Konstitution: Einziges Kind. Immer schon yehr wild, bmtal, 
egoistisch, agil. Berliner StraBenjunge. Laubendiebstahl. Keine Reue fiir Ver- 
gehen. Bekonimt taglich von Vater, der sehr brutal ist, Schlage mit Klopfpeitsche. 
(Wegen Ichthyosis herabgesetzte Schmerzempfindlichkeit.) Einsichtslos. Epil. 
V’eranderung auszuschlieBen. Intellektuell gut. Korperlicher Befund: Ichthyosis 
an Rumpf und Extremitaten von Geburt an. Korperlich im iibrigen o. B. K. 0. Z. 
> 5 M. A. Hereditat: o. B. Diagnose: Wahrscheinlich pyknol. Anfalle bei einem 
brutalen, egoistischen psychopathischen Kinde. 

Fall 12. Lucie W. 

Beobachtungszeit, Alter bei Anfallen: Polikl. 1914. Xachunters. 13. III. 1922. 
Anf. vom 4.—13. J. (1913—1922). Frei seit 2 Monaten. 

Form der Anfalle: Stiert plotzlich wie benommen vor sich hin; keine motor. 
Reizersch. Keine Antwort auf Fragen. Behalt meist Korperhaltung bei, schwankt 
manchmal leicht hin und her. Selten unwillkiirliche Fingerbewegung. aber nicht 
krampfhaft. Unterbricht Handlungen, fahrt gleich nachher fort. Keine Verfar- 
bung. Dauer einige Sek. Amnesie, weiB alter nachher, daB Anfall war. Frequenz: 
In ersten Wochen 1—2mal taglich, vielleicht auch mehr. Spater 5—6 taglich. 
Dazwischen Wochen mit tageweisem Aussetzen. Seit 1920 nur 1 Anfall monat- 
lich, seit 2 Monaten frei. Auslosende Momente: Uber 1. Anfall keine Angabe. 
Spater deutliche Haufung bei unliebsamen Erlebnissen und beim Rechnen. Dann 
gleich 3—4 sonst nur vereinzelt. 

Therapie: Nicht behandelt. Anfalle seltener seit 6wochiger Bettruhe bei 
Knochenhautentziindung mit Fieber 1920. 

Psychische Konstitution: Als Kind still, weich, lenksam. Spater „mehr Junge". 
Nach Urteil der Lehrer gutes Gedachtnis und Auffassungsgabe. Lebhaft, frisch. 
unterhaltsam, nicht reizbar. Keine epil. Veranderung 9 Jahre nach Anfallsbeginn. 
Korperlicher Befund: Neurologisch o. B. Dem Alter entsprechend entwickelt. 
Hereditat: o. B. Diagnose: Pyknol. 

Fall 18. Lisbeth G. 

Beobachtungszeit, Alter bei Anfallen: Polikl. 1913, 1920—1922. Anf. von 
6 1 / 2 —16 J. (1912—1922). Zurzeit noch bestehend. 

Form der Anfalle: Bulbi leicht verdreht, Lidflattern, einzelne nickende Be- 
wegungen mit Kopf und Rumpf. Bleibt stehen. Auf Kneifen geleg. Abwehr- 
Itewegung. Amnesie dafiir. Handlungen unterbrochen, aber auch Weiterkauen. 
LaBt Gcgenstande nicht fallen, man kann sie aber aus der Hand nehmen. Am¬ 
nesie dafiir. Zuweilen Urinabgang. Vielleicht manchmal nachher etwas matt. 
Dauer einige Sek. bis 1 Min. Frequenz: Am 1. Tag 2—3, seitdem regelmaBig 


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Kurt Pohlisch: 


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10 Jahre hindurch zun&chst 4—5, spilt er 20—30 taglich. Auslosende Momente: 
1. Anfall ohne erkennbare Ursache. Morgens haufiger. RegeliniiBig Anfall, wenn 
Pat. Willen nicht bekommt. 

Therapie: 4 Wochen Brom, dabei hfiufiger. Honioop. ohne Erfolg. 

Psyehische Konst tint ion: Unehelich, viel umhergeworfen. Wechselnde, schlechte 
Erziehung. StraBenkind. 2 Delikte. Diebstahl, Betteln. Aus 1. Klasse als mittl. 
Schiilerin abgeg. Konnte schlecht stillsitzen. Friiher eigensinnig, die letzten 
Jahre umgiingiger geworden. Keine Stimmungsanomalien. Gutes Gedachtnis. 
In Konfektionsgeschaft zur Zufriedenheit. Keine epil. Verftnd. Korperliclier Be- 
fund: 1922 blaB, schlecht emfihrt, schw&chlich. Kyphoskoliose. Noch nicht 
menstruiert (16 J.). Hereditat: Unehelich. Diagnose: Pyknol. 

Fall 14. Grete R. 

Beobachtungszeit, Alter bei Anfallen: Polikl. 1918, Miirz—Mai 1922. Anf. vom 
7.—16. J. (1913—1922). Zurzeit nur noch vereinzelt. 

Form <ler Anfdlle: In ersten Jahren schwerer: Bulbi starr, Korper „wie Wachs- 
puppesteif“, manchmal leichte Schuttelbewegungen mit Armen, aber ohne Zuekun- 
gen. Fuhrt sonst keine Bewegungen aus. LaBt Gegenstiinde selten fallen, stiert. 
ins Leere. Lider bleiben geoffnet. Unterbricht Tatigkeit, naehher frisch. Dauer 
6—8 Sek. Seit letztem Jahr nur Moment Unterbrechung der Tatigkeit. Fragt 
dann: „Was ist los?“ Behftlt Gegenstftnde in der Hand. Merkt Anfall zuweilen 
an der Liicke bei Untcrhaltung. Frequenz: Wahrsch. von Anfang an gehfiuft. 
In letzten Schuljahren bestimmt 12—15 taglich, manchmal 80—100. Nach Schul- 
entlassung allmahlich seltener, tageweise frei. Auslosende Momente: Bei Zank 
und unangenehmen Schulerlebnissen ,,alle paar Minuten“ 1 Anfall. Seit Schul- 
entlassung tageweise frei, „wennsie keinenArger hat“. 2mal durch Elektrisieren 
in Polikl. ausgelost. 

Therapie: 1918 Luminalwirkung fraglich. 1919 durch homoop. Mittel an- 
geblich auf Hiilfte reduziert. 1922 bei 2monat. polikl. Sugestivbehandl. nur noch 
vereinzelte Anfalle, jedoch schon Monate vorher seltener. 

Psyehische Konstitution: Bis 6. Jahr Bettnassen. Unruhiger Schlaf. Uher¬ 
ein pfindlich gegen Wolle und Geriiche, maklig im Essen. Kommt auch jetzt noch 
(16j.) leicht ins Weinen. Sehr quirlig. Es dauert ihr alles zu lange. Schnippisch, 
sprunghaft, in Entschliissen hastig. Intellektuell gut. Keine epil. Veranderung 
9 Jahre nach 1. Anfall. Hilft gut in fremdem Haushalt. Korperlicher Befund: 
Grazil. Wegen korperl. Schwache erst mit 6 1 / 2 J. zur Schule. Menstruiert seit 
14. J. K. 0. Z. > 5 M. A. (Fac.). Hereditat : Mutter hyster. Anfalle. Von 4 Ge- 
schwistern 1 debil. Diagnose: Pyknol. 

Fall 15. Ella D. 

Beobachtungszeit, Alter bei Anfallen: Polikl. 1915 und Jan.—Mtirz 1922. Anf. 
vom 7.—15. J. (1914—1922). Zurzeit noch bestehend. 

Form der Anfalle: Bulbi starr geradeaus, kein Lidflattern. In ersten Jahren 
manchmal Zusammenknicken, Schwanken und Hinfallen, Nicken des Kopfes, 
Zungenbewegungen. Nio krampfh. Zuckungen. In Polikl. 1 Anfall mit leichter 
Steifheit im 1. Arm und Bein. In letzten 2 Jahren keinerlei motor. Ersch. mehr. 
Anfalle kiirzer und leichter: nur kurze Triibung des BewuBtseins. Keine Reaktion 
auf auBere Reize. Unterbricht Handl. Dauer einige Sek. Pat. zahlt die Anftille 
selbst: „Mir ist so eigentiimlich“. Frequenz: Wahrscheinlicli von Anfang an 
3—4 tftglich, spater bis 10 ohne Pause seit 8 J. Auslosende Momente: 1. Anfall 
ohne erkennbare Ursache. Mutter glaubt, daB bei Kalte haufiger Anfalle sind. 


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Zur Frage der Pyknolepsic. 


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Therapie: 1915 3 Bromkuren, 1, 2 Wochen und */ 4 J. ohne Erfolg. 1922 
mehrere Wochen Kalzan ohne Erfolg. 

Psychische Konstitution: Verwohntes Nesthakchen, nfichste Schwester 9 J. 
alterT Aufgeweckt, geschickt. Frisches, gesundes Landmadchen, aber nicht so 
robust wie die Schwestern. Will keine Landarbeit machen, liest lieber, laBt sich 
verwohnen. Korperlicher Befund: 1915 Fac.-Phiin. 1922 groB, kraftig, neurol. 
o. B. Menstr. regelmaBig seit 2 J. Hereditat: o. B. Diagnose: Pyknol. 

Fall 16. Charlotte Kr. 

Beobachtungszeit, Alter bei Anfallen: Polikl. 1917—1918 u. Marz 1922. Anf. 
vom 5.—10. J. (1917—1922). Zurzeit noch bestehend. 

Form der Anfdlle: Kopf langsam nach oben oder seitwiirts bewegt, Rumpf 
langsam riickw. geneigt, dabei riickw. treten, wie, um Hinfallen zu verhindern. 
Drehende Bewegung der anscheinend etwas steifen Arme (Polikl.). Bulbi starr 
geradeaus, manchmal Lidflattem. Keine Verfarbung. Auf Kneifen manchmal 
„Au“. Keine Abwehrbewegung, diese erst nach dem Anfall. Hort auf zu sprechen, 
fahrt dann gleich fort. Dauer etwa 4 Sek. und 1 anger. Meist nur Moment absent 
ohne motor. Ersch. Frequenz: Wahrsch. von Anfang an gehauft. Sicher schon 
im 1. Jahr 4—20 taglich. 1919 Pause iiber 1 Monat. Seitdem 5—20 taglich. 
Auslosende Momente: 1. Anfall wahrsch. nach harmlosem Sturz von der Schaukel. 
Spater vielleicht haufiger bei Ausschelten. 

Therapie: 1917 1 / 2 J. Brom erfolglos. 1919 nach Brom 1 Monat ausgesetzt. 

Psychische Konstitution: Bis 4. Jahr bei GroBeltern erzogen, sehr verwohnt. 
Dann bei Eltern schlechte Erziehung, da diese uneinig. Weinerlich iingstlich. 
Lebhaft, sehr interessiert. Intell. sehr gut. Gutes Gedachtnis. Kommandiert gern 
die jiingeren Geschwister. Kein epil. Veranderung 5 J. nach 1. Anfall. Korper¬ 
licher Befund: 1917. BlaB. Kein Fac.-Phiin. K. 0. Z. >6M. A. (Med. u. Pero- 
naeus.) 1922. Grazil. Neurol, o. B. Hereditat: Vater Eigenbrodler. Mutter 
„nervos hysterisch 44 . Diagnose: Pyknol. 

Fall 17. Heinz E. 

Beobachtungszeit, Alter bei Anfallen: Polikl. 1919—1921. Anf. vom 3.—8. J. 
(1917—1922). Zurzeit noch bestehend. 

Form der Anfdlle: Kurze Form, besonders im letzten Jahr: Blick starr, leichtes 
Lidflattem, etwa 1 Sek. Triibung des BewuBtseins. Langere Form: Kopfnicken. 
Zuckungen im Corrugator und Frontalis, Lidflattem. Reibt die Hande, klopft 
auf die Hosen, macht Klatschbewegungen. LaBt sich Gegenstande aus der Hand 
nehmen. Amnesie dafiir. Bleibt stehen oder geht weiter. 1 Anfall auf Baum, 
ohne zu fallen. Keine Reaktion auf Kneifen. aber manchmal nachher Schmerz- 
empfindung. Zuweilen leichte Verfarbung. WeiB nicht, daB Anfall war. Ant- 
wortet in Polikl. auf Ansprechen mit unverst. Lallen. Frequenz: Vom 1. Tage an 
mindestens 10. 1921 mehrmals tagoweise frei, seitdem auch seltener und kiirzer. 
Tage frei. Auslosende Momente: Seltener an „ruhigen und gleichmiiBigen Tagen 44 . 
Haufiger nach Aufregungen. In Polikl. nach sehr rasch zuriickgelegtem Weg 
4 Anfalle in 1 Stunde. 

Therapie: 3 Monate Brom erfolglos. Seit 1 Jahr ohne Therapie seltener und 
kiirzer. Zurzeit auf Riigen weitcre Besserung. 

Psychische Konstitution: ,,Kolossal lebhaft 44 . Lehrer tadelt seine Wildheit. 
Weint leicht, wenn was nicht paBt, dann auch aufbrausend, wiitend. Von jeher 
so. Im ganzen bescheiden, liebevoll. Sehr erfinderisch, konstruiert Autos. PaBt 
sich neuen Situationen schnell an, aufgeweckt, interessiert. Gutes Gedachtnis. 


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Kurt Pohli8ch: 


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Wegen Mangel an Aufmerksamkeit nur Mittelschiiler. Olierempfindlich gegen 
Gerilche. Keine epil. Ver&nderung. Korperlicher Befund: Frische Gesichtsfarbe. 
Krfiftig. Spur Strabism. div. (Vater auch). K. 0 . Z. > 5 M. A. Hereditat: Mutter 
„blutarm“. Diagnose: Pyknol. 

Fall 18. Charlotte S. 

Beobachtungszeit, Alter bei Anfallen: Klinik 7. IX. 1915—20. II. 1916, Polikl. 
1917—1922. Anf. vom 6.—15. J. (1913—1922). Zurzeit noch bestohend. 

Form der AnfdUe: Plotzlich stierer Blick, Blinzeln, wird blasser, unterbricht 
Tatigkeit, halt Gegenstande feet, Kippt manehmal Tasse aus. Geht auch in 
entgegengesetzter Richtung weiter oder langsame Drehbewegungen rait Rumpf. 
Kratzen mit Handen, bastelt mit Handen weiter, energische Abwehrbewegung 
mit Kopf bei Kneifen, schlieBt Augen bei Pup.-Priifung. Unartikul. Laute. StoBt 
Elektrode fort beim Elektrisieren. 1918 haufiger zusammengeknickt, dabei auch 
harmlos v r erletzt. Nie krampfhafte Zuckungen. Amnesie fiir Einzelheiten, weiB 
aber oft, daB Anfall war, „es war, als ob ich traumte 1 '. Kann beim Anfall Ge- 
sprochenes nicht wiederholen, erkennt Taschenlampe nicht wieder. Anfalle meist 
nur absenceartig. Unveranderte Korperhaltung. Dauer bis 3 / 4 Min., aber auch nur 
1 Sek. Lachelt nachher zuweilen, sagt „Aha“, findet sich sofort in die Situation. 
Vielleicht Anfalle aus deni Schlaf heraus. Mutter sah in 9 Jahren 5mal Zucken 
der Lider im Schlaf. Auf Station jedoch nie beobachtet. Frequenz: Anfangs 
wahrsch. 3—4, spater 5—10 und mehr, bis 30 t&glich. Zahl wechselnd, Monate 
5—20. Im letzten Vierteljahr 5—6 taglich. Im ganzen Neigung zur Besserung. 
Auslosende Momente: 1. Anfall einige Wochen nach Masern. 1922 in Polikl. 
plotzl. Anfall, als beim Elektrisieren mit Knall KurzschluB entsteht. Spater 
noch 2mal Anfall beim Elektrisieren. Anfalle meist morgens, abends bestimmt 
seltener. Oft beim Rechnen. Schlaft gut. 

Therapie: Zum 1. Mai ausgesetzt bei Anginarezidiv (38,2°), 1 Tag frei, seit- 
dem 3 Monate lang nur noch 3—5, vorher 10 (in Klinik genau beobachtet). Da- 
nach keinen Tag mehr frei. 6 Monate Brom, spater mehrere Monate Luminal 
ohne Erfolg, ebenso 2 Calcium-Kuren (intravenos) und eingehende Smonatige 
Sugg.-Therapie, vielleicht geringe Besserung. 

Psychische Konstilution: Einziges Kind, bei GroBeltem erzogen. Unehelich. 
angstlich, schuchtern, schreckhaft, iiberbescheiden. Darf wegen der Anfalle seit 
Jahren nie allein ausgehen. Still, gleichmaBig, paBt sich allem an. Sehr suggestibel. 
Nicht frisch wie gleichaltrige Kinder. Intell. nach Angaben des Rektors und 
nach Binet durchaus gut. Keine epil. Verand. Mutter iibermaBig besorgt um 
Pat., besonders um die Anfalle. Korperlicher Befund: 1915 blaB, maBiger Er- 
nahrungszustand. Fac.-Phan. bds. -)—|-. Ulnaris mechanisch sehr leicht er- 
regbar, K. 0 . Z. > 5 M. A. 1922. Auffallend groB und weit entwickelt. Seit 
13. Jahr menstr. Fac.-Phan. bds. -f-. K. 0 . Z. > 5 M. A. (Fac.). Leichter Far- 
benwechsel. Hereditat: Unehelich. Diagnose: Pyknol. 

Fall 19. Herbert W. 

Beobachtungmeit, Alter bei Anfallen: Polikl. 1916, EpiL-Anstalt Potsdam 
15. VI. —15. IX. 1921, Polikl. 1921—1922, dazwischen in Klinik von 4. II.- —23. III. 
1922. Anf. vom 6.—13. J. (1914—1922). Zurzeit noch bestehend. 

Form der Anfalle: Form im wesentl. dieselbe, nur in ersten Jahren kiirzer. 
spater hinger: 7—10 Sek. Bleibt starr stehen, setzt mit Beschaftigung aus, kritzelt 
aber manehmal weiter. Halt Tasse fest, manehmal etwas ausgeschiittet. Keine 
Reaktion auf auBere Reize, lieB sich 2mal Geld stehlen. Keine Verfarbung. Bulbi 
starr oder verdreht. Kopf sinkt manehmal nach vorn, Mund steht zuweilen 


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Zur Frage der Pyknolepsie. 


435 


offen, Zunge wolbt sich dann vor. Selten leichte Wackelbewegung der Arme, 
nie Zuckungen. Atniet zuweilen bei Ende befreit auf, weiB aber nichts davon. 
Merkt Anfall zuweilen daran, daB er Tatigkeit unterbrochen hat. In letzten 
Monaten wieder kiirzer. Frequenz: Anfangs 2—5 taglich, spiiter 30, auch 50 
und mehr. In ersten Jahren tageweise vielleicht frei. 1921 8 Tage ausgesetzt 
(Luminal). In Klinik nur 1—3 taglich. Nach Entlassung wieder h&ufiger, aber 
nur 5—10 taglich (vorher 20—30). Auslosende Momente: 1. Anfall ohne erkenn- 
bare Ursache. Morgens haufiger. Bei Urlaub aus der Klinik Steigerung von 
1 auf 10 und von 2 auf 7 t&glich. 

Therapie: Nach Brom deutliche Haufung. 1921 8 Tage 0,1 Luminal, dabei 
prompt ausgesetzt. Nach Aussetzen von Luminal zunfichst 2—-3, dann wieder 
bis 30 taglich. Dann in Klinik durch Sugg.-Ther. reduziert auf 1—3, nach Ent¬ 
lassung 8—15. 1922 keine Besserung durch Luminal (3 Wochen lang). Seit 

Entlassung auf 1 / 2 — 1 / 3 reduziert. Anfallsdauer kiirzer. Friiherer Land-und See- 
aufenthalt erfolglos. 

Psychische Konstiluiion: Immer etwas schwachlich, schiichtern. Pavor noctur- 
nus. Cberempfindlich gegen Wolle. Bescheiden, still, Biicherwuim. Spielt am 
liebsten mit sanften Kindern oder allein. Erfinderisch, „will hoch hinaus“. Nach 
Angaben des Rektors sehr guter Schuler. Durch Anordnung des Schularztes monate- 
lang dein Unterricht ferngeblieben und in Epileptiker-Anstalt gewesen. Keine 
epil. Ver&nderung 7 Jahre nach 1. Anfall. Korperlicher Befund: 1922 r. leichtes 
Fac.-Phan. K. 0. Z. > 5 M. A. (Fac.) blaB, Pubert&t noch nicht eingesetzt. 
Hereditat: Eltem o. B. 1. Kind Pat. 2. K. typische spasmophile Krfimpfe. 3. K. 
friiher Rachitis. 4. K. mit 10 Monaten Stimmritzenkrampf, bald danach gest. 
Diagnose: Pyknol. 

Fall 20. Margarete Sch. 

Beobachhmgszeit, Alter bei Anfallen: Polikl. 1920, Klinik 11. I.—18. II. 1922. 
Anf. von O 1 ^—8 J. (1920—1922). Zurzeit noch bestehend. 

Form der Anfdlle: Kurze Anfalle: Lidflattem, Bulbi verdreht. Moment absent. 
Liingere (selten) mit Kniebewegungen, unartikulierte Laute, lmal deutlich „Milch, 
Milch“. Fiihrt Loffel weiter zum Mund, geht, an der Hand gefiihrt, weiter. LaBt 
auch Gegenstande fallen und sich aus der Hand nehmen. Zieht Arm und Kopf 
fort auf Stechen, kneift Lider zu auf Beriihrung. Reibt nachher die beriihrte 
Stelle, aber Amnesie fiir Beriihrung. In Schule von Leiter gesturzt, ohne sich 
zu verletzen, 1 mal gegen Tisch gerannt. Lichtreaktion der Pupillen 1 mal bei 
Beginn deutlich aufgehoben, gegen Ende trfige (Dunkelzimmer). Dauer nach 
Uhr: 3mal 1 / 2 Min., 1 mal D/ 8 Min., meist aber kiirzer. Keine Verffirbung. Findet 
sofort Faden wieder. Frequenz: Am 1. Tage 6, spater wechselnd, 5, 10, 20 taglich, 
manchmal Serien. Im letzten Vierteljahr 5—10 tfiglich. Auslosende Momente: 
1. Anfall ohne erkennbare Ursache. Bei „Anschnauzen“ hiiufiger, ebenso bei 
Schularbeiten. In Klinik experimentell durch Rechnen und Binetpriifung mehr- 
mals Haufung. 

Therapie: 4 Wochen Phosphor-Lebertran erfolglos, ebenso Pillen (?). Vor 
Klinikaufnahme 4—6 Anf. taglich, dann Lumbalpunktion, danach starke psychog. 
Beschwerden, am nftchsten Tage 11. Dann unter suggestiv. Ausnutzung der 
L.-P. zum 1. Mal 6 Tage frei. Danach wieder Anfftlle so oft wie vorher. Gefallt. 
sich als Kranke. Stationsverlegung, Bettruhe. Tinct. asa foetida. Calcium er¬ 
folglos. Nach Klinikentlassung nicht weiter verfolgt. 

Psychische Konstitution: Einziges Kind. MaBlos verwohnt. Altklug, laBt 
andere Kinder nicht zu Worte kommen. LfiBt sich beim Couplet-Singen und 
Ballett-Tanzen bewundern. 1st gern krank, mochte gerne in Klinik bleiben, am 


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Kurt Pohliseh: 


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liebsten unter Erwachsenen. Strenge MaBnahmen scheitern am Unverstand der 
Angehorigen. Keine Verstimmungen, nicht reizbar. Intell. gut. Keine epil. 
Veriindening. Korperlieher Befund: Sehr blaB, Stubenkind. Grazil. Fac.-Phan. 
Iks. K. 0 . Z. > 5 M. A. (Fac.). Lumbal-Punktat o. bes. Befund. Hereditat: 
Keine Angaben. Diagnose: Pyknol. 

Fall 21. Hilde L. 

Beobachtunqszeit, Alter bei Anfallen: Polikl. 1921—1922, Klinik 15. III. bis 
2. V. 1922. Anf. vom 5.—8. J. (1919—1922). Zurzeit noch besteliend. 

Form der Anfalle: Meist einen Moment absent, Pupillen erweitert. Licht- 
reaktion (mehrmaLs gepriift) gut, ganz leichtes Lidzucken. Seltener: Bulbi ver- 
dreht mit Zuckungen, ebenso im Corrugator und Frontalis, Kopf sinkt manch- 
mal nach hinten. LaBt Loffel sinken, schiittet Essen aus.' zieht Strich weiter beim 
Schreiben, geht weiter, dreht sich um sich selbst, Tanzeln. Korper manchmal 
nach vorn gebeugt oder Kopf nach hinten, leichtes Taumeln, halt sich fest. Kein 
Tnumelgefiihl. Hort auf zu sprechen. Keine Reaktion auf Ansprechen. Meist 
ohne jede motor. Ersch. Amnesie. Sagt „was ist los“, findpt sich sofort wieder 
in Situation. Nach Anfall oft kongest. Gesicht. Dauer bis zu 10—15 Sek. Fre- 
quenz: Am 1. Tag gleich 2—3, spiiter meist liber 10, zuweilen 30 und mehr. Zur¬ 
zeit 8—15. Auslosende Momente: 1. Anfall wahrend NehieBerei beim Kapp- 
Putsch, bei weiteren Schiissen kein Anfall mehr. Spater vielleicht durch Aus- 
schimpfen auslosbar. 

Therapie: Arsen, Brom, Luminal je 14 Tage erfolglos. In Norwegen vielleicht 
seltener (mehrere VVochen). In Klinik (7 Wochen) Suggestiv-Therapie, Bett- 
ruhe durchschnittlich 5—10, also nur geringe Besserung. 

Psychisclte Konstilution: Einziges Kind, unehelich, von GroBmutter und 
Mutter sehr verwohnt. Altklug, sehr interessiert, neugierig. Fremden gegeniiber 
unangenehmes Musterkind. Zu Hause befiehlt sie gern. Gute Auffassungsgabe, 
aber fliichtig. Sehr anschmiegsam. Keine epil. Ver&nderung 3 J. nach erstem 
Anfall. Korperlieher Befund: Sehr klein, grazil. Leichter Farbemveclisel. K. 0. Z. 
> 5 M. A. Hereditat: Unehelich. Mutter Chorea. Diagnose: Pyknol. 

Fall 22. Hildegard K. 

Beobachtungszeit, Alter bei AnfaUen: Polikl. 1922, Klinik 20. II.—15. III. 1922. 
Anf. von 8 x / 2 —lO 1 ^ J. (1920—1922). Zurzeit noch bestehend. 

Form der AnfaUe: Blick plotzlich starr, manchmal leichtes Lidflattern, sonst 
keinerlei motor. Ersch. bis auf seltenes leichtes Vorwiirtsbeugen des Rumpfes 
und Kniebewegungen. Manchmal fallen Gegenstande aus der Hand. Keine Ver- 
fiirbung (immer sehr blaB). Pupillen weit, Lichtreaktion 1 mal gepriift, wahr- 
scheinlich aufgehoben. Fragt nach Anfall „was hatte ich gesagt? was ist denn?“ 
WciB oft, daB Anfall war. Dauer 1 Moment bis etwa 15 Sek. Frequenz: Anfangs 
mehrere tiiglich, spater haufiger 10, 15, 30, oft Serien. Seit Klinikbehandlung 
seltener. Auslosende Momente: 1. Anfall ohne erkennbare Ursache. In Klinik 
1 mal bei Injektion, ein andermal beim Elektrisieren. Vor beiden groBe Angst. 
In Scliule haufiger (bei Lese- und Rechenaufgaben). Von Mutter keine Haufung 
bei Arger und Schreck beobachtet. Morgens mehr als abends. 

Therapie: In Ferien auf dem Lande seltener. Eine Flasche Brom, dabei 
haufiger. Pil. fen - , arsenic, und mehrere andere Medikamente erfolglos, ebenso 
14 Tage 0,1 Luminal. In Klinik (Sugg.-Ther.) von 15—30 in 1. Wocho auf 8—10, 
dann auf 4—6 reduziert. Vor Aufnahme oft Serien. Nach Entlassung (2 Monate) 
nur 1 Serie. Besserung halt bei ambul. WeiterbeH. zuniichst an, tiiglich 5—10 
Anfalle, spater wieder mehr. 


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Zur Frage der Pyknolepsie. 


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Psychi8che Konstitution: Wie einzigstes Kind aufgewachsen, Schwestern 
6—8 J. alter. Sehr verwohnt, Nestliiikchen. Schwindel und Brechgefiihle in 
StraBenbahn und beim Sehaukeln. Unruhiger Sehlaf. Zeitweise Kopfschmerzen. 
Maklig im Essen. Phlegmatisch, spielt wenig, mehr hausfraulich, altklug, dabei 
bescheiden. Manuell geschickt und erfinderisch. Es dreht sich zu Hause alles 
um die Anf&lle, deshalb seit 1 / 2 J. aus der Schule. Nach Klinikbehandlung wieder 
zur Schule. Intellektuell gut. Korperlicher Befund: BlaB, groB, schwammig. 
Weit entwickelt. K. 0. Z. > 5 M. A. Hereditat: Eltern abnorm fiirsorglich. Alle 
4 Geschwister leicht Brechreiz, eine Schwester Keuchhusten. Diagnose: Pyknol. 

Fall 23. Fritz M. 

Beobachtungszeit, Alter bei Anfallen: Polikl. 1919—1922, Klinik 13. III.—31. 
III. 1922. Anf. von 5*/ 2 —8 J. (1919—1922). Zurzeit noch bestehend. 

Form der Anfdlle: Ira 1. J. kiirzer, Bulbi nach obon verdreht, unterbricht 
Tatigkeit einen Moment. Sp&ter langer, nickt manchraal mit Kopf nach vorn, 
brach lmal zusammen. LieB 3mal unter sich. Geht raanchmal weiter, raehr- 
raals dabei angerannt, Beulen geholt. Griff dem Verf. beim Anf all nach dem 
Krankenblatt. Amnesie dafiir. Beim Sprechen lallt Pat. unverstandlich, auch 
Wortneubildungen wie „Schneasalte“. WeiB nichts davon. Verschiittet Essen 
aus dem Loffel, lmal mit Armen ins Essen gefallen. Wendet Kopf zu der ihn 
ansprechenden Person, aber meist Korperhaltung beibehalten. Keine Reaktion 
auf auBere Reize. Keine Verfarbung. Frequenz: Im 1. J. mehrero taglich, dann 
lSnger und haufiger, bis 20mal. Im Sommer 1921 fast gar kein Anf all. Vor Klinik- 
aufnahme 4—8, in Klinik vereinzelt, nach Entlassung wie vorher. Auslosende 
Momente: 1. Anfall ohne erkennbare Ursache. Beim Elektrisieren haufig 1 An- 
fall (sonst sehr selten in Klinik). Angst vor Elektr. Mehrmals vom Verf. Anfall 
willktirLich ausgelost, indem Pat. um Querachse gedreht wurde, so daB Kopf 
einen Augenblick unten stand. Mehrmals Versuch auch miBgliickt. 

Therapie: 1921 8 Tage Luminal und Phosphor-Lebertran erfolglos. 1922 
2mal bei je 14tagig. Luminal haufiger. In Klinik (Sugg.-Ther.) seltener, nach 
Entlassung wie vorher. 

Psychische Konstitution: Interessiert, untersucht was er sieht. Weichlich, an- 
schmiegsam. Kommt leicht ins Weinen (8 J.). Muttersohnchen. Im iibrigen 
unauffallig. Gute Schulleistungen. Keine psychische Veranderung. Korperlicher 
Befund: 1919 bds. Fac.-Phan. 1922 Fac.-Phan. -f. K. 0. Z. > 8 M. A. (Fac.). 
Klein, grazil. Hereditat: o. B. Diagnose: Pyknol. 

Fall 24. Ernst K. 

Beobachtungszeit, Alter bei Anfallen: Polikl. 1919—1922, Klinik 21. I.—22. 
III. 1922. Anf. vom 11.—15. J. (1918—1922). Zurzeit noch bestehend. 

Form der Anfdlle: In ersten Jahren mehrere Sek., zuletzt nur Moment. Meist 
dieselbe Form. Stiert vor sich hin, zuweilen Lidflattern. Behalt jeweilige Hal- 
tung bei, setzt aber auch Tasse langsam hin, geht langsam weiter, setzt aber 
immer beim Sprechen aus. Keine Reaktion auf Ansprechen und Kneifen. Mancli- 
mal nachher schwache Erinnerung an Kneifen, aber nicht an Ansprechen. Findet 
meist sofort Faden wieder. Meist nur kurzes Aussetzen der Willkiixbewegungen. 
Bulbi starr. Keinerlei motor. Ersch. 1 mal fast von Elektr. iiberfahren. Xie 
Anfalle beim Schwimmen und Baden, deshalb von Eltern oft zum Baden ge¬ 
schickt. Frequenz: Anfangs unsicher, spater 5—10 4 Jahre ohne Pause. Seit 
Klinikaufnahme seltener, nachher wieder mehr. Auslosende Momente: 1. Anfall 
vielleicht 1 Stunde nach StoB einer Ziege. aber unsicher. Auslosbar durch Schelte, 
Arger, Klavierspiel (unangenehm). Bei Urlaub deutliche Haufung, als er zu 

Arcliiv fiir Paychiatrie. Bd. 67. 29 


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Kurt Pohlisch: 


Hause mit Fragen bestiirmt wird. Auf Station 2 Tage nacheinander um 10 Uhr 
je 1 Anfall voi Untersuch.-Zimmer (die einzigen Anfalle in 4 Tagen). 

Therapie: 1921—1922 nach 1 Flasche Brom und 30 Tabletten Luminal eher 
noch h&ufiger. Landaufenthalt erfolglos. 2 Monate in Klinik durehschn. taglich 
1 Anfall, vorher 5—10. 3 Hypnosen, Elektr., Sugg.-Ther. Nach Entlassung 
wochenlang nur vereinzelt, dann taglich 5 trotz Forts, der Elektr. Sugg.-Ther., 
Anfillle aber kiiizer. 

Peychische Konstitulion: Bis 11. Jahr Bettnasser. Still, zart, empfindlich. 
MuB vorsichtig behandelt werden, sonst mault er, wird auch aufbrausend, tragt 
nach. Dickkopfig, aber sehr gewissenhaft und sauber. Sehr griindlich, aber nicht 
umstAndlich. Schon als D/ 2 jahriger wiitend, ,,biB sich fest“. Jetzt als Kauf- 
mannslehrling sehr geschatzt, weil intelligent und fix. 1st gleichmaBiger gewor- 
den, paBt sich jetzt besser an. Korperlicher Befund: Sehr klein, grazil. Zarte 
Haut. Kann keine Wolle vertragen. K. 0. Z. > 5 M. A. (Fac.). Hereditat: 6 Ge- 
schwister, alle iiberempfindlich gegen Wolle. Eine Schwester Angstanfalle mit 
Zittern. Eine andere sehr leicht erregt. Ein Bruder nachts Angstanfalle. 
Diagnose: Pyknol. 

Fall 25. Charlotte St. 

Beobachtungszeit, Alter bei AnfaUen: Polikl. 1921, Klinik 2. II. 1922—27. II. 
1922. Anf. vom 6.-8. J. (1920—1922). 

Form der Anfalle: Verdreht Bulbi, Moment abwesend, keine Reaktion auf 
Ansprechen oder Kneifen. Wird jedesmal blaB. Korperhaltung bleibt meist; 
Tatigkeit unterbrochen. Zuweilen dreht sie sich um, lallt „tum, tum“. Zieht 
Strich weiter beim Schreiben, verschiittet Tasseninhalt. 1 mal in Polikl. leichtes 
Zucken im 1. Mundwinkel, sonst nie Zuckungen. Drehte lmal Halstuch planlos 
bin und her. Sagt nachher „ach so“, setzt Tatigkeit sogleich fort. Dauer: Mo¬ 
ment bis mehrere Sek. Im ersten Jahr kiirzer als jetzt. Frequenz: Von Anfang 
an 5—6. Seit 1921 starke Haufung, oft 100 und mehr. Erstes Aussetzen in Klinik. 
Auslosende Momente: 1. Anfall einige Tage nach erstem Schulbesuch. Bei Schul- 
arbeiten haufiger. 

Therapie: Baldrian erfolglos. 14 Tage 0,1 Luminal, dabei unverandert, bis 
100. Weihnachten 1921 4 Tage Fieber, Grippe, bettlagerig, auf 3—4 Anfalle 
zuriick. Vor Klinikaufnahme oft bis 100, noch im Wartezimmer vor Aufnahme 
3—4. 10 Tage in Klinik, Anfalle ohne besondere Therapie wie fortgeblasen, kein 
einziger. Nach Entlassung 3 Tage verringert, dann wieder bis 100. 

Psychische Konstitulion: Sehr verwohnt, tragt keine Wolle, weint sofort bei 
rauhem Wort. Angstlich, schreckhaft, schlaft sehr schlecht seit Jahren (1 Jahr 
vor 1. Anfall). Scheut kaltes Wasser, oft Hautjucken. Still, schiichtem, ver- 
traumt, Intellektuell selir gut. Sehr interessiert, fragt viel. Gutes Gedachtnis. 
Keine epileptische Veranderung 3 Jahre nach 1. Anfall. Korperlicher Befund: 
Sehr zart. klein. K. 0. Z. > 7 M. A. (Fac.). Kein Fac.-Phan. Puls: Arythmie. 
Hereditat: Vater ,,Gehirnhautentziindung“. Imraer nervos, kann keinen Larin 
vertragen. Mutter ebenso. Pat. u. 1 Bruder sehr verwohnt. Diagnose: Pyknol. 

Fall 26. Helene E. 

Beobachtungszeit, Alter bei An fallen: Polikl. 1913—1914, I.—III. 1922; Klinik 
30. III.—6. IV. 1914, 2. III.—15. III. 1922. Polikl. III.—V. 1922. Anf. vom 
12.—22. J. (1912—1922). Zurzeit noch bestehend. 

Form der Anfalle: Bulbi starr, selten verdieht oder leichte Zuckungen, Lid- 
flattern, behalt Korperhaltung bei, halt Gegenstande fest. 1 mal Stuhl weiter 
getragen, kaut manchmal mechaniseh weiter „wie benommen“. Halt Loffel 


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Zur Frage der Pyknolepsie. 


439 


oder Federhalter in der jeweiligen Haltung. Keine Reaktion auf iiuBere Reize. 
Nachher frisch, nach rasch gehiiuften Anfallen vielleicht etwas miide. Sagt zu- 
weilen nach Anfall „ja“, „was ist denn“. Manchmal leichtes BlaBwerden. Lichtr. 
der Pupillen lmal anfangs wahrsch. erloschen, dann prompt. Mehrmals Monate 
kiirzei und leichter: Bulbi starr, Lider fallen zuweilen zu, einen Augenblick absent. 
Merkt oft Anfall an Unterbrechung der Tatigkeit. Amnesie, kann ein beim An¬ 
fall zugeworfenes Wort nicht wiederholen. Nie Anfalle anderer Art. Frequenz: 
Anfangs unsicher, spater 30, 50 und mehr, meist 5—10. Mehrmals wochen- und 
tageweise ausgesetzt. Zahl wechselnd. Auslosende Momente: Erste Anfalle etwa 
zu Beginn der Menses. M. ohne besondere Beschwerden, kurz vorher oft H&u- 
fung, ebenso vor Erkaltungen, UnpaBlichkeiten, so daB Eltern die Haufung als 
Indikator ansehen. Friiher oft Serie gleich beim Aufstehen, auch nach gutem 
Schlaf. Abends selten. Bei angestrengtem Stenographieren seltener, so daB Vor- 
gesetzter seit Jahren noch keinen Anfall gesehen hat. Anfall aber nicht willkiir- 
lich unterdruckbar. 

Therapie: Nach wochenlangem Brom haufiger. Nach Luminal 2mal 8 Tage 
ausgesetzt. C0 2 Bader, Duschen, Einwickelungen zuin Schwitzen, Homoopathie, 
Wunderdoktor, 7 Arsenspritzen erfolglos. Von I.—IV. 1922 wahrend polikl. und 
klinischer Behandlung (6 Kalk intrav., Kalktabletten, Elektr. Sugg.-Ther.) An¬ 
falle von 5 auf 1—2 zuriick, bei der wechselnden Zahl unsicher, ob Folge der 
Therapie. 

Psychische Konstitution: Psychisch unauffftlliges Madchen, lebhaft, aufgeweckt, 
besonders gute Auffassungsgabe. Artig, hoflich, zuvorkommend. Jetzt seit Jahren 
geschatzte Stenotypistin bei hoherer Behorde. Aus 1. Klasse abgegangen. Gutes 
Gedachtnis. GleichmaBig, heiter. Liestgem. Intell. liber dem DurchschnittAvon 
Madchen ihres Standes. 10 Jahre nach 1. Anfall keine epil. Verilnderung. Kor- 
perlicher Befund: Im 3. Jahr (1903) Sturz von Treppe, wahrscheinl. harmlos. 
Keine nachweisb. Schadelveranderungen. 1914 leichter Nvst.. im iibrigen o. B. 
1922 Fac.-Phan. Keine galv. t v bererregb. (Fac.). Starkes Hautnachroten.'^Kraftig 
entwickelt, sehr zarte Haut. H credit at: o. B. Diagnose: Pyknol. Spiitform. 
Abnorm spates Einsetzen (bei Pubertat) und langes Fortbeetehen. Seltener nach 
Luminal. 

Fall 27. Georg G. 

Beobachtuvgszeit, Alter bei An fallen: Polikl. 1912. Anf. vom 8.—15*/ 2 . J. 
1904—1912). Nicht weiter verfolgt. 

Form der Anfalle: 1. Form: Bulbi starr geradeaus. In Polikl. 3mal Licht- 
starre. Gesichtsausdruck starr. Bleibt stehen, selten leichtes Taumeln. Keine 
Steifheit der Glieder, keinerlei krampfh. Zuck. Keine Reaktion auf Kneifen. 
Sehr selten (1—2mal im Jahr) Einnassen. Einmal auf Treppe umgefallen. Vor¬ 
her und nachher frisch. Amnesie, weiB aber zuweilen, daB Anfall war. 2. Form: 
GroBe echte epil. Krampfanfalle. Frequenz: 1. Form Anfangszahl nicht bekannt.: 
Spater 7 j / 2 J. lang 20—30, manchmal stiindlich 30. 2. Form: 5 Jahre nahc 
Anfang der kleinen Anfalle. In 21 / 2 J. 5—8 groBe Anfalle. Auslosende Momente: 

1. Form: Nach Meinung der Schwester bei Freude seltener, bei Arger haufiger. 

2. Form: Unabhangig von Erlebnissen- 

Therapie: Mehrere W 7 ochen Brom, Wirkung unsicher, zeitweise weniger An¬ 
falle. Andere Medikamente erfolglos. Luminal nicht versucht. 

Psychische Konetitution: Bis zum 8. Jahr (Einsetzen der kl. Anfalle) intell. 
gut, dann intell. Riiekgang. Nur bis 3. Volksschulklasse. Affektive Veranderung 
nicht sicher. Korperlicher Befund: Staphyloma post. Fac. bdsts. mechanisch 
iibererregbar. Hereditat: Mutter mit 16 Jahren Schreikrampfe, „nervos“. 

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Kurt Pohlisch: 


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Diagnose: Gen. Epil., 5 Jnhre ausschlieBlich Petit-inal-Anfalle, derZahl und Form 
nach wie pyknoleptische, aber friih eiasetzender intell. Riickgang und nach 5 Jahren 
echte groBe epil. Anfalle. 

Fall 28. Herta Schw. 

Beobachtungszeit, Alter bei An fallen: Polikl. 1910—1918. Anf. vom 4.—12. J. 
(1910—1918). Nicht weiter verfolgt. 

Form der Anfalle: 1. Anfall 6 Mon. alt: sah starr zur Decke, bewuBtlos. Keine 
genauen Angaben. Spater 2 Formen. 1. Form: Sagt „mir wird schlecht 11 , blin- 
kert, verzielit den Mund, wird etwas blaB, faBt sich eigenartig an die Nase. Vor- 
her und nachher frisch. LaBt manchmal Gegenstande fallen. Manchmal Ein- 
nassen.l Riickerinnerung fiir Aura, die jedesmal eintritt, dann Amnesie. Dauer 
bis zu 3 Min. „nach Uhr gemessen' 1 . 2. Form: groBe, echte epileptische Krampf- 
anfalle. Frequenz: 1. Form anfangs ganz vereinzelt, spater oft mehrmals taglich. 
aber Tage und VVochen Pausen. 2. Form: Einsetzen 7 Jahre nach den Petit-mal- 
Anfallen. 5 Anfalle in 1 Jahr. Auslosende Momente: Beide Formen von An- 
fallen ohne auBere Ursachen. 

Therapie: Brom wochenlang erfolglos. Nach Luminal wesentl. Besserung 
der kleinen und groBen Anfalle. 

Psychische Konslilution: 7 Jahre nach Beginn der Anfalle keine epil. Ver- 
anderung. Intell. gut. Nicht reizbar. Weichherzig, gutmiitig, leicht lenkbar. 
Korperlicher Befund: Dem Alter entsprechend entwickelt. Hereditat: Vater 
wahrsch. Tabes. Diagnose: Gen. Epil. 7 Jahre hindurch nur Petit-mal ohne 
epil. Wesensveranderung, Form u. Zahl der Anfalle aber von der pyknoleptischen 
abweichend: Aura, Mundzuckungen, mehrmaLs Einnassen, anfangs vereinzelt. 
7 Jahre nach Beginn der kl. Anfalle groBe epil. Im 1. Jahr ein ungeklarter Anfall. 

Fall 29. Johami Str. 

Beobachtungszeit, Alter bei AnfaUen: Polikl. 1918. Nachunters. Mai 1922. 
Anf. vom 7.—11. J. (1916—1920). Frei seit 2 Jahren. 

Form der Anfalle: Bulbi verdreht, oft in seitlichen Endstell., manchmal 
nystagm. Zuck., Kopf haufig krampfhaft seitlich gedreht, Arme leicht erhoben, 
krainpfh. gestreckt, selten auch leichte Zuckungen. Anfalle aber meist ohne motor. 
Reizersch., absenceartig. Bleibt stehen, kritzelt auch weiter. Keine Aura, weiB 
oft, daB Anfall war, daB er angesprochen wurde, aber keine Reaktion darauf. 
Im 3. Jahr 1 Anfall anderer Form: Lag steif und bewuBtlos im Bett. Frequenz: 
Anfangs wahrsch. 5—6 taglich, spater 20—30 taglich. 1920 plotzliches Aussetzen 
bei fieberhafter Erkrankung. Seitdem frei. Auslosende Momente: 1. Anfall ohne 
erk. Ursache. Haufung bei Schularbeiten, bes. beim Rechnen. Bei Ermiidung 
nicht haufiger. 

Therapie: Melirere Monate Luminal, dabei haufiger. 1920 Erkaltung mit 
41,4°, deliriert. Am Tage vorher noch 20—30 Anfalle. Mit Fieber plotzliches Aus¬ 
setzen. Noch 4 Wochen bettlagerig. 

Psychische Konstilution: Muttersohnchen, zimperlieh, weichlich. Starke Haut* 
iiberempfindlichkeit, wahlerisch im Essen. 1918 nach eingehenden Angaben des 
Rektors intell. iiber dem Durchschnitt. In letzten Jahren aber deutliche epil. 
Veranderung. Schwerfallig, umstandlich geworden. Gedachtnis und Auffassungs- 
gabe verschlechtert. Eigenbrodlerisch, gedriickte Stimmung. Kann kein Unrecht 
sehen. Korperlicher Befund: 1918 Chvostek. Starke mech. Dbererregbarkeit der 
periph. Nerv., beim Druck auf Ulnaris Fingerbewegung. Fac.-Phan. -|—1~. K. 0. Z. 
> 6 M. A. (Fac.). Zart, grazil. 1922 Neurol, o. B. Keine Nerv.-t)bererregbarkeit 
mehr. Hereditat: Mutter „nervos“. Psychogene Beschwerden versch. Art. 


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Zur Frage der Pyknolepsie. 


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Diagnose: Wahrsch. gen. EpiJ. Fiir Epil. spricht 1 Streckkrampf im 3. Jahr. 
H&ufige primitive motor. Reizerscheinungen bei den geh. kl. Anf. — Wesens- 
ver&nderung. Ungewohnl. fiir Epil. ist: 1. 5jfthriges gehauftes Auftreten. 
2. Haufung bei Schulaufgaben. 3. Hiiufung bei Luminal. 4. Aussetzen nach 
fieberhafter Erkrank. 

Fall 30. Toni Gr. 

Beobachtungszeit, Alter bei Anfallen: Polikl. 1916, X. 1918, Klinik 9. I. 1922 
bis 18.1. 1922. Anf. vom 5.—10i/ 2 J- (1916—1922). Seit i/ 2 J- frei. 

Form der Anfalle: Blickt plotzlich abwesend vor sich bin, Bulbi geradeaus 
oder nach oben verdreht, zuweilen Zuckungen in Brauen. Unterbricht Tatigkeit, 
behalt Korperhaltung bei, Hande in ersten Jaliren manchmal geballt, nie krampfh. 
Zuck. Keine Reaktion auf auBere Reize. Farbe unver&ndert. Nach Anfall 
sofort frisch, fahrt in Beschaftigung richtig fort. MuB manchmal nachher Urin 
lassen, nie Urinabgang im Anfall. Amnesie. Beachtet Anfalle nicht. In letzten 
Jahren kiirzer und leichter, nur Moment abwesend. Jan. 1922 1 / 2 tiigiger Dam- 
merzustand. Ratios, verwirrt, ging traumhaft planlos umher. Amnesie fiir viele 
Einzelheiten. Mit 3 / 4 J. 3mal Anfalle: Krahender Laut „als ob die Luft weg- 
blieb“. Keine Zuckungen, kein Blauwerden. 1 / 2 Min. Frequenz: Am 1. Tag be- 
stimmt 2, seitdem taglich 3—10 und mehr. 3mal mehrmonatige Pause. AuBer- 
halb der Pausen immer gehauft. Auslosende Momente: Unabhangig von iiuBeren 
Einfliissen. 1918 und 1920 s / 4 Jahr Pause ohne erkennbare Ursache. 

Therapie: 1916 6 Monate 3,0 Brom erfolglos, 1918 1,0 Brom und Bettruhe 
erfolglos. Vom Tage der Klinikaufnahme ab ganzliches Aussetzen. Voiher 5—10 
taglich. Seit Entlassung (4 Monate) nicht wieder aufgetreten. 

Psychische Konstitulion: Bis 5. Jahr haufiges Bettnassen. Im iibrigen unauf- 
fallig bis zum 5. J. nach dem Best, der kl. Anfalle. Seitdem (1920—1921) leichter 
reizbar, pedantisch, sitzengeblieben wegen schlechten Rechnens. Gedachtnis 
und intell. im iibrigen noch gut (1922). Korperliclier Befund: o. B. Hereditftt: 
o. B. Diagnose: Gen. Epil.: 3 Anf. im 1.Iebensjahr. Wesensanderung im 10. Jahr 
(erst 5 J. nach Best d. kl. Anfalle). 1 Dammerzust. im 10. J. Form u. Verlauf 
der kl. Anf. 5 Jahre hindurch groBe Ahnlichkeit mit Pyknol. 

Fall 31. Werner G. 

Beobachlungszeit, Alter bei Anfallen: Polikl. 1920. Nachunters. 3. I. 1922. 
Anf. vom 1.—6. J. (1916—1921). Frei seit 3 / i J. 

Form der Anfalle: Rhythmische Armbewegungen ohne Zuckungen. Kopf 
gebeugt. Bulbi nach oben verdreht. Korperhaltung im iibrigen beibehalten. 
Handlungen unterbrochen. Anfalle immer in ders. Form. Dauer 1—3 Sek. Fre¬ 
quenz: 10, 20, 30 Anfalle taglich. Wahrsch. von Anfang an gehauft. Tageweise 
seltener. Nie Pause. Juli 1921 plbtzliches Aussetzen nach Unfall. Auslosende 
Momente: Die ersten Anfalle nicht beobachtet. Haufung bei Angst und Arger. 

Therapie: Brom mehrere Jahre erfolglos, ebenso andere Medik. Plotzl. Aus¬ 
setzen nach Verletzung: Quetschung der gr. Zehe mit anschl. 14tag. Bettruhe. 
Seitdem kein Anfall mehr. 

Psychische Kovsliiution: Einziges Kind, interessiert, „zu lebhaft". Spielt 
gem mit Kindern, ist meist vergniigt. Scheu gegen Fremde. Mit allern zufrieden. 
Nicht reizbar, nicht launisch. Intellektuell gut. Keine psych. Verand. 6 Jahre 
nach 1. Anf. Seit 1 Jahr in Schule. Gutes Gedachtnis, aber schlechtes Rechnen. 
Korperhcher Befund: 1922 klein, dem Alter entsprechend entwickelt. Neurolo- 
gisch o. B. Leichter hydrocephaler Schadel 51,5 (Norm 50,0). Hereditat: Mutter 
eklamptische Krampfe bei Geburt des Pat. Diagnose: Pyknol.? Epil.? Auffallend 


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Kurt Pohlisch: 


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friihea Einsetzen fiir Pyknol. (im 1. Jahr). Hydrocephalus! Diagn. trotz 5 jahr. 
Anfallszeit nicht sicher. 

Fall 82. Erika S. 

BeobacMungazeit, Alter bet AnfaUeii: Polikl. 1918. Anf. vora 3.—8. J. (1903 
bis 1908). Nicht weiter verfolgt. 

Form der Anfdlle: Blinzeln, Bulbi verdreht, Pupillen (2mal in Polikl.) weit, 
Lichtreakt. aufgehoben. Gesichtsfarbe unverandert. Korperhaltung bleibt; Mus- 
kulatur nie gespannt. Selten leichtes Taumeln. Zuweilen Urinabgang, aber nicht, 
wenn zu regelm&Biger Blasenentleerung angehalten. Seit Bestehen der Anfalle 
wochentl. lmal Bettn&ssen nachts. Anfalle auch nachts. Keine Reaktion auf 
Anruf. Gcgenst&nde fallen oft aus der Hand, nie Zerdriicken. WeiB nicht, daB 
Anf all war. Dauer bis 10 Sek. Anf all im Schlaf: Bleibt liegen, Lidflattern, Bulbi 
nach oben verdreht. Keine Verf&rb. Schl&ft weiter. Wahrsch. haufiger Ein- 
nassen. Frequenz: Vom 1. Tag ab gehauft, durchschnittl. 20—30. Seit 5 Jahren 
keine Pause. Auslosende Moment©: Haufiger vormittags und bei Schularbeiten. 
Beim Spielen seltener. In einer Nacht 6—8 Anfftlle aus Schlaf heraus von Mutter 
beobachtet. 

Therapie: 3 Monate Sedobrol, 2 Monate 0,1 Luminal. Eisenpriiparate er- 
folglos. 

Psychische Konslitution: Mit 2 Jahren kurze Zeit gestottert. Sehr anhftng- 
lich, brav, freundlich. In Schule 4. Platz. Intell. auch nach Binet gut. Nicht 
reizbar, gute3 Gedachtnis. Korperlicher Befund: Sehr schwfichlich, grazil. Ha¬ 
bitus wie Bjfthrig (8 J.). Mit l 3 / 4 J. Rachitis. Rach. Z&hne. Kein Fac.-Phan. 
K. 0. Z. > 5 M. A. (Uln. Med.). Hereditiit: GroBv. (vat.) epil. Krampfe. Tante 
(miitt.) Krampfe. Diagnose: Pyknol.? Epil.? Fut Epil. sprechen nachtliche 
Anfalle, haufiges Einnassen bei Anf alien u. Epil. in Aszond. Diagn. trotz 5ja.hr. 
Anfallszeit nicht sicher. 

Die in den beigeftigten Krankengeschichten angefiihrten Falle 
weisen ohne weiteres auf das Fehlen irgendwelcher pathognomonischen 
Merkmale bei der Pyknolepsie hin. Diese Erfalirung werden wir bei 
Besprechung der einzelnen Symptome immer beriicksichtigen miissen. 

Der Form der Anfalle nach sind von der Pyknolepsie alle mor- 
phologischen Variationen auszuschlieBen, die nicht der nachstehend 
geschilderten scharf umrissenen Ablaufsform zugehoren, die von Fried¬ 
mann im Gegensatz zu den krankhaften motorischen Entladungen als 
,,passiver Vorgang“ bezeichnet wurde, d. h. als eine ohne motorische 
Reize sich abspielende kurze Ausschaltung der hoheren Denk- und 
Willenstatigkeit. Daher denn auch die viel groBere Monotonie der 
pyknoleptischen Anfalle. Zwar kann sich die genuine Epilepsio Jahre 
hindurch in derselben eintonigen Verlaufsform entwickeln, jedoch 
pflegen fruiter oder spater andere Anfallsformen dieser vielgestaltigen 
Krankheitsgruppe hinzuzutreten oder sind schon (Fall 28 und 29) 
Jahre vor dem Einsetzen der gehauften kleinen Anfalle, oft ganz ver- 
einzelt und anfangs nicht sicher als epileptisch zti deuten, vorange- 
gangen. Der pyknoleptisehe Anfall dagegen bleibt dauernd in einem 
eng umschriebenen Formenkreis. Aurasymptome wie Schwindel-, 


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Zur Frage der Pyknolepsie. 


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Angst-, Beklemmungsgefiihle, Benommenheit fehlen, ebenso im Nach- 
stadium des Anfalls psychische Alterationen wie Mattigkeit, Benom¬ 
menheit, Dammer- und Schlafzustande, selbst nicht nach einem „Status 
pyknolepticus“ (Oppenheim). Miidigkeitsgefiihle habe ich, entgegen 
den Friedmannschen und Stockerschen Mitteilungen, bis auf einen 
einzigen, in diesem Punkte jedoch nicht sicher geklarten Fall (13), nicht 
erlebt. Die BewuBtseinsstorung setzt ruckhaft ein und klingt fast 
ebenso rasch wieder ab. Die Kinder setzen ihre Beschaftigung fort als 
sei nichts vorgefallen, merken meist gar nichts von dem abgelaufenen 
Anfall, oder sie gebrauchen, allerdings selten, einen Augenblick zur 
Wiederorientierung, nach AuBerungen zu schlieBen wie „ach ja“, „was 
habe ich gesagt?“, ,,was ist detm?“. Meist besteht Amnesie. Versuche, 
vorgesprochene Worte nach dem Anfall wiederholen zu lassen, fielen 
immer negativ aus, bestenfalls war eine dumpfe Ruckerinnerung fur 
das Vorgesprochene feststellbar. Dagegen wurden nach dem Anfall 
Hautreize wie Stechen und Kneifen haufiger richtig lokalisiert. Manche 
Kinder lernen aus der Beobachtung, daB sie ihre Tatigkeit unter- 
brochen haben, den SchluB ziehen, daB ein Anfall abgelaufen ist und 
konnen auf diese Weise die tagliche Anfallszahl angeben. Eine Empfin- 
dung fur die BewuBtseinsveranderung wahrend des Anfalls scheint 
nicht zu bestehen, nur sehr selten hort man von den Kindern auf aus- 
driickliches Befragen hin AuBerungen wie „mir war so komisch“. An- 
dererseits ist die Bewu Btseinstriibung nie so stark, daB grobe Storuugen 
im statischen Gleichgewicht auftreten. t)ber ein kurzes Schwanken, 
Einknicken in die Knie, Verlust der Aufrechterhaltung des Kopfes, 
Sinken der Arme geht die Tonusherabsetzung nicht hinaus. Meist 
wird die jeweilige Korperhaltung beibehalten: der erhobene Arm ver- 
harrt in seiner Lage, die Hand halt in natiirlicher Weise ohne krampf- 
haftes Zusammenballen Gegenstande fest, das Mimikspiel ist erloschen, 
der Gesichtsausdruck ist leer, inhaltslos. Neben einem automatischen 
Ausweichen von Hindernissen und planlosen Sichumdrehen, Weiter- 
gehen in anderer Richtung, finden sich traumhaft-delirante Tast-, 
Greif-, Klatschbewegungen, Spreizen der Finger, Lallcn unverstand- 
licher Worte oder Neubildungen wie „Schneesalte“ und Zungenbewe- 
gungen. Vor dem Anfall eingeleitete Bewegungsimpulse konnen mecha- 
nisch zur Ausfiihrung kommen; das Kind geht weiter, manchmal in 
veranderter schleppender Gangart, der Loffel wird automatisch zum 
Munde weitergefiihrt, der Bissen zu Ende gekaut. 

Alle diese nicht krampfhaften motorischen Reizerscheinungen 
komplizieren die Grundform, das einfache absenceartige Bild, nur ge- 
legentlich oder phasenweise und finden sich, wie es scheint, sowohl in 
den ersten wie in den letzten Anfallsjaliren seltener. Krampfhafte 
Reizerscheinungen sind zwar nicht auszuschlieBen, bleiben aber an ein 


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Kurt Pohlisch: 


engumschriebenes Gebiet gebunden und stellon nur einfachste mo- 
torische Entladungen dar wie Lidflattern, Bulbiverdrehen, meist nach 
oben, selten in seitlichen Entstellungen oder nystagmusartige Bewe- 
gungen; gelegentlich aucb Zuckungen im Corrugator und Frontalis. 
Dagegen bleiben erfahrungsgemaB andere Korperregionen verschont. 
Krampfhaftes Kopfdrehen, streckkrampfahnliche Bewegungen der Ex- 
tremitaten, Zuckungen ira Facialis sind von der Pyknolepsie auszu- 
schlieBen, wie besonders deutlich Fall 28 u. 29 zeigen, bei denen Jahre 
hindurch nur derartige rudimentare Anfallserscheinungen bei sonstiger 
weitgehender Ahnlichkeit des Verlaufsbildes mit der Pyknolepsie be- 
standen, die sich dann doch nach Jahr und Tag als sicher zur genuinen 
Epilepsie gehorig herausstellten. 

Vasomotorische Storungen treten recht haufig im Verlauf des An- 
falls auf, doch nicht so gesetzmaBig, daB sie als zum Krankheitsbild 
notwendig angesehen werden und einen pathogenetischen Hinweis 
geben konnen. t)ber ein kurzes kaum merkliches Erblassen kommt es 
meist nicht hinaus. Seltener tritt nach dem Anfall eine kurze Kon- 
gestion auf. 

Unfreiwilliger Urinabgang scheint nur bei gefiillter Blase vorzu- 
kommen, wofiir neben dem sparlichen Auftreten die bei einem Kinde 
gemachte Erfahrung sprieht, daB eine haufiger sich einstellende In- 
kontinenz durch Anhalten zu regelmaBiger Blasenentleerung behoben 
werden konnte. Als Unterscheidungsmerkmal zur genuinen Epilepsie 
kann die Inkontinenz ebensowenig wie die Pupillenstarre verwertet 
werden, die zwar nur selten, aber bei mehreren unserer Falle ein- 
wandfrei (in der Dunkelkammer) nachweisbar war. 

Der kaum veranderte Tonus der Korpermuskulatur, die w r enig tiefe 
BewuBtseinstriibung und die kurze Anfallsdauer erklaren den harm- 
losen Verlauf des einzelnen Anfalles, der sich ja auch meist so wenig 
augenfallig abspielt, daB er nicht selten von Nichtkundigen, auch von 
Arzten, iibersehen wird. Bei den fast 100000 im Laufe der Jahre bei 
unsern Kindern abgelaufenen Anfallen ist bis auf einen ohne Folgen 
abgegangenen Sturz vom Turngeriist und Anrennen gegen einen Baum 
kein ZwLschenfall zu verzeichnen, trotz des Auftretens der Anfalle in 
heiklen Situationen wie beim Schwimmen, Klettern auf Baumen, Trep- 
pensteigen, im Getriebe der GroBstadtstraBe. Der AusschluB vom 
Schulunterricht, standige Bewachung bei Ausgangen sind also iiber- 
fliissige VorsichtsmaBregeln, um so mehr, als durch die damit ver- 
bundene Absperrung vom Umgang mit Gleichaltrigen die psycho- 
pathischen Eigenheiten der pyknoleptisehen Kinder anstatt abge- 
schwacht nur noch verstarkt. werden. Unterbringnug in eine Epilep- 
tiker-Anstalt ist nicht zu empfehlen. Die von den Angehorigen be- 
obachtete iibergroBe Sorgfalt steht in eigentumlichem Gegensatz zu der 


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Zur Frage der Pyknolepsie. 


445 


Sorglosigkeit, mit der oft schwere epileptische Anfalle unbeobachtet 
bleiben. Hier muB der Arzt erzieherisch auf die Eltern einwirken und 
zu verhindern suchen, daB pyknoleptische Kinder von Arzt zu Arzt 
und schlieBlich zum Kurpfuscher und Wunderdoktor gebracht werden 
und sich gerade bei diesen empfindsamen Psychopathen das BewuBt- 
sein, krank zu sein, festsetzt und zu Riicksichten bei ErziehungsmaB- 
nahmen fiihrt, die selbst bei einem schwer kranken Kinde unheilvoll 
wirken miissen. 

Das Lebensalter, die Krankheitsdauer und Anfallszahl 
weisen im allgemeinen bestimmte GesetzmaBigkeiten auf. Die Krank- 
heit ist im allgemeinen an die Zeit zwischen Schulbeginn und Einsetzen 
der Pubertat gebunden und heilt dann restlos aus. Meist bestehen die 
Anfalle unausgesetzt wahrend dieser Jahre; sie konneii aber auch von 
mehrwochigen oder mehrmonatigen Pausen unterbrochen sein. Da- 
gegen findet sich kein vereinzeltes, tageweises Aussetzen, es sei denn 
in der Zeit des endgultigen Abklingens. Als Minimum der Krankheits¬ 
dauer ergibt sich nach unsern ausgeheilten Fallen eine 4jahrige, als 
Maximum eine lOjahrige Anfallszeit. Bei Beginn der Anfalle sind die 
Kinder durchschnittlich 4—6 Jahre alt, das jungste Kind der Falle 
1—11 war 3 Jahre, das iilteste 9 Jahre alt. Das Aufhoren kann Jahre 
vor oder nach dem Beginn der ersten Pubertatserscheinungen eintreten, 
bei unsern Fallen wurde Aussetzen je einmal im 9. und 10. Jahre (frei 
seit 5 bzw. 2 Jahren) und 3mal im 15. und 16. Jahr (1—2 Jahre nach 
der ersten Menstruation) beobachtet. 

Im Prinzip dieselben Ergebnisse liefern die noch nicht zum Ab- 
schluB gekommenen Beobachtungen (Fall 12—26); hiernach scheinen 
echte pyknoleptische Falle auch erst im 10.—11. Lebensjahr einzu- 
setzen. Ein pedantisches zeitliches Fixieren des Auftretens und Aus- 
setzens der Anfalle ist also zur Rechtfertigung der Diagnose Pyknolepsie 
nicht angebracht, deshalb mochte ich den klinisch und polikliniscli 
sehr eingehend beobachteten Fall 26 trotz des Bestehens der Anfalle 
vom 12.—23. Jahr wegen der sonstigen Ubereinstimmung mit dem 
pyknoleptischen Krankheitsbild nicht zur genuinen Epilepsie rechnen, 
sondern als Spatform ansehen. Fraglicher durfte wegen Einsetzens 
bereits im 1. Jahr trotz sonstiger 5 Jahre hindurch gehender "Cberein- 
stimmung mit der Pyknolepsie Fall 31 sein. 

Charakteristisch fur Pyknolepsie ist geliauftes Auftreten vom ersten 
Anfallstage ab. 5—10 Anfalle taglich in der ersten Zeit trifft man so 
regelmaBig an, daB bei einer geringeren Zahl an genuine Epilepsie zu 
denken ist. Nach Monaten oder Jahren kommen sogar tage- und wochen- 
lange Exacerbationen bis zu 100 und mehr am Tage vor, ohne daB da- 
durch im Gesamtbild, besonders in der gunstigen Prognose, eine Ver- 
anderung eintritt. Man hat den Eindruck, als ob der Anfallsmechanis- 


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446 


Kurt Pohlisch: 


mus, einmal eingespielt, ohne groberen AnstoB sich unaufhaltsam fort- 
setzt. Dafiir spricht neben dem explosioiisartig gehauften Einsetzen 
auch das Fehlen von Zeiten mit nur vereinzelten Anfallen, ausgenom- 
raen in den Monaten des endgiiltigen Abklingens. Im iibrigen besteht 
aber gehauftes Auftreten oder vollig freie Intervalle. 

Die Abhangigkeit von exogenen Momenten ist zweifellos 
groBer als bei der genuinen Epilepsie. Allerdings lauft das Gros der 
pyknoleptischen Anfalle automatisch und unbeeinfluBt von Milieu - 
einfliissen ab, jedoch horen wir in der Anamnese immer wieder, daB sich 
Haufungen in bestimmten Situationen, besonders unangenehmen, ein- 
stellen. Der von anderen Autoren geauBerten Meinung, wonach der 
erste Anfall durch eine psychische Emotion ausgelost worden ist, kann 
ich im allgemeinen nicht beitreten. Sicher nachweisbar ist bei den 
vorstehenden Fallen eine erkennbare auBere auslosende Ursache beim 
ersten Anfall nur bei Fall 21 (Schreck durch Schiisse beim Kapp- 
Putsch), moglich bei Fall 2 und 16. Die Neigung der Angehorigen, in 
auBeren Ursachen eine Erklarung fur das Zustandekommen der An¬ 
falle finden zu wollen, fiihrt, wie ich mehrmals nachweisen konnte, 
leicht zu falschen anamnestischen Angaben, um so eher, als diese oft 
erst nach Monaten oder Jahren gemacht werden. Retrospektiv wird 
dann ein zeitlich dem Anfallsbeginn nicht fernliegendes besonderes Er- 
lebnis als auslosendes Moment angegeben. 

Auf das Zustandekommen von spateren Anfallen wirken jedoch 
stark affektbetonte Erlebnisse wie Arger, Angst, Schreck nicht selten 
begiinstigend ein. 

Auffallige Haufung durch das bei der arztlichen Untersuchung her- 
vorgerufene Spannungs- und Erwartungsgefiihl erlebte ich mehrmals, 
ebenso beim Elektrisieren, beim Besuch der Kinder durch Angehorige 
auf der Station und bei Beurlaubungen ins Elternhaus, in der Schule 
bei Situationen wie Deklamieren, besonders haufig beim Rechnen, wie 
dies auch in einem Fall (20) experimentell nachgewiesen werden konnte. 
Eine Fahigkeit, die Anfalle willkiirlich zu unterdriicken, besteht, ent- 
gegen den Beobachtungen anderer Autoren, bei unsern Fallen nicht. 
Die Eltern berichten auch ubereinstimmend, daB alle padagogischen 
MaBregeln scheitern. 

Von Tageszeiten sind nicht selten die Vormittagsstunden und die 
Zeit nach dem Aufstehen reicher an Anfallen als der Abend, eine Be- 
obachtung, die gegen die Friedmannsche Annahme spricht, daB Er- 
miidung begiinstigt, 

Anfalle aus dem Schlaf heraus machen nach unseren Erfahrungen, 
im Gegensatz zu der Friedmannschen Ansicht, die D'.agnose Pykno- 
lepsie unwahrscheinlich. Nur in einem der 26 Falle (18) werden in der 
Anamnese mehrere nachtliche, jedoch nicht genau beobachtete und 


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Zur Frage der Pyknolepsie. 


447 


wahrend der Klinikbehandlung nicht bestatigte Anfalle angegeben, 
dagegen konnten bei alien anderen Kindern durch eingehendes anam- 
nestisches Nachforschen und teilweise auch durch Klinikbeobachtung 
Anfalle aus dem Schlaf heraus ausgeschlossen werden. 

Die Thera pie liefert auBerst undankbare Ergebnisse. Brom wurde 
bei 21 Fallen langere Zeit hindurch gegeben, 7mal zeigte sich Haufung 
der Anfalle, 12mal keinerlei BeeinfluCbarkeit und nur 2mal ein vor- 
iibergehender nicht nennenswerter Erfolg. Die Nutzlosigkeit der Brom- 
priiparate ist. nach diesen und nach vielen von anderer Seite gemachten 
Erfahrungen so auffallend, daB man sie als eins der differentia ldiagnosti- 
schen Merkmale gegen die genuine Epilepsie verwerten kann. Dagegen 
kann ich dies beim Luminal nicht bestatigen. Bei 17 mit Luminal 
behandelten Kindern wurde 6mal eine voriibergehende Besserung bei 
Fallen erzielt, die gegen Brom wirkungslos geblieben waren, 8mal 
blieb die Anfallszahl vollig unverandert, 3mal trat augenfallige Hau¬ 
fung ein. Eine Suggestivwirkung des Luminals ist bei der Nutzlosig¬ 
keit der bei diesen Fallen vorher angewandten anderen Medikamente 
und SuggestivmaBnahmen auszuschlieBen. 

Von dem Gedanken ausgehend, daB eine Verwandtschaft mit der 
spasmophilen Diathese moglich sei, wurden mehrmals Kalkpr&parate 
intravenos oder per os gegeben, jedoch vergeblich. Der grazile Korper- 
bau und die blasse Gesichtsfarbe mancher Kinder legten den Versuch 
nahe, mit Eisen, Arsenpraparaten und Phosphorlebertran auf dem 
Wege der Verbesserung des Stoffwechsels die Anfalle zu bekampfen — 
ebenfalls ohne Erfolg. Das Verfolgen des Krankheitsverlaufes einiger 
alter Falle wies nun darauf hin, daB eine BeeinfluBbarkeit der Anfalle 
durch exogene Momente nicht ohne weiteres abzulehnen ist. Bei einem 
Knaben (8) horten sicher nachweisbar die Anfalle nach 8jahrigem Be- 
stehen am Morgen der Kommunion von der Stunde der Feier ab plotz- 
lich auf und haben seit nunmehr 2 Jahren ausgesetzt. Ein Madchen (5) 
verlor nach 4jahrigem Bestehen im 11. Lebensjahr durch die Auf- 
nahme in die Gottinger Klinik ohne besondere Behandlung die Anfalle 
und ist seitdem — 3 Jahre lang — frei. Ein gleiches jahes Aussetzen 
konnte bei 2 Fallen durch Aufnahme in unsere Klinik beobachtet 
werden (25 und ein nur 1 Jahr hindurch beobachteter und deshalb 
hier nicht besonders aufgefiihrt-er Fall). Wenn wir noch Fall 31 (Aus¬ 
setzen nach Schreck infolge Gberfahrens der groBen Zehe) hinzunehmen, 
so ergeben sich gemigend Beweispunkte fiir die Annahme, daB stark 
affektbetonte Erlebnisse die Anfalle coupieren konnen. Offenbar kann 
lange Bettruhe ebenso wirken, nach Fall 12 zu schlieBen, bei dem nach 
einer Anfallsdauer von vielen Jahren eine interkurrente Erkrankung — 
Knochenhautentzundung — das Kind zu einer Gwochigen Bettruhe 
zwang, in deren Verlauf die erste Anfallspause einsetzte mit anschlielk'ii- 


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448 


Kurt Pohlisch: 


dem vielleicht dauerndem Freibleiben. Fall 1 (Nierenentziindung) 
und 6 (fieberhafte Erkrankung?) liefern weitere Beispiele zu dieser Be- 
obachtung, die iibrigens auch von anderen Autoren gemacht worden ist. 

Richtlinien fiir therapeutisches Handeln waren also gegeben: Bett- 
ruhe und SuggestivmaBnahmen. Heilbronner und Engelhard sind 
diesen Weg bereits gegangen und berichten iiber Erfolge. Bei der 
Mehrzahl der 9 in unserer Klinik aufgenommenen Kinder konnte ich 
ebenfalls eine Besserung beobachten. Die Anfallszahl ging durch- 
schnittlich auf die Halfte bis ein Drittel zuriick, mehrmals setzten die 
Anfalle sogar ganz aus; die Besserung hielt jedoch meist nicht langer 
als nur Tage oder Wochen iiber die Dauer der Klinikzeit hinaus an, 
auch wenn dieselbe Suggestivmethode ambulant weiter durchgefiihrt 
wurde. Neben mehrtagiger Bettruhe und Isolierung habe ich wochen- 
und monatelang den elektrischen Strom mit der notigen Verbalsug- 
gestion angewandt, fast immer mit anfanglichem Erfolg, den ich wah- 
rend der Klinikbehandlung selbst nachweisen konnte und den nach 
der Entlassung auch die Angehorigen berichteten — bis dann iiber 
kurz oder lang die alte Anfallszahl wieder auftrat und die anfangs 
von der Wirksamkeit iiberzeugten Eltern ihre Kinder immer unregel- 
maBiger zur Weiterbehandlung schickten. Der Erfolg des Klinik- 
aufenthaltes ist also offenbar auf das geregeltere, ruhigere Leben zuriick- 
zufiihren. Dafiir spricht auch die Beobachtung, daB psychische Emo- 
tionen und anstrengende geistige Leistungen, die ja wahrend der Kran- 
kenhauszeit bedeutend geringer sind, die Zahl der Anfalle zu steigern 
pflegen. Klirna- und Ortswechsel, zu denen man so gern greift, wenn 
alles andere versagt, iiben so gut wie keinen bessernden EinfluB aus — 
bis auf den Klinikaufenthalt, den man also, wenn Epilepsiemedika- 
mente versagt haben, fiir mehrere Wochen empfehlen kann. 

Mit der Besprechung des psychischen Habitus kommen wir zu 
einer der wichtigsten Seiten des pyknoleptischen Krankheitsbildes, da 
einer der grundsatzlichen Unterschiede zwischen der genuinen Epilepsie 
und Pyknolepsie in der Frage gipfelt: Ist bei der Pyknolepsie eine Er¬ 
krankung der Personlichkeit im Sinne einer fortschreitenden epilep- 
tischen Wesensveranderung auszuschlieBen? Zur Entscheidung dieser 
Frage halt Bolten trotz der allgemeinen Erfahrung, daB gerade die 
Petit-mal-Formen in wenigen Jahren zu ausgesprochenen psychischen 
Veranderungen fiihren, eine Wartezeit von 7 und mehr Jahren fiir not- 
wendig. Solche psychischen Spatveranderungen kommen allerdings 
beim epileptischen Petit-mal vor, z. B. Fall 28 (7 Jahrc nach Anfalls- 
beginn noch unveriindert), sie sind jedoch seiten. Eine Beobachtungs- 
zeit von 5 —14 Jahren (durchschnittlich 10 Jahren) bei 11 seit Jahren 
abgeklungenen Fallen (1—11) diirfte geniigen, um eine noch spiiter 
einsetzende psychische Alteration als unwahrscheinlich anzunehmen. 


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Zur Frage der Pyknolepsie.; 


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Psychische Auffalligkeiten bestehen allerdings bei pyknoleptischen 
Kindem, aber durchaus anderer Art. Der psychische Habitus steht 
raeist in so augenfalligem Gegensatz zu dem der Kinder mit jahre- 
langen kleinen echten epileptischen Anfallen, daB dieser Unterschied 
direkt differentialcliagnostisch zu verwerten ist: Bei den epileptischen 
Kindem affektive Veranderungen, Reizbarkeit, Zorn- und Wutaus- 
briiche, also tiefgehende Affekte, spater dann die charakteristische 
intellektuelle Einengung, Diirftigkeit, das Schwerfallige, Pedantische, 
Umstandliche. — Diesen psychischen Veranderungen, die so charak- 
teristisch sind, daB man aus ihnen allein die Diagnose genuine Epi- 
lepsie stellen kann, steht bei der Pyknolepsie ein gerade entgegen- 
gesetzter psychischer Typus gegeniiber: Lebhafte, quirlige Kinder mit 
rasch wechselnden, weniger tief gehenden Affekten, schneller Wechsel 
zwischen Lachen und Weinen, in ihren Entschliissen eher sprunghaft; 
geringe Aufmerksamkeit bei guten oder sehr guten intellektuellen An- 
lagen. Die meisten stehen intellektuell iiber dem Durchschnitt ihres 
Alters, sind altklug, sehr interessiert, erfassen sofort das Wesentliche 
einer Sache, und haben nicht die harmlose Frische anderer Kinder. 
Dazu kommen neuropathische Ziige wie Hautuberempfindlichkeit, 
abnorm langes Bettnassen, unregelmaBiger Schlaf, Neigung zu krankeln, 
wechselnder Appetit, iible Angewohnheiten. Frei von psychopathischen 
Ziigen sind nur Fall 5, 6 und 26, jedoch lassen sich bis auf Fall 26 bei 
Eltern und Gesclvwistern degenerative Ziige nachweisen. Abweichend 
von dem iiberlebhaften, uberempfindlichen Typus ist der brutal- 
egoistische Knabe Franz B. (Ichthyosis). Intellektuelle Minderwertig- 
keit konnte ich in keinem Falle feststellen; 2 zu kurz beobachtete und 
deshalb hier nicht mitgeteilte Falle mit Debilitat lieBen die Diagnose 
Pyknolepsie bislang nicht ausschlieBen. 

Unsere Kasuistik uberrascht durch den auffallend hohen Prozent- 
satz von Kindern, die als einziges in der Familie aufgewachsen sind — 
unter den 11 seit Jahren abgeklungenen Fallen nicht weniger als 5, 
einschlieBlich eines sogenaimten ,,Nesthakchens“ (1), bei dem bis zur 
nachstalteren Schwester ein Unterschied von 11 Jahren besteht. Hier 
ist also ein Zuviel an Sorgfalt und Verkehr mit Erwachsenen, wie 
dieser Fall besonders kraB zeigt, eher noch groBer als bei den ein- 
zigen Kindern. 

Die noch nicht ausgeheilten Falle (12—26) weisen ein ahnliches 
Zahlenverhaltnis auf; unter 15 Kindern 7 einzeln erzogene, darunter 

2 Nachkommlinge (6—9 Jahre jlinger als die nachsten Geschwister) und 

3 Uneheliche. Bemerkenswerterweise sind 2 von diesen 3 unehelichen 
Kindern in sozial geordneten Verhaltnissen aufgewachsen und gehoren 
nicht zu der viel groBeren Gruppe der verwahrlosten unehelichen Kin¬ 
der. Beide sind von GroBeltern und Mutter verhatsehelt worden und 


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Kurt Pohlisch: 


standen, wie die meisten der pyknoleptischen Kinder, unter dem un- 
giinstigen EinfluB einer venveichlichenden, nicht energischen Erziehung. 

Es sind also insgesamt unter 26 Kindern 12 als einzige Kinder 
erzogen worden. Yon den restlichen 14 finden sich fast immer in der 
Anamnese zahlreiche Hinweise auf ahnliche Erziehungsfehler. Die Kin¬ 
der entstammen zum groBten Teil Berufen wie: gelernter Arbeiter, 
kleiner oder mittlerer Beamter, Gewerbetreibender, Kellner, Reisender, 
Techniker, also einer Bevblkerungsschicht, die wahrend und vor der 
Kriegszeit in der Lage war, ihr einziges Kind oder wenige Kinder iiber- 
trieben sorgfaltig zu erziehen. Nur eins der 26 Kinder stammt aus einer 
sozial tiefen Schicht (Fall 13, uneheliches verwahrlostes Madchen), 
trotzdem gerade diese Kreise einen nicht geringen Teil der Besucher- 
zahl unserer Poliklinik ausmachen. 

So unverkennbar der EinfluB der Milieuwirkung auf das Zustande- 
kommen der psychopathischen Ziige ist, die wir bei den Kindern an- 
treffen,so liiBt sich andererseits bei nichtwenigen eine nervose hereditare 
Belastung nachweisen, bemerkenswerterweise in keinem der 26 Falle 
Epilepsie und Alkoholismus, eine gegen die epileptische Genese der 
pyknoleptischen Anfalle sprechende Tatsache, wenn man berucksich- 
tigt, wie oft sich beide Krankheitsformen in der Aszendenz der epilep- 
tischen Kinder vorfinden. Bei der Halfte unserer Falle trafen wir 
nervos-degenerative Ziige der Eltern an, besonders bei der Mutter 
Neigung zu hysterischen Reaktionen und eine Reihe anderer psychi- 
scher Auffalligkeiten, die meist auf eine abnorm gesteigerte Erregbar- 
keit hinwiesen 1 )- Auch bei Geschwistem der von uns behandelten 
Kinder Avaren nach den anamnestischen Angaben mehrmals derartige 
Besonderheiten vorhanden. Pyknolepsie selbst konnte bei keinem 
Aszendenten nachgeAviesen Averden. 

Korperlich fiel oft der grazile Bau, die blasse Gesichtsfarbe und 
der besonders bei den Madchen unter dem Durchschnitt stehende 
Kraftezustand auf. Mehrere Kinder Avurden deshalb mit 6 Jahren vom 
Schulbesuch zuriickgestellt. Arhythmie des Pulses fand sich mehrmals. 

Der durch die vorstehenden Falle erbrachte NachAveis eines be- 
stimmten psychopathischen Habitus der pyknoleptischen Kinder be- 
rechtigt zu der Hoffnung, eine befriedigende Antwort auf die A'iel 
diskutierte Frage nach der Pathogenese der Pyknolepsie zu geben. 

Die A’on Mann angegebene enge Verwandtschaft mit der spasmo- 
philen Diathese besteht sicherlich nicht; nur ein einziger Fall (.5) 

x ) Stargardter und besonders Husler wiesen in kiirzlich erschienenen 
Arbeiten, die mir erst nach Abfassung meiner Ausfuhrungen bekannt wurden, 
eingehend auf die erbliche psychopathische Belastung hin. Beide kommen in 
ihren Beobachtungen iiber die psychopathische Konstitution der pyknoleptischen 
Kinder zu ahnlichen Ergebnissen wie Verf. 


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Zur Frage der Pykno’epsic. 


451 


bot einwandfrei als spasmophil anzusprechende Symptome (Zahn- 
krampfe des Pat. selbst und der 6 Geschwister). Die von Mann als 
Beweis der spasmophilen Genese angefiihrte elektrische Gbererregbar- 
keit der peripheren Nerven war in keinem Fall nachweisbar; Werte 
unter 5 M. A. bei der K. 0. Z. konnten niemals erhoben werden. Die 
Untersuchung wurde an a / 3 der angefiihrten Falle, mei&t am Facialis, 
mehrmals auch am Medianus und Ulnaris durchgefiihrt. Das nicht 
selten beobachtete Facialis-Phanomen kann bei dem Fehlen jedes 
anderen spasmophilen Anzeichens nur als neuropathisches Symptom 
bewertet werden. 

Auch zur Narkolepsie Gelineaus laBt sich eine Verwandtschaft 
nicht nachweisen. Der pyknoleptische Anfall hat zu wenig Uberein- 
stimmendes mit den langer dauernden, schlafahnlichen Zust&nden der 
Narkolepsie, die uberdies bisher fast nur bei mannlichen Erwachsenen 
beobachtet wurden. Die von Friedmann fur einen Teil seiner ge- 
hauften kleinen Anf&lle angegebene Ahnlichkeit mit narkoleptischen 
Zustanden bezieht sich auf Anfallsformen, deren ganzes Rrankheits- 
bild nicht die scharf umrissene Einheitlichkeit darstellt, die nach un- 
seren Erfahrungen fiir die Diagnose Pyknolepsie unbedingt gefordert 
werden muB. Friedmann, von dem Gedanken geleitet, alle bei Kin- 
dern und Erwachsenen gehauft auftretenden kleinen Anfalle, die nicht 
epileptischer und nicht rein hysterischer Natur sind, zu klassifizieren, 
bringt alle diese Formen unter die Bezeichnung ,,narkoleptische Absen- 
cen“. Durch diese gezwungene Zusammenfassung von Anfallen ver- 
schiedener Pathogenese zu einem einzigen Krankheitsbegriff wurde 
viel Verwirrung in die Erkenntnis der pyknoleptischen Anfalle ge- 
bracht. Die nosologische Einteilung mancher Anfallsformen, besonders 
des Kindesalters, muB eben nach unsern heutigen noch zu geringen 
Kenntnissen einer Zeit iiberlassen bleiben, die besser in dem groBen 
Gebiet zwischen Epilepsie und Hysterie zu gruppieren versteht. Scharf 
herausheben aber sollte man klinisch wie genetisch klar zu erfassende 
Typen wie die Pyknolepsie, auf deren klinische Einheit Friedmann 
— dies Verdienst bleibt ihm unbenommen — als erster, mehr intuitiv 
als auf groBes Erfahrungsmaterial gestiitzt, hingewiesen hat. Vermen- 
gungen mit anderen Anfallsformen flihren uns in die Zeit der Hystero- 
Epilepsie-Diagnostik zuriick. 

Auch Heilbronner und Engelhardt halten sich nicht frei von 
Vermengungen der Pyknolepsie mit Anfallen anderen, besonders solchen 
hysterischen Charakters. Aber auch Falle von zweifellos echter Pykno¬ 
lepsie, bei denen Besserungen durch SuggestivmaBnahmen und Ab- 
hangigkeit von Erlebnissen beobachtet wurde, sehen beide Autoren 
als auf hysterischer Basis entstanden an. Nach unseren Erfahrungen 
sprechen eine Reihe triftiger Momente gegen eine hysterische Grand- 


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452 


Kurt Pohlisch: 


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lage: Die GleichmaBigkeit und Umschriebenheit der Anfallsform, die 
weitgehende Unabhangigkeit der einzelnen Anfalle von Erlebnissen. 
Die Kinder sind iiberhaupt in einem Alter, in dem hysterische Reak- 
tionen sebr selten sind; eine eigentliche hysterische Charakteranlage 
laBt sich bei ihnen nicht nachweisen, auch fehlt beim einzelnen Anfall 
jedes Demonstrative. Wie wenig es gelingt, pyknoleptische Anfalle 
nachzubilden, geht aus folgender Beobachtung hervor. Die 9 klinisch 
liehandelten Pyknoleptiker kamen auf unserer Sonderstation fiir ju- 
gendliche Psychopathen in engste Beriihrung mit Kindern, die fiir 
eine hysterische Nachformung und Fixierung der kleinen Anfalle als 
besonders disponiert angesehen werden mixssen. Da aus auBerlichen 
Griinden nur jeweils ein pyknoleptisches Kind unter 12 anderen lag, 
bedeuteten die Anfalle imraer ein groBes Ereignis, wurden aufs ge- 
naueste dem Arzt berichtet und immer wieder der Versuch gemacht, 
sie nachzuahmen — ohne daB jemals bei den anderen Psychopathen 
ein echter Anfall beobachtet worden ist, geschweige denn Anfalle sich 
in gesetzmaBig ablaufender Weise fixiert ha ben. Naturlich konnen 
pyknoleptische Kinder, ebenso wie epileptische und andere, gelegent- 
lich hysterisch reagieren und hysterische Anfalle produzieren, die dami 
aber der Form und Zahl nach durchaus nicht die geschlossene Gesetz- 
maBigkeit der pyknoleptischen bieten und, nach Fall 9 und 10 zu 
urteilen, in spaterem Alter als die pyknoleptischen einsetzen (bei diesen 
beiden Fallen erst nach dem Aufhoren der Pyknolepsie im 14. und 
9. Jahr). Die weitgehende Unabhangigkeit von exogenen Faktoren, 
die Unfahigkeit, Anfalle willkurhch zu unterdriicken, das jahrelange 
unaufhaltsame Ablaufen von gehauft auftretenden taglichen Anfalien 
— dies alles spricht eher fiir eine organische Basis, ohne daB irgend- 
eine genaue Erklarung liber den Anfallsmechanismus gegeben werden 
konnte. 

In der Erkennung des Krankheitsbildes sind wir jedoch einen Schritt 
weiter gekommen durch den Nachweis einer diesen Anfallen zugrunde 
liegenden einheithchen Pathogenese. Man lauft zu leicht Gefahr, die 
Anfalle als das am leichtesten faBbare Symptom in den Mittelpunkt 
der klinischen Beobachtung zu stellen und schwerer zu differenzierende 
Symptomgruppen wie den psychischen Habitus eines Kindes weniger 
eingehend zu klaren. Die Erhebung des psychischen Habitus stellt 
aber einen wesentlichen Teil der Untersuchung dar. Die Diagnose- 
stellung wird um so sicherer, je mehr eine fortschreitende epileptische 
Wesensveranderung auszuschlieBen und je einwandfreier andererseits 
der Nachweis einer bestimmten psychopathischen Konstitution ent- 
sprechend dem vorstehend geschilderten Typus gelingt. Letzten Endes 
sind die pyknoleptischen Anfalle als ein Symptom dieser besonderen, 
klinisch faBbaren Form der Psychopathic aufzufassen. 


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Zur Frage tier Pyknolepsie. 


453 


Praktisch wird man bei der Diagnosestellung immer durch Aus- 
schluB der genuinen Epilepsie und anderer Epilepsiegruppen vorgehen. 
Dabei sind nach der bisherigen durch die vorstehenden 26 Falle wesent- 
lich erweiterten Kasuistik von der Pyknolepsie Symptome auszu- 
schlieBen wie: Polymorphe Anfalle, besonders solche mit motorischen 
Reizerscheinungen, Auragefiihlen und psychischen Veranderungen im 
Anschluli an den einzelnen Anfall; Anfallaquivalente aller Art; Anfalle 
aus dem Schlaf heraus; vereinzelte und unregelmiilJig auftretende 
Absencen; im allgemeinen auch Anfalle auBerhalb der Jahre von der 
Schulzeit bis zur Pubertat; Erfolglosigkeit der Brompraparate, wahrend 
nach unseren Erfahrungen Luminal voriibergehend wirken kann. 

Die Diagnose ist wegen der oft jahrelangen Ahnlichkeit mit der 
genuinen Epilepsie (27—32) hiiufig erst nach langer Beobachtung und 
auch dann nur mit Wahrscheinlichkeit zu stellen. Als Beispiele solcher 
Schwierigkeiten mogen besonders die Falle 31 /32 dienen, bei denen 
Symptome wie niichtliche Anfalle, hiiufiges Einnassen bei den An- 
fallen, Beginn im erstenLebensjahr trotz desFehlensandererepileptischer 
Symptome 5 Jahre nach Anfallsbeginn die Diagnose Pyknolepsie un- 
wahrscheinlich machen. Ebenso ist es mbglich, dad der eine oder 
andere der noch nicht abgeklungenen unter ,,Pyknolepsie“ aufgefiihrten 
Fiille (12—26) trotz raehrjahriger Beobachtung, eingehender anamnesti- 
scher Erhebungen und anderer sorgfaltigster Beriicksichtigung aller 
differcntialdiagnostischer Merkmale sich spater als epileptisch heraus- 
stellen kann. Derartige diagnostische Irrtumer sind durch Unvollkom- 
menheiten unserer klinischen Denk- und Beobachtungsmethoden be- 
dingt, rechtfertigen aln-r nicht, den Krankheitsljegriff der Pyknolepsie 
abzulehnen, der sich nach dem klinischen Verlaufsbilde und der Patho- 
genese dieser Anfalle als abtrennungsberechtigt von der genuinen 
Epilepsie erwiesen hat. 


Li to rat urvcrzcich nis 

findct sich ausfiihrlich Iwi Cohn, Monatsschr. f. Psydiiatr. u. Neurol. 41, S. 174, 
1919. Diese Arbeit gibt neben mehreren anderen friiher erschienenen eine genauere 
historisehe Darstellung der Pyknolepsie-Frage, auf die deshalb l>ei den vorstehen¬ 
den Ausfuhrungen verzichtct wurde. 

Nach der Cohnschen Arlx'it erechien: ') Meyer, Max: ('her Pyknolepsie. 
Zeitschr. f. Kinderheilk. 27, *S. 29.‘1, 1921. — 4 ) Stargardter: Jahrb. f. Kinder- 
heilk. 95, S. 230, 1921. — 11 ) Husler: Ergebn. d. inn. Med. n. Kinderheilk. 19. 
— 4 ) Husler: Zeitschr. f. Kinderheilk. 2<>. 


Aruliiv tUr Psychiatric, ltd. r>7. 


:io 


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Bucherbesprechungen. 

Karl Bartsch, Das psychologische Profll. Eine Auleitung zur Erforschung der 
psychischen Funktionen des normalen und des anormalen Kindes. Mit 101 Ab- 
bildungen im Text und auf einer Texttafel in zwei Excmplaren. Halle a. S., 
Carl Marhold, 1922. 

Die Forderung nacli einer Auslese der Begabten, der Durchschnittskinder 
und einer Auasonderung der ttbernormalen, die den Begabten-, Normal-, Nachhilfe- 
oder Fhrderklassen zugewiesen sind, macht ein eingehendes Vertiefen in die ganze 
geistige Veranlagung des Kindes notig. Der Unterricht verlangt eine besondere 
Anpassung an die Abweichungen und Fehler der Kinder, die einer abnormen 
Anlage entspringen. 

Die von dem Lcipziger Hilfsschullchrer herausgegebene Schrift bringt eine 
gute Anleitung zur Priifung der Intelligenz unter Anlehnung an die gebrauch- 
lichen Methoden. Verfasser gibt der Methods nach Rossolimo den Vorzug, die 
er durch eigene zweckmaBig ausgewahlte Versuche noeh vervollkommnet. Das 
Ergebnis dieser Untersuchungen ergibt dann das psychologische Profil. S. 

J. Bresler, Jenseits von klug und blOde. I. Bezuglehre (Kelativltiltstheorie), 
II. Psychlatrle und Psychoanalyse. Mit 2 Abbildungen. Halle a. S., Carl 
Marhold, 1922. 

Kritische Auseinandersetzung mit der Relativitatstheorie und der Psycho¬ 
analyse. Scharfe Zuriickweisung der Psychoanalyse und besonders der Uber- 
treibungen auf diesem Gebiet. S. 

Robert Pollack-Rudin, Ing., Die tecbn. Maale als Nalurnlssenschaft. 
Leipzig und Wien, Franz Deutieke, 1921. 

Die kleine Schrift entwickelt ein Programm: die magischen Erscheinungen 
mit Hilfe von einfachen Apparaten zu studieren, ausgehend von der Wiinschel- 
rute, fur die ein besonderes Modell konstruiert ist. S. 


Gougle 


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(Aus der Klinik fiir psychische und Nervenkrankhoiten zu Gottingen 
[Direktor: Gekeimrat Professor Dr. Schultze].) 

t’ber (lie nosologische Stellung und Differentialdiagnose der 
sogenaiinten Meningitis serosa. 

Von 

Heinrich Ruhe-Magdeburg. 

(Eingegangtn am 26. Okiober 1922). 

Die serose Meningitis ist wohl diejenige Form der Hirnhautentzun- 
dung, die dem Praktiker wegen ihres mannigfaltigen Verlaufs noch 
am wenigsten gelaufig sein diirfte. In den Schwierigkeiten einer exak- 
ten Diagnosenstellung, unter denen selbst der erfahrene Spezialist auch 
heute noch zu leiden hat, liegt der Grund, weshalb die Meningitis serosa 
erst in neuerer Zeit einer genaueren Erforschung zuganglich geworden 
ist. Wahrend der Hydrocephalus als Endstadium einer Hirnhaut- 
entziindung und die eitrige Meningitis den Arzten schon seit liingerer 
Zeit bekannt sind, auch die tuberkulose Form schon 1830 als solche 
erkannt wurde, ist die serose Meningitis zuerst im Jahre 1893 von 
Quincke beschrieben. Nun sind bereits vorher in der deutschen wie 
in der auslandischen Literatur zahlreiche Falle publiziert, deren Sympto- 
menbild zunachst eine schwere Erkrankung des Hirns oder seiner Haute 
wahrscheinlich machte, die aber schlieBlich in Heilung iibergingen (zit. 
nach Bonninghaus 11 ). Man geht wohl nieht fehl, wenn man an- 
nimmt, dad wenigstens in einem Teil dieser Falle das Krankheitsbild 
der Meningitis serosa vorgelegen hat. Die ersten in der Literatur nieder- 
gelegten Beobaehtungen, bei denen sich durch das Ergebnis der nach- 
folgenden Sektion eine derartige Annahme schon eher begriinden liiBt, 
staminen von franzosischen Aizten. Barthez und Rilliet (zit. nach 
Bonninghaus) halKMi 1844 drei solcher Falle veroffentlicht. Es han- 
delte sich um Kinder, die innerhalb weniger Tage unter m,eningitischen 
Erscheinungen zugrunde gingen: die Sektion ergab aber nur einfach 
entziindliche Veranderungen an den Hirnhauten, die zu einem serosen 
Exsudat gefuhrt hatten (Fall 7, 8 und 15). Freilich inuB man bedenken, 
dad 2 von den Fallen aus einer Zeit stammen, in der die tuberkulose 
Form der Hirnhautentzundung noch nicht bekannt war, auch spricht 
die kurze Dauer der Krankheit — Fall 7 mit 36 Stunden, Fall 8 mit 
Archiv tilr Psychlntrie. Bd. 87. 31 

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460 


H. Ruhe: Cber die nosologische Stcllung und Differential- 


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5 x / 2 Tagen, Fall 15 mit 7 Tagen,— nicht unbedingt gegen eine Meningitis 
tuberculosa, wie Bonninghaus meint. Jedenfalls ist aber hervorzu- 
heben, daB diese beiden Autoren zum erstenmal das Vorkommen eines 
,,Hydrocephalus acutus idiopathicus“ betont habcn, dcr nicht durch 
eine dcr bisher bekannten Forraen dcr Meningitis hervorgerufen wurde. 
Die Bezeichnung ,,Meningitis serosa'* ist von Billroth 8 ) zuerst ge- 
braucht (1869). Er berichtet uns, daB eine 59jiihrige Frau, die wegen 
einer Ellbogencaries operiert war, 9 Monate spater unter den Erschei- 
nungen eines akuten Hydrocephalus starb; in einem zweiten Fall han- 
delte es sich um eine 27jahrige Frau, die einige Wochen nach einer 
Amputatio supramalleolaris — wegen Caries des linken FuBgelenkes — 
unter den gleichen Symptomen ad exitum kara. Beide Male lag der 
Verdaeht einer tuberkulosen Meningitis nahe, die Sektion ergab aber 
nur ein Hirnodem mit maBiger Ausdehnung der Ventrikel, nirgends 
eine Spur von Tuberkeln. Mitteilungen liber eine mikroskopische Un- 
tersuchung liegen allerdings nicht Vor, so daB auch diese beiden Falle 
nicht unbedingt sicher als eine rein serose Meningitis anzusehen sind. 
Immerhin erscheint die Bemerkung Billroths wichtig, daB die Er- 
scheinungen und der Verlauf eines ,,Hydrocephalus acutus" mit und 
ohne Tuberkcl vollig gleich sein konnen, und daB selbst. der Nachweis 
von tuberkulosen Verftnderungen in der Lunge (wie im zweiten Fall) 
die Annahme einer tuberkulosen Meningitis nicht notwendig macht. 
DaB es in der Tat eine Form der Meningitis gibt, die von vornherein 
seros ist und auch in ihrcni weiteren Verlauf seros bleibt, hat Eich- 
horst (1887) zuerst betont (zit. nach Bonninghaus). Schon vor ihm 
hatte Huguenin 68 ) cine entzundliche Affektion der Pia beschrielien, 
die besonders im Kindesalter auftritt und zu einem schnell oder lang- 
sam entstehenden ErguB in die Ventrikel fiihrt, und die jedenfalls mit 
Tuberkulose nichts zu tun hat. Jedoch erst die Einfiihrung der Lumbal- 
punktion in die Reihe der diagnostischen — und therapeutischen — 
Hilfsmittel hat uns in den Stand versetzt, die serose Meningitis (sc. die 
diffuse Form) schon intra vitam, wenn auch nicht immer mit absolute! - 
Sicherheit, so doch mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erkennen. 
Quincke selbst hat denn auch die ersten Erfahrungen auf diesem 
Gebiet gesammelt, und mit Recht diirfen wir ihn als den eigentlichen 
Begriinder der Lehre von der Meningitis serosa ansehen. 

Seit der ersten Veroffentlichung Quinckes im Jahre 1893 105 ) sind 
bis in die neueste Zeit hinein zahlreiehe Publikationen liber die serose 
Meningitis erschienen. Trotzdem besteht, wie mir scheint, auch heute 
noch durchaus nicht vbllige Klarheit liber das Krankheitsbild. Vor 
allem werden Zustande mit der Bezeichnung ,,Meningitis serosa" be- 
legt, die man nicht als dazu gehorig anerkennen kann. Von vorn¬ 
herein muB bemerkt werden, daB man nur dann berechtigt ist von 


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diagnose der sogenannten Meningitis serosa. 


461 


,,Meningitis serosa 1 * zu sprechen, wenn sich — abgesehen von dem 
direkten pathologisch-anatomischen Nachweis einer entziindlichen Ver- 
anderung der Meningen mit exsudativen bzw. infiltrativen Verande- 
rungen — in dem vorliegenden Rrankbeitsbild als Ausdruck der Ent- 
ziindung der Hirnhaute ein Liquor findet, der entziindliche Eigen- 
schaften besitzt, sich also durch einen erhohten EiweiB- und Zellgchalt 
auszeichnet und meist unter erhohtem Druck steht. Die tuberkulosen 
und syphilitischen Meningitiden, die ebenfalls mit einem serosen Exsu- 
dat einhergehen, werden als besondere (spezifische) Formen der Hirn- 
hautentzundung betrachtet und von der einfach serosen Meningitis 
abgetrennt. Aber gerade bei den circumscripten Formen der Meningitis 
serosa diirfte ein derartiger Nachweis mitunter erst bei einer sich als 
notwendig herausstellenden operativen MaBnahme zu erbringen sein. 
Zustande jedoch, die als einziges objektives Merkmal flir die sich im 
Zentralnervensystem bzw. den Meningen abspielenden Vorgange nur 
eine Drucksteigerung im Subarachnoidalraum erkennen lassen, fallen 
prinzipiell nicht unter den Begriff der serosen Meningitis. Es soil 
jedoch nicht in Abrede gestellt werden (Quincke 107 und Matthes 81 ) 
daB Ubergange zwischen den entziindlichen Formen und den Zustanden 
moglich sind, die man vielleicht als Ausdruck einer toxischen meningi- 
tischen Reizung betrachten kann, wie denn aucli der pathologisch- 
anatomische Begriff der ,,Entzundung“ noch keineswegs geklart ist. 

Auch gegen die von einigen Autoren (Finkelnburg 36 , GroB 5(5 ) 
gebrauchte Bezcichnung ,,Meningitis serosa s. Hydrocephalus acqui- 
situs (acutus oder chronicus)'* ist Stellung zu nehmen. Man soil sich 
dariiber klar sein, daB man damit zwei vbllig verschiedene Begriffe ein- 
ander gleichsetzt. Unter Meningitis seros;a verstelit man ein mehr oder 
weniger wohlcharakterisiertes Krankheitsbild; der Hydroceplialus aber 
ist nur ein pathologisch-anatomischer Begriff, ein Symptom fur eine 
ganze Reihe von Erkrankungen, die alle zu einer vermehrten Fliissig- 
keitsansammlung in den Gehirnventrikeln oder in den zwischen Hirn 
und Sehadelkapsel gelegenen Subarachnoidalraumen fiihren. 

Ferner miissen wir noch auf den vielumstrittenen Begriff des ^Hydro¬ 
cephalus idiopathicus** eingehen. Man bezeichnet damit einen Hydro¬ 
cephalus, fiir den man weder im Gehirn selbst noch in seinen Hauten 
oder sonst irgendwo im Korper eine Entstehungsursache finden kann, 
also einen Hydrocephalus (vorlaufig) unbekannten Ursprungs. Fiir 
eine ganze Anzahl derartiger in der Literatur als ,,idiopathischer“ 
Hydrocephalus beschriebener Falle (Bresler 25 ), Kupferberg 75 ), Op- 
pen heim 9 -) kommt, wie aus den Sektionsberichten hervorgeht, zweifel- 
los ein entziindlicher ProzeB in den Meningen als Ursache in Be- 
tracht. Bei verschiedenen anderen Fallen (Annuske 2 ), Heiden- 
hain 61 ), Rosenstein 114 ) fehlen genaue mikroskopische Untersuchun- 

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H. Ruhe: Uber die nosologische Sfcellung und Differential- 


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gen, die eine Meningitis hatten ausschlieden konnen. Alle Falle von 
idiopathischem Hydrocephalus als Endzustand einer Meningitis anzu- 
sehen, wie Bonninghaus vorgeschlagen hat, oder gar den Begriff 
,,Meningitis serosa" und ,.Hydrocephalus idiopathicus" gleichzusetzen 
(Prince 103 ), Rothmann 115 ), ist nicht statthaft. Margulis 79 ) sagt 
init Recht, dad, je exakter die pathologisch-anatomische Untersuchung 
wiirde, desto geringer auch die Zahl der idiopathischen Wasserkopfe 
wiirde, und dad ein primarer chronischer Hydrocephalus ohne anato- 
mische Veranderungen nicht besteht*). 

Endlich rniissen wir noch auf den Begriff des ,,Pseudotu in or" 
kurz eingehen. Nonne 90 ) hat zuerst im Jahre 1904 Falle beschrieben, 
die den Eindruck eines zum Teil wohlumschriebenen und lokalisier- 
baren Hirntumors machten. Aber weder die operative Freilegung der 
erkrankten Region noch die Sektion bei den todlich endigenden Fallen 
gaben irgendeinen Anhaltspunkt fiir die Ursache der Erkrankung, 
speziell fiir die Anwesenheit eines Tumors. Es sind darauf von den 
verschiedensten Seiten (z. B. Eichelberg 31 ), Henneberg 62 ), Hoch- 
haus 65 ), erst kiirzlich wieder von Pette 100 ) analoge Falle mitgeteilt, 
ohne dad diese ratselhaft erscheinende Erkrankung dadurch an Klar- 
heit gewonnen hatte. Offenbar handelt es sich dabei um ganz ver- 
schiedene Krankheitsbilder. Nonne selbst 91 ) rat, die Diagnose auf 
,,Pseudotumor" nur dann zu stellen, wenn sichere Infektion, schwere 
Anarnie, physische und psychische Traumen auszuschlieden sind, der 
Beginn kein ganz akuter war, keine Symptome vorhanden waren, die 
erfahrungsgemad beim Hydrocephalus vorkommen, und die Heilung 
restlos oder fast restlos ist. Endlich mud die mikroskopische Unter¬ 
suchung griindlichst durchgefiihrt sein und ein negatives Resultat 
gehabt haben. In einer Reihe von Fallen sind Glia veranderungen 
(Nonne 91 ) oder Veranderungen an den feinen Hirngefaden (Weber- 
Schultz 137 ) festgestellt worden, ein anderer Teil der Fiille mag unter 
den Begriff der Reichardtschen Hirnschwellung (s. auch Nonne 91 ) 
fallen; und schliedlich ist — was uns besonders interessiert — auch 
die circumscripte serose Meningitis fiir eine Anzahl von Fallen verant- 
wortlich zu machen. Diese Ansicht ist wiederholt geaudert worden, 
z. B. von Higier 63 ), Muskens 86 ), Oppenheim 95 ), Redlich 110 ), 

*) Als Ursache fiir diesen ,,primaren“ Hydrocephalus hat Margulis eine 
Veranderung des Ependyms beschrieben, die er als kongenitale Entwicklungs- 
storung betrachtet, eine Erschwerung des Abflusses der Ventrikelfliissigkeit (durch 
die perivaskularen Lymphraume) soil zu gesteigertem Druck und dadurch zu 
einer bestandigen Dehnung der Ventrikelwande, d. h. zu einem Hydrocephalus 
intemus, Veranlassung geben 80 ). In diesem Zusammenhange berichtet M. iibcr 
ein auffiillig haufiges Zusammentreffen des idiopathischen Hydrocephalus rnit 
Syringomyelic, das durchaus im Sinne einer kongenitalen Entwicklungsstorung 
des Gliagewebes sprechen wiirde. 


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diagnose der sogenannten Meningitis serosa. 


463 


Schwartz 130 ), v. Wieg-Wickenthal 142 ). Eine besonders kritische 
Beurteilung hat dcr Begriff des ,,Pseudotumor“ durch Muskens er- 
fahren, der auf Grund von 3 bei der Operation erhobenen autoptischen 
Befunden zu der Ansicht neigt, daB die meisten Falle von Pseudo- 
tumor durch eine Meningitis serosa hervorgerufen seien. 

Die Schwierigkeiten, die sich bei der Aufstellung des Krankheits- 
begriffes der Meningitis serosa ergeben, sind von jeher betont worden. 
So meint Bonhoff er 17 ), daB es sich wahrscheinlich um nicht einheit- 
liche Prozesse handele; was ihr zugrunde lage, sei noch keineswegs aus- 
reichend geklart, ,,obwohl mit dem Begriff vielfach umgegangen wird, 
als ob es ganz klar ware, um was es sich handelt. Eine erwiesene ana- 
tomische Anschauung daruber, was die Meningitis serosa eigentlich 
ist, gibt es noch nicht, und es ist weder anatomisch noch klinisch noch 
pathogenetisch eine Unterscheidung gegeniiber anderen akuten und 
chronischen Hydrocephalusformen zu treffen.“ In ahnlicher Weise 
spricht sich Payr 97 ) aus: ,,Der Krankheits be griff der Meningitis serosa 
ist weder einheitlich geklart im Sinne der Pathogenese noch gesichtet 
in seinen mannigfaltigen Formen . . . Der Name tragt der Pathogenese 
nicht exakt Rechnung, denn klinisch werden auch Zustande hinzu- 
gerechnet, die nicht entzundlichcr Art sind.“ Und weiterhin: nicht 
der Ausdruck sei die Hauptsache, vielmehr miiBten die einzelnen For¬ 
men naeh ihrer Entstehung geschieden werden und dementsprechende 
Bezeichnungen geschaffen werden. Auch Weigeldt 138 ) betont, daB 
der Begriff ,,Meningitis serosa“ noch zicmlich unklar und sicher nicht 
einheitlich ist, und von dem ,,idiopathischen Hydrocephalus 1 * nicht zu 
trennen sei (s. das oben Gesagte im Gegensatz zu Weigeldts An¬ 
sicht). 

Bei der Besprcchung der Atiologie der serosen Meningitis muB 
zunachst hervorgehoben werden, daB man fur eine ganze Anzahl von 
Erkrankungen vorlaufig gar keine Entstehungsursache feststellen kann. 
So entwickelten sich bei 5 Patienten, die im vergangenen Jahr in der 
hiesigen Nervenklinik unter Beobachtung standen, die Erscheinungen, 
ohne daB die Anamnese irgendeinen Anhaltspunkt fur die Entstehung 
der Krankheit hatte geben konnen (Fall 2, 3, 6, 8 und 9). In einer 
anderen Reihe von Fallen dagegen konnen wir uns ein einigermaBen 
klares Bild iiber die atiologischen Faktoren machen. Von verschie- 
denen Seiten wird behauptet, daB man haufig eine besondere Dispo¬ 
sition nachweisen konne. Insbesondere sollen Kinder an der diffusen 
Form der serosen Meningitis oftererkranken als Erwachsene (Qu i nc ke 105 ). 
Goldstein 51 ). Quincke erblickt die Hauptursache dafiir in histolo- 
gischen Eigentiimlichkeiten des kindlichen Gehirns, dessen Ventrikel- 
wande einem durch eine serose Meningitis (sc. interna) gesteigerten 
Innendruck weniger Widerstand zu leisten veimogen als das Gehirn 


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H. Ruhe: tlber die nosologische Stellung und Differential- 


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cines Erwachsenen (zit. nach Weber 136 ); daher wird es leichter zur 
Dilatation der Ventrikel mit den entsprechenden klinischen Symptomen 
kommen. Bei einigen Fallen ist es wahrscheinlich, daB die Meningitis 
serosa nur die akute Exacerbation eines schon lange bestehenden (viel- 
leicht kongenitalen) Hydrocephalus ist (Quincke 105 ). Darauf deutet 
bisweilen schon die abnorme GroBe und Gestalt des Schadels hin (Op- 
penheim 94 ); auch ergibt die Anamnese gar nicht selten, daB die Pa- 
tienten schon friiher ahnliche Attacken meningitischer Reizung oder 
gesteigerten Hirndrucks durchgemacht haben. Quincke glaubt, we- 
nigstens in einem Teil dieser Falle die Manifestation einer Angioneurose 
erblicken zu konnen, d. h. jenes Zustandes einer labilen GefaBinnervation, 
der die Patienten auf alle moglichen auBeren Schiidlichkeiten mit 
serosen Exsudationen der verschiedensten Organe reagieren laBt. 
Auch v. Wieg-Wickenthal 142 ) nimmt eine bcsondere Konstitutions- 
anomalie an, die sich in einer angeborenen verminderten Widerstands- 
fiihigkeit des Ependyms, der Plexus chorioidei und des feinen Hirn- 
gefaBapparates kundgeben soli, so daB die verschiedensten Schadlich- 
keiten eine vermehrte Liquorproduktion anregen konnen. DaB die 
Disposition bei der Entstehung der serosen Meningitis und der ihr 
nahestehenden Krankheitsbilder eine groBe Rolle spielt, betont auch 
Groer 65 ); und zwar soil sich diese Veranlagung bei Madchen haufiger 
finden als bei Knaben, ferner soli sie durch Unterernahrung (Kriegszeit) 
verstarkt werden konnen. Den gleichen Effekt sollen die Spasmophilie, 
die Rachitis und die exsudative Diathese haben (Harke 59 ). Ob der- 
artige Behauptungen bestatigt und allerseits anerkannt sind, entzieht 
sich meiner Kenntnis. Bei dem heutigen Stand der Konstitutionslehre 
empfiehlt es sich aber wohl, bei der Erklarung der Entstehung einer 
Meningitis serosa der Disposition vorlaufig kein allzu groBes Gewicht 
beizulegen, da man sonst Gefahr laufen wiirde, sich dabei allzusehr 
ins Gebiet des Hypothetischen zu verlieren. lmmerhin scheint die 
Mitteilung Gopperts 48 ) beachtenswert, der beobachtet hat, daB Kin¬ 
der, die im AnschluB an Infektionen— namentlich des Nasenrachen- 
raumes — Zeichen einer meningitischen Reizung bieten, auch sonst 
haufig konstitutioneli reizbar sind. 

Als auslosende Momente fiir die serose Meningitis kommen in aller- 
erster Linie die Infektionskrankheiten in Betracht, und zwar konnen 
wohl ziemlich alle Infektionen zu einer serosen Entziindung der Hirn- 
haute fiihren. Diese Entstehungsursache ist so haufig, daB einige 
Autoren (Beck 7 ), Eichhorst zit. nach Bonninghaus 14 ), Miinzer 85 ) 
die Meningitis serosa direkt als Infektionskrankheit bezeichnen wollen. 
In diesem Zusammenhang waren zu nennen Anginen, Influenza, Pneu- 
monie, Masern, Scharlach, Diphthcrie, Keuchhusten, Typhus, Fleck- 
tvphus (Kriegsbeobachtungen von Matthes 81 ) u. a. Als seltener vor- 


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diagnose der sogenannten .Meningitis serosa. 


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kommende Ursache, die wenigstens in der deutschen Literatur nicht 
so haufig erwahnt ist, mochte ich die Parotitis epideraica anfiihren. 
So beschrieb noch vor kurzem Feer 35 ) einen derartigen Fall, der zu- 
nachst durchaus den Eindruck einer tuberkulosen Meningitis machte 
(iiu Lumbalpunktat leichte Fibringerinnselbildung, 215Zellen pro cmm, 
Nonne —). Erst das sehnelle Verschwinden der raeningitischen Sym- 
ptome und der rasche Fieberabfall lie Ben die Diagnose einer serosen 
Meningitis wahrscheinlich werden, die nachtriiglich durch die Anamnese 

— vor 8 Tagen doppelseitiger Mumps — gesichert wurde. Mitunter 
konnen bei der Pyelocystitis der Sauglinge die meningitischen Symptome 
derart in den Vordergrund treten, daB das ursachliche Leiden vollig 
iil>ersehen wird (v. Bokay 16 ). Auch die Malaria ist zur Meningitis 
serosa in Beziehung gebracht; so berichtet Lindbom 77 ) von einem 
Patienten, der vor 6 Jahren eine Malariainfektion durchgemacht hatte 
und nun irn AnschluB an eine Erkiiltung mit heftigen Hirndruck- 
symptomen (Kopfschmerzen, Erbrechen, Druckpuls, doppelseitige 
Stauungspapille, Lumbaldruck 220—240 mm), erkrankte, die jeden 
Tag zu einer ganz bestimmten Stunde exacerbierten. Ein positiver 
Blutbefund konnte nicht erhoben werden, doch soil Chitlin einen auf- 
fallenden Effekt gehabt haben. Allerdings konnen in einem solchen 
Falle auch diffuse encephalitische Vorgange nicht ausgeschlossen wer¬ 
den, wie sie z. B. Diirck (Munch, med. Wochenschr. Nr. 2, 1921) bei 
der Malaria beschrieben hat. Endlich sind in letzter Zeit von Hart¬ 
mann 60 ) 4 Falle publiziert, bei denen sich noch monatelang nach dem 
Abklingen einer akuten Encephalitis epidemica neben anderen fiir die 
Annahme einer Affektion der Meningen verwertbaren Zeichen Verande- 
rungen im Liquor fanden, die auf eine entziindliche Genese hinwiesen 

— Drucke von mehr als 300 mm, zweimal positiver Nonne und etwas 
erhdhter Zellgehalt (zwischen 2 und 15 Zellen im cmm). Bei 2 von 
diesen Patienten fiel die Zunahme der Beschwerden jedesmal mit einer 
Drucksteigerung im Subarachnoidalraum zusammen, so daB Hart¬ 
mann glaubt, wenigstens einen Teil der Spatsymptome der Encepha¬ 
litis epidemica auf diese Meningitis serosa zuriiekfuhren zu konnen. 
Die Ansicht Hartmanns ist insofern nicht stichhaltig, als der Druck 
im Sitzen gemessen wurde; und fiir die restierenden Erscheinungen der 
Encephalitis sind in allererster Linie doch die Veranderungen in der 
Hirnsubstanz selbst verantwortlich zu machen. 

Man sollte annehmen, daB bei einer derartig reichhaltigen Atiologie 
auch die Entziindungserreger im Liquor schon oft nachgewiesen sein 
miissen. Das scheint aber keineswegs der Fall zu sein, so konnte Bon- 
ninghaus noch keinen positiven Befund anfiihren. Auch Bliihdorn 12 ) 
gibt an, daB er bei seinen Fallen noch nie habe Erreger nachweisen 
konnen. Von anderer Seite ist jedoeh der Nachweis der Bakterien ge- 


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4B6 H. Ruhe: Ober die nosologische !S tel lung und Differential- 


fiihrt worden; so sind bisher nachgewiesen Staphylokokken, Strepto- 
kokken, Pneumokokken, Influenza-, Coli-, Typhusbacillen u. a. (Thie- 
raich 133 ), Finkelnburg 38 ). Miinzer 86 ) ist der Ansicht, dab die Me¬ 
ningitis serosa meist durch Tuberkelbacillen hervorgerufen werde; 
folgerichtig wird man derartige Falle dann zur Meningitis tuberculosa 
rechnen miissen. Beck 7 ) glaubt, daB jede Meningitis serosa acuta 
durch irgendwelche Mikroben hervorgerufen werde, nur sei ihr Nach- 
weis in vielen Fallen deshalb nicht moglich, weil die Bakteridn schon 
kurze Zeit nach ihrem Chert ritt in den Liquor der Bakteriolyse ver- 
fielen und nur noch die Toxinc im Blut kreisten. Auch in dem spiiter 
uusfuhrlicher zu schildernden Fall eines Knaben, der unter dem Yer- 
dacht einer tuberkulbsen Meningitis in die Nervenklinik eingeliefert 
wurde, waren weder im Sediment des Liquors noch im Tierversuch 
irgendwelche Erreger nachweisbar. 

AnschlieBend waren die Falle von Meningitis serosa zu nennen, 
die im Gefolge eines sich in der Nahe der Hirnhaute abspielenden 
entziindlichen Prozesses cntstehen. Von l)esonderer praktischer Wieh- 
tigkeit und schon seit langerer Zeit bekannt sind die serosen Meningi- 
tiden bei Erkrankungen des Mittel- bzw. Innenohres und der Nasen- 
nebenhohlen. Wendel 144 ) berichtet von einer eitrigen Conjunctival- 
entziindung, die cine circumscripte serose Meningitis hervorrief. Aber 
auch pathologische Prozesse im Hirn und Ruckenmark selbst (Abszesse, 
Tumoren) konnen die Veranlassung zu einer meist umschriebenen 
serosen Exsudation geben. Fischer 42 ) hat in 5°/ 0 aller von ihm se- 
zierten Falle von progressiver Paralyse grubige, bis walnuBgroBe Ver- 
tiefungen der Hirnoberfliiche gefunden, die nicht etwa durch lokale 
Atrophien der Rinde odor des darunter lrefindlichen Markes entstanden 
sind; sondern es sind wirkliche cystische Bildungen, die sich im Yer- 
laufe einer chronischen Meningitis entwickelt haben. Auch ferngelegene 
entziindliche Prozesse, Lymphangitis, Epityphlitis (zit. nach Wendel) 
sollen gelegentlich eine Meningitis serosa hervorrufen konnen. Die 
nach Ohr- und Naseneiterungen sich einstellenden serosen Exsuda- 
tionen werden von den meisten Autoren nicht als wirkliche Entziin- 
dungen, sondern als kollaterale entziindliche Odeme angesehen, analog 
etwa den sj'mptomatischen Kniegelcnksergiissen bei Eiterungen in 
den Gelenkepiphysen, als Folge der Reizwirkung von Bakterientoxinen. 

Eine ganz besonders wichtige Rolle spielen die im AnschluB an ein 
Kopftrauma entstehenden serosen Meningitiden. Schon von jeher 
(Bonninghaus 14 ), Muskens 86 ), Quincke 107 ) ist das Trauma als eine 
der Hauptursachen der Meningitis serosa bezeichnet worden; und die 
zahlreichen Kopfverletzungen wahrend des Weltkrieges haben erneute 
Gelegenheit geboten, in groBerem MaBstabe als je zuvor diese Form 
der serosen Meningitis genau zu studieren. Fine gute Cbersicht liber 


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diagnose der sogenannten Meningitis serosa. 


467 


<lie verschiedenen Entstehungsmoglichkeiten und Forraen der trauma¬ 
tischen Meningitis serosa hat Payr 97 ) gegeben. Er unterscheidet die 
Meningitis serosa traumatica comitans s. symptomatica, die bei infi- 
zierter Schadelverletzung eintreten kann, von der Meningitis serosa 
traumatica aseptica, die sich bei einer nur geringfugigen oberflach- 
lichen Kopfwunde oder auch ohne jede sichtbare tin Re re Verletzung 
entwickeln kann. Es gibt lokale und diffuse Formen. t)ber das Zu- 
standekommen einer derartigen traumatischen Meningitis serosa hat 
man sich etwa folgende Vorstellungen zu machen: Der Insult fiihrt 
zu ZerreiBungen und Blutungen der Hirnhaute, in der Hirnsubstanz 
selbst entstehen kleine Blutungsherde, eventuell Quetschungen und 
Zertrummerungen des Gewebes und GefaBveranderungen (Payr, 
SchultheiB 124 ); es erfolgt ein Blutaustritt in den Liquor, und dieser 
wirkt im Verein mit dem traumatischen Odern der Hirnsubstanz auf 
die Hirnhaute als Reiz. Derartige Befunde sind wicderholt durch die 
Operation festgestellt worden. Payr berichtet iiber enorme Liquor- 
ansa mmlungen — in einem Fall mindestens V 2 Liter —, die die Hemi- 
spharen aufs auBerste komprimieren konnen, so daB die Zeichnung der 
Gyri vollig verwischt werden kann. Positive Bakterienbefunde sind 
auBerst gering; im allgemeinen kann man — was fiir den Operateur 
natiirlich von groBer Wichtigkeit ist — den Liquor als steril betrachten 
(Payr). Auch ein Obergang in die Meningitis infectiosa purulenta 
gehort zu den seltenen Ereignissen. Die klinischen Erscheinungen ent¬ 
wickeln sich entweder unmittelbar nach dem Trauma, oder es kann , 
Wochen, Monate, ja sogar Jahre dauern, ehe sich entsprechende Sym- 
ptome einstellen. Gerade l)ei diesen Fallen, die klinisch als selbstandige 
Krankheit imponieren, ist der Zusammenhang zwischen Trauma und 
Meningitis oft nicht mit volliger Sicherheit herzustellen. Auch das 
Trauma kann zu Krankheitsbildern Veranlassung geben, die sicher 
nicht auf eine Entziindung der Hirnhaute zuruckzufiihren sind, son- 
dern hochstens auf eine einfache Reizung, die noch dazu hiiufig durch 
funktionelle Erscheinungen iiberlagert wird. Wir werden spater noch 
darauf zu sprechen konnnen. Mitunter scheint das Trauma nicht aus- 
losend, sondern nur vorbereitend zu wirken (Weber 13 ' 1 ), indem es Ge- 
faBalterationen— teilweise Verlegung der adventitiellen GefaBspalten — 
und eine verringerte Elastizitat der Hirnsubstanz hinterlaBt, die spater 
einer an sich unbedeutenden Storung gegenuber versagen konnen. 

Es sind noch eine ganze Reihe weiterer Ursachen angefiihrt worden, 
die teils auslosend, teils disponierend wirken sollen; ich nenne nur die 
Insolation (Weber und unser Fall 1), chron. Alkoholismus, chronische 
Nephritis (Quincke 107 ), sogar geistige Cberanstrengung (Eichhorst 32 ) 
und psychische Traumen wie Schreck (Nonne 90 ), Puerperium (Op- 
penheim 92 ), Schwartz 130 ). Ob und wie weit derartige Angaben zu- 


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H. Ruhe: Pber die nosologische S tel lung und Differential- 


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treffen, laBt sich nicht immer nachpriifen, da die Mitteilungen zum 
Teil zu goring sind, um einen sicheren SchluB auf die Art des jeweiLs 
vorliegenden Krankheitsbildes zu gestatten. 

Endlich mag noch erwahnt werden, daB meningitisahnliche Zu- 
stande auf rein funktioneller Basis vorkommen. So hat Starck 127 ) 
aus der franzosisclien Literatur 17 solcher Fade zusammengestellt und 
einen selbstbeobachteten Fall hinzugefiigt. Es handelt sich fast aus- 
schlieBlich um weiblithe Individuen in den Entvvicklungsjahren. Die 
Diagnose war in den angefuhrten Fallen moist auf Meningitis tuberculosa 
gestellt worden, und erst die weitere Beobaehtung ergab die funktionelle 
Natur der Bosch werden undSymptome, die (lurch eine genaue Anamnese, 
den Nachweis weiterer hysterischer Stigmata und eine entsprechende 
erfolgreiche psychische Behandlung sichergestellt wurde. Von Knob¬ 
lauch 71 ) ist ein Fall beschrieben, der auf Grund von Anfallen des 
Jacksonschen Typus den Verdacht eines Tumors der motorischen 
Region erweekte und sogar zur Operation kam! DaB die Untersehei- 
dung, ob organisch oder funktionell, mitunter in der Tat nicht leicht 
ist, beweist die Diskussion iiber den von VoB 135 ) mitgeteilten Fall 
einer linksseitigen Hemiplegie nach Kopftraurna auf der 3. Jahres- 
versammlung der Gesellschaft deutscher Nervenarzte. Im allgemeinen 
werden sich a her bei genauerer Beriicksichtigung aller Begleitumstande 
diagnostische Irrtiimer in dieser Hinsicht vermeiden lassen. 

Ehe wir die pathologische Anatomie der Meningitis serosa be- 
sprechen, erscheint es angebracht, den augenblicklichen Stand der 
Lehre von der Liquorsekretion vorher kurz zu schildern, da diese fiir 
das Verstandnis der Pathogenese der scrosen Meningitis von Wichtigkeit 
ist*). Ulier die Art und den Ort der Entstehung des Liquor cerebrospinalis 
hat in der Literatur ein jahrzehntelanger Streit geherrscht, der auch 
heute noch keineswegs endgiiltig entschieden ist (s. bei SchultheiB 124 ). 
Soviel steht aber auf Grund experiraenteller Untersuchungen fest, daB 
man dem Plexus chorioideus unbedingt eine sekretorische Funktion 
zusprechen mull, und daB es sich nicht um eine einfache Transsudation 
handelt. Denn dem Organismus einverleibte korperfremde Stoffe pas- 
sieren die Plexusepithelien im allgemeinen nicht, mit Ausnahme sol¬ 
cher, die schadigend auf sie einwirken otler zum Zentralnervensystem 
eine besondere Affinitat besitzen (z. B. die Narkotika). Fiir eine sekre¬ 
torische Tatigkeit des Plexus spricht auch seine Beeinflussung durch 
die allgemeine Sekretion hemmende (z. B. Schilddrusenextrakt, Schlap- 
fer 120 ) oder fdrdernde (z. B. Pilocarpin) Mittel. Endlich hat man die 


*) Anm. b. d. Korrektur: Vgl. hierzu und zu dem Folgenden die kiirzlich 
in den Mitteil. a. d. Grenzgeb. d. Med. u. Chir. (35. Bd. Heft 3) erschienene Arbeit 
von E. Beeher: ..Untersuchungen iiber die Dynamik des Liquor cerebrospinalis.** 


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diagnose dor sogenannten Meningitis seiosa. 


469 


Bildung der Sekrettropfen in den Plexusepithelien mikroskopisch direkt 
verfolgen konnen. Diesel be sekretorische Funktion soil auch das Ven- 
trikelependym besitzen. Makoto Saito 78 ) erkliirt jedoch neuerdings, 
dab er im groBen ganzen aus den histologischen Praparaten absolut 
keinen Beweis fiir irgendeinen sekretorischen ProzeB des Ependyms 
ableiten konne. Ob auch die Ner vensubstanz selbst und die GefaBe an 
der Bildung des Liquors beteiligt sind, ist noch nicht sicher entschieden. 
Sogar die Gliazellen hat man in Zusammenhang mit der Liquorproduk- 
tion bringen wollen. Es erscheint also nicht ausgeschlossen, daB der 
Liquor verschiedenen Quellen entstammt. 

Bei der Beschreibung der pathologischen Anatomie und bei der 
Besprechung der Differentialdiagnose der serosen Meningitis wollen wir 
die diffusen Formen von den circumscripten trennen, da beide Formen 
auch in klinischer und therapeutischer Hinsicht ganz verschiedene 
Gberlegungen crfordern. Zweifellos ist die diffuse Form die haufigere. 
SchultheiB findet diese Tatsache erklarlich, da sich der Liquor cerebro- 
spinalis in einer bestandigen Stromung befindet, die durch die Atmung 
(inspiratorisch und exspiratorisch verschieden gefiillte Venenplexus), 
die Pulsation der arteriellen GefaBe und durch einen gewissen Sekre- 
tionsdruck unterhalten wird. Infolgedessen werden Entziindungserreger 
verhaltnismaBig rasch fortgeschleppt, ein akut entzundlicher ProzeB 
neigt zu schneller Verbreitung in die Nachbarschaft. Dazu kommt, 
daB der Liquor nur sehr wenig Fibrinogen e nth alt, wie denn der EiweiB- 
gehalt des Liquors iiberhaupt sehr gering ist (nach Qu i nckeO, 2-0,5 °/ 00 ); 
<laher wird auch die Fibringerinnselbildung, die gewohnlich den ersten 
AnstoB zur Abkapselung eines entzundlichen Prozesses gibt, nur spar- 
lich sein. Bonninghaus hat die diffuse Form in eine Meningitis serosa 
externa (= Meningoencephalitis) und eine Meningitis serosa interna 
s. ventricularis geschieden. Ein prinzipieller Unterschied zwischen den 
beiden Formen besteht wohl nicht (Finkelnburg 38 ), Miinzer 85 ), 
Schultze 126 ), da ja auch der Plexus chorioideus, der bei der Meningitis 
serosa interna die Hauptrolle spielt, nur ein schon in Fotalzeiten ver- 
lagerter Teil der Leptomeninx ist. Die pathologisch-anatomischen 
Befunde sind nicht sehr zahlreich, da bei dem relativ gutartigen Cha- 
rakter dieser Erkrankung nur selten eine Autopsie moglich ist. In 
den akuten Fallen ist die Dura gespannt und hyi>eramisch, in chroni- 
sehen Fallen findet man diffuse oder partielle Yerdickungen und \'er- 
wachsungen mit den weichen Htiuten. Die Arachnoidea kann makro- 
skopisch vollig intakt erscheinen oder leichte Yerdickungen aufweisen, 
in ihren Maschen findet sich ein klares oder wenig getriibtes, nur selten 
ein gelatinoscs (Bonninghaus 14 ), NeiBer-Pollack 89 ) Exsudat. Die 
Pia ist in den akuten Fallen ebenfalls entziindlich gerotet und odematos 
(xler stellenweis leicht verdickt. Die Yentrikel konnen normal oder 


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470 


H. Ruhe: Uber die nosologische Stellung und Differential- 


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erweitert sein, und gerade in chronischen Fallen kann der Ventrikel- 
hydrops derart in die Augen fallen, dal3 die inikroskopisch nachweis- 
baren Veranderungen der Meningen friiher vielfach iibersehen oder in 
ihrer Bedeutung fiir die Entstehung des Hydrocephalus nicht erkannt 
sind; derartige Fillle sind dann vielfach als ,,Hydrocephalus idiopathi- 
cus“ bezeichnet (Margulis 79 ). In einem Teil der Fillle hat man an den 
Hirnhauten gar keinen Befund erheben kbnnen: vielleicht handelt es 
sich dabei gar nicht um eine Meningitis serosa, sondern es hatte ein 
Krankheitsbild \ r orgelegen, das nur klinisch eine gewisse Ahnlichkeit 
mit der serosen Meningitis besaB. Mikroskopisch sind als Zeichen der 
Entziindung in den Meningen GefaBerweiterungen und peri vasculare 
Zellanh auf ungen nachgewiesen, in chronischen Fallen Verdickungen der 
Bindegewebsbalken, die durch Wucherungen der Bindegewebszellen und 
Endothelien der Pia hervorgenifen sind (v. Hansemann 58 ). Die Be- 
funde, die am Plexus und am Ventrikelependym erhoben sind, sind 
nicht einheitlich. In einem Teil der Falle waren iiberhaupt keine Ver¬ 
anderungen nachweisbar (Beck 7 ), Finkelnburg 38 ), Grober 34 ), 
Schultze 123 ), Raymond-Claude 109 ), oder alter man fand teils dif¬ 
fuse, teils warzige Verdickungen des Plexus und des Ependyms, die 
rein odematos waren oder auf entziindliche Erscheinungen zuriick- 
gefiihrt wurden. Es handelt sich im wesentlichen um Hyperamie, 
perivasculare Infiltrate und Wucherungen der vcrschiedenen Gewebs- 
teile des Plexus und um Veranderungen des Ependyms, die man als 
,,Ependymitis granularis“ bezeichnet. Allerdings mull man sich daran 
erinnern— worauf Makoto Saito besonders aufmerksam macht 78 ) —, 
daII der Druck des gestauten Liquors reaktive Gewebsveranderungen 
hervorrufen kann, sie bestehen in venoser Stauung, odematoser An- 
schwellung des Bindegewebes, in Quellung, Bliihung und Wueherung 
der Epithelien. Margulis 79 u. 80 ) dagegen hat als charakteristisch fiir 
Stauungshydrocephalus eine Verdickung der subejiendymaren Gliafaser- 
schicht und eine (unbedeutende) Hyperplasie der Ependymbekleidung 
bezeichnet. Die ,,Ependymitis granularis“ will er als Zeichen einer 
kongenitalen Entwicklungsstorung betrachten, die vielleicht auf der 
Basis eines entziindlichen oder der Entziindung nahestehendeu Pro- 
zesses im Ependym entsteht, und die um die entziindlichen Herde und 
die verodeten GefaBe herum zu einer herdweisen Gliahyperplasie fiihrt. 
Man sicht, daB die Befunde einer weiteren Klarung bediirfen: und es 
wird im Einzclfall nicht immer leicht zu entseheiden sein, ob die 
geschilderten Veranderungen nun primiVer oder sekundiirer Natur sind. 

Auch die Entstehung des Hydrocephalus hat zu den verschie- 
densten Gberlegungen Veranlassung gegeben. So miBt Makoto Saito 
der Beteiligung des Plexus und des Ependyms beim Zustandekommen 
und bei der Unterhaltung des Hydrocephalus iiberhaupt nur eine geringe 


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diagnose der sogenannten Meningitis serosa. 


471 


Rolle bei, er bezeichnet die Verlegnngen der AbfluBwege als maB- 
gebend. Auch Weber 137 ) komrat auf Grand eines eingehenden Stu- 
diums zu dem SchluB, daB zu der vermehrten Liquorproduktion stets 
noch ein zweiter Faktor hinzutreten miisse, namlich entweder eine 
Herabsetzung der Widerstandskraft der Ventrikelwande (durch ent- 
ziindliche oder degenerative Veranderangen) oder irgendein AbfluB- 
hindernis. Letzteres kann hergestellt werden durch eine Verlegung des 
venosen Blutabflusses oder der lymphatischen AbfluBwege. Wahrend 
der VerschluB der Vena magna cerebri — und eventuell der Sinus durae 
matris — stets auf dem Wege der Stauung und Transsudation zu einem 
Ventrikelhydrops fiihrt, sind bei der Behinderung des Liquorabflusses 
verschiedene Entstehungsmoglichkeiten in Betracht zu ziehen. Zunachst 
ist ein VerschluB des Foramen Magendie bzw. der Aperturae laterales 
(Foramina Luschkae) durch direkte Anpressung der Decke des IV. Ven- 
trikels gegen die Innenflache des Os occipitale oder den Gegendruck 
der gefiillten Zisternen moglich (Bonninghaus), oder es sind Ver- 
klebungen bzw. Verwachsungen der Meningen vorhanden. Nach Bbn- 
ninghaus soli auch ein ,,aktiver“ VerschluB des Aquaeductus cerebri 
vorkommen: die Tela chorioidea soli durch einen ErguB in den III. Ven- 
trikel mitsamt den von ihr nach oben gezogenen und gedehnten Vier- 
hiigeln und dem Pons gegen den Ausschnitt des Tentorium gepreBt 
werden und dabei eine Verzerrang bzw. volligen VerschluB des Aquae¬ 
ductus hervorrafen. Goppert ist der Ansicht, daB durch den Drack 
der erweiterten Hinterhorner von oben und seitlich auf das Kleinhirn 
eine Anpressung dieses Organes gegen die Medulla oblongata herbei- 
gefiihrt werden kann, wodurch die Kommunikation zwischen IV. Ven- 
trikel und Subarachnoidalraum aufgehoben wurde. Ferner kann — 
wenn vielleicht auch seltener — durch Verlegung der Liquor abfiihren- 
den perivascularen Lymphraume der AbfluB des Liquors durch die 
Spalten der Ventrikelwand unmoghch gemacht werden (Weber 138 ), 
Margulis 79 ). Endlich konnen durch einen Ventrikelhydrops die 
corticalen Subarachnoidalraume zwischen Hirn und Knochen platt- 
gedriickt werden und dadurch der AbfluB des Liquors durch die Arach- 
noidalzotten in die venosen Sinus vermindert oder gar aufgehoben 
werden (Quincke 107 ). Ich habe die Ansichten der verschiedenen 
Autoren nur registriert, um zu zeigen, wie verschieden man sich die 
Entstehung eines Hydrocephalus vorstellen kann. Die Unsicherheit in 
der Erklarung liegt zum Teil darin begriindet, daB man iiber die Re- 
sorptionsverhaltnisse des Liquor cerebrospinalis nicht genau orientiert 
ist. Doch scheint aus neueren, von Frazier mit Tuscheinjektionen 
(in die Ventrikelraume) angestellten Versuchen (zit. nach Schlapfer 120 ) 
hervorzugehen, daB die perivascu laren Lymphraume bei der Resorption 
des Liquors nur eine untergeordnete Rolle spielen. Es werden sich bei 


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H. lluhe: t'ber die nosologische Stellung und Differential- 


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del* Entstehung des Hydrocephalus ex meningitide also wohl entziind- 
liche und mechanische Momente in wechselnder Weise kombinieren*). 

Der Ventrikelhydrops bei Meningitis serosa kann so groB sein, dad 
er das Infundibulum blasenartig vorwolbt. Derartige Befunde sind 
mehrfach erhoben worden (Finkelnburg 36 ), Grober 54 ), Kupfer- 
berg 75 ), Oppenheim 92 ) und haben zu interessanten Gberlegungen 
gefiihrt. Zunachst hat Meltzer 83 ) einen derartigen Hydrocephalus e 
meningitide serosa fiir die Entstehung des Turmschadels verantwortlich 
gemacht. Er ist der Ansicht, <Ial3 der bestandige Druck eines Hydrops 
ex meningitide auf die Nahtrander eines rachitischen Knoehens als 
Ossifikationsreiz wirkt und so zu einer pramaturen Synostose der 
Schadelbasisknochen fiiiire. Damit wiirde auch das verhaltnismaliig 
haufige Zusammentreffen von Turmschadel und Opticusatrophie (nach 
Uhthoff 134 ) in 65°/ 0 aller Falle) in Einklang zu bringen sein, die man 
sich entweder auf Grund einer Stauungspapille — Druck des Infundi¬ 
bulum auf das Chiasma — oder einer Neuritis optica — Fortsetzung 
der Entzundung auf die Scheide des N. opticus — entstanden denken 
kann. Durch die Lumbalpunktion ist nachgewiesen, dab im Verlauf 
des allmahlich zur Erblindung fiihrenden Prozesses intrakranielle Druck- 
steigerungen vorkommen, die ebenfalls zu der Annahme einer ursach- 
lichen Meningitis serosa passen wiirden. Eine weitere interessante 
Feststellung hat Goldstein 49 )— 52 ) gemacht; dieser Autor hat ver- 
schiedene Falle beschrieben, die zunachst durchaus den Eindruck eines 
Hypophysistumors machten. Die weitere Beobachtung jedoch und 
auffallige Abweichungen von dem sonstigen Verlauf einer derartigen Er- 
krankung machten die Diagnose eines Tumors unwahrscheinlich. 
Goldstein nimmt nun an, daB diese Falle auf eine Meningitis seroj-a 
zuruckzufiihren seien; der Druck des vorgewolbten Infundibulum be- 


*) In der ainerikanischen Literatur ist neuerdings ein Verfahren angegeben. 
um den durch VentrikelverschluB bedingten Hydrocephalus“interims (= H. 
„obstructivus“ der Amerikaner) bereits intra vitam zu erkennen: von einer Ven- 
trikelpunktionsstelle aus wird Phenolsulfophthalcin in die Ventrikel injiziert. 
Bei VerschluB der AbfluBwege ist die Substanz gar nicht oder erst spat im Lum- 
balpunktat nachweisbar, wahrend sie bei offener Kommunikation sofort auftritt. 
AuBor dieser Form unterscheiden die Amerikaner (Frazier) noch einen Hydro¬ 
cephalus ,,non absor])tus“, der durch Verkleinerung der resorbierenden Flachen 
(infolge Entzundung oder Verwachsung), durch toxische Substanzen oder venose 
Stauungen hervorgerufen wird (ebenfalls durch die Phthaleinprobe nachweisbar: 
I ccm intralumbal und fortlaufende Urinkontrolle), einen Hydrocephalus ,,hyper- 
secretivus" infolge pathologisch vermehrter Absonderung von Liquor cerebrospi- 
nalis und einen Hydrocephalus „occultus", dessen Atiologie noch unklar ist. Die 
letzte Form soil meist Kinder betreffen und sich durch eine moist nur ganz geringe 
Erhohung des intrakraniellen Drucks auszeichnen. Nach der Mitteilung Schlaep- 
fers 120 ) sind augenblicklich weitere ausgedehnte Untersuchungen im Gauge, 
um die Atiologie des Hydrocephalus endlich klarzustcllen. 


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diagnose der sogenannten Meningitis serosa. 


473 


wirke — genau wie ein Tumor — eine Schjidigung der Hypophyse mit 
den entsprechenden Ausfallserscheinungen. Wie ein Fall von Gold¬ 
stein und unser Fall IV beweisen, kann der anhaltende Druck des prall- 
gefullten Infundibulum im Laufe der Jahre sogar zu einer Knochenusur 
der Selle turcica fiihren, die sich bereits intra vitam rontgenologisch 
nachweisen lalit. Wir werden dieses interessante Krankheitsbild spater 
noch ausfiihrlicher zu besprechen haben. 

Es ist ohne weiteres verstandlich, da!3 durch den Druck des in den 
Maschen der Arachnoidea angesammelten Exsudats die Hirnsubstanz 
in Mitleidenschaft gezogen wird. So ist besonders in den akuten Stadien 
die Gehirnoberfliiehe anamisch, die Gyri sind abgeplattet, das ganze 
Gehirn kann sogar gegen die Schadelbasis zusammengepreBt werden 
(Payr 97 ). Abgesehen von diesen rein mechanisch bedingten Verande- 
rungen haben verschiedene Beobachter (Fuchs 43 ), Raymond- 
Claude 109 ), Bonninghaus 14 ), Muskens 86 ), Schultze 125 ) in der Hirn¬ 
substanz selbst entziindliche Prozesse nachweisen konnen und vor- 
geschlagen, derartige Zustande als ,,Meningoencephahtis“ zu bezeich- 
nen. Bonninghaus ist der Ansicht, dab jcde Meningitis serosa externa 
mit einer Entziindung der Hirnoberflache verbunden sei; nur sei diese 
nicht so auffallig und daher weniger beachtet. Er fand ein entziind- 
liches Odem und starkste Hyperamie der Hirnsubstanz, die GefaBe 
vielfach von Rundzellen umgeben, aber auch mitten zwischen den ner- 
vosen Elementen Herde von Rundzellen. Dieselben Veranderungen 
hat Schultze beschrieben. Eine besonders sorgfaltige Untersuchung 
des Gehirns bei einem Fall von Meningitis serosa circumscripta ver- 
danken wir Raymond und Claude. Sie fanden die ganze Hemi- 
sphare der betreffenden Seite hyperamisch und ungleichmaBig odematos, 
in der niiheren Umgebung der Cyste befanden sich mihare encephali- 
tische Herde, einige Male urn kleine Arterien gruppiert, meist aber 
unabhangig von den GefaBen. Die Capillaren waren erweitert, ihre 
Endothelien geschwollen, und von einem Leukocytenmantel umgeben. 
Dazu traten ausgedehnte Veranderungen der nervosen Elemente: die 
Ganglienzellen gewuchert, im Aussehen bisweilen den Langhansschen 
Riesenzellen ahnlich. Die Gliafasern erschienen vermehrt; stellenweise 
waren offenbar Cbergange zur Sklerose vorhanden. Alles also Ver¬ 
anderungen, wie wir sie auch sonst bei einer Encephalitis finden. End- 
lich mag noch eine Beobachtung von Muskens erwahnt werden, der 
bei der Operation eines vermeinthchen Hirntumors abgesehen von den 
Zeichen einer Meningitis serosa circumscripta — lokale Liquoransamm- 
lung und Triibung der Pia — eine starke Injektion der CorticalgefaBe 
und eine erhdhte elektrische Erregbarkeit des betreffenden Rinden- 
abschnittes feststellen konnte. Bei den innigen Beziehungen, die zwi¬ 
schen Pia und Hirnrinde bestehen, sind derartige Mitteilungen nicht 


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474 H. Ruhe: fiber die nosologische Stellung und Differential- 

verwunderlich. Eine gleichzeitige Affektion tier Hirnrinde gehort ja 
auch bei alien anderen Meningitiden zu den alltaglichen Erscheinungen, 
ohne daB man klinisch immer in der Lage ware, die Encephalitis neben 
der Meningitis zu erkennen. In den Fallen, in denen die encephalitische 
Komponente schon klinisch feststellbar sein sollte, wiirde es keine Be- 
denken haben, den Ausdruck einer Meningo-encephalitis zu gebrauchen. 

Nun kann es vorkommen, daB sich im Verlaufe einer diffusen serosen 
Meningitis der entziindliche ProzeB an einer umschriebenen Stelle 
lokalisiert oder aber von vornherein circumscript auftritt. Schon 
Strobe 131 ) hat zartwandige Cysten mit klarem serosen Inhalt beschrie- 
ben, die sich im Aracknoidalraum des Gehirns und Riickenmarks finden 
konnen und wahrscheinlich als Folge einer chronisch-entzundlichen 
Abkapselung einzelner Bezirke der Arachnoidea zu deuten sind. Die 
ersten klinischen Beobachtungen bezogen sich auf entziindliche Cysten 
im Bereich des Riickenmarks, die einen extramedullaren Tumor vor- 
getauscht hatten (Literatur bei SchultheiB 124 ). Placzek und 
Krause 102 ) haben dann spater auch das Vorkommen cerebraler cir- 
cumscripter seroser Meningitiden mit tumorartigem Symptomenkomplex 
l>ewiesen. Wie haben wir uns die Entstehung derartiger entziindlicher 
Cysten vorzustellen? Schon der anatomische Bau der Arachnoidea 
bildet eine gewisse Predisposition. SchultheiB 124 ) weist auf die auBer- 
ordentlich lockere Beschaffenheit der Arachnoidea hin, die mit ihren 
zahlreichen feinen bindegewebigen Maschen ganz l)esonders geeignet 
erscheint, Fliissigkeit in vermehrtem MaBe aufzunehmen. Dadurch, 
daB die Arachnoidea die Hirnfurchen briickenartig iiberzieht, entstehen 
zwischen Pia und Arachnoidea bereits normalerweise mehr oder minder 
abgeschlossene Raume, die namentlich an der Hirnbasis in Form der 
Zisternen stark ausgebildet sind. Und in der Tat finden wir die hintere 
Schadelgrube als Pradilektionsort circumscripter Meningitiden ; vielleicht 
tragen dazu auch die nahen Beziehungen des Gehbrapparates bei, von 
dem aus sich gar nicht selten eine umschriebene serose Meningitis ent- 
wickelt (Bara ny 5 ) u. 6 ). Besonders bevorzugt sind die Cisterna cere- 
bello-medullaris und die Cisterna nervi acustico-facialis. Fiir die an 
der Hirnkonvexitat sich entwickelnden circumscripten Meningitiden 
konnen wir — abgesehen von den direkt traumatisch entstandenen — 
im Einzelfall keine Erklarung abgeben, weshalb sich der ProzeB gerade 
an dieser oder jener bestimmten Stelle lokalisiert hat. Die weiteren 
Vorgange miissen war uns so denken, daB sich zunachst zwischen ein- 
zelnen Maschen der Arachnoidea entziindliche Verklebungen bilden, die 
allmahlich zum volligen AbschluB eines derartigen praformierten Rau- 
mes fiihren. Gleichzeitig findet aus den die Cyste begrenzenden Ge- 
faBen und Lymphscheiden eine Exsudation statt. Wenn nun die peri- 
vasculiiren Lymphraume, die ja einen Teil der AbfluBwege des Liquors 


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diagnose der sogenannten Meningitis serosa. 


475 


darstellen, infolge der Entziindung ebenfalls mehr oder weniger verlegt 
sind, so kann es leicht zu einer akuten Druckerhohung innerhalb der 
Cyste kommen. Diese kann durch Druck auf die Hirnrinde lokale 
Stauungserscheinungen und infolgedessen eine noch vermehrte Fliissig- 
keitsabsonderung (Transsudation) hervorrufen (SchultheiB). Die 
Moglichkeit, daB ein abgeschlo3sener Liquorbezirk bei vollig normaler 
Beschaffenheit der angrenzenden Hirnteile und Hirnhaute allein durch 
eine gesteigerte Liquorproduktion zu einer komprimierenden Cyste an- 
wachst, wird von SchultheiB bestritten; es rniissen stets entziindliche 
Prozesse hinzutreten. Bei den mikroskopisch niiher untersuchten 
Fallen fanden sich denn auch bisher stets entweder frisch entziindliche 
Veranderungen oder Residuen einer Entziindung (Axhausen 4 ), Op- 
penheim-Borchardt 96 ), Placzek-Krause 102 ), Raymond-Clau- 
de 109 ), SchultheiB 124 ), Schultze 125 ), also zellreiches, von zahl- 
reichen Capillaren durchzogenes, neugebildetes Bindegewebe, bei voran- 
gehenden Traumen als Reste einer Hamorrhagie teils intra- teils extra¬ 
cellular gelegenes Blutpigment. In spateren Stadien treten die akut 
entziindlichen Erscheinungen zuriick; es finden sich derbe Strange aus 
narbig umgewandeltem Bindegewebe, •Verdickungen der Arachnoidea, 
die vollkommen derb und sehnig verandert sein kann (Oppenheim- 
Borchardt). Der Inhalt der Cysten ist im allgemeinen steril (Wen- 
del 144 ). Chemische Untersuchungen des Cysteninhaltes sind nach den 
Angaben von SchultheiB und nach den eigenen Erfahrungen bisher 
offenbar nicht ausgefiihrt, wohl aus dem Grunde, weil es sich meist 
um iiberraschende Befunde handelte. Vielleicht ist es angebracht, in 
Zukunft mehr darauf zu achten, darnit auch auf diese Weise die ent¬ 
ziindliche Natur des betreffenden Prozesses sichergestellt wird. Wie 
stark der Druck ist, den soldi eine Cyste auf die Nachbarorgane aus- 
iiben kann, laBt sich aus den Operationsberichten ersehen. Bei Eroff- 
nung des Schadels wird die Dura meist pulslos und gespannt angetrof- 
fen, der mechanische (und entziindliche) Reiz kann zu Verdickungen 
der Dura und Verwachsungen mit dem Schadel und der Leptomeninx 
fiihren. An den Hemispharen kann die Oberflache schiisselformig ein- 
gedriickt (Schultze 126 ) und die Hirnsubstanz bis auf wenige Milli¬ 
meter — wie in dem von SchultheiB beschriebenen Fall — verdiinnt 
sein. Wenn der ProzeB sich in einer der Zisternen an der Schadelbasis 
lokalisiert hat, kann das Kleinhirn infolge des von der Cyste ausgeubten 
Druckes mit groBer Gewalt prolabicren (Bonhoffer 18 ), Hildebrand 64 ), 
Oppenheim-Borchardt 96 ), Payr 97 ) — im letzten Fall war das 
Kleinhirn vollig gegen das Tentorium emporgedrangt, klinisch waren 
schwere Atemstorungen vorhanden). Wiederholt wird berichtet, daB 
liei Erbffnung der Cyste die FKissigkeit im Strahl hervorspritzte. So 
erscheint es auch ohne weiteres verstandlich, wenn derartige — man 
Archiv fiir Psychiatrie. Bd. 67 . 32 


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47(5 H. ltuhe: Uber die nosologisehe Stellung und Differential- 

konnte beinahe sagen — ,,Neubildungen" intra vitam dieselben allge- 
raeinen und lokalen Symptome hervorrufen konnen wie jeder andere 
raumbeschrankende Prozeb im Schadelinneren. 

Das Symptomenbild der serosen Meningitis ist ungemein mannig- 
faltig; und gerade dieser proteusartige Charakter, der wechselvolle Be- 
ginn und Verlauf, bildet die Ursache fiir die Schwierigkeit der Erken- 
nung dieser Krankheit. Wir werden sehen, dab der Ausspruch Schult- 
zes 125 ), die Diagnose der Meningitis serosa sei — wie bei den Muttern 
im ,,Faust' 1 — „Verlegenheit“, auch heute noch fiir uns nicht einer 
gewissen Berechtigung entbehrt. Wir wollen zunachst die diffuse 
Form der serosen Meningitis besprechen. Da waren zuerst die 
Falle mit akutem Verlauf zu nennen. Der plotzliche Beginn mit 
Schiittelfrost, wiederholtem Erbrechen, heftigen Naekenschmerzen und 
bald auftretender Bewubtseinstr iibung bietet absolut nichts Charak- 
teristisches. Das Fieber, das bis auf 40° steigen kann (Axhausen 4 ), 
Eicbhorst 32 ), die hochgradige Nackensteifigkeit, dazu der fiir Menin¬ 
gitis typische Kahnbauch, die Hauthyperasthesie, das Auftreten von 
Kriimpfen oder Lahmungen, der Ubergang in vollige Somnolenz und 
eventuell der Tod im Koma nach wenigen Tagen oder gar Stunden, all 
diese Erscheinungen begegnen uns in gleicher Weise auch bei den an- 
deren Formen der Meningitis. Oft wird erst die Sektion Aufklarung 
versehaffen (Beck 7 ). Man hat dieses Krankheitsbild mit dem nicht 
gerade gliicklich gewahlten Namen der ,,Apoplexia serosa* 1 bezeichnet 
(Heidenhain 61 ), Fcer 34 ). Die Differentialdiagnose wird meist eine 
epidemische Cerebrospinalmeningitis (und zwar die als ,,Meningitis 
siderans** (Lewandowsky 76 ) bezeichnete akute Form) oder eine eitrige 
Meningitis anderer Herkunft autzuschalten haben. Ein wichtiges Hilfs- 
mittel zur Unterscheidung ist die Lumbalpunktion, die wohl in den 
meisten Fallen die Diagnose sichern wird, obgleich auch bei einer 
Meningitis purulcnta ein klares Punktat ohne Mikroorganismen gefun- 
den werden kann, wenn namlich der eitrige Prozeli irgendwie abgekap- 
selt ist (Matthes 81 ). Kronig 73 ) bezeichnet als fiir die akute serose 
Meningitis charakterischen Lumbalpunktionsbefund eine groliere Bei- 
mengung roter Blutkorperchen (ebenso Bregman-Krukowski 23 ), 
l)ei den infektiosen Formen ein mehr oder minder reichliches Vorhan- 
densein von Leukocyten. Aber auch Lynrphocyten sind bei akuten 
Fallen im Lumbalpunktat beobachtet (Bregman-Krukowski). Der 
Liquor steht meist unter hohem Dmck, ist klar oder nur leicht getiiibt 
und hat einen erhohten EiweiBgehalt (positive Globulinreaktionen); 
spontane Gerinnung tritt nur selten ein (Bregman-Krukowski). Die 
Mitteilungen iiber den Ausfall der Kolloidreaktionen bei Meningitis 
serosa sind nicht sehr zahlreich. Aus einer Zusammenstellung von 
Wcigeldt 139 ) ist zu ersehen, dab die Goldsolreaktion bei 3 Fallen von 


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diagnose der sogenannte 1 Meningitis serosa. 


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Meningitis serosa — im Gcgensatz zu den tibrigen For men der Meningitis 
— negativ ausfiel. Andrerseits hat Stern 128 ) bei einer Meningitis serosa 
nach Pneumonie, die mit starker Pleocytose und starker Globulinfallung 
einherging, einen Unterschied im Ausfall der Reaktion gegeniiber der 
eitrigen und tuberkulosen Meningitis nicht beobaehten konnen. Es 
scheint demnach fraglich, ob die Koiloidreaktionen zur Sicherung der 
Diagnose im Einzelfall beitragen konnen. Ein positiver Bakterien- 
befund im Liquor scheint bisher nicht oft erhoben zu sein (s. o.)- Wenn 
aber von vornherein oder im weiteren Yerlauf der Krankheit Bakterien 
gefunden werden, so kann natiirlich auch das Resultat der Liquorunter- 
suchung im Stieh lassen, wie ein Fall von Bliihdorn 12 ) beweist, bei 
dem sich im AnschluB an eine Pneumonie eine Meningitis entwickelte, 
die zunachst rein seros war — mit negativem Bakterienbefund — und 
erst spiiter unter gleichzeitigem Auftreten von Frankclschen Diplo- 
kokken in eine eitrige Pneumokokkenmeningitis iiberging. Vielleicht 
kann tier Naehweis irgendeines der atiologischen Momente — besonders 
Infektion oder Trauma — die Diagnose auf die rechte Bahn lenken, 
vielleicht auch der schnelle Riickgang der Symptome, wie in dem 
hereits erwahnten Fall von Feer 35 ). tTberhaupt ist es von Wiehtigkeit, 
l>ei jedem Fall von Meningitis die Moglichkeit einer Meningitis serosa 
in Betracht zu ziehen. Das hat auch Gbppert 48 ) erst kiirzlich wieder 
betont. Er gibt an, da!3 er in den letzten .Tahren haufiger als sonst aus- 
gepragte Meningitiden mit serosem Exsudat gesehen lmbe, die klinisch 
vollig einer akut eitrigen oder einer tuberkulosen Meningitis glichen, 
und er ist an diese Form der serosen Meningitis so gewohnt, daB er 
unwillkurlich selbst bei der ausgesprochensten Hirnhautentzundung 
stets zuerst an die serose Form dieser Erkrankung denkt. Einen ge- 
wissen Anhaltspunkt fUr die Diagnose kann vielleicht auch die Anamnese 
ergeben, wenn niimlich bereits friiher ahnliche Attacken von menin- 
gitischer Reizung und Hirndrucksymptome vorgekommen sind oder 
der Naehweis eines Hydrocephalus, der im gleiehen Sinne zu deuten 
ist (Gerhardt 48 ), Rieboldt 111 ), Quincke 105 ), Schultze 125 ). Phniger- 
maBen charakteristisch kann auch ein auffallend intermittierender Ycr- 
lauf sein (Eichhorst 32 ), Gerhardt, Bregman-Krukowski, Miin- 
zer 86 ), Quincke 105 , 106 ). Im allgemeinen soil nach Quincke eine 
Meningitis purulenta akut beginnen, auch die einzelnen Symptome, wie 
Kopfschmerz, Nackensteifigkeit, Fieber usw., sollen starker ausgepriigt 
sein als l)ei der Meningitis serosa, die haufig einen Wechsel in der In- 
tensitat der Symptome erkennen ljiBt. Die Angaben iiber die Stauungs- 
papille lauten versehieden; man erhiilt aber den Eindruck, als sei sie 
nicht sehr haufig (Brasch 22 ), Bregman-Krukowski 23 ), Eich¬ 
horst 32 ), Kampherstein 69 ), Blumenthal 13 ), Bonninghaus 14 ), 
Quincke 10 ®); dagegen Beck 7 ), so daB also auch daraus kein Unter 

32* 


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H. Ruhe: (Jber die nosologisehe Stellung und Differential- 


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scheidungsmerkmal gegeniiber anderen akut verlaufenden Formen der 
Meningitis hergeleitet werden kann. Noch am wertvollsten fur die 
Diagnosenstellung erscheint mir nach allem demnach das Ergebnis 
der Lumbalpunktion. ,,Im iibrigen ist fur die akute Meningitis serosa 
nicht ein Symptom oder ein Symptomenkomplex charakteristisch, son- 
dern allein der Ausgang, und zwar der meist unerwartet giinstige Aus- 
gang”, dieses Wort von Bonninghaus gilt auch fiir uns heute noch 
in weitgehendem Mafic. 

Als lehrreiches Beispiel fiir die akut verlaufende Meningitis serosa 
mag folgender vor einiger Zeit in der Gottinger Nervenklinik beobachtete 
Fall dienen. 

Fall I: K. S., Schuler im Alter von 17 Jahren, hatte als Kind hin und wieder 
an Kopfschmerzen gelitten, war aber sonst nie ernstlich krank. Nach den An- 
gaben des Hausarztes ist K. etwas sensitiver Natur. Vor etwa 4 Wochen hat er 
eine Grippe durchgemacht, fiihlte sich danach wieder vollig gesund. 

Am ll.Juli 1921, einem ungewohnlich heiDen Tag, ging K. mittags zum 
Baden; nach dem Bade saB er noch langere Zeit mit unbedecktem Kopf in der 
Sonne. Als er nach Hause kam, klagte er iiber Kopfschmerzen und fiihlte sich 
auch sonst nicht ganz wohl. Trotzdein ging er am folgenden Tag zur Schule. 
Mittags kehrte er mit starken Kopfschmerzen heim und muBte sich bald zu Bett 
legen. Am anderen Morgen fanden ihn die Eltern bewuBtlos mit zerbissener 
Zunge im Bett liegend. Nach den Angaben der Eltern sind auch Krainpfe auf- 
getreten, die sich anscheinend immer nur auf ein Glied beschriinkten; dabei er- 
folgte mehrmals Erbrechen. Der herbeigerufene Arzt fand den Knaben in vollig 
bewuBtlosem Zustand. Pat, fiihrte dauernd meist langsame, ganzlich arhyth- 
niische, unkoordinierte Bewegungen mit den Gliedern aus, fuhr ziellos mit den 
Armen in der Luft umher und bewegte die Beine hin und her. Krampfe wurden 
nicht mehr beobachtet. Der Schadel war nirgends klopfempfindlich, die Pupillen 
etwas erweitert. auf Licht und Konvergenz prompt reagierend. Erscheinungen 
von seiten der Hirnnerven konnten nicht festgestellt werden. Die Zungenspitze 
zeigte starke frische Quetschwunden. Kernig negativ. Die Bauchdecken waren 
etwas eingezogen. Samtliche Reflexe in normaler Weise vorhanden, auch die 
Motilitat war anscheinend nicht in groberer Weise gestort. Puls regelmaBig, kraftig, 
84 Schlage pro Minute, Temperatur 37,2°. Auf arztlichen Rat wurde der Knabe 
noch am selben Tag in die Nervenklinik verlegt. 

Die BewuBtlosigkeit hielt den ganzen Tag iiber an; die Atmung war etwas 
schnarchend. Auffallend waren die haufigen krampfhaften Flexionsstellungen 
der Arme und Beine, die Muskelspannung war deutlich vermehrt. Noch am 
Abend desselben Tages wurde die Lumbalpunktion vorgenommen. Der Druck 
betrug (ohne Pressen!) 220 mm H 2 0, der Liquor war klar, Nonne —, 3 */ 8 Zellen 
im cmm; es wurden 13 ccin abgelassen. Die Temperatur betrug am Abend 37,6° 
und stieg am niichsten Morgen (14.) auf 39 = . 

Auch am folgenden Tag hielt der komatose Zustand an; dabei fiel zeitweise 
eine groBe, tiefe, etwas beschleunigte Atmung auf, bei der die Hilfsmuskeln in 
Aktion traten, ohne daB jedoch anscheinend inspiratorische Hindemisse zu iiber- 
winden waren. Die Patellarreflexe waren kaum noch auszulosen, die iibrigen 
Reflexe waren in normaler Starke vorhanden. Bei einer nochmaligen Punktion 
wurden lOccm Liquor abgelassen; der Druck war wesentlich niedriger als am 
Tage vorher, er stieg wahrend des Liquorabflusses allmahlich bis auf 150 mm, 
Nonne —, lg9 / 8 Zellen im cmm. Zahl der Lcukocyten im Blut 4900. 


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diagnose der sogenannten Meningitis serosa. 


470 


Wahrend des folgenden Tages hielt .sich die Temperatur dauernd uin 38°, 
die groBe Atmung verschwand, der Puls war anhaltend kraftig und regelmtiBig. 
Allmahlich begann der Patient mehr und mehr zu reagieren; er stohnte und 
machte Abwehrbewegungen, gegen Abend schlug er die Augen auf. Beim Vor- 
wartsbeugen des Kopfes war ein deutlicher Widerstand der Nackenmuskulatur 
ftihlbar, die Patellarreflexe fehlten fast vollig. Im Laufe der niichsten Nacht 
(vom 15. auf 16.) kam der Patient allmahlich zu sich, anfangs noch leicht be- 
nommen und schwerbesinnlich. Die Orientierung war nur mangelhaft, das Ver- 
standnis fiir seinen Krankhcitszustand fehlte vollig. Der Gedankenablauf war 
zunachst noch verlangsamt, die Auffassung erschwert. Anfangs klagtc der Patient 
iiber heftige Kopfschmerzcn, die sich jedoch im Laufe des Tages besserten Die 
Nackensteifigkeit w ar geringer geworden; die Patellarreflexe fehlten noch vollig. 
Sonst konnte kein von der Norm abw'eichender neurologischer Befund erhoben 
werden. 

Am folgenden Tag (17.) war das BewuBtsein wieder vollig vorhanden, nur 
eine leichte Unruhe und Erregbarkeit fiel noch auf. Der Patient fiihlte sich wohl 
und verlangte autzustehen. Die Temperatur war noch immer erhoht und hielt 
sich auch wahrend der niichsten beiden Tage zeitweise liber der Norm. In der 
Folgezeit erholte sich der Knabe auffallend rasch, Sclilaf und Appetit waren gut, 
das subjektive Befinden war ausgezeichnet. Irgcndwelche krankhaften Storungen 
konnten nicht mehr nachgewicscn werden. Die Gesundheit hat, wie Bcrichte 
der letzten Zeit ergeben (August 1922), angehalten. 

Zusammenfassung: Ein bisher stets gesunder Knabe erkrankt ziern- 
bch akut unter sell were n cerebralen Erscheinungen (BewuBtlosigkeit, 
Erbrechen, Krampfe, groBe Atmung), denen sich meningitische Sym- 
ptome (Kopfschmerzen, Nackensteifigkeit, erhohter Lumbaldruck mit 
Pleocytose) beimengten. Bei der Beurteilung des Krankheitsbildes 
muBte man anfangs sehr verschiedene Moglichkeiten in Betracht ziehen. 
Zunachst lag — namentlich bei dem jugendlichen Alter des Patienten 
— vielleicht der Gedanke am niichsten, dab eine Infektionskrankheit, 
gleichgiiltig welcher Art, vorliegen konnte, die unter dcrartigen cere¬ 
bralen Erscheinungen manifest wurde. Doch sprach der weitere Ver- 
lauf, das Fehlen aller sonstigen auf einen infektiosen ProzeB hindeuten- 
den Symptome gegen eine solche Annahme. Eine Uramie konnte auf 
Grund der sofort angestellten Urinuntersuchung mit Sicherheit aus- 
geschlossen werden. Fiir eine sonstige Intoxikation lagen ebenfalls 
keinerlei Anhaltspunkte vor. Der Gedanke, daB es sich uni eine akut 
einsetzende Meningitis handelte, riickte damit immer mehr in den 
Vordergrund; er wurde durch das Ergebnis der Lumbalpunktion be- 
statigt. Gegen die Annahme einer epidemischen Cerebrospinalmenin- 
gitis oder einer Meningitis tuberculosa konnte zunachst das Fehlen der 
Erreger im Liquor verwertet werden, vor allem aber der weitere Ver- 
lauf, das iiberraschend schnelle Verschwinden aller Symptome. Somit 
gewann die Annahme einer Meningitis serosa mehr und mehr an Wahr- 
scheinlichkeit und wurde durch den Verlauf bestatigt. 

Ob die vor 4 Woehen iiberstandene Grippe fiir den Ausbruch der 
Erkrankung verantwortlich zu machen ist, mag dahingestellt bleiben. 


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480 


H. Ruhe: Cber die nosologische Stellung und Differential- 


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Viol nahor liegt der Gedanke, da B die serose Meningitis durch die in- 
tensive Besonnung hervorgerufen ist, wird doeh auch in der Literatur 
die Insolation bei der Atiologie der Meningitis serosa erwahnt (We¬ 
ber 136 ). Vielleicht ist es angebracht, bei derartigen Fallen, bei denen 
die cerebrale Komponente so stark in den Vordergrund tritt, zwecks 
besserer Charakterisiening des Krankheitsbildes von einer Meningo¬ 
encephalitis zu sprechen. Besonders himveisen mochte ieh endlich noch 
auf die Lumbalpunktion, <lie in derartigen anfangs unklaren Fallen zur 
Sicherung der Diagnose ausschlaggebend sein kann, vor allera aber bei 
den akuten Fallen von seroser Meningitis unser wichtigstes therapeu- 
tisches Hilfsrnittel und mitunter von direkt lebensrettender Wir- 
kung ist. 

Noch schwieriger kann sich die Differentialdiagnose bei den chro- 
nischen Fallen der serosen Meningitis gestalten, die mit ihrem all- 
mahlichen Beginn und dein langsamen, oft wochenlangen Verlauf vor 
allem gegen die tuberkulose Meningitis abzugrenzen ist, wenngleich 
naturlieh auch bei den eitrigen Formen ein latenter und bei tuberku- 
losen ein akuter Verlauf radghch ist. Ich halte daher die genaue Be- 
schreibung eines solchen Fades fur wichtig, der im vergangenen Jalir 
in der hiesigen Nervenklinik beobachtet wurde; cr mag diese Schwierig- 
keiten erlautern. 

Fall II: F. F. aus M., Knabe von 8 Jaliren. Abgesehen von einer Grippe, 
die er vor 2 Jahren durchmaehte, war der Knabe bisher stets gesund. Die Mutter 
ist vor 2 Jahren etwas „lungenleidend“ gewesen, eine kleine Schwester leidet 
oft an ,.Lungenverschleimung“. Familienanamnese sonst o. B. Vor 7 Wochen 
wurde dem Knaben, der kurz vorher eine doppelseitige Mittelohrentziindung 
gehabt liatte, die Raehenmandel entfernt. Nach der Operation hat er sich vollig 
gesund gefiihlt. Am 10. VI. 1921 erkrankte er plotzlich mit starken Kopfschmerzen 
und haufigem Erbrechen; am folgenden Tage klagte er sehr iiber Xackenschmerzen, 
heill soil er sich zu Haus nicht angefiihlt haben, doch soli zuletzt etwas Fieber 
vorhanden gewesen sein. Das Kind wurde von der Mutter in die Ohrenklinik 
gebracht und von dort nach 2 Tagen der Nervenklinik iiberwiesen. 

Status am 14. VI. 21: Gut genahrter Junge mit gesunder Hautfarbe, aber 
auffallend ernstem, leidendem Gesichtsausdruck. Er liegt regungslos und apa- 
thisch. reagiert aber prompt auf Anruf. Es ist keine eigentliche Benommenheit. 
dagegen eine Schwerfalligkeit im Gedankenablauf zu bemerken. Der Schadel 
ist hinten angeblich starker druckempfindlich als vorn, auch der Warzenfortsatz 
wird als klopfeinpfindlich bezeichnet. Die Austrittsstellen des 1. Trigeminusastes 
sind beiderseits druckschmerzhaft. Pupillen o. B.; kein Nystagmus; Augenhinter- 
grund normal. Nackensteifigkeit angedeutet. Reflexe normal; nur der Babinski- 
sche Zehenreflex rechts ist zweifelhaft, mehrnmls positiv, links dauernd negativ. 
Patient kann nicht stehen, die Wirbelsaule biegt sich durch, den Kopf kann er 
nicht aufrecht halten. Schon beim Versuch, sich spontan aufzurichten, maclit. 
er ganz ungeschickte ataktische Bewegungen. Die Ataxie hat cerebellaren Typus. 
der Muskeltonus ist sehlaff, es ist aber keine eigentliche Hypotonic vorhanden. 
Beim Fingernasenversuch beiderseits geringe. beim Kniehackenversuch aus- 
gesprochene Ataxie. Adiadochokinesis ist links angedeutet, die Bewegungen 


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diagnose der sogenannten Meningitis serosa. 


481 


werden mit beiden Handen ungesehiekt ausgefuhrt. Beim Baranyschen Zeige- 
vereuch ergeben sich keine deutlichen Abweichungen. die Bewegungen sind aber 
gleiehfalls unsicher. Kernig positiv. Die Sensibilitat ist intakt. Temperatur 
36,8°. Der Puls ist klein und regelmaBig, 132 Schliige pro Minute. 

In den naehsten Tagen stieg die Temperatur allmahlich und erreichte am 
17. VI. 38°, bewegte sich dann dauernd iiber 37°, erreichte mitunter 37,8°. 
Am 15. wurde eine Lumbalpunktion ausgefuhrt: Druck 170 mm Wasser, Xonne + , 
Zellen 45 / s im cmm, Tuberkelbazillen nicht nachweisbar, VVa. —. Bei einer zweiten 
Punktion am darauffolgenden Tage betrug der Druck nur 10—20 mm (Verkle- 
bungen?). In den naehsten Tagen trat allmahlich Besserung ein; der Patient 
wurde frischer (euphorisch), bewegte die Beine besser, der Kopf fiel dagegen 
beim Aufrichten noch immer kraftlos nach vom oder hinten. Am 20. wurden 
beiderseits hinter dem Ohr und Kopfnicker Lymphdriisenschwellungen fest- 
gestellt, besonders rechts eine bohnengroBe druckschmerzhafte Druse. Der Ohren- 
befund ist negativ, nur geringe Einziehungen des Trommelfells. Wegen des an- 
fanglichen Verdachtes auf Meningitis tuberculosa wurde eine Tuberkulinkur 
durchgefiihrt, beginnend mit 0,001 mg und mit mehrtagigen Abstanden bis auf 
0,5 mg steigend, sie wurde ohne Beaktion vertragen. AuBerdem erhielt der Pa¬ 
tient IXa 10,0:300,0 3maltaglich 1 EBloffel, allmahlich steigend auf 6mal taglich 
1 EBloffel. Eine am 20. ausgefiihrte Lumbalpunktion ergab einen Druck von 
150 mm, Xonne —, 1# / 3 Zellen. 

25. VI. Der Opisthotonus ist geringer. Die cerebellaren Svmptome gehen 
allmahlich zurtick. Patient kann sich allein im Bett aufrichten und aufrecht 
sitzen. Die Schwellung der Suboccipitaldriisen ist wieder vollig abgeklungen. 
Samtliche Reflexe normal. Kernig noch positiv, 1 > r. Lumbalpunktion: Druck 
von 150 mm. 

1. VII. Die Besserung schreitet fort. Patient vermag sich aufrecht hinzu- 
stellen. Die wiihrend des ganzen Krankheitsverlaufes auffallende Euphorie be- 
steht auch fernerhin weiter*), die Psyche wird lebhafter, Patient nimmt an seiner 
Umgebung mehr Anteil. 

5. VII. Weitere Besserung. Kernig negativ. Opisthotonus nur noch an- 
gedcutet. Die cerebellaren Erscheinungen sind beim Gehen nur noch gering; 
der Gang ist tappend, etwas taumelnd. 

Am 15. VII. hat Patient keine Beschwerden mehr. Es bestehen nur noch 
geringe Gleichgewichtsstorungen. Die Schwache in den Kopfnickern halt an. 

Am 17. VII. wurde der Patient als geheilt entlassen. Ein Tierversuch (tlber- 
impfung von Liquor auf ein Meerschweinchen intra}>eritoneal) blieb erfolglos. Eine 
Xachuntersuchung im April 1922 ergab anhaltende vollige Gesundheit bis auf 
eine restierende doppelseitige Accessoriusparesc. 

Zusammenfassung: Es handelt sich also um einen Sjahrigen Kna- 
ben, der ziemlich plotzlich unter meningitischen Symptomen erkrankto. 
Es bestand zunachst auf Grund des Cberwiegens cerebellarer Erschei¬ 
nungen der Verdacht, dab es sich um einen im Kleinhirn lokalisierten 
Solitartuberkel mit reaktiver Meningitis serosa handeln konnte. Auch 
die Familienanamnese machte einen tuberkulosen Prozeb wahrschein- 
lich. Der auffallend rasche Riickgang der Symptome bis zur volligen 

*) Gber iihnliche Stimmungsanomalien berichten ubrigens Qincke 105 ): 
„Wechselnde Stimmung, zuweilen auffallend lustig“, und Weigeldt 138 ): ..Bes¬ 
serung, plotzlich klar, lacht unnaturlich vicl." 


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482 


H. Ruhe: Dber die nosologisehe Stellung und Differential- 


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Restitutio ad integrum lieB jedoch eine einfache Meningitis serosa 
(vielleicht mit besonderer Beteiligung der hinteren Schadelgrube) wahr- 
scheinlicher werden. Irgendein greifbares atiologisches Moment hat 
sich nicht finden lassen, man muBte denn die vor 7 Wochen durch- 
gemachte Otitis media fur die Entstehung des Prozesses verantwortlich 
machen. Gegen tuberkulose Meningitis diirfte der rasche giinstige Aus- 
gang und das Fehlen von Tuberkelbazillen im Liquor, auch im Tier- 
versuch, mit hinreichender Sicherheit sprechen. DaB es sich um eine 
wirkliche Entziindung der Meningen handelte, geht aus dem entziind- 
lichen Charakter des Liquors her vor. 

Wie aus der Schilderung des vorliegenden Fades hervorgegangen 
sein diirfte, ist die Differentialdiagnose einer derartigen Erkrankung, 
besonders gegeniiber der tuberkulosen Meningitis, iiuBerst 
schwer. Es bestand friiher die Anschauung, daB eine tuberkulose 
Hirnhautentziindung prognostisch absolut infaust ware (Schultze 125 ). 
Nun sind aber im Laufe der letzten 2—3 Jahrzehnte Heilungen von 
Meningitis tuberculosa beobachtet worden; v. Bokay 15 ) konnte im 
Jahre 1914 34 solcher geheilter Falle aus der Literatur zusammenstellen. 
Die Diagnose war in samtlichen Fallen sichergestellt, teds durch po- 
sitiven Bazillenbefund im Liquor (dem gegeniiber man sich noch bu¬ 
rner skeptisch wird verhalten konnen, da man nie genau wissen kann, 
ob die im Ausstrich gefarbten Gebilde mit Tuberkelbazillen identisch 
waren), teds durch den Tierversuch, durch den Nachweis von Cho- 
rioidealtuberkeln, oder durch die Autopsie bei den Fallen, die spater 
an einem Rezidiv oder an einer anderen Erkrankung zugrunde gingen, 
wobei Residuen der tuberkulosen Affektion an den Meningen fest- 
gestellt werden konnten. Immerhin gehoren derartige Mittedungen 
entschieden zu den Seltenheiten, und trotz dieser Erfahrungen ist die 
Prognose in jedem Fad als auBerst ernst zu stellen, denn die Menin¬ 
gitis tuberculosa ist jahaufig nur die Manifestation einer absolut tod- 
lichen Miliartuberkulose (Matthes 81 ), Thiemich 133 ). Da nun die 
Meningitis serosa eine relativ giinstige Prognose hat, muB uns daran 
gelegen sein, beide Erkrankungen moglichst friihzeitig gegeneinander 
abzugrenzen. Zunachst kann die Anamnese wertvolle Aufschliisse 
geben (Matthes). Wenn in der Familie bereits tuberkulose Erkran¬ 
kungen vorgekommen sind — besonders ist auch auf den Gesund- 
heitszustand der Dienstboten Gewicht zu legen — oder sonst die Mog- 
lichkeit einer tuberkulosen Infektion (Arbeitsstatte) nahe lag, kann 
damit von vornherein ein Hinweis auf die Moglichkeit einer tuber¬ 
kulosen Meningitis gegeben sein. DaB dies allerdings nicht immer 
stimmt, lehrt der von mir beschriebene Fad. Noch wichtiger ist der 
Nachweis tuberkuloser Stigmata am Korper des Patienten selbst. 
Doch muB betont werden, daB selbst das Vorhandensein ausgepragter 


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diagnose der sogenannten Meningitis serosa. 


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tuberkuloser Veranderungen irgendwelcher Organe eine rein serose 
Meningitis durchaus nicht ausschlieBt. Schon Billroth 8 ) hat, wie wir 
anfangs sahen, darauf aufmerksam gemacht, und nach ihm sind wieder- 
holt die gleichenErfahrungengemacht worden. So berichtet Quincke 105 ) 
von 2 Fallen, die intra vitam durchaus den Eindruck einer tuberku¬ 
losen Meningitis machten. Die Sektion ergab in dem einen Fall eine 
Miliartuberkulose der Lungen, Pleuren und der Leber, im anderen 
Falle eine beiderseitige Phthisis pulmonum, Pleuritis und Peritonitis 
tuberculosa, Tuberkelknotchen in Leber und Milz. Beide Male fand 
man die Hirnhaute vollstandig frei von tuberkulosen Veranderungen. 
Selbstverstandlich muB eine genaueste mikroskopische Untersuchung 
verlangt werden. Es sind ferner Falle beobachtet, wo friihcre Lungen- 
erkrankungen vorhanden waren (Miinzer 85 ), Seiffer 118 ); besonders 
verdachtig erscheinen Schwellungen der Halslymphdriisen. Ein dem 
unsrigen ahnlicher Fall, bei dem wahrend des Ablaufs einer Meningitis 
serosa ebenfalls eine nach kurzem Bestehen zurxickgehende Schwellung 
der (rechten) Halslymphdriisen auftrat, ist von Miinzer publiziert. 
ALs besonders charakteristisch soli ein von Brockmann 26 ) geschil- 
derter Fall erwahnt werden. Es handelte sich um ein 9 Wochen altes 
Kind, das wegen hartnackigen Fiebers in die Klinik eingeliefert war. 
Auf der Haut fanden sich kleinpapulose Tuberkulide, Pirquet war 
positiv, es heB sich eine Infiltration der obercn und mittleren Partien 
der rechten Lunge feststellen. Das Kind bot dazu ausgesprochene 
meningitische Erscheinungen; die Fontanelle war stark gespannt, der 
Liquor war klar, stand unter hohem Druck (bis 400 mm) und wies 
eine leichte Lymphocytose auf. Daraufhin wurde die Diagnose einer 
Meningitis tuberculosa incipiens gestellt. Im Liquor waren jedoch 
keine Tuberkelbazillen nachzuweisen, ein Meerschweinchenimpfversuch 
blieb erfolglos. Das Kind ging zugrunde und bei der Sektion fanden 
sich ausgedehnte tuberkulose Veranderungen an den Lungen, die 
Bronchial- und Mesenterialdriisen waren verkast, Hirn und Hirnhaute 
aber vollkommen intakt. Auch Groer 55 ) hat an tuberkulosen Kin- 
dern — besonders solchen, die stark heruntergekommen waren — 
vereinzelte leichte (unter 55 Kindern 15 Male), bisweilen (3mal) auch 
ausgesprochene meningitische Symptome feststellen konnen, ohne daB 
sich sonst irgendein Anhaltspunkt fiir eine tuberkulose Meningitis 
finden lieB. Die angefiihrten Beispiele zeigen uns wohl zur Geniige, 
daB die Anamnese, so wichtig sie auch ist, uns doch keineswegs stets 
einen absolut sicheren Hinweis auf die Art der vorliegenden Krank- 
heit gibt. 

Und nun zum Krankheitsverlauf selbst. Das klinische Bild beider 
Meningitisformen kann so vollig iibereinstimmen, daB es nicht ver- 
wunderlich erscheint, wenn die Meningitis serosa so haufig verkannt 


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H. Ruhc: tH>er die nosologische Stellung und Differential- 


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wird. Erst die genaue Beobachtung gestattet oft eine einigermafien 
sichere Diagnose (auCer den schon erwahnten Fallen noch die von 
Beck 7 ), Bl iihdor n 12 ), v. Bokay 16 ),Eichhorst 32 ), Groer 55 ), Harke 59 ), 
Matthes 81 ), Quincke 105 ) 106 ), Weigeldt 138 ). Der schleichende Be- 
ginn, die zunehmende Blasse, die Verschlechterung des Allgemein- 
befindens, die Veranderungen der Psyche, vor allem die Unruhe, Ixm 
Kindern die Unlust zu spielen und das scheue gedriicktc Wesen, das 
Eltern und Erziehern oft zuerst aufzufallen pflegt, die tveinerliche 
Stimmung, dazu Appetitlosigkeit, allmahlich sich einstellende und 
zunehmende Kopfschmerzen, Miidigkeit und Mattigkeit, gelegentliches 
Erbrechen und die Triibung des Sensoriums, all diese fiir die Friih- 
diagnose der Meningitis tuberculosa wichtigen Symptome komraen in 
gleicher Weise bei der serosen Meningitis vor. Dasselbe gilt von den 
manifesten meningitischen Erscheinungen: Hauthyperasthesie, Der- 
mographismus (Weigeldt), Kahnbauch, Nackenstarre, positiver Ker- 
nig, Druckpuls, Paresen der Augenmuskeln, Konvulsionen oder Liih- 
mungen der Extremitaten, cerebellare Erscheinungen usw. Da die 
tuberkulbse Meningitis gelegentlich einen akuteren Beginn aufweist 
und die serose Meningitis gleichfalls ziemlich plotzlich in die Erschei- 
nung treten kann, liegt also auch in der Art des Beginns beider Krank- 
heiten kein Unterscheidungsmerkmal. Es wtirde zu weit fiihren, wenn 
man nun all die bisher in der Literatur veroffentlichten Falle von 
seroser Meningitis, die unter dem Bilde einer Meningitis tuberculosa 
verliefen, aufziihlen wollte. Eine solche Zusammenstellung konnte 
auBerdem auch nicht den Anspmch auf Vollstandigkeit erheben; denn 
je weiter die Kenntnis dieses Krankheitsbildes in die Arztewelt ge- 
drungen ist, um so eher wird auch die Moglichkeit einer Meningitis 
serosa im Einzelfall erwogen werden, und um so geringer werden die 
Beitrage zur Kasuistik werden, wie das ja auch auf alien anderen Ge- 
bieten der Medizin der Fall ist, die der Erkenntnis erst erschlossen 
werden. Ich will mich deshalb darauf beschranken, im folgenden all 
die Tatsachen anzufiihren, die im Einzelfall zur Kliirung der Differen- 
tialdiagnose vielleicht beitragen konnen, jedoch mit der Bemerkung, 
daB man ihnen ein Reeht auf Allgemeingiiltigkeit nicht einraumen kann. 

Zunachst kann man rein klinisch im Gesamtverlauf der Erkrankung 
haufig ein abweichendes Verhalten feststellen. Die Meningitis tu¬ 
berculosa fiihrt gewohnlich im Laufe der drittcn Woche nach dem 
Einsetzen der meningitischen Symptome zum Tode (Matthes 81 ), die 
Benommenheit pflegt — wenigstens zu Zeiten — die hochsten Grade 
zu erreichen, die Erscheinungen von seiten der Hirnnerven und der 
peripheren Nerven sind entschieden haufiger und schwerer als bei der 
serosen Meningitis. Die letztere hat einen mehr protrahierten Ver- 
lauf, die BewuBtseinstriibung pflegt nicht so hochgradig zu sein 


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diagnose der scgenannten Meningitis serosa. 


485 


(Harke 59 ), Finkelnburg 38 ), auch die iibrigen Symptome sind ge- 
wohnlich nicht so stark ausgepragt wie bei der tuberkulosen Meningitis. 
Die StauungspapiUe bzw. Neuritis optica erreicht bei der Meningitis 
serosa im weiteren Verlauf der Erkrankung oft die extremsten 
Grade (Bonhoffer 17 ), Bregman-Krukowski 23 ), Finkelnburg 38 ), 
Quincke 105 ); daB jedoch auch dabei Ausnahmen vorkommen, beweist 
unser Krankheitsfall. Beiden Formen gemeinsam ist der remittierende 
Verlauf. Die Remissionen bei der serosen Meningitis sind aber meist 
vollstandiger und dauern langer an. Ein besonders charakteristisches 
Beispiel dafiir bietet der Fall von Eichhorst 32 ), bei dem innerhalb 
kurzer Zeit funfraal die allerschwersten meningitischen Erscheinungen 
auftraten, uni nach einigen Tagen wieder zu verschwinden; der 
Exitus erfolgte in einem derartigen Anfall. Die nach einer Lumbal- 
punktion bisweilen auftretende Besserung des Allgemeinbefindens kann 
ebenfalls nicht fiir eine serose Meningitis ausschlaggebend sein, wohl 
aber vielleicht das auffallig rasche Verschwinden anfiinglicher bedroh- 
licher Symptome — wenigstens in einer Anzahl von Fallen. Man darf 
aber nie die bei der Meningitis tuberculosa so bekannten Remissionen 
vergessen. Abgesehen von dem meist giinstigen Ausgang der serosen 
Meningitis wird also die klinische Beobachtung nicht in alien Fallen 
die Entscheidung herbeifuhren konnen. Es kann dann die Unter- 
suchung des Liquor cerebrospinalis helfen. Absolut sicher fiir eine 
Meningitis tuberculosa spricht ein positiver Tuberkelbazillenbefund, 
dieser gelingt auch in den meisten Fallen (nach Holzmann in Krause 
— siehe unterNr. 91 — in 75—80% ; Lenhartz (zit. nach Holzmann) 
gibt sogar 90 -100% an). Auch nach den Erfalmingen der Gottinger 
Xervenklinik werden wenigstens im Tierversuch die Erreger nie ver- 
miBt. Es wird aber Falle geben, wo aus auBeren Griinden der Tierversuch 
nicht moglich ist; auBerdem ist er ja fiir eine augenblickliche Entschei¬ 
dung unbrauchbar, da die Diagnose — wenn es sich wirklich urn eine 
Meningitis tuberculosa handelt — in den meisten Fallen (Dauer 3 bis 
G Wochen) zu spat kommen wird. Die iibrigen Eigenschaften des 
Liquors sind weder in der einen noch in der anderen Richtung charak- 
teristisch. Der erhohte Druck, der vermehrte EiweiBgehalt, der bei 
der Meningitis serosa in den weitesten Grenzen schwanken kann, ist 
beiden Formen gemeinsam. Der Zellbefund kann bei der Meningitis 
serosa groBen Schwankungen unterliegen, teils ist er vollkommen 
negativ (dann allerdings keine echte Meningitis), teils findet man mehr 
oder weniger reichlich Lymphocyten. Diese letzte Feststellung ist 
bereits von Kronig 73 ) gemacht und seitdem wiederholt bestatigt 
worden (Beck, Bregman-Krukowski, Brockmann, Feer, 
Quincke, Weigeldt, unser Fall), jedoch ohne daB mandarin irgend- 
ein differentialdiagnostisch wichtiges Moment crblicken konnte. Die 


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H. Ruhe: Uber die nosologische Stellung und Differential 


fiir eine Meningitis tuberculosa charakteristische Fibringerinnselbildung 
im Liquor kann in seltenen Fallen auch bei der Meningitis serosa ein- 
treten (Mayerhofer-Neubauer 82 ), ebenso \vie andrerseits die stau- 
bige Triibung und die erhohte Gerinnbarkeit des Liquors bei Menin¬ 
gitis tuberculosa auch ausbleiben kann. Mayerhofer und Neubauer 
haben versucht, durch die Bestimmung der Menge der organischen 
und organisierten Substanzen im Liquor mittels Permanganattitration 
die Meningitis serosa und tuberculosa gegeneinander abzugrenzen. Die 
Resultate ihrer Untersuchungen haben ergeben, dab ein andauernd 
tiefer Indexwert absolut gegen tuberkulose Meningitis spricht, und daB 
bei den gutartigen Fallen von Meningitis serosa der Indexwert andauernd 
tief oder nur voriibergehend erhoht ist. Die beiden Autoren miissen 
allerdings selbst zugeben, daB in einem Fall von todlicher Meningitis 
serosa ihre Untersuchungsmethode sie im Stich lieB, und erst die Sektion 
Aufklarung verschaffen konnte. Mit Hilfe dieser Methode haben 
Mayerhofer und Neubauer auch festgestellt, daB bei einer tuber¬ 
kulosen Meningitis der unterc Toil des im Reagenzglase befindlichen 
Liquors — wohl infolge Sedimentiemng — reicher an organischen 
Substanzen ist als die oberen Schichten; bei Meningitis serosa sollen 
diese Unterschiede geringer sein. Nachuntersuchungen von Zalo- 
ziecki 146 ) haben dann ergeben, daB der Titrationsindex abhangig ist 
vom Zell- und EiweiBgehalt des Liquors und dem Gehalt an organi¬ 
schen Substanzen, deren Menge aber atich im normalen Liquor infolge 
der engen Beziehungen zur Zusammensetzung des Blutes bereits er- 
heblichen Schwankungen ausgesetzt ist, so daB ein erhohter Index 
z. B. auch bei der Uramie und im Coma diabeticum vorkommt. Zalo- 
ziecki kommt zu dem SchluB, daB die einfache Bestimmung des EiweiB- 
und Zellgehaltes immer noch bessere Resultate liefert. 

Weiterhin hat Matthes 81 ) neuerdings darauf aufmerksam gemacht. 
daB bei der tuberkulosen Meningitis haufig eine Symptomentrias: 
relative Pulsverlangsamung, Leukopenie im Blute und positive Diazo- 
reaktion vorhanden ist, daB aber auch bei Bestehcn dieses Symptoraen- 
komplexes eine Lymphocytose des Blutes sicher gegen tuberkulose 
Meningitis spricht. Er berichtet von einem 9jiihrigcn Kind, dessen 
Mutter vor 8 Tagen eine heftige fieberhafte Bronchitis durchgemacht 
hatte, das Kind erkrankte ziemlich akut mit meningitischen Symptomen. 
Die Spinalpunktion ergab ein klares, unter erhohtem Dmck stehendes 
Lumbalpunktat mit einer Spur EiweiB und einigen Lymphocyten, so 
daB der Verdacht einer tuberkulosen Meningitis nahelag. Bei der 
Blutuntersuchung wurde neben einer mafiigen Leukocytose eine aus- 
gesproehene relative Lymphocytose festgestellt. Darauf wurde eine 
tuberkulose Meningitis ausgeschlossen; das Kind genas nach kurzer 
Zeit. Es ist mir nicht bekannt, daB bisher Blutuntersuchungen in 


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diagnose der sogenannten Meningitis serosa. 


487 


groBerem MaBstabe bei Meningitis serosa und tuberculosa ausgefiihrt 
sind; jedenfalls sind die Mitteilungen von Matthes einer weiteren 
Nachpriifung wert*). Ob der Ausfall der Kolloidreaktionen des Liquors 
im gegebenen Fall eine Entscheidung herbeifiihren kann, scheint naeh 
dem, was oben dariiber ausgefiihrt wurde, zweifelhaft. Da — wie 
schon erwahnt — die tuberkulose Meningitis haufig nur Teilerschei- 
nung einer miliaren Tuberkulose ist, miiflte man aueh daran denken, 
bei unklaren Fallen und ganz besonders dann, wenn es sich darum 
handelt, eine moglichst friihzeitige Diagnose zu stellen, eine Rontgen- 
durchleuchtung der Lungen vorzunehmen. Denn die miliaren Knotchen 
lassen sich bekanntlich oft schon wochenlang vor dem Einsetzen des 
eigentlichen Krankheitsbildes der Miliartuberkulose nachweisen. So 
ist es Matthes gegliickt, mit Hilfe einer Rontgenaufnahme der Lungen 
bei einem seiner Falle die Diagnose einer Miliartuberkulose bereits 
2 Monate vor dem Tode mit Sicherheit zu stellen. Die Diagnose der 
Meningitis tuberculosa wird auBerdem durch den Nachweis von Cho- 
rioidaltuberkeln im Augenhintergrund gesichert. Zusammenfassend 
kann man also sagen, daB wir — abgesehen von dem Nachweis von 
Tuberkelbazillen im Liquor — nur wenig hinreichend sichere Rriterien 
besitzen, die im Einzelfall den Verdacht einer serosen bzw. tuberku- 
losen Meningitis ausschlieBen oder bestatigen. Um so melir sollte es 
Pflicht des Arztes sein, auf jeden Fall die Prognose nicht absolut in- 
faust zu stellen. Einem Arzt, der den Eltern den sicheren Toil ihres 
Kindes voraussagt und dessen Prophezeiung dann nicht in Erfiillung 
geht, werden diese nie verzeihen konnen. 

Die diagnostischen Schwierigkeiten, die eine Meningitis serosa 
chronica bereiten kann, sind damit aber noch nicht erschopft; und es 
waren jetzt diejenigen Falle zu nennen, die einen Tumor vortauschen 
konnen. Als pathologisch-anatomisches Substrat findet man einen 
mehr oder weniger starken Hydrocephalus; eine Reihe derartiger Falle 
ist, wie schon eingangs erwahnt wurde, als ,,Hydrocephalus idiopathi- 
cus‘ : bezeichnet, weil die oft nur geringen Befunde an den Hirnbauten, 
die wir als Ursache des ganzen Prozesses ansehen miissen, ganzlich 
iibersehen wurden. Als der alteste in der Literatur veroffentlichte Fall, 
bei dem eine Scktion ausgefiihrt wurde, ist wohl der im Jahre 1873 
von Annuske 2 ) mitgeteilte Fall anzusehen. Da er ein fiir diese gauze 
Gruppe von Krankheitsfalien auBcrst charakteristisches Symptomen- 
biId bietet, mag er etwas ausfiihrlicher geschildert werden. Bei einem 

*) Anm. b. d. Korrektur: Die Angabe von M. fand ich letzthin bei 3 in 
der Mediz. Klinik des Krankenhauses Altstadt (Prof. Dr. Often) beobachteten 
und autoptisch bestatigten Fallen von Meningitis tuberculosa — davon 2 mit 
miliarer Aussaat — bestatigt. Es fand sich eine starke Lymphopenie von 
6, 7 u. 4 Proz. 


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488 H. Ruhe: Uber die nosologische Stellung und Differential- 

bisher stets gesunden 31jahrigen Arbeiter entwickelten sich zu Beginn 
des Jahres 1872 Kopfschmerzen, die vom Hinterhaupt nach der Stirn 
zu ausatrahlten, dazu trat Schwindelgefiihl und eine rapide Abnahme 
des Sehvcrmogens. Mitte Juni bemerkte der Patient eine Lahmung 
und Gefiihllosigkeit der rechten Kopf- und Gesichtshalfte. Am 8. Juli 
hatte er einen Anfall von tiefem Koma, deni ein plotzlich aufgetre¬ 
times Unwohlsein vorausging. Der Anfall dauerte eine Viertelstunde, 
ihm folgte ein Zustand von starker Unruhe, Benommenheit, heftigen 
Nacken- und rechtsseitigen Kopf- und Gesichtssclimerzen. Diese An- 
falle wiederholten sich, es trat eine doppelseitige Abducensparese ein; 
eine totale Amaurose mit starker Neuritis optica und zahllosen Blu- 
tungsherden in der Retina, deutliche Ataxie, eine Facialisparese links, 
Sprach- und Schluckbeschwerden vervollstandigten das Symptomen- 
bild. Bemerkenswert waren die kurzen Remissionen, die wahrend 
des ganzen Krankheitsverlaufes auftraten. Der Tod erfolgte in einem 
plotz lichen Anfall von Dyspnoe. Bei der Sektion zeigte sich ein Hy¬ 
drops samtlicher Ventrikel mit starker Vorwolbung des Infundibulum; 
eine mikroskopische Untersuchung der Meningen ist nicht ausgefuhrt. 
Die Diagnose war zu Lebzeiten des Patienten auf einen intrakraniellen 
Tumor gestellt worden. In der Epikrise hat Annuske die Ansicht 
ausgesprochen, daB man bei genauer Beriicksichtigung samtlicher, ins- 
besondere der die Augen betreffenden Symptome trotz der Seltenhcit 
des Falles einen Tumor hatte ausschlicBen und die richtige Diagnose 
hatte stellen konnen. Dieser Ansicht hat ein so erfahrener Neurologe 
wie Oppenheim spater widersprochen. Und in der Tat kann die 
Differentialdiagnose zwischen Tumor und Hydrocephalus interims 
(infolge von Meningitis serosa) zu den schwierigsten gehoren, die es 
iiberhaupt gibt. 

Immerhin lassen sich doch verschiedene mit einer gewissen Kon¬ 
stanz vorhandene Momente hervorheben, die die Diagnose auf die 
rechte Bahn lenken konnen. Zunachst laBt sich bei einer Reihe von 
Fallen feststellen, daB die Patienten bereits friiher Anfalle von Hirn- 
druckerscheinungen gehabt haben (Finkelnburg-Eschbaum 39 ), Hil¬ 
debrand 64 ), Kupferberg 75 ), Quincke 105 ), 10fl ), Schu ltze 125 ). Als 
sichtbaren Ausdruck dieser Attacken kann man bisweilen eine auf- 
fallige VergroBerung des Schiidels feststellen (Brasch 22 ), Finkeln- 
burg 40 ), Gerhardt 46 ), Goldstein 50 ), 51 ), Quincke 108 ), Oppen¬ 
heim 94 ). Einen weiteren Anhaltspunkt kann die Anamnese geben, 
wenn sich namlich die Erscheinungen im AnschluB an ein Kopftrauma 
entwickelt haben. Es wird dann allerdings auch jedesmal die Moglich- 
keit eines Hirnabszesses in den Kreis der diagnostischen Erwagungen 
zu ziehen sein. Ferner imrde von jeher als typisch die Neigung zu 
Remissionen und Intermissionen beschrieben, die eventuell jahrelang 


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diagnose der sogenan ..ten Meningitis serosa. 


489 


anhalten konnen, um dann einer neuen Exacerbation Platz zu machen 
(Bresler 25 ), Brasch 22 ), Bregman - Krukowski 23 ), Fuchs 43 ), Ka- 
lischer 68 ), Miinzer 85 ), Oppenheim 92 ), 94 ) u. a.). Diese sind zwar 
auch bci Hirntumoren keineswegs selten, doch pflegen sie bci dem 
Hydrocephalus ex meningitide anhaltender und vollstiindiger zu sein. 
Man darf aber nie vergessen, da(3 auch bei Hirntumoren die allgemeinen 
wie lokalen Erscheinungen fiir Jahre zuriickgehen konnen (Finkeln- 
burg-Eschbaum 39 ). Das beweist der von Binswanger (siehe bei 
Nonne 91 ) mitgeteilte Fall, bei dem ein an der Basis des linken Tcm- 
porallappens befindlicher Tumor, der zu einer Hemiparese, Neuritis 
optica, Hernianojjsie rechts, aphaeischen und psychischen Storungen 
gefiihrt hatte, darauf 12 Jahre lang im Wachstum anhielt bis zu dem 
infolge einer interkurrenten Erkrankung eintretenden Tode des Pa- 
tienten. Besonders Lipome, Psammome und Cholesteatome konnen zu- 
weilen stabil bleiben (Nonne 90 ). Ebenso konnen Solitartuberkel und 
Gummcn, Cysticerken und Echinokokken sehrumpfen und verkalken, 
cystische Ergiisse in echten Tumoron konnen resorbiert werden. Selbst 
jahrelange Remissionen oder gar Spontanheilungen (im klinischen Sinn) 
sprechen also nicht unbedingt gegen einen Tumor oder einen tumor- 
artigen raumbeschrankenden ProzeB (Tuberkel, Gumma usw.) (Red- 
1 ic-h 11 °), Schultze 125 ). Ein akuter Beginn deutet im allgemeinen auf 
eine Meningitis serosa hin; doch berichtet sell on Gowers 53 ), dab — 
wenn auch nur in seltenen Fallen — auch ein Tumor (Gliome des Pons) 
lange Zeit latent bleiben und dann unter akuten und selbst stiirmi- 
schen Erscheinungen schnell zum Tode fiihren kann. Auch die Tumoren 
des IV. Ventrikels sollen zunachst vollig symptomlos bleiben konnen, 
um dann plbtzlich einen ganz akuten Beginn zu zeigen (Bonhoffer 1 *); 
und das gleiche gilt von kavernosen Angiomen (Finkelnburg 36 ). Auch 
sonst sind — infolge Blutung aus den GefaBen des Tumorgewebes, 
besonders bei den Gliomen (Striimpell 132 ), und bei Hinzutreten eines 
sekundaren Hydrocephalus (Bonhoffer 18 ) — anfallsweise auftretende 
Verschlimmerungen im Krankheitsvcrlauf bei Hirntumoren nicht seltcn. 
Daher darf also auch aus dem Nachweis von akuten Exacerbationen 
nicht immer mit Sicherheit auf eine Meningitis serosa geschlossen 
werden. 

Cber einen sehr interessanten Fall von diffuser seroser Meningitis 
hat Fuchs 43 ) berichtet, bei dem auf Grund eines besonders liber dem 
rechten Warzenfortsatz und Schlafenbein horbaren systobschen, hau- 
ohenden Gerausches, das bei Kompression der Carotis dextra verschwand, 
die Diagnose auf intrakranielles Aneurysma im GefaBgebiet tier A. 
carotis gestellt war. Die Sektion ergab einen starken Hydrocephalus 
aller Ventrikel, ohne sonstige Veranderungen am Gehirn oder an den 
GefaBen. Das Gerausch laBt sich nur durch eine Kompression eines 


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490 H. Ruhe: t)ber die nosologische S tel lung und Differertial- 

Arterienastes cler Carotis interna von seiten des Gehirns erklaren*)- Ein 
ahnlicher Fall ist von Oppenheim-Borchardt 98 ) und spater noch- 
mals von Fuchs 44 ) mitgeteilt worden. 

Wenn wir also noch einmal zusammenfassen diirfen: trotz all der 
ebon gemachten Einschriinkungen kann man doch als einigermaBen 
charakteristisch fur Meningitis serosa die Neigung zu hiiufigeren, an- 
dauernderen und vollstandigeren Remissionen bezeichnen. Die Hirn- 
tumoren zeigen im groBen und ganzen einen mehr protrahierten, kon- 
stanteren Verlauf. Die Allgemeinsymptome unterscheiden sich bei der 
Meningitis serosa und beim Hirntumor in nichts voneinander. Der 
Beginn mit Kopfschmerzen, die Klopfempfindlichkeit des Schadels an 
circumscripter Stelle, das psychische Verhalten, die zunehmende Trii- 
bung des Sensoriums, gelegentlichfe Ohnmachtsanfalle, Schwindelgefiihl, 
Pulsverlangsamung, cerebrales Erbrechen, epileptiforme Anfalle kom- 
men bei beiden Erkrankungen vor. Dagegen hat man in dem friih- 
zeitigen Auftreten der Stauungspapille und in den extremen Graden, 
die sie erreichen kaim, ein fur die Diagnose der serosen Meningitis wich- 
tiges Moment erblickt (Bonninghau s 14 ), Bonhoffer 17 ), Finkeln- 
burg 40 ), Goldstein 80 ), Quincke 105 ). Einige Male ist berichtet, daB 
die Patienten in auffalliger Weise iiber Riickenschmerzen klagten, und 
es fand sich eine Druckschmerzhaftigkeit der Wirbelsaule, besonders 
der Processus spinosi und des Cervicalanteils. Die Schmerzen strahlten 
wohl auch in die Intercostalraume aus (Brasch 22 ), Oppenheim 92 ), 9S ). 
Quincke 105 ), 106 ) will diese Sym}Dtome auf eine Durazerrung zuriick- 
fiihren. Bonhoffer betrachtet sie in ahnlicher Weise als Ausdruck 
der Liquorspannung, und in gleicher Weise macht Oppenheim eine 
Flussigkeitsstauung im Duralsack dafiir verantwortlich. Irgendwelche 
diagnostische Bedeutung darf man diesen Erscheinungen dann also nicht 
zuspreehen. Herdsymptome konnen wahrend des ganzen Verlaufs der 
Krankheit fehlen (Biro 10 ), Finkelnburg 40 ), GroB 66 ), oder sie konnen 
in der verschiedensten Weise vorhanden sein und sind dann wohl durch 
Kompression der betreffenden Zentren und Nerven zu erklaren (Biro, 
Bonhoffer 17 ), Kalischer 68 ), Oppenheim 94 ). Aus der Art der Herd¬ 
symptome konnen irgendwelche diagnostischen Schliisse nicht gezogen 
werden. Es kommen Hirnnervenlahmungen, Paresen der Extremitaten 
— allmahlich eintretend oder von hemiplegischemCharakter —, Krampfe 
in alien Kbrperteilen, Sensibilitatsstorungen, Zeichen einer Schiidigung 
tier Pyramidenbahnen, Gesichtsfeldstorungen, bitcmporale Hcmianopsie 
(Oppenheim 92 ), Bregman-Krukow'ski 23 ), Aphasien (Sanger 116 ), 

*) Fuchs hat den Fall als „idiopathischen Hydrocephalus 14 bezeichnet, ob- 
wohl sich in der Pia deutliche Zeichcn einer Entziindung fanden: strotzend ge- 
fiillte Capillaren in Meningen und Hirnrinde, kleinzellige Infiltration der Pia, 
die sich langs der Sulci tief in die Rinde hinein erstreekte, und Hirnddem. 


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diagnose der sogenannten Meningitis serosa. 


491 


v r . Sarbo 117 ), Paraphasien (Miinzer 85 ), epileptiforme Anfalle, Jack- 
sonsche Epilepsie (Oppenheim 93 ) usw. in gleicher Weise und in 
gleicher Starke auch bei der Meningitis serosa vor. Diese Herdsymptome 
konnen konstant vorhanden sein oder aber sich durch ihre Fliichtigkeit 
auszeichnen. Muskens 86 ) hat auch einen migrierenden Charakter 
beobachtet (ebenso Schwartz 130 ), wobei die Symptome auf die wech- 
selnde Lokalisation eines raumbeschrankenden Prozesses hinzudeuten 
scheinen. 

Besonders das fliichtige Auftreten der Herdsymptome wird von ver- 
schiedenen Autoren als charakteristisch angeseben (Biro 10 ), Bon¬ 
hoffer 18 ), GroB 58 ), Oppenheim 94 ). Endlich kann die Beobachtung 
des weiteren Verlaufes der Krankheit noch insofern wichtige Anhalts- 
punkte fiir das Vorliegen einer Meningitis serosa chronica bieten, als — 
mit Beriicksichtigung der bereits betonten Einschrankungen — an- 
haltende Besserung oder gar Heilung bei Tumoren doch relativ selten 
sind. 

Auch das Resultat der Lumbalpunktion kann die Diagnose unter- 
stiitzen; denn ein zell- und eiweiBreicher Liquor spricht mehr fiir einen 
entziindlichen ProzeB, wahrend fiir Tumor eventuell ein vermehrter 
EiweiBgehalt bei fehlender Lymphocytose spricht. Die Mitteilung von 
Kalischer 68 ), daB der Liquor zur Gerinnselbildung neigt, kann ich — 
wenigstens auf Grund der Literatur, die mir zugangig war — nicht 
bestatigen. Nur in einem von NeiBer und Pollack 89 ) erwahnten 
Fall wurde durch Hirnpunktion eine schnell gerinnende Fliissigkeit 
mit 3°/ 0 EiweiBgehalt gewonnen. Im iibrigen halt sich der EiweiB- 
gehalt des Liquors meist in bescheidenen Grenzen (V 2 — 3 / 4 °/oo nach 
Quincke und Bonhoffer). Ein erhohter Lumbaldruck kann bei 
Meningitis serosa und bei Hirntumor in gleicher Starke vorkommen. 
Auch die Ventrikelpunktion hat man zur Differentialdiagnose heran- . 
gezogen (NeiBer-Pollack 89 ), Bonhoffer 18 ), Oppenheim 95 ), Fin- 
kelnburg 37 ), dabei soli ein rascher Riickgang der Symptome nach der 
Punktion fur eine Meningitis serosa sprechen. Vielleicht ist die neuer- 
dings von Bingel empfohlene Lufteinblasung in den Subarachnoidal- 
raum und die Ventrikel (Encephalographie) imstande, in Zukunft zur 
Differentialdiagnose zwischen Meningitis serosa diffusa und Hirntumor 
wichtige Beitrage zu liefern. 

Wie schwer im Einzelfall die Entscheidung, ob es sich um einen 
Tumor oder um eine Meningitis serosa handelt, werden kann, mag der 
folgende Krankenbericht lehren. 

Fall III: Berginann H. St. aus L., 38Jahre alt, wurde am 1. X. 1920 von 
seinem Arzt der Nervenklinik iiberwiesen. Er gab an, seit 1917 an Kopfschmerzen 
zu leiden; diese traten anfangs taglich auf und nur solange St. in der Grube 
arbeitete. Als nach einem halben Jahr die Grube besser ventiliert wurde, sollten 

Archiv fUr Psychiatric. Bd. 67. j 33 


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H. Ruhe: t)ber die nosologieclie Stellung und Differential- 


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die Kopfschmerzen seltener und weniger heftig geworden sein, stellten sich dann 
aber nicht nur wahrend der Arbeit, sondern aueh zu Hause ein. Vor 17 Wochen 
bemerkte St., der von jeher kurzsichtig war, daB er nicht rnehr so gut lesen konnte 
wie friiher. Er hatte das Gefuhl, als ob ein Schleier vor den Augen ware, und 
verspiirte ein Druckgefuhl liber den Augen. Vor 4 Wochen hat Pat. eine Angina 
durchgemacht. Seit 2 Jahren soil das Geruchsvermogen gesc-hwunden sein; nie 
Ohnmachten, nie Erbrechen, kein Doppelsehen. Der Sc-hlaf ist gut, tagsiiber 
kein Schlafbediirfnis. Potus und venerische Infektion werden negiert. St. hat 
im letzten Jahr 10 Pfd. an Gewicht zugenommen. 

Status am 1. X. 1920. Kraftig gebauter Mann von gesunder Hautfarbe. Hera- 
und Lungenbefund o. B. Puls regelmaBig, 80 Schlage pro Min. Kopf und Wirbel- 
saule nirgends druckempfindlich. Augenbewegungen frei. Der Hornhautreflex 
scheint rechts etwas schwacher zu sein als links. Die Prufung des X. olfactorius 
ergibt, daB bei offenem Munde das Geruchsvermogen vielleicht abgeschwacht, 
jedoch nicht ganzlich aufgehoben ist. Beide mittleren Muscheln sind verdickt 
und legen sich in breiter Fliiehe dem Septum an, so daB die Riechstoffe durch die 
Nase nicht wahrgenommen werden. Die Prufung der iibrigen Hirnnerven ergibt 
keine Besonderheiten. Die Reflexe an den oberen Extremitaten sind beiderseits 
sehr lebhaft. Bar&nvscher Zeigeversuch sicher. Bauchdeckenreflexe lebhaft. 
Patellarreflexe beiderseits von der Tibiakante auslosbar, mit zahlreichen Xach- 
zuckungen des Quadriceps. Achillessehnenreflexe beiderseits lebhaft. Kura an- 
haltender FuBklonus, dabei tritt auf beiden Seiten leicht ein Klonus des ganzen 
Beines auf. Babinski —, Romberg —. Motilitat und Sensibilitat intakt, Muskel- 
tonus normal. Urin: E. — 

Augenuntersuchung: Visus r. = 0,2; 1. =0,1. Anscheinend Gesichtsfeld- 
einschrankung, besonders auf der temporalen Seite. Fundus: Beiderseits typisehe 
S tauungspapille, an der Papille + 8 Di. Prominenz, an der Macula + 3 Di. 

Eine Rontgenaufnahme des Schadels ergibt keine Besonderheiten. Sella 
turcica nicht vergroBert. Lumbalpunktion: Der Druck betrug zunachst 180 mm 
Wasser; wahrend der Liquor langsam und tropfenweise abfloB, stieg der Druck 
allmahlich und betrug nach Entnahme von 5 ccm Liquor 330 mm. Liquor klar, 
Nonne schwach positiv, 1(t / 3 Zcllen im emm, Wa —. 

Angcsichts der drohenden Gefahr einer weiteren Verschlechterung bzw. 
dauernden Verlustes seines Sehvermogens wurdc dem Patienten der dringende 
Rat gegeben, eine druckentlastende Operation vornehmen zu lassen. Zwecks 
Untcrredung mit seiner Frau wurde er am 16. nach Hause geschickt. Am 2d. X. 
kehrte Pat. zuriick, er verweigerte hartnackig jeden operativen Eingriff und 
zeigte sich Erklarungsversuchen gegeniiber einsichtslos. 

t)ber das weitere Schicksal des Patienten war zunachst nichts bekannt, bis 
auf eine Anfrage der behandelnde Arzt kiirzlich mitteilte, daB sich der Zustand 
seit 1920 kaum geiindert habe, die einzelnen Symptome vielleicht etwas starker 
ausgesprochen seien, das Sehvermogen und der Befund an der Papille sich da- 
gegen bedeutend verschlechtert haben. Der Patient sei dem Trunk ergeben, setze 
mitunter wochenlang die Arbeit aus und verbrauche seinen Arbeitslohn fiir die 
eigenen Bediirfnisse ohne Riicksicht auf die Frau und seine 5 Kinder. 

Zusammenfassung: Der vorliegende Fall bietet ein nicht gerade 
sehr reichhaltiges Krankheitsbild. Von subjektiven Symptomen sind 
nur die seit 1917 bestehenden Kopfschmerzen und die erst 3 Jahre 
spater manifest gewordenen Sehstorungen zu erwahnen. Objektiv ist 
das hervorstechendste Merkmal die Veranderung an den Papillen, die 


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diagnose der sogenannten Meningitis serosa. 


493 


extreme Stauungspapille, die unterdessen wohl zu einer Atrophie des 
Sehnerven gefiihrt haben wird. I)azu treten die namentlich an den 
unteren Extremitaten gesteigerten Reflexe, vielleicht eine Schadigung 
des N. olfactorius, der Befund der Lumbalpunktion und die Verande- 
rungen der Psyche. Die Diagnose schwankte zwischen einem Tumor 
unbekannter Lokalisation, der vielleicht zu einem sekundaren Hydro¬ 
cephalus gefiihrt haben mochte, und einer Meningitis serosa. Eine 
sichere Entscheidung war auf Grund des klinischen Befundes nicht zu 
treffen. Das auffallige Verhalten des Liquordruckes wahrend der 
Punktion deutet darauf hin, da 13 die Kommunikation zwischen Schadel- 
innerem und Wirbelkanal irgendwie beeintrachtigt war. Doch kann 
(bese Stoning sowohl durch entziindliche Verklebungen als auch durch 
rein mechanischen Verschlul3 hervorgerufen werden; auch der Liquor- 
befund selbst konnte nicht mit absoluter Sicherheit zur Klarung der 
Diagnose hcrangezogcn werden. Der weitere Verlauf der Krankheit 
macht nun die Diagnose einer Meningitis serosa immer wahrschein- 
licher; denn ein derartig langdauernder Stillstand eines Krankheits- 
prozesses wird bei Tumoren doch nur selten beobachtet. Es fehlen im 
Krankheitsbild allerdings die bei seroser Meningitis sonst so hiiufigen 
Remissionen; doch ist nicht ausgeschlossen, da!3 der meningitische 
ProzeB zu einem Hydrocephalus, d. h. zu einem stationaren Endzustand 
gefiihrt hat. Die Veranderungen der Psyche sind wohl nur zum Teil 
als Folge des anhaltenden Hirndrucks zu deuten; es liegt viel eher nahe, 
das unsoziale Verhalten des Patienten als Folge des — trotz der Ne- 
giemng von seiten des Patienten vielleicht schon langer bestehenden — 
Alkoholabusus anzusehen. Es ist allerdings nicht ausgeschlossen, da!3 
die psychischen Veranderungen erst die Grundlage fiir die Entwicklung 
des Alkoholismus abgegeben haben. Es ist zu bedauern, da!3 die Ein- 
sichtslosigkeit des Patienten einen druckentlastenden Eingriff verhindert 
hat. Denn eine Meningitis serosa bzw. ein daraus resultierender Hydro¬ 
cephalus ware vielleicht durch die Operation einer volligen Heilung 
entgegengefiihrt; und selbst wenn es sich um einen Tumor handeln 
sollte, ware Aussicht auf eine — wenn auch nur voriibergehende — 
Besserung im Befinden des Patienten vorhanden gewesen. 

Die Beurteilung des ganzen Krankheitsbildes der Meningitis serosa 
chronica ist nicht leicht. Strumpell 132 ), der auch mehrere derartige 
Falle zu beobachten Gelegenheit hatte, ist der Ansicht, da (3 ein Teil 
der hierher gehdrigen Rrankheitsfalle — ,,Meningitis serosa chronica 41 , 
,,Hydrocephalus idiopathicus 44 , ,,Hydrocephalus acquisitus 44 — zur 
disseminierten Encephalitis zu rechnen sind und der Hydrocephalus 
nur eine sekundare Erscheinung ist. Ein solcher Verdacht liegt dann 
besonders nahe, wenn eine Infektion vorhergegangen ist. Es handelt 
sich also um ein Krankheitsbild, dessen Genese durcliaus noch nicht 

33* 


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494 H. Ruhe: Uber die nosologische Stellung und Differential- 

vollig erforscht ist; und es ist eine dringende Forderung, daB in Zukunft 
alle derartigen zur Sektion komraenden Falle genau mikroskopisch unter- 
sucht werden. 

Zusammenfassung: Die unter dem Bilde des Hirntumors ver- 
laufende serose Meningitis bietet keine ganz reinen Symptome. Fiir 
Meningitis serosa diffusa spricht mehr ein remittierender bzw. inter- 
mittierender Verlauf, die Flxichtigkeit oder das Fehlen der Herd- 
syruptome, ein entzundlicher Liquor und endlich die Feststellung einer 
infektiosen Atiologie, eventuell die Besserung des Krankheitszustandes 
nach Punktionen oder eine erfolgreiche Jodtherapie. 

Ein ganz besonderes Interesse bieten diejenigen Falle von Meningitis 
serosa, die unter den Erscheinungen eines Hypophysentumors ver- 
laufen. Die ersten Mitteilungen dariiber stammen von Sievert 119 ), 
der von einem Geschwisterpaar, einem 9jahrigen Madchen und einem 
lojahrigen Knaben berichtete, das durch eine ganz auBergewohnliche 
Fettentwicklung am ganzen Korper auffiel. Die Untersuchung ergab, 
daB beide eine Opticusatrophie mit hochgradiger Sehstorung und 
konzentrischer Gesichtsfeldeinschrankung, Strabismus divergens und 
Nystagmus hatten. Storungen von seiten der Genitalien oder Wachs- 
tumsanomalien waren nicht vorhanden, auch die Intelligenz war einiger- 
maBen gut entwickelt. In der Epikrise spricht sich Sievert dahin aus, 
daB dem ganzen KrankheitsprozeB vielleicht eine umschriebene Me¬ 
ningitis zugrunde liegen konnte, die zu Druckatrophie der Nervi optici, 
zu atrophischen Vorgangen in der Hypophyse und zu einem Hydro¬ 
cephalus gefuhrt habe. Mit voller Bestimmtheit hat aber erst Gold¬ 
stein 49 )— 61 ) darauf hiugewiesen, daB die Meningitis serosa zu einer 
Hypophysenschadigung mit all ihren charakteristischen Merkmalen 
fiihren konne. Er hat kurz hintereinander 5 Krankheitsfalle mitgeteilt, 
die alle eine gewisse Ahnlichkeit untereinander aufweisen. Es handelt 
sich um jugendliche Personen, die von jeher einen groBen Schadel 
(z. T. Turmschadel) hatten. Die Anamnese ergab, daB die betreffenden 
Individuen schon fruher von Zeit zu Zeit an Anfallen von Kopfschmerzen 
mit Erbrechen, Schwindelgefiihl und Unsicherheit beim Gehen gelitten 
hatten; gleichzeitig war auch das Sehvermogen schlechter geworden. 
Zweimal lieB sich ein Schadeltrauma feststellen, das offenbar auf den 
KrankheitsprozeB verschlimmernd eingewirkt hatte. Bei dem ersten 
von Goldstein mitgeteilten Fall war eine Abnahme der sexuellen 
Potenz bemerkenswert; die 3 im Jahre 1910 veroffentlichten Falle 
wiesen Zeichen von hypophysarer Fettsucht und gestorter Entwicklung 
der Geschlechtsorgane — bei Fall 2 vielleicht auch Andeutungen von 
Akromegalie — auf. Im letzten Fall lag eine Beteiligung auch der 
iibrigen Drii.sen mit innerer Sekretion (Insuffisance pluriglandulaire) 
vor. Allen 5 Fallen gemeinsam war eine mehr oder weniger weit vor- 


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diagnose der sogenannten Meningitis serosa. 


495 


geschrittene Atrophie der Sehnerven. Es war von vornherein kein 
Zweifel, daB es sich um einen raumbeschrankenden ProzeB im Schadel 
handeln muBte, und der Verdacht, daB ein Hypophysentumor vorlag, 
war begreiflich. Jedoch die Zeichen einer kongenitalen Anlage (Turm- 
schadel), das anfallsweise Auftreten der Hirndruckerscheinungen, dazu 
im Gegensatz die verhaltnismaBig geringen Erscheinungen von seiten 
gestorter Hypophysenfunktion, das Fehlen sonstiger ausgesprochener 
Herdsymptome, der wechselnde Verlauf und endlich der jahrelange 
Stillstand des Prozesses machten einen Tumor unwahrscheinlich. Da- 
gegen stimmt der ganze Verlauf der Krankheit durchaus mit dem einer 
Meningitis serosa iiberein; und Goldstein ist der Ansicht, daB es sich 
tatsachlich um eine deraitige Erkranknng gehandelt habe, die schon 
in friiher Jugend -— vielleicht kongemtal— eingesetzt habe. In dem 
einen Fall, bei dem eine Lumbalpunktion vorgenommen wurde, zeigte 
sich ein Druck von liber 240 mm Wasser und eine betr&chtliche Lym- 
phocytose, Nonne war negativ. Die Ausdehnung der Ventrikel hatte 
wahrscheinlich zu einer Vorwolbung des Infundibulum — einem bei 
Meningitis serosa gar nicht so seiten anzutreffenden Befund — und 
dadurch zu einer Schadigung der Hypophyse gefuhrt*). 

Einen ahnlichen Fall hat v. Jacksch 67 ) aus der Prager Klinik mit- 
geteilt. Auffallend ist iibrigens, daB sich in den darauf untersuchten 
Fallen oft nicht die fiir einen Hypophysentumor typische bitemporale 
Hemianopsie fand, sondern eine konzentrische Gesichtsfeldeinschran- 
kung. Goldstein betrachtet sie als Folge eines bei Meningitis serosa 
in anderer Weise als beim Hypophysenturror auf das Chiasma und den 
Tractus opticus einwirkenden Druckes. In diesem Zusammenhang 
wird auch eine Mitteilung von Quincke 105 ) verstandlich, der bei einem 
an Meningitis serosa chronica leidenden Knaben einen auffalligen Fett- 
ansatz beobachtete. Eine ahnliche Beobachtung machte Bonhoffer 18 ), 
der von einem an ,,idiopathischem Hydrocephalus 1 ' erkrankten Mad- 
chen berichtet, das bis zu seinem Tode dauernd an Gewicht — inner - 
halb 9 Wochen um 17 Pfund— zunahm. Bei der Sektion fand sich 
ein stark vorgetriebenes Infundibulum, das zu einer Abplattung der 
Hypophyse gefuhrt hatte. Es sei auch noch ein Fall von Hildebrand 84 ) 
erwahnt, bei dem die Diagnose auf Grund der Herdsymptome — es 


*) Nach den Untersuchungen von Stump* (Virchows Arch. f. pathol. Anat.u. 
Physiol. Bd. 209, 1912) inuB man iibrigens annchmen. daB der Druck des Infundibu¬ 
lum nicht etwa zu einer direkten Schadigung der Hypophyse in Form der Druck- 
atrophie fiihrt, sondern daB es sich um eine Storung der Beziehungen zwischen 
Hypophyse und Gehim handelt, und zwar entweder um eine Unterbrechung 
der nervosen Bahnen oder um einen ungeniigenden Obertritt von Sekretions- 
produkten des driisigen Anteils in den Stiel bzw. die nervose Substanz der Hy¬ 
pophyse. 


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H. Ruhe: t)ber die nosologische Stellung und Difierential- 


fand sich iibrigens eine typische bitemporale Hemianopsie — auf 
Hypophysentumor gestellt war; die Operation war bereits in Aussicht 
genommen, als die Erscheinungen spontan iiberraschend schnell zuriick- 
gingen. Der Patient fuhlte sich nocli 2 1 / i Jahr darauf vbllig wohl. 
Endlich hat Kron 71 ) kiirzlich von einer Patientin berichtet, bei der 
ein Hypophysentumor (allgemeine Hirndrucksymptome, Adipositas 
universalis, Sistieren der Menses) vermutet wurde; die Autopsie ergab 
eine chronische Leptomeningitis mit Hydrops samtlicher Ventrikel 
und stark vorgetriebenem Infundibulum. Die letzte Mitteilung iiber 
einen Fall von Meningitis serosa unter dem Bilde eines Hypophysen- 
tumors stammt von Gehrt 45 ). DaB auch eine tuberkulose Meningitis 
alle charakteristischen Erscheinungen eines Hypophysentumors machen 
kann, sei nur der Vollstandigkeit halber erwahnt (Matthes 81 ), StraB- 
mann 129 ). 

AnschlieBend soli iiber einen Fall von Dystrophia adiposo-genitalis 
(auf meningitischer Grundlage) berichtet werden, der iiber einen Zeit- 
raum von liinger als 3 Jahren in der Gottinger Nervenklinik beobachtet 
wurde. 

Fall IV: R. S. aus D., geb. am 5. V. 1901. Familienanamnese o. B. Von 
friiheren Krankheiten sind zu erwahnen cine Pneumonie (1906) und eine Appen¬ 
dicitis (1912). Kinderkrankheiten sollen nicht vorgekominen scin. 

Der Patient kam im November 1914 zum erstenmal in klinischc Bcobaehtung. 
Die Eltem gaben an, daB R. seit einigcn Jahren an anfallsweise auftretcnden 
Kopfschmerzcn litte. Vor 2 Jahren soli er ofter erbrochcn haben, angeblich jedoch 
nur nach dera GcnuB gewisser Speisen. Seit etwa einem Jahr sollten die Bewe- 
gungen in den Gelenken an Armen und Beinen unsieher geworden sein, so daB 
das An- und Auskleiden Schwierigkeiten machte. Aueh beim Stehen und Gehen 
fuhlte R. eine gewisse Unsicherheit in den Beinen. Der Knabe gab ferner an. 
daB er vor einem halben Jahr eine Zeitlang doppelt gesehen habe, doeh soli diese 
Storung nicht lange angehalten haben. In den letzten 3 Monaten fiel dem Pa- 
tienten — zuerst in der Schule — auf, daB das Sehvermogen bestandig abnahm. 
Erbrechen oder Brechneigung waren in der letzten Zeit nicht mehr aufgetreten, 
dagcgen bestand eine ziemlich hartniickige Obstipation. Bemerkenswert ist 
ferner, daB seit etwa 3 Monaten ein gesteigerter Harndrang anfangs alle Stunden. 
s pater alle 2 Stunden auftrat; dabei ging der Harn, wenn das Bediirfnis nicht 
befriedigt werden konnte, unwillkiirlicli ab. Die anfangs sich haufig einstellenden 
Kopfschmerzcn waren in der letzten Zeit seltener geworden. Endlich klagten 
die Eltern dariiber, daB seit kurzem das Gediichtnis des Knaben abgenommen 
habe und infolgedessen die Leistungen in der Schule betrachtlich nachlieBen. 

Wegen der Sehstorung brachten die Eltern den Knaben Anfang November 
1914 zu einem Augenarzt, der folgenden Bcfund erhob: 

Funktionsprufung: Beiderseits nur Fingerzahlen auf 1 m Entfernung. Peri- 
metriseh maBige, beiderseits ungleichmaBige periphere Einschrtinkung des Ge- 
sichtsfeldes, doppelseitiges zentrales Skotom, Aufhebung des Farberkennungsver- 
mogens fur Grim. 

Ophthalmoskopisch Ix'iderseits regressive Stauungspapille mit maBiger Pro- 
minenz, die Papille von grauweiBer Farbe. 


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diagnose der sogenannten Meningitis serosa. 


497 


Auf Veranlassung des Augenarztes wurde der Knabe der Xervenklinik iiber- 
wiesen; eine Untersuchung am 9. XI. 1914 liatte folgendes Ergebnis: 

Seinem Alter entsprechend korperlich entwickelter, gut genahrter Knabe. 
Der Fettansatz ist fur das Alter des Knaben zu reichlich, auffallend starkes Fett- 
polster an beiden Mammae und am Mons pubis. Genitalien wenig entwickelt. 
Kopf auffallend groB (Umfang 61 cm), diffus klopfempfindlich; in der rechten 
und linken Schlafengegend beim Beklopfen starkes bruit de pot fele. Die Aus- 
trittsstellen der Occipitalnerven beiderseits sehr druckschmerzhaft. Die linke 
Pupille reagiert gut auf Licht und Konvergenz, sie erscheint etwas weiter als 
die rechte, die nur trage und wenig ausgiebig reagiert. Cornealreflex beiderseits 
erhalten. Augenbewegungen frei, in den Endstellungen — besonders links — ganz 
leichte Zuckungen. Bei der Geschmackspriifung wird salziger Geschmack nicht 
erkannt, die iibrigen Geschmacksqualitaten erhalten. Die Bauchdeckenreflexe 
sind nicht sicher auszulosen. Patellarreflexe lebhaft, Achillessehnenrcflcxc normal. 
Babinski —, Oppenheim —, kein Klonus. 

Starker Intentionstremor, die Handbewegungen sind hastig und zittrig. 
Rechts Adiadochokinesis. Romberg deutlieh positiv, auch ohne LidschluB. Schon 
bei offenen Augen Unsicherheit des Ganges, die bei LidschluB zunimmt, ohne 
bestimmte Fallrichtung. Hautsensibilitat intakt. Ob Hypotonie vorhanden ist, 
laBt sich bei dem jugendlichen Alter des Patienten schwer entscheiden. Puls 
regelmaBig, 100 Schlage pro Min. Korpergewicht: 94 Pfund. 

Wahrend der ganzen Dauer der Beobachtung (9. XI.—19. XII.) war zu 
bemerken, daB das Betragen und die AuBerungcn des Knaben, der in der Schule 
friiher Erster gesessen haben sollte, auffallend kindisch und lappisch waren. Ein 
Traubenzuckerversuch ergab gesteigerte Toleranz fiir Kohlehydrate — bis zu 
350 g. Die Korperbewegungen waren linkisch und ungeschickt, doch schien das 
Gehen und Stehen allmahlich erheblich besser zu werden. Die Behandlung be- 
schrankte sich auf die Darrcichung von Hypophysentabletten, ohne daB eine 
erkennbare Wirkung zutage trat. 

Der Knabe wurde weiterhin dauernd beobachtet. Bei einer Untersuchung 
am 18.1.1915 wurde folgender Behind erhoben: Beiderseits—besonders rechts — 
deutlieh entwickelte Mammae, Genitalien klein und wenig entwickelt, Scham- 
und Achselhaare fehlen ganzlich, breit ausladendes Beckcn. Der Bereich des 
•Schepperns beim Beklopfen des Schiidels hat beiderseits nacli vorn und nach 
der Seite an GroBe zugenommen. Deutliche Ataxie der oberen Extremitaten, 
liesonders links, Tremor der gespreizten Hiinde. Bauchdeckenreflexe vorhanden, 
Patellarreflexe von der Tibiakante ausliisbar. FuBklonus angedeutet, kein Ba¬ 
binski. Ataxie der unteren Extremitaten nur gering, beim Rombergschen Ver- 
such starkes Schwanken. Leichte Hypotonie der Muskulatur. 

Eine augenarztliche Untersuchung am 10. II. 1915 ergab, daB die zentralen 
Skotome an Ausdehnung zugenommen batten, auBerdem waren groBe sektoren- 
formige periphere Skotome vorhanden. Die Papillenschwellung betrug beider¬ 
seits 1 Dioptrie. 

Rontgenologisch wurde eine VergroBerung der Sella turcica festgestellt. Im 
Februar wurde in der chirurgischen Klinik eine Punktion des rechten Seiten- 
ventrikels vorgenommen. Die Punktionsnadel lieB sich leicht in die Tiefe ein- 
fiihren. Es wurden unter ziemlich starkein Druck 25 ccm wasscrklaren Liquors 
entleert, keine EiweiB-, keine Zellvermehrung, Wa. negativ. 

Im Juli 1915 erlitt der Patient einen heftigen Schwindelanfall, der von Kopf- 
schmerzen begleitet war, so daB er mehrere Tage das Bett hiiten muBte. Trotz 
gemusereicher Emahrung nahm das Korpergewicht im letzten halben Jahr um 


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H. Ruhe: t)ber die nosologische Stellung und Differential- 


10 Pfund zu. Die Schwindelanfalle wiederholten sich, es trat jedesmal fiir einige 
Minuten BewuBtlosigkeit ein. 

Der neurologische Befund im November 1915 war folgender: Starkes Zittem 
in beiden Handen, ataktische Storungen in der rechten Hand, Schreiben unsicher. 
Reflexe intakt. Allgemeinstatus unverandert. 

Eine weitere Untersuchung im Mai 1916 hatte folgendes Resultat: Die Kor- 
peretatur scheint etwas schmaler geworden zu sein, die Genitalien haben sich 
bedeutend entwickelt, starker Haarwuchs in der Schamgegend. Der Knabe macht 
einen psychisch viel agileren Eindruck als friiher und ist vergniigter Stimmung. 
Die Kopfschmerzen sind ganzlich gcschwunden, das Sehvermogen soil etwas 
zugenommen haben, jedoch Klagen liber Flimmem vor den Augen. Der Gang 
hat sich inzwischen bedeutend gebessert. Am Kopf nur noch geringes Scheppem. 
Geringe Ataxie der oberen Extremitaten, an den unteren GliedmaBen etwas deut- 
licher. Der Tremor in den Handen ist noch vorhanden, aber bei weitem geringer 
geworden. Geringe Adiadochokinesis. Hypotonie nicht mehr nachzuweisen. 
Haut- und Sehnenreflexe in normaler Starke vorhanden. 

Im Februar 1918 stellte sich der Patient abermals vor. Er war inzwischen 
betrachtlich gewachsen, die Beckenpartien und Genitalien w'aren erheblich ent¬ 
wickelt. Schadelumfang 61,3 cm. Keine Klagen fiber Kopfschmerzen mehr, das 
Gedachtnis soil sich gebessert haben. Neurologischer Befund o. B. 

Resultat der augenarztlichen Untersuchung: Funktionspriifung: Links Visus 
0,1, rechts Fingerzahlen in 20 cm Entfemung. Farben wurden nicht erkannt. 
Perimetrisch kein hemianopischer Typus nachweisbar. Vertikaler Nystagmus, 
r. > 1. Augenhintergrund: Beide Papillen grauweiB, links scharf begrenzt, rechts 
etwas unscharf. 

Uber das weitere Schicksal des Patienten ist leider nichts bekannt. 

Zusammenfassung: Das eben bescbriebene Krankheitsbild ahnelt 
den von Goldstein beobachteten Fallen in mancherlei Punkten. 
Auch hier sind der eigentlichen Manifestation der Krankheit jahrelang 
anfallsweise auftretende Kopfschmerzen vorausgegangen; auch hier 
friihzeitig auffallende Unsicherheit beim Gehen. Relativ spat sind die 
Sehstorungen hinzugetreten, die — wie bei den 2 von Sievert beschrie- 
benen Fallen .— die erste Veranlassung zur arztlichen Konsultation 
gaben. Der Augenbefund weicht auch hier von den bei Hypophysen- 
tumoren iiblichen Befunden ab: Stauungspapille, die bei Hypophysen- 
geschwiilsten doch verhaltnismaBig selten ist. Auch hier keinerlei An- 
deutung von bitemporaler Hemianopsie, sondern — in Gbereinstim- 
mung mit den meisten iibrigen in der Literatur mitgeteilten Fallen — 
konzentrische Gesichtsfeldeinschrankung. Auffallend ist das zentrale 
Skotom, das aber nicht unbedingt gegen eine Hypophysenaffektion 
spricht. Die augenarztliche Untersuchung allein hot somit noch keinen 
Verdacht auf einen die Hypophyse in Mitleidcnschaft ziehenden 
ProzeB. 

Dazu kommen nun aber Zeichen, die unmittelbar auf eine Hypo- 
physenschadigung hinweisen (wenn auch bekanntlich die Frage noch 
unentschieden ist, in welchem MaBe diese sogenannten Hypophysen- 
symptome Folge einer Liision des Tuber cinereum sind [Erdheim, 


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diagnose der sogenannten Meningitis serosa. 


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Leechke]): der ausgesprochene Habitus im Sinne der von Frohlich 
beschriebenen Dystrophia adiposogenitalis (breites Becken, starke Fett- 
ablagerung an beiden Mammae, ausgepragter Mons pubis, fehlende Be- 
haarung, hypoplastische Genitalien). Dazu die erhohte Toleranz gegen 
Kohlehydrate, vieUeicht die auffallend geringen taglichen Temperatur- 
schwankungen, vielleicht die auch bei Hypophysentumoren ganz selten 
anzutreffenden Geschmacksstorungen, ferner die ziemlich haufig auf- 
tretende Blaseninkontinenz. Eine Beeintrachtigung des Wasser- und 
Salzstoffwechsels im Sinne eines Diabetes insipidus war nicht zu be- 
obachten. Die taglichen Harnmengen schwankten zwischen 600 ccm 
und 1300 ccm, die Konzentration war vollig hinreichend (spez. Gewicht 
bis zu 1030). Bemerkenswert ist nur der gesteigerte Harndrang, der 
— gleich der Inkontinenz -— mit dem KrankheitsprozeB wohl in Zu- 
sammenhang gebracht werden darf. Als weitere Eigentiimhchkeit ist 
• das starke Hervortreten cerebellarer Erscheinungen (Ataxie, positiver 
Ausfall des Rombergschen Versuchs, Adiadochokinesis, Hypotonie, 
Nystagmus) zu erwahnen, die bisweilen das gesamte Krankheitsbild 
derart beherrschten, daB man unwillkurlich an einen Cerebellartumor 
denken konnte. Doch wird positiver Romberg, Unsicherheit und Zit- 
tern bei den Bewegungen der Extremitaten auch schon in den Mit- 
teilungen von Goldstein und v. Jacksch erwahnt. Als Folge des 
jahrelang anhaltend gesteigerten Hirndrucks ist — abgesehen von der 
in Atrophie iibergegangenen Stauungspapille — der fur das Alter des 
Patienten auffallige Schadelumfang, das Scheppern beim Beklopfen 
des Schadels, ferner die rontgenologisch sichtbare VergroBerung der 
Sella turcica und der Riickgang der psychischen Leistungsfahigkeit 
anzusehen. 

Wenn wir den Verlauf des ganzen Krankheitsprozesses bctrachten, 
so geht zunachst aus der Anamnese hervor, daB die Krankheit all- 
mahlich begonnen und unter zeitweiligen Exacerbationen einen ge- 
wissen Hohepunkt. erreicht hat. Wahrend der ganzen Dauer der Be- 
obachtung schwankte das Befinden, zunachst unter klinischer Be- 
obachtung erhebliche Besserung der Symptome, darm wieder Ver- 
schlechterung, und naeh einiger Zeit ganz allmahliche Besserung unter 
zeitweise auftretenden Anzeichen gesteigerten Hirndrucks (Anfalle von 
BewuBtlosigkeit, Kopfschmerzen und Schwindel). Auch die Ataxie war 
wechselnd und trat nur zuweilen starker in den Vordergrund. Nun 
sind zwar gerade bei Hypophysentumoren nicht selten Remissionen 
beschrieben (Schuller, Dystrophia adiposogenitalis im Handbuch der 
Neurologie, IV. Bd.). Auch konnen sich die Symptome bei echten 
Geschwiilsten auBerst langsam entwickeln •—, so wurde der von Froh¬ 
lich beschriebene Fall, der uberhaupt erst die Veranlassung zur Auf- 
stellung des Typus der Dystrophia adiposogenitalis gab, 8 Jahre be- 


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500 H. Ruhe: tlber die nosologische Stellung und Differential- 

obachtet, ehe man sich zur Operation entschloB*). Ein derartig volliger 
und -— soweit man urteilen darf — dauernder Riickgang aller Sym- 
ptome, wie er in unserem Fall zu verzeichnen ist, spricht doch wohl mit 
groBter Wahrscheinlichkeit gegen Tumor, vor allem auch gegen die 
Annahme eines cerebellaren Tumors, der auf dem Wege eines sekun- 
daren Hydrops ventriculi tertii zu einer Hypophysenschadigung hatte 
fiihren konnen. Wir halten uns vielmehr auf Grand des in Analogic 
zu den von Goldstein beschriebenen Fallen fast als typisch zu be- 
zeichnenden Verlaufs zu der Diagnose einer Meningitis serosa berech- 
tigt, die zeitweise exacerbierend im Laufe der Jahre zu einem Hydro¬ 
cephalus gefuhrt hat. Dieser hat — abgesehen von allgemeinen Hirn- 
drackerscheinungen — die Symptome einer voriibergehenden Drack- 
schadigung der Hypophyse und des Kleinhirns bzw. der Kleinhirn- 
stiele hervorgerafen. Der ProzeB ist dann schlieBlich unter Hinter- 
lassung einiger irreparabler Defekte (Opticusatrophie, vielleicht psy- • 
chische Debilitat) allmahlich wieder abgeklungen. 

Das oben beschriebene Krankheitsbild liegt bereits auf der Grenze 
zwischen der diffusen und der circumscripten Form der Meningitis 
serosa; denn ein zwar diffus verbreiteter Ventrikelhydrops fuhrt an 
umschriebener Stelle durch Drackwirkung zu einer Schadigung von 
Hirnsubstanz, die von entsprechenden Ausfallserscheinungen gefolgt ist. 
Die Entscheidung, ob es sich gegebenenfalls uni cine diffuse oder eine 
circu mscripte Meningitis serosa handelt, ist nicht immer leicht; 
doch wird sie auf Grand der Herdsymptome insofern mit einer ge- 
wissen Wahrscheinlichkeit zu treffen sein, als eine Konstanz der Sym¬ 
ptome stets mehr fiir einen lokalen ProzeB spricht. In diesem Zusam- 
menhang darf wohl iiber folgenden Fall berichtet werden: 

Fall V: Ein 51 jahriger Mann (H. F. aus H.), der friiker stets gesund war, 
erlitt am 6. April 1921 einen Unfall, er stieB mit dem Kopf (Scheitelgegend) gegen 
den Querbalken einer Drillmaschine. Es wurde ihm dabei schlecht zumute, 
BewuBtlosigkeit und Erbrechen tratcn nicht ein. F. konnte seine Arbeit weiter 
verrichten. muBte sich aber nach 10 Tagen wegen starker Kopfschmerzen, die 
unmittelbar nach dem Unfall einsetzten, zu Bett legen. Am 22. April wurde er 
von seinem Arzt der Nervenklinik zu Gottingen iiberwiesen; ein krankhafter 
Befund am Nervensystem und Opticus konnte damals noch nicht erhoben werden. 
Weiterhin hatte der Patient aber dauernd Temperaturen zwischen 37,3° und 39,3°, 
war sehr miide und schlief viel. Beim Verlassen des Bettes bekam er Schwindel- 
anfalle, auBerdem klagte er iiber Ohrensausen. In den letzten 4—5 Tagen war 

*) Kiirzlich erst berichtete Anton (Med. Klinik, 1922, Nr. 35. Sitzung des 
arztlichen Vereins in Halle a. S.) von einem 26jahrigen Patienten, der ganz all¬ 
mahlich unter den Symptomen eines Hvpophysentuinors erkrankte. Eine druck- 
entlastende Operation (Balkenstich), die vor nunmehr 10 Jahren vorgenommen 
wurde, hatte insofern Erfolg, als bis auf den heutigen Tag trotz rontgenologisch 
nachweisbaren Wachstums des Tumors keine nennenswerten Anderungen im 
Krankheitsbild festzustellen sind. 


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diagnose der sogenannten Meningitis serosa. 


501 


er dauernd somnolent. Am 2. Mai wurde er wieder in die Xervenklinik geschickt, 
da der Arzt einen HirnabszeC oder eine otogene Meningitis vermutete. 

Status vom 2. V.: Der Patient ist stark abgemagert, die Gesichtsfarbe ist falil- 
grau. Der Schadel ist in der rechten vorderen Scheitelgegend stark klopfempfind- 
lich, die Kopfhaut weist keine Verletzung oder Narben auf. Der Gesichtsausdruck 
ist etwas starr, maskenhaft; Patient ist benommen. Die Zunge ist troeken und 
belegt. Motilitat intakt, keine Ataxie, Bar&nyscher Zeigeversuch sicher; Reflexe 
ziemlich lebhaft, sonst o. B. Puls 120 Schlage pro Min., kraftig und regelmaBig. 
Temperatur 38,2°. Blutbefund: 9400 Leukocyten pro emm. Ohren- und Nasen- 
befund o. B, 

6. V. Lumbalpunktion: Druck 180 mm Wasser, Xonne—, Zellen 9 / s , klar 
und hell, Wa. —. 

Unter Pyramidon sank die Temperatur in den nachsten Tagen zur Xorrn, 
<las Sensorium hellte sich auf. Die Kopfsehmerzen und die Klopfempfindlichkeit 
des Schadels lieBen erheblich naeh. Da der Patient sich sonst wieder vollig wohl 
fiihlte, wurde er am 18. V. entlasscn. t)ber den weiteren Verlauf der Krankheit 
konnte nichts ermittelt werden. 

Zusammenfassung: Es handelt sich um einen Patienten, der im 
AnschluB an ein Kopftrauma mit Fieber, Kopfsehmerzen und Schwin- 
delgefiihl erkrankte. Auf Grand des schweren Allgemeinzustandes, des 
Fiebers und der umschriebenen Klopfempfindlichkeit des Schadels lag 
der Verdacht eines posttraumatischen Hirnabszesses nahe. Die uber- 
raschend schnell eintretende Besserang spricht aber gegen einen AbszeB 
und macht eine rasch abklingende circumscripte serose Meningitis 
wahrscheinlicher. 

Nicht immer klingen derartige umschriebene Entziindungen so 
rasch ab wie in dem vorliegenden Fall, und erst eine anhaltende Drack- 
wirkung auf die Hirnrinde fiihrt zu Ausfallserscheinungen, die auf den 
Sitz der Erkrankung direkt hindeuten. Geht die Entzundung zuriick, 
so kdnnen natiirUch auch die Symptome, die durch die lokale Schiidi- 
gung der Hirnrinde hervorgerafen werden, wieder verschwinden. So 
sind -wohl die von Oppenheim 93 ) und Muskens 86 ) mitgeteilten Falle 
von ,,Pseudotumor cerebri" zu erklaren. Muskens, der selbst liber 
8 Falle von ,,Meningoencephadtis“ serosa circumscripta berichtet hat, 
Ijetont mit Recht, daB eine umschriebene Hj^peramie der Hirnhaute (die 
er bei einem seiner Fade gelegentlich der wegen Tumorverdacht aus- 
gefiihrten Operation intra vitam beobachten konnte) und eine lokale 
Flussigkeitsansaramlung nach dem Tode verschwinden kann, so daB 
eine Autopsie post mortem tatsachdch ein negatives Resultat haben 
kann. Nonne 90 ) berichtet iibrigens bei einem seiner Fade von ,,Pseudo¬ 
tumor" selbst, daB die Hirnoberflache bei der Operation an der be- 
treffenden Stelle stark injiziert war und reichdch Liquor abfloB. 

Die Entscheidung, ob es sich gegebenenfnlls um einen Tumor oder 
um eine circumscripte serose Meningitis handelt, kann in derartigen 
Fallen unmoglich werden. Fruher hat meist erst der giinstige Ausgang 


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H. Ruhe: t)ber die noeologische Stellung und Differential 


eine Entscheidung herbeigefiihrt; so werden wohl — wenigstens zum 
Teil — auch die Falle von Heilungen eines Hirntumors zu verstehen 
sein, fiber die in der alteren Literatur gar nicht so selten berichtet 
wurde (Bonninghaus 14 ), zu einer Zeit, als das Krankheitsbild der 
Meningitis serosa circumscripta noch nicht bekannt war. Ein absolut 
sicherer Beweis fur das Vorliegen einer umschriebenen serosen Menin¬ 
gitis bei einer Erkrankung mit tumorartigen Symptomen laBt sich 
unter Beriicksichtigung der oben erwahnten Einschrankungen aus dem 
giinstigen Ausgang allein natiirlich nicht fiihren. Eine wichtige Er- 
ganzung in dieser Hinsicht bildet aber stets ein wenn auch schon jahre- 
lang vorausgegangenes Schadeltrauma, an das sich in einem erheb- 
lichen Prozentsatz der Fade die Erkrankung anschlieBt. Es wird aber 
in diesen Fallen stets auch die Mogdchkeit eines Hirnabszesses zu er- 
wagen sein; ist doch von Nauwerck die Entstehung eines Hirn¬ 
abszesses sogar noch 34 Jahre nach einem Trauma beobachtet worden 
(zit. nach Rindfleisch 113 ). Doch wird die erhohte Temperatur, das 
Blutbild, der Ausfall der Hirnpunktion und der Lumbalpunktion wohl 
in jedem Fall Aufklarung verschaffen. Es gibt aber auch Fade von 
Meningitis serosa, wo die Anamnese ganzlich im Stich laBt und keine 
auBere Ursache nachzuweisen ist. Einer exakten Diagnose ganzlich 
unzuganglich sind endlich diejenigen Fade von Meningitis serosa, bei 
denen es zu einer vollkommenen Abkapselung des Prozesses kommt, 
und wo sich durch andauernde Exsudation die entziindliche Cyste 
immer mehr vergroBert, also ein progressives Wachstum zeigt, genau 
wie ein Tumor (Oppenheim-Borchardt 96 ), SchultheiB 124 ), Wen- 
del 144 ). Hier kann nur ein operativer Eingriff mit Freilegung der be- 
treffenden Stelle Aufklarung bringen. Die Lumbalpunktion wird bei 
dieser Form der Meningitis serosa natiirlich keine Aufklarung geben 
konnen, es muBte denn gleichzeitig eine diffuse Erkrankung der Hirn- 
haute vorhanden sein. Auch die kdnische Beobachtung wird — ab- 
gesehen von den Fallen, bei denen die Ausfallserscheinungen schnell 
und dauernd wieder zuriickgehen — keine Entscheidung in dem einen 
oder anderen Sinne herbeifiihren konnen; denn die Herdsymptome 
sind stets die gleichen, mag nun ein Tumor, ein AbszeB oder sonst 
ein raumbeschrankender oder gewebszerstorender ProzeB die Ursache 
sein. Auch der zeitweilige giinstige EinfluB einer Hg- oder Jodmedi- 
kation kann nicht fur eine serose Meningitis sprechen, da auch Tu- 
moren bisweilen scheinbar giinstig darauf reagieren (Oppenheim- 
Borchardt 96 ), Striimpell 132 ), Wendel 144 ). Bei dem heutigen Stand 
der Technik der Hirnoperationen und den relativ guten Dauerresul- 
taten bei rechtzeitig diagnostizierten Fallen von Hirntumor sollte da- 
her, wenn die klinischen Symptome auf ein progressives Wachstum des 
raumbeschrankenden Prozesses hindeuten, in keinem Falle die Ex- 


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diagnose der sogenannten Meningitis serosa. 


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plorativtrepanation allzu lange hinausgeschoben werden. Denn, wie 
die beiden F&lle von Raymond-Claude 109 ) und Schulthei B 124 ) ganz 
besonders eindringlich lehren, kann auch bei der Meningitis serosa 
circumscripta das Zentralnervensystem schlieBlich derart geschadigt 
werden, daB auch eine druckentlastende Operation den ungiinstigen 
Ausgang nicht aufzuhalten vermag. Die Operation wird — wenn 
irgend moglich — in der vollstandigen Ausschalung der Cyste bestehen, 
also im Prinzip die gleiche Therapie erfordern wie ein Tumor (Oppen- 
heim-Borchardt 96 ), Wendel 144 ); denn nach unvollstandiger Ent- 
fernung der Cystenwand sind Rezidive beobachtet (Bing 9 ), Hilde¬ 
brand 84 ), Oppenheim-Borchardt). Von chirurgisclier Seite w r ird 
betont (Borchardt 19 ), Hildebrand; auch SchultheiB 124 ), daB man 
gar nicht so selten bei einer Hirnoperation eine ausgepragte lokale 
Fliissigkeitsansammlung findet, die aber doch nur eine sekundare Er- 
scheinung ist und Zirkulationsstorungen ihre Entstehung verdankt, die 
durch Tumoren verursacht werden. Auch Hirnabszesse oder Konglo- 
merattuberkel konnen von circumscripten entzundlichen Odemen be- 
gleitet sein. Daher soli sich der Operateur nach Ablassen der Flussig- 
keit nicht mit einer einfachen Inspektion oder Palpation begniigen, 
sondern er wird zur Sicherung der Diagnose gut tun, w’enn er die dar- 
unter befindliche Hirnsubstanz inzidiert oder wenigstens durch die 
Hirnpunktion Hirnsubstanz aspiriert, um diese eventuell vorhandenen 
prim&ren Herde nicht zu tibersehen (Hildebrand, Oppenheim- 
Borchardt, Oppenheim 95 ), Placzek-Krause 102 ), Wendel). Ohne 
diesen harmlosen Eingriff kann auch eine primare, fur sich bestehende 
Meningitis serosa selbst durch die Operation nicht sicher bestatigt 
werden (Hildebrand). 

Wie mannigfaltig die Herdsymptome sein konnen, die eine circura¬ 
se ripte serose Meningitis hervorrufen kann, leuchtet ohne weiteres 
ein, wenn man bedenkt, daB der EntzundungsprozeB sich an jeder 
beliebigen StelJe der Hirnoberflache lokalisieren kann; und es gilt 
daher fur die Erkennung der Lokalisation einer Meningitis serosa 
circumscripta all das, was aus der Lehre der topischen Hirndiagnostik 
bekannt ist. Wie schwer die Diagnosenstellung sein kann, laBt der von 
SchultheiB 124 ) mitgeteilte Fall erkennen, iiber den deshalb etwas 
ausfiihrlicher berichtet werden mag: 

Ein 44jahriger Mann, der bisher stets gesund war, erkrankte vor 2 1 / 2 Jahren 
angeblich nach einem Schlag auf den Kopf mit Ziehen und heftigen Schmerzen 
im linken Bein. Nach einiger Zeit bekam er epileptiforme Anfalle, die alle 6 bis 
8 Wochen wiederkehrten. Sie begannen mit heftigen Zuckungcn im linken Bein 
und linken Arm, der Patient wurde darauf schwindlig und verlor das BewuBt- 
sein. In letzter Zeit litt er viel an Kopfschmerzen und Schwindel und zunehinender 
ortlicher und zeitlicher Desorientierung. Im letzten halben Jahr wurde die Sprache 
undeutlich und lallend, auch das Sehvermogen verschlechterte sich. Die Diagnose 


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504 


H. Ruhe: t)ber die nosologische Stellung und Differential- 


wurde damals auf Rindenepilepsie geatellt. Im AnschluB an einen schweren 
epileptiformen Anfall stellte sich eine leichte Parese der linken oberen Extremitat 
ein, dazu trat nach einiger Zeit eine Facialislahmung links und eine Parese auch 
der linken unteren Extremitat. Die Anfalle hauften sich, der Allgemeinzustand 
verschlechterte sich rapide. Mit kompletter linksseitiger Lahmung wurde der 
Patient endlich ins Spital iiberfiihrt. Dort wurde eine peripapillare Schwellung 
der Retina mit Venenerweiterung und zahlreichen kleinen Blutungen festgestellt. 
Alle iibrigen Symptome — linksseitige Lahmung, Biceps-, Triceps- und Periost- 
reflexe 1. > r, FuBklonus links, atypischer Babinski, Oppenheim links +, Patellar- 
und Achillessehnenreflexe beiderseits schr lebhaft — deuteten auf einen Tumor 
der rechten Zentralregion. Nach wenigen Tagen trat eine Schlucklahmung hinzu. 
Die Lumbalpunktion ergab einen Druck von 220 mm, Nonne —, Wa. —, 4 Leuko- 
cyten pro crnni. Nach 6tagigem Krankcnhausaufenthalt, noch ehe die Operation 
erfolgen konnte, trat der Tod ein. Die Sektion ergab eine 6 cm lange, 3 cm breite 
und 2 cm tiefe Cyste an der Innenseite der rechten GroBhirnhemisphare. die nach 
auBen von Arachnoidea, nach innen von Pia begrenzt war. Der reehte Ventrikel 
war stark komprimiert; die histologische Untersuchung der Cystenwand ergab 
alle Zeichen einer Entziindung. 

Derartige Lokalisationen an der GroBhirnrinde sind verhaltnismaBig 
selten. Ein typisches Beispiel dafiir liefert auch der von Raymond 
und Claude 109 ) mitgeteilte Fall, bei dem sich eine Cyste in der Ge- 
gend der linken unteren Regio Rolando fand, ebenso der Fall von 
Wendel 144 ), bei dem eine Cyste tiber dem linken Stirnhirn zu be- 
drohlichen Erscheinungen gefiihrt hatte. SchultheiB 124 ) hat die ein- 
schlagigen Falle erst vor kurzem zusammengestellt. Es sind ihrer nur 
wenige (siehe auch bei Axhausen 4 ), Girard 47 ), Muskens 88 ), Mys- 
slowskaja 87 ), Pitterlein 101 ), v. Sarbo 117 ), Schultze 126 ). Vielleicht 
liegt der Grund dafiir zum Teil auch darin, daB die Berichte tiber der¬ 
artige Erkrankungen jetzt, wo die Kenntnis der Meningitis serosa in 
weitere Kreise gedrungen ist, nicht mehr so hiiufig veroffentlicht wer- 
den wie anfangs. Erst kiirzlich hat Pette") wieder von einem Pa- 
tienten berichtet, bei dem 1 Jahr nach einem Kopftrauma • Jackson- 
artige Anfalle auftraten. Bei der Operation — die Diagnose auf Menin¬ 
gitis serosa circumscripta war iibrigens schon vorher gestellt — fand 
sich fiber dem rechten Scheitelliirn eine vermehrte Fliissigkeitsansamm- 
lung, nach deren Ablassen Heilung eintrat. Auch die meist posttrau- 
jnatisch entstehenden circumscripten Meningitiden im Wirl>elkanal, die 
unter dem Bilde eines extramedullaren Tumors verlaufen, sind heut- 
zutage den Neurologen und Chirurgen durchaus gelaufig (Literatur bei 
SchultheiB). 

Einer besonderen Besprechung bediirfen noch die umschriebenen 
Meningitiden der hinteren Schadelgrube, die weit haufiger sind 
als all die iibrigen Formen der Meningitis serosa circumscripta. Schon 
bei der diffusen Form treten gar nicht selten Symptome auf, die auf 
eine Schadigung des Kleinhirns himveisen. Wie stark diese sein kann, 
lehrt einer der Krauseschen Falle 72 ), wo der ganze Hirnstamm dureh 


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diagnose der sogenam.ten Meningitis serosa. 


505 


den Druck der Fliissigkeit in das Foramen occipitale dermaBen hinein- 
gepreBt wurde, daB an den benachbarten Abschnitten des Kleinhirns 
entsprechend dem Rand des Foramen eine tiefe zirkulare Furche zu 
sehen war. Ebenso berichtet No Ike 88 ) von einer starken zapfenartigen 
Einpressung des Kleinhirns in das Foramen magnum bei einem Fall 
von Meningitis serosa diffusa. Die cerebellaren Erscheinungen konnen 
in dem ganzen Krankheitsbild so iiberwiegen, daB sogar die Diagnose 
auf Kleinhirntumor gestellt wird (Bonhoffer 18 ), Diller 29 ), Finkeln- 
burg 38 ), Oppenheim 95 ). Man hat naturlich auch hier nach differential- 
diagnostisch wichtigen Momenten gesucht. So hat Schmidt 123 ) eine 
Steigerung der Patellarreflexe als fur Meningitis serosa charakteristisch 
ansehen wollen. Die Erfahrung hat aber gelehrt, daB einerseits bei 
Meningitis serosa die Patellarreflexe auch normal oder gar herabgesetzt 
sein konnen, andrerseits auch beim Cerebellartumor })athologische 
Reflexsteigerungen vorkommen. Auch das Schmidtsche Symptom, 
d. h. das Auftreten von Obelkeit, Erbrechen, Schwindelgefiihl und 
Ohrensausen bei einer bestimmten Seitenlage — als Ausdruck eines 
lokalisierten intrakraniellen Drucks —, das nach den Angaben des Ent- 
deckers nur beim Kleinhirntumor vorkommen sollte, ist wiederholt 
bei Meningitis serosa diffusa beobachtet worden (Fuchs 44 ), Finkeln- 
burg 38 ), Oppenheim 92 ). Es kommt librigens auch bei Tumor mit 
anderer Lokalisation vor (Tumor im Corpus striatum, Finkelnburg 36 ). 
Der subakute Beginn, der wechselvolle Verlauf mit langdauernden 
Remissionen, das fliichtige Auftreten von Herdsymptomen (Oppen¬ 
heim 93 ), die traumatische Genese und endlich eine andauernd spon- 
tane Besserung kann bisweilen auf die richtige Diagnose hinlenken; 
aber gerade bei diesen Fallen ist auch ein schneller progressiver Ver¬ 
lauf ohne irgendwelche Schwankungen beobachtet worden (Finkeln¬ 
bu rg 38 ). Bereits 1900 hat sich Krause 72 ) dahin ausgesprochen, daB 
eine sichere Entscheidung zwischen Kleinhirntumor und Hydrocephalus 
internus nicht immer moglich ist. Spater ist dann Hildebrand 64 ) •— 
auf Grund der Erfahrungen, die er bei 51 wegen raumlreschrankender 
Prozesse der hinteren Schadelgrube operierten Fallen gesammelt hat —- 
ebenfalls zu dem SchluB gekommen, daB eine Differentialdiagnose 
zwischen Kleinhirntumor und Hydrocephalus internus nicht moglich 
ist. Es gibt eben kein Symptom, das mit einiger Sicherheit eine Ent¬ 
scheidung treffen lieBe. 

Wenn schon die diffuse Meningitis der rechten Erkenntnis solche 
Schwierigkeiten bereitet, wird naturlich bei den circumseripten For- 
men eine Differentialdiagnose auf Grund des vorliegenden Symptomen- 
komplexes erst recht nicht moglich sein. Es konnen alle Erscheinungen, 
die fur die Kleinhirntumoren als charakteristisch bezeichnet werden, 
auch bei der Meningitis serosa auftreten — die umschriebene Klopf- 


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506 


H. Ruhe: Dber die nosologische Stellung und Differential- 


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empfindlichkeit, der Hinterkopfschmerz, Nackensteifigkeit, Schwindel- 
anfalle, Nystagmus, friihzeitige Stauungspapille oder andrerseits Fehlen 
der Stauungspapille (Finkelnburg - Eschbaum 39 ), Placzek- 
Krause 102 ), Asynergie cerebelleuse, Ataxie mit konstantem Verlust des 
Gleichgewichts nach einer bestimmten Seite (Alexander 1 ), Bing 9 ), 
Hildebrand 84 ), Oppenheim-Borchardt 96 ) u. a.), Adiadochokinesis, 
Bdrdnysches Zeichen, Storungen in der Gewichtsschatzu ng und 
Muskelempfindung (Goldstein-Reichmann 52 ) usw. Auch die durch 
Druck auf die Nachbarorgane hervorgerufenen Symptome, wie Lah- 
mungen oder Reizerscheinungen von seiten der hinteren Hirnnerven 
oder Pyramidenschadigungen sind die gleichen. Bisweilen tritt die 
Meningitis serosa mehr in Form eines Kleinhirnbruckenwinkeltumors 
auf (Finkelstein 41 ), Dana- Elsberg 27 ), Bdrdny 5 ), 6 ), Bing 9 ), 
Boucher-Bouget 21 ), Hildebrand 64 ), Oppenheim-Borchardt 96 ) 
u. a.). Auch bei der circumscripten Form konnen die geschilderten 
Abweichungen — Fehlen schwerer Allgemeinerscheinungen, Remis- 
sionen, fliichtige Herdsymptome — von dem normalen Krankheitsbild 
des Tumors im Zweifelsfall bisweilen ausschlaggebend sein (Brasch 22 ), 
Goldstein-Reichmann, Finkelnburg). Besonders oft lafit sich 
in der Anamnese ein Trauma feststellen, in dessen Gefolge sich die 
Erscheinungen entwickelt haben, wenngleich bekannt ist, daB auch 
ein Hirntumor bisweilen erst im AnschluB an ein Trauma manifest 
wird. Doch gibt es daneben auch Fade, bei denen das Krankheitsbild 
spontan auftritt. Die Lumbalpunktion wird nur seiten eine Aufklarung 
bringen. Oberhaupt mochten wir dringend davor warnen, bei dem 
Verdacht auf Kleinhirntumor eine Lumbalpunktion vorzunehmen; die 
Gefahrlichkeit dieses Eingriffes diirfte wohl jedem erfahrenen Neuro- 
logen bekannt sein. Auch Bing 9 ), Bregman-Krukowski 23 ), Mat* 
thes 81 ), Muskens 88 ) raten davon ab, da im AnschluB an die Punktion 
bedrohliche Erscheinungen aufgetreten sind (Nolke 88 ), Oppenheim- 
Borchardt 95 ), ja sogar der Tod durch eine Punktion herbeigefiihrt 
wurde (GroB 58 ), Oppenheim 95 ) — wahrscheinlich infolge V T erlegung 
des Foramen occipitale durch die Kleinhirntonsillen mit Kompression 
der Medulla oblongata. Andrerseits berichtet Bdrany 5 ), daB er Pa- 
tienten durch die Lumbalpunktion geheilt habe. Meist ist der Ein- 
griff wohl aber ohne Erfolg (Eden 30 ); dies erscheint auch nicht ver- 
wunderlich, da es sich eben um abgekapselte Prozesse handelt, die 
durch druckentlastende MaBnahmen im Subarachnoidealraum des 
Wirbelkanals nicht beeinfluBt werden. Ebenso ist die Ventrikelpunk- 
tion meist ohne jeden Erfolg ausgefiihrt (Eden 30 ), Hildebrand 64 ); 
auch danach ist eine Zunahme der Beschwerden beobachtet worden 
(Oppenheim-Borchardt 96 ). So wird in vielen Fallen nur die opera¬ 
tive Freilegung der hinteren Schadelgrube eine sichere Entscheidung 


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diagnose der sogenannten Meningitis serosa. 


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herbeifiihren konnen, die aueh schon aus therapeutischen Erwagungen 
in all denjenigen Fallen anzuraten ist, bei denen eine standige Zunahme 
der Symptome eine durckentlastende Operation erforderlich macht. 
Die guten Resultate der bisher ausgefiihrten Operationen rechtfertigen 
diese Forderung und ermoglichen es dem Arzt, auch dem Patienten 
gegeniiber die Prognose des operativen Eingriffes durchaus giinstig 
darzustellen, natiirlich nur unter der Voraussetzung, daB die Opera¬ 
tion zur rechten Zeit ausgefuhrt wird*). 

Um die Schwierigkeiten der Diagnosenstellung noch einmal zu be- 
leuchten, sollen nun noch mehrere Falle geschildert werden, die ira 
Verlauf der letzten 2 Jahre in der Gottinger Nervenklinik unter Beobach- 
tung standen. 

Fall VI: Luise G. aus L., 15 Jahre alt, friiher nie ernstlich krank, litt seit An- 
fang Juni 1921 an anfallsweise auftretenden Stirnkopfschmerzen, die etwa 1 Stunde 
andauerten und ineist mit Schwindel und Erbrechen einhergingen. Wegen dieser 
Beschwerden wurde sie im Juli 1921 kurze Zeit in einem Krankenhaus behandelt. 
Dort wurde die Diagnose „Migrane“ gestellt; bei Bettrube trat zuniiohst eine 
Besserung im Befinden ein. Dann aber stellten sich die Kopfschmerzen w r ieder 
haufiger ein, seit August sollen in Armen und Beinen kurzdauernde schmerzhafte 
Zuckungen aufgetreten sein, die alle paar Tage wiederkehrten. Wahrend dieser 
Anfalle soil die Patientin mehrfach gebrochen und auch einige Male die Besinnung 
verloren haben. Auf den Rat des Arztes wurde das Madchen von der Mutter in 
die Nervenklinik gebracht. 

Status vom 11. X. 1921: Die Patientin macht bei der Aufnahme einen apathi- 
schen, leicht dementen Eindruck. Wenig entwickeltes Madchen von blasser 
Hautfarbe. Schadel in der Scheitelgegend klopfempfindlich, die Angaben sind 
jedoeh unsicher. Hirnnerven o. B., Muskeltonus und Motilitat intakt. Samtliche 
Reflexe in normaler Starke vorhanden. Der Gang ist sicher, nur bei geschlossenen 
Augen tritt bisweilen leichtes Abweichen nach rechts ein; jedoeh keine ausge- 
sprochene Ataxie. Die augenarztliche Untersuchung ergibt am Fundus folgende 
Einzelheiten: Die Gegend der rechten Papille ist infolge grauer Triibung der 
Umgebung der Papille fast um das Doppelte vergrciBert; die Papille selbst, hy- 
perami8ch, laBt sich innerhalb der Schwellung kaum noch erkennen. Die Venen 
sind erweitert und geschlangelt, sie knicken am Rande der Schwellung ab; nach 

■ I J ' *i ifl| 

*) In der 20. Sitzung der Schweizer Neurologischen Gesellschaft im November 
1921 hat Veraguth iiber eine seiner Ansicht nach besondere Form von Ence¬ 
phalomyelitis berichtet (ref. im Schweiz. Arch. f. Neurol, u. Psychiatr. 10, H. 1, 
S. 143). Er hat 5 Falle mitgeteilt mit akuter Entstehung, evtl. leichter Neuritis 
optica, vorwiegend schweren cerebellaren Erseheinungen der verscliiedensten Art, 
gelegentlich auch spastischen Paresen (Spinalerscheinungen). Die Angaben iiber 
den Liquorbefund sind mangelhaft. Lues ist wohl auszusehlieBen, nach Kalomel- 
kuren trat Besserung ein. In einigen Fallen traten aber zeitweilig Rezidive auf. 
Lothmar und Bing erinnern in der Diskussion an die Moglichkeit einer Menin¬ 
gitis. V. wendet ein, dab er nur eine Neuritis optica und keine Stauungspapille 
sah, und daB er bei Meningitis serosa nur Stauungspapille fand, insbesondere 
sprachen auch die spinalen Symptome gegen eine Meningitis serosa. Es ist nicht 
nachzuweisen, daB alle Falle spinalmeningitisch sind; die Moglichkeit, daB einige 
dieser Falle zur Meningitis serosa gehoren, bleibt trotzdem bestehen. 

Archiv filr Psychiatric. Bd. 67. 34 


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H. Ruhe: t)ber die nosologische Stellung und Differencial- 


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der Macula zu einige frische Netzhautblutungen. Links findet sich ein dem rechten 
sehr ahnliches Bild. Die Stauungspapille betragt rechts 5 Dioptrien, links 4 Diop- 
trien. 

Verlauf: Am 14. X. abends erbrach die Patientin, am folgenden Tage klagte 
sie iiber Stirnkopfschmerzen. Die Lumbalpunktion ani 15. hatte folgendes Re- 
sultat: Druck 330 mm Wasser, Nonne -f. Zellgehalt in der ersten Portion 18 / 3 
Zellen, in der zweiten Portion 23 / 3 Zellen; Wa —. Im AnschluO an die Punktion 
bemerkte die Patientin eine deutliche Abnahme der Kopfschmerzen. 

Am 19. X. wurde die Patientin in die chirurgische Klinik verlegt. Dort wurde 
der Suboccipitalstich ausgefiihrt, im AnschluB an die Operation trat raseh eine 
erhebliche Besserung im Befinden ein. 

Am 17. XI. wurde das Madchen in die Nervenklinik zuriiekverlegt. Es fiihlte 
sich wohl, der Gang war vollig sicher. Ain Nacken fand sich entsprechend der 
Operationswunde eine Xarbe mit leicht vorgcwolbter, cystisch gespannter Haut. 
Der Schadel war nirgends klopfempfindlich, das Sehvermogen noch etwas lieein- 
trachtigt (verschwommenes Sehen). Motilitat und Sensibilitat intakt, Reflexe 
o. B. Beiin Fingernasenversucli links geringes Vorbeizeigen, Baranyscher Zeige- 
versuch sicher. Riickgang dcr Stauungspapille. 

Einige Tage darauf trat fiir kurze Zeit leichtes Fieber (bis zu 38°) auf, ohne 
daB die Patientin iiber Beschwerden klagte oder die objektive Untersuchung 
irgendwelche Anhaltspunkte fiir die Temjieraturerhohung gab. 

In der Nacht vora 25. zum 26. XI. stieB das Madchen nach Angabe der \Yar- 
terin plotzlich einen lauten Schrei aus, war dann ganz benommen und antwortete 
auf Befragen nicht. Bei Ankunft des Arztes war es wieder klar und gab an, plotz¬ 
lich unter starker Atemnot gelitten zu haben. Eine Untersuchung ergab leichten 
Opisthotonus, positiven Kernig, die Reflexe waren samtlich vorhanden. 

Am nachsten Tage klagte die Patientin iiber Kopfschmerzen, war aber sonst 
vollig klar. 

Wenige Tage darauf fiihlte sie sich wieder vollig wohl; der neurologische 
Befund war unverandert, nur beim Baranyschen Versuch fand sich eine leichte 
Abweichung ohne Bevorzugung einer bestinimten Seite. 

Am 11. XII. wurde das Madchen bei volligem Wohlbefinden auf Wunsch 
der Mutter entlassen. 

Aus einem Bcricht, den der Hausarzt kurzlich iibersandte, gelit hervor, daB 
das Befinden sich seit der Entlassung nicht wesentlich geandert, seit der Operation 
jedenfalls aber erheblich gebessert hat. Bemerkenswert sind vor allem Anfalle, 
die in Pausen von etwa 4 Wochen — und zwar nur nachts — auftreten. Wahrend 
dieser Anfalle, deren Dauer 2—3 Min. betragt, stohnt das Madchen und verzieht 
das Gesieht, manchmal tritt Schaum vor den Mund; irgendwelche Zuckungen 
oder tonische Krampfe sind nicht wieder beobachtet. Das Madchen selbst weiB 
von diesen Anfallen nichts, wird erst auf Anruf munter und klagt dann iiber 
leichte Kopfschmerzen. Dio Operationsnarbe ist fest und pulsiert nicht niehr. 
Reflexe o. B., Pupillenreaktion auf Licht und Konvergenz prompt. Augenhinter- 
grund rechts normal; die linke Papille ist nicht so scharf begrenzt wie die rechte, 
aber nicht prominent. Psychiseh ist — abgesehen von der schon immer bestehenden 
Debilitat — keine Veriinderung festzustellen. Das Sehvermogen ist wieder vollig 
normal. 

Zusammenfassung: Auch in diesem Fail war die Diagnose von 
vornherein nicht mit Sicherheit zu stellen. Wie sehon im vorhergehen- 
den Fall handelte es sich auch hier um die Frage, ob ein Tumor oder 
eine Meningitis serosa vorlag. Eine sichere Entscheidung lieC sich auf 


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diagnose der sogenannten Meningitis serosa. 


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Grund der kurzen Beobachtungsdauer nicht treffen; doch sprach der 
eigentumlich schwankende Symptomenkomplex und das anfallsweise 
Auftreten der Hirndruckerscheinungen mehr fiir eine serose Meningitis. 
Der ophthalmoskopische Befund und die beginnende Verschlechterung 
des Sehverinogens lieBen eine sofortige druckentlastende Operation 
ratsam erscheinen. Der Erfolg dieses Eingriffes ist unverkennbar, das 
Befinden hat sich seit der Operation wesentlich gebessert, die Stauungs- 
papille ist auf deni rechten Auge vollig geschwunden, auf dem linken 
Auge sind vielleicht noch geringe Reste vorhanden. Die von Zeit zu 
Zeit auftretenden Anfiille, die wohl in einem plotzlichen Anstieg des 
Hirndrucks ihre Erklarung finden, deuten allerdings darauf hin, dab 
der KrankheitsprozeB noch nicht endgiiltig zuin Stillstand gelangt 
ist; doch gibt gerade das anfallsweise Auftreten der Erscheinungen, 
deren Intensitat seit der Operation erheblich geringer geworden ist, der 
Vermutungsdiagnose der Meningitis serosa eine neue kraftige Stiitze. 
Wie wichtig es ist, einen druckentlastenden Eingriff zur rechten Zeit 
vorzunehnien und von welchem therapeutischen Erfolg dieser begleitet 
sein kann, mag noch besonders hervorgehoben werden. 

Fall VII: Hermine H. aus Gr., 16 Jahre alt, hat schon seit friiher Kindheit 
ein schiichternes und schreckhaftes Wesen an den Tag gelegt. In der Schule hat 
sie nur miiCig gelernt. Nach den Angaben der Eltern ist das Miidchen, das friiher 
stets gesund war, im Winter 1919/20 mit dem Hinterkopf „furchtbar' 1 auf das 
Eis gefallen. Vierzehn Tage darauf habe sie einen Anfall gehabt, bei dem sie 
plotzlieh zusammenbrach und einige Minuten bewuBtlos war, Zuckungen wurden 
nicht beobachtet. Im Friihjahr 1921 habe sich ein derartiger Anfall wiederholt, 
und vor kurzem sei er zum drittenmal aufgetreten. Dem Anfall ginge ein Gefiihl 
von Kribbeln in den FiiBen voraus; kein ZungenbiB. H. leidet oft an Kopf- 
schmerzen, die sich alle .‘3—4 Wochen einstellen, offenbar in menstruellem Typus. 
Die Periode hat April 1921 eingesetzt, ist aber nur zweimal aufgetreten; erst 
vor 14 Tagen ist die JBlutung wiedergekehrt. Seit kurzem klagt H. iiber Schmerzen 
in der linken Brustseite. In den letzten 6 Wochen hat sie sich so schlecht gefiihlt, 
daB sie dauernd im Bett liegen muBte. Einige Male will sie dop{)elt gesehen haben. 

Status am 21. X. 1921: Seinem Alter entsprechend entwickeltes Madchen in 
etwas benommenem, apathischem Zustand. Es verzieht oft schmerzhaft das 
Gesicht und weint wegen der Schmerzen in der linken Brustseite. Der Schadel 
ist iiber dem ganzen Hinterhaupt stark klopfempfindlich, die Wirbelsaule nicht 
druckschmerzhaft. Die Pupillen reagieren prompt, Augenbewegungen frei. Fin- 
gernasenversuch nicht ganz sicher, besonders links ataktische Storung. Die Be- 
wegungen l)eim Bar&nvschen Versuch sind skandiert, besonders links, jedoch 
kein eigentliches Vorbeizeigen. Patellarreflexe von der Tibiakante auslosbar. 
Beim Rombergschen Versuch starke Ata.xie, schon bei offenen Augen, die Pa- 
tientin fallt stiindig nach links. Hautsensibilitat, Motilitat und sonstige Reflexe 
intakt. 

Lungenbefund: Ober der rechten Spitze Diimpfung, das Atemgerausch da- 
selbst etwas abgeschwjicht; iiber den seitlichen Lungenpartien vereinzelte klingende 
Rasselgerauschc. Rontgenologiseh ist nichts festzustellen (Mcdiz. Poliklinik). 

Puls regelmaBig, wenig kriiftig, 90 Schlage pro Min. Temperatur 36,4". Im 
Blut 6900 Leukocyten pro cmm. 

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H. Ruhe: t)ber die nosologische Stellung und Differential 


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Wiihrend der nachsten Tage klagte die I’atientin dauernd iiber Schmerzen 
in der linken Seite. Es findet sick eine Druckempfindlichkeit in der Axillarlinie 
in Hohe der untersten Intercostalraume, ebenso am Ansatz der untersten Rippen 
neben der Wirbelsaule. Augenhintergrund o. B. 

27. X. Lumbalpunktion: Druck 200 in in H 2 0, Liquor klar, Xonne —, 6 /s 
Zellen im cram, Wa. —. 

28. X. Bisher keine Besserung im Befinden; es besteht beim Stehen und 
Gehen dauernd die Neigung nach links zu fallen. Beim B&rdnyschen Versuch 
geringes Abweichen nach auBen. Beim Fingernasenversuch und Kniehacken- 
versuch zweifellos geringe Ataxie. 

5. XI. Pat. ereeheint etwaa benommen; Kopf diffus klopfempfindlich, dauernd 
Kopfschmerzen und Schmerzen in der linken Seite. Beim Blick nach oben. sowie 
nach rechts und links gibt Pat. an, doppelt zu sehen. Doch sind die Angaben 
ungenau, so daB ein Versuch, die Doppelbilder zu lokalisieren, miBlingt. Bei 
den Bewegungen der Bulbi keine Paresen der Augcnmuskeln bemerkbar; Fun¬ 
dus o. B. 

In der folgenden Zeit trat allmahlich Besserung ein, die Kopfschmerzen 
traten nur noch zeitweise auf. Am 1. XII. war kein krankhafter Befund (ins- 
besondere keine Ataxie) mehr festzustellen. 

Am 11. I. 1922 erschien die Patientin zur Xachuntersuchung, sie klagte noch 
immer iiber Kopfschmerzen, ferner iiber Husten und Schmerzen in den Beinen. 
Der Gang war vollig sicher, die Reflexe normal. Die Patientin machte einen 
etwas debilen, schiichternen Eindruck. 

Eine weitere Untersuchung am 18. VIII. 1922 ergab einen vollig normalen 
neurologischen Befund. Auch subjektiv volliges Wohlbefinden. Die Kopfschmer¬ 
zen waren geschwunden, auch die Schmerzen in der Brust waren nicht mehr 
aufgetreten. 

Zusammenfassung: Ein lOjahriges psychisch etwas debiles Madchen 
erlitt vor etwa 10 Monaten ein Kopftrauma, in dessen Gefolge sie er- 
krankte. Die Hauptsymptome waren Kopfschmerzen, Anfalle von 
Bewu Btlosigkeit und anscheinend voriibergehendes Doppelsehen. Bei 
der Untersuchung fand sich — abgesehen von leichter Benommenheit 
und einer Klopfempfindlichkeit des Schadels im Bereich des Hinter- 
haupts — eine Ataxie in Armen und Beinen, namentlich links, beim 
Rombergschen Versuch die Neigung nach links zu fallen und eine 
Unsicherheit beim Bar&nyschen Versuch; die Patellarreflexe waren 
gesteigert. Die Lumbalpunktion ergab an Her einer Druckerhohung 
keinerlei abnorme Verhaltnisse. Nach dem klinischen Bild handelte es 
sich offenbar um einen das Kleinhirn in Mitleidenschaft ziehenden 
ProzeB. Auf Grund des Lungenbefundes, der eine tuberkulose Infektion 
zum mindesten nicht ausschloB, konnte man an einen Solitartuberkel 
denken. Auch ein AbszeB muBte in den Bereich der Moglichkeit ge- 
zogen werden (wogegen allerdings das Fehlen jeglicher Temperatur- 
steigerung und die normale Leukocytenzahl im Blut sprach); und end- 
lich war zunachst naturlich auch ein Tumor nicht auszuschlieBen. Da 
jedoch die lokalen Erscheinungen in kurzer Zeit vollig zurvickgingen, 
gewann die Annahme, daB eine von Zeit zu Zeit exacerbierende Menin- 


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diagnose der sogenannten Meningitis serosa. 


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gitis serosa circumscripta der hinteren Schadelgrube vorlag, die grdBte 
Wahrscheinlichkeit. Diese Annahme kann auBerdem durch die Anam- 
nese gestiitzt werden; denn offenbar steht das Schadeltrauma mit dem 
Ausbruch der Krankheit in ursachlichem Zusammenhang. Auffallend 
sind ubrigens die Klagen fiber Druckempfindlichkeit und Schmerzen 
in den untersten Intercostalraumen; vielleicht darf man sie in Analogic 
zu den von Brasch 22 ) und Oppenheim 95 ) mitgeteilten Beobachtungen 
setzen, da sich eine sonstige organische Ursache nicht finden lieB. 

Fall VIII: Ein 38jahriger Steinhauer, O. W. aus St., war von 1915—1918 
im Felde. Er gab an, im Jahre 1916 einige Zeit an Schwindelgefiihl und Kopf- 
schmerzen gelitten zu haben; 1917 lag er 2 Monate im Feldlazarett zu Laon, 
weil er „auf Xierenentziindung verdachtig“ war. Am 24. April 1920 erkrankte 
der Patient plotzlich mit Kopfschmerzen und Schwindel; sein Sehvermogen nahm 
so rasch ab, daB er bereits am 26. mit dem reehten Auge nicht mehr sehen konnte, 
mit dem linken auch nur wenig. Der Patient gab an. daB er gleichzeitig unsicher 
in den Bewegungen geworden ware und stark hin- und hertaumelte. Er begab 
sich zu einem Augenarzt in Behandlung. dieser schickte ihn am 26. in die Uni- 
versitatsaugenklinik. Dort wurde eine VergroBerung und unscharfe Begrenzung 
beider Papillen festgestellt, dazu eine deutlicho Prominenz, die rechts starker 
war als links, enge Arterien und leicht gesehlangelte Venen. Die rechte Pupille 
war weitcr als die linke, beide reagierten prompt auf Licht und Konvergenz. 
Der Visus betrug r. =0,1 und 1. - 0,8. In den nachsten Tagen ging die Pro¬ 
minenz rechts rasch zuriick, links dagegen nahm sie noch etwas zu. Derncnt- 
sprcchend ging die Sehkraft rechts herauf und betrug am 2. Mai 0,6; links ging 
sie auf 0,3 herunter. Die Angaben des Patienten bei der Gesichtsfeldbestim- 
mung waren so unbestimmt und wechselnd, da’ll sie nicht recht verwertet werden 
konnten. Wahrend auf dem reehten Auge die Prominenz weiter zuriickging, 
und der Visus bereits am 9. V. wieder normal war. blieb die Papillenschwellung 
links zunachst noch bestehen, ging dann aber am 10. Mai auffallend rasch zuriick, 
so daB der ProzeB am 11. bciderseits fast vollig zuriickgegangen war. De^ Visus 
betrug damals auf dem reehten Auge 1,0, auf dem linken 0,8—0,9. Die Diagnose 
war in der Augenklinik auf Papillitis (Stauungspapille?) gestellt. Am 28. April 
wurde der Patient der Xervenklinik vorgestellt. Es wurden damals schwere 
cerebellare Erscheinungen konstatiert: Ataktischer Gang, Kleinhirnasynei-gie, 
Romberg -(-, beim Fingcrnasenversuch schwere Ataxie, und zwar rechts mehr 
als links, ebenso Adiadochokinesis r.>l. Beim B&ranvschen Versuch in horizon- 
taler Richtung starkes Abweichen nach unten, ebenfalls rechts mehr als links; 
dazu positiver Babinski und Andeutung eines erschopfbaren FuBklonus beider- 
seits, deutlicher Druckpuls. Urin o. B. Am 11. Mai wurde der Patient in die 
Xervenklinik verlegt. 

Status: Gesunder, kraftiger Mann. Schadel und Wirbelsaule — mit Aus- 
nahme des Lumbalteils — nicht klopfempfindlich. Die Pupillen reagicren gut. 
kein Xystagmus. Puls regelmaBig, 80 Schlage pro Min. Ziemlich starker Dermo- 
graphismus. Reflexe: Kniereflexe selir lebhaft, bciderseits Patellarklonus. Achil- 
Iessehnenreflex vorhanden. Romberg, Barany, Adiadochokinesis negativ. Keine 
Ataxie, kein Intentionstremor. Der Gang ist normal. Die Reflexe der oberen 
Extremitat o. B. — Abgesehen von einem unspezifischen Erythema urticatum 
(Hautklinik) und einer sptustischen Obstipation (med. Poliklinik) bot der Patient 
wahrend seines klinischen Aufenthaltes sonst keinerlei krankhafte Storungen. 
Eine augenarztliche Untersuchung am 25. Mai ergab einen bciderseits normalen 


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H. Ruhe: Uber die nosologische Stellung und Differential- 


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Visns, das Gesichtsfeld war vollig normal; die Papillen zeigtcn beiderseite keine 
Abblassung, keine Prominenz. Da der Patient sich vollig wohl fiihlte, wurde er 
am 27. Mai mit Jod entlassen. 

Bei einer Vorstellung am 6. Juni hatte sich der korperliche Zustand (auch 
der Augenbefund) nicht geandert. 

Bei einer Untersuchung am 24. August in der Augenklinik wurden „nur ge- 
ringe Reste der ekemaligen Stauungspapille“ festgestellt; der Visus war normal. 
Die neurologische Untersuchung hatte folgendes Resultat: Der Patient gibt an, 
wahrend der heiBen Tage unter erheblichen Kopfschmerzen, manchmal auch 
an Schwindel gelitten zu haben. Der Gang ist sicher. Beiin Rombergschen Ver- 
such tritt nach LidsehluB geringes Riickwartssinken ohne Gleichgewichtsverlust 
ein. BArany: vertikal sicher; horizontal etwas nach unten abweichend. Beiin 
Fingernascnversuch geringes Abweichen nach auBen mit der rechten Hand. Gleich 
schwere Gegenstande werden rechts schwerer geschatzt. Rechts deutliche Adia- 
dochokinesis. Kniehackenversuch rechts unsicher, rechts gesteigerter Kniereflex. 
Bauchdeckenreflexe o. B. 

Am 14. Oktober stellte sich der Patient abermals vor. Er gab an, daB es 
ihm seit 10 Tagen nicht gut ginge. Er klagte liber Kopfschmerzen, besonders in 
der Stirn; sie wechselten an Intensitat stark, traten bald hier, bald da auf. AuBer- 
dem litte er an anfallsweise auftretendem Drehschwindel, auch ware das Seh- 
vermogen wieder schlechter geworden. 

Status: Patient geht mit geschlossenen Augen vorsichtig, als ob er zu fallen 
drohte; dabei taumelt er etwas. Beiin Beklopfcn des Schadels wird nirgends 
Schmerzempfindung angegeben. BarAny vertikal und horizontal vollig sicher, 
ebenso der Fingernasenversuch. Adiadochokinesis nicht ganz sicher. Hirnnerven 
o. B. Keine Sprachstorung. Die Pupillen reagieren prompt. Beim Romberg¬ 
schen Versueh Gleichgewichtsverlust nach links hinten. Kniereflexe lebhaft. 
Augenbefund: Visus beiderseits 1 / 10 . Papillen beiderseits normal, vielleicht 
geringe temporale Abblassung. Ausgedehnte beiderseitige Gesichtsfelddefekte, 
hauptsachlich in der Peripherie, r. > 1. Am 15. Oktober wurde eine Lumbal- 
punktion vorgenommen: es wurden vorsichtig 2 ccm abgelassen, Druck 180 mm 
Waaser, Nonne und Pandy —, Zellen 26 / 3 pro cmm. Das Sehvermogen nahm 
allmiililich wieder zu und betrug am 28. Oktober rechts = 0,3, links = 0,2. Eine 
am 25. vorgenommene Rontgenuntersuchung des Schadels ergab eine vollig nor- 
male Sella turcica. Die temporale Abblassung nahm allmahlich zu, so daB sie 
am 5. November als sicher pathologisch betrachtet wurde; eine Gcsichtsfeldauf- 
nahme ergab beiderseits hauptsachlich periphere Dcfekte. 

Wegen Nasenbeschwerden wurde der Patient der Ohren-, Nasen- und Hals- 
klinik iiberwiesen. Dort wurde am 24. November wegen einer Septumdeviation 
eine submukose Septumresektion ausgefiihrt, auBerdem wurde die hypertrophische 
Schleimhaut der beiden unteren Muscheln abgetragen. An den Nebenhohlen 
konnte kein pathologischer Befund erhoben werden. 

Dor Visus stieg allmahlich und betrug am 10. Dezembcr r. = 0,9 und 1. = 0,7; 
ophthalmoskopisch war keine Anderung festzustellen. 

Auf eine Anfrage teilte mir der Patient am 6. Marz 1922 mit, daB er noch 
immer an plotzlich auftretenden Schwindelanfallen und Stirnkopfschraerzen leide, 
die an Intensitat sehr wechseln, meist aber heftig sind. Infolgedessen sei er immer 
noch nicht recht arbeitsfahig. Der ophthalmoskopische Befund vom 6. III. (Dr. 
N.) lautete: Pupillenreaktion o. B. Visus beiderseits nahezu 5 / 6 . Gesichtsfeld 
und Farben normal. Beiderseits papillitische Atrophia nervi optici. Kein Ny¬ 
stagmus. 


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diagnose der sogenannten Meningitis serosa. 


513 


Zusammenfassung: Ein bisher stets gesunder Mann erkrankt akut 
unter schweren Erscheinungen cerebellarer Natur. Da sich fur einen 
AbszeB, einen Solitartuberkel oder ein Gumma keine Anhaltspunkte 
ergaben, wurde die Diagnose auf Tumor gestellt. Die augenarztliche 
Untersuchung hat Veranderungen ergeben, von denen nicht sicher 
ist, ob es sich um eine Stauungspapille oder um eine Neuritis optica 
gehandelt hat. Vielleicht sprechen aber die starken Sehstorungen mehr 
fur einen entzundlichen ProzeB. Der schnelle Ruckgang der Erschei¬ 
nungen, die auffallend rasch eintretende Besserung lieB die Diagnose 
auf Tumor, wenn auch nicht unmoglich, so doch zweifelhaft erscheinen. 
Es wurde daher an eine Meningitis serosa circumscripta gedacht, damit 
konnte auch der Augenbefund ubereinstimmen, mag es sich nun um 
eine Papillitis oder um eine Stauungspapille gehandelt haben. AuBer- 
dem spricht auch der remittierende Verlauf — bisher 2 Anfalle — 
dafiir. Der zweite Anfall ist offenbar weniger akut eingetreten, auch 
waren die Ausfallserscheinungen von seiten des Cerebellum und die 
ophthalmoskopischen Veranderungen bei weitem nicht so ausgepragt 
wie ira ersten Anfall. DaB tatsachlich wahrend des zweiten Anfalls 
eine intrakranielle Drucksteigerung vorlag, beweist der erhohte Lum- 
baldruck. Die allcrdings nur geringe Zellvermehrung gibt doch einen 
gewissen Hinweis auf einen entzundlichen ProzeB. Doch wissen wir, 
daB ja auch bei Tumoren eine geringe Zellvermehrung vorhanden sein 
kann. Man konnte vielleicht — sogar auf Grand des ophthalmoskopi- 
schen Befundes — annehmen, daB sich der entzundliche ProzeB im 
ersten Anfall mehr diffus ausgebreitet oder wenigstens auf den N. 
opticus ubergegriffen hat, wahrend er im zweiten Anfall mehr lokali- 
siert war. Fur eine von einer Erkrankung der Nebenhohlen ausgehende 
Neuritis optica oder eine Neuritis ex nephritide lieBen sich keine An¬ 
haltspunkte finden. Die temporale Abblassung, die eine Zeitlang 
sicher zu konstatieren war, konnte vielleicht an eine multiple Sklerose 
denken lassen; der fast akute Ruckgang schwerster cerebellarer Herd- 
symptome spricht aber in erheblichem MaBe dagegen. Remissionen sind 
gewiB auch bei multipier Sklerose haufig, aber nicht derartig schlag- 
artig einsetzende Besserangen so hochgradiger Herdsymptome. t)ber- 
dies hat nach dem letzten Bericht die Atrophie den gesamten Nerven- 
querschnitt ergriffen; und da das papillo-maculare Biindel bekanntlich 
schadlichen Einfliissen gegenulx*r besonders empfindlich zu sein scheint, 
ist es vielleicht auch erklarlich, daB dieser Teil zuerst der Atrophie 
verfiel. Wir konnen unser Urteil also dahin zusammenfassen, daB es 
sich in dem vorliegenden Fall wohl zweifellos um einen raumbeschran- 
kenden ProzeB der (rechten) hinteren Schadelgrube handelt, der wohl 
sicher entzundlichen Ursprungs ist, und der wegen seines remittieren- 
den Verlaufes, wegen des Fehlens einer sonstigen Atiologie und wegen 


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514 


H. Ruhe: Ober die nosologische Stellung und Differential- 


seiner relativen Gutartigkeit — abgesehen von der leider in Atrophie 
iibergegangenen Neuritis optica — mit groBer Wahrscheinlichkeit als 
Meningitis serosa circumscripta anzusehen ist. Der Fall beansprucht 
wegen der Wiederholung der Anfalle ein besonderes Interesse. 

Noch schwicriger ist die Deutung des Krankheitsbildes im nachsten 
Fall. 

Fall IX: Klempner A. P. aus R., 35 Jahre alt. Familienanamnese o. B. 
P. ist aeit 1917 verheiratet, hat ein gesundes Kind. Venerische Infektion wild 
geleugnet. Im Februar 1918 wahrend des Feldzuges wurde P. versehiittet; es 
wurde damals eine Quetschung der Brust und des rechten Beines festgestellt. 
Der Patient behauptet neuerdings, damals bewuBtlos gewesen zu sein (im Kran- 
kenblatt kein Anhalt dafiir); er hat darauf einen Monat im Lazarett gelegen. 
August 1918 will P. mehrfach erbrochen habcn, damals stellte sich auch Schwin- 
delgefiihl ein. Bis zur Demobilmaeliung will er sich dann in Krankensammel- 
stellen aufgehalten haben (in den Akten nichts davon bekannt). Er behauptet, 
damals unsicher in den Handen gewesen zu sein und an Schwindelanfallen ge- 
litten zu haben. Seit seiner Entlassung — November 1918 — traten dann in 
Pausen von einigen Wochen Anfalle auf, bei denen er das Bewu lit sein verlor; 
nacli den Angaben der Ehefrau soil er dabei vom Stuhl gefallen sein und mit den 
Beinen gesehlagen haben, einmal ist Urin abgegangen, manchmal hat er sich 
w'ahrend der Anfalle an den Handen kleine Verletzungen zugezogen, kein Zungen- 
biB, Dauer der Anfalle ca. 10 Minuten. Der erste derartige Anfall soil im Februar 
1919 wahrend eines Spazierganges aufgetreten sein, mit Kopfdruck, plotzlichein 
Schwindelgefiihl, Erbrechen und Drehsehwindel. Auf seinen Antrag kam P. in 
militararztliche Behandlung (August 1919—Marz 1920 im Vereinslazarett W.). 
Damals wurde „Xeurasthenie” diagnostiziert. Doch wurde schon damals zeit- 
weise auftretender grobschlagiger Nystagmus in den Endstellungen beobachtet: 
auBerdem wurde am 10. X. ein Anfall beobachtet, zu dem folgende Notiz gemacht 
wurde: „Heftiges Zittern. krampfartiges Zucken des ganzen Korpers, Einbohren 
des Kopfes in die Kissen, Daumen krampfhaft eingeschlagen. Dauer 3—4 Min. 
Nach dem Anfall Schmerzen in alien Gliedern. besonders in den Nackenmuskeln.“ 
Nach seiner Entlassung aus dem Lazarett fiihltc sich der Patient zunachst vollig 
wohl, die Anfalle traten nur vereinzelt auf. so dafi P. seine Arbeit wieder auf- 
nehmen konnte. April 1921 warden die Anfalle haufiger — ein- bis zweimal in der 
Woche —, Ende Mai traten starke Storungen hinzu: Der Gang wurde taumelig, 
es stellte sich ein Gefiihl allgemeiner Mattigkeit ein. Anfalle sind aber nicht mehr 
aufgetreten. Der Zustand des Patienten verschlimmerte sich allmiihlich so, daB 
der behandelnde Arzt ihn am 11. VII. der Nervenklinik iiberwies mit der Diagnose: 
Tumor? Sklerosis multiplex incipiens? Neurasthenia gravis? 

Status am 11. VII. 1921: MittelgroBer Mann in maBigem Ernahrungszustand, 
Haut blaB. Schleimhaute schlecht durchblutet. Schadel beiderseits iiber dem 
Os occipitale klopfempfindlich, Wirbelsaule nirgends druckempfindlich. Pupillen 
beiderseits gleich, mittelweit, reagieren prompt auf Lichteinfall und Konvergenz. 
In den Endstellungen beim Blick nach rechts und links starker horizontaler 
Nystagmus, beim Blick nach oben vertikaler Nystagmus. Kornealreflex prompt, 
Konjunktivalreflex abgeschwiicht. Hirnnerven intakt. Reflexe der oberen Ex- 
tremitat: Radiusperiost- und Tricepsreflex r. > 1.; Fingergiundgelenksreflex r. 
negativ, links vorhanden, rechts geringe Hypertonie. Beim Fingernasenversuch 
links starke Ataxie, rechts unsicher. Beim B&ranyschcn Versuch zeigt Patient 
links nach auBen vorbei, rechts normal. Bei der Prvifung auf Adiadochokinesis 
Ungeschicklichkeit in beiden Handen. Sensibibtat intakt. Bauchdeckenreflexe 


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diagnose der sogenannten Meningitis serosa. 


515 


beiderseits vorhanden. doch schwach und leicht erschopfbar. Untere Extremi- 
taten: Kniereflex rechts etwas lebhafter als links. Gekreuzter Adduktorenreflex 
von links nach rechts deutlich positiv. Achillessehnenreflex beiderseits vorhanden; 
Babinski, Oppenheim, Mendel - Bee hterew, Rossolimo 0, doch Facherphanomen 
r. >■ 1. Beim Kniehaekenversuch Ataxic links viel deutlicher als rechts. Patient 
kann nicht allein stehen, taumelt sofort nach rechts hinten. Puls regelmaBig, 
weich, 66 Schlage pro Min. Temperatur unter 37°. Augenhintergrundsbehind: 
Beginnende Stauungspapille, links deutlicher als rechts — Patient hat seit einem 
Jahr bemerkt, daB beim Lesen die Buchstaben oftcr vor seinen Augen verachwam- 
men —. Der Patient klagt liber dauemden Schwindel, beim Transport vom 
Untersuchungszimmer nach oben tritt Erbrechen ein. 

Unter Jodkaliumtherapie trat in den nachsten Tagen cine auffallende Bes- 
serung ein. Der Patient fiihlte sich bedeutend wohler, der Gang wurde besser. 
Die ophthalmoskopische Untersuchung am 13. VII. hatte folgendes Resultat: 
Keine Stauungspapille, Grenzen etwas unscharf, geringste (nicht pathologische) 
Prominenz. Die Blutuntersuchung nach YVassermann fiel verdachtig aus, es 
waren geringe Hemmungen mit 2 Antigenen vorhanden. Einer Lumbalpunktion 
widersetzte sich der Patient auf das entschiedenste. Da der Patient nach Hause 
drangte, wurde er am 15. VII. entlassen. 

Aus einem Bericht, den mir der Hausarzt in freundlicher Weise zukomnien 
lieB, geht hervor. daB die „nervdsen“ Beschwerden des Patienten — aufgeregtes 
querulierendes Wesen, allgemeines Schwachegefiihl — seit seinem klinischen 
Aufenthalt etwas zuriickgegangen sind. Dagegen bestehen die organischen Er- 
scheinungen unverandert fort. Die Klagen des Patienten bestehen in Gedachtnis- 
schwache, Herabsctzung der psychischen Leistungsfahigkeit, zeitweise auftreten- 
dem starken Kopfdruck, Erschwerung des Spreehens und dauernder Obstipation. 
Schwindelanfalle und Erbrechen sind nicht mehr aufgetreten. Der augenblick- 
liche korperliche Zustand des Patienten laBt sich dahin zusammenfassen: 

Schadel diffus klopfempfindlich. Pupillen o. B. In den Endstellungen der 
Bulbi grobschliigiger horizontaler und vertikaler Nystagmus. Hirnnerven o. B. 
Augenhintergrund: Rechte Papille eine Spur prominent, Papillengrenzen links 
nicht ganz seharf. Beide Papillen blasser als normal. Rechts einige chorioiditische 
Herde. Visus beiderseits mit + 0,75 D. = a / 5 . Bei kalorischer Labyrinthreizung 
verstiirkt sich der Nystagmus, und es tritt ein bald voriibergehender subjektiver 
Schwindel auf. Beim angeschlossenen B&r&nyschen Versuch verstiirkt sich das 
spontane Abweichen nach aullen. Fingernascnversuch beiderseits grobschlagig 
zitternd und ataktisch. Adiadochokinesis nicht ausgesprcchen. Grobe Kraft 
links herabgesetzt; Handedruck mit dem Dynamometer rechts 60, links 25. 
Romberg +, ohne bestimmte Fallrichtung. Gang etwas steif, breitbeinig und 
wackelnd. Kniehaekenversuch beiderseits unter maBigem Wackeln. aber mit 
guter Erreichung des Ziels. Grobe Kraft der Beine gut. Der Muskeltonus ist 
nicht vermehrt, die Beweglichkeit der Muskulatur ist nach alien Richtungen 
frei. Samtliche Sehnenreflexe lebhaft; keine pathologische Reflexsteigerung, nur 
FuBklonus beiderseits, sehr schwach, plantar. Der Bauchdeckcnreflex soil fehlen. 
Sensibilitiit intakt (Dr. N.: ,,Beriihrungsempfinden mit Pinsel in beiden Handen 
ziemlich aufgehoben“), Sprache o. B. (Dr. N.: skandierend bei ,,zwitschernder 
Schwalbenzwilling' 1 ). Der Patient lehnt auch jetzt sowohl Blutentnahme zur 
Wassermami-Reaktion wie auch Lumbalpunktion schroff ab. 

Zusammenfassung: Wir haben das Bild einer zweifellos organischen 
Erkrankung des Zentralnervensystems mit chronischem Beginn (1918) 
und chronischem Verlauf vor uns. Die objektiven Symptome deuten 


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516 H. Ruhe: tlber die noeologmche Stellung und Different ial- 

auf eine vorwiegende Schadigung der Kleinhirnhemisphare hin, die 
anfangs besonders in der linken Korperhalfte deutlich hervortraten, 
jetzt aber — mit Ausnahme der groben Kraft — auf beiden Seiten 
gleich stark zu sein scheinen, und zwar mit besonderer Bevorzugung 
der oberen Extremitaten. Dazu traten anfangs Pyramidensymptome, 
die jetzt nieht mehr vorhanden sind (Fehlen der Bauchdeckenreflexe, 
FuBklonus?). Der Augenhintergrundbefund hat auch in diesem Fall 
kein sicheres Resultat ergeben; es geht aus den Berichten nicht mit 
voller Scharfe hervor, ob es sich um eine Neuritis optica oder um eine 
Stauungspapille handelt. Dbrigens scheint sich auch hier der t)ber- 
gang in Atrophie bereits zu vollziehen. Es handelt sich nun um die 
Frage, wie das vorliegende Krankheitsbild zu deuten ist. Der Verdacht 
auf einen Kleinhirntumor war zunachst vollkommen berechtigt. Doch 
spricht die iiberaus langsame, mit Remissionen sich vollziehende Ent- 
wicklung des Leidens und das Fehlen ausgesprochener Hirndruckerschei- 
nungen wohl dagegen. In der Gottinger Nervenklinik wurde auf Grund 
des damals vorhandenen Syraptomenkomplexes die Diagnose einer 
circumscripten serosen Meningitis gestellt, die sich in der linken hin- 
teren Schadelgrube lokalisiert haben sollte; und der weitere (chronische) 
Verlauf spricht durchaus nicht gegen eine solche Annahme. Doch laBt 
sich die Moglichkeit, daB es sich eventuell um einen spezifisch syphili- 
tischen ProzeB handelt, nicht von der Hand weisen. Ebenso spricht 
aber der Verlauf der Krankheit durchaus nicht gegen eine multiple 
Sklerose, deren wechselvolles Krankheitsbild ja allgemein bekannt ist; 
denn auch die Neuritis optica bzw. Stauungspapille kann — wenn auch 
seiten — eine Begleiterscheinung der multiplen Sklerose sein (Le- 
wandowsky 76 ), Striimpell 132 ). Ein weiteres erschwerendes Moment 
liegt ferner darin, daB sich dem Krankheitsbild offenbar psychogene 
Erscheinungen beimischen. Die Lumbalpunktion allein vermag hier 
Aufklarung zu verschaffen, und es ist — auch im eigenen Interesse 
des Patienten — zu bedauern, daB sie nicht ausgefiihrt werden kann. 
Die Diagnose wird also vorlaufig in suspenso bleiben iniissen, zum 
eigenen Schaden des Patienten; denn auch die Thera pie kann natur- 
gemaB nur eine symptomatische sein. 

Aus der Schilderung dieser Falle diirfte wohl mit aller Deutlichkeit 
hervorgehen, wie schwierig, geradezu unmdglich es unter Umstanden 
sein kann, den Verdacht einer serosen Meningitis zu rechtfertigen. 
Trotzdem sollte es sich der Praktiker doch stets zur Pflicht machen, 
bei den geeigneten Fallen wenigstens an die Moglichkeit des Vorliegens 
einer Meningitis serosa zu denken. ,,Aber die Diagnose der Meningitis 
serosa soli nicht zur Modediagnose bei alien mbglichen Gehirnkrank- 
heiten mit gliicklichem Ausgang werden. Will man den Boden der 
Tatsachen nicht verlassen, so wird man nur seiten zur sicheren Diagnose, 


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diagnose der sogenannten Meningitis serosa. 


517 


haufiger aber zur Wahrscheinlichkeitsdiagnose der Meningitis serosa 
gelangen. Es ist moglich, wenn auch nicht wahrscheinlich, daB die 
l>essere Erforschung der Meningitis serosa uns Merkmale zur Erken- 
nung dieser Krankheit schon wahrend des Verlaufes und raeist erst 
naeh ihrem Ablauf gibt.“ Dieser Ansicht, die Bonninghaus vor nun- 
mehr 25 Jahren ausgesprochen hat, konnen wir uns auch heute noch 
in vollem Umfange anschlieBen. 

Wenn wir jetzt das gesamte Krankheitsbild der Meningitis serosa 
noch einmal uberschauen, so konnen wir die ungeheure Mannigfaltig- 
keit des Symptomenkomplexes, auf die wir schon anfangs hinwiesen, 
nur wieder von neuem betonen. Bald unter stiirmischen Erscheinungen 
innerhalb kiirzester Zeit zum Tode fuhrend, bald weniger heftig ver- 
laufend oder gar mit schleichendem Beginn und Verlauf einer tuber- 
kulosen Meningitis ahnlich, bald nur mit den Zeichen eines allgemeinen 
Hirndrucks, bald mit ausgesprochenen Herdsymptomen, entweder in 
standig progressivem Verlauf oder mit typischen Remissionen die aller- 
schwersten Krankheitszustande hervorrufend oder aber spontan zu 
einem giinstigen Ausgang fuhrend, teils mit infektioser oder trauma- 
tischer Genese, teils ohne jede erkennbare Ursache — so tritt uns die 
serose Meningitis als die variabelste und daher am schwersten zu er- 
kennende Form der Hirnhautentzundung entgegen. Trotz dieser Ver- 
schiedenheiten in Atiologie und Klinik wollen wir doch auf Grund 
unserer pathologisch-anatomischen Erwagungen an dem einheitlichen 
libergeordneten Begriff der ,,Meningitis serosa“ festhalten. Und selbst 
wenn auch pathologisch-anatomisch Ubergange einerseits in die 
eitrige Form der Meningitis, andererseits in einfach hyperamische Zu- 
stande bestehen, so sollte man trotzdem den Begriff der serosen Menin¬ 
gitis nicht vollig ausschalten. Widal (zit. nach Danielopolu 28 ) hat 
z. B. vorgeschlagen, statt dessen den allerdings ,,zu nichts verpflich- 
tenden", aber auch ganzlich nichtssagenden Ausdruck des ,,Status 
meningealis" einzufiihren, dessen Feststellung den Kliniker wohl ebenso- 
wenig befriedigen diirfte wie die Diagnose eines ,,Status typhosus". 
Es wird immer und auf alien Gebieten der Pathologie Grenzfalle geben. 
Und so sehr es auch aus rein didaktischen Griinden erwiinscht ist, stets 
an einer moglichst scharfen Formulierung der Begriffe festzuhalten, 
so darf man doch auch nicht vergessen, daB sich die Natur noch nie 
in ein Schema hat zwangen lassen, daB uberall flieBende Ubergange 
bestehen. Gerade diese bunte Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, 
das wechselvolle Spiel der bald einander widerstrebenden, bald unter- 
stutzenden Krafte fesselt unsere Beobachtung und laBt uns die Vor- 
gange in der uns umgebenden Natur mit stets erneutem Interesse 
miterleben. 


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518 


H. Iluhe: Cber die nosologische Stellung und Differential- 


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Die Unsicherheit und Unklarheit, die fiber den Begriff der serosen 
Meningitis besteht, beruht zum Teil auch darauf, daB der Ausdruck 
von den einzelnenAutoren in ganz verschiedenem Sinn angewendet wird; 
und es sei nochmals betont, daB man nur dann von ,.Meningitis serosa “ 
sprechen soli, wenn auch wirklich ein EntziindungsprozeB in den Me- 
ningen vorhanden ist. Vielfach werden jedoch auch solche Zustande 
als ,,Meningitis serosa“ bezeichnet, bei denen es sich zwar — nach 
dem klinischen Befund — zweifellos um eine Affektion der Meningen 
bzw. des Zentralnervensystems handelt, bei denen die Lumbalpunktion 
aber nur eine Druckerhohung ergibt. Diese Zustande konnen bei den 
verschiedensten Infektionskrankheiten auftreten (Groer) (besonders 
auch bei Darmerkrankungen, Ruhr, Typhus, Tuberkulose), ferner bei 
Intoxikationen (Alkohol, Blei), bei Insolation, bei Verbrennungen, als 
Teilerscheinung der ,,Serumkrankheit“, angeblich auch bei Helmin¬ 
thiasis*), (Matthes 81 ), Groer 55 ), bei der Menstruation (Quincke 106 ), 
wahrend der Graviditat. Sie auBern sich in Mattigkeit, VerdrieBlich- 
keit, Appetitlosigkeit, Kopfschmerzen, Nackensteifigkeit, Erbrechen, 
BewuBtseinsstbrungen, die sich zu echten Psychosen steigern konnen, 
auch in ausgesprochcnen meningitischen Symptomen. Wenn es sich 
um eine Infektionskrankheit handelt, pflegen diese Erscheinungen ge- 
wohnlich zur selben Zeit aufzutreten wie die betreffende Grundkrank- 
heit. Sie konnen in deren weiterem Verlauf bald wieder in den Hinter- 
grund treten oder aber eine derartige Steigerung erfahren, daB sie das 
Krankheitsbild vollig beherrschen und von einer echten Meningitis 
nicht zu unterscheiden sind (Groer 55 ). Die Lumbalpunktion ergibt 
ein klares, meist unter erhohtem Dnick stehendes, sonst aber vollig 
normales Punktat. Bei den zur Obduktion gelangenden Fallen kann 
man hochstens eine Hyperamie und ein Odem des Gehirns und der 
Meningen feststellen, oder der pathologisch-anatomische Befund ist 
vollig negativ. Schultze 125 ) hat allerdings auch peri vasculare Zell- 
anhaufungen in der Hirnsubstanz gefunden; und Groer 55 ) berichtet 
von kleinen, flohstichartigen Hamorrhagien im Gehirn, fiigt aber hinzu, 
daB man kein Recht habe, diese Veranderungen als primare Ursache 
der klinischen Erscheinungen zu betrachten. t)ber die Bedeutung und Ent- 
stehung dieses Krankheitsbildes gehen die Meinungen sehr auseinander. 

Zunachst hat man vielfach von einer besondercn Disposition ge- 
sprochen, und es kann liier auf das verwiesen werden, was bereits im 


*) Von franzosischcr Seite (Guillain, Cardin: Contribution 4 l'etude des 
m£ningites de riiehninthiaso. Bull, de l’aead. de m6<l. 87, Nr. 11, 1922) ist kiirz- 
lich ein Fall mitgeteilt worden, bei dem eine Helminthiasis (Taenie) offenbar 
im Zusannnenhang mit einer echten Meningitis serosa (EiweiBvermehrung. starke 
Pleocytose, positive kolloidale Benzoereaktion) stand; denn nach Abtreibung 
der Taenie trat innerhalb kurzer Zeit vollige Heilung ein. 


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diagnose der sogenannten Meningitis serosa. 


519 


Anfang dariiber gesagt wurde. Was die Erkliirung des Zustandes selbst 
anlangt, so hat Heidenhain 81 ) von einer ,,vasomotorischen Reflex- 
neurose“ gesprochen. Quincke faBt ihn als Teilerscheinung des an- 
gioneurotischen Symptomenkomplexes auf und setzt ihn in Analogie 
zu den akuten Gelenkergiissen, den umschriebenen Hautodemen, den 
urticariellen Hautefflorescenzen und dem seltenen pramenstruellen 
Ascites. Finkelstein (zit. nach Bliihdorn 12 ) ist der Ansicht, dab 
die Stoffwechselprodukte der Bakterien auf die Ganglienzellen und 
HirngefaBe einwirken und die Sekretion des Plexus chorioideus an- 
regen. Diese toxische Genese wird von den meisten Autoren befiir- 
wortet (siehe auch bei Feer 35 ) und Kayser 70 ). Groer 55 ) halt aber 
die Bedeutung der bakteriellen Invasion nicht fur ausschlaggebend; 
er betraehtet das Krankheitsbild als cine Toxikose, als eine Teilerschei- 
nung reaktiver Natur — etwa analog dem Fieber —, die wahrscheinlich 
nicht durch Bakterientoxine, sondern durch endogene Noxen (Gewebs- 
zerfall) hervorgerufen wird. l>a ein organischer ProzeB (Liquordruck- 
erhohung, vermehrte Liquorsekretion usw.) auch bei diesen nicht ent- 
ziindlicben Affektionen vorliegt, ist die Bezeichnung ,,Neurose“ nicht 
sehr passend, vor allem nicht die Bezeichnung , ,Ref lexneurose'', wenn 
auch in jenen Fallen wenigstens eine Verwandtschaft zum Quine ke- 
schen Odem zweifellos bestehen diirfte. Doch spielen wohl cndotoxische 
Vorgange die Hauptrolle. Dieses Krankheitsbild wird, wie schon mehr- 
fach erwahnt, auch heute noch von verschiedenen Autoren dem Begriff 
der ,,Meningitis serosa'* untergeordnet und schlechthin als ,,Meningitis 
mit serosem Exsudat” bezeichnet, obwohl man gleichzeitig betont, 
daB keine EiweiB- oder Zellvermehning, sondern allein eine Druck- 
erhohung im Liquor nachzuweisen sei. Aber schon Quincke 108 ) hat 
im Jahre 1897 offenbar die Empfindung gehabt, daB es sich in diesen 
Fallen nicht um eine Entzundung der Hirnhaute handelt; denn er 
wahlte als Titel fiir seinen damals veroffentlichten Aufsatz: ,,t)ber 
Meningitis serosa und verwandte Zustande“. Im allgemeinen scheinen 
wohl die meisten Autoren heutzutage diese beiden Krankheitsbilder 
prinzipiell voneinander zu trennen (Feer 34 ), Groer 55 ), Matthes 81 ). 
Der von F. Schultze auf Grund seiner pathologisch-anatomischen 
Untersuchungen gewahlte Ausdruck ,,meningitis sine meningitide“ hat 
wohl nirgends Anerkennung gefunden; auch die Bezeichnung ,,Pseudo- 
meningitis“ hat sich — wenigstens nicht in Deutschland — eingebiir- 
gert-. Die von Dupre gepragte Bezeichnung ,,Meningismus“ hat da- 
gegen tlie verschiedenste Beurteilung erfahren. Man soil unter diesem 
Ausdruck verstehen: ,,1’ensemble des symptomes eveilles par la souf- 
france des zones meningo-corticales et independants de toute alteration 
saisissable 1 *.. Der Name hatte zunachst rasch Anklang gefunden und 
Avird aiich heute noch gebraucht (Feer, Kayser, Lewandowsky 78 ), 


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520 H. Ruhe: Ober die nosologische Stellung und Differential- 

Matthes). Ziehen (zit. nach Groer) hat ilin abgelehnt mit der Be- 
griindung, daB die Falle von Meningismus nur leichte Falle von Me¬ 
ningitis serosa waren, und zwar seien es entweder zirkulatorische Sto- 
rungen oder funktionelle Storungen auf infektioser, toxischer oder 
autotoxischer Basis. Auch Thiemich 133 ) hat die Bezeichnung ,,Me- 
ningismus“ fallen lassen mit der Angabe, daB man im Laufe der Zeit 
ganzlich heterogene Krankheiten darunter zusammengefaBt habe. Ins- 
besondere scheint man das Krankheitsbild von dem auf rein funk- 
tioneller Basis sich aufbauenden meningitischen Symptomenkomplex 
nicht immer scharf genug getrennt zu haben. Groer 55 ) hat den Aus- 
druck ,,Meningoencephalismus“ empfohlen; er versteht darunter ,,die 
Getamtheit der primaren meningo-corticalen Reizerscheinungen, die 
im Verlauf, namentlich aber im Beginn einer jeden zur Allgemein- 
reaktion fuhrenden Infektionskrankheit khnisch nachweisbar sein kon- 
nen, die aber mit keiner der mit den jetzigen Methoden feststellbaren 
entziindlichen Erscheinungen verbunden sein brauchen, und die eine 
weitgehende Unabhangigkeit von dem pathologisch-anatomischen Be- 
fund aufweisen. Die primare Xoxe, die das Zentralnervensystem be- 
trifft und die klinischen Bilder hervorruft, kann sekundare —encephali- 
tische und meningitische — Veranderungen hervorrufen.“ Ob sich diese 
Bezeichnung einbiirgern wird, dariiber kann heute noch kein Urteil 
abgegeben werden. Wir mochten jedoch empfehlen, den Ausdruck 
„Meningismus < ‘ — wenn man ihn uberhaupt anwenden will — nur fiir 
solche Zustande zu gebrauchen, die auf rein funktioneller Grundlage 
entstehen und dementsprechend auch lediglich durch psychische Be- 
handlung beeinfluBt werden konnen. Fiir den auf toxischer oder an- 
gioneurotischer Grundlage sich aufbauenden Symptomenkomplex schla- 
gen wir — nach dem Vorgang von Bossert 20 ) und nach Analogic des 
in die Nierenpathologie eingefiihrten Begriffes der ,,Nephropathie“ — 
die Bezeichnung ,,Meningopathie“ vor und trennen darnit dieses 
Krankheitsbild prinzipiell einerseits von der auf entzundlicher Basis 
beruhenden Meningitis serosa und andererseits den rein funktionellen 
Zustiinden. Es wird Aufgabe der klinischen Beobachtung sein, zu ent- 
scheiden, welches von diesen Krankheitsbildern im einzelnen Fall vor- 
liegt, da sich die Therapie je nach dem Vorliegen des einen oder des 
anderen Krankheitszustandes verschieden gestalten wird. 

Eine besonders wichtige Rolle in der Atiologie der Meningopathie 
spielt das Trauma. 3 Krankheitsfalle, aus denen die Bedeutung dieses 
Momentes hervorgcht, mogen als Beispiel angefiihrt werden. 

Fall X: F. K., Besitzer eines Erholungsheinis, 42 Jahre alt, hat sich als 
Kind durch Sturz zweimal am Kopf verletzt. Wahrend cines Pfcrdetransportes 
in RuBland, Herbst 1915, wurde K. durch den Hufschlag eines Pferdes mit dem 
Kopf gegen eine Wand geschleudert. Er war sofort bewuCtlos und kam erst 


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diagnose der sogenannten Meningitis serosa. 


521 


nach einiger Zeit wieder zu sich. AuBer einer Kontusion der rechten Brustwand 
(blutiger Auswurf, Rippenfraktur?) hatte K. cine erhebliche Wunde an der rechten 
Stirnseite davongetragen. Von den Einzelheiten des Unfalls weiB er nichts; auch 
ob Blut aus Xase oder Ohr ausgetreten ist, oder ob er erbrochen hat, kann er 
nicht angeben. Der Patient hat dann ein halbes Jahr im Lazarett gelegen, die 
Kopfwunde ist gut verheilt. Xachdem K. ein halbes Jahr Garnisondienst getan, 
kam er wieder ins Feld. 

Seit dieser Zeit litt der Patient an Kopfschmerzen, die bei bestimmten Kopf- 
bewegungen, auch bei Erkaltungen an Heftigkeit zunahmen und besonders in 
der rechten Schlafengegend auftraten. Zeitweise stellten sich auraahnliche Zu- 
stande von BewuBtseinstriibung ein. Bemerkenswert war femer eine hochgradige 
Gedachtnisschwache. Xach den Angaben der Ehefrau war K. seit dem Unfall 
reizbar geworden, geistige Arbeit fiel ihm schwer, ab und an litt er an Depressio- 
nen. Im Friihjahr 1919 erkrankte K. an einer schweren eitrigen Pansinuositis 
rechts, die im Januar 1920 anlaBlich einer Grippe rezidivierte. Es bestand da- 
inals hohes Fieber, die Kopfschmerzen waren betraehtlich, der eitrige Nasen- 
ausfluB dauerte 2 Monate lang. Seit dieser letzten Erkrankung hatte sich der 
Zustand des Patienten erheblich verschlechtert, so daB er auf den Rat seines 
Arztes am 20. September 1920 die Xervenklinik zu Gottingen aufsuchte. K. 
klagte iiber Schmerzen in der rechten Kopfhiilfte. die anfallsweise und z. T. 
iiberaus heftig auftraten. Mitunter empfand der Patient Ubelkeit. einmal hat 
er wahrend eines solchen Anfalls erbrochen. K. klagte auBerdem iiber die Ge¬ 
dachtnisschwache. Sehlaf und Apj>etit waren gut. 

Status praesens: Gut gcnahrter Mann; Lungen und Herz o. B. An der rechten 
Stirnseite im Kopfhaar verborgen findet sich eine alte reaktionslose Xarbe, unter 
der der Knochen imprimiert ist. Die rechte Schadelhalfte ist an einigen Punkten 
klopfempfindlich; die Wirbelsaule ist auf Druck nieht schmerzhaft. Die Pu- 
pillen reagieren prompt auf Licht und Konvergenz, die Augenbewegungen sind 
frei. Fundus o. B. Beim Rombergschen Versuch fiillt der Patient konstant nach 
rechts vorn, das Stehen auf dem linken Bern ist etwas unsicher. Beim B&r&ny- 
schen Zeigeversuch ergibt sich, daB Patient rechts beim Zeigeversuch in senk- 
rechter Richtung nach auBen vorbeizeigt, in horizontaler Richtung ist keine 
Abweichung festzustellen; BArAnv links o. B. AuBer etwas lebhaften Bauch- 
deckenreflexen und beiderseits reduzierter Geschmacksempfindung konnte sonst 
kein weiterer Befund erhoben werden. 

Wa. im Blut und Liquor negativ. 

Bei einer Luinbalpunktion (am 27. IX.) ergab sich ein Druck von 270 mm 
Wasser, der Liquor war klar, 9 / s Zellen im cmm. Xonne —. Wahrend des klini- 
schen Aufenthaltes (bis zum 13. X.) wechselte das Befinden des Patienten von 
Zeit zu Zeit; es bestanden andauemd leichte Kopfschmerzen, ab und zu Ubelkeit. 
Einmal klagte der Patient auch iiber Xackensteifigkeit; der Schadel blieb iiber 
dem rechten Stirnbein klopfempfindlich. Der Bar&nysche Versuch hatte bei 
wiederholten Priifungen stets das gleiche, oben enviihnte Ergebnis. Es fiel auch 
eine leichte Sprachstorung (Stocken und geringes VerschleiBen) auf. Die Stim- 
mung des Patienten war andauernd gchoben. Die Temperatur hielt sich wahrend 
der ganzen Zeit des Aufenthaltes in normalen Grenzen. 

Nach der Entlassung ging es dem Patienten zunachst gut; dann verschlim- 
merte sich aber der Zustand wieder. Die Kopfschmerzen nahmen an Starke und 
Haufigkeit zu, gelegentlich trat Ubelkeit und Schwindelgefiihl hinzu. K. hatte 
unter Appetitlosigkcit und haufigen Durchfallen zu leiden. Das Gedachtnis 
hatte sich etwas gebessert, war aber im Vergleich zu friiheren Zeiten noch immer 
bedeutend herabgcsetzt. Auch zu Hause war die Stimmung des Patienten gleich- 


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522 H. Ruhe: Uber die nosologische Stellung und Differential- 

maCig gehoben. Auf arzt lichen Rat begab sich K. ain 15. I. 1921 abcrmals in 
die Nervenklinik. 

Status praesens: Die Gesichtsfarbe des Patienten ist frisch, das BewuBtsein 
klar. Eine Verlangsamung iin Gedankenablauf ist nicht zu bemerken. Die rechte 
vordere Schadelpartie ist klopfeinpfindlich, die Austrittsstellen dcs 1. und 2. rechten 
Trigeminusastes sind etwas druckschmerzhaft. Beim B&r&nyschen Zeigeversuch 
ist keine sichere Abweichung (vielleicht eine Spur) nach rechts nachzuweisen. 
Beim Rombergschen Versuch findet ein geringes, aber deutliches Schwanken nach 
rechts statt; cbcnso weicht der Patient beim Gehcn mit geschlossenen Lidern nocli 
deutlich, wenn auch wonig, nach rechts ab. Die grobe Kraft in den Beinen bei 
Widerstandsbewegungen ist auffallcnd gering. Sonst ist kein krankhafter Be¬ 
hind festzustellen. 

Wahrend dcs klinischen Aufenthaltcs (vom 15. I.—25. II.) fiel wieder die 
andauernd vergniigte. fast als hvpomanisch zu bezeichnende Stinimung des Pa¬ 
tienten auf. Das Taumeln beim Gehen besserte sich rasch. Der Augenhinter- 
grund ivies normale Verhaltnisse auf; die mediale Seite der Papille war vielleicht 
etwas prominent, jedoch war diese Prominenz nach Ansicht der Univ.-Augen- 
klinik nicht als pathologisch zu bezeichnen. Der Babinskische Zehenreflex war 
gelegentlich positiv, und zwar bald rechts, bald links, stets nach einigen Tagen 
wieder verschwindend. Nach Feststellung der mediz. Klinik litt der Patient an 
einer Garungsdyspepsie, die durch eine entsprechende EiweiBfettdiat gebessert 
wurde. Eine Lumbalpunktion am 4. II. ergab einen Druck von 220 mm, Nonne 
war negativ. Blutbild: 9000 Leukocyten pro cmm. Die Temperatur war an¬ 
dauernd normal, der Puls etwas beschleunigt, zeitweise bis zu 126 Sehlagen pro 
Min. Die Klagcn des Patienten waren stets sehr allgemeiner Natur; besonders 
haufig wurde liber Kopfschmerzen geklagt, die meist in der Stirn, aber auch im 
Hinterhaupt auftraten. Das Befinden wechselte sehr; bisweilen fiihlte sich der 
Patient vollig wohl. Hcrvorzuheben ware noch das MiBtrauen, das der Patient 
gegen jede Medikation (Jodtherapie) zeigte. Im ganzen war der Zustand des 
Patienten im Vergleich zu dem Befinden wahrend des ersten klinischen Aufent- 
haltes erheblich besser. Herr K. erfreut sich nach einer Mitteilung, die er uns 
kiirzlich zukommen lieB, jetzt wieder eines volligen Wohlbefindens. 

Zusammenfassung: K. erkrankte im AnschluB an ein Kopftrauma 
(Herbst 1915) mit Erscheinungen (Kopfschmerz, Schwindel, Reizbarkeit, 
Gedachtnisschwache), die auf die Commotio cerebri, die anscheinend 
damals bestanden bat, zuruckzufiihren sind. Dieser Zustand verschlim- 
merte sich im AnschluB an eine eitrige Entziindung der Nasenneben- 
hohlen; es gesellten sich Symptome hinzu, die unzweifelhaft auf eine 
organischc Erkrankung des Zentralnervensystems hindeuteten. Eine 
Rontgendurchleuchtung, die vielleicht eine Splitterung der Schadel- 
kapsel (mit konsekutiver Verletzung der Hirnhaute oder des Hirns) 
hatte aufdecken konnen, war ergebnislos. Auch die Konfiguration der 
Nebenhohlen erwies sich auf dem Rontgenbild als normal. An einen 
Tumor oder AbszeB (posttraumatisch oder von der Sinuitis frontalis 
fortgeleitet) muBte naturlich ebenfalls gedacht werden. Gegen die An- 
nahme eines Abszesses konntc der normale Leukocytengehalt im Blut, 
das Fehlen jeglicher Temperatursteigerung und der Ausfall der Lumbal¬ 
punktion verwertet werden. Auch fiir die Diagnose eines Hirntumors 


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diagnose der sogenannten Meningitis serosa. 


523 


waren nicht hinreichend genug Anhaltspunkte v r orhanden; es fehlten — 
abgesehen von dem erhohten Lumbaldruck — eigentliche konstante 
Hirndrucksymptome, der Augenhintergrund war normal, Storungen 
von seiten der Hirnnerven, ausgesprochene Motilit&ts- oder Sensibili- 
tatsstorungen fehlten; vor allem war kein progressiver, sondern eher 
ein regressiver Verlauf der Krankheit — mit Ausgang in Heilung — 
festzustellen. Somit konnten AbszeB oder Tumor mit ziemlich iiber- 
wiegender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden. 

Die auffallende Euphorie konnte dazu verleiten, eine circu mscripte 
Lokalisation des Prozesses in der Gegend des Stirnhirns anzunehmen. 
Doch wird man mit dieser Annahme sehr vorsichtig sein mtissen, da 
der Patient nach den Angaben der Angehorigen auch schon friiher zu 
Scherz und Witz aufgelegt sein sollte, und die lokalisatorische Bedeu- 
tung der ,,Witzelsucht“ iiberdies sehr problematisch ist. Fur die An¬ 
nahme einer in der Gegend des Kleinhirns lokalisierten Meningitis 
serosa circumscripta besteht auf Grund der wenigen Symptome, die 
darauf hindeuten konnten (Barany, Romberg), keine geniigende 
Sicherheit. Dagegen sprechen Anamnese, Lumbalpunktionsbefund (er- 
hohter Druck ohne EiweiB- und Zellvermehrung), der schwankende, 
im allgemeinen aber doch als remittierend zu bezeichnende Verlauf und 
<lie Veranderung der Psyche (leichte geistige Ermudbarkeit, Gedachtnis- 
schwache, Reizbarkeit, Stimmungsanomalien) durchaus fur eine Me- 
ningopathie, die sich ira AnschluB an das Schadeltrauma entwickelt 
hat und dann spater durch die Erkrankung der Stirnhohle vielleicht 
von neuem angeregt worden ist. Erscheinungen, die auf eine lokale 
Schadigung der Hirnsubsta.nz hinweisen (Babinskischer Reflex, 
Barany, Romberg!), sind ja auch bei der Meningopathie beschrieben 
worden (Bittorf, Bossert), so daB man deshalb nicht eine strenge 
Lokalisation des Krankheitsprozesses anzunehmen braucht. Ein Teil 
der Symptome, wie Kopfschmerz und Ubelkeit, mag vielleicht auch — 
wenigstens zum Teil — mit den gastrointestinalen Erscheinungen im 
Zusammenhang gestanden haben, da sich wiederholt die allgemeinen 
Beschwerden wie die letztgenannten Erscheinungen zu gleicher Zeit ver- 
schlimmerten und durch eine entsprechende Diat wieder gebessert 
wurden. Wir halten uns also zu der Diagnose einer traumatischen 
Meningopathie berechtigt, die nach jahrelangem Bestehen und zeit- 
weiligen Exacerbationen nunmehr endgiiltig abgeklungen zu sein scheint. 

Ahnliche diagnostische Erwagungen, die im einzelnen wohl nicht 
wiederholt zu werden brauchen, kommen den beiden folgenden Fallen zu. 

Fall XI: Ein 47jahrig<*r I^andwirt (Chr. H. aus D.) erlitt im Marz 1921 einen 
Radunfall. Der Patient gab an. daB ihm die Einzelheiten des Unfalls hinterher 
nicht mehr bewuBt waren. Er wurde vom Wegewiirter aufgefnnden und kam 
erst wieder zu sich, als er nach Hause geschafft war; dort hat er erbrochen. Im 

Archlv fiir Pgychiatrle. Bd. 67. 35 


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H. Ruhe: tlber die nosologische Stellung und Differential- 


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AnschluB an das Trauma stellten sich starke Kopfschmerzen ein, die ihn fur 
8 Tage arbcitsunfahig machten. AuBerdem hatte er in der rechten Schulter 
starke Schrnerzen und klagte iiber Xachziehen und Mattigkeit des rechten Bei- 
nes. Eine auBere Verletzung war nicht festzustellen, auch der rechte Arm hatte 
keinen Schaden erlitten. Der Patient kam am 16. VII. in die Xervenklinik zu 
Gottingen. Er klagte iiber dumpfe, ineist gleichmaBige Kopfschmerzen in der 
rechten Kopfseite; das Gedachtnis habe seit dem Unfall nachgelassen. auch 
kbnne er nicht mehr so gut denken wie friiher. Der Patient befand sich in einem 
guten Ernahrungszustand. Kopf und Wirbelsaule waren nirgends klopfempfind- 
lich, Pupillen und Hirnnerven o. B. An den oberen Extremitaten waren die 
Reflexe links lebhafter als rechts; objektiv nachweisbare Sensibilitatsstorungen 
waren jedoch nicht vorhanden. Auch die grobe Kraft und die Entwieklung der 
Muskulatur waren links und rechts gleich gut. Motilitat und Sensibilitat der 
unteren Extremitaten waren vollig normal; nur wurden die Bewegungen der 
GroBzehe bei feinen Anschlagen nicht ganz sicher angegeben. Die gespreizten 
Finger zeigten einen geringfiigigen Tremor. Die Temperatur war normal (unter 
37°). Die Lumbalpunktion ergab einen Druek von 250 mm Wasser, Xonne —, 
' i j 3 Zcllen im cmm. In den nachsten Tagen trat eine auffallende Besserung der 
Kopfschmerzen ein. Da sich der Patient wieder vollig wohl fiihlte, wurdc er 
am 22. VII. mit I K nach Hause entlassen. Auf eine Anfrage teilte mir der Pa¬ 
tient am 4. III. 1922 mit, daB er seit seinem klinischen Aufenthalt von seinen 
friiheren Beschwerden nichts mehr verspiire und sich wieder vollig gesund und 
leistungsfahig fiihle. Der Patient hat, wie er mitteilte. damals unter seinem Zu- 
stand sehr gelitten; alle Versuche, sich „gesund zu stellen“, sich mit Gewalt auf- 
zuraffen und in seinem Betrieb mit Hand anzulegen, sind damals gescheitert; 
und er fiihlt sich gliicklich, wieder im vollen Besitz seiner Gesundheit zu sein. 
Von einem funktionellen Einschlag kann also bei diesem Fall keine Rede sein. 

Fall XII: R. Sehr. aus G. — 31jahriger Kaufmann — diente wahrend des 
Krieges auf einem Torpedoboot, wo er 1918 ,,nervose Erscheinungen“ bekam; 
er wurde unruhig und leicht aufgeregt. Am 6. III. 1919 wurde er im Kampf 
gegen die Bolschewisten am Kopf verwundet. Der Patient wuBte von den Vor- 
gangen damals nichts, er ist sofort umgefallen und war, als er wieder zu sich 
kam, auf dem rechten Auge blind. Erbrcchen und Schwindelanfalle sind damals 
nicht aufgetreten, nur hatte er iiber starke Kopfschmerzen zu klagen. tlber 
Libau und Konigsberg, wo er jedesmal kurze Zeit im Lazarett zubrachte, wurde 
der Patient nach Hamburg transportiert. Dort wurde im August das rechte 
Auge enukleiert; Oktober 1919 wurde er nach Hause entlassen. Dort ging es 
ihm meist gut; er hatte nur zeitweise bohrende Kopfschmerzen in den Schlafen, 
wahrenddessen auch haufig Drehschwindel. Krampfe oder Schwachegefiihl traten 
wahrend der Dauer der Koj)fschrnerzen nie ein, nur w r ar die Schrift beim Lesen 
manchmal v r ollig verschwommen. Xach den Angaben der Ehefrau w r ar der Pa¬ 
tient seit seiner Verwundung sehr gereizt, traumte nachts sehr lebhaft, auBerte 
wohl auch lebensiiberdriissige Ansichten. Mitte August 1921 erkrankte der Pa¬ 
tient plotzlich mit Appetitlosigkeit, tlbelkeit, bitterem Geschmack im Munde, 
Kopfschmerzen und einem Gefiihl, „als ob er Schiittelfrost hatte“, so daB er 
sich am 15. zu Bett legen muBte. Er war damn 28 Stunden tief benommen, er- 
brach mehrfach, die Atmung wechselte stark, war bald schnell, bald langsam. 
Er murmelte leise vor sich hin und erkannte die Umgebung nicht. Dann wurde 
er allmahlich klar, klagte iiber Kopf- und Riickcnschmerzen und Schwindelgefuhl. 
Wahrend der arztlichen Untersuchung war er noch so schlafrig. daB er die Vor- 
giinge um sich herum kaum bemerkte. Die Temperatur wechselte damals stark, 
war aber meist sehr niedrig (bis zu 34,5°); die Pulsfrequenz schwankte zwischen 


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diagnose der sogenannten Meningitis serosa. 


525 


48 und 60 Sohl&gen pro Min. Es schloB sich nun ein Erregungsstadium an, 
wahrend dessen er sehr unruhig war, aus dem Bett ging, phantasierte und seine 
Frau schlug, die er fur einen Hund hielt, den er verpriigeln wollte. Dann wurde 
er allmahlich ruhiger. klagte aber liber dauernde Kopfschinerzen, (jbelkeit und 
SchwindelgefiihJ. Auf arztlichen Rat begab sich der Patient am 24. VIII. in ein 
Krankenhaus X. Aus dem Status, der damals aufgenommen wurde, ist folgendes 
hervorzuheben: 

Sehr guter Allgemeinzustand. Linke Hinterhauptsgegcnd klopfempfindlich, 
zweiter Trigeminusast beiderseits etwas druckschmerzhaft. Pupille reagiert 
prompt auf Lieht und Konvergenz. Leichter Nystagmus. Nach langem Stehen 
mit geschlossenen Lidern tritt Schwanken ein (ohne Ataxie), Babinski schwach 
positiv. Reflexe sonst o. B. In der ersten Naeht war Patient sehr unruhig, redete 
wirr, war benommen; gegen Morgen trat Besserung ein. Temperatur normal. 
60 Pulssehlage pro Min. Eine Lumbalpunktion am 26. ergab einen Druck von 
180 mm, Nonne —, keine sichere Zellvermehrung. Der anfangs ausgesprochene 
Verdacht auf SpatabszeB wurde auf Grund des Blutbildes — 7100 Leukocyten 
mit nur 49°/ 0 Neutrophilen —, des Fehlens einer Temperaturerhohung (die aber 
durehaus nicht immer vorhanden zu sein braucht!). des Lumbalpunktats und 
der auffallend raschen Besserung fallen gelassen. Der Patient wurde, da er sich 
wieder vollig wohl fiihlte, am 27. VIII. entlassen. 

Am 29. VIII. iiberkam ihn jedoch plotzlich ein Gefiihl von Hammern im 
Kopf, das mehrere Stundcn andauerte; ihm war gleichzeitig, als ob die FiiBe 
angeschwollen waren, und er empfand ein Gefiihl von Ameisenlaufen an alien 
Gliedern. auBerdem hatte er starkes Schwindelgefiihl. Er begab sich in die chirur- 
gische Klinik in Gottingen, die ihn der Nervenklinik iiberwies. 

Status vom 1. IX.: Patient macht einen schwer kranken Eindruck. Er ist 
leicht benommen, stohnt vor Kopfschinerzen. Ins Bett gebracht, erholt er sich 
bald. Kraftiger Mann mit fahler Gesichtsfarbe. Der Schiidel ist diffus klopf¬ 
empfindlich, besondcrs auf der linken Stimseite. Erster Trigeminusast druck- 
empfindlich, 1. 3> r. Pupille o. B. Kein Nystagmus! Hirnnerven frei. Nach 
dem Aufrichten nehmen die Kopfschinerzen schnell an Intensitiit zu, so daB 
sich der Patient wieder liinlegen muB. Beim Rombergschen Versuch steht Pa¬ 
tient nach LidschluB zunachst ruhig, taumelt dann plotzlich nach hinten. Keine 
Ataxie. Motilitat und Sensibilitat intakt. Reflexe o. B.. nur der Babinskische 
Zehenreflex rechts ist (nicht sicher) positiv. Puls regolmiiBig; Temperatur nicht 
erhoht, mcist um 36°, bisweilen unter 35°. 

Unter Jodtherapie besserte sich das Befinden des Patienten erheblich, es 
traten nur noch hin und wieder Kopfschinerzen verbunden mit Schwindelgefiihl 
auf. Am If. war das Babinskische Phanomen rechts deutlich positiv; man hatte 
den Eindruck, als ob der Reflex erst in letzter Zeit so deutlich geworden ist. Bei 
einer in der chirurgischen Klinik vorgenommenen stereoskopischen Rontgen- 
durchleuehtung konnten nirgends intrakraniale Splitter festgestellt werden. Am 
24. IX. wurde der Patient in erheblich gebessertem Zustand entlassen. 

Die Beschwerden des Patienten scheinen aber seitdem nicht ganzlich ge- 
chwuntlen zu sein; denn im Februar wurde auf Veranlassung des Versorgungs- 
lazarettes M. ein Gutachten eingefordert. In der Zuschrift wurde vom behan- 
delnden Arzt — sicher vollig zu Unrecht — der Verdacht auf Simulation aus- 
gesprochen. 

Der vorliegende Fall ist ein typisches Beispiel fiir die nach Kopf- 
trauma so hiiufig auftretende Mcningopathie, deren Symptome oft von 
funktionellen Erscheinungen durchsetzt oder gar iiberlagert werden. 

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H. Ruhe: t)ber die nosologische Stellung und Differential- 


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Schon Weitz 140 ) hat betont, dab man die Bezeichnung ,,Meningitis 
serosa“ bei diesen Fallen vermeiden soil, da es sich nicht urn eine Exsu- 
dation, sondern nur um eine Hypersekretion von Liquor handelt. Man 
hat angenommen, dab das Trauma nur eine mittelbare Ursache fur die 
vermehrte Absonderung des Liquors ist. Es sind von pathologisch- 
anatomischer Seite leichte lokale Verdickungen oder kleinste aus Blu- 
tungs- und Zertriimmerungsherden hervorgegangene Narben an der 
Hirnoberflache nachgewiesen; und diese Veranderungen sollen — etwa 
analog der Hypersekretion von Magensaft bei alten Ulcusnarben — 
einen Reiz auf den Plexus und die Meningen ausiiben im Sinne einer 
gesteigerten Liquorproduktion (Weitz, Bittorf 11 ). Andere nehmen 
vasomotorische Storungen der Chorioidealgefabe an (Schlecht 121 ), 122 ). 
Jedenfalls spielt aber die von Quincke 108 ) betonte Labilitat der Ge- 
fabin nervation und Reizbarkeit der Hirnhaute eine grobe Rolle, das 
beweist schon der durch anfallsweise auftretende Verschlimmerungen 
gekennzeichnete Verlauf des Leidens. Eine eigenartige Theorie zur Er- 
klarung des erhohten Lumbaldrucks hat Rinderspacher 112 ) auf- 
gestellt. Er sieht ihn als einen Heilfaktor an zur Herbeifiihrung eines 
Gleichgewichts ziwschen Sekretion und Resorption; wenn eine ver¬ 
mehrte Liquorabsonderung stattf&nde, wiirde ein Ansteigen des Drucks 
so lange erfolgen, bis bei einer gewissen Hohe des Druckes eine ent- 
sprechend hohere Resorption gewahrleistet und die vermehrte Sekre¬ 
tion entsprechend eingeschrankt wiirde. Und umgekehrt ware bei 
einer Einschrankung der Resorption — durch Narbenbildung oder 
Verkleinerung der resorbierenden Flachen — ein erhohter Druck notig, 
um einerseits das iibrig bleibende resorbierende Gewebe in hoherem 
Mafie als bisher zur Resorption anzuregen oder andererseits die Sekre¬ 
tion entsprechend einzuschranken. Diese Theorie klingt fast zu teleolo- 
gisch; ob sich Liquorsekretion und -resorption von derartigen rein 
mechanischen Momenten allein bestimmen und regeln lassen, erscheint 
nach dem, was im Anfang iiber die Liquorresorption und -sekretion 
gesagt wurde, mehr als fraglich. Die Anfalle von voriibergehend ge- 
steigertem Hirndruck, die dem Krankheitsbild der traumatischen 
Meningopathie so oft einen charakteristischen Stempel aufpragen, 
deuten darauf hin, dab Sekretion und Resorption durchaus nicht immer 
in so harmonischer Weise miteinander verkniipft sind*). Jedenfalls 
ware es aber erstaunlich, wenn, wie berichtet wird, selbst jahrelang 

*) Der Ausdruck ,,serose Hypertonie‘\ den R. fiir das Krankheitsbild der 
traumatischen Meningopathie vorschlagt, diirfte abzulehnen sein, da — abge- 
sehen von der nicht ganz verstandlichen Bezeichnung ..serose Drucksteigerung" 
(im Gegensatz zu einein „ser6sen Xormaldruck“ oder im Gegensatz zu welcher 
anderen (eitrigen usw.) Drucksteigerung?) — das Wort ,,Hypertonie“ von der 
GefaB- und Kreislaufspathologie bereits vollig mit Beschlag belegt ist. 


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diagnose der sogenannten Meningitis serosa. 


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anhaltende Steigerung des Druckes ohne irgendwelche Folgen fiir den 
psychischen und physischen Zustand des betreffenden Organismus blei- 
ben sollte. 

In praxi kann die Beurteilung eines solchen Krankheitsbildes auf er- 
hebliche Schwierigkeiten stoBen, da — wie nochmals hervorgehoben 
werden mag — funktioneUe Symptome das reine Bild der trau matischen 
Meningopathie verwischen konnen (Schlecht, Rinderspacher). 
Schlecht und Weitz, auch Quincke 108 ) haben zunachst behauptet, 
daB auch bei vollig normalem Liquorbefund die Beschwerden eines 
Unfallpatienten nicht rein funktioneller Natur sein, sondern auf einer 
organischen Hirnveranderung beruben konnen. Ohne die Feststellung 
einer sicheren Liquordruckerhohung (und natiirlich sonstiger Verande- 
rungen des Liquors) miissen wir aber eine Meningopathie irgendwel- 
chen Charakters entschieden ablehnen. Es bleibt dann gewiB noch die 
Moglichkeit, daB die Beschwerden des Kopfverletzten durch eine grobere 
oder feinere Lasion des Gehirns selbst mitverursacht und nicht rein 
psychogen sind. Doch steht diese Differentialdiagnose zvvischen der 
psychogenen und der sogenannten Kommotionsneurose hier nicht zur 
Diskussion. Ferner kommen nach Weitz 140 ), 141 ) auch bei Neurastheni- 
kern und Hysterikern mit leicht erregbarem GefaBsystem infolge 
Hyperamie des Hirns geringe Druckerhohungen vor (bis zu 220 mm 
Wasser), eine Behauptung, die weit. eher auf ungeniigende Druck- 
messung als auf tatsachlichen Befund zuriickzufiihren sein diirfte; 
insbesondere wird man bei psychogenen Personen keine echte Druck- 
erhohung erwarten konnen. Nephritis, chronischer Alkoholismus und 
Arteriosklerose, die mit erhohtem Lumbaldruck einhergehen konnen, 
miissen gleichfalls in Betracht gezogen werden. Und endlich ist die 
Lumbalpunktion selbst mit aller Sorgfalt vorzunehmen. Vor allem 
diirfen Druckschwankungen oder Drucksteigerungen, hervorgemfcn 
durch forcierte Atmung und Pressen, beim Ablesen des Druckes nicht 
vorhanden sein, der Patient muB absolut ruhig und gleichmaBig atmen 
(Bo ssert 20 ), Rinderspacher 112 ). Schlecht 122 ) hat demgemaB mit 
Recht empfohlen, man solle in jedem Falle 3—5 Minuten warten, ehe 
man abliest, da sich der Flussigkeitsspiegel im Manometer erst nach 
dieser Zeit auf eine konstante Hohe einstellt. Diese Kautelen, die im 
iibrigen in der hiesigen Klinik stets poinlich beobachtet werden, sind 
vielleicht nicht iramer geniigend beriicksichtigt worden. Die Punktion 
hat selbstverstandlich in Seitenlage zu erfolgen. Die Angaben iiber die 
normale Hohe des Liquordruckes schwanken bei den einzelnen Autoren 
in weiten Grenzen. Wahrend bei Kindern ein Druck von 120 mm 
Wasser schon als pathologisch gilt, bewegen sich die Angaben fiir den 
Lumbaldruck bei Erwachsenen bis zu 200 mm Wasser auf warts (Le- 
wandowsky 76 ). Werte von 250—300 mm — ja sogar bis 800 mm 


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528 H. Ruhe: t)bcr die nosologische Stellung und Differential- 

Bossert 20 ) — bei absolut mhiger Atmung!) — sind bei der trauma- 
tischcn Meningopathie nicht selten. In sehr vielen Fallen ist der Nach- 
weis nines erhohten Lumbaldrucks das einzige objektive Symptom, 
das sich am Patienten nachweisen laBt. Angaben iiber Stauungspapille 
oder andere Fundus veranderungen (retinale Hamorrhagien, Gefa ti¬ 
er weiteru ngen) sind sehr selten (Bossert, Weitz). 

Auch die Mitteilungen, die auf ganz lokale Schadigungen der Hirn- 
substanz (lurch den erhohten Druck hinweisen — also motorische, 
sensible oder sensorisehe Reiz- oder Lahmungserscheinungen (in un- 
seren Fallen X und XII war zeitweise Babinskischer Reflex vorhan- 
den) — sind selten (Bittorf 11 ), Bossert 20 ). In den meisten Fallen 
handelt es sich um Erscheinungen, die wohl auf den allgemein erhohten 
Hirndruck zuriickzufuhren sind; von seiten der Psyche leichte geistige 
Ermiidbarkeit, Gedankenschwache, Stumpfheit, aber auch Reizbar- 
keit, Unlust zur Arbeit, Depressionszustande (Fall XII!); korperlich 
vor allem Klopfempfindlichkeit des Schiidels, Kopfschmerzen und 
Schwindelgefiihl, aulJerdem ist bisweilen eine auffallige Variabilitat der 
Atemfrequenz, der Pulsfrequenz und des Blutdrucks, seltener der 
Temperatur (Quincke 108 ), Schlecht) vorhanden. In unserem Fall XII 
war die Neigung zu Untertemperaturen bemerkenswert. Die Intensitat 
der Beschwerden steht in keinem Verhaltnis zur Schwere des Traumas, 
das oft ganz geringfiigig zu sein schien. Hervorzuheben sind noch die 
haufigen Exacerbationen, die entweder abhangig sind von auBeren 
Einfliissen — korperlichen und geistigen Uberanstrengungen, Alkohol- 
genuB, Wiirme, Wech-el der Korperlage, besonders Biicken — oder 
ohne jede erkennbare Ursache auftreten. Es konnen sich dann plotz- 
lich bedrohliche Erscheinungen einstellen, wie sie auch bei unserem 
Patienten (XII) zu beobachten waren, schwerer Allgemeinzustand, 
rasende Kopfschmerzen, hochgradiger Schwindel mit haufigem Er- 
brechen, Triibung des Sensoriums bis zu vdlligem BewuBtseinsverlust. 
All diese Symptome diirften wohl in einer akuten Steigerung des Hirn- 
drucks ihre Erklaning finden. 

Auffallig ist ferner, daB die traumatische Meningopathie jahrelang 
— in einem Fall von Rinderspacher 11 Jahre, nach Quincke 108 ) 
sogar 18 Jahre — bestehen kann ohne weitere Folgen fiir den Pa¬ 
tienten; psychische Schadigungen im Sinne dauernder Intelligenzdefekte 
sind angeblich noch nie beobachtet worden. Bei der Differential- 
diagnose ttird auBer der entzundlichen serosen Meningitis, zu der Uber- 
gange bestehen, ein in der Entwicklung begriffener traumatischer 
HirnabszeB, ein langsam wachsender Tumor oder eine beginnende 
Meningitis in Erwagung zu ziehen sein (Bossert, Schlecht); auf die 
weiteren Einzelheiten der fiir die Abgrenzung dieser Kranklieiten in 
Frage kommenden Momente brauchen Atir wohl hier nicht noch einmal 


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diagnose der sogenannten Meningitis serosa. 


529 


einzugehen. Die Lumbalpunktion wird ja in den meisten Fallen schon 
einen Hinweis auf die Art des vorliegenden Krankheitsbildes geben, 
besonders wenn der Eingriff eine inomentane subjektive Erleiehterung 
verschaffte, manchmal schlieBt sich an eine einmalige Lumbalpunktion 
die definitive Heilung an. Andererseits werden aber auch Nachwehen 
in Gestalt von Kopfschmerz, Schwindel und Erbrechen gerade bei der 
Meningopathie nicht selten beobachtet (Quincke 108 ), und wiihrend 
der Punktion sollen die Druckschwankungen ausgiebiger sein als sonst. 
Ein wichtiges Hilfsmittel kann die Lumbalpunktion ferner dann sein -— 
mit den erwahnten Einschrankungen —, wenn es sich um die Frage 
handelt, ob die Beschwcrden des Patienten tatsachlich Teilerscheinung 
einer Meningopathie sind, oder ob sie nur psychisch bedingt sind. Die 
psychogenen Unfallneurosen, die seit Einfiihrung der Unfallgesetz- 
gesetzgebung in der Medizin eine so wichtige Rolle spielen, treten 
gerade nach Kopftraumen so haufig auf, dafi man sich in jedem Fall 
die Frage vorlegen muB, ob nicht ein Teil oder samtliche Klagen des 
Patienten auf funktioncller Basis beruhen. Die Lumbalpunktion kann 
in einer Reihe von Fallen sicherlich entscheidend sein, doch soli man 
sich davor hiiten, nun jeden Patienten, der mit derartigen im An- 
schluBan ein Kopftrauma zur Entwicklung gekommenen Beschwerden 
in die Sprechstunde kommt, zu punktieren. Lewandowsky 78 ) hat 
von Fallen berichtet, wo Patienten, die an einer psychogenen Unfall- 
neurose litten, dann hinterher nicht mehr das Trauma, sondern die 
Lumbalpunktion als Ausgangspunkt fiir die ihnen selbst oft unhe¬ 
wn Bten Rentenwiinsche nahmen. Man soil sich also bei der Begut- 
achtung einerseits davor hiiten, wohlbegriindete und glaubhafte Be- 
schwerden als funktionell oder gar simuliert zu betrachten, andrerseits 
aber die psychisch bedingten Symptome bei der Einschrankung der 
Erwerbsunfahigkeit nicht zu hoch zu bewerten — zum eigenen Vorteil 
des Patienten, dem durch eine zu hoch bemessene Rente das BewuBt- 
sein eines organischen Leidens (,,krank zu sein") nur um so langer 
unterhalten wird. GewiB wird man in den Fallen, in denen aus auBeren 
Griinden nicht punktiert werden darf, Anhaltspunkte fiir die meningo- 
pathische Gnindlage aus der Feststcllung zeitweiliger fliichtiger an- 
derer Hirndrucksymptome, aus der monotonen, unaffektierten Beto- 
nung der subjektiven Beschwerden, aus dem Fehlen hysterischer Cha- 
rakteranomalien gewinnen konnen. Aber die Entscheidung, ob es sich 
nun im Einzelfall um eine traumatische Meningopathie, um eine ,,Kom- 
motionsneuro.se" oder psychogene Unfallneurose handelt, oder um eine 
Vermischung dieser Zustande, diirfte dem Ungeiibten oft schwer fallen. 
Da bei der hohen sozialen Bedeutung der Unfallversicherung und 
auch im eigenen Interesse des Patienten Irrtiimer bei der Begutachtung 
nach Mdglichkeit zu vermeiden sind, sollten derartige Falle in Zu- 


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530 


H. Ruhe: t)ber die nosologische Stellung und Differential- 


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kunft von vornherein und nicht erst nach vielleicht jahrelangen Ren- 
tenkampfen vor das Forum des fachmannisch ausgebildeten Neuro- 
logen gebracht werden. 


Z u samm en fassung. 

1. Der Begriff der „Meningitis serosa“ ist ein rein pathologisch- 
anatomischer Begriff und als soldier in Gegensatz zu stellen zu den ubrigen 
Formen der Meningitis (purulenta, tuberculosa, syphilitica usw.). 

2. Die Meningitis serosa kann diffus verbreitet sein oder sich an be- 

stimmter Stelle — besonders in den Zisternen der Araclinoidea basalis — 
lokalisieren. , 

3. Die Atiologie der serosen Meningitis ist nicht einheitlich. Am 
hdufigsten tritt sie als Begleiterscheinung von Infektionskrankheiten auf; 
daneben spielt das Trauma eine wichlige Rolle. Bei einer Reihe von 
Fallen — besonders bei den im Kindesalter auftretenden — scheint erne 
besondere Pradisposition den Ausbruch der Krankheit zu begiinstigen. 

4. Der klinische Verlauf ist ungemein mannigfaltig und bietet im 
allgemeinen wenig charakleristische Eigentumlichkeiten; er kann dem 
Krankheitsbild einer Meningitis purulenta oder tuberculosa, dem Verlauf 
eines Hirntumors oder sonst eines raumbeschrdnkenden intrakraniellen 
Prozesses, eventuell auch einer multiplen Sklerose, vollkommen gleichen. 

5. Besonders wichtig ist die Feststellung eines entzundlichen Liquor 
cerebrospinalis, d. h. eines Liquors mil Zell- und Eiweiflvermehrung: 
nur bei Feststellung einer solchen pathologischen Liquorveranderung soli 
eine serose Meningitis klinisch anerkannt werden, wenigst-ens wenn ein 
diffuser Krankheitsproze/3 anzunehmen ist. Bei umschriebenen meningi- 
tischen Cystenbildungen kann der Liquor normal sein, auch wenn der 
lokale cystische. Prozefl auf einer echten Entziindung der Meningen beruht. 

6. Die Diagnose einer Meningitis serosa diffusa ist auf Grund einer 
einmaligen Untersuchung bzw. einer kurzdauemden klinischen Beobach- 
tung meist nicht mil Sicherheit zu stellen. Doch kann zuweilen die Ana- 
mnese (friihere Anfdlle, infektiose Grundlage), das Ergebnis der Lumbal - 
punktion (entzundlicher Liquor ohne spezifischen Befund) und der weiiere 
Verlauf (fliichtige Herdsymptome, Remissionen oder lntermissionen) die 
Diagnose sehr wahrscheinlich machen. Eine vollig sichere Diagnose lafit 
sich aber erst auf Grund der pathologisch-anatomischen Untersuchung , 
d. h. post mortem, stellen. Die circumscripte Form der serosen Meningitis 
ist — wenn sie nicht im Anschlu/3 an ein Trauma auf tritt — der Diagnose 
noch schwerer zugdnglich, und auch bei der Explorativtrepanation mu/3 
der Operateur der Mdglichkeit eines primaren, die Liquoransammlung 
hervorrufenden Prozesses (Tumor) Rechnung tragen. 

7. Abzutrennen von der serosen Meningitis sind diejenigen Affektionen 
der Hirnhdute, die als toxisch oder traumatisch bedingte Reizzustande 


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diagnose der sogenannten Meningitis serosa. 


531 


zu erklaren sind, aber ohne klinisch feststellbare Entziindungsvorgange 
verlaufen. Das Hauptkriterium dieser Affektionen besteht in einer ein- 
wandfrei festgestellten Druckerhohung des Liquor cerebrospinalis oder an- 
deren Hirndrucksymptomen. Dieser Zustand wurde als Meningopathie 
bezeichnet. Er spielt in der Unfallpraxis eine grojie Rolle und darf nicht 
mit rein funktionellen Zustanden verwechselt werden, wcnngleich die 
psychogene Unfallneurose sich hdufig dem Krankheitsbild der Meningo¬ 
pathie beimengt. 


Literatur. 

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fur innere Medizin in Berlin. Dtsch. med. Wochenschr. Jg. 34, S. 2292, 1908. — 
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Im Handbuch der Neurologie (herausgeg. v. Lewandowsky). Bd. III. Berlin: Julius 
Springer 1911. — ®) Barany: Vestibularapparat und Zentralnervensystem. Med. 
Klinik. Jg. 7, Nr. 47, 1911. — 7 ) Beck: Ein Beitrag zur Pathologie und patho¬ 
logischen Anatomie der Meningitis serosa (interna) acuta im Kindesalter. Jahrb. 
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akutes Himodem nach chirurgischen Operationen. Wien. med. Wochenschr. 
Jg. 19. 1869. — 9 ) Bing: Die Meningitis cystica serosa der hinteren Schadelgrube. 
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Differentialdiagnostik mit besonderer Beriieksichtigung der Meningitis serosa, 
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Kenntnis der traumatischen Meningitis, besonders der Meningitis serosa traumatica. 
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serosa und verwandte Zustande im Kindesalter. Berl. klin. Wochenschr. Jg. 49, 
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f. Kinderheilk. 88. 1904.— u ) Bonninghaus: Die Meningitis serosa acuta. (Eine 
kritische Studie.) Wiesbaden: Bcrgmann 1897. — li ) v. Bokay: tlber die Hei- 
lungsmoglichkeit der Meningitis tuberculosa. Jahrb. f. Kinderheilk. 80, 1914. — 
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Handbuch d. Neurologie. Bd. Ill, 1911. — ,8 ) Bonhoffer: Zur Diagnose der 
Tumoren des IY T . Ventrikels u. des idiopathischen Hydrocephalus nebst einer 
Bemerkung zurHirnpunktion. Arch. f. Psychiatr. u. Neurol. 49, 1912. — 10 ) Bor- 
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der Tumoren am Kleinhirnbriickenwinkel. Arch. f. klin. Chir. 81, Tl. II, 1906. — 
20 ) Bossert: Der traumatische Hydrocephalus. Jahrb. f. Kinderheilk. 88, 1918. 
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Zentralbl. Nr. 8, 1912. — 22 ) Brasch: Erfolge der Lumbalpunktion bei Hydro¬ 
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Med. 36. 1899. — 23 ) Bregman, Krukowski: Beitrage zur Meningitis serosa. 
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Schadeltrauma. Mitt. a. d. Grenzgeb. d. Med. u. Chirurg. 29, 1917. — 2S ) Bres- 


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532 H. Ruhe: Uber die nosologische Stellung und Differential- 

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der Neurologic und Psychiatric. S. 557. 1898. (Hydrocephalus nach Trauma). — 
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Jahrb. f. Kinderheilk. 81. 1915. — 2 ‘) Dana, Elsberg: Medical Record 1914. 
Ref. im Neurol. Zentralbl. Nr. 10. 1915. (Meningitis serosa evstica.) — 28 ) Da- 
nielopolu: Diagnostik der Meningitiden mittels der Tauroeholnatriumreaktion. 
Wien. klin. Woehenschr. Nr. 40. 19 1 2. — 29 ) Diller: A case of serous (alcoholic) 
meningitis simulating brain-tumor. Joum. of nerv. a. ment. dis. 1898. Ref. im 
Jahresbericht iiber die Leistungen und Fortschritte auf dem Gebiete der Neuro¬ 
logic u. Psychiatric. 8. 557. 1898. — 30 ) Eden: Beobachtungen und Erfahrungen 
mit dem Suboecipitalstich bei Himtumoren, Hydrocephalus, Meningitis serosa 
traumatica und Meningitis purulenta. l)tsch. Zeitschr. f. Chirurg. 147, 1918. — 
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idiopathischen Hydrocephalus int. der Erwachsenen. Zeitschr. f. klin. Med. 19, 
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Jena: Fischer, 6. Aufl. 1920. — 3S ) Feer: Vortrag auf der Jahresversamnilung der 
Gesellschaft schweizeriseher Piidiater vom 27. VI. 1920. Schweiz, med. Woehenschr. 
Jg. 51. Nr. 1, 1921. (0l)er Meningitis serosa.) — 3a ) Finkelnburg: Zur Dif- 
ferentialdiagnose zwischen Kleinhirntuinoren und ehronischem Hydrocephalus. 
Dtsch. Zeitschr f. Nervenheilk. 29. 1905. — 3 ‘) Finkelnburg: Beitrag zur thera- 
peutischen Anwendung der Hirnpunktion beim chronischen Hydrocephalus. 
Miinch. med. Woehenschr. Nr. 36, 1910. — 38 ) Finkelnburg: Die Erkran- 
kungen der Meningen. Im Handb. d. Neurol. Bd. II, 1912. — 39 ) Finkelnburg- 
Eschbaum: Zur Kenntnis des sogenannten „Pseudotumor cerebri" mit anato- 
mischem Befimd. Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. 38, 1910. — 40 ) Finkeln¬ 
burg: Beitrag zur Symptomatologie und Diagnostik der Gehirntumoren und 
des chronischen Hydrocephalus. Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. 21. 1902. — 
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adhaesiva cerebralis (in Russki Wratsch 1908, Nr. 37). Zentralbl. f. Chirurg. 
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Inst. d. Wiener Univ. Bd. XI. 1904. — 44 ) Fuchs: Zur Klinik des idiopathischen 
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Berlin (vom 13. II. 1922). Miinch. med. Woehenschr. Nr. 8. 1922. (3 Fiille von 
Meningitis serosa.) — 48 ) Gerhardt: Vortrag in der Wanderversammlung der 
siidwestdeutschen Neurologen und Irrenarzte in Baden-Baden 1908. Berl. klin. 
Woehenschr. 8. 1664. 1908. -— lT ) Girard: 4. Versammlung der Schweizerischen 
Neurologischen Gesellschaft in Basel 1910. Ref. i. Neurol. Zentralbl. Nr. 4, 1911. 
(Fall von Meningitis serosa circumscripta.) — 48 ) Goppert: Beteiligung der 
Hirnhaute liei den fieberhaften Infektionen der oberen Luftwege. Klinische 
Woehenschr. Jg. 1. Nr. 2, 1922. — 49 ) Goldstein: Vortrag im Verein fiir wissen- 
schaftliche Heilkunde in Konigsberg am 17. V. 1909. Dtsch. med. Woehenschr. 
Jg. 35, Nr. 44, 1909. (Meningitis serosa circumscripta.) — 50 ) Goldstein: Ein 
Fall von Insuffisance pluriglandulaire; zugleich ein Beitrag zur Lehre von der 
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ningitis serosa unter dem Bilde hypophysarer Erkrankung. Archiv f. Psychiatr. 


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diagnose der sogenannten Meningitis serosa. 


533 


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Zur Kenntnis des Meningoencephalismus. Zeitschr. f. Kinderheilk. 21, 1919. — 
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des chronischen Hydrocephalus. Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. 29, 1905. — 
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innere Medizin iin Jahre 1897. — 59 ) Harke: Uber serose Meningitis im Kindes- 
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klin. Chirurg. 100, 1913. — 65 ) Hoehhaus: Uber Hirnerkrankungen mit tod- 
liohein Ausgang ohne anatomischen Befund. Dtsch. med. Wochenschr. Jg. 34, 
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Berlin: Julius Springer 1909.— 72 )Krause: Operationen in der hinteren Schadelgrube. 
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schen Hydrocephalus. Arch. f. Psychiatr. u. Nervenkrankh. 50, 1913. — 80 ) Mar¬ 
gulis: Pathologische Anatomie und Pathogenese der Ependymitis granularis 
Arch. f. Psychiatr. u Nervenkrankh. 52, 1913. — 81 ) Matthes: Lchrbuch der 
Differentialdiagnose, innere Krankheiten. 2. Aufl. Berlin: Julius Springer 1921.— 
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534 


H. Ruhe: Uber die nosologische Stellung und Differential 


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the adult with reporters of three cases, two with autopsies. Journ. of nerv. a. 
ment. dis. 1897. Ref. in den Jahresberiehten liber die Leistungen u. Fortschritte 
auf dem Gebiete der Neurologie u. Psychiatrie. S. 551, 1897. — 104 ) Pollack: 
Weitere Beitrage zur Hirnpunktion. Mitteilungen a. d. Grenzgeb. d. Med. u. 
Chirurg. 18. 1908. — 106 ) Quincke: Uber Meningitis serosa. Samml. klin. Vor- 
triige (begr. v. Volkniann), Nr. 67. Leipzig: Breitkopf & Hartel 1893. — 106 ) 
Quincke: Uber Meningitis serosa und verwandte Zustande. Dtsch. Zeitschr. f. 
Nervenheilk. 9, 1897. — 107 ) Quincke: Zur Pathologie der Meningcn. Dtsch. 
Zeitschr. f. Nervenheilk. 36 (1909) u. 40(1910). — 108 ) Quincke: Kopftrauma 
und Spinaldruck. Monatsschr. f. Unfallheilk. u. Invalidenw. Jg. 17, Nr. 10/11 
1910. — 10 °) Ravmond-Claude: La m^ningite s^reuse circonscrite de la corti- 
calite c6rebrale. La semaine nuklicale. Jg. 29, Nr. 49, 19(H). — no ) Redlich: 
Himtumor. Im Handlmch der Neurologie. Bd. Ill, 1911. — 1U ) Riebold: 
Uber serose Meningitis. Dtsch. med. Wochenschr. Jg. 32, S. 1859, 1906. — 
112 ) R inderspacher: Uber Drucksteigerung im Cerebrospinalkanal nach Kopf- 
verletzungen. Fortschr. d. Med. Jg. 33, 8. 119ff.. 1916. — 113 ) Rindfleisch: 


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diagnose der sogenannten Meningitis serosa. 


535 


Cber die Bedeutung der Hirnpunktion und der Lumbalpunktion fiir die Diagnose 
und Prognose des Himabszesses. Dtsch. med. Wochenschr. Jg. 48, Nr. 9, 1922. 

— 114 ) Rosenstein: Primarer Hydrocephalus. Berl.' klin. Wochenschr. Jg. 3, 
1866. — 116 ) Rothmann: Erkrankungen des GroBhirns, des Kleinhirns, der 
Briicke, des verlangerten Marks und der Hirnhaute. Im Handbuch der inneren 
Medizin (herausgeg. von Mohr u. Staehelin). Bd. V. Berlin: Julius Springer 1911. — 
11# ) Sanger: Cber circumscripte serose Meningitis. Munch, med. Wochenschr. 
Nr. 23, 1903. — n? ) v. Sarb6: t)ber einen operierten Fall von Leptomeningitis 
chronica circumscripta der Zentralregion. Dtsch. med. Wochenschr. Jg. 36, Nr. 1, 
1910. — U8 ) Seiffer: Beitrag zur Frage der serosen Meningitis. Charit^-Ann. 
Jg. 24, 1899. — 119 ) Sievert: Cber das Zusammentreffen von Sehnervenatrophie 
mit Adipositas imiversalis bei einem Geschwisterpaar. Zeitschr. f. Augenheilk. 19. 

— 12 °) Schlapfer: Gehirnchirurgische Beobachtungen auf einer Studienreise in 
Nordamerika (Winter 1920/21). Mit ausfiihrlicher Literaturangabe. Dtsch. 
Zeitschr. f. Chirurg. 168, 1922. — m ) Schlecht: Zur Frage der Meningitis serosa 
traumatica. Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. 47/48, 1913. — 122 ) Schlecht: 
Cber die Meningitis serosa traumatica, insbesondere bei Kriegsverletzten. Med. 
Klinik. Jg. 14, Nr. 19, 1918. — I23 ) Schmidt: Zur genauen Lokalisation der 
Kleinhirntumoren und ihrer Differentialdiagnose gegeniiber acquiriertem chroni- 
schem Hydrocephalus internus. Wien. klin. Wochenschr. Nr. 51, 1898. — 
124 ) SchultheiB: Cber Meningitis serosa chronica cystica cerebralis. Frankfurt. 
Zeitschr. f. Pathol. 23, 1920. — 125 ) Schultze: Die Krankheiten der Hirnhaute. 
NothnagelsHandb. d. spez. Pathol. u.Ther. Bd. IX,3, Wien 1901. — 12S ) Schultze: 
Ein Fall von Meningitis serosa circumscripta traumatica. Dtsch. med. Wochenschr. 
Jg. 43, Nr. 34, 1917. — 127 ) Starck: Die psychogene Pseudomeningitis. Dtsch. 
Zeitschr. f. Nervenheilk. 21, 1902. — 128 ) Stern, Poensgen: Kolloidchemische 
Untersuchungen am Liquor cerebrospinalis. Berl. klin. Wochenschr. Jg. 57, 
Nr. 12 u. 13, 1920. — 12B ) StraBmann: Cber seltene, sehr chronische Verlaufs- 
form tuberkuloser Meningitis. Mitt. a. d. Grenzgeb. d. Med. u. Chirurg. 23. 1911. 

— 13 °) Schwartz: Cber die Meningitis serosa. Petersb. med. Zeitschr. Jg. 38, 
Nr. 6 r 1913. — 131 ) Strobe: Im Handbuch der pathologischen Anatomic des Ner- 
vensystems (herausgeg. von Flatau, Jacobsohn, Minor). S. 369 u. 806, Berlin, 
Karger, 1903. (Mening. serosa cystica.) — 132 ) v. Striimpell: Lehrbuch der spe- 
ziellen Pathologie und Therapie innerer Krankheiten. Leipzig: Vogel 1917. — 
t33 ) Thiemich u. Zappert: Die Krankheiten des Nervensystems im Kindes- 
alter. Sonderabdruck a. d. Handbuch der Kinderheilkunde (herausgeg. von 
Pfaundler u. SchloBmann). Leipzig: Vogel, 2. Aufl. 1910. — 134 ) Uhthoff: In 
Graefe-Samischs Handbuch der Ophthalmologic. 2. Aufl. Bd. XI, Tl. 2, Abtlg. II, 
Kap. 22. — 135 ) VoB: Diskussion auf der Jahresversammlung der Gesellschaft 
deutscher Nervenarzte. Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. 38, S. 263, 1910. — 
i3«) Weber: Zur Symptomatology und Pathogenese des erworbenen Hydro¬ 
cephalus internus. Arch. f. Psychiatr. u. Nervenkrankh. 41, 1906. —* 37 ) Weber- 
Schultz: Zwei Falle von „Pseudotumor cerebri" mit anatomischer Untersuchung. 
Monatsschr. f. Psychiatr. u. Neurol. 23, Erg.-H. — 138 ) Weigeldt: Zur Kenntnis 
der sogenannten Meningitis serosa. Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. 66, 1920. — 
i39) Weigeldt: Die Goldsolreaktion im Liquor cerebrospinalis. Dtsch. Zeitschr. 
f. Nervenheilk. 67, 1921. — 14 °) Weitz: Cber Liquordruckerhohung nach Kopf- 
trauma. Neurol. Zentralbl. Nr. 19, 1910. — 141 ) Weitz: Vortrag im arztlichen 
Verein zu Hamburg in der Sitzung vom 13. II. 1912. Ref. im Neurol. Zentralbl. 
S. 662, 1912. (Mening. serosa traum.) — 142 ) v. Wieg-Wickenthal: Zur Klinik 
und Differentialdiagnose der Hirntumoren. Jahrb. f. Psychiatr. u. Neurol. 36, 
1914. — 143 ) Wilms: Vortrag in der medizinischen Gesellschaft zu Basel am 


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536 


H. Ruhc: t'ber die nosologische Stellung usw. 


27. V. 1909 (Hydrocephalus int. des IV. Ventrikels). Dtsch. med. Wochenschr. 
Jg. 35, S. 2095, 1909. — 144 ) Wendel: Uber Meningitis serosa circumscripta cere- 
bralis. Arch. f. klin. Chirurg. 99, 1912. — 14S ) Wendel: Vortrag bei den Verhand- 
lungen der deutschen Gesellschaft ftir Chirurgie. 41. Kongr. Abt. 2, S. 433ff. — 
148 ) Zaloziecki: T)ber den Eiweihgehalt der Cerebrospinalfliissigkeit. Dtsch. 
Zeitschr. f. Nervenheilk. 47/48, 1913. 


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(Aus der Psychiatrischen und Xervenklinik der Universitat Breslau [Geheimrat 

Prof. Dr. Wollenberg].) 

Dip sogpnannten BewulJtseinsstorungpii. 

Eine psychopathologische Untersuchung. 

von 

Siegfried Fischer 

Assistenzarzt der Klinik. 

(Eingegangen am 8. November 192'!.) 

In halt. 

Einleitung. 

I. Psychologisclie Bemerkungen. 

Zur Psychologic der Aufmerksauikeit. 

Undeutlich aufgefaBte Gegenstande. 

II. Psychopathologie 

1. der Benommenheitszustande, 

a) reine Benommenheitszustande, 

b) traumliafte Benommenheitszustande. 

2. Zustande krankhafter Enge der Auffassungsfahigkeit oder des Gegen- 

standsbewuBtseins. 

III. tjber die Bedeutung des Ausdrucks BewuBtsein und die Berechtigung des 

Ausdrucks Bewu Btseinsstorungen. 

IV. Zusammenfassung. 

Einleitung. 

Mit dem Nanien Storungen des Bewu Btseins oder Bewulitseins- 
storungen werden innerhalb der klinischen Psychiatrie Symptoraen- 
bilder mannigfacher Art bezeichnet. Es soli hier untersucht werden, 
ob diese Zustande mit Recht zu einer Gruppe zusamraengefaBt werden, 
und ob ihnen die Bezeiehnung Storungen des BeimBtseins zu Recht 
zukommt; d. h. ob tatsachlich bei alien diesen Zustanden und au.s- 
schlieBlich bei ihnen eine krankhafte Veranderung dessen vorliegt, was 
man unter BewuBtsein versteht. 

Zu diesem Zwecke wird einmal festzustellen sein, was denn eigent- 
lich unter dem BewuBtsein verstanden wird, das bei den in Rede stehen- 
den Symptomenbildern gestort sein soil, und zweitens wird zu ent- 
scheiden sein, welche psychischen Gmndfunktionen bei ihnen ver&ndert 
sind, und in welcher Weise deren Ablauf vom gesunden Seelenleben 
abweicht. 


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S. Fischer: 


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Urn die Analyse dieser Zustandsbilder moglichst unbefangen in 
Angriff zu nehmen, erscheint es zweckmaBig, die Definition des Be¬ 
wu Btseinsbegriffs vorlaufig zuriickzustellen, und zunachst einmal un- 
voreingenoramen diese Zustande einer Betrachtung zu unterziehen. 

Greifen wir irgendwelche Bilder aus der Gruppe, die man fur ge- 
wohnlich BewuBtseinsstorungen nennt, heraus, etwa das Koma oder 
die Delirien, so sind diese neben anderen Merkmalen dadurch charak- 
terisiert, daB bei ihnen eine mehr oder weniger unvolistandige oder 
fehlerhafte Orientierung gegeniiber der AuBenwelt vorliegt. Dieses 
Symptom scheint mir eine Eingangspforte fiir eine analysierende Be¬ 
trachtung der in Frage kommenden Zustande zu bieten. 

Storungen der Orientierung gegeniiber der AuBenwelt konnen, wie 
die klinische Psychiatrie zeigt, auf den verschiedensten Veriinderungen 
anderer einfacher psychischer Funktionen beruhen. So bewirkt z. B. 
l>ei dem Korsakowschen Syndrom oder der senilen Demenz die Stoning 
der Merkfahigkeit eine Desorientierung. Anders bei den sogenannten 
Bewu Btseinsstorungen. Hier beruht nach klinischer Erfahrung die un¬ 
volistandige oder falsche Orientierung vor allem auf einer Storung der 
Auffassung. 

Es ist deshalb erforderlich, zunachst Einiges liber die Psycho¬ 
logic der Auffassung zu sagen. 


I. 

Psychologische Beinerkungen. 

Zur Psychologie der Aufmerksamkeit. Undeutlich aufgefaBte 

Gegenstande. 

Wenn ich einen Gegenstand auffasse, so kann in gleichem Sinne 
gesagt werden, ich beachte ihn, oder ich richte meine Aufmerksamkeit 
auf ihn. (Davon zu unterscheiden ist das Erfassen eines Gegenstandes 
a Is gerade diesen mit diesen bestimmten Eigenschaften, ein Erlebnis, das 
nicht zum Bcachtungs- oder zum Auffassungsvorgang zu rechnen ist 
s. S. 541). Von dem Gegenstande kann in gleichem Sinne gesagt werden, 
er ist Gegenstand meiner Aufmerksamkeit oder meines Gegenstands- 
bewuBtseins. 

Der Ausdruck einen Gegenstand auffassen deckt sich mit dem, 
was Wundt apperzipieren nennt. Er definiert Apperzeption als die 
Erfassung einer Vorstellung durch die Aufmerksamkeit. Wundt ge- 
braucht ein Bild aus der Optik, um seine Theorie klar zu machen, und 
sagt, daB etwas im Brennpunkt der Aufmerksamkeit oder im Blick- 
punkt des BewuBtseins stehe, wenn es apperzipiert sei; das nur Per- 
zipierte stehe am Rande oder im Blickfeld des BewuBtseins. Biihler 1 ) 

x ) Ebbinghaus-Biihler, Grundziige der Psychologie. 4. Aufl. S. 654. 


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Die aogenannten BewuBtseinsstorungen. 


539 


hat darauf hingewiesen, daB gegen dieses Bild, solange es nichts an- 
deres als eine Anschauungshilfe fur die Tatsache sei, daB die Aufmerk- 
samkeit in jedem Augenblick nur einem relativ kleinen Kreis der tat- 
sachlich vorhandenen Gegenstande zugute kommt, nichts einzuwenden, 
daB aber eine erschopfende Definition damit noch nicht gegeben sei. 
Er sucht die Frage der Apperzeption auf eine andere Weise als Wundt 
zu losen, indera er namlich das Problem nicht in das Gebiet der Wil- 
lensvorgange verschiebt, sondern andere Prozesse daftir in Anspruch 
nimmt. Im AnschluB an seine kurzen, aber grundlegenden Bemer- 
kungen sei unsere Ansicht von diesen Dingen hier klargelegt 1 ). 

Apperzeption nennt Wundt, so hatten wir erwahnt, die Erfassung 
einer Vorstellung durch die Aufmerksamkeit. Setzen wir zur Vermei- 
dung einer Aquivokation statt erfassen auffassen, so konnen inner - 
halb der Moglichkeiten, wie etwas aufgefaBt werden kann, verschiedene 
Grade und Stufen der Klarheit und Lebhaftigkeit unterschieden wer¬ 
den. Worin besteht nun die bessere oder schlechtere Auffassung oder 
die starkere oder geringere Apperzeption? Dieser scheinbare hohere 
Grad, in dem etwas aufgefaBt wird, ist nach Biihler keine immanente 
Eigenschaft der Bewu Btseinsinhalte; die BewuBtseinsinhalte sind 
sozusagen nicht selbstleuchtend bald in hoherem bald in geringerem 
Grade, sondern sie erhalten ihre Auszeichnung durch andere psychische 
Prozesse, die sich um sie gruppieren. 

Mit Biihler unterscheide ich bei der Auffassung zwischen der 
Klarheit und der Lebhaftigkeit. Die Klarheit ihrerseits kann eine 
sinnliche und eine Auffassungsklarheit sein. 

Die sinnliche Klarheit hat mit der Intensitat nichts zu tun 
und ist auch keine dem Be wm Btseinsinhalt immanente Eigenschaft. 
Aber was ist sie dann? Fragen wir, wodurch sie zustande kommt, 
oder besser, w'odurch sie gestort wird, so ergibt. sich leicht die Ant- 
wort, daB die Wahrnehmung etw r a eines Tons dann um so klarer er- 
scheint, je isolierter das Erlebnis und je weniger gestort von anderen 
Erlebnissen es ist. Je scharfer also die ,,Auspragung“ ist, die ein Be¬ 
wu Btseinsinhalt erhalt, desto groBer ist seine sinnliche Klarheit. Wird 
ein Bewu Btseinsinhalt durch einen anderen gleichzeitigen gest ort , so 
leidet dadurch die Scharfe seiner Auspragung. Sinnlich klar und aus- 
gepragt ist demnach 2 ) auch die Erscheinung einer leuchtenden Laterne 
fiir einen hochgradig Kurzsichtigen, wenn er auch nur einen leuchtenden 
Kreis sieht. Aber nur sinnlich klar. Mit der Auffassungsklarheit und 
der Identifikation dieser Erscheinung mit derjenigen einer Laterne 

') Vgl. dazu auch Biihler, Art. Aufmerksamkeit i. Handworterbuch d. Na- 
turwissensch. 1912. 

2 ) Ich zitiere hier ein Beispiel P. F. Linkes, Grundfragen der Wahrneh- 
mungslehre, Miinchen 1918, S. 177, in anderem Zusammenhang. 

Archiv ftir Psychiatrie. Btl. 67. 36 


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S. Fischer: 


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hat die sinnliche Klarheit nichts zu tun, nur die scharfbegrenzte Aus- 
pragung gegeniiber anderen Erscheinungen ist hier maBgebend. Denn 
stehen zwei leuchtende Laternen so dicht beieinander, daB fiir den 
Kurzsichtigen die beiden Kreise ineinander iibergehen, so ist das Er- 
lebnis jedes einzelnen der beiden Kreise nicht sinnlich klar. Das eine 
Erlebnis ist gestort durch das andere und nicht vollig isoliert. In. 
gleicher Weise wird etwa ein Ton c nicht ebenso klar aufgefaBt, wenn 
ein cis gleichzeitig ertont; oder der Geschmack des Salzes tritt nicht 
so sinnlich klar hervor, wenn etwa noch Spuren von Zucker sich auf 
der Zunge befinden. 

Je nachdem ein BewuBtseinsinhalt groBere oder geringere sinnliche 
Klarheit besitzt, sprechen wir von einem hoheren oder niederen Grade 
der sinnlichen Klarheit. 

Wie E. Westphal 1 ) nachgewiesen hat, ist aber damit das Auf- 
fassungserlebnis eines Gegenstandes nicht ausreichend besehrieben. 
Das Beachten eines Gegenstandes und seine Auffassung besteht noch 
in ganz andersartigen Erlebnissen, deren Erfolg seine Auffassungs- 
klarheit (Biihler) ist. Innerhalb der Art, wie ein Gegenstand be- 
achtet otier aufgefaBt werden kann, unterscheidet Westphal 4 Be- 
wuBtseins- oder besser Beachtungs- oder Auffassungsstufen. Die 
erste dieser Stufen ist das einfache Gegebensein eines BewuBtseins- 
inhalts. Das Erlebnis ist durch das Fehlen jedes Gesichtspunkts einer 
Aufgabe charakterisiert. Der Reiz wird einfach passiv hingenommen, 
er wird links liegen gelassen, es wird keine Notiz von ihm genommen. 
Andererseits ist er aber doch fiir das Subjekt da, und zwar kann er 
bei vollcr sinnlicher Klarheit gegeben sein, also nur als sinnlicher 
Eindruck, ohne daB mit ihm irgend etwas angefangen, ohne daB er 
naher bestimmt wird. Der Reiz bleibt ohne Zusammenhang mit dem 
ubrigen Erleben. Das Gegebensein ist Bedingung fiir alle hoheren 
Stufen. 

Die zweitc Beachtungsstufe nennt Westphal die der Beachtung. 
Diese ist durch die Gegenwart eines bestimmten Gesichtspunktes cha¬ 
rakterisiert, unter dem der Gegenstand oder besser ,,das Ding da‘“ 
beachtet wird. Es wird etwa eineLinie als krumm aufgefaBt oder eine 
Figur auf ihre Eckenzahl angesehen. Das Subjekt fiihrt hier schon 
eine Leistung aus. Der Reiz ,,fallt nicht wie ein Stein ins Wasser, 
sondern wie ein Ball in die ausgestreckte Hand“. 

Diese Stufe ist wieder Voraussetzung fiir die dritte Stufe, das poten- 
tielle Wissen, in die sie unmittelbar iibergehen kann. Es wird hier 
nicht nur unter einem einschrankenden Gesichtspunkt beachtet, son- 

') tlber Haupt- und Xel>enaufgaben bei Beaktionsversuchen. Arch. f. <1. 
ges. Psych., 21, 1911. 


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Die sogenannten BewuBtseinsstorungen. 


541 


dern es wird gewuflt, daB etwa dieseKonturen krumm sind, und wie 
der Eindruck hiernach zu bestimmen ist. Der Gesichtspunkt hat zu 
einer Bestimmung oder Einordnung des Gegenstandes innerhalb einer 
Ordnung gefiihrt. In vielen Fallen geniigt ein Beachten nicht zuin 
potentiellen Wissen, z. B. werrn die Aufgabe, unter der beachtet wird, 
zu schwer ist. 

SchlieBlich kann auf der vierten Beachtungsstufe das gewuBte Er- 
lebnis auch konstatiert oder ,,festgenagelt“ werden, etwa durch ein 
Nicken mit dem Kopf oder durch eine sprachliche For mu lie rung. 

Ubersehen wir diese Stufen und versuchen sie zu erklaren, so werden 
wir annehmen dvirfen, daB beim einfachen Gegebensein eine Beziehung 
gedacht oder hergestellt wird zu irgendeinem Ding da. Bei der zweiten 
Stufe muB diese Beziehung auch gedacht werden; aber es wird ein 
Gesichtspunkt liineingetragen, unter dem beachtet wird. Es richtet 
siclx also neben dieser Intention auf das Ding noch ein bestimmt ge- 
richtetes Denken auf ein Merkmal des Dinges, ohne daB dabei aber 
schon der Gegenstand auf Grund eines erkannten Merkmals eingeordnet 
wird, seinen Platz innerhalb einer Ordnung erhalt. Dies geschieht erst 
auf der dritten Stufe. Bei dieser erst wird tatsachlich gewuBt, daB 
dieses Ding dieses besondere Merkmal hat, wenn auch eine Konsta- 
tierung, eine Feststellung dieses Sachverhalts nicht erfolgt. Aber es 
wird dieser Sachverhalt gedacht und dadurch der Gegenstand in irgend- 
einer Richtung bestimmt. Durch das Feststellen auf der vierten Stufe 
tritt ein Bejahungsurteil, ein zustimmendes Urteil hinzu. 

Je nachdem nun ein Gegenstand mehr oder weniger beachtet wird, 
d. h. auf einer je hoheren oder niederen Beachtungsstufe er steht, 
desto groBer oder geringer ist seine Auffassungsklarheit. Den Tat- 
bestand oder die Ursache der Beachtungsstufen nenne ich Aufmerk- 
samkeit. Es erscheint fraglich, ob auch die Grade der sinnlichen 
Klarheit, von denen die Ausgepragtheit des Eindrucks abhangt, zur 
Aufmerksamkeit zu rechnen sind. 

Von der Auffassung eines Gegenstandes streng zu unterscheiden 
ist das Erfassen eines Gegenstandes. Das Erfassen eines Gegen¬ 
standes ist eine Einordnung des Gegenstandes durch Herstellung von 
Beziehungen der Ahnlichkeit und Verschiedenheit. Ich habe friiher 1 ) 
versucht, diesen ProzeB durch das Experiment zu erzeugen, und es 
hat sicli dabei herausgestellt, daB ein Gegenstand desto besser erfaBt 
ist oder desto mehr Struktur erhalt oder um so mehr logisch bestimmt 
fiir mich ist, je mehr Attribute und Merkmale, die ihm zukommen 
oder ihn ausmachen, ich erkenne, je enger also die Ordnung wird, in 


1 ) l)ber das Entstehen und Verstehen von Xamen, mit einem Beitrage zur 
Lehre von den transcorticalen Aphasien. Arch. f. <1. ges. Psychol. 42 u. 43. 1922. 

36* 


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die ich ihn einordne, je mehr er sich deranach auch von anderen Gegen- 
standen unterscheidet. Diese Bestimmung eines Gegenstandes durch 
Einordnung oder dieses Erfassen des Gegenstandes kann erst auf einer 
hoheren Beachtungsstufe einsetzen. Die dritte Beachtungsstufe, das 
potentielle Wissen, in gewisser Weise auch vielleicht schon die zweite 
Stufe, das Beachten, sind zwar auch Erfassungsprozesse des Gegen¬ 
standes: denn der Gegenstand wird durch ein Merkmal bestimmt. 
A her das weitere Erfassen, die nahere Bestimmung des Gegenstandes 
hat nur so weit mit der Auffassung oder Beachtung etwas zu tun, als 
Voraussetzung dafiir mindestens die dritte Beachtungsstufe ist. Es 
ist also verkehrt zu sagen, daB je mehr ein Gegenstand bestimmt, d. h. 
crfaBt ist, er auch desto besser beachtet oder aufgefaBt ist. Nur das 
ist richtig, daB die dritte Beachtungsstufe sich mit einer niederen 
Erfassungsstufe deckt Die vierte Beachtungsstufe, die durch das 
hinzutretende Bejahungsurteil gekennzeichnet ist, stellt keinen hoheren 
Grad beim Erfassen eines Gegenstandes dar. 

Die sinnliche Klarheit ihrerseits hat naturgemaB mit dem Erfassen 
nur so weit etwas zu tun, als die Moglichkeit zum Erfassen um so eher 
gegeben ist, wenn der Gegenstand sinnlich klar erscheint. 

Nun ist es aber bekannt, daB Gegenstande, abgesehen von der 
Art ihrer sinnlichen und Auffassungsklarheit auch lebhaft wirken 
oder Lebhaftigkeit fur uns haben konnen. Diese Eigenschaft kann 
in verschiedenem Grade von jedem Gegenstande ausgehen, unabhangig 
von seiner sinnlichen oder Auffassungsklarheit. Mit Biihler 1 ) fasse 
ich die Lebhaftigkeit nicht als eine immanente und statische, sondern als 
eine dynamische Eigenschaft der Erlebnisse auf und meine, Lebhaftig¬ 
keit ist die Energie, mit der ein Inhalt die Auffassungsprozesse und 
andere Reaktionen auslost. Statt Lebhaftigkeit kann in gleicher 
Bedeutung der Ausdruck Eindringlichkeit gesetzt werden, der 
nach G. E. Miiller 2 ) die Macht bezeichnet, mit der die Sinnes- 
eindrucke unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. — 

t)ber die sogenannte Enge des ,,BewuBtseins“ seien hier noch einige 
Bemerkungen angeschlossen, die fiir die spateren Erorterungen iiber die 
pathologischen Phanomene dieser Art von Wichtigkeit sind. 

Spricht man in der Pathologie und haufig auch in der Psychologic 
von der Enge des ,,BewuBtseins“, so ist meist der Tatbestand gemeint, 
daB trotz der zahlreichen und mannigfaltigen Reize gleichzeitig immer 
nur eine beschrankte Anzahl aufgefaBt wird. Man bezeichnet daher 
diese Tatsache besser als Enge der Aufmerksamkeit oder Enge des 
GegenstandsbewuBtseins. Es gibt wohl auch eine Enge des Bewuflt- 

__ < 

a. a. O., S. 655. 

2 ) Zeitschr. f. Psychol. 10, S. 25. 


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Die sogenannten BewuBtseinsst orungen. 


543 


seins, worunter zu verstehen ist, daB gleichzeitig immer nur eine 
beschrankte Anzahl von Bewu Btseinsinhalten, d. h. Erlebnissen vor- 
handen ist; m. a. W. es kann gleichzeitig immer nur eine beschrankte 
Anzahl von Empfindungen, Vorstellungen, Gedanken, Gefuhlen und 
Wollungen erlebt werden. Fur unsere Fragen kommt dieser Begriff 
nicht in Betracht. 

Beziiglich der Enge der Aufmerksamkeit hat sich herausgestellt, 
daB in einem Augenblick etwa 5—6 Einheiten gleichzeitig aufgefaBt 
werden konnen. 

Undeutlich aufgefaBte Gegenstande. 

Das Attribut der Deutlichkcit kommt der Auffassung des Gegen- 
standes und nicht dem BewuBtseinsinhalt zu. Ein Gegenstand ist dann 
deutlich aufgefaBt oder kurz, jedoch ungenau, er ist deutlich, ,,wenn 
er so gegeben ist, daB er mit einem bestimmten anderen als ,Ideal' oder 
Norm betrachteten Gegenstande vollstandig iibereinstimmt"'). So ist 
in dem friiher erwahntcn Beispiele, bei dem ein Kuizsichtiger bei der 
Betrachtung einer Laterne nur die Erscheinung eines leuchtenden 
Kreises hat, der Kreis deutlich gesehen, aber die Laterne ist nicht 
deutlich gesehen. Das Bild als Gegenstand ist also im Vergleich zu 
dem erwarteten Eindruck oder zu dem Idealbild undeutlich. 

Ahnlich steht es, wenn man in der Psychologie von undeutlichen 
Vorstellu ngen spricht. Vorstellungsbilder, wie wir sie dauernd erleben, 
konnen mit Hilfe der ,,inneren Wahrnehmung" oder der Selbstbeobach- 
tung aufgefaBt werden. In diesem Falle gilt beziiglich der Auffas- 
sungsklarheit fiir sie dasselbe wie fiir die Auffassung der auBeren Ge¬ 
genstande. Sie konnen mehr oder weniger beachtet oder aufgefaBt 
werden oder konnen mehr oder weniger sinnlich klar erscheinen. Als 
Gegenstande des Gegenstandsbewu Btseins unterliegen sie also den- 
selben Beachtungsstufen und -graden wie auBere Gegenstande. Das 
Attribut der Undeutlichkeit, wie es im psychologischen Sprachgebrauch 
Verwendung findet, hat jedoch mit diesen Beachtungsstufen ebenso- 
wenig etwas zu tun, wie bei den Gegenstanden der Wahrnehmung. 

Undeutliche V r orstellungsbilder nennt man vielmehr solche, die im 
Vergleich mit dem Gegenstand, den sie darstellen, diesen unvollstandig 
oder luckenhaft wiedergeben. Zum Erkennen dieses Attribute ist es 
allerdings erforderlich, daB das Vorstellungsbild mit Hilfe der Selbst- 
beobachtung betrachtet wird. Es muB hierzu jedoch noch ein Ver- 
gleich mit dem Idealbild treten. 

Wird also das Vorstellungsbild als Gegenstand nur einer Beachtung 
unterzogen und nicht in Vergleich gesetzt zu dem Gegenstand, den es 

x ) P. F. Linke, Grundfr. d. Wahrnehmungslehre. 1918, S. 178. 


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darstellen soil, so hat tier Faktor der Undeutlichkeit hier keinen Platz. 
Die undeutlichen Vorstellungsbilder sind auch nicht ,,dunkelbewuBV* 
und stehen auch nicht auf einer niederen Stufe des GegenstandsbewuBt - 
seins; die Undeutlichkeit hangt nicht von der sinnlichen oder Auf- 
fassungsklarheit, und damit auch nicht von der Beachtungsstufe ab. 

II. 

1. Psychopathologie der Benoiiimenheitszustan<le. 

Mit Hilfe dieses psychologischen Riistzeugs soil nunmehr eine 
Analyse der pathologischen Zustande versucht werden. 

Die psychischen Zustandsbilder, die man mit dem Ausdruck Be- 
\vuBtseinsstbrungen zu bezeichnen pflegt, umfassen zu nachst eine 
Clruppe, die ich am besten mit dem Ausdruck reine Benommenheits - 
zustande charakterisieren zu konnen glaube. Es gehoren hierzu alle 
die Zustandsbilder, die unter den Namen Somnolenz, Sopor, Koraa 
bekannt sind, und zwar sind hier nur solche Zustande gemeint, die 
keinerlei ,,delirante“ Symptome, wie motorische Unruhe, Halluzina- 
tionen usw. neben der Benommenheit bieten. 

Als 2. Gruppe unterscheide ich diejenige der traumhaften Be - 
nommenheitszustande 1 ). Dazu gehoren die Delirien, die Zustands¬ 
bilder der Amentia und die meisten Dammerzustande, also alle Zu¬ 
stande, bei denen neben der Benommenheit noch die erwahnten deli- 
ranten Symptome bestehen. — Von diesen Benommenheitszustanden 
ist eine vollig andersartige Gru])pe von Zustanden zu trennen, die ich 
als Zustande krankhaft eingeengten Gegenstandsbewu (itseins oder 
krankhaft eingeengter Auffassungsfahigkeit bezeichne. 

a) Reine Benommenheitszustande 2 ). 

So offensichtlich in vielen Fallen schon bei der Inspektion ein Kran- 
ker als benommen erkannt wird, so macht doch bei nicht ausgesproche- 
nen Fallen die Feststellung der Benommenheit bedeutende Schwierig- 
keiten. Aber auch in den Fallen, wo auf dem Wege der Einfiihlung 
mit Hilfe dcr Beobachtung die Benommenheit erkannt wird, ist es 
meist nicht ganz leicht, das einfiihlungsmaBig ErfaBte nun auch 
begrifflich festzulegen. 

1 ) Bumke (Diagnose der Geisteskrankheiten. Wiesbaden 1919, S. 358) falit 
diese Zustande unter dem Namen „Traumhaftes BewuBtsein“ zusammen, ein 
Ausdruck, der, wie im 3. Abschnitt zu zeigen sein wird, nicht das Wesentliche 
dieser Zustande trifft. 

2 ) Die in diesem Abschnitt gekennzeicluieten Zustande entstammen zumeist 
Beobachtungen von Kranken im bzw. nach dem gioBen epileptischen Anfall und 
von Moribunden. 


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Die sogenannten BewuBtseinsstorungen. 


545 


Tritt man an das Krankenbett eines Komatbsen, so vvird zuweilen 
gar kein Zweifel dariiber auftauchen, ob der Kranke schlilft oder be- 
nommen ist. Die halbgeoffneten Augen geben zuweilen einen Hinweis. 
Ein anderes Mai ist die Atmung frequenter, als man sie etwa bei einem 
Schlafenden beobachtet, oder das Inspirium ist im Vergleich zum 
Exspirium wesentlich verlangert. Ist das Umgekehrte der Fall, was 
zuweilen auch zu beobachten ist, so wird der Zustand noch leichter 
erkannt. 

Fehlen aber diese Symptome, so wird man zweifelhaft werden, ob 
hier ein gewohnlicher Schlafzustand vorliegt, oder ob der Kranke be- 
nommen ist. Einen AufschluB oder eine Bestatigung der Annahme, 
daB ein Zustand von Benommenheit vorliegt, ergibt die Reaktions- 
weise des Kranken auf auBere Reize. Findet es sich, daB der Kranke 
auf akustische Reize, wie Handeklatschen uberhaupt nicht reagiert, 
daB er bei greller Belichtung der halbgeoffneten Augen diese weder 
schlieBt noch den Kopf wendet, daB auf intensive Geschmacks- oder 
Geruchsreize wie auf starke Nadelstiche keine sichtbare Reaktion 
erfolgt, ja daB Reize auf seine Gleichgewichts- und seine kinasthetischen 
Organe, die durch kraftiges Schiitteln und ungewohnliche Korperlagen 
bewirkt werden, ohne sichtbare Reaktion bleiben, so fragt es sich, was 
liegt psychologisch hier vor? Eine Storung der Aufmerksamkeit ode- 
des GegenstandsbewuBtseins? Ohne weiteres wird man das nicht ber 
haupten diirfen. Voraussetzung dafur, daB etwas uberhaupt Gegen- 
stand meines GegenstandsbewuBtseins werden kann, d. h. daB etwas 
von mir aufgefaBt werden kann, ist, daB ich Empfindungen oder Wahr- 
nehmungen habe, daB das psychische Erlebnis oder der BewuBtseins- 
inhalt, der Empfindung oder Wahrnehmung genannt wird, vorhanden 
ist, durch den ich uberhaupt erst dazu komine, von der AuBenwelt 
Kenntnis zu nehmen 1 ). Ein Mensch etwa, dessen samtliche Sinnes- 
organe nicht funktionsfahig wiiren, der infolgedessen auch keine Emp¬ 
findungen oder Wahrnehmungcn hatte, kbnnte auch kein Gegenstands- 
bewuBtsein von den Gegenstanden haben 2 ). 

Nun kbnnte es zunachst einmal der Fall sein, daB die Reize, die 
hier angewendet werden, uberhaupt keinen Empfindungsvorgang ver- 
ursacht haben. Eine zweite Moglichkeit besteht darin, daB wohl Emp- 

1 ) Entsprechendes gilt naturgemaB fiir Dinge, auf die als Gegenstand sich 
ein Gefiihl oder ein Wollen bezieht. 

2 ) Den Ausdruck Wahrnehmung brauche ich hier in etwas anderem Sinne, 
als er fiir gewohnlich Verwendung findet. Spricht der Psychologe von Wahrneh- 
niung, so liegt darin auch schon der Begriff des Erfassens und Auffassens, also 
nach dem oben Gezeigten im weitesten Sinne Denkprozesse. Ich konnte, um 
dem auszuweichen, einfach von Empfindungen sprechen; dadurch wiirde aber 
das Komplexe der Wahrnehmungserlebnisse, abgesehen von dem Er- und Auf- 
fassungsvorgange, nicht zur Geltung kommen, das bei der Empfindung fehlt. 


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S. Fischer: 


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findungsmaterial da ist, ein Schmerz beira Nadelstich, eine optische 
Erscheinung beini Belichten der Augen erlebt wird, aber eine Intention 
auf die Erscheinungen nicht auftritt, daB also trotz des Erlebens der 
Erapfindung kein Auffassungsvorgang stattfindet, daB die Reize so 
wenig beachtet werden, wie der Gesunde etwa die Beriihrung des Kor- 
pers durch seine Kleider beachtet. Es ware auch denkbar, daB die 
Empfindung erlebt, der Reiz aufgefaBt wird, aber der Kranke damit 
nichts anzufangen weiB. SchlieBlich konnte auch der Auffassungs- 
prozeB und die intcllektuelle Verarbeitung vollig intakt sein, aber das 
Motorium und gleichzeitig vielleicht das Wollen derart gelahmt, ge- 
sperrt oder gehemmt sein, daB weder ein Wollen noch eine Willens- 
handlung moglich ist. Oder schlieBlich, es konnte ein absichtliches 
Nichtreagieren vorliegen. 

Etwas Sicheres iiber die verschiedenen Annahmen auszusagen ist 
zunachst nicht moglich. Denn Kenntnis von dem Seelenleben eines 
anderen haben wir nur durch seine Ausdrucksbewegungen — im wei- 
testen Sinne. Diese fehlen beim Komatosen vollig. Deswegen ist es 
aber noch nicht berechtigt, von einem vollstandigen Daniederliegen 
aller seelischen Erlebnisse zu sprechen. Auch im Schlaf seheint alles 
psychische Erlebcn entweder zu fehlen oder abgeschwacht zu sein. Wir 
schlieBen das u. a. daraus, daB der Schlafende keine Notiz von auBeren 
Reizen — bis zu einem gewissen Schwellenwert wenigstens — nimmt, 
und aus dem Fehlen von Ausdrucksbewegungen. Aber der Schlafende 
hat haufig ein GegenstandsbewuBtsein, und zwar im Traume von den 
Gegenstanden, deren Erscheinungen er in dem Traumbilde erlebt. 

Wir betrachten einen anderen Kranken und wenden dieselben Reize 
an. Auf das Klatschen der Hande erfolgt gar nichts. Der Kranke liegt 
ebenso bewegungslos da wie vorher. Wir beleuchten seine halbgeoff- 
neten Augen, und der Kranke schlieBt sie langsam. Jetzt stechen wir 
ihn mit der Nadel in die Stirn; darauf wendet der Kranke langsam 
den Kopf nach der anderen Seite und bleibt in dieser Stellung ruhig 
liegen. — Hat der Kranke die Reize aufgefaBt, und welche Verande- 
rungen liegen hier gegeniiber dem normalen Ablauf vor? DaB der 
Kranke die Augen bei Lichteinfall schlieBt, kann ein reflektorischer 
Vorgang sein. Die Frage, ob er den Reiz aufgefaBt hat, ist ohne wei- 
teres nicht leicht zu entscheiden. Bei der Reaktion auf den Nadelstich 
wird man die Kopfdrehung als einfachen Reflexvorgang ansprechen 
konnen. Es kann jedoch auch die Schmerzempfindung irgendwie Be- 
wuBtseinsinhalt gewesen und darauf die Kopfdrehung als Reaktion 
erfolgt sein. Durch welche vorangegangenen Erlebnisse des Wollens 
die Bewegung des Kopfes etwa stattfand, ist hier gleichgiiltig. Auch 
bei Annahme dieser Moglichkeit wird man ein Erfassen des Reizes 
als einen so und so gearteten und von einem spitzen Gegenstand her- 


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Die sogenannten BewuQtseinsstorungen. 


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ruhrenden ablehnen miissen. Aber wie steht es mit der Auffassung, 
d. h. dem GegenstandsbewuBtsein, wenn die Schmerzempf indung Be- 
wuBtseinsinhalt gewesen ist? Erinnern wir una an die vier Beachtungs- 
stufen, so wird man sagen konnen, daB die erste oder hochstens die 
zweite Beachtungsstufe hier vorliegen kann. Der Kranke ist voll- 
kommen passiv, der Reiz wird einfach hingenommen; er erhalt viel- 
leicht eine gewisse Bedeutung, ohne aber mit anderen Wissentdisposi- 
tionen in Verbindung gebracht zu werden. AusschlieBen wird man 
diirfen, daB hier ein unformuliertes Wissen vorliegt, das eine Benen- 
nungsmoglichkeit enthalt. — Einen Grund dafiir anzunehmen, daB 
der Grad der s inn lichen Klarheit, die Ausgepragtheit des Reizes 
prinzipielle Abweichungen gegeniiber dem Gesunden aufweisen, liegt 
nicht vor. — Wesentlich aber ist noch die Lebhaftigkeit, d. h. die 
Energie, mit der die Prozesse der Auffassung sowohl wie andere Reak- 
tionen ausgelost werden. Im Vergleich zu den anderen angewandten 
Reizen ist die Lebhaftigkeit des Schmerzreizes, wie die Reaktion zeigt, 
sicherlich groBer, im Vergleich zu derjenigen des Gesunden aber quan- 
titativ herabgesetzt, und zwar zunachst beziiglich der Auffassung und 
Erfassung des Reizes, dann aber auch anderer Reaktionsweisen, die 
auf das Wollen und das Gefiihlsleben zuriickgehen. Alle Reize werden 
mit einer stark verlangsamten und wenig ausgiebigen Bewegung beant- 
wortet. 

Es ist schlieBlich noch zu erwahnen, daB der Schwellenwert fiir 
Reize hier gegeniiber dem des Normalen stark erhoht ist, eine Tat- 
sache, die schon immer als wesentlich fiir diese Zustandsbilder an- 
gesehen wurde. Die Erhohung der Reizschwelle wird daraus geschlos- 
sen, daB geringere Reize keine Reaktion auslosen. Worauf beruht 
aber die Erhohung der Reizschwelle? Es kann diese zunachst durch 
eine organische Stoning des Sinnesorgans bewirkt werden. Das ist 
hier nicht der Fall. Dagegen kommt in Betracht ein erschwertes und 
erst bei starkeren Reizen zustande kommendes Auftreten des BewuBt,- 
seinsinhalts einer Empfindung und zweitens eine Erschwerung der 
Auffassung des Reizes als Gegenstand. Beide Erlebnisse scheinen hier 
in gleichera MaBe in ihrem Auftreten erschwert zu sein. Nun kann 
dies aber nur auf Grund der Reaktion geschlossen werden, die in irgend- 
welchen willkiirlichen oder unwillkiirlichen Bewegungen besteht. Diese 
wiedenim sind abhiingig einmal von irgendwelchen Erlebnissen des 
Wollens und zweitens von der Umsetzung — wenn ich einmal so sagen 
darf — dieser in Handlungen. Sind nun die Willenserlebnisse und die 
Umsetzung in Handlungen wie der Ablauf der Handlungen selbst 
ebenfalls erschwert, so ist nicht zu entscheiden, ob tatsachlich eine 
Erhohung der Reizschwelle vorliegt. Denn es kann das Auftreten 
der Empfindung und des Geriehtetseins auf den Reiz, diejenigen Pro- 


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zesse also, die in unseren Fallen die Hohe der Schwellemverte bestim- 
men, prompt ablaufen, die Reaktion darauf aber erst bei sehr starken 
Reizen erfolgen. Es scheint mir aber, wenn man alle anderen Symptome 
dieser Zustandsbilder in Betracht zieht, da 13 hier samtliche Teilprozesse, 
also diejenigen, die den Schwellenwert bestimmen sowohl wie die 
Reaktionsprozesse, in iltrem Ablauf erschwert sind. Nach dieser Be- 
trachtung wird es auch wahrscheinlich, daB es sich in dem erstbeschrie- 
benen Zustandsbild um einen fast bis zur volligen Aufhebung ver- 
langsamten und erschwerten Ablauf der psychischen Prozesse handeln 
diirfte. Mit absoluter GewiBheit laBt sich dariiber natiirlich nichts 
aussagen, da derartige Kranke keinerlei Selbstbeobachtungen vorneh- 
men konnen. 

Warten wir bei dem langsam erwachenden Kranken eine Weile und 
priifen wiederum seine Aufmerksamkeit, so sehen wir, daB auf den 
akustischen Reiz des Klatschens eine langsame Drehung des Kopfes 
erfolgt, auf den Lichtreiz ein langsames AugenschlieBen. Stechen wir 
ihn mit der Nadel, so wendet er diesmal schon etwas rascher den Kopf 
ab, hebt langsam die Hand und fahrt iiber die Stichstelle. Jetzt sieht 
der Kranke spontan seine Hand an, und legt sie dann wieder hin. Wir 
beriihren sein Ohr, und er hebt langsam den Kopf, fiihrt die Hand 
zum Ohr und legt sie wieder hin. Wir fordern ihn auf, die Hand zu 
geben, es erfolgt keine Reaktion. Aber der Kranke erblickt einen Fleck 
an seinem Rock und streicbt langsam dariiber, dann iiber die Bett- 
deckc und legt sich wieder miide und langsam hin. — Fur die Auffassungs- 
klarheit werden wir in diesem Falle die zweite Beachtungsstufe an- 
nehmen diirfen; die Lebhaftigkeit des Eindrucks ist sicherlieh groBer 
als vorher. Ein Erfassen der Gegenstande als diese bestimmten wird 
man kaum vermuten diirfen, wie sich aus den ratlosen und unzweck- 
maBigen Handlungen ergibt. Also auch hier ist die Beachtungsstufe 
eine niedere und damit die Auffassungsklarheit, und ebenso ist das 
Erfassen der Gegenstande und das Inbeziehungsetzen zueinander schwer 
geschadigt. Der Fleck am Rock wird vielleicht als etwas irgendwie 
Auffallendes erkannt, aber nieht als ein so und so gearteter Gegenstand. 
Ziehen wir noeh in Betracht, daB das sprachliche Verstandnis offenbar 
noch vollig fehlt, so wird aus alledem ein fast volliges Daniederliegen 
von Denkprozessen angenommen werden diirfen. t)ber die Willens- 
tatigkeit des Kranken ist etwas Sicheres infolge der schlechten Auf- 
fassung der Umwelt nieht auszusagen. Dazu kommt die auBerordent- 
liche V T erlangsamung der Bewegungen. Ganz ausschlieBen wird man 
aber Willenserlebnisse nieht diirfen. Das Anfassen des Ohres nach der 
Beriihrung setzt einen Willensakt voraus, ebenso das Streichen iiber 
den Fleck. Die UnzweckmaBigkeit der Handlungen erklart sich aus 
der Herabsetzung der Auffassung und dem Daniederliegen der iibrigen 


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Die sogcnannten BewuBtseinsstorungen. 


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Denkprozesse. Entsprechend diesen Storungen ist die Lebhaftigkeit 
oder Eindringlichkeit der ausgeiibten Reize, die ja in den dureh sie 
ausgelosten Reaktionen besteht, naturgemaB stark hera bgesetzt. — 
Die Erhohung der Reizschwelle, soweit eine solche nach dem friiher 
Gesagten angenommen werden darf, ist auf das erschwerte Auftreten 
von Empfindungsinhalten und das erschwerte Auffassen des Gegen- 
standes zu setzen. 

A Is Hauptsymptom dieses Zustandsbildes ergibt sich also eine Er- 
schwerung und Verlangsamung im Ablauf der Prozesse der Auffassung, 
also der Aufmerksamkeit, und der Erfassung der Umwelt. Das sind 
diejenigen Denkprozesse, liber die wir einiges erschlieBen konnen. Ist 
das richtig, so wird man in der Annahme nicht fehl gehen, dali die 
Erschwerung den Ablauf samtlicher Denkprozesse l)etrifft; denn es ist 
kein Grund einzusehen, warum nur gewisse Denkprozesse betroffen 
sein sollen. Ja, zieht man auch die Verlangsamung im Ablauf der Hand- 
lungen in Betracht, so wird man behaupten diirfen, daB die Grund- 
storung in einem erschwerten und verlangsamten Ablauf aller psychi- 
schen Funktionen zu suchen ist. 

Wird der Kranke allmahlich freier, so laBt sich feststellen, daB der 
Kranke auf die dargebotene Hand langsam die Hand reicht, auf die 
sprachliche Aufforderung jedoch, wenn wir ihm die Hand nicht gleich- 
zeitig entgegenstrecken, noch nicht. Das Sprachverstandnis fehlt, wie 
aus anderen an ihn gerichteten Fragen und Aufforderungen geschlossen 
werden darf, ebenso die Spontansprache. Richten wir nach einer Weile 
wieder die Aufforderung an ihn, die Hand zu reichen, so blickt uns 
der Kranke an, betrachtet dann seine Hand, hebt sie auf, streckt den 
Arm langsam aus, aber auf halbem Wege wird die Handlung unter- 
brochen, er faBt die Bettdecke, legt die Hand darunter und legt sich 
mude hin. Spontan spricht der Kranke nicht. Auf Schmerz- und 
Lichtreize reagiert er in derselben Weise wie vorher, jedoch bewirkt 
einmal schon eine geringere Reizstarke eine Reaktion, und diese ist 
alsdann lebhafter als vorher. Der Schwellenwert fiir Reize ist allmah¬ 
lich gesunken. Die Auffassungsklarheit ist gestiegen. 

Bei der Anwendung von Reizen, auch bei dem Darbieten der aus- 
gestreckten Hand, wie spater bei der Befolgung der Auffordening, die 
Hand zu reichen, wird man eine Entscheidung nicht leicht treffen 
konnen, ob die als zweite oder dritte Beachtungsstufe gekennzeichnete 
Auffassungsstufe vorliegt. Bei der zweiten Beachtungsstufe findet eine 
Richtung auf den Gegenstand statt, man wendet sieh ihm zu, der Ge- 
genstand wird bloB hervorgehoben; er erhalt eine gewisse Bedeutung 
fiir den Betreffenden im Sinne des gedankenlosen Hinstarrens. Auf 
dieser Stufe stehen offenbar noch die meisten Eindriicke fiir den 
Kranken. 


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S. Fischer: 


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Zum Verstandnis der sprachlichen Aufforderung wird man aber 
die dritte Beachtungsstufe oder eine zwischen der zweiten und dritten 
stehende annehmen raiissen. Bei dieser dritten Stufe ist es nach der 
Westphalschen Einteilung erforderlich, daB das Gegenwartigsein zu 
eineru Wissen geworden ist, und zwar zu einem unformulierten Wissen. 
Die Schwierigkeit der Entscheidung ist hier insbesondere deswegen 
groB, weil der Ablauf der psychischen Geschehnisse, und damit die 
Auffassungsfahigkeit stark verlangsamt ist. Jedenfalls wird man 
aber sagen diirfen, daB auch hier die Auffassungsklarheit noch auf 
einer niederen Stufe steht. Der Grand hierfiir liegt in der Verlang- 
samung und Erschwerang im Ablauf der Denkprozesse. Dementsprechend 
ist auch das Erfassen der Umwelt, unabhangig von der Beachtungs- 
stufe, geschadigt. — Die Willenshandlungen zeigen hier ebenfalls schon 
einen Fortschritt; es wird auf optischen oder sprachlichen Reiz eine 
zweckmaBige Handlung angesetzt, aber sie kommt noch nicht zur 
Ausfiihrang. Ohne auf eine. spezielle Analyse einzugehen, diirfen wir 
annehmen, daB der Impuls zur Ausfiihrang der Handlung nicht stark 
genug war. Das kann einerseits an der geringen Starke des Impulses 
liegen, oder aber dieser ist an sich stark, bei der allgemeinen Erschwe¬ 
rang des Ablaufs aller psychischen Vorgange aber in seiner Wirkung 
nicht ausreichend zur Vollendung der Handlung. 

Wenn man die determinierende Tendenz als wirksam fiir den Ab¬ 
lauf einer Handlung anerkennt, — unter dieser versteht Ach 1 ) die 
Wirkung, die vom Vorstellungsinhalte, der Zielvorstellung, ausgeht und 
eine Determinierung im Sinne oder geraaB der Bedeutung dieser Ziel¬ 
vorstellung nach sich zieht — wird man auch sagen konnen, daB diese 
hier nicht ausreichend gewesen ist. Beziiglich der Sprache ist festzu- 
stellen, daB das Sprachverstandnis elier auftritt als die Spontansprache, 
eine Erscheinung, die parallel geht der Sprachentwicklung beim Kinde- 
Andrerseits treten zweckmaBige Handlungen auf vor dera Auftreten 
der Spontansprache, ebenfalls ein Parallelvorgang zu der geistigen 
Entwicklung des Kindes. 

Die Grundstorang liegt auch hier in der Erschwerang und Verlang- 
samung der psychischen Prozesse. Daraus resultiert die Hohe der 
Reizschwelle, die herabgesetzte Auffassungsklarheit, das erschwerte 
und noch sehr unvollkommene Erfassen der Umwelt . Beim Willensablauf 
zeigt sich eine ungeniigende Wirkung oder Starke der determinierenden 
Tendenzen. 

Sind schon in den bisher geschilderten Zustanden die einzelnen 
Symptome nicht so streng an die verschiedenen Grade der Benommen- 
heit gebunden, wie es zur besseren Orientierang dargestellt wurde, so 


') X. Ach, Ohei die Willenst&tigkeit und das Denken. Gottingen 1905. 


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Die sogenannten BewuBtseinsstorungen. 


551 


trifft das noch in erhohtem MaBe fur die leichteren Grade zu, da bei 
ihnen infolge der schon regeren Geistestatigkeit die Variation der Aus- 
falle und der Erschwerung ira Ablauf der einzelnen psychischen Funk- 
tionen eine grollere Mannigfaltigkeit ermoglicht. Aus diesem Grunde 
soli die weitere Beschreibung sich nicht mehr an einzelne Zustands- 
bilder halten, sondern es sollen nur einige wesentliche Symptorae heraus- 
gehoben werden, die in mannigfacher Kombination den leichteren Be- 
nommenheitsgraden zukommt. 

Bei der Betrachtung der Auffassung hatten wir in den bisher be- 
schriebenen Krankheitsbildern ein durch den EinfluB der Reize wech- 
selndes Verhalten feststellen konnen, das jedoch bisher kaum bis zur 
dritten Beachtungsstufe, also zu dem potentiellen Wissen, das eine 
Benennungsmoglichkeit enthalt, gelangte. In dem Augenblick, wo 
die Spontansprache wieder auftritt, kann auch dies erreicht werden. 
Doch ist das durchaus nicht erforderlich. So kann man etwa beobach- 
ten, daB ein Kranker auf Befragen seinen Namen und gegebenenfalls 
auch seinen Vornamen angibt, Gegenstande aber, die ihm gezeigt 
werden, nicht benennt, gar nichts mit ihnen anzufangen weiB, insbeson- 
dere aber sie vollkommen unbeachtet liegen oder aus der Hand fallen 
laBt. Wahrend das Nichtbenennenkonnen eine geringe Auffassungsklar- 
heit noch nicht notwendig voraussetzt, andrerseits der Umstand, daB der 
Kranke mit dem Gegenstande nichts anzufangen weiB, auch auf Kosten 
der Erfassungsfahigkeit und nicht allein der Auffassungsklarheit 
gesetzt zu werden braucht, glaube ich, daB das geringe MaB von Be- 
achtung, das den Gegenstanden geschenkt wird, als Folge einer 
niederen Beachtungsstufe angesprochen werden muB. — Allmahlich 
zeigt sich auch hier eine immer steigende Auffassungsklarheit und 
damit eine vollige Funktionsfahigkeit der Aufmerksamkeit. Diese 
steigende Tatigkeit ist im wesentlichen bedingt durch den besseren 
und erleichterten Ablauf der Denkprozesse, und parallel damit tritt 
dann auch ein besseres Erfassen der auBeren Gegenstande ein. 

Nun kann voriibergehend einmal die vierte Beachtungsstufe er¬ 
reicht werden, also ein aktuelles Wissen und ausdriicklichcs Konsta- 
tieren eines Sachverhalts. Meist tritt die vollkommene Auffassungs¬ 
klarheit nur bei intensiveren auBeren Reizen ein, z. B. sprachlicher, 
oder optischer und sprachlicher Art gleichzeitig, etwa wenn demKran- 
ken ein Gegenstand gezeigt wird mit der Aufforderung, ihn zu benennen. 
Das liegt wiederum an der noch immer bestehenden Heraufsetzung der 
Reizschwelle. Ist der Reiz voriiber, so sinkt der Kranke wieder in seine 
passive Haltung zuriick, ohne wesenthche Notiz von der AuBenwelt zu 
nehmen. Es kommt wohl auch vor, daB ein Gegenstand fur Augen- 
blicke mit voller Aufmerksamkeit bcachtet wird, auch wenn die In¬ 
tensity des Reizes nicht besonders groB ist. Aber bald bietet der 


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Kranke wieder dasselbe Bild der Verlangsamung und Erschwerung 
wie zuvor. 

Wenn spater die Auffassung keine deutliche Erschwerung mehr 
zeigt, und auch einzelne Gegenstande als so und so beschaffene erfaBt 
werden, so werden doch Zusammenhange zwischen ihnen nicht iminer 
hergestellt. Entweder ist der Kranke dann uberhaupt nicht orien- 
tiert, d. h. er weiB nicht, wo er ist, oder aber er ist desorientiert. 
d. h. er verkennt seine Umgebung. Wie ist dieser Zustand zu erklaren 
Ein Mangel an Auffassungsklarheit wird bei der jetzt bestehenden 
geringen Schacligung dieser Funktion kaum in Anspruch genommen 
werden konnen; andere, hohere Denkprosesse des unterscheidenden 
und beziehenden Denkens sind hier die Ursachen der Stoning. Die 
Denkprozesse verlaufen hier offenbar noch nicht geordnet. Burake 
spricht von einer Inkoharenz, die hier vorliegen soil. Wenn man an die 
geringe Wirksamkeit der determinierenden Tendenz denkt, die vorhcr 
bei den Willenshandlungen festgestellt wurde, so wird es m. E. be- 
rechtigt sein, auch bier bei den Denkprozessen eine ungeniigende Wir- 
kung dieser Tendenz in Anspruch zu nehmen. Diese Inhokarenz un- 
terscheidet sich aber — ohne auf eine weitere Analyse einzugehen — 
von der bei der Schizophrenic zu beobachtenden dadurch, daB hier 
durch die Erschwerung des Denkablaufs und die absolut oder relativ 
geringe Kraft der determinierenden Tendenz diese sich nicht durch - 
zusetzen vermag, und demgemaB ein Inbeziehungsetzen, ein Denken 
uberhaupt nur unvollkommen statthat. Beim schizophrenen Denken 
dagegen werden wohl Beziehungen hergestellt, es wird also gedacht, 
aber es werden nicht zusammengehorige Dinge in Beziehung gesetzt; 
der Denkverlauf ist daher ungeordnet. Aus diesem unvollkomnienen 
Denkablauf — wie ich ihn nennen mochte, und wie er bei den Be- 
nommenheitszustanden vorliegt — resultiert nun ein unvollkommenes 
Erfassen der Umwelt und damit die Nichtorientierung. 

Aus dem erschwerten Denkablauf, zu dem ja auch die Aktuali- 
sierung von Wissenskomplexen und von Vorstellungen gehort, erkliirt 
sich andrerseits die Schwerbesinnlichkcit. Die determinierenden 
Tendenzen treten zuriick und die Perseverationstendenzen mehr hervor 
und damit auch das zuweilen zu beobachtende Symptom des Perse- 
verierens. 

Von einer ausgesprochenen Stimmungslage ist meist nicht viel zu 
bemerken. Zum Teil liegt das an dem erschwerten Ablauf der Hand- 
lungcn und der Ausdrucksbewegungen. 

Cher die Willenshandlungen ist oben schon das Wesentliche gesagt. 
Anscheinend qualitativ, tatsachlich aber nur quantitativ andert sieli 
insofern etwas bei den leichteren Zust&nden als die determinierenden 
Tendenzen in ihrer Wirkung starker werden, und der Ablauf der Hand- 


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Die sogenannten BewuBtseinsstorungen. 


553 


lungen besser und mit der Erleichterung im Ablauf aller psychischen 
Prozesse schneller vor sich geht. 

Die nach diesen Zustanden vorhandene Amnesie fur die Erleb- 
nisse wahrend des Zustandes crklart sich groBtenteils aus der schlechten 
Auffassungs- und Erfassungstatigkeit. — 

Die Symptome dieser Zustandsbilder, die wir unter dem Ausdrucke 
reine Benommenheitszustande vereinigen, erkliiren sich alle aus einer 
Erschwerung und Verlangsamung des Ablaufs samtlicher psychischer 
Funktionen. Die auffallendsten in die Erscheinung tretenden, aus 
diesem Defekt resultierenden Storungen sind: die Erhohung der 
Reizschwelle, Verlangsamung und Herabsetzung der Auffassungstatig- 
keit und der Lebhaftigkeit von Eindriicken, Herabsetzung und Ver¬ 
langsamung der Willenstatigkeit und der Willenshandlungen. Aus der 
Verlangsamung der Denkprozesse und der ungeniigenden Wirksamkeit 
der determinierenden Tendenzen resultiert eine besondere Art der 
Inkoharenz, dann die Schwerbesinnlichkeit. Die Heraufsetzung der 
Reizschwelle beruht auf dem erschwerten Auftreten eines BewuBt- 
seinsinhalts bei Reizung des Sinnesorgans und der erschwerten Auf- 
fassungstatigkeit. Aus der herabgesetzten Auffassungsklarheit resultieit 
die Unfahigkeit zur Orientierung. Infolge der genannten Symptome 
machen alle diese Kranken den Eindruck der Miidigkeit, und zwar der 
verschiedensten Grade; sie konnen das Bild leichtester Schlaftnmken- 
heit bieten bis hinab zu dem Eindruck tiefsten Schlafes. 


b) Trail mhafte Benommenheitszustande. 

1st bei den reinen Benommenheitszustanden die Mannigfaltigkeit 
der Zustandsbilder infolge der wechselnden Zusammensetzung der ein- 
zelnen Symptome und ihrer Ausgepragtheit schon auBerordentlich 
groB, so wachst die Zahl fast ins Unubersehbare bei den traumhaften 
Benommenheitszustanden. Unter diesen verstehe ich solche, bei 
denen neben der Benommenheit noch andere Symptome v r orhan- 
den sind, die am verstandlichsten als delirose bezeichnet werden. Die 
Mannigfaltigkeit dieser letzteren (einfaches und Zusammenhalluzinieren, 
Verwirrtheit, motorische Unruhe, haufig Desorientierung, Walinideen 
usw.) ergibt in ihren verschiedenenKombinationen mit denverschiedenen 
Graden der Benommenheit Krankheitsbilder wechselvoller Art. Ver- 
treter der hier in Frage stehenden Zustande sind die Delirien, die 
Amentia — wobei die Frage, ob diese als Krankheitseinheit oder nur 
als Zustandsbild aufzufassen ist, der Untersuchung entsprechend auBer 
Betracht bleibt — und die meisten Dammerzustande. Alle diese Zu¬ 
stande kommen aber an dieser Stelle nur so weit in Frage, alsbeiihnen 
gleichzeitig auch eine Benommenheit vorhanden ist. 


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Zuweilen weisen die hierher gehorigen Krankheitsbilder nur einen 
geringen Grad von Benoramenheit auf. Doch finden sich auch bei 
schweren Benommenheitszustanden delirose Symptome. So etwa wenn 
ein im iibrigen schwer komatoser Kranker dauernd und langsam meist 
undeutlich artikulierte, abgerissene Worte vor sich hinspricht, mit den 
Armen allerlei Bewegungen, etwa ausfahrende oder Greifbewegungen 
ausfiihrt, die fast als pseudospontan imponieren. Diese motorische 
Unnihe gehort nicht mehr zum Zustandsbild der reinen Benommenheit. 
Ja sie widerspricht geradezu nach dem im vorigen Abschnitt Gesagten 
der Symptomatologie dieser Zustandsbilder. Schon in diesem Falle 
steht die wenn auch noch relativ geringe Lebhaftigkeit und Schnellig- 
keit der Bewegungen im Gegensatz zu dem, wie wir vermuten diirfen, 
langsaraen und insbesondere erschwerten Ablauf der tibrigen psychischen 
Prozesse, vor allem der hoheren Funktionen. Trotzdem wird aber kein 
Zweifel dariiber bestehen konnen, daB der Kranke benommen ist; denn 
die Hbhe der Reizschwelle fiir auBere Reize, die vollig aufgehobene 
Auffassungsfahigkeit, und das Daniederliegen der Willenstatigkeit und 
der Willenshandlungen lassen keinen Zweifel aufkommen. Die mo¬ 
torische Unruhe ihrerseits kann bei einem solchen Daniederhegen des 
geistigen Lebens kaum als AusfluB von Denk- und Willenserlebnissen 
anzusprechen sein. Sie muB demnach entweder als physische Reiz- 
erscheinung gedeutet werden oder aber als AusfluB einer lebhaften 
Reaktion auf halluzinatorische Erlebnisse, die selbst die Erschwerung 
im Ablauf der Willensprozesse iiberwindet, aber auch hier Ixn dem 
Daniederliegen der intellektuellen Funktionen nicht zu zweckmaBigen 
Handlungen fiihrt. 

Es fragt sich, wie steht der Kranke dieser Trugwelt gegeniiber, und 
zweitens, wie gelangt er, falls es iiberhaupt moglich ist, in dieobjektiv 
reale Welt, und wie steht er dieser dann gegeniiber? Bei dieser Analyse 
werden sich die Storungen der einzelnen psychischen Funktionen und 
ihr Ineinandergreifen aufweisen lassen konnen. 

t)ber die sinnliche Klarheit der hal luzi natorischen Erlebnisse, 
also liber den Beachtungsgrad wird kaum etwas Sicheres auszusagen 
sein. Soweit man berechtigt ist, aus katamnestischen Angaben dieser 
Kranken auf die sinnliche Klarheit zu schlieBen, zeigen sich hier die 
verschiedensten Grade. Doch wird man diese Aussagen mit Vorsicht 
bewerten miissen. Das ist aber nicht von so wesentlichem Belang. 
Vielmehr interessiert hier die Auffassungsklarheit, also die Beachtungs- 
stufe und die Lebhaftigkeit der Reaktion. Beobachtet man solche 
Kranke, wie sie in ilirer Trugwelt leben, wie sie zuweilen auf zwei oder 
noch mehr Sinnesgebieten zusammenhalluzinieren, wie sie sich mit den 
Stimmen unterhalten, oder fragt man sie liber ihre Trugwahrnehmun- 
gen aus, und erfahrt auf diese Weise von ihren Erlebnissen, so wird 


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Die sogenannten BewuBtseinsstorungen. 


555 


man keinen Zweifel hegen, daB hier eine vollkommene Auffassungs- 
klarheit, also die vierte Beachtungsstufe vorliegt. 

Verschiedenartig ist aber die Reaktion auf die Sinnestauschungen 
im Gebiete des Gefiihls- und Willenslebens und die daraus entspringen- 
den Handlungen. Die Lebhaftigkeit dieser Prozesse ist zunachst ab- 
hangig von dem Grade der Benommenheit. Je starker die Benommen- 
heit ist, desto geringer und langsamer werden, nach den Erorterungen 
des vorigen Abschnitts, diese Reaktionen sein. Andrerseits aber ist 
die Starke der Benommenheit nicht allein maBgebend fiir die motori- 
schen Entladungen. Es ist das Eigentiimliche dieser Zustande, claB 
hier relativ rasche und haufige Bewegungen ablaufen konnen, die bei 
entsprechenden Graden reiner Benommenheit nicht vorkommen. 

Inwieweit das Gefiihlsleben durch die Trugwahrnehmungen angeregt 
wird, ist auBerdem von vielerlei anderen Faktoren abhangig, die fiir 
gewohnlich im einzelnen gar nicht feststellbar sind. Von Zustanden 
schwerster affektiver Erregung laBt sich die Skala bis zu der voll- 
kommen ruhigen und sachlichen Betrachtung fiirchterlichster Szenen 
verfolgen. So beobachtete ich eine Kranke, deren Benommenheits- 
zustand relativ geringfiigig war, die wahrend des Erlebens der Trug¬ 
wahrnehmungen mit vollig sachhcher Ruhe, als ob sie all dies gar 
nichts anginge, erzahlte, jetzt wiirde von zweiMannern, die sie aufs ge- 
naueste beschrieb, ein Galgen aufgerichtet, und sie wiirde jetzt gleich 
gehangt werden. 

Aus dem Gesagten geht schon hervor, daB das Erfassen der ein¬ 
zelnen Trugbilder vollig intakt sein kann, dagegen bestehen offenbar auch 
bei den geringsten Graden von Benommenheit Storungen im Herstellen 
von Beziehungen zwischen den einzelnen Trugwahrnehmungen und der 
Einordnung derselben in ein zusammenhangendes geordnetes Ganze. 

Ganz anders verhalten sich aber die Kranken gegeniiber den ob- 
jektiv realen Reizen der AuBenwelt. Der Schwellenwert der Reize 
ist gegeniiber dem Normalen haufig erhoht, allerdings bei weitem 
nicht so stark und nicht so regelmaBig wie bei der reinen Benommen¬ 
heit. Ja, genauere Untersuchungen haben bei einzelnen Zustanden fast 
normale Werte ergeben (Bonhoffer). Zunachst muB festgestellt wer¬ 
den, daB wenn in diesen Zustanden ein erhohter Sch wellenwert vor- 
handen ist, dieser auf zweierlei Ursachen beruhen kann. Einmal auf 
der Benommenheit 1 ); claim aber ist zu beriicksichtigen, daB die hallu- 
zinatorischen Erlebnisse den Kranken derart intensiv beschaftigen 
konnen, daB andere Reize ein gewisse Starke erreichen miissen, um 
ihn aus der Tmgwelt herauszureiBen. — Ist der Schwellenwert fiir 
iiuBere Reize nicht erhoht, so wird man daraus noch nicht das Fehlen 

x ) t)ber die Ursachen cier Reizschwellenerhohung bei den reinen lienom- 
menheitszustanden siehe S. 547. 

Archiv fiir Psychiatrie. Bd. 67. 37 


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556 


S. Fischer: 


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jeder Benommenheit schlieBen konnen, auch wenn gleichzeitig mo- 
torische Unruhe besteht. Hier kann nur die Priifung der Auffassungs- 
klarheit und die Feststellung, ob eine Erschwerung der Denk- und 
Widensprozesse vorhanden ist, vielleicht auch gleichzeitig die Fest¬ 
stellung eines schlaffen, miiden Gesichtsausdrucks usw. AufschluB 
dariiber geben. Die Schwierigkeit solcher Feststellung erklart die von 
verschiedenen Autoren geauBerte Ansicht, daB z. B. beira Alkoholdelir 
keine BewuBtseinstrubung — nach unserer Nomenklatur Benommen¬ 
heit — vorliege. 

Die Auffassungsklarheit fiir auBere Gegenstande kann ent- 
sprechend dem Grade der Benommenheit alle Stufen durchlaufen. 
Bei den meisten Zustanden, die fiir gewohnlich nur leichtere Benom- 
menheitsgrade aufweisen, besteht infolgedessen auch nur eine leichte 
Stoning derselben. Allerdings ist das nur der Fall fiir die Zeit, in der 
die Kranken ihrer Trugwelt vollkommen entrissen sind. Solange sie 
in dieser leben und die Aufmerksamkeit nur von Trugerlebnissen in 
Anspruch genommen ist, ist es durchaus verstandlich, daB die Auf- 
fassungsfahigkeit fiir auBere Gegenstande herabgesetzt und die Be- 
achtungsstufe fiir diese Gegenstande eine niedere ist. Die Storung der 
Aufmerksamkeit ist also in solchen Fallen sekund&rer Art. 

Komplizierend tritt andrerseits in vielen Fallen eine auBerordent- 
lich leichte Ablenkbarkeit der Kranken sowohl durch von auBen be- 
dingte Wahrnehmungen wie durch halluzinatorische Erlebnisse hinzu. 
Das Erfassen der Uimvelt und das Erfassen sowohl einzelner Gegen¬ 
stande wie groBerer Zusammenhange kann hier in ganz eigenartiger 
Weise gestort sein. Je nach der Starke der Benommenheit besteht eine 
Erschwerung des Erfassens der Gegenstande und der Umwelt, also 
eine Erschwerung im Ablauf des unterscheidenden und beziehenden 
Denkens. Infolge dieser Denkerschwerung kann, wie oben ausgefiihrt, 
eine eigenartige Inkoharenz und dadurch verursachte Nichtorientie- 
rung entstehen. Hier aber findet sich meist eine Desorientierung. 
Und diese ist auf zweierlei zuriickzufiihren. Der Denkverlauf ist w'ohl 
in gewisser Weise erschwert, aber haufig nicht so stark, daB man eine 
starkere Inkoharenz und Nichtorientierung als Folge derselben an- 
nehmen miiBte. Hier besteht vielmehr eine Inkoharenz im Denk¬ 
verlauf primarer Art, die derjenigen bei der schizophrenen Zerfahren- 
heit durchaus gleich sein kann. Worauf psychologisch diese Art des 
ungeordneten Denkens beruht, soli hier nicht naher erortert werden. 
Es geniigt hier, darauf hinzuweisen, daB beim schizophrenen Denk¬ 
verlauf nach meiner Ansicht Storungen in der determinierten Komplex- 
erganzung 1 ) vorliegen. Jedenfalls beruhtdieser nicht auf einer Ersch we- 

l ) Vgl. dazu Otto Selz, Cbcr die Gesetze des geordneten Denkverlaufs. 
Stuttgart 1913. 


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Die sogenannten BewuBtseinsstorungen. 


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rung im Ablauf der Denkprozesse und nicht gewissermaBen in einer 
dynarnischen Schwache der determinierenden Tendenz, wie es bei der 
reinen Benommenheit der Fall ist. Infolge der Denkstorung kdnnen 
auch falsche Beziehungen zwischen den Gegenstanden der Uruwelt 
hergestellt werden, und daraus dann eine Desorientierung resultieren, 
im Gegensatz zu der Nichtorientierung bei den reinen Benommenheits- 
zustanden, bei denen ein falsches Erfassen oder falsches Inbeziehung- 
setzen selten vorkommt. Als zweites kommt bier in Betracht, 
daB auch infolge der Trugwahrnehmungen und illusionaren Umdeutung 
der realen AuBenwelt das Erfassen derselben schwere Storungen erleidet. 
So kommt es zu einer Desorientierung. 

Bemerkt sei noch, daB die Aufmerksamkeit sich ebenso wie bei den 
reinen Benommenheitszustanden, hier jedoch zuweilen auch fur lan- 
gere Zeit, den Gegenstanden der AuBenwelt vollkommen zuwenden 
kann. In solchen Augenblicken gibt manchmal die Verlang;amung 
der Bewegungen und wohl auch der Denkprozesse bzw. der sprach- 
lichen AuBerungen Kunde von der Benommenheit; doch kann auch 
von den Symptomen, die wir als charakteristisch fiir die Benommenheit 
bezeichnet haben, nur wenig zu bemerken sein. Die Kranken fallen 
jedoch meist bald wieder in ihre traumhafte Benommenheit zuriick 
und ihre Aufmerksamkeit wird von den Trugwahrnehmungen in An- 
spruch genommen. Dieser Wechsel kann sich haufig vollziehen, ins- 
besondere, wenn starkere auBere Reize auf die Kranken einwirken. 

Dber den Denkverlauf ist schon das Wichtigite gesagt worden. 
Hinzuzufiigen ist noch, daB infolge der Inkoharenz naturgemaB auch 
das Urteil und die Kritikfahigkeit der Kranken stark beeintrachtigt 
sind. Selbst wenn die Inkoharenz in solchen Zustanden nicht sehr 
ausgesprochen ist, so wird man, wie ich friiher 1 ) dargelegt habe, schon 
aus der Tatsache der Halluzination wenigstens haufig eine Schwache 
des Urteils herleiten diirfen. 

Ganz entgegengesetzt zu den reinen Benommenheitsstorungen zeigt 
das affektive Erleben, wie schon erwahnt wurde, meist sehr starke 
Ausschlage, wenn nicht gerade die Benommenheit sehr starke Grade 
aufweist. Ausgelost werden die Gefiihlsqualitaten bezeichnenderweise 
fast ausschlieBlich von den Gegenstanden der Trugwahrnehmungen und 
viel seltener von solchen der realen AuBenwelt. Man darf auch das 
wohl als Symptom dafiir ansehen, daB die Erscheinungen der Trug- 
welt meist •wesentlich eindringlicher und lebhafter sind als die der 
realen Umgebung. 

Das Willensleben und die daraus resultierenden Handlungen sind 
naturgemaB sowohl von dem Grade der Benommenheit als auch von 

*) Kritische Muatorung d. neuer. Theor. iib. d. Unterschied zwischen Emp- 
findung und Vorstellung. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 64, S. 280. 

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den vielfachen anderen psychischen Faktoren wie dem Ablauf der 
Denkprozesse, der affektiven Erregbarkeit und den halluzinatorischen 
Erlebnissen abhangig. Dazu kommt noch die motorische Unruhe. 
Sehr selten findet sich eine Bewegungsarmut wie bei den meisten Zu- 
standen reiner Benommenheit; im tibrigen aber kann die Schnellig- 
keit der willkiir lichen Spontanbewegungen die gauze Skala durch- 
laufen bis zur heftigsten Gewalttatigkeit. Darait ist nicht gesagt, daB 
die Handlungen auch unter Beriicksichtigung der Trugwahrnehnaungen 
iramer zwcckmaBig, also subjektiv sinnvoll, verlaufen miissen. Eine 
UnzweckmaBigkeit von Handlungen wird auf das Konto der Inkoha- 
renz zu setzen sein. Uber die eigentlichen Willensakte liiBt sich nur 
so weit etwas aussagen, als aus den Handlungen zu ersehen ist. 

Entsprechend der jeweiligen Hohe der Reizschwelle, der Auffas- 
sungsfahigkeit und der jeweiligen Abweichung vom geordneten Denk¬ 
prozesse leidet das Sprach verstandnis, wahrend von der Verande- 
rung des Denkverlaufs und der Willenstatigkeit die Spontansprache 
abhangig ist. Zuweilen findet sich ein auBcrordentlich starker Rede¬ 
flu B, der auch formal geordnet sein kann. 

Soweit eine Schwerbesinnlichkeit vorliegt, wird sie als Folge der 
vorhandenen Benommenheit anzusehen sein. •— 

Bei einem Riickblick fiber die Grundsymptome dieser wechselvollen 
Bilder ergibt sich als notwendig zu ihrer Diagnose einmal das Vor- 
handensein von den sogenannten delirosen Symptomen, und zweitens 
ein, wenn auch noch so geringer Grad von Benommenheit. Allerdings 
braucht hier die Verlangsamung aller Funktionen, insbesondere von 
seiten des Motoriums nicht vorhanden zu sein. Was in solchen Fallen 
die Benommenheit erkennen laBt, ist die Verlangsamung imd Erschwe- 
rung im Ablauf der hoheren psychischen Funktionen, vor allem des 
Denkens und damit der Auffassung und eine gewisse Schwerbesinn- 
lichkeit. Selbst wenn man noch besonders den miiden Ausdruck — 
der auch trotz der motorischen Unruhe meist vorhanden ist — beachtet, 
wird es manchmal nicht leicht sein, das Bestehen einer Benommenheit 
festzustellen oder auszuschlieBen. Das kann so weit gehen, daB eine 
Differentialdiagnose gegeniiber einem katatonen Erregungszustand allein 
aus dem Zustandsbild zuweilen unmoglich werden kann. 

Je nach der Starke der Benommenheit besteht nach dem friiher 
Gesagten eine Schwache der Auffassung und damit eine niedere Stufe 
des GegenstandsbewuBtseins gegeniiber den Gegenstanden der Au Ben- 
welt. Andere Storungen, wie die starke psychische Inanspruchnahme 
der Kranken durch ihre Tmgwelt konnen, wie beschrieben, auch zeit- 
weise eine schlechtere Auffassung der realen AuBenwelt bewirken. Die 
anderen Storungen aber ha ben keinen EinfluB auf den Grad der Auf- 
fassungsklarheit. Durch die Inkoharenz im Gedankenverlauf wird 


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Die Hogenannten BewuBtseinsatorungen. 


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ferner das Erfassen der Umwelt, also das Herstellen von Beziehungen, 
das Unterscheiden und Vergleichen nnd damit das Inbeziehungsetzen 
beeintrachtigt und durch illusionare und halluzinatorische Erlebnisse 
die Orientierung verfalscht. 

2 . Zustiinde krankliafter Enge der Auffassungsffihigkcit oder 
des GegenstandsbewuBtseins. 

Wie in dem psychologischen Toil erortert wurde, besteht die Enge 
der Aufmerksamkeit oder des GegenstandsbewuBtseins darin, daB 
trotz der zahlreichen und mannigfaltigen Reize und Erregungen gleich- 
zeitig nur innner eine beschrankte Anzahl aufgefaBt wird. Das gilt 
sowohl fiir Reize oder Gegenstande physischer wie auch fiir solche 
psychischer Natur. Als psychische Gegenstande sind dann BewuBtseins- 
inhalte oder Erlebnisse anzusehen, zu deren (innerer) Wahrnehmung 
die Fahigkeit ebenso vorhanden ist, wie fiir Gegenstande der realen 
AuBenwelt. DaB diese Gegenstande nicht immer beachtet oder auf¬ 
gefaBt und damit Gegenstande des GegenstandsbewuBtseins werden, 
liegt an der Enge des GegenstandsbewuBtseins. In normaler Breite noch 
findet sich ein besonders hoher Grad dieses Phanomens, wenn man 
etwa in Gedanken versunken Personen seiner Umgebung vollig iiber- 
sieht und bekannte Personen auf der StraBe nicht ,,sieht“, obwohl 
vielleicht der Blick auf sie gerichtet ist. Prinzipiell genau so liegen die 
Verhaltnisse, wenn durch die intensive Beschaftigung mit einem Problem 
vielleicht stundenlang andere Gedanken iiberhaupt nicht ,,aufkom- 
men“, d. h. andere Sachverhalte nicht Gegenstand des Gegenstands¬ 
bewuBtseins werden. 

Das krankhaft eingeengte GegenstandsbewuBtsein unterscbcidet 
sich davon durch wesentliche Momente. Es fehlt in diesen Zustanden 
die Fahigkeit einer Intention auf gewisse Sachverhalte oder Gegen¬ 
stande iiberhaupt. Wahrend beim Normalen durch einen mehr oder 
weniger starken Reiz irgendeiner Art jederzeit andere Sachverhalte 
intendiert und damit Wissensdispositionen und Vorstellungen aktuali- 
siert werden konnen, ist die Fahigkeit dazu beim krankhaft eingeengten 
GegenstandsbewuBtsein naeh bestimmten Richtungen hin gewisser- 
maBen abgebrochen. Gegenstande, die sonst. wahrgenommen, vor- 
gestellt oder gedacht werden konnen, werden nicht mehr aufgefaBt; 
es ist, als existierten sie gar nicht. Deshalb werden auch sekundar 
die entsprechenden Wahrnehmungserscheinungen, Vorstellungen, Ge¬ 
danken nicht zu Erlebnissen. Es handelt sich also bei den krankhaften 
Zustanden nicht um eine Enge, die in der Beschrankung der gleich- 
zeitigen Auffassung von einzelnen Reizen besteht, sondern hier ist 
die Fahigkeit, bestimmte Gegenstande zu intendieren, nicht vorhan- 


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den. Der Umfang der Auffassungsfahigkeit oder des Gegenstands- 
bewuBtseins, d. h. also die Fahigkeit, eine bestimrate Anzahl von 
Reizen gleichzeitig aufzufassen, braucht nicht geschadigt zu sein. 
Innerhalb der uberhaupt intendierten Sachverhalte braucht die Auf- 
fassung nicht gestort zu sein, und deraentsprechend werden auch die 
Gegenstande auf der 3. oder 4. Beachtungsstufe aufgefaBt. Selbst- 
verstandlich kann neben dem krankhafteingeengtenGegenstandsbewuBt- 
sein noch eine Benommenheit bestehen, und damit werden dann die 
Gegenstande, deren Auffassung liberhaupt moglich ist, langsaraer und 
auf einer niederen Beachtungsstufe aufgefaBt. 

III. fiber die Bedeutung des Ausdrucks BewuBtsein und die 
Berechtigung des Ausdrucks BewuBtseinsstorungen. 

Besteht nun die Berechtigung, Zustande, die die genannten Sym- 
ptome bieten, als BewuBtseinsstorungen zu bezcichnen? Zur Entschei- 
dung dieser Frage ist es erforderlich, den Begriff BewuBtsein zu klaren. 

Der Ausdruck ,,BewuBtsein“ wird ira taglichen Leben sowohl wie in 
der Psychologie in mehrfacher Absicht gebraucht. Die mehrfache Be¬ 
deutung geht schon aus den verschiedenen Redewendungen hervor. 
Man spricht z. B. davon, daB einem etwas bewuBt sei im Sinne von 
,,wissen um“ oder davon, daB etwas ins BewuBtsein trate, oder man 
redet von bewuBtlos oder bei BewuBtsein sein. Andererseits sagt man 
wohl auch von dem Subjekt, es sei bewuBt, etwa, es habe etwas be¬ 
wuBt getan. SchlieBlich spricht man auch von Dunkel-, Unter- und 
UnbewuBtem oder von Graden oder Stufen des Bewu Btseins. 

Der Ausdruck BewuBtsein 1 ) kann zunachst in der Bedeutung von 
psychisch gebraucht werden; es wtirde dann BewuBtsein = Psychisches 
und bewuBt = psychisch sein. Alles was den Charakter des Psychischen 
tragt, ist in dieser Bedeutung des Wortes „bcwuBt“, ,,unbewuBt“ da- 
gegen alles Nichtpsychische, also z. B. alle raateriellen Dinge. Etwas 
UnbewuBt-Psychisches gibt es hier nicht, denn das hie lie etwas Nicht- 
]>sychisches Psychisches. Grade dieses BewuBtsein kann es natiirlich 
nicht geben, da das Psychische keine Grade hat, und etwas nur ent- 
weder psychisch oder nichtpsychisch sein kaim. — Man kann ferner 
unter BewuBtsein das Ich oder das psychische Subjekt verstehen, 
sofern es eines Wissens um etwas fahig ist. ,,BewuBt“ ist in diesem 
Sinn jedes psychische Subjekt, das ein Wissen um oder von etwas hat, 
,,unbewuBt“ ist alles dasjenige, das nicht ein um etwas wissendes 
psychisches Subjekt ist. Das BewuBtsein in diesem Sinn hat keine 

*) Die nachstehende Unterscheidung schlieflt sich insbe3ondere an die „Lo- 
gischen Untersuehungen 11 von Husserl an. V T on EinfluB sind auch gewesen die 
Bemerkungen A. Pfanders in seiner Einleitung in die Psychologie. 


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Die sogenannten BewuBtseinsstorungen. 


561 


Grade, da das wissende Ich auch keine Grade hat. Auch bei der Rede 
von Storungen des BewuBtseins kann nicht Bewu Btsein in diesem 
Sinn gemeint sein, da hier nicht eine Storung des psychischen Sub- 
jekts, sofern es eines Wissens um etwas fahig ist, gemeint ist, sondern 
es soil damitvielmehr gesagt sein, daB Storungen von einer oder mehreren 
psychischen Funktionen vorliegen, zu denen das Ich befahigt ist, 
die aber nicht das psychische Subjekt selbst sind. 

Der Bedeutung, in der der Ausdruck BewuBtsein in der Psychiatric 
gebraucht wird, kommt naher eine Begriffsbestimmung, dio, das Be¬ 
wu Bt sein bestimmt als ,,den gesamten reellen phanomenologischen 
Bestand des empirischen Ich, als die Verwebung der psychischen Er- 
lebnisse in der Einheit des Erlebnisstromes" 1 ). Alle Erlebnisse sind in 
diesem Sinn Inhalte innerhalb der Einheit der BewuBtseinsinhalte. 
Alle Erlebnisse, die ich habe, alle Wahrnehmungserscheinungen, Vor- 
stellungen, Gefiihle, Denkprozesse, Willensakte usw., die ich erlebe, 
sind in diesem Sinne bewuBt; unbewuBt ist dann alles, was nicht Erlebnis 
ist. Erlebnis kann aber nur etwas Psychisches sein. Die Farbe, der 
Ton, der Himmel und die Erde sind in diesem Sinne nicht bewuBt, 
denn sie sind nichts Psychisches. BewuBt in diesem Sinn sind nur die 
Wahrnehmungserscheinungen; denn nur diese sind Bestandstiicke 
im phanomenologisch einheitlichen BewuBtseinsstrom. Grade oder 
Stufen dieses BewuBtseins kann es nicht geben, da etwas entweder 
erlebt oder nicht erlebt ist; aber es kann etwas nicht mehr oder weniger 
erlebt sein. Denn es handelt sich nicht etwa um die Intensitat. Es 
muBte vielmehr, falls es Grade dieses BewuBtseins geben sollte, moglich 
sein, daB ein BewuBtseinsbestandteil oder ein Erlebnis trotz betracht- 
licher Intensitat und langer Dauer dem Nichterleben naher stiinde, 
als etwa ein ganz schwacher und fluchtiger BewuBtseinsbestandteil. 

Daraus folgt aber nicht, das sei hier nebenbei bemerkt, daB z. B. 
Vorstellungen und Gedanken nur eben dann Vorstellungen und Ge- 
danken sind, wenn sie erlebt werden; denn in dem Begriff etwa der 
Vorstellung ist noch nicht enthalten, daB sie nur als erlebt existiert, 
als unmittelbar gegenwartiges Erlebnis. Es ist prinzipiell denkbar, 
daB es Vorstellungen gibt, die nicht in dem Erlebnisstrom vorhanden 
sind. A priori also ist es kein Widerspruch, wenn von nicht erlebten 
oder — in diesem Sinn von Bewu Btsein — von unbewuBten Vorstel¬ 
lungen gesprochen wird; doch das sind Fragen, die hier zunachst auBer 
Betracht bleiben. 

Storungen des BewuBtseins in diesem Sinn waren also Storungen 
von Erlebnissen oder Storungen der Verwebung der psychischen Er¬ 
lebnisse in der Einheit des Erlebnisstromes. Das heiBt aber nichts 
anderes, als jedes krankhafte, namlich gestorte psychische Geschehen, 
Husserl, Logische Untersuchungen. II., 1913, S. 346. 


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8. Fischer: 


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worunter alles fallt, was Gegenstand der Psychiatric bzw. Psycho- 
pathologic ist. Man sieht, daB der Ausdruck Bewu Btsein in diesem 
Sinn nicht geraeint sein kann, wenn man in der Psychiatric von Be¬ 
wu Btseinsstorungen spricht. 

In einem vierten Sinne wird der Ausdruck Bewu Btsein in der 
Bedeutung von Gegenstand-sbewuBtsein gebraucht. Die Feststellung 
der Bedeutung dieses Wortes erfordert eine ausfiihrlichere Erorte- 
rung. Sage ich, ich sehe eine Farbe oder hore einen Ton, so bin 
ich auf, die Farbe oder den Ton als Gegenstand gerichtet, ich 
ziele auf ihn ab, indent ich ihn zum Gegenstand meines Gegen- 
standsbewuBtseins mache. In diesem Fall ist der Ton oder die 
Farbe Gegenstand meines Gegenstandsbewu Btseins. Inhalt mei¬ 
nes Bew r u Btseins (im Sinne von Erlebnis) sind die Empfindungen 
und die die Gegenstande auffassenden Akte. Das will sagen: die Gegen- 
stande, auf die ich gerichtet bin, werden wahrgenommen, aber sie 
werden nicht erlebt, denn eine Farbe, ein Ton ist kein Erlebnis. Deut- 
licher noch wird es, wenn ich sage, das TintenfaB oder die Uhr sind 
keine Erlebnisse; erlebt werden die Empfindungen und die Akte, das 
Hinstreben oder Hinzielen, das Auffassen des Gegenstandes. Aber 
diese Inhalte wiederum erscheinen nicht gegenstandlich, sie sind nicht 
Gegenstand meines GegenstandsbewuBtseins. Bezeichnen wir alles das, 
was Gegenstand des GegenstandsbewuBtseins ist, statt als bewuBt 
als beachtet, bemerkt oder aufgefaBt, so wird der Unterschied klarer. 
Die Erlebnisse, die Bestandteile meines Bewu Btseins sind, sind in 
diesem Sinn nicht bewuBt, sie sind nicht beachtet oder bemerkt. Sie 
konnen wohl Gegenstand meines GegenstandsbewuBtseins w r erden, 
wenn ich sie mit Hilfe der ,,inneren Wahrnehmung“ oder Selbstbeob- 
achtung zu Gegenstanden meines GegenstandsbewuBtseins mache; 
aber fin gewohnlich ist das ja nicht der Fall. Wo sollte es auch hin- 
fiihren, wenn wir alles das, was wir erleben, zum Gegenstand unserer 
Betrachtung machen wiirden? 

Gegenstand des GegenstandsbewuBtseins kann alles werden, Psy- 
chisches sowohl wie Physisches, und zwar dadurch, daB das Subjekt 
auf den Gegenstand gerichtet ist, daB eine Beziehung zu diesem Gegen- 
stand hergestellt. wild. In dieser Bedeutung des Wortes Bewu Btsein, 
w'ofiir jetzt immer Gegenstandsbewu Btsein gesagt werden soil, ist alles 
das, worauf ich im Augenblick gerichtet bin, oder um mit Wundt 
zu reden, was ich geradc jetzt apperzipiere, bewuBt; unbewuBt oder 
nicht Gegenstand meines GegenstandsbewuBtseins ist alles das, was 
ich in diesem Augenblicke nicht beachte oder bemerke 1 ). 

J ) Der Ausdruck, etwas zum Gegenstand seines GegenstandsbewuBtseins 
machen, wird zuweilen in einer weiteren Bedeutung gebraucht, als es hier ge- 
schieht. Man versteht dann nicht nur die Tatsache der Auffassung oder Beach- 


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Die sogenannten Be wuBtseinsstorungen. 


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Wir werden hier auch Grade oder Stufen des GegenstandsbewuBt- 
seins erwarten diirfen; denn es kann ein Gegenstand melir oder we- 
niger beachtet oder bemerkt werden. 

Wenn ich sage, etwas ist Gegenstand des GegenstandsbewuBtseins, 
so besagt das noch mehr, als daB ich Empfindungsinhalte habe; es 
treten hier noch Erlebnisse liinzu, die erst be wir ken, daB der Gegen¬ 
stand fur mich zum Gegenstand wird. Diese Erlebnisse nennt Hus¬ 
serl ,,Akte“, Biihler ,,Gedanken“, Stumpf ,,Funktionen“; man 
kann dafur auch Beziehungen sagen. Man sieht schon, daB es sich 
bei dieser Bedeutung des Wortes BewuBtsein um etwas handelt, was 
bei den Benommenheitszustanden verandert ist. Es ist namlich das 
GegenstandsbewuBtsein nichts anderes als die Aufmerksamkeit oder 
die Auffassungsprozesse. Und die Grade des GegenstandsbewuBtseins 
sind identisch mit den Beachtungsstufen Westphals. 

Sprechen wir also von GegenstandsbewuBtsein, so ist damit ein 
Querschnitt gemeint, und zwar durch alle Akte oder Beziehungen, die 
ich in einem Augenblick auf Gegenstande richte oder zu ihnen her- 
stelle, ein Querschnitt also, der nicht den ganzen Erlebnisstrom oder 
das gesamte BewuBtsein trifft, sondern nur einen Teil, namlich die die 
Auffassung konstituierenden Prozesse. Das BewuBtsein dagegen ist ein 
flieBender Zusammenhang, der zusammenhangende Verlauf der Er¬ 
lebnisse. 

Es sei noch bemerkt, daB ein prinzipieller Unterschied zwischen 
dem Beachten eines physischen Gegenstandes gegeniiber dem eines 
psychischen nicht besteht. Nennen wir, w r enn auch ungenau, die eine 
Tatigkeit die auBere, die andere die innere Wahrnehmung, so ist jedes- 
mal wohl die Art der Wahrnehmung verschieden, namlich das eine 
Mai mit Hilfe der Sinnesorgane, das andere Mai mit Hilfe der Selbst- 
beobachtung; aber die Art des Auffassens, die Art des Bemerkens, 
die Beziehung, die zu dem Gegenstand hergestellt wird, ist jedenfalls 
dieselbe, und zwar ein auf den Gegenstand Hinzielen, ein Beachten 
des Gegenstandes, sei er nun physisch oder psychisch. — SchlieBlich 
ist es fiir das GegenstandsbewuBtsein auch gleichgiiltig, ob ich den 
gemeinten Gegenstand wahrnehme oder vorstelle; in beiden Fallen 

tung darunter, sondern auch dasErfassen des Gegenstandes als eben diesen, oder 
auch die Wertung des Gegenstandes oder das Aufihnhinstreben. Ich meine, daB 
in der Redewendung, einen Gegenstand zum Objekt seines GegenstandsbewuBt¬ 
seins machen, das Erfassen dieses Gegenstandes als eben diesen schon in dem 
Wort Gegenstand ausgedriickt ist. Wenn andererseits ein Objekt, das Gegenstand 
des GegenstandsbewuBtseins ist, etwa gewertet oder erstrebt wird, ist es durch- 
aus nicht erforderlich, daB es auch erfaBt ist. Notwendige Voraussetzung dafur 
ist aber, daB es beachtet oder bemerkt ist. Deshalb hat es die gleiche Bedeutung, 
wenn ich sage, etwas ist Gegenstand meines GegenstandsbewuBtseins, oder ich 
beachte etwas oder fasse es au f . 


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8. Fischer: 


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kann das GegenstandsbewuBtsein in gleicher Weise Stufen aufweisen. 
— Von einer Landschaft, die ich betrachte, beobachte ich etwa einen 
vor mir liegenden Hiigel und richte mein Augenmerk weniger auf einen 
seitlich gelegenen Wald. Beide Gegenstande sind aufgefaBt und Gegen¬ 
stande meines GegenstandsbewuBtseins, jedoch der Hiigel auf einer 
hoheren Stufe als der Wald. Stelle ich spater diese Landschaft in der 
Erinnerung vor, so ist der Gegenstand meines Gegenstandsbewu Btseins 
nicht die Vorstellung, ebensowenig wie bei der Wahrnehmung die 
Wahrnehmungserscheinung, sondern der intentionale Gegenstand ist 
derselbe Gegenstand w’ie bei der Wahrnehmung. Und in der Erinne¬ 
rung oder Vorstellung kann ich ebenfalls auf den Hiigel mehr gerichtet 
sein als auf den Wald. Die BewuBtseinsinhalte mdgen bei der Wahr¬ 
nehmung und der Vorstellung verschieden sein — das ist hier gleicb- 
giiltig; die Gegenstande sind es nicht. Solange diese Landschaft nicht 
irgendwie wahrgenommen oder vorgestellt wird, ist sie nicht Gegenstand 
meines GegenstandsbewuBtseins, also in diesem Sinn unbewuBt oder 
nicht gegenstandsbewu Bt. 

Was fiir die Vorstellung gilt, gilt in derselben Weise fiir Gedanken- 
gange oder sogenannte ,,Komplexe“. Es sei etwa an einern bestimmten 
Orte ein mir unliebsames Ereignis geschehen, und nun drangt sich die 
Erinnerung an den Ort und dieses Ereignis ,,in mein BewuBtsein", d. h. 
der Ort und der Sachverhalt werden Gegenstand meines Gegenstands¬ 
bewuBtseins. Wird nun, w r ie man zu sagen pflegt, dieser Komplex 
,,verdrangt“, so ist der Sachverhalt und der Ort nicht mehr Gegenstand 
meines GegenstandsbewuBtseins, und daher denke ich diesen Gedanken 
nicht mehr und erlebe nicht mehr die Vorstellung des Ortes und den 
Gedanken an den Sachverhalt. Aber nicht das Denken dieses Gedan- 
kens verdrange ich, d. h. das Erlebnis dieses Denkejis als Teilinhalt 
meines BewuBtseins — denn davon weiB ich ja gar nichts oder brauche 
da von gar nichts zu wissen—, sondern der Gedanke an den Sach¬ 
verhalt, d. h. der Akt oder die Intention, das Gerichtetsein auf diesen 
oder die Beziehung zu diesem Gegenstand oder diesem Sachverhalt 
werden verdrangt, und damit schwindet auch das Denken dieses Ge- 
dankens als Teilinhalt des Erlebnisstromes, meines BewuBtseins, also 
als BewuBtseinsinhalt aus meinem BewuBtsein. — 

Es erscheint mir wichtig, hier kurz die Frage des UnbewuBten zu 
beleuchten. 

Das UnbewuBte im Gegensatz zu dem BewuBten im Sinne von 
Erlebtem oder Erlebnis in der Einheit des Erlebnisstromes enthalt 
keinen logischen Widerspruch. DaB es etwas Derartiges gibt, lehrt das 
Erleben und Vergessen von Vorstellungen und Gedanken, von denen 
ich als erlebt durch die Selbstbeobachtung weiB, d. h. dadurch, daB 
ich sie zu Gegenstanden des GegenstandsbewuBtseins raache, oder sie 


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Die sogenannten BewuBtseinsstorungen. 


565 


auffasse. Zur Erklarung des Kommens und Gehens dieser Erlebnisse, 
das ich durch die Selbstbeobachtung nachweisen kann, bedarf es einer 
Hypothese. Als die einfachste fiir den Psychologen ist diejenige an- 
zusehen, daB es eben auch unbewuBte Vorstelhingen und Gedanken 
gibt, also solche, die jetzt nicht erlebt werden und infolgedessen nicht 
zu Gegenstanden des GegenstandsbewuBtseins gemacht werden konnen. 
Ob dieses UnbewuBte nur physisch oder psychisch existiert, geht den 
Psychologen und Psychiater nichts an. Das auszumachen, ist Sache 
der Metaphysik. Fiir den Psychologen ist es jedenfalls die einfachste 
und beste Arbeitshypothese. Wohlgemerkt, es handelt sich hier nur 
um das UnbewuBte ira Gegensatz zu dem BewuBten = Eriebten oder 
Erlebnis. 

Ganz anders liegt der psychologische Tatbestand bei dem Unbe- 
wuBten als gewissermaBen dem Nullpunkt der Stufen des Gegenstands¬ 
bewuBtseins. Ist der Gegenstand nicht einmal in der Weise der ersten 
Beachtungsstufe gegeben, so ist er iiberhaupt nicht gegenstandsbewuBt. 
Das heiBt psychologisch, auch nicht die allergeringste Beziehung wird 
zu dem Gegenstand hergestellt oder gedacht. In diesem Sinne fasse 
ich, wahrend ich dies schreibe, nichts von all den Dingen auf, die hinter 
rair liegen. Dasselbe trifft in gleicher Weise fiir Gegenstande zu, die 
mit Hilfe der Selbstbeobachtung aufgefaBt werden. Alles das, was 
ich in diesem Augenblicke nicht auffasse, auch nicht auf der niedersten 
Stufe, sei es psychischer oder physischer Natur, ist in diesem Sinne 
fiir mich „unbewuBt“. So ist also unbewuBt im Sinne von nicht gegen¬ 
standsbewuBt fiir mich etwa das Denken eines Gedankens, solange 
ich ihn nicht zuin Gegenstand meines GegenstandsbewuBtseins 
mache 1 ). — 

Nachdem nunmehr der Begriff BewuBtsein bestimmt ist, wird es 
moglich sein, die Frage zu beantworten, ob die Benommenheitszustande 
bzw. die Zustiinde krankhaft eingeengter Aufmerksamkeit mit Recht 
als BewuBtseinsstorungen zu bezeichnen sind. 

Von den vier festgestellten Bedeutungen des Ausdrucks BewuBtsein 
kommen iiberhaupt nur die an dritter und vierter Stelle genannten in 
Betracht. Wenn BewuBtsein gleichgesetzt wird dem gesamten reellen 
phanomenologischen Bestand des empirischen Ich, der Verwebung der 
psychischen Erlebnisse in der Einheit des Erlebnisstromes, so sind, wie 
schon oben ausgefiihrt, als Storungen des BewoiBtseins, also als Sto- 
rungen der Gesamtheit der Erlebnisse alle psychischen Storungen an- 


') Durch die Auseinanderhaltung dieser beiden Bedeutungen des Unbe- 
wuBten hatte meines Erachtens in der Kontroverse Bleuler-Bumke-Kretsch- 
raer (Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 46, 53 u. w.) manches MiBverstand- 
nis vermieden werden konnen. 


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S. Fischer: 


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zusehen; denn sie sind ja alle Storungen der Erlebnisse. Dieser Begriff 
ist also zu weit 1 ). 

Wie steht es nun mit der Bedeutung des Ausdrucks BewuBtsein im 
Sinne von GegenstandsbewuBtsein ? — Als Kardinalstorung der reinen 
Benommenheitszustande batten wir eine Erschwerung und Verlang- 
samung im Ablauf der psychischen Funktionen festgestellt. Das Auf- 
falligste durch diese Veranderung bedingte Symptom ist die Storung 
der Aufmerksamkeit oder der Auffassung odor des GegenstandsbewuBt- 
seins. Man konnte also hier wohl von einer Storung des Gegenstands¬ 
bewu Btseins sprechen; aber das Symptomenbild ist darnit nicht genii- 
gend charakterisiert. Audi der Ausdruck xriibungen des Gegenstands¬ 
bewu Btseins, so vcrlockend er sein mag, scheint mir aus denselben 
Griinden nicht passend. Dazu kommt noch, daB damit ein Bild hinein- 
getragen wird, das den tatsachlichen Verhaltnissen nicht gerecht wild. 
Ich glaube, daB der Name reine Benommenheitszustande die Sympto- 
menbilder am besten kennzeichnet. Es hat dieser Name gleichzeitig 
den Vorteil, daB der leicht irrefiihrende Ausdruck BewuBtsein ver- 
mieden wird. 

Dasselbe gilt fur die Zustande, die oben unter dem Namen traum- 
hafte Benommenheitszustande beschrieben wurden. Dasjenige, was 
diese Zustandsbilder von den reinen Benommenheitszustanden unter- 
scheidet, ist das Hinzutreten der delirosen Symptome. Diese Tatsache 
scheint mir durch das Adjektiv traumhaft gut charakterisiert zu sein, 
da hier der Kranke ebenso wie der Normale im Traum zeitweilig in 
einer Traum welt lebt, aus der er zuweilen erweckt werden kann oder 
von selbst erwacht, um dann wieder in seine Traum welt zu versinken.— 

Es sei noch einem Einwande entgegengetreten, der vielleicht er- 
hoben werden konnte. Die Ansicht der fuhrenden Psychologen geht 
heute dahin, daB in der Einheit des Erlebnisstroms die Einheit durch 
das Miterleben des Ich in jedem Einzelerlebnis gewahrleistet wird. 
Wenn nun behauptet wird, daB bei den Benommenheitszustanden das 
Erlebnis dieses Ich oder die Beziehung des Ich auf die Gegenstande ge- 
stort ist, und diese Zustande durch diese Grundstorung charakterisiert 
seien, so ist dazu folgendes zu sagen. Es ist zugegeben, daB in jedem 
Erlebnis das Ich irgendwie miterlebt wird; selbst bei gespanntester 
Aufmerksamkeit, wenn jernand erst wieder ,,zu sich kommen muB“, 
wird dieser Ichzug irgendwie im Erlebnis enthalten sein. Aber die 
Behauptung, es sei in jeder psychischen Wirklichkeit immer ein psy- 
chisches Subjekt oder Ich vorhanden, besagt durchaus nicht, daB in 


') Xur in einem einzigen Falle, namlich bei der sog. BewuBtlosigkeit, ware 
dieser Begriff zutreffend, da in diesem Zustand mit Wahrscheinlichkeit iiber- 
haupt keine Erlebnisse oder Bewu(3tseinsinhalte erlebt werden. 


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Die sogenannten BewuBtseinsstorungen. 


567 


der psychischen Wirklichkeit immer ein Wissen um das eigene Ich 
vorhanden sei, daB das Ich Gegenstand des GegenstandsbewuBtseins 
sei (Pf ander). In jedem Erlebnis des Benommenen ist das Ich natiirlich 
auch vorhanden und miterlebt. Es liegt auch nicht der geringste An- 
laB vor, das zu bezweifeln. Nur die Beziehung auf die Gegenstande 
wird in gewisser "Weise anders erlebt als beim Normalen, indem diese 
Kranken die Umwelt nicht mit vollkommener Aufraerksamkeit auf- 
fassen. Es liegt hier eben das vor, was wir als Stoning des Gegen¬ 
standsbewuBtseins bezeichnet haben. Aber darum ist die Einheit 
des Erlebnisstromes in keiner Weise gestort. In dem Erlebnis, in dem 
ich einen Gegenstand auf der ersten Beachtungsstufe etwa auffasse, 
ist das Ich ebenso, zuweilen vielleicht noch lebhafter miterlebt, als da, 
wo ich mit gespanntester Aufmerksamkeit. einer Handlung folge und 
„mich selbst dariiber vergesse“. -— 

SchlieBlich sei noch bemerkt, daB die Zustande, die als krankhafte 
Enge der Aufmerksamkeit oder Auffassungsfahigkeit bezeichnet wur- 
den, mit gleichem Rechte auch als Zustande krankhafter Enge des 
GegenstandsbewuBtseins genannt werden diirfen. Es ist jedoch nicht 
berechtigt, diese Symptomenbilder als solche krankhaft eingeengten 
BewuBtseins zu bezeichnen; denn hier ist nur das GcgenstandsbcwuBt- 
sein eingeengt, nicht aber andere psychische Funktionen oder Erleb- 
nisse. Der Ausdruck krankhaft eingeengtes BewuBtsein wiirde also 
einen zu weiten Begriff bezeichnen. 

IV. 

Zusaiiunenfassung. 

1. Von den verschiedenen Bedeutungen des Ausdrucks BewuBtsein 
haben sich als wichtig fur die Betrachtung ergeben: 

A. BewuBtsein = gesamter reeller phanomenologischer Bestand des 
empirischen Ich. 

In diesem Sinne sind bewuBt alle Erlebnisse, d. h. bewuBt 
ist gleich erlebt. 

B. BewuBtsein = GegenstandsbewuBtsein. 

In diesem Sinne ist alles das, was von mir beaehtet wird, mir 
,,bewuBt“ oder besser von mir aufgefaBt, oder die von mir be- 
achteten Dinge sind Gegenstand meines GegenstandsbewuBtseins. 

2. Da Gegenstande mehr oder weniger beaehtet werden konnen, lassen 
sich mit E. W T estphal 4 Beachtungsstufen oder Stufen des Gegen- 
standsbewuBtseins u nterscheiden. 

3. Bei den bisher mit dem Narnen BewuBtseinsstorungen bezeichneten 
Zustanden werden zwei Gruppen unterschieden: 

A. Die Benommenheitszustande. 


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568 S. Fischer: Die sogenannten BewuBtseinsstorungen. 

Diese werden ihrerseits eingeteilt in 
a) Reine Benommenheitszustande. 

1)) Traumhafte Benommenheitszustande. 

Die reinen Benommenheitszustande sind charakterisiert durch 
eine Erschwerung und Verlangsamung im Ablauf der psychischen 
Funktionen. Am augenfalligsten macht sich diese Veranderung 
in einer Storung der Auffassung der Umwelt bemerkbar, also in 
einer Storung des Gegenstandsbewu Btseins. 

Die traumhaften Benommenheitszustande sind durch dieselben 
Merkmale charakterisiert, allerdings treten hierzu noch ,,delirose“ 
Symptome (motor. Unruhe, Halluzinationen usw.), die in man- 
nigfaltigster. Kombination mit den verschiedenen Graden der Er¬ 
schwerung und Verlangsamung im Ablauf des Seelenlebens die 
verschiedensten Zustandsbilder hervorrufen. 

B. Die Zustande krankhafter Enge der Auffassungsfahigkeit oder 
des Gegenstandsbewu Btseins, 

die dadurch charakterisiert sind, daB bestimmte Gegenstande 
iiberhaupt nicht aufgefaBt, also nicht zu Gegenstanden des Ge¬ 
genstandsbewu Btseins gemacht werden konnen. 

4. Der Ausdruck BewuBtseinsstorungen fur die unter 3 genannten 
Symptomenbilder ist nicht treffend, da, wenn der Ausdruck Be- 
wuBtsein in der ersten Bedeutung gemeint ist, unter dieser Bezeich- 
nung dann alle Zustande krankhaften Seelenlebens iiberhaupt ver- 
standen werden miiBten. 

Soli in dem Wort BewuBtseinsstorungen BewuBtsein gleichbedeu- 
tend mit Gegenstandsbewu Btsein sein, so ist bei den Benommen- 
heitszustanden mit dieser Bezeichnung zwar ein wichtiges Symptom 
herausgehoben, jedoch das Symptomenbild nicht geniigend charak¬ 
terisiert. 

Bei den Zustiinden krankhafter Enge der Auffassungsfahigkeit 
liegt eine krankhafte Enge des Gegenstandsbewu Btseins und nicht 
des Bewai Btseins vor. 


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(Aus den Nervenheilanstalten der Stadt Frankfurt a. M. 

[Dircktor Dr. Max Meyer].) 

Kretschmers psycho-physische Typen und die Rassenfornien 

in Deutschland. 

Von 

Dr. Ludwig Stern-Piper, 

1. Assistenzarzt. 

Mit 4 Textabbildungen. 

(Eingegangen am 25. November 1922.) 

Die erste Aufstellung eines Konstitutionstypus in der Medizin ge- 
schah — von den pathologischen Sondertypen der Blutdriisenforschung 
sehen wir hierbei vollig ab — durch Stiller mit dem Habitus asthenicus. 
Stiller bewertete diesen jedoch als einen krankhaften; er sprach ja 
auch direkt von einem Morbus asthenicus, also von einer Krankheit, 
bzw. einer Gruppe von Krankheiten, die sich auf dem Boden dieser 
Korperanlage entwickeln sollten. 

Die Franzosen haben nun verschiedene Konstitutionstypen unter- 
schieden. Sigaud und seine Schuler Chaillou und Macliff waren es, 
die vier Korperbautypen in die Biologie einfuhrtcn. Sie stellten den Type 
respiratoire, digestif, musculaire, cerebral, wie auch die Mischformen 
dieser verschiedenen Korperbauformen auf. Viola unterschied einen 
Habitus megalosplanchnicus oder apoplecticus, der sich mit dem Type 
digestif der vorher genannten Autoren decken durfte, und einen Habitus 
mikrosplanchnicus oder phtisicus, der mit dem Habitus asthenicus 
Stillers identisch sein und mit dem Type cerebral Chaillous und Madiffs 
groCe Ahnlichkeit haben durfte. Kretschmer kritisierte die Aufstellung 
der Korperbautypen der Franzosen hauptsachlich wegen ihrer Bezeich- 
nungen, da diese nach seiner Ansicht in zu naiver Weise eine Verbin- 
dung des Korperbaues mit der besonderen Veranlagung eines Organes 
bzw\ einer Organgruppe und deren Funktionen hervorhoben. Trotz- 
dem rauB man der Aufstellung dieser Typen Berechtigung zuerkennen. 
Kretschmer selber hat nun neuerdings in seinem ,,Korperbau und Cha- 
rakter“ drei Konstitutionstypen unterschieden, die er, und das ist das 
wesentlieh Neue daran, als psycho-physische Typen, d.h., als Formen, 
die gesetzmaBige Beziehungen zwischen ihrem Korperbau und ihrer 


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570 


L. Stern-Piper: Kretschmers psycho-physische Tvpen 


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psychischen Veranlagung zeigen, aufgefaBt wissen will. Die Idee, daB 
sich in den anBeren Formen des Korpers die seelische Veranlagung 
widerspiegele, ist ja gchon sehr alt, wurzelt tief im Volksglauben und 
wird instinktiv bei der Bewertung eines jeden Menschen, besonders beirn 
Kennenlernen eines neuen, zur Grundlage genonmien. Hierauf baute 
sich ja auch die alte Physiognomik Galls und Lavaters auf, die sich aber 
einseitig auf Schadel und Gesicht beschrankte, und zwar in der Haupt- 
sache auf ersteren, und die in zu kleinlicher und differenzierter Weise 
Beziehungen zwischen den verschiedensten seelischen Eigenschaften 
und korperlichen Merkinalen am Schadel vermutete. Mobius erkannte 
in neuerer Zeit den berechtigten Kern in dieser Physiognomik an und 
er versuchte, einiges daraus, so Galls ,,mathematisches Organ 1 ', zu retten. 
Vor kurzem glaubte Bauschenberger aus der Bildung der Nase bestimmte 
charakterologische Schliisse ziehen zu kbnnen. Kretschmer faBt nun diese 
Beziehungen viel weiter, er zieht den ganzcn Korperbau heran und 
sucht Korrelationen zwischen den allgemeinen Kbrperbauformen und 
seelischen Reaktionsarten aufzustellen, ohne sich dabei auf einzelne 
Merkmale am Schadel zu beschranken, die doch nur als eine Art Lokali- 
sation der seelischen Eigenschaften im Sinne der alten Physiognomik 
aufgefaBt werden konnten. 

Kretschmer unterscheidet nun folgende Typen: den pyknischen, der 
dem zirkularen Irresein entspricht, ferner den asthenischen und athle- 
tischen, die er bei Schizophrenen und Schizoiden gefunden hat. Da- 
neben stellt er noch verschiedene kleinere Gmppen auf, die er als 
dysplastische Spezialtypen zusammenfaBt, und die grobere Unterschiede 
von der Norm im Sinne dysglandularer Storungen aufweisen. Letztere 
sind daher wohl als pathologische Formen zu bezeichnen. Der asthe- 
nische Typus K.s beriihrt sich mit dem von interner Seite aufgestellten, 
wie ihn letzthin besonders eingehend J. Bauer in seinem Buclie geschil- 
dert hat. Der pyknische Typus ahnelt dem aLs Arthritiker- oder Apo- 
plektikertypus l)eschriebenen. Bei dem athletischen Typus handelt 
es sich, wie der Name sagt, um einen Menschen von kraftigem Knochen- 
und Muskelbau, breit ausladenden Schultern, langen Extremitaten, 
derbem, hohem Kopf und einer nach unten sich etwas verjungenden 
Rumpfform. 

Stiller Viola Siqaud u. s. Sch. Kretschmer Bauer 

I. H. asthenicus = H. phtisicus = T. cerebral- — T. asthenicus 

respiratoire 

II. H. apoplecticus= T. digestif = T. pyknicus = H. arthriticus 

III. T. musculaire= T. athleticus 

Die vorstehende Tafel zeigt, daB zwischen den einzelnen Konsti- 
tutionsformen viele Parallelen bestehen, ja, daB sie sich alle weitgehend 


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und die Rassenformen in Deutschland. 


571 


aufeinander zuriickfiihren lassen. Die Kretschmer schen Typen sind 
dabei die am besten charakterisierten. 

Bevor wir uns eingehender mit den Typen Kretschmer's beschaftigen, 
wollen wir zuerst unsere Auffassung des Konstitutionsbegriffes darlegen. 
Wir verstehen unter Konstitution mit Siemens und Pfaundler den ge- 
samten Phanotypus, d. h. alles, was bei einem Menschen in Erscheinung 
tritt. Die Konstitution umfaBt also die anatomisch-anthropologische 
Struktur wie auch die physisch-psychische Reaktionsweise. Der Phano¬ 
typus setzt sich aus dem Ererbten, dem Genotypus, und dem vom Zeit- 
punkt der Befruchtung an Erworbenen zusammen. Kretschmer schrankt 
mit Kahn den Begriff der Konstitution nach meiner Ansicht zu sehr ein; 
die Konstitution ist beiden Autoren namlich nur gleich dem Ererbten, 
dem Genotypus. Es ist wohl klar, daB das Ererbte eine viel groBere 
Bedeutung fiir die Konstitution hat und fur sie eine hervorragendere 
Rolle spielen muB, als das im Laufe der individuellen Entwicklung Er- 
worbene. Wenn wir so viele gleiche Konstitutionsformen sehen, so ist 
es doch beinahe selbstverstandlich, daB diese Gleichheit in der Haupt- 
sache durch gleiche ererbte Anlagen bedingt sein muB und daB die vom 
Zeitpunkt der Befruchtung an wirkenden Bedingungen lange nicht 
so viel sich Gleichendes erzeugen werden. Das Ererbte zerfallt 
ruin wieder in das rassenmaBig in der Ahnenreihe sich standig Fort- 
vererbende und in die einmal in der Vorfahrenreihe entstandenen idioki- 
netischen, d. h. Keim-Variationen. Letztere sind nun, nach Tierexperi- 
menten und -Beobachtungen zu schlieBen, recht selten (Beobachtungen 
Morgans an Drosophila). Wir kennen wohl einige, iibrigens noch teil- 
weise umstrittene Faktoren, die in dieser Hinsicht wirken, wie Gifte, 
so z. B. den Alkohol, ferner die Rontgenstrahlen. Nun werden ja wohl 
bei den zivilisierten Menschenrassen mehr Keimvariationen auftreten, 
als aus den vorliegenden Tier beobachtungen zu schlieBen ist, am wich- 
tigsten aber ist es, daB sie bei ihnen nicht ausgemerzt werden, sondern 
sich weiter erhalten und, moglicherweise durch Kontraselektion, weiter 
verbreiten konnen. In der Bedeutung fur die Vererbung wird es ihnen 
jedoch keinesfalLs moglich sein, die Rassenbestandteile zu uberwuchern, 
ja wohl auch nicht, ihrten gleichzukommen. Wir unterscheiden darnach 
eine allgemeine Rassenkonstkution und spezielle individuelle konstitu- 
tionelle Varianten otler kurz individuelle Konstitutionsformen. 

Kretschmer faBt seine Typen rein biologisch, ohne ein Werturteil 
auf. Sie haben nach ihm wohl Beziehungen zur Pathologie im Sinne 
einer Anlage, sind abcr an und fur sich nicht als krankhaft zu deuten, 
da ihre Trager keineswegs unbedingt krank zu werden brauclien. Die 
verschiedenen Korperbautypen Kretschmers sollen nun dem manisch- 
depressiven, oder von ihm kurz genannt zirkularen, IiTesein und der 
Schizophrenie entsprechen. Aber Kretschmer geht dann noch weiter: 

Archiv ftir Paychiatrie. Bd. 07. 38 


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572 


L. Stern-Piper: Kretschmers psycho-physische Typen 


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Er zeigt an der Hand der Durchforschung der Familien der Kranken 
wie unter Zerlegung ihrer psychischen Eigensehaften und Zuriick- 
fiihrung derselben auf normal-charakterologische Grundformen und 
ferner unter Heranziehung ubernormaler, sog. genialer Personlichkeiten, 
daB sowohl charakterologisch wie erbbiologisch Beziehungen zwischen 
seinen aus pathologischem Material gewonnenen Typen und den Norma - 
len bestehen, so daB wir es hier letzten Endes einfach mit Bestandteilen 
unserer Bevolkerung iiberhaupt zu tun flatten. 

Als ich die Abbildung 2 in K .s Buch 1 ), die einen asthenischen Tvp 
darstellt, sah, gewann ich den Eindruck, daB dies ein gut ausgepragter 
Rassentypus sei, und ich stellte mir daher die Frage, ob nicht die A.schen 
Typen, zum mindesten teilweise, auf Rassenformen zuruckzufiihren 
waren. Dies schien mir dann auch der Fall zu sein. 

Es ist nun notwendig, dab wir vorerst eine ganz kurze Ubersicht 
von den fur uns in Deutschland hauptsachlich in Betracht kommenden 
Rassen geben. Zuerst die nordische Rasse: ihr Hauptsitz ist, wie der 
Name sagt, in den nordischen Landern, also in Skandinavien und Eng¬ 
land, ferner in Mitteleuropa bis zu den Alpen hin. In den reinsten 
Formen handelt es sich dabei um groB gewachsene, mit langen Glied- 
maBen versehene, blondhaarige, blauaugige, w r eiBhautige Menschen mit 
langem Schadel und langem Gesicht. Fernerhin die alpine Rasse: sie 
sitzt am dichtesten in den Alpenlandern und Mittelfrankreich. Von da 
aus strahlt sie, wenn auch stark gemischt, weiter nach Norden bis iiber 
Mitteldeutschland, ferner nach Siiden bis Mittelitalien und auch nach 
Osten und Siidosten aus. Der Homo alpinus ist ungcfahr mittelgroB, 
hat dunkelbraune Haar- und Augenfarbe, die Statur ist etwas gedrun- 
gen, das Gesicht breit und der Schadel kurz. Zum SchluB noch, wenn 
auch am wenigsten in Betracht kommend, die dinarische Rasse: sie 
besiedelt am starksten die Balkanlander und zieht von da aus ostlich 
bzw. sudostlich nach Kleinasien und nordwestlich iiber Steiermark 
und Tirol nach Slid- und wohl auch nach Mitteldeutschland. Mein 
Anthropologielehrer, Prof. Eugen Fischer in Freiburg, dessen Unter- 
weisung ich sehr vieles verdanke und dessen anthropologischen An- 
schauungen ich in meinen Ausfiihrungen w r eitgehend folge, hat in seinen 
Vorlesungen darauf hingewiesen, daB in Siidbaden die sog. Hotzen- 
walder, die sich auch in politisch-kultureller Hinsicht. von ihrer Urn- 
gebung friiher abgesondert verhalten haben, eine ziemlich geschlossene 
Gruppe von dinarischen Rassevertretern darstellen. Ich selber habe 

im Felde unter Siidbadenern sehr gute dinarische Menschen angetroffen. 
__ • 

’) Die Hinweise auf die Abbildungen in Kretschmers Buch gelten sowobl fiir 
die 1., wie auch fiir die 2. Auflage. Fiir die vorliegende Arbeit benutzt wurde 
nur die 1. Auflage, die zweite weist jedoch, wie ich mich nachtriiglich iiber/eugt 
habe, keine grundlegenden Anderungen auf. 


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und die Rassenformen in Deutschland. 


573 


Die dinarische Rasse ist groC, hat einen derben Korperbau, was sieh 
besonders an der Gesichtsmodellierung zeigt, Haar und Augcn sind 
dunkelbraun, die Nase ist groB und gebogen, der Schiidel sehr kurz 
mit gerader Hinterhauptlinie, das Gesicht ausgesprochen lang. 

Vorerst noch einiges iiber die Methode Kretschmers. AuBer der 
somatoskopischen Beschreibung hat er in seinem Buche auch die Mes- 
sung und bildliehe Darstellung angewandt. Nun sind gegen seine 
Messungen, wie die Art der Verwertung seiner MaBzahlen, vom anthro- 
pologischen Standpunkte aus weitgehende Bedenken zu erheben. Dies 
hat der Anthropologe Scheidt auch vor kurzem getan. Ganz abgesehen 
davon, daB K. sieh eine eigene Art der Messung gewahlt hat, sind 
auch inehrere alte MaBe, die sieh als bewahrt eingeburgert haben, 
falsch angegeben, so z. B. einige am Kopfe. Wir kommen hierauf gleich 
noch zu sprechen. Scheidt hat recht, wenn er die alleinige Ver¬ 
wertung und Mitteilung der Mittelwerte aus den Zahlenreihen, die 
z. T. wie bei den athletischen Formen nur wenige Nummern aufweisen, 
bemangelt. Ich mochte hinzufiigen, daB man iiber die Variationsbreite 
der einzelnen GroBen absolut kein Bild gewinnt bei der A.schen Methode, 
im besonderen auch nicht iiber die Haufigkeitsquote der einzelnen 
ZahlengroBen innerhalb der Variationsbreite; dies hatte sieh durcli 
Mitteilung von Kurven vermeiden lassen. Besonders betonen miissen 
wir hier noch, daB wir in K.h Angaben iiber die Kopfformen Zweifel 
setzen miissen, da, abgesehen davon, daB er iiberhaupt keine Indices, 
also keine zahlenmaBige Formulierung dafiir gibt, die fiir die Kopfform 
in Betracht kommenden MaBe in seinem Konstitutionsschema falsch 
angegeben sind, so sein sagittaler Kopfdurchmesser, der der Kopflange, 
und sein frontaler, der der Kopfbreite entspricht. Ich kann mich daher 
in den folgenden Darlegungen nicht auf die MaBzahlen K .s stiitzen, 
sondern muB mich nach seiner Beschreibung und den Bildbeigaben 
richten. Was nun die Beschreibung nach somatoskopischen Merk- 
malen betrifft, so wolltc K. ja gewiB keine anthropologisch vblligexakte 
Schilderung geben, sondern nur das mitteilen, was ihm zur Charakteri- 
sierung seiner Korperbauformen wichtig erschien. So fehlcn die fiir 
anthropologische Untersuchungen so wichtigen Angaben iiber die 
Pigmentverhaltnisse, also die Haut-, Haar- und Augenfarbe. K. macht 
nur einmal die kurze Anmerkung, daB er iiber die „biologische Be- 
deutung“ der Haarfarbe nichts Eindeutiges habe feststellen kormen. 
Trotz alledem rauB aber zugegeben werden, daB K. seine Typen, die 
er mit intuitivem Blick erkannte, scharf umrissen hat, so daB sie deut- 
lich faBbar erscheinen. 

Wie K. bei seinem Material von konstitutionellen Legierungen 
spricht, so diirfen auch wir keine reinen Rassentypen erwarten, und 
um so mehr miissen wir Rassenkreuzungen annehmen, da K. ja seine 

38* 


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574 


L. Stern-Piper: Kretschmers psycho-physische Typen 


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Untersuchungen an dem schwabischen Volksstamm angestellt hat und 
in Siiddeutschland noch eine starkere Rassenmischung wie z. B. in 
Norddeutschland anzutreffen ist. Imraerhin aber diirfte doch hinsicht- 
lich der Korperbauformen, worauf es hier besonders ankommt, bei den 
meisten Fallen ein phanotypiach starkeres Durchschlagen einer Rassen 
komponente festzustellen und es daher auch moglich sein, die JGschen 
Typen mit dem angegebenen Vorbehalt rassen m a Big zu klassifizieren. 
Auch miissen wir bedenken, daB K. seine Typen, selbst wenn er sie 
nachher auf Gesunde ubertrug, aus einem Material von Schizophrenen 
und Zirkularen unter Beriicksichtigung der einschlagigen Psychopathen 
gewonnen hat, so daB wir mancheZuge rein pathologischer Natur, teils 
durch die Anlage, teils mit durch den ProzeB bedingt, bei ihnen finden 
werden. Wenn Beringer und Diise.r die Forderung aufstellen, daB die 
Untersuchung ihr Augenmerk auch auf den vor Einsetzung der Erkran- 
kung bestehenden Habitus, bzw. seine dadurch bewirkte Anderung 
richten miisse, so liegt dem wohl ebenfalls dieser Gesichtspunkt zugrunde. 
Die rassenmaBige Bedeutung dieser Merkmale kommt daher nicht in 
Betracht. Aus diesen, wie den friiher angegebenen Griinden beziiglich 
der Methodik der X.schen Arbeit, wie der starken Rassenmischungen 
speziell in Siiddeutschland diirfte auch die Klassifizierung jedes ein- 
zelnen von K. angegebenen Merkmals nicht moglich sein, und es er- 
scheint uns daher zu geniigen, wenn wir die Identifikation der iGschen 
Formen als Rassentypen nach den Hauptlinien, dem zugrunde liegenden 
Bauplan und etwaigen als besonders pragnant anzusprechenden Merk- 
malen vornehmen konnen. Wir befinden uns hier iibrigens mit K. in 
Dbereinstimmung, der in seinem Buche sagt, daB in der Korperbau- 
lehre die allgemeine diagnostische Regel gelte, ,,nicht das Einzelsymptom 
zu pressen, sondern immer den Blick auf das Gesamtbild zu richten*'. 
Bei der Ubertragung seiner Typen auf Gesunde scheint unsX. auch nicht 
daran festhalten zu wollen, daB sich bei diesen gesunden Personlich- 
keiten auch alle die einzelnen kleinen, von ihm bei den Kranken fest- 
gestellten besonderen Bildungen finden, was auch a priori nicht wahr- 
scheinlich ist. Es kommt ja hier nur auf den gemeinsamen GnindriB, 
die allgemeinen biologischen Formen an. 

Wir gehen nun im folgenden die einzelnen A”.schen Typen auf ihre 
Rassenzugehorigkeit hin durch. Da bei betrachten w r ir hauptsachlich 
die Manner, weil bei ihnen die Formen, besonders hinsichtlich der Rasse, 
reiner zum Ausdnick kommen. K. hat die Manner bei der Beschrei- 
bung seiner Typen ja auch weit mehr in Betracht gezogen, ihnen einen 
groBeren Raum und viel mehr Abbildungen in seinem Buche gewidmet. 

Was den asthenischen Typus anbelangt, so hat K. diese schon 
friiher aufgestellte Konstitutionsform sehr erweitert, insbesondere da- 
durch, daB er das Gesicht mit in den Bereich seiner Untersuc.hungen 


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und die Rassenformen in Deutschland. 


575 


gezogen hat, und gerade dadurch ist eine Rassenvergleichung moglieh. 
Wir sehen in dem X.schen Astheniker einen Menschen, an dem alles 
schmal ist, Schultern, Arrae, Beine und Brustkorb. Diese Schmalheit 
als solche ist natiirlich nur als individuell-konstitutionelles Moment zu 
bewerten. Es kommt auf die Cesamtform und die Bedeutung, die diese 
Eigenschaft des Spitzen, Schmalen, nicht in die Breite Gehenden darin 
einnimmt, an. Wir wollen dabei hervorheben, daB wir bei jeder Rasse 
zwei verschiedene Typen unterscheiden, und zwar einen feineren und 
einen derberen, groberen, die beide um die Mitteliage herum variieren 


Abb. 1 1 ). Xordische Rasse, 
asthenischer Typus. 



und sich von dieser mehr oder 
weniger weit entfernen. Nun scheint 
mir der A.sche Asthenikertypus Be- 
ziehungen zu dem feineren Schlage 
der nordischen Rasse aufzuweisen. 



Abb. 2. Xordische Rasse, Mittel- 
typus. (Der Korperbau neigt nach 
der asthenischen Seite hin, wah- 
rend der Kopf durch seinen derb- 
kriiftigen Knochenbau Anklange an 
den athletischen Typus aufweist.) 

Ein Merkmal der nordischen Rasse 


ist ihre bedeutende KorpergroBe — im Mittel 1,73 m — nebst langen 


Die abgebildeten Personen entstammen einer Reihe von mir nach anthro- 
pologischen Methoden untersuchten nordischen und alpinen Menschen, die bei 
darauf hinzielender Priifung auch die hauptsfichlichsten Korperbaunierkmale 
Kretschmers im Sinne der Ausfulirungen dieser Arbeit aufwiesen. 


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L. Stern-Piper: Kretschmers psycho-physische Typen 


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GliedmaBen. Nach J. Bauer sind die Astheniker hochgewachsen, haben 
lange Extremitaten und einen langen, schmalen Brustkorb. Nach K. 
sind sie nicht so sehr groB, sondern erscheinen nur groBer als sie sind. 
Er gibt allerdings als Durchschnitt der KorpergroBe bei Mannern 
168,4 cm an, also eine, anthropologisch gesprochen, schon recht erheb- 
liche GroBe. Es ware nun wichtig zu wissen, auf welche Lebensalter 
das A.sche Material sich verteilt, ob es sich dabei hauptsachlich um 
schon ausgewachsene Individuen handelt, um so mehr, als sehr viele 
der Abbildungen asthenischer Typen mannlich-jugendliche Personen zei- 
gen. Zu einer genauen Beurteilung miiBte auch eine kurvenmaBige Dar- 
stellung der KorpergroBe gefordert werden. K. erwahnt nun ferner an 
einer anderen Stelle ausdriicklich das haufigere Vorkommen von ge- 
steigertem Langenwachstum bei den Asthenikern. Je groBer iibrigens 
ein Astheniker ist, desto reiner kommt der allgemein asthenische Habitus 
bei ihm zum Vorschein und desto ausgesprochener gleicht er dem nordi- 
schen Rassentypus. Die nordische Rasse besitzt allerdings im allgemeinen 
breite Schultern und einen wohl langen, aber gut gewolbten Brustkorb. 
Bei den Asthenikern sind beide jedoch schmal bzw. flach. Jedoch 
habe ich gefunden, daB je feiner der nordische Typus ist, desto feiner 
und schmaler gebaut auch diese Teile bei ihm sind, so daB es sich bei 
den Asthenikern hier nur um extreme konstitutionelle Abarten dieser 
Tendenz zu handeln scheint. Auch sagt K., daB seine Astheniker 
sehr gerne Varianten und Vermischungen mit dem athletischen Typus 
zeigten, so daB sogar ein Mitteltypus von sehnig-schlanker Figur mit 
Schwankungen ,,nach der grazil mageren oder mehr nach der kraftig 
muskulosen Seite hin“ entstehen konne. Diese Angabe laBt nun schon 
deutlicher den nordischen Menschen vor unseren Augen erstehen. 
Was den mangelnden Fettansatz betrifft, so ist wohl die geringere oder 
starkere Fettausbildung beim Menschen bzw. die Neigung dazu mehr 
eine individuelle konstitutionelle Funktion, jedoch scheint mir, daB auch 
in dieser Hinsicht die Rassen verschieden veranlagt sind. So diirfte 
die alpine Rasse mehr zum Fettansatz, und zwar am Bauch, hinneigen 
als die nordische und im besonderen als die mediterrane, die die Kiisten 
des Mittelmeeres bewohnt. Auch innerhalb des Volkes der Juden scheint 
mir zwischen den beiden groBen Rassenkomponenten, aus denen sich 
dieses Volk zusammensetzt, eine Verschiedenheit in der Anlage zur 
Fettleibigkeit zu bestehen, und zwar ist diese bei dem armenoiden 
Bestandteile der Juden weit starker vorhanden als bei dem orientali- 
schen 1 ). Es besteht wohl auch eine Korrelation zwischen Korper- 
groBe und Disposition zur Fettausbildung am Stamm insofern, als je 


J ) Nachtraglich finde ich, daB auch Lenz Rassenunterschiede bei der konsti- 
tutionellen Fettleibigkeit und Magerkeit annimmt. 


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und die Rassenformen in Deutschland. 


577 


kleiner ein Mensch, bzw. eine Rasse ist, er, bzw. sie desto mehr zum 
Fettansatz neigt. Im allgemeinen ist also naeh meinem Dafiirhalten 
die nordische Rasse nicht sonderlich zum Fettansatz veranlagt, vollends 
nicht ibr feinerer Typus. DaB letzterer eine zarte Entwicklung des 
Knochen- und Muskelsystems besitzt, wodurch das Bild des Schlanken 
entsteht, diirfte sich ja von selber verstehen. Beim Astheniker scheint 
dies nur im UbermaB vorhanden zu sein. 

Betrachten wir also die allgemeine Wachstumstendenz sowohl des 
gesamten Korpers wie seiner einzelnen Teile, so finden wir bei dem 
Astheniker wie bei dem feineren Typus der nordischen Rasse den Zug 
ins Lange, Spitze, Schlanke und ebenso ist dies auch bei dem Schadel 
der Fall. Der nordische Mensch hat einen langen Schadel, er ist dolicho- 
cephal. Nun betont J. Bauer auch ausdriicklich die Dolichocephalic des 
asthenischen Typus. K. will dies an seinem Material nicht bestatigt 
gefunden haben, wir konnen aber seine Angaben in dieser Hinsicht, 
wie auch die iiber die Kiirze, Niedrigkeit und mittlere Breite des Kopfes, 
wobei er iibrigens auch mit absoluten MaBzahlen arbeitet, aus metho- 
dischen Griinden, die wir schon oben angegeben haben, nicht verwerten. 
I m iibrigen findet sich die Dolichocephahe in Siiddeutschland ebenso 
wie die besondere KorpergroBe, die beide miteinander in Korrelation 
stehen, bei sonst als nordisch anzusprechenden Individuen seltener als 
in Norddeutschland. Man will ja auch festgcstellt haben, daB bei uns 
in Deutschland die Langkopfigkeit immer mehr abnimmt, eine Tat- 
sache, die manche, wie Wollmann und seine Anhanger als ein Ausster- 
ben der nordischen Rasse bei uns deuten wollten und die Virchow 
friiher mit der steigenden Intelligenz in Zusammenhang zu bringen 
suchte, da nach seiner Ansicht die Rund- und Kurzkopfe intelligenter 
seien. Es diirfte sich hier aber doch wohl um das Verdrangen und wahr- 
scheinlich auch allmahliche Verschwinden eines Rassenmerkmales 
handeln. Aus dem Angegebenen geht hervor, daB wir dieses Merkmal 
bei suddeutschem Material nicht so hoch bewerten diirfen. Das vor- 
springende Hinterhaupt des nordischen Schadels fand K. bei seinen 
Asthenikern wohl nicht am haufigsten, ,,aber auch nicht selten“. Bei 
der Abbildung 2 seines Buches, die wohl die fur den Astheniker typischste 
ist, findet sich ein, wenn auch nicht weit vorspringendes, so doch sehr 
gut gewolbtes Hinterhaupt, dabei scheint es sich eher um einen Lang-, 
als um einen Breitschadel zu handeln, ohne dies nach der Photographic 
entscheiden zu wollen. Der von K. angegebene geringe Schadelumfang 
konnte mit der Feinheit des Typus zusammenhangen. K. beschaftigt 
sich entsprechend seinen Ansichten, daB der ,,Gesichtsbau die psycho- 
motorische Formel eines Menschen“ konzentriert darstelle, besonders 
ausfuhrlich mit diesem. Und gerade hier ist eine Zuriickfuhrung des 
konstitutionellen auf den Rassentypus in einzelnen sehr charakteristi- 


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L. Stern-Piper: Kretschmers psycho-phvsische Typen 


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schen Merkmalen moglich. Zuerst erwahncn wir an dieser Stelle die 
Langgesichtigkeit sowohl des Asthenikers wie des nordisehen Men- 
schen. Auf K. s Abbildungen komrat sie auch gut zum Ausdruck, so 
hauptsachlich auf Abbildung 2, abgeschwachter auf Abbildung 1 und 
auch auf Figur 16. K. gibt auch im Text an, dab er ,,ausgepragte 
Langgesichter mit hohem Mittelgesicht“ offers beobachtete. Seine sog. 
verkiirzte Eiform des Gesichtes diirfte eine dysplastische Abart des 
Langgesichtes sein, wie ja auch die Abbildung 8, die diese demonstrieren 
soli, einen ausgesprochenen Dysplastiker darstellt. Besonders typisch 
findet K. ,,das MiBverhaltnis zwischen gesteigerter Nasenlange und 
Hypoplasie des Unterkiefers“. Dadurch konnne ein besonders charak- 
teristisches Profil zustande, das er als Winkelprofil l>ezeichnet. Er 
spricht dabei von dem ,,alles beherrschenden Nasenriicken“, wie er 
iiberhaupt die Nase ,,diinn, scharf und lang“ mit nicht gestiilpter, son- 
dern etwas gezogener Spitze findet, den Nasenriicken gerade odergebogen. 
Hier haben wir nun ein Hauptcharakteristikum der Nasenform des 
nordisehen Menschen vor uns: scharf vorspringend, diinn, spitz, lang, 
mit leichtem Hocker versehen oder gerade, bzw. leicht gebogen. K. 
legt groBen Wert auf diese von ihm gekennzeichnete Nasenform, spricht 
er doch davon, daB bei Auftreten sehr langer Nasen sich in anders- 
artigen Psychosen Anklange an die Schizophrenic, wie auch in der 
Verwandtschaft Falle von Schizophrenic und schizothyme Personlich- 
keiten finden lieBen. Durch diese Nasenform scheint mir in erster Linie 
K .s Winkelprofil hervorgerufen zu sein. Und es ist sehr bezeichnend, 
daB K. als pragnante bildliche Darstellung dafiir den ProfilumriB des 
Menzelschen Bildes des alten Fritz heranzieht, eines Schulbeipiels 
eines nordisehen Gesichtes mit einer au Berordcntlich typischen nor- 
dischen Nase. Hier komrat das Winkelprofil nur durch die scharf 
vorspringende spitze Nase zustande. Von einer Hypoplasie des Unter- 
kiefers ist hierbei nichts zu bemerken. Durch letztere soli nach K. 
ein Zuriickspringen des Kinns hervorgerufen werden. Nun bietet der 
Schizophrene und angeboren Schwachsinnige, den K. in seiner Ab¬ 
bildung 7 als Beispiel dafiir anfiihrt, und dessen Frontalansicht auf 
Abbildung 8 die verkiirzte Eiform des Gesichtes demonstrieren soli, eine 
solche Haufung von dysplastischen Merkmalen dar, Asymmetrie, kleiner, 
stark miBbildeter Schadel, weitabstehende Ohren, vorstehende Unter- 
lippe, dazu handelt es sich bei ihm noch uni einen angeboren Schwach- 
sinnigen, so daB der zuriickfliehende Unterkiefer, w'odureh im Profil 
eine Art Vogelgesicht erscheint, hier als rein dysplastisches Merkmal 
gedeutet werden muB und dieser Kranke wohl nicht als Charakteristi- 
kum der ganz<>n Gruppe angesehen werden diirfte. Die anderen in dem 
Buch abgebildeten Asthenikertypen zeigen iibrigens nicht den zuriick- 
springenden Unterkiefer. K. erwahnt auch seller, daB es nicht immer 


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und die Rassenformen in Deutschland. 


579 


zu dem letzteren karae, daB die Kinnhohe nicht stets erniedrigt zu sein 
brauchte und die Unterkieferhypoplasie im Profil dann nicht in Erschei- 
nung trate. Allerdings findet man ofters bei der nordischen Rasse eine 
Variation der Kinnform, indem dieses weniger nach vorne als nach hinten 
und auch nach unten springt; im Profil entsteht dadurch ein Zurlick- 
fliehen des Unterkiefers, dabei sind aber Kinn wie Unterkiefer gut aus- 
gebildet, so daB von einer Unterkieferhypoplasie nicht gesprochen wer- 
den kann. Ein Beispiel hierfiir fiihre ich in Abb. 3 an, die einen gut 
charakterisierten nordischen Rassevertreter aus dem Rheinland dar- 
stellt. Die von K. angcfuhrte Schmalheit des Unterkiefers konnte z. T. 
mit der Feinheit zu bewertenden 


desTypusalssol- 
chem zusammen- 
hangen—eshan- 
delt sich ja hier 
um die feineren 
nordischen Ras- 
seformen—, z.T. 
ein dysplasti- 
sches Merkmal 
darstellen. In 
den Abbildungen 
der Astheniker 
finde ich, wie 
schon angege- 
ben,mit Ausnah- 
me des einen 



Falles das Kinn 
sehr gut ausge- 
bildet, ja es 
springt sogar, 
wie auf Abb. 2, 
die wir immer als 
sehr typisch her- 
anziehen, und 
auch auf Abb. 1 
scharf und mar- 
kant vor, wie es 
bei der nordi¬ 
schen Rasse der 
Fall ist. 

Ich mochte 
hier auch noch 


stark dysplasti- Abb. 3. auf ein Merkmal 

schen, besonders der nordischen 

Rasse hinweisen, das sich bei A'.s Asthenikergesichtern, ohne daB er es 
erwahnt hat, im Gegensatz zu denen der Pykniker ausgepragt findet 
— auf Abb. 1 ist es besonders deutlich zu sehen —, namlich die etwas 
zuriickliegenden Wangen. An einer spateren Stelle schreibt K.\ ,,Die 
Gesichter hochwertiger Schizothymer aus gut gezuchteten Familien 
wirken durch ihren sehr pragnanten Skelettbau, ihren bizarren Profil- 
winkel, ihre scharfen, hervorspringenden Nasen oder die vornehme 
Ruhe eines langgezogenen blassen Gesichts“ — hier haben wir eine 
gute Beschreibung des Gesichtes der edleren Vertreter der nordischen 
Rasse vor uns, und dieser Schilderung konnen wir in ihrer Pragnanz 
kaum ein Wort mehr hinzufiigen. K .s Angaben fiber die Behaarung 
der Astheniker konnen rassenanthropologisch nicht verwertet werden, 
sondern nur von dem Standpunkt des speziell Konstitutionellen und 
Dysplastischen aus. Ahnlich verhalt es sich mit der Hautbeschaffenheit. 



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L. Stern-Piper: Kretschmers psycho-physische Typen 


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Die geringe Rotung des Gesichtes der Schizophrenen diirfte iibrigens 
auch durch den schizophrenen KrankheitsprozeB als solchen bedingt 
sein, wissen wir doch durch die pletysmographischen Untersuchungen 
von Bumke und Kehrer wie Kuppers und de Jong, daB bei der Schizo¬ 
phrenic ein Defekt in der vasomotorischen Erregbarkeit vorhanden ist, 
was auch das Fehlen der Psychoreflexe bei einem groBen Teil dieser 
Kranken nach Bumke. beweist. Ubrigens ware zur Rassendiagnostik 
der Haut auch ihr Verhalten der Sonne gegeniiber zu untersuchen, um zu 
sehen, ob hier im Gegensatz zur gleichmaBigen Braunung der alpinen 
Rasse eine aUgemeine Rotung als Ausdruck einer Empfindlichkeit 
gegen die Sonnenstrahlen eintritt. 

Aber ziehen wir hier noch als vorziigliche Beraterin in Korperbau- 
fragen die bildende Kunst zur Unterstutzung unserer Ansicht heran! 
Wenn wir die Kunst der germanischen Lander wie die Italiens uns darauf- 
hin anschauen, so finden wir, daB die von ihr dargestellten Astheniker 
so gut wie durchweg dem feineren Typus der nordischen Rasse angehoren, 
auf Botticelli und die Praraffaeliten wie den Rosetti-Kreis will ich hier 
besonders hinweisen. Hier sind auch Haar-, Haut- und Augenfarbe 
fast stets als nordisch dargestellt. 

Der pyknische Typus, den ich an zweiter Stelle hier behandele, 
scheint mir groBe Verwandtschaft mit der alpinen Rasse zu haben. Die 
KorpergroBe der Pykniker ist allerdings etwas bedeutender als die der 
alpinen Menschen. Nach Eugen Fischer betragt sie im Durchschnitt 
fiir den alpinen Mann 1,63—1,64 m, wahrend der Pykniker nach 
Kretschmer im MittelmaB 167,8 cm groB ist. Jedoch ist die Zahl der 
pyknischen Manner bei K. fiir massenstatistische Untersuchungen, wie 
sie eigentlich hier in Betracht kommen, nicht groB, niimlich gleich 
43 Fallen. Die Pykniker sind kleiner als die Astheniker, wenn auch 
der Unterschied im Durchschnitt nicht sehr bedeutend ist. Dabei miissen 
wir aber unser oben angefiihrtes Bedenken beziiglich der Frage nach 
dem Lebensalter der K.schen Astheniker wiederholen, denn haben wir 
dort, wie es scheint, ziemlich reichlich noch nicht vollig ausgewachsene 
Individuen vor uns, so diirfte der Unterschied zwischen beiden w'ohl noch 
betrachtlicher werden. Eine kurvenmaBige Darstellung der Korper¬ 
groBe ware auch hier von Wichtigkeit. K. vermerkt nun auch aus- 
driicklich das recht haufige Vorkommen kleiner untersetzter Figuren 
bei den Pyknikern seines Materials. Ausgesprochenen Hochwuchs 
hat er jedoch selten angetroffen und dabei eine Durchsetzung mit 
athletischen Korperbaumerkmalen vorgefunden. Die Beschreibung 
des ,,groben Eindrucksbildes 11 des Pyknikers als einer ,,mittelgroBen, 
gedrungenen Figur mit weichem, breitem Gesicht auf kurzem Hals“ 
paBt sehr gut auch auf den alpinen Menschen. Die gute Umfangs- 
entwicklung des Bauches wie eine Neigung zur Fettleibigkeit scheinen 


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und die Rassenformen in Deutschland. 


581 


mir, letztere mit gewissen Einschrankungen, wie friiher ausgefiihrt, 
bei dem Alpinen ebenfalls vorhanden zu sein. Man betrachte nur die 
zum Fettbauch neigenden und daher behabig wirkenden Personen in 
Landern mit starkerem alpinen Einschlag, so in Siiddeutschland. 
tTbrigens betont K. auch an anderer Stelle, daB diese Anlage bei Pyk- 
nikern nicht immer deutlich ausgepragt zu sein brauche, und daB sich 
deshalb die Diagnose des pyknischen Habitus nicht so sehr danach 
richten diirfe. Die verhaltnismaBig geringe Schulterbreite des Pyk- 
nikers trifft auch bei dem Alpinen zu, ferner die kurzen Extremitaten. 


Wichtig finde 
ich auch die 
Betonung K. s, 
daB die Brust 
weniger breit 
als tief ist, im 
Gegensatz zu 
dem breiten 
Rumpfder spa- 
ter zu bespre- 
chenden Ath- 
letiker. Der 
pyknische 
Mensch neigt 
nach K. nicht 
zu starker Vari- 
antenbildung, 
dysplastische 
Merkmale sind 
bei ihm auch 
nur schwach 
vorhanden, im 
Gegensatz zu 
den Astheni- 
kern. AT.spricht 



Abb. 4. Alpine Rasse, pyknischer 
Typus. 


auch von Le- 
gierungen des 
pyknischen Ty¬ 
pus mit den 
beiden ande- 
ren, so z. B. 
mit dem asthe- 
nischen, wobei 
es sich wohlum 
eine Rassen- 
mischung han- 
deln diirfte. 
Auch Domi- 
nanzwechsel 
hat K. ofter bei 
den Pyknikern 
festgestellt; so 
fiel es ihm auf, 
daB altere Zir- 
kulare, also 
Pyknische, auf 
Jugendphoto- 
graphien in den 
zwanziger Le- 
bensjahren 


langliches Gesicht und schmalen Korperbau zeigten, deren Entwick- 
lung spater ganz nach der pyknischen Seite stattfand. Hier kommt 
wohl ein Dominanzwechsel des nordischen mit dem alpinen Rassen- 
typus in Betracht, wobei der letztere zum Schlusse als dominant die 
Oberhand gewinnt, was auch mit der Vererbungsbiologie verschiedener 
Merkmale dieser beiden Rassen ubereinstimmt. Die Anthropologie hat 
ja schon langst einen Dominanzwechsel verschiedener Rassenkompo- 
nenten betont und z. B. das Nachdunkeln von in der Kindheit blonden 
Haaren darauf bezogen. 


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L. Stern-Piper: Kretschmers psycho-physische Typen 


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Was den Gesichts- und Schadelbau anbetrifft, so haben wir die 
Beobachtung zu verwerten, daB der Schadel breit und nicht sehr hoch 
ist. Der alpine Typus ist ja ausgesprochen kurz- oder breitschadelig. 
Allerdings miissen wir hier wieder unsere friiheren Bedenken wegen der 
Methode K .s erwahnen, aber die Betrachtung der Abbildungen von 
K.s Pyknikern zeigt doch, wie Fig. 5 und 14, deutliche Brachycephalie, 
das Hinterhaupt ist dabei wie bei den Alpinen leicht gerundet, ohne 
irgendwie vorspringend zu sein. Die Gesichter der Pykniker sind, Avie 
die der alpinen Menschen, ausgesprochene Breitgesichter. Dies geht 
nicht nur aus K.s Beschreibung, sondern auch deutlich aus seinen 
Abbildungen hervor. Bei beiden finden wir die ,,Tendenz ins Breite, 
Weiche, Abgerundete', beide zeigen daher auch die vollen Wangen. 
K. spricht von dem FrontalumriB der Gesichter der Pykniker als von 
einem flachen Funfeck, dies veranschaulicht nur eine Form des Breit- 
gesichtes. Das ,,ziernlich energische Umbiegen der Kontur“ an den 
Kieferwinkeln kann man an typischen Breitgesichtern wahrnehmen 
und stellt eine Eigenschaft dieser dar. Auch die in zweiter Linie von 
K. bei den Pyknikern beobachtete ,,breite Schildform“, die sieh schon 
dem Mittelgesichtstypus nahert, durfte noch bierher zu rechnen sein. 
Das Kinn springt ebenso wie auch die Nase, bei den Pyknikern wie bei 
den Alpinen nicht scharf und markant vor. K.s Beschreibung hieriiber 
ist sehr anschaulich. Auch finde ich an den Abbildungen der Pykniker 
wie bei dem Homo alpinus die Stirnhocker gut markiert. Typisch er- 
scheint mir wie beim Astheniker die Nasenform in ihrer Bedeutung als 
Rassenmerkmal. Sie ist ,,mittelgroB, von geradem bis eingezogenem 
Riicken, mehr breit, die Spitze fleischig bis dick, die Nasenfliigel haufig 
breit ausladend". Dies ist ganz die Nase der Alpinen, wo die Nasen- 
beine breiter, nicht so steil aneinander gesetzt sind; die Beschreibung 
des Nasenriickens ist besonders beweisend, ,,gerade bis eingezogen"; 
wir finden ja auch haufig eine leicht konkave Nasenriickenlinie bei den 
Alpinen. Inwieweit die Nasen- und Wangenrotung rassendiagnostiseh 
zu verwerten ist, kann ich nicht sagen. Dariiber liegen beziiglich der 
alpinen Rasse keine Beobachtungen vor. Sie konnte rait der erwahnten 
lebhafteren vasomotorischen Erregbarkeit und der gesteigerten Affektivi- 
tat derZirkularen, bzw. der Pykniker zusammenhangen. Wir werden spa- 
ter aber auch sehen, daBletztere auch bei der alpinen Rasse vorhanden 
ist. Was die Behaarungsverhaltnisse anbetrifft, so habe ich den gleich- 
maBig ausgebildeten, vollen Bart der Pyknischen, der ,,gegen Gesicht und 
Hals tief hineinwachsen 1 kann, auch bei alpinen Menschen ofters ange- 
troffen, ohnedies jedoch alsRegel hinstellen zu wollen.Fassen'wir kurz zu- 
sammen, so findet sich bei den Pyknikern K.s wie dem alpinen Menschen 
im Gegensatz zu dem Astheniker und dem nordischen Rassevertreter die 
Neigung ins Breite, Kurze, Gedrungene, Voile, Weiche und Abgerundete. 


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und die Rassenformen in Deutschland. 


583 


Als letzten Typus betrachten wir den athletischen, der eine starke 
Entwicklung seiner samtlichen Teile, also des Skeletts, der Muskulatur 
und der Haut zeigt. Hier ist die Rassenzuordnung schwieriger und 
weniger eindeutig vorzunehraen als bei den beiden vorigen Typen. 
Zudern ist K .s Material von dieser Korperbauforra nur klein — Manner 
und Frauen umfassen zusanunen nur 30 Falle — und daher schwerer 
verwertbar. Es ist fraglich, ob es sich hier uni einen einzigen, bzw. uni 
einen einheitlichen Rassentypus handelt. Der kraftigere Typus der 
dinarischen und auch der der nordischen Rasse scheinen hier in Betracht 
zu kommen. Die KorpergroBe ist die betrachtlichste aller 3 Gruppen, 
im Mittel 170,0 cm, aber auch MaBe iiber 180 cm kommen nicht selten 
vor, die Extremitaten sind lang, Merkmale, wie sie sich bei beiden 
Rassen finden. Den breiten Brustkorb und die breiten und ausladen- 
den Schultern zeigen besonders die wohlausgebildeten, kraftigen Ver- 
treter der nordischen Rasse. Das Becken und die Beine sollen durch 
Verjungung des Rumpfes nach unten, den Schultern und Armen gegen- 
liber, ,,zuweilen fast grazil erscheinen“ — leider ist keine Abbildung, 
die dies veranschaulicht, beigefiigt 1 ) — und die Extremitaten mitunter 
,,fast ans Akromegale anklingen“. Auch die Haut ist kraftig aus- 
gebildet, derb, straff, das Fettgewebe dagcgen im Verhaltnis nicht sehr 
stark entwickelt. Bei manchen dieser Eigenschaften, so bei der Ver¬ 
jungung des Rumpfes nach unten und dem haufig Akromegalenhaften 
der Extremitaten scheint es sich um besondere dysplastische Merkmale 
zu handeln. Im Gesicht finden wir das Skelett besonders scharf heraus- 
modelliert. Nach K .s Angaben ist der Schadel hoch, schmal und mittel- 
lang. Diese Beschreibung ist zu allgcmein gehalten, um daraus anthro- 
pologische Schliisse ziehen zu konnen. Auch nach den Abbildungen ist 
dies nicht sicher moglich. Die Form des Hinterhauptes ist wechselnd, 
bald ausgesprochen steil (dinarisch), bald vorspringend (nordisch). 
Aus der Beschreibung und den Abbildungen, abgesehen von Abb. 3, 
ist ersichtlich, daB es sich in der Hauptsache um Langgesichter mit 
stark nach unten springendem, massivem Kinn — daher die Aus- 
ziehung des Kinnes nach unten und die ,,steile Eiform 1 ' K .s — handelt. 
K. sagt auch selber, daB die athletischenGesichter haufig sehr hoch sind. 
Langgesichtigkeit findet sich sowohl bei der nordischen wie der dinari¬ 
schen Rasse. Das Derbe und Massive in der Gesichtsbildung in Verbin- 
dung mit der Formation des Kinns lassen besonders an die dinarische 
Rasse denken. Auf Abb. 4 finden wir einen Typus, der sehr an den 
dinarischen erinnert: Langgesichtigkeit, derbe Gesichtsmodellierung, 
gekriimmte Nase, steil abfallender Hinterkopf, anscheinend bedeutende 
KorpergroBe, langer Hals und lange Extremitaten. Der steil abfallende 


*) Auch nicht in der 2. Autlagc. 


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L. Stern-Piper: Kretschmers psycho-physische Typen 


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Hinterkopf und andere dinarische Merkmale sind auch auf Fig. 10, wo- 
bei es sich jedoch um einen Akromegalen handelt, vorhanden. Durch 
dieseForm desHinterkopfs entsteht inVerbindung mit derLanggesichtig- 
keit und den massiven Formen der ,,derbe Hochkopf“ K. s, der tibrigens 
eine gute Bezeichnung fiir die dinarische Gesichts- und Schadelbil- 
dung ist. 

DaB wir die dysplastiechen Spezialgruppen K. s, die viele Beziehun- 
gen zur Schizophrenic aufweisen, anthropologisch im Sinne einer Deu- 
tung von Rassenmerkmalen nicht verwenden konnen, ist ja klar. Ich 
mochte hier nur darauf hinweisen, daB manche Rassen infolge ihrer 
besonders entwickelten normalen Merkmale auch zu besonderen Dyspla- 
sien neigen diirften, so die nordische Rasse und vielleicht auch die 
dinarische durch ihre bedeutende KorpergroBe und ihre langen Extremi- 
taten zu pathologischem Hoch- bzw. Langwuchs; der letztere ist ja 
bei K .s dysplastischen und asthenischen Schizophrenen ziemlich haufig 
vorhanden. Ferner konnte der brachycephale, mit steilem Hinter- 
haupt versehene Schadel der dinarischen Rasse eine Disposition zum 
Turmsehadel aufweisen, der eigentlich nur eine Abart davon darstellt, 
und der sich auch bei K .s schizophrenen Dysplastikern findet. Die 
vielen Dysplasien bei den Asthenikern K .s koimten tibrigens dafiir 
sprechen, daB diese bei der nordischen Rasse haufiger sind, bzw. daB 
bei letzterer die innere Sekretion und das autonome Nervensystem 
eine besondcre Rolle spielen, vielleicht entsprechend der groBeren 
seelischen Differenziertheit dieser Rasse und der Bedeutung, die die 
erwahnten beiden Faktoren fiir die Psyche haben. Petersen nimmt ja 
auch an, daB die innersekretorischen Driisen bei der Ausbildung der 
Pigmentarmut dieser Rasse, die er sich gleich Fischer und Hahn, wie 
iibrigens friiher schon Scfiopenhauer, durch Domestikation entstanden 
denkt, von Bedeutung sind, und Kauffmann macht fiir die Abnahme des 
Irispigmentes einen chronischen Reizzustand im Halssympathicus ver- 
antwortlich. 

Wir finden nun noch eine wichtige biologische Beziehung zwischen 
Habitus asthenicus und nordischer Rasse. Dies ist die Anlage zur 
Tuberkulose bei beiden. Sie wurde von der nordischen Rasse als solcher 
behauptet, wie auch von ihrcn einzelnen Merkmalen, so der bedeuten- 
deren KorpergroBe, der Dolichocephalic und der Blondhaarigkeit. 
Ebenso wurde auch das Zusammcntreffen von Schizophrenic und Tuber¬ 
kulose ofters festgestellt, so daB dadurch nicht nur die Korrelation 
zwischen dem asthenischen Typus und der Schizophrenic, sondern auch 
die zwischen der nordischen Rasse und dem asthenischen Typus sowohl 
wie auch den schizophrenen Erkrankungen weitere Beweiskraft ge- 
winnen konnte. Die Frage, ob auch der pyknische Habitus wie das 
zirkulare Irresein zu Stoffwechselerkrankungen (Fettsucht, Gicht, 


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und die Rassenformen in Deutschland. 


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Zuckerkrankheit, Arteriosklerose) neigt, laBt K. offen. Sie ward durch 
die Ahnlichkeit seines pyknischen Typus mit dera Habitus apoplecticus 
und arthriticus nahegelegt. Nach den vorstehenden Ausfuhrungen 
miiBte auch untersucht werden, ob die alpine Rasse zu den angefuhrten 
Stoffwechselerkrankungen neigt, falls die Beziehungen des pyknischen 
Korperbaues zura zirkularen Irresein sich in der Folge durch genligend 
zahlreiche Nachpriifungen als zu Recht bestehend erwiesen haben. 

Unsere Resultate am Schlusse dieses ersten, des Korperbauteiles 
vorlaufig kurz zusammengefaBt, sind also folgende: Sehen wir von den 
reichlich vorhandenen dysplastischen Merkmalen, wie sie sich bei den 
dem schizophrenen Formenkreis entsprechenden Vertretern finden, ab, 
so durften den K.schen Typen nach ihrem Korperbau Rassenformen 
zugrunde liegen, und zwar dem asthenischen der feinere Typus der nordi- 
schen Rasse, dem pyknischen der homo alpinus. Bei dera athletischen 
Typus, dessen Rassenzugehorigkeit nicht eindeutig beantwortet werden 
kann, und fur den wahrscheinlich nicht eine Rasse allein in Bctracht 
koramt, scheinen Beziehungen zu dera kraftigeren Vertreter der dinari- 
schen und auch der norditchen Rasse vorzuliegen. 

Neben den bei der asthenischen und auch der athletischen Korper- 
bauform ziemlich zahlreich beobachteten dysplastischen Merkmalen 
hat K. noch dysplastische Spezialgruppen aufgestellt. Die Tatsache 
des Vorhandenseins von dysplastischen Veranderungen des Korper¬ 
baues bei der Schizophrenic, wohl im Sinne von Storungen der inneren 
Sekretion, ist ja schon bekannt und von verschiedenen Untersuchern, 
wie Rehm und Wuth, hervorgehoben worden. Gerade Rehm zeigte, daB 
das raanisch-depressive Irresein viel weniger solche Veranderuugen 
aufweist, als die schizophrenen und genuin epileptischen Erkrankungen. 
Auch die letzthinerhobenenBefunde von Beringer und Diiser bei Schizo¬ 
phrenen laufen darauf hinaus. Ihre Feststellungen sind iibrigens insofern 
abweichend von denen K. s, als sie auch reichlicheren Fettansatz am 
Bauch bei Schizophrenen fanden. 

Damit man raich nicht miBverstehe, will ich an dieser Stelle be- 
tonen, daB ich wohl der Ansicht bin, daB es asthenische und athletische 
Vertreter wie auch solche mit pyknischen Eigenschaften, so Fettansatz 
am Stamm, bei alien Kulturrassen gibt. Denn letztere durften groBere 
Variantenbildungen aufweisen. Hier kommt es jedoch darauf an, daB 
bestimmten, viel weiter ausgedehnten Konstitutionstypen, namlich 
denen K. s, bestimmte Rassenformen zugrunde liegen; und gerade die 
Schadel- und Gesichtsformen, auf die K. so vielen Wert legt, sind 
Rassenmerkmale. 

Unsere Auffassung der K.schen Typen ware noch sehr liicken- 
haft, wenn sie nicht auch von der psychologischen Seite aus eine Be- 
statigung erfahren kbnnte. Und dies ist durch die charakterologischen 


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L. Stern-Piper: Kretschmers psycho-physische Typen 


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Ausftihrungen K .s sehr wohl moglich. K. geht auch hier von den Kran- 
ken aus. Er analysiert zuerst in sehr klarer und tiefgreifender Weise 
die Psyche der Zykloiden und Schizoiden. Er weist dann Beziehungen 
zwischen ihren seelischen Eigenschaften und denen ihrer gesunden 
Familienangehorigen nach; zum Schlusse zieht er noch geistig liber- 
wertige Personlichkeiten heran und findet auch bei ihnen, seien sie nun 
einmal seelisch erkrankt oder stets gesund gewesen, die gleichen, grund- 
legenden charakterologischen Merkmale bei entsprechenden Korper- 
formen. Er zeigt damit, dali von dera Charakter der Kranken eine fort- 
laufende Linie zu dem der Gesunden fiihrt, dali es sich bei den seelischen 
Erscheinungen also ebenfalls um biologische Einheiten handelt, die mit 
bestimmten Korperbauformen verbunden sind, so daB letzten Endes 
hier physisch-psychische Einheiten vorliegen. Zykloid und Schizoid 
sind danach fur K. die zwischen gesund und krank stehenden Mittel- 
formen; zyklothym und schizothym bezeichnen fiir ihn das Kranken 
wie Gesunden Wesensgleiche, Gemeinsame, sind also rein biologische 
Begriffe. 

Das Temperament der Zykloiden wird nach K. durch die diathe- 
tische oder Stimmungsproportion bestimmt, das heifit die Mischung 
von hypomanischen und schwerbliitigen Elementen. Ich mochte dies 
so ausdriicken, dali der ganze Charakter dieser Menschen unter der 
Herrschaft des Affektiven 1 ) steht, dali dieses bei allem mitschwingt, 
es reguliert. und ihm eine gewisse Farbung gibt. K. hat auch in sehr 
geistvoller Art die sozialc Einstellung der Zykloiden als dadurch be- 
dingt gekennzeichnet. Sie sind „gesellig, gutmutig, menschenfreundlich 
und anpassungsfahig“. Ein weiches und warmes Wesen zeichnet sie 
aus. Selbst die mehr schwerfallig-depressiven, mehr fiir sich lebenden 
Menschen unter ihnen erweisen sich, sobald man mit ihnen in naheren 
Verkehr kommt, als ,,freundlich, naturlich und zuganglich“. Ich mochte 
sagcn, die Zykloiden leben nicht wie die Schizoiden neben oder unter 
den Menschen, sondern mit ihnen, sie sind mit ihnen verbunden und 
fiihlen auch mit ihnen. Dies kommt wohl daher, dafi sie geinaB ihrer 
seelischen Anlage Reize brauchen, die ihren Affekt in Schwingung ver- 
setzen. Sie konnen nicht abgesondert bestehen, daher suchen sie auch 
den Verkehr mit andern Menschen. Die Zykloiden gchen in ihrer Um- 
gebung, in der Wirklichkeit auf, sie sind, wie K. sagt, realistisch ge- 
stimmt. Damit hangt es zusammen, dali sie auch die Gaben des Lebens 
in natiirlicher Weise annehmen und sich daran erfreuen, eine Neigung 
zum Stofflichen, zum GenieBen, z. B. des Essens und Trinkens, haben. 
Da gibt es keine scharfe Gegeniiberstellung von Ich und AuBenwelt, 


1 ) Affektiv hier in jenem besonderen Sinne des Gemiitslebens aufgefaOt, 
wie er auch in dem Xamen der Affektpsychosen zum Ausdruck kommt. 


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keine tragischen Konflikte, keine festgefaBten Meinungen, koine Prin- 
zipien, ebenso kein Schematisieren, keine feststehenden ausgekliigelten 
Systeme, kein starres Bis-zu-Ende-gehen, kein kaltes gefiiklsbefreites 
Waltenlassen der Logik; sondern diese Menschen passen sich an, sie 
fiihlen sich in andere hinein und suchen daher abzuwagen, zu vermitteln. 
Sehr treffend sagt K., sie haben Gemiit, und er findet gerade den Volks- 
ausdruck Gemiitlichkeit sehr bezeichnend. Das Wort Humor scheint 
ihm enge Beziehungen dazu zu haben. Der Ausdruck behabig kenn- 
zeichnet fur K. sehr anschaulich das Zusammentreffen des pyknischen 
Korperbaues mit der langsamen Reaktions- und Handlungsweise und 
der ,,gutherzigcn Gemiitlichkeit der Stimmungslage“ bei den Schwer- 
bliitigen der Gruppe. Diese lieben es auch, in behaglich-beschaulicher 
Weise in ihren kleinen Weinkneipen zu sitzen. Soweit sich andersartige 
C'haraktereigenschaften bei den Zykloiden nachweisen lassen, finden 
sich auch im Korperbau fremde, und zwar schizoide Komponenten, 
ebenso in der Hereditat und den auf solcher konstitutioneller Gruncllage 
entstehenden Psychosen; also auch hier Legierungen und Kreuzungen, 
wie wir sie schon friiher besprochen und deren Erklarung als Vorhanden- 
sein von verschiedenen Rassebestandteilen wir moglich gemacht haben. 

Nun der Gegensatz dazu, die schizoiden Charaktereigenschaften: 
Die seelische Analyse K .s ist hier besonders lichtvoll und das innerste 
Wesen treffend. Allerdings muB erst noch bestatigt werden, ob sich 
eine solche stetig fortlaufende Verbindung mit dem Gesunden vorfindet 
und das Kranke nur eine Vergroberung der normalen seelischen Eigenart 
gewisser Menschengruppen bildet. Die erbbiologischen Untersuchungen 
und Unterscheidungen Kahns von zwei getrennt sich vererbenden 
Anlagen der Schizophrenic, dem Schizoid und der schizophrenen ProzeB- 
anlage, die erst zum ersteren hinzukommen muB, damit die mani- 
feste Krankheit der Schizophrenic entsteht, konnten als Stiitze der 
A.schen Anschauungen verwertet werden. Danach muBte aber erst 
noch untersucht werden, ob das Zusammentreffen des schizoiden und 
des prozeB-schizophrenen Faktors zum Zustandekommen des Krank- 
heitsprozesses der Schizophrenic notwendig ist, oder ob nicht der 
letztere allein dazu geniigt. Dann muB auch betont werden, daB K. 
den Begriff des Schizoids sehr weit gefaBt hat, im Grunde gehort dazu 
beinahe alles, was nicht manisch-depressiv ist. Die einzelnen Psycho- 
pathengruppen werden dadurch in die beiden groBen Abteilungen des 
Zykloids und des Schizoids eingereiht, was auch in Bleulers Sinn liegt. 
Wir iibernehmen fiir unsere Untersuchungen diesen Schizoid-Begriff, 

* ohne uns verheimlichen zu wollen, daB er vielleicht nur in negativer 
Hinsicht etwas Einheitliches darstellt 1 ). Halten wir, da es uns auch 

l ) Ganz ahnliche Bedenken hat Eivald in einer mir nach Fertigstellung meines 
Manuskriptes vor Augen gekommenen Arbeit geauBert und sie weiter ausgefiihrt. 

Archiv tUr Psychiatric. Bd. 67. 39 


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L. Stern-Piper: Kretschmers psycho-physische Typen 


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hier um das iiber das Pathologische hinausstrebende, zugrunde liegende 
allgemein Biologische ankommt, fest, daB K. sagt, das Gesunde konne 
beim schizophrenen Formenkreis noch weniger als beim zirkularen 
vom Kranken gesondert werden, und ,,der SchliLssel zum schizophrenen 
Innenleben sei zugleich der Schliissel zu groBen Teilgebieten normalen 
menschlichen Fiihlens und Handelns“. 

Die Grundformel des Seelenlebens der Schizoiden driickt nach K. 
die psychasthetische Proportion aus. K. findet namlich als Wichtigstes 
in dem Charakter des Schizoiden die Zusammensetzung aus hyper¬ 
asthetischen, d. b. reizbar-iiberempfindlichen und anasthetischen, d. h. 
unempfindlich-kuhlen Bestandteilen. Das Verhaltnis der Mischung 
beider in einem Menschen nennt er nun die psychasthetische. Proportion 
dieser Personlichkeit. 

Wie nun der Zykloide meist heitere und traurige Elemente zugleicli 
hat, so ist der Schizoide gleichzeitig uberempfindlich-reizbar und kiihl. 
Die seelische Uberreizbarkeit glaubt K. dabei besonders hervorheben 
zu miissen. Holderlintypen nennt er jene zarten, empfindlichen, leicht 
verwundbaren Wesen, und auch bei ihnen ist nach seinen Ausfuhrungen 
noch eine gewisse leise, vornehme ,,Kuhle und Distanz, eine autistische 
Einengung des Gefiihlsverm6gens“ auf gewisse Dinge und Menschen 
zu verspiiren. Strindberg, der spatere Schizophrene, wird als noch 
deutlicheres Beispiel als Holderlin hierfiir angefiihrt. Auf der anderen 
Seite stehen die stumpfen und kalten Naturen, wie sie als auBerstes 
Extrem, als Endzustande der Dementia praecox beobachtet werden. 
Ich mochte dies so ausdriicken: in dem Gefiihlsleben der Schizoiden 
herrscht das rein Nervenreaktive, EmpfindungsmaBige vor, ungeleitet 
durch das Affektiv-StimmungsmaBige; also anf der einen Seite, der 
zykloiden und zyklothymen, das Reich der Affektivitat, auf der 
anderen, der schizoiden und schizothymen, das der Sensibilitat. Von 
elementarer Bedeutung fiir die Gestaltung der schizoiden Psyche scheint 
mir der Mangel des zyklothymen Faktors zu sein. Denn durch die Ele¬ 
mente des Gemiitslebens entsteht die Tonung, wie auch Dampfung, 
Lenkung und die flieBende Vcrbindung der einzelnen seelischen Eigen- 
schaften. Entweder fehlt der Antrieb durch das Gemiitsleben, wie lx>i 
den anasthetischen Personlichkciten oder die Dampfung und Hemmung 
dadurch, w r ie bei den hyperasthetischen. Losgelost herrschen dann die 
verschiedenen seelischen Faktoren, so das Personlichkeitsgefuhl, der 
Wille und das Logisch-Intellektuelle. Und vielleicht beruht auf diesem 
Negativen, diesem Fehlen des zyklothymen Bestandteils, auch die 
psychasthetische Proportion K. s, das Vorherrschen der Sensibilitat, . 
teils von anasthetischen, teils von hyperasthetischen Elementen. Die 
psychasthetische Proportion verschiebt sich nun im Laufe des Lebens 
meist nach dem anasthetischen Pol hin. Aus ihr leitet sich auch die 


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und die Rassenformen in Deutschland. 


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Stellung des Schizoiden zur AuBenwelt ab. Kennzeichnend hierfiir ist 
eine seelische Erscheinungsform, die Bleuler Autismus nennt, d. h. das 
Fiir-sich-, das In-sich-hinein-Leben. Daher ziehen diese Menschen sich 
von den anderen ab, teils aus Uberempfindlichkeit, um sich noch mehr 
in ihr eigenes Inneres zu verkriechen, teils aus gemiitlichem Mangel, 
aus fehlendem gefiihlsmaBigem Gebundensein an die Urawelt. Aber 
auch hier sind meistens beide Elemente gemischt, Gleichgiiltigkeit 
und sehnlichstes Ruhebediirfnis. Der sich absondernde Hyperasthe- 
tiker liebt gem eine gewisse Kuhle, gefiihlsmaBig indifferente Um- 
gebung: aristokratische Salons, das mechanische GleichmaB des Bureau- 
(lienstes, ,,einsame, schone Natur, Altertum, feme Zeiten und Gelehrten- 
stuben“. Unter den Schizoiden findet man daher haufig stille Biicher- 
und Naturfreunde aus Uberempfindlichkeit und Flucht vor den Men¬ 
schen, femer gibt es darunter die verschrobenen Sonderlinge und Quer- 
kopfe, die fiir ihre Systeme, teils gesundheitlicher, teils philosophisch- 
metaphysischer Natur, werben (Gesundheitsapostel, Rohkostler, Maz- 
daznan-Anhanger). Manche Schizoidc bzw. Schizothyme zeigen als 
Ungeselligkeitssymptome nur eine groBartige Gemiitsruhe und Stumm- 
heit, die ,,groBen Schweiger“ Moltke und Uhland dienen als Beispiele 
hierfiir. Bezeichnend ist ferner ein kuhl-aristokratischer Zug mit Nei- 
gung zu au s gewahlter Geselligkeit in kleinem, abgegrenztem Kreise; 
dieser Zug artet bei den direkt Kranken in eine ,,karikiert-vomebme 
Gespreiztheit in Sprache und Bewegungsmanier“ aus. Die Religiositat 
der Schizoiden hat etwas Mystisch-Gbersinnliches oder Frommelndes, 
SektenmaBiges. Als ,,oberflachlich-geselliges Mitleben“ wird die Art 
mancher glatt-gewandter, hart-egoistischer oder geschaftsmannisch- 
berechnendcr Naturen angefiilirt. Immer aber ist eine gewisse Distanz 
der Umgebung gegeniiber vorhanden, es entsteht dadurch eine Problem- 
stellung des Ichs zur AuBenwelt und ein tragischer Konflikt aus Mangel 
an Anpassungsfahigkeit. Der Schizothyme Feuerbach und der Zyklo- 
thyme Thoma, also ein mehr nordischer und ein mehr alpiner Mensch, 
werden hier als gegensatzliche Beispiele angefiihrt. Gleich der egoisti- 
schen Harte riihrt auch das ernst und tief genommene Streben nach all- 
gemeinen altruistischen Idealen und nach allem Prinzipienhaften, streng 
Schematischen aus dem Autismus her. Betonen wollen wir, weil fiir 
unsere spateren Ausfiihrungen von Bedeutung, K .s Worte von den 
,,praehtvollen Charakterkopfen, die an unpersonlicher Rechtlichkeit 
und Sachlichkeit, unbeugsamer Gberzeugungstreue, Adel und Reinheit 
der Gesinnung, wie an zielfester Zahigkeit im Kampf um ihre Ideale 
auch die hochstwertigen Zyklothymen weit hinter sich lassen“. K. 
schildert nun noch verschiedene Spielarten der hyperasthetischen und 
anasthetischen Schizoiden. Unter letzteren sind besonders die Affekt- 
lahmen hervorzuheben. Sie scheinen ihm, und zwar in der Form der 

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L. Stern-Piper: Kretschmers psycho-physische Typen 


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Empfindsam-Affektlahmen der haufigste psychologische Typus unter 
den Schizoiden zu sein. Das Affektlahme bedeutet. ein Nachhinken des 
Affekts, wie uberhaupt das Auseinanderfallen von Gemiitsreiz und von 
diesem ausgeloster Reaktion. Diese Empfindsam-Affektlahmen sind, 
wie die Schizoiden uberhaupt, humorlos, ernst, sprechen wenig auf 
Trauriges und Heiteres an, neigen dagegen zur Ekstase und Schwar- 
merei. Von der Affektstumpfheit, die ein Teil der Affektlahmheit ist, 
wird die Affektkalte unterschieden. Erstere bedeutet die passive und 
letztere die aktive Gefuhllosigkeit. Einen leichteren Grad der Affekt- 
stumpfheit bildet die unerschiitterliche Seelenruhe, das Phlegma. Zu 
den Affektkalten gehoren die ,,Trockenen“, wie uberhaupt die Schizoi¬ 
den im Durchschnitt ihrem Temperament nach, gegentiber den gemiits- 
warmen Zykloiden, ktihl sind; und besonders die ,,stilvoll-aristokratischen 
Schizoiden" machen durch Beimengung von aktiver Kalte zur Affekt¬ 
lahmheit oft einen kalten Eindruck. K. fiilirt verschiedene negative 
Varianten der Affektkalte an, die in der Hauptsache extreme Steigerun- 
gen von riicksichtslosem Egoismus darstellen. Auf der positiven Seite 
konnen jedoch aus dieser Kalte gegen die Einzelmenschen in Verbindung 
mit dem ebenfalls schizoiden Hang zum Schematischen, Konsequenten, 
Gerecht-Strengen Naturcn von eiserner Energie und Hartnackigkeit 
erwachsen, wie Friedrich der GroBe ,,mit seinen gehauften und inge- 
ziichteten schizoiden Erbmassen aus dem Welfenhause", also eintypisch 
nordischer Mensch aus einer rein nordischen Sippe. Am andern Endc 
steht als Gegensatz zu dieser Willensstarke die vollige Willensschwache 
und Aktionslosigkeit, dienurmehrcine rein pathologischeErscheinung ist. 

Beziiglich der Psychomotilitat ist hier noch die Affektsteifigkeit 
Bleulers oder, wie K. sagt, die Steifigkeit der Ausdrucksbewegungen 
anzufiihren. Er fand sie sowohl bei den aristokratisch zuruckhaltenden 
wie bei den pathetischen Naturen. Sie kann nach ihm als ,,Gespreizt- 
heit, Geschraubtheit, Formlichkeit, Pose“, oder als ,,Feierlichkeit oder 
Pedanterie" erscheinen. Bei den lebhafteren Schizoiden zeigt sich 
dagegen eine nervose Hastigkeit. Die Verbindung von Abgemessenheit 
und Zuriickhaltung in den iiuBeren Ausdrucksformen mit Feinfuhlig- 
keit nennt K. den aristokratischen Symptomenkomplex. Fiir sehr 
erwahnenswert halte ich auch, daB ihm ,,eine eigentumliche militarische 
Straffheit als vererbbare Eigentumlichkeit“ in schizoiden Familien 
aufgefallen ist, auch ohne daB beruflich Wert darauf gelegt wor- 
tlen ware. ,,Aufrecht“ scheint ihm die beste kdrperliche wie seeli- 
sche Kennzeichnung dieser Menschen zu sein, die haufig ,,Herren- 
naturen von ausgesprochener Zahigkeit und Charakterstarke" darstellen. 
Zur Erklarung gewisser Denkeigentiimlichkeiten der Schizoiden dient 
K. die zwischen zah und siminghaft wechselnde schizoide Tempera- 
mentskurve. So kommt es, daB sich in manchen ihrer Schriftstucke 


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und die Rassenforinen in Deutschland. 


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neben dem Unsteten, Sprunghaften eine Neigung zur Ubergenauigkeit 
und Pedanterie findet, die sich im Aufzahlen von Narnen und Zahlen, 
im Scheruatisieren, Systembilden und in der Abstraktion auBert. Fur 
wichtig und bedeutungsvoll halte ich K .s alternative Einstellung des 
Gefiihlslebens bei den Schizoiden. Da gibt es nur ein entweder-oder, 
keinen Mittelweg, kein Abwagen, Ausgleichen und Vermitteln. A'.s 
Ansicht, daB sich dieser Zug deutlich bei Normalen und in ausgespro- 
chener Weise bei den genialen Personlichkeiten vorfindet, mochte ich 
besonders unterstreichen. 

In den geschilderten Ziigen der Zykloiden und Schizoiden haben wir, 
wenn wir noch eine Abmilderung des teilweise vorhandenen patholo- 
gisch Vergroberten vornehmen, schon die Wesensart von normalen 
Personlichkcitsgruppen, die wir mit K. zyklothyme und schizothyme 
nennen wollcn, vor uns. K. hat nun auch einzelne Gruppen von zyklo¬ 
thymen und schizothymen Durchschnittsmenschen aufgestellt, d. h. 
von Menschen, bei denen sich die einzelnen zyklothymen und schizo- 
thymen Charakterbestandteile in verschiedener Auspragung und Zu- 
sammensetzung vorfinden. Dieser Teil ist sowohl bezuglich Aufstellung 
wie Schilderung der Gruppen etwas kurz und skizzenartig gchalten und 
wohl als Versuch und Hinweis zu betrachten. Ganz besonders trifft 
dies bei den Schizothymen zu; hier diirften sich bei der Vielfaltigkeit 
und Kompliziertheit der Einzelbestandteile viel zahlreichere Formen 
aufstellen lassen. Auch finde ich die Einteilung und Bezeichnung der 
schizothymen Gruppen nicht charakteristisch genug. K. unterscheidet 
jeweils vier Abteilungen, und zwar bei den Zyklothymen die geschwatzig 
Heiteren, die ruhigen Humoristen, die stillen Gemutsmenschen und die 
bequemen GenieBer; bei den Schizothymen die vornehm Feinsinnigen, 
(be weltfremden Idealisten, die kiihlen Herrennaturen und Egoisten. 
Die Abteilung der weltfremden Idealisten bezeichnet man besser nur 
als die der Idealisten allcin, da die weltfremden ja doch nur eine kleine 
Unterabteilung von ihnen darstellen. Hinzufugen mochte ich noch 
die Gruppe der Korrekt-Hoflichen. Die Abteilung der kalten Herren¬ 
naturen und Egoisten diirfte nur eine Unterabteilung der Ziih-Energi- 
schen, wie ich sic nennen mochte, darstellen. Der Korperbau dieser 
zyklothymen und schizothymen Durchschnittsmenschen soli nun wie 
bei den psychisch Kranken den seelischen Eigenschaften korrespondieren, 
also toils pyknisch, toils asthenisch und athletisch sein. Schwere Dyspla- 
sien kommen hier wie auch bei den von ihm spatcr besprochenen Genia¬ 
len nach K. nicht in Betracht. Dieses dient zur Unterstiitzung unserer 
Ansicht, daB bei den von K. an krankem Material aufgestellten Korper- 
bautypen das Dysplastisehe von dem Typ als solchem gctrennt werden 
muB und letzterer dann als Rassentyp angesprochen werden kann. 
Wir glauben nun, daB auf die geschilderten seelischen Eigenschaften 


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L. Stern-Piper: Kretschmers psycho-physische Typen 


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sich, dem Korperbau entsprechend, die psychischen Eigen tiimlichkei ten 
der nordischen und der alpinen Rasse zuriickfiihren lassen. Selbstver- 
standlich kann keine Rasse ausschlieBlich zyklothym oder schizothym 
sein, auch ist absolut nicht daran zu denken, daB sich nun diese beiden 
Rassen allein so verhalten, und sich nicht schizothyme und zyklothyme 
Ziige, vielleicht in anderer Auspragung und Zusammensetzung, bei 
anderen Rassen finden lieBen. Und wieder vergegenwartige man sich, 
daB es hier auf die groBen Linien, den Grand und UmriB ankommt, 
und daB wir Rassenmischungen vor uns haben. Wie jetzt schon ver- 
wenden wir auch in folgendem die Begriffe zyklothym und schizothym 
im Sinne von normal-charakterologischen Einheiten und decken uns 
dabei mit der Auffassung K. s. 

Stellen wir nun einmal Volker oder Volksbestandteile mit starkerem 
alpinem Rasseeinschlag solchen mit mehr nordischem gegemiber. 
Zuerst wollen wir als Beispiele in dieser Hinsicht die Siiddeutschen und 
die Norddeutschen gegensatzlich behandeln. Zur Kennzeichnung des 
Wesens der Siiddeutschen verwendet man gewohnlich dasselbe Wort, 
das K. zur Charakteristik der Zyklothymen so treffend findet, namlich 
Gemiitlichkeit. Und auch das Wort Humor, das nach K. enge Bezie- 
hungen dazu hat, wird gerade in Siiddeutschland in ahnlicher WeLse 
gebraucht, namlich zur Bezeichnung der gemiitlichen Stimmung, be- 
sonders in Bayern, wo es dialektisch ,,Hamur“ lautet. In Siiddeutsch- 
land finden wir diesen behabigen Typus des Zyklothymen mit seiner 
realistischen Gestimmtheit, seinem behaglich-bequemen GenieBen des 
Lebens, besonders seiner materiellen Gaben, wofiir ich den Ausdrack 
Vesperer in Schwa ben gleich K. sehr bezeichnend finde. Das sind die 
sog. bequemen GenieBer K .s mit ihrer Vorliebe fiir den Wirtshaus- 
tisch, zu deren Illustrierang K. ein Gedicht Morikes anfuhrt. Somracr- 
westen nennt Morike hierin diese Naturen und sagt, daB ihr Vaterland 
Schwaben ware. Hier ist alles auf das Stofflich-Siunliche, Anschau- 
liche eingestellt, hier gibt es keine zwiespaltigen Wesen, keine Kon- 
flikte, nichts Problematisches, aber auch nichts Gekunsteltes, Unnatiir- 
liches. Bci den Schwaben ist mehr das schwerbliitig-depressive Element 
vertreten, wie bei den jetzigen Alemannen iiberhaupt, bei den Bayern 
herrscht dagegen der hypomanische Stimmungsbestandteil mit Reiz- 
barkeit vor. Man denke an die derb-naive, hypomanisch-frbhliche 
Lebhaftigkeit, die Art, ihre Feste zu feiern wie ihre sonstigen Sitten. 
Besonders komrnt die hypomanische Reizbarkeit zum Ausdrack, wenn 
sie in ihrer Bequemlichkeit, ihrer behaglich-genieBerischen Ruhe ge- 
stort werden. Verschiedene bekannte bayerische Kraftausdriicke ver- 
anschaulichen dies sehr treffend. Eine gewisse derb-polternde Grobheit 
wie eine ungebundene Natiirlichkeit und Urwiichsigkeit sind iibrigens 
den Schwaben und Alemannen auch zu eigen. Ihr Gefiihlsleben drangt 


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und die Rassenformen in Deutschland. 


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sie namlich dazu, alien ihren emotionalen Regungen ohne Zuriickhaltung 
Luft zu machen. Siiddeutschland ist ferner das Land des Ausgleichs, hier 
herrschen keine so groBen Klassengegensatze. Die Norddeutschen finden 
es ja so bezeichnend, daB die Menschen hier sich ohne Reserve ein- 
ander gegenubertreten, gleich bekannt und warm werden, und daB 
am Biertisch sich alle, Hoch- wie Niedergestellte zu gemeinsamer Unter- 
haltung und gemeinsamem GenuB zusammenfinden. Auch in der Politik 
haben wir hier mehr ein gegenseitiges aneinander Anpassen, weniger 
Radikales. Man lasse sich durch solche Zeit- und Massenstromungen, 
wie die Revolution sie gebracht hat, nicht irre machen. So wie der 
Siiddeutsche als eine nicht so komplizierte Natur erscheint, in die 
man sich leicht einfiihlen kann, hat er selber ein gutes Einfiihlungs- 
vermogen, ein natiirliches Verstandnis fiir die Art des anderen, dem 
er gefiihlsmaBig, nicht fremd, kalt und unpersonlich gegenuber steht. 
Mit alle dem soli natiirlich nicht gesagt sein, daB wir in den Siiddeut- 
schen und Schweizern alpine Menschen vor uns hatten, wir wollen 
damit nur zeigcn, wie ihre Psyche gegeniiber der norddeutschen durch 
den starker alpinen Einschlag eine besondere, bestimmte Farbung er- 
halten hat. 

Dem gegenuber wirkt der echte Norddeutsche, wie der Nord- 
lander iiberhaupt, kalt, steif, formell, abgemessen. Auch daB er einen 
langweiligen oder faden Eindruck mache, wird haufig von Siiddeutschen 
behauptet. Er gibt sich nicht so frei, hat immer etwas Zuriickhaltendes, 
eine gewisse Reserve. Auch ist ihm seiner ganzen Haltung nach sehr 
haufig etwas Straffes, Militarisch.es zu eigen. Man erinnere sich hierbei 
an die militarische Straffheit, die K. als besondere Eigentiimlichkeit in 
schizoiden Familien fand. Der Norddeutsche ist in seinen Bewegungen 
nicht so natiirlich und rund wie der Siiddeutsche, sondern wirkt, wie 
schon angegeben, eckig, steif und formlich. Man denke hier auch ganz 
besonders an Skandinavier, Hollander und Englander. Eine gewisse 
Kiihle geht immer von ihnen aus, sie geben schwer ihre Reserve auf, 
und man wird nicht so leicht warm mit ihnen. So ist auch ihre Gesellig- 
keit abgeschlossener, sich in kleinen, abgegrenzten Kreisen bewegend. 
Das Sich-AbschlieBen der einzelnen Kreise voneinander trifft man in 
Norddeutschland und den nordischen Landern ausgepragter, die Ibsen- 
schen Dramen, besonders der Volksfeind, bieten Belege hierfiir. In 
den Menschen dieser Dramen sehen wir iibrigens prachtvolle Reinge- 
gewhchse schizothymer Charaktere vor uns. Der Individualismus ist 
als Lebensform und Richtung ein spczielles Erzeugnis der Volker nor- 
discher Rasse, bei ihnen finden wir auch die ganz besonders weitgehende 
Zersplitterung in einzelne sich riicksichtslos bekampfende Stamme. 
Damit hangt es ferner zusammen, daB die rasseerhaltenden Instinkte 
bei der nordischen gegenuber anderen Rassen gering sind, so daB da- 


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L. Stern-Piper: Kretschmers psycho-physische Typen 


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durch moglicherwei.se die Erhaltung der Rasse liberhaupt gefahrdet ist. 
Von anasthetischen Eleraenten ist hier auch noch die ,,unerschutterliche 
groBe Seelenruhe" K. s, wofiir er ja als Beispiele die groBen nordischen 
Schweigcr Moltke und Uhland anfuhrt, und das Phlegma, wie es den 
Hollandern und auch Englandern eignet, zu erwahnen. Man halte 
sich hierbei die treffende, wenn auch etwas karikierte Beschreibung 
der Hollander in Heines ,,Schnabelewopski“, besonders des van Moeulen 
vor Augen. Auch in dem Spleen der Englander ist eine gewisse Sturnpf- 
heit bemerkbar. Die nordischen Menschen ha ben ferner die Recht- 
lichkeit, Strenge, Pflicht- und t)berzeugungstreue, die Gewissenhaftig- 
keit, die bis zur Pedanterie und dem Bureaukratismus des preu Bischen 
Beamten ausarten kann, und die Willensstarke der ,,prachtvollen 
Charakterkopfe“ K .s in begabten schizoiden Familien. Man denke 
auch an ihr Organisationstalent, ihre Eignung zu militarischem Wesen 
und Zucht. Dann halte man sich wieder die kuhl berechnende Geschafts- 
tuchtigkeit von Englandern, Hollandern und Norwegern vor Augen. 
Durch diese kiihle Berechnung ersetzen die Englander in der Diplo¬ 
matic das warme Sicheinfuhlen, und ihr verdanken sie auch ihre Erfolge 
darin. Kein nihiges, bebagliches die Welt betrachten und genieBen 
Wollen finden wir bei den nordischen Menschen, sondern ein Ringen und 
Kiimpfen, einen Schaffenstrieb und eine Sucht, die eigene Personlichkeit 
mit eisemer Energie, ziihcr Ausdauer und auch Riicksiclitslosigkeit 
durchzusetzen, gleich den kalten Herrcnnaturen und Egoisten der 
schizothymen Durchschnittsmenschen K. s. Hier besteht ferner die 
Neigung zum Prinzipiellen, zur Abstraktion, zum Systematisieren; 
wurden doch die vielen metaphysisch-philosophischen Systeme fast nur 
von nordischen Menschen ausgearbeitet. DaB die Idealisten bei ihnen 
zu Hause sind, ist ja auch bekannt, wie daB der Idealismus liberhaupt 
hier seinen Ursprung hat. Die Betrachtung der genialen Personlichkeitcn 
nordischer Rasse gibt hierfiir, wie fiir die meisten anderen Eigen- 
schaften, die besten Beweise. Damit hiingt eszusammen, daB die vielen 
Schwarmer und Sonderlinge sich unter den nordischen Volkern finden, 
ebenso aber auch die vielen Querkopfe, Schrullenhaften und Sektierer. 
Deutschland diirfte hier ivieder vornean stehen: Rohkostler und ahn- 
liche Sonderlinge zahlen auch hier ihre groBte Anhangerschaft. Das 
Entweder-Oiler turn und die Neigung zum Extremen sind iibrigens nur 
Folgen aus dem Hang zum Prinzipiellen. Wir erwahnen noch die vielen 
tragischen Konfliktnaturen, die immer in Problemstellung zur AuBen- 
welt leben, wie ja in den Landern nordischer Rasse die groBen Probleme 
immer zuerst aufgeworfen wurden und die groBen Ideen daher von da 
aus ihren Ausgang nahmen. Wenn K. das Drama mit Recht als typisch 
schizothyme Dichtungsgattung bezeichnet, so ist darauf hinzuweisen, 
daB die Volker nordischer Rasse das Drama mit Vor lie be gepflegt 


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und die Rassenformen in Deutschland. 


595 


und die groBcn Dramatiker hervorgebracht haben. Auch den hypcr- 
asthetisch-feinsinnigen Typus finden wir hier ausgepriigt. Viele Beispiele 
lassen sich hierfiir aus der skandinavischen, besonders der danischen, 
tier englisehen und der deutschen Literatur wie Kunst anfiihren. Auch 
zeigen die nordischen Marchengestalten, ich erinnere nur an die Elfen, 
sehr hiiufig diesen Typus. Die Religiositat der Nordischen neigt eben- 
falls zum Mystischen (Ekkehard, Bohrae, Suso und die Romantiker) 
oder Sektenhaften. Dali die Sektenbildung bei diesen Volkern, beson¬ 
ders den anglo-amerikanischen, bliiht, ist ja eine bekannte Tatsache. 
K. spricht von dem aristokratischen Symptomenkomplex als schizo- 
thymem Kennzeichen und ich'finde, daB der nordischeMensch durch seine 
vornehmwirkende, kiihle Zuriickhaltung, das Formliche, Steif-Korrekte, 
wie auch durch dasMilit&risch-Straffc, ZielbcwuBte in seinera Wesen schon 
von vornherein den Eindruck des Aristokraten macht, ganz abgesehen 
davon, daB er durch seinen Verstand und seine Widens- und Schaffens- 
kraft dazu berufen erscheint. DaB die Adelsschicht, zum mindesten der 
europaischen Kulturvolker, von der nordischen Rasse gebildet wurde, 
ist zwar eine viel angegriffene, aber noch nicht widerlegte Behauptung. 
Erwahnen wollen wir noch den Ernst und eine gewisse Huinorlosigkeit 
dieser Rasseangehorigen. Ihr Humor wirkt gegenuber dem sudlicherer 
Rassen meist schr trocken. Man vergegenwartige sich in dieser Hinsicht 
die steifen, eckigen und fad-trockenen Bewegungen eines englisehen 
Clowns. Und damit hangt wieder die gcringe Begabung dieser Rasse 
zur Musik zusammen. Fritz Lenz fiihrt sehr treffend hierfiir das Sprich- 
wort ,,Frisia non cantat“ an, sowie daB bei den germanischen Volkern 
selber andere Volker, wie Italiener, Ungarn, Juden und Zigeuner im 
Rufe musikalischer Begabung standen. Worte Nietzsches besagen 
das gleiche. Nationen mit weitgehend reiner nordischer Rasse wie 
Englander, Hollander und Skandinavier weisen ja auch auBerst wenig 
groBe Tonschopfer auf, andererseits wurden die genialen musikali- 
schen Leistungen gerade in Landern geschaffen, wo die nordische Rasse 
sich schon starker vermischt hat wie in Osterreich und Deutschland, 
in letzterein hinwiederum vorwiegend in Sachsen-Thiiringen (Bach. 
Handel, Schumann, Wagner). Hier war also die Rassenmischung von 
besonderer Bedeutung. Charakteristisch finde ich auch in diesem Zu- 
sammenhang, abgesehen von der starken Begabung fiir die bildende 
Kunst iiberhaupt, die ganz besondere Anlage zur Grapliik, zur Linie. 
Sehr treffend charakterisiert diese Oscur Hagen in seinein ,,Deutschen 
Sehen“. Mir scheint dieser Zug zum Linearen durch das ganze seelische 
Wesen, so das Pravalieren des Gedanklichen vor dem Gemiitsleben 
und den Hang zum Abstraktcn und Schematischen, im Sinne der 
anasthetischen Elemente K .s und in Analogic mit dem sebizothymen 
Charakter bedingt zu sein. Das lineare Geprage, das die bildnerischen 


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L. Stern-Piper: Kretschmers psycho-physische Typen 


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Darstellungen der Schizophrenen so haufig zeigen, durfte wohl nicht 
damit inBeziehung zu bringen sein. Es ist femer gewiB keinZufall, daBiT. 
bei der Ableitung und Schilderung der schizoiden bzw. schizothymen 
Charaktereigenschaften als Beispiele rein nordische oder stark nordischen' 
Einschlag aufweisende Personlichkeiten anftihrt, so Holderbn, Strind¬ 
berg, Uhland, Moltke, Ludwig II. von Bayern, Feuerbach, Tasso, 
Michel Angelo, den Dichter Lenz, Schiller und Platen. Von seinen 
angefuhrten speziellen Fallen ist der der Irene Hertel, die er als fein- 
sinnig-kiihlen Aristokratentypus bezeichnet, fur unsere Auffassung 
sehr verwertbar, da es sich bei ihr wie ihren beiden Briidern, einer 
schizophrenen und zwei schizothymen Personlichkeiten, wohl um eine 
ausgepragt nordische Geschwisterreihe handelt. Von Irene Hertel 
heiBt es, daB sie ,,eine atherisch durchsichtige, hell blonde Erscheinung 
mit schmaler Nase und blaugeaderten Schlafen“ ist, ihre Bewegungen 
sind ,,langsam, fein, aristokratisch, mit einzelnen eingestreuten Eckig- 
keiten . . . Sie hat etwas Fremdes und sehr Traumhaftes. Ihre Hand 
ist schmal, lang und allzu biegsam“. Also eine elfenhafte Gestalt wie 
aus einem nordischen Marchen oder einer Jakobsenschen Novelle. Der 
altere Bruder ist schlank, mit ,,langem, blassem, kiihlem Gesicht, pedan- 
tisch zugekndpft, formell, trocken, korrekt, sehr hdflich“, der jiingere 
Bruder gleich der Schwester hellblond, ,,von durehsichtigem Teint 
und zarten Gesichtsziigen, feinfuhlig, verbindlich“. Bei dem Madchen 
wie ihrem jiingeren Bruder finden sich also auch die Rassenmerkmale 
der blonden Haarfarbe und der weiBen durchsichtigcn Haut. DaB die 
Hellblonden, besonders wenn sie zugleich eine weiBe zart-durckschim- 
mernde Haut (nordische Eigenschaften) haben, im allgemeinen sen- 
si bier, hyperasthetischer sind, durfte ja wohl feststehen. 

Wir sehen aus dem Vorstehenden, daft 'parallel den Korperbau- 
formen die zyklothymen und schizothymen Charakterziige, so wie sie K. 
als normale seelische Gruppenmerkmale aus der zykloiden und schizoiden 
Wesensart entwickelt, mit der seelischen Eigenlumlichkeii der alpinen 
und nordischen Basse viel Beruhrungspunkte aufweisen, so daft es wohl 
moglich erscheint, die betreffenden psychophysischen Typen als Bassen- 
formen anzusprechen. Zykloid und schizoid sind danach nur Vergrobe- 
rungen der seelischen Eigenschaften verschiedener Rassen. Einen guten 
Beweis hierfiir durfte auch die Betrachtung der genialen Personlich- 
keiten abgeben, der K. in seinem Buche ein besonderes Kapitel ge 
widmet hat. Auf diese ubernormalen Personlichkeiten einzugehen, 
wiirde uns jedoch zu weit fiihren, auch besitze ich dazu zu wenig verschie- 
dene und einwandfreie Bildnisse. DaB unsere Darlegungen aber auch 
fiir sie zutreffen, gilt mir als gewiB, so z. B. das starkere Vertretensein 
von alpinen Bestandteilen bei denpyknisch-zyklothymenErzahlern, wie 
das Vorherrschen von nordischen bei den asthenisch-schizothymen 


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und die Rassenformen in Deutschland. 


597 


Romantikern und Dramatikern. Man wird dies auch bei der rassenmaBi- 
gen Betrachtung der einzelnen Volker und Volksteile, die hier in 
Betracht kommen, finden. Im vorhergehenden hatten wir iibrigens schon 
Gelegenheit, auf einzelne Geniale von diesem Gesichtspunkt aus hinzu- 
weisen; wir erinnern auch an die Gegemiberstellung von Hans Thorua und 
Anselm Feuerbach. Wenn wir kurz als Beispiel hier Schiller und Goethe 
anfuhren, so sehen wir auf der einen Seite einen asthenisch-schizothymen 
und zugleich sebr reinen nordischen Menschen, auf der anderen den 
schizothym-zyklothym stark gemischten, wie auch rassenmaBig weit- 
gehend legierten Goethe. 

Das Problem ist damit ein rassenpsychiatrisches geworden. Es 
muBte dem nach, falls K .s Behauptungen von den Beziehungen seiner 
Typen zu der Schizophrenic, bzw. dem Schizoid und dem manisch- 
depressiven Irresein durch geniigend zahlreiche Nachpriifungen an 
groBem Material sich als richtig erwiesen haben, untersucht werden, ob 
die alpine Basse sich zum manisch-depressiven Irresein besonders dis- 
poniert zeigt und andererseits die nordische zu dem Schizoid und viel- 
leicht auch zur Schizophrenic. Kloth, A. Meyer und Sioli haben an 
Bonner Material inzwischen if.s Resultate bestatigt 1 ). Einige, aller- 
dings nur sehr wenige Beobachtungen hegen vor, die fiir unsere Fragen 
im positiven Sinne verwertet werden konnten. So erwahnt Popper 
die starke Neigung der Deutsch-Bohmen zur Schizophrenic. Ganz be¬ 
sonders sind hier aber Ausfiihrungen von Rittershaus heranzuziehen. 
Dieser Autor beobachtete namlich zu seiner groBen Verwunderung bei 
seiner Gbersiedelung von Siid- nach Norddeutschland vor iiber 12 
Jahren eine nur geringe Zahl von Manisch-Depressiven in letzterer 
Gegend, und dabei waren diese Kranken haufig noch Siiddeutsche 
oder Polen. Eine wesentliche Anderung ist darin nach seiner Meinung 
auch jetzt nicht eingetreten, und er glaubt, daB ,,rassenbiologische 
Einfliis8e“ in Betracht kommen konnten, die ,,vielleicht nicht nur die 
Erscheinungsform, sondern auch die Art der Psychose zu beeinflussen" 
vermochten. Rittershaus halt es auch fiir moglich, daB die Kraepelin- 
schen Anschauungen aus diesem Grunde bei vielen norddeutschen 
Psychiatern erst nach langer Zeit Zustimmung fanden, und es ist ferner 
nach seiner Ansicht von Bedeutung, daB Heidelberg der Ausgangspunkt 
dieser Lehre war, und daB die Autoren, die sich ihr anschlossen, ihre 
Falle aus der siiddeutschen Bevolkerung nahmen. Goldstein hat laut 
miindlicher Mitteilung wahrend seiner Konigsberger Tatigkeit ganz 
ahnliche Erfahrungen wie Rittershaus gemacht. 

Eine Disposition der alpinen Basse zum manisch-depressiven Irre- 

-- I _ I L*1 T. 

J ) EuxUd fand an der Erlanger Klinik ein haufiges Zusamnientreffen von 
pyknischem Habitus und manisch-depressivem Irresein. 


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L. Stern-Piper: Kretschmers psycho-physische Typeu 


sein liegt nach alledem nahe 1 ); verschiedeneBeobachtungen lassen ferner 
darauf schlieBen, daB auch andere pigmentierte, sog. melanochrorue 
Rassen eine besondere Anlage zum manisch-depressiven Irresein be- 
sitzen. Auf der anderen Seite scheint die pigmentarme nordische Basse 
nicht zu dieser Erkrankung zu ncigen. Die normalen seelischen Eigen- 
schaften der beiden Rassen stehen nach unseren friiheren Betraeh- 
tungen damit in Einklang. Es miiBte daraus ein Zusammenhang 
zwischen Affektivitat und Pigmentierung gefolgert werden, wobei man 
nach den heute bestehenden Anschauungen als Bindeglied an die 
Leistung von innersekretorischen Driisen denken konnte. GeruaB der 
seelischen Eigenart der nordischen Rasse durften sich bei ihr besonder.s 
hiiufig schizoide Personlichkeiten vorfinden, wofiir auch das Vorhanden- 
sein der vielen schizoiden Genialen nordischer Rasse, wie sie auch K. 
in scinem Buche anfiihrt, zu sprechen scheint. Eine Neigung der nor¬ 
dischen Rasse, auBer zum Schizoid, auch zur Schizophrenic konnte 
inoglicherweise eine nur relative, scheinbar vorhandcne sein, bedingt 
(lurch das geringe Vertretensein des zirkularen IiTeseins bei ihr. A her 
ganz abgeschen von der Fragc nach der Schizophreniedisposition der 
nordischen Rasse durften die Krankheitsbilder ihrer Schizophrenien 
starker und in reinerer Form die schizoiden Merkmale zeigen, bei der 
alpinen Rasse dagegen die Beimengung des zyklothymen Faktors ver- 
schleiernd wirken. Daher scheint es auch zu kommen, daB so zahlreiche 
schizophrene Dichter und Kiinstler nordischer Rasse, wie Strindberg, 
Holderlin und van Gogh — die Schizophrenic des letzteren wire! aller- 
clings von Birnbaum bestritten — in der Literatur der letzten Zeit, 
so von Kretschmer, Storch und besonders von Jaspers, als besonders 
gut ausgepragte schizophrene Tyj)en analysiert wurdeit. 

Dadurch, daB wir unsere Bevolkeiung, v r ie die der europaischen 
Volker uberhaupt, in ihre einzelnen rassenmaBigen Bestandteile sondern 
und diese getrennt betrachten, haben wir gute Forschungsobjekte vor 
uns, um die Frage nach der Becleutung der Rasse fiir die Art der geistigen 
Erkrankung zu beantworten. Die zwei Wege, die methodisch dabei 
eingeschlagen werden konnen, sind folgende: Erstens konnen Volker 
oder Volksteile, die rassenmaBig nach bestimmten Seiten stark 
abweichen, und zweitens einzelne durcli ihre Rasse gut gekennzeichnete 
Personlichkeiten Ijetraehtet und miteinander vergliehen werden. DaB 
es sich dabei um !Massenuntersuchungen, um groBe Zahlen liandeln 
muB, ist selbstverstandlich. Durch ein gleiches oder ahnliches Ver- 

') Nach meinen, sich allerdings auf noch keine sehr grolie Anzahl von Fallen 
erstreckcnden Beobachtungen an dem Material der hiesigen Anstalt handelt, es 
sich bei den Manisch-Depressiven, abgesehen von Juden, groBenteils um alpine 
Menschen und besondere um alpin-nordische Mischlinge. Ich behalte mir vor, 
spater ausfuhrlich dariilrer zu berichten. 


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und die Rassenformen in Deutschland. 


599 


halten mancher Rassen, wie es bei der zykloiden Reaktion der pigmen- 
tierten zu bestehen scheint, licCe sich aucb die Aufstellung von einzelnen 
Grappen ermoglichen. Die Bedeutung der Rassenmischung kbnnte 
dabei ebenfalls gewiirdigt werden. Hier haben wir es auch in der Hand, 
die einzelnen Faktoren des Kulturkreises auszuschalten. 


Literatur. 

Bauer: Konstitutionelle Disposition zu inneren Erkrankungen. Berlin 1917. 
— Baur, Fischer, Lenz: Menscldiche Erbliclikeitslehre. Miinchen 1921. — Birn- 
baum: Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 77, 3. u. 4. H. 1922. — Bleuler: 
Dementia praecox im Handbueh d. Psychiatrie. Leipzig 1911. — Bleuler: Be- 
sprechung von Kretschmers ,,Korperbau und Charakter". Miinch. med. Wochen- 
schr. 1921, Nr. 33. — Beringer u. Diiser: Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 
69. 1921. — Burnke: tlber nervose Entartung. Berlin 1912. — Bumke: Die Pupillen- 
storungen bei Geistes- u. Nervenkrankheiten. 2. Aufl. Jena 1911. — Bumke 
u. Kekrer: Archiv f. Psychiatrie. 47. 1910. — Ewald: Zeitschr. f. d. ges. 
Neurol, u. Psychiatr. 77, 3. u. 4. H. 1922. — Fischer: Zeitschr. f. Morphol. 
u. Anthropol. 18. 1914. — Frets: Heredity of Headform in Man. 1921. — Hagen: 
Deutsches Sehen. Miinchen 1920. — Jaspers: Strindberg u. van Gogh. Leipzig 
1922. — de Jong: Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 69. 1921. — Kahn: 
Bemerkungen zur Frage des Schizoids, ref. Zentralbl. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 
26, 567. 1921. - - Kahn: Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 57. 1920. — 
Kauffmann: Klin. Wochenschr. 1922, Nr. 39. — Klolh, A. Meyer u. Sioli: Vers, 
d. psych. Ver. d. Rheinprov. 19. XI. 21. Autoreferat. — Kretschmer: Korperbau 
u. Charakter. Berlin 1921, 2. Aufl. 1922. — Kretschmer: Miinch. med. Wochenschr. 
1922, Nr. 4. — Kretschmer: Klin. Wochenschr. 1922, Nr. 13. — Kiippers: Zeitschr. 
f. cL ges. Neurol, u. Psychiatr. 16. 1913. — Martin: Lehrbuch der Anthropologie. 
Jena 1914. — Mbbius: t)ber die Anlage zur Mathematik. Leipzig 1900. — Paulsen-. 
Korrespbl. d. dtsch. Ges. f. Anthropol., Ethnol. u. Urgesch. XLIX. Jg. Nr. 1/4. 
1918. — Pfaundler: Klin. Wochenschr. Nr. 17. 1922. — Popper: Zeitschr. f. d. ges. 
Neurol, u. Psychiatr. 62. 1920. — Ranschenberger: Die charakterologische u. 
Rasse-Bedeutung der Adlernase. Frankfurt a. M. 1922. — Rehni: Das manisch- 
melancholische Irresein. Berlin 1919. — Ripley: The races of Europe. 2. Aufl. 
London 1912. — Rittershaus: Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 72. 1921. — 
Scheldt: Miinch. med. Wochenschr. Nr. 51. 1921. — Siemens: Einfiihrung in d. 
allg. Konstitutions- u. Vererbungspathologie. Berlin 1921. — Stern: Kulturkreis 
u. Form der geistigen Erkrankung. Halle 1913. — Storch: Strindberg im Lichte 
seiner Selbstbiographie. Miinchen 1921. — Strohmayer: Zeitschr. f. d. ges. Neurol, 
u. Psychiatr. 77, 4. H. 1922. — Wuth: Konstitution u. endokrines System. Miinch. 
med. Wochenschr. Nr. 11. 1922. 


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Zur Frage fiber den Mechanismus der (sogenannten Wurzel-) 
Neuralgie des N. ischiadicus. 


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(Stormigen der Sensibilitat, der Re !exe, der motorischen und trophischen Sphare 
unter dem Einflusse hemmender und anbahnender Stimuli, we.che von den Or- 
ganen des ldeinen Beckens herriihren.) 

Von 

Ordentl. Prof. Michael Lapinsky, 

in Zagreb (Agram) (vormals in Kiew, RuBland). 

Mit 8 Textabbildungen. 

(Eingegangen am 24. Oktober 1922.) 

Mit dem Worte Neuralgie sind wir gewohnt die Schmerzen zu be- 
zeichnen, die auf das Gebiet eines gewissen Nervs begrenzt sind. Diese 
Schmerzen zeigen sich in Anf&llen, erreichen in denselben ihren Hohe- 
punkt, zeichnen sich durch eine Steigerung, durch ein Stadium des 
Nachlastens und einen schmerzen,sfreien Interval! aus. 

Nach den Angaben, die von Hardy* 6 ), Valleix 107 ), Fernet 3 *), 
Axdnfeld 1 ), Huchard 1 ), Romberg 63 ) und anderen f estgestellt wurden, 
bleibt (bei der objektiven Untersuchung) die grobe Kraft, die Reflexe, 
die Sensibilitat und die Ernahrung der Muskulatur im Gebiete des be- 
troffenen Nervs intakt. Die von der Neuralgie befallenen Nerven- 
st&mme zeigen bei dem Drucke auf gewisse Stellen eine groBe Empfind- 
lichkeit (die Punkte von Valleix). Dabei sind keine organischen Ver- 
anderungen der Nervenfasern gefunden worden, infolgedessen wird die 
Neuralgie zu den funktionellen Neurosen gerechnet. 

I. 

Was die Neuralgie des N. ischiadicus betrifft, — das Leiden, das 
nach Cotugno M ) ,,Ischias“ (1764) genannt wird, — so werden mit 
diesem Ausdruck mehrere typische Symptome gemeint. 

Dazu gehoren namlich: erstens, Schmerzen, die in Anfallen ver- 
laufen und sich hauptsachlich auf der inneren Flache der unteren 
Extremitat entwickeln. Zweitens wird die Empfindlichkeit beim 
Drucke a) neben Spina ilei posterior., b) an der Stelle, wo der N. ischia¬ 
dicus aus Incisura ischiadica major heraustritt, c) auf dem Stamme des 
N. ischiadici entlang, am unteren Rande des M. gluteus maximus, 


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M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechaniamus usw. 


601 


d) im Verlaufe desselben Stammes zwischen dem Trochanter major 
und dem Tuber ischii, e)*unter dem Capitulum fibulae, f) neben dem 
Malleolus internus usw. fur die Ischias charakteristisch betrachtet. 

Drittens ist fiir die Ischias der Schmerz, der in der unteren Extremi¬ 
tat beim Hinaufheben des ausgestreckten Being hervorgebracht wird, 
maOgebend. (Symptom Lasegue.) 

Viertens wird zu den Ischiassymptomen die skoliotische Kriimmung 
des Riickgrates (zwar eine nicht selten vorkommende Komplikation) 
gerechnet. 

AuBer diesen Symptomen finden wir in der franzosischen Literatur 
den Versuch, ein weiteres Symptom fiir Ischias in Betracht zu ziehen, 
namlich die Schmerzen im Ischiadicus beim Niesen (symptom de 
l’eternuement von Sicard 91 ), ein Symptom, das sich iibrigens auch bei 
jeder anderen Neuralgie (z. B. bei intercostaler, Trigeminus-Neuralgie 
usw.) vorfindet. Spater stand Sicard selbst von seinem Symptom ab, 
da er fand, daB beim Niesen und Husten nicht der N. ischiadicus, 
sondern Nervenbiindel und Cerebrospinalfliissigkeit erschiittert werden 
(,,Le reveil aigue de la douleur sous l’influence de la secousse de toux, 
de l’eternuement, n’a pas de valeur specifique, puisque le choc de la 
masse intestinalle sur les troncs funiculaires peut etre responsable de 
ce reveil paroxismatique aussi bien que le choc du liquide cephalo- 
rachidieux sur les racines.“ p. 288). 

Die elektrische Reaktion des N. ischiadici, die Reflexe, sowie die 
raotorische Sphaera, die Ernahrung der Muskeln und die Sensibilitat 
bleilxen in den typischen Fallen unverandert, so daB man die Ischias 
zu den Neurosen, d. h. den Morbi sine materia rechnet. 

Diese Behauptungen, die noch vor kurzem als unbestreitbar ge- 
golten hatten, wurden in den letzten Jahren einer Priifung unterzogen, 
wobei von mehreren Autoren im klinischen Bilde der Ischias neue 
Symptome notiert wurden, — Symptome sog. Ischias radicularis, die 
danach streben, das neue klinische Bild aus der Reihe der Neurosen 
auszuschlieBen und sie unter die organischen Leiden einzureihen. 

Lortat, Jacob, Sabareanu 63 ), 64 ), 65 ) behaupten namlich, nachdem 
sie bei ihren Ischiaskranken Sensibilitatsstorungen festgestellt hatten, 
daB die Lokalisation dieser Storungen bei Ischias eine atiologische 
Beziehung zu den Wurzeln des Riickenmarkes hat. Darum schlagen 
sie solche Falle vor (zum Unterschied von der ,,Stamm-“, oder ,,Biindel- 
ischias“) als ,,Wurzelischias“ zu bezeichnen. 

Diese Autoren finden, daB in solchen Fallen der Ischias die Anasthe- 
sie- oder Hyperasthesieflachen eine Form von langen Streifen haben, 
die die vordere oder riickwartige Flache der unteren Extremitat ein- 
nehmen, wobei die Achse dieser Flachen mit der langlichen Achse der 
Extremitat zusammenfallt. Sie betonen, daB die Konturen veranderter 


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602 


M. La pi ns ky: Zur Frage iiber den Mechanismus der 


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Sensibilitat der Form und der Ausdehnung einzelner Zweige des N. 
ischiadicus nicht entsprechen. Diese Flache unterscheidet sich ebenfalls 
auch von den Anasthesiefiguren, die sich bei der Neuritis entwickeln; 
bei derselben erscheint namlich die Sensibilitat nur in den Distalteilen 
herabgesetzt, die Proximalgebiete dagegen konnen aber ganz unver- 
andert bleiben. Lariat, Jacob, Sabareanu iiberzeugten sich auch, daB 
die Topographie einer solchen veranderten Sensibilitat den Schemen 
Thornburns, Kochers, Ross' und anderer genau entspricht. In ihrem 
ersten Falle der Ischias haben Lortat, Jacob , Sabareanu die Beeintrach- 
tigung der Sensibilitat iin 1., II., III., IV. und V. L. und im I., II. S. 
beobachtet, wahrend die Sensibilitat am III. S. normal blieb. Im zweiten 
Falle der Ischias finden sie Stoning der Sensibilitat in den Flachen des 
V. L. und I., II., III. S. 

Gaucler-Roussy 40 ) beschreiben einen Ischiasfall, bei dem die Sen¬ 
sibilitat in den Gebieten des II., IV. und V. L. zerstort. war. Im 5. und 
6. Ischiasfalle dieser Autoren war die Sensibilitat in den Gebieten des 
V. L. und I., II., III. S. beeintrachtigt. In den Fallen von Cavazenni 21 ) 
ist die Sensibilitat bei der bchias in den Gebieten des I. und II. S. ge- 
schwacht. Das Gebiet des V. L. befand sich in normalem Zustande, 
das des II., III. und IV. L. war aber mil Big herabgesetzt. Das Gebiet 
des I. L. befand sich dagegen im Zustande einer Hyperasthesie. Im 
8. Falle von Cavazenni war die Sensibilitat im Gebiete des IV. und V. L. 
herabgesetzt. Im 9. Falle desselben Forschers fand man die Sensibili¬ 
tat in den Gebieten des IV. und V. L. verandert. 

Bousset 3 ) fand bei seinen Ischiasfallen nicht nur eine Herabsetzung, 
sondern ein vollkommenes Ausbleiben der Sensibilitat an der leidenden 
Extremitat. Martinet 1 ' 1 ) beobachtete ebenfalls eine Verminderung der 
Sensibilitat bei der Ischias. 

Notta 16 ) fand bei dreien seiner Patienten eine Verminderung der 
Sensibilitat in Form einzelner, unregelmaBig geformten Flachen; dabei 
konstatierte er aber den Ausfall der Empfindlichkeit nicht auf dem 
ganzen Ausbreitungsgebiete des N. ischiadicus, sondern nur an einigen 
Stellen seiner Ausdehnung. Trousseau ") betont in seinen Vortragen 
iiber die Neuralgic wiederholt Stoningen der Sensibilitat bei der Ischias 
gefunden zu haben. Er beobachtet in seinen Fallen eine Hyperasthesie, 
die sich spater in eine Anasthesie verwandelte. 

Hubert-Valleroux**), die sich auf ihre eigenen Beobachtungen und 
auf literarische Angaben stiitzten, auBerten sich ziemlich ausdriicklich, 
daB bei der Ischias die Sensibilitat „immer“ verandert sei. 

Homolle 45 ) findet bei Ischias die Sensibilitiitsstbrung in Form einer 
Anasthesie. Doch erstreckte sich diese Verminderung der Empfind¬ 
lichkeit nicht auf die hintere Flache des Beines, auch nicht auf das 
Grenzgebiet des N. ischiadicus, sondern auf die vordere und innere 


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(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des N. ischiadicus. 


603 


Flache des Oberschenkels, im Gebiete also, das von den NN. cruralis 
und obturatorius versorgt wird. 

Phulpin 87 ) findet bei seinen Ischiasfallen eine Storung der Sensi¬ 
bilitat in einzelnen Flachen, wobei sich neben den Flachen, die sich 
durch vollige Anasthesie auszeichnen, Flachen mit Hypasthesie oder 
ganz normaler Sensibilitat vorfinden. Der Unterschied zwischen dieser 
Anasthesie und jener hysterisehen Urspmngs zeigt sich, der Meinung 
dieses Autors nach, dadurch, dab diese Flachen mit veranderter 
Sensibilitat sehr unregelmabige Formen haben und sich durch un- 
bestimmte Umrisse charakterisieren. 

Dubarry 24 ), 25 ) behauptet, dab die Sensibilitatsstorungen bei 
Ischias nicht in den Rah men der topograph ischen Grenzen peripherischer 
Nerven hineinpassen, sich aber als einzelne Inseln ausbreiten, oder ein 
gewisses Segment der Extremitat oder dessen ganze Oberflache ein- 
nehmen. Dieser Forscher iiberzeugte sich, dab der Ausfall der Sensibili¬ 
tat ohne Veranderung der Muskulatur und ohne Storung der reflek- 
torischen Tatigkeit verlaufen kann. Offenbar stimmte in diesen Fallen 
die Herabsetzung der Empfindlichkeit mit dem Ausbreitungsgebiete 
des N. ischiadicus nicht iiberein. 

Brouadel, Gilbert , Pitres, Vaillard *) behaupteten, dab bei der Ischias 
die Sensibilitat der Haut an der leidenden Extremitat Storungen von 
verschiedener Intensitat und dabei von verschiedener Topographie 
und Ausdehnung, von den kleinsten Inseln bis zu den grobten Flachen, 
die oft die ganze Oberflache der Extremitat umfassen, zeigen kann. 

Haitian* 3 ) findet, dab die Hautsensibilitat bei der Ischias sehr 
oft gestort ist. Manchmal finden sich Flecken einer tiefsten Anasthesie 
vor; seltener dagegen trifft man eine Hyperasthesie. 

In ersteren Fallen der Ischias breitet sich die Anasthesie auf grobere 
Flhchen aus. Usw. usw. 

Auf Grund solcher Befunde entstand eine Meinung, dab die Ur- 
sache der Ischias in einem Leiden der Wurzeln zu suchen ist. 

Krahulick 28 ) nimmt an, dab die Ischias eine Erkrankung der 
Wurzeln sei. Romberg 31 ) ist der Meinung, dab bei der Ischias nicht der 
Stamm, sondern seine Wurzeln leidend sind. 

Die Ursache der Sensibilitatsstorung findet Strusberg 96 ) in der 
organischen Veranderung der Wurzeln oder der peripherischen Nerven 
(und schliebt in solehen Fallen jeden Anted des Riickenmarkes aus, 
S. 1779). 

In den Beschreibungen dieser Autoren wird erwahnt, dab gleich- 
zeitig mit der Storung der Hautempfindlichkeit bei der Ischias radicularis 
sich auch die Sehnen- und Hautreflexe, die entweder gesteigert oder 
beeintrachtigt sind, oder ganz fehlen, verandern konnen. Ofters kenn- 
zeichnen sich solche Fade durch Abmagerung der Extremitat und Ab- 
Archlv fiir Psychiatric-. Bd. 67. 40 


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604 


M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechanismua der 


nehmen der groben Kraft. Alle diese verschiedenen Symptome werden 
von den Forschern zu einem der Ischias gehorigen Bilde vereinigt. 
Die Ursache dieser Storungen, d. h. der Ischias radicularis, wird in 
einer organischen Erkrankung der Wurzeln (gewohnlich Lepto-pachi- 
meningitis caudae equinae oder raedullae spinalis) gesucht. 

Dieser Meinung ist z. B. auch Dobrocholoff 28 ), der in alien seinen 
Ischiasf alien ein Leiden der Riickenrnarkhullen sieht. Dobrochotoff 
beruft sich dabei auf Nageotle 7B ), 81 ) und Sinel 7 ), die behaupten, daB 
die Tunica arachnoidea, indem sie auf die Wurzeln iibergeht, um dieselbe 
herum eine Duplikatur, eine tiefe Falte oder gar einen Sack, bildet, 
der an der hinteren Wurzel tiefer und langer ist als an der vorderen, 
wobei die in diesem Sacke sich ansammelnde cerebrospinale Fliissigkeit 
die Wurzeln vergiftet und zu ihrer Erkrankung beitragt. 

Sicard 76b ), der die Ischias radicularis ebenso anerkennt, unter- 
scheidet sich von diesen Autoren dadurch, daB er vora Standpunkte 
der pathologischen Anatomie an einer intrameningealen Erkrankung 
der Wurzeln zweifelt, schreibt aber eine groBe Bedeutung in dieser 
Beziehung der extrameningealen Erkrankung zu, welchen ProzeB er 
mit der Benennung ,,funiculitis“ belegt. 

Dejerine 31 ) (S. 94) sieht die Ursache der Ischias radicularis in einer 
Erkrankung der Wurzeln im Inneren der Dura mater. Auf andere Weise 
ware, seiner Meinung nach, schwer zu erklaren, warum die motorischen 
nicht g'leichzeitig mit den sensorischen Fasern, sondern nur die senso- 
rischen allein, angegriffen sind. In seinem Vorworte zu der Arbeit 
von Camus setzt Dejerine seine Betrachtungsweise iiber die Radiculitis 
als einen materiellen ProzeB auseinander. Er hielt diese Erkrankung 
fur eine organische Veranderung der Riickenmarkwurzel, die durch eine 
primare Erkrankung der Ruckenmarkshiillen hauptsachlich bei den 
Luetikern verursacht sind (siehe S. 3). 

Dufourt 32 ) hat einen Fall der Radiculitis beobachtet, der sich 
infolge der Tuberkulose der Wirbelsaule entwickelte. 

Laignel-Lavastinc et Verliac") sahen einen Fall von sklerotischer, 
syphilitischer Meningitis, infolge derer eine Einklemmung und Ent- 
ziindung der Wurzeln an der Stelle des Durchganges durch die Dura 
mater stattfand. Die Querschnitte dieser Wurzeln zeigten unter dem 
Miskroskop eine Zelleninfiltration, Entziindung.sherde, Riesenzellen, 
Myellinschwund, Erscheinungen von Endo- und Periarteriitis. Im 
Riickenmarke selbst entwickelten sich in diesem Falle sekundare resp. 
konsekutive aufsteigende Fasernentartungcn. 

Uber sekundare Veranderungen im Riickenmarke bei Radiculitis 
besteht eine griindliche Untersuchung von Thomas 101 ), 102 ) und Na- 
geotte 79 ), 80 ), die bei Radiculitis diese Veranderungen in den Strangen 
von Burdach und Gall in Medulla oblongata konstatierten. 


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(sogenannten Wurzel-)Neuralgic des N. ischiadicus. 


605 


Camus 22 ) findet, daB die Lues die haufigste Ursache der Radicu¬ 
litis, und zwar in ihrem tertiellen Stadium (S. 107) ist. Fast immer fin- 
dot in diesem Falle die Syphilis ihren Vermittler in den Hiillen des 
Riickenmarkes, die, indem sie entziindlich infiltriert und sklerosiert 
sind, die Wurzeln zerstoren. Die zweite Ursache, nach Beispielen haufi- 
gen Vorkommens, ist die Tuberkulose, wobei ohne primare Veranderun- 
gen der Knochen zuerst die Riickenmarkhaute von der kaseosen oder 
fibroken Pachimeningitis oder Leptomeningitis getroffen sind. 

Ellinger 30 ) hat sich iiberzeugt, daB bei Syphilis und bei Tuberkulose 
eine skler&e Leptomeningitis, Arachnoiditis und Verdickung der Dura 
mater stattfindet. Die Verdickung und Infiltration der Riickenmark¬ 
haute erscheint als haufigste Folge von Tuberkulose und Syphilis. 
Nach den Forschungen 32 ) von Lanceraux, Westfall, Eisenlohr, Charcot- 
Joffroy, William und Osier ist auch eine solche Pachimeningitis die Ur¬ 
sache der entziindlichen Veranderungen in den Wurzeln. 

Klippel und Dainiille") haben in einem Falle akuter Meningitis, 
im Laufe derer die Wurzeln durch die bindegewebigen Umschnurungen 
zusammengepreBt waren, die Infiltration der Wurzeln durch junge 
Gewebe gesehen. 

Man beobachtete auBerdem ein isoliertes Betroffensein der Spinal- 
wurzeln, ohne daB auch Riickenmarkshiillen infiltriert waren. So z. B. 
sahen Widal und Le Sourd 109 ) bei normalen Riickenmarkshauten eine 
Wurzelinfiltration, ein entziindliches Exsudat innerhalb der betrcffen- 
den Wurzeln, Sklerose und Degeneration der Achsencylinder. 

Die dritte Stelle in der Atiologie von Radiculitis nimmt die Gruppe 
solcher Krankheiten, wie: Rheumatismus, Gonorrhoea, puerperale 
Krankheiten, Influenza, Dysenterie, Parotitis, Erisipelas, epidemische 
Cerebrospinalmeningitis. Bei Bleivergiftungen ist auch Radiculitis 
beobachtet worden. 

Wahrend des infektiosen Betroffenseins der Spinalwuirzeln erschei- 
nen diese roscnkranzartig angeschwollen. Der entzundliche ProzeB 
verbreitet sich da bei im Endonervium der Wurzel, wachst durch 
den Querschnitt derselben und dehnt dabei ilire Hiillen ungleichmaBig 
aus ( Nageotte-Richet 8l ). Auf den Querschnitten solcher Wurzeln sieht 
man dann Leukocyteninfiltration des Wurzelgewebes, Entwicklung des 
embryonalen Gewebes, und andererseits Myelinbrocken, Schwellungen 
und Zerstorungen der Achsencylinder. Die Perinerviumschichten sind 
an diesen Stellen ebenso stark verdickt. AuBerdem sieht man manchmal 
GefaBveranderungen in Form von Endoarteriitis und Endophlebitis, 
Wucherungen des embryonalen Gewebes den Gef&Ben entlang (DeMas- 
sory 70 ) usw. 

Camus 22 ) findet, daB die Muskelatrophie bei Radiculitis an eine 
solche bei Erkrankungen der Spinalzentren erinnert. Manchmal kann 

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M. Lapinsky: Zur Frage tiber den MeehanLsraus der 


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sich dabei z. B. Mai perforant, Knochenhypertrophie usw. entwickeln. 
Camus- 0 ) glaubt, dab die Radiculitis vom pathologisch-anatomischen 
Standpunkte aus viel Allgemeines mit den Polyneuritiden hat 
(S. 98). Von anderer Seite aber zeigen die auf die pathologische Anatomie 
fuBenden Beobachtungen dieses Autors, dab die Symptome von Radi¬ 
culitis sich auch bei lokalem Betroffensein der Hinterhorner entwickeln 
konnen (L'Anatomie pathologique . . . montre . . . des syndromes radi- 
culaires purs par lesions, limitees aux cornes posterieures, p. 103), infolge- 
dessen ist in den Fallen, wo die klinische Diagnose auf Radiculitis 
lautete, in Wirklichkeit nichts anderes, als eine Affektion der Hinter¬ 
horner gewesen. Gbrigens zeigen auch die pathologo-anatomischen 
Forschungen anderer Autoren, dab bei Radiculitis folgerichtige Ver¬ 
anderungen im Riickenmarke — namlich in den sensorischen resp. 
zentripetalen Bahnen — beobachtet worden sind ( Laignel-Lavastine 69a ), 
Nageotte 72 ), So ), Thomas 101 ), 102 ). Demzufolge wird das reine klinische 
Bild von Radiculitis durch die sich hier hinzufiigenden Veranderungen 
im Riickenmarke verwischt. 

Auf diese Weise wollen die Autoren aus der allgemeinen Gmppe 
der Ischiadicusneuralgie eine Wurzelneuralgie desselben Nervs ab- 
sondern, die man keinesfalls als Neurose betrachten kann, sondern selbe 
in die Zahl der organischen Erkrankungen rechnen mub. In atiolo- 
gischer Beziehung steht diese Form in nachster Verbindung mit Lues, 
Tuberkulose, Meningitis und verschiedenen infektiosen Erkrankungen, 
die von den plastischen Prozessen begleitet werden. Vom Gesichts- 
punkte der pathologischen Anatomie aus entwickeln sich diese Erkran¬ 
kungen in den Wurzeln des Plexus lumbo-sacralis. Das klinische Bild 
dieser radicularen Neuralgie charakterisiert sich subjektiv durch typi- 
sche Schmerzen, objektiv durch eine Veranderung der Sensibilitat, 
der Reflexe, der inotorischen und trophischen Sphare. In therapeu- 
tischer Beziehung erreicht man vorziigliche Erfolge durch Anwendung 
spezifischer, d. h. antiluetischer Thera pie. 

Diese neue Anschauung unterscheidet sich wesentlich von den in 
dieser Beziehung jetzt herrschenden Betrachtungen. Indem man bis 
jetzt die Lschias fur eine peripherische Neurose ohne pathologo-anato- 
mische Veranderungen der Nervenstamme hielt, wird die radiculare 
Neuralgie fur die Folge einer organischen Veranderung derselben ge- 
halten. Dieser Prozeb als solcher entwickelt sich aber nicht mehr in 
der Peripherie und iiberhaupt nicht mehr im Gebiete einer Extremitat, 
sondern innerhalbdesRiickgratkanals. Die Autoren, dieeinenorganischen 
Prozeb im Grunde dieser Erkrankung anerkennen, lokalisieren diesen 
letzteren sehr genau in den spinalen Wurzeln und sehen dessen erste 
Ursache in der Erkrankung der weichen oder liarten Hiillen des Riicken- 
markes. Da dieser crganische Prozeb entweder die Nervenfasern in den 


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(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des X. ischiadicus. 


607 


Wurzeln vollkoramen vernichtet oder nur bis auf Verlust ihrer Funk- 
tion zusammenschnurt, auBern sich die Folgen dieser Erkrankung 
auBer den Schmerzen, die sich in die Peripherie projizieren, noch auch 
in anderen Symptomen, die von dem Verlaufe der zentripetalen und 
zentrifugalen Fasern in den Wurzeln abhangig sind. Die Erkrankung 
der ersteren bringt den Verlust der Reflexe und der Sensibilitat mit sich, 
weil erstens in den hinteren Wurzeln dor zentripetale Teil des Reflex- 
bogens verlauft, und zweitens ebenda auch Fasern liegen, die dem 
BewuBtsein Mitteilungen iiber Schmerzen, Temperatur, Druck, Beriih- 
rungsempfindungen, Muskelgefuhl usw. bringen. Eine Erkrankung 
der zentripetalen und zentrifugalen Fasern wird aber also von einer 
Veranderung der Reflexe, der Motilitat, der Muskelatrophie und der 
elektrischen Reaktion begleitet, weil der zentrifugale Teil des Reflex- 
begens durch vordere Spinal wurzeln verlauft, und da sich eben da jene 
Fasern befinden, die willkiirliche Beweguncen verrichten und trophische 
Impulse erzeugen. Da die vermutete Erkrankung der Riickenmarks- 
htillen zum Betroffensein einzelner Wurzeln fiihrt, muB sich das 
klinische Bild durch den Ausfall samtlicher soeben aufgezahlter Funk- 
tionen, aber nur im Verbreitungsgebiete dieser Wurzeln, iiuBern. Was 
aber die Sensibilitat betrifft, so massen infolgedessen Streifen auf der 
Haut der Extremitaten entstehen, auf denen die Sensibilitat vollkommen 
fehlt oder bloB herabgesetzt ist, namlich den Schemen von Kocher, 
Thomburn, Seifert, Strieker 9 *) und anderer entsprechend, die solche 
Streifen und Figuren des Sensibilitatsausfalles beim Betroffensein ein¬ 
zelner Riickenmarkssegmente, oder ihrer Vertreter, d. h. einzelner 
Wurzeln, gefunden und begriindet haben. 

Indem die Autoren ein neues Krankheitsbild schufen, befriedigten 
sic nicht jene Anspriiche, die an dieses neue Syndrom gestellt werden 
konnten und losten nicht die Zweifel, die auch schon vor der Schopfung 
der neuen Lehre bestanden. Da die Autoren auf das alte klinische Bild 
der Ischias nicht verzicliteten, so ware es vom anatomischen Stand- 
punkte aus moglich, je nach denAusbreitungsgebieten dreiLschiasformen, 
und zwar eine Neuralgie des Nervenstammes, eine Neuralgie der Zweige 
des N. ischiadicus und eine Ischias radicularis abzugrenzen. 

Am naturlichsten ware also in dieser Beziehung die Behauptung, 
daB die Neuralgie des Ischiadicusstammes eine Erkrankung einer Strecke 
des Stammes N. ischiadici sei, und zwar von dem Punkte dieses Nervs 
oberhalb des Knies an, wo seine peripherischen Zw r eige bereits in den 
Stamm getreten sind, bis oberhalb des Collum femoris, wo dieser Stamm 
sich in seine Wurzeln ergieBt. Bei den Schmerzen auf dem Unterschenkel 
sollte man von der (Peroneus oder Tibialis) Neuralgie der Zw'eige 
sprechen. Die schmerzhaften Empfindungen, die sich oberhalb des 
Collum femoris lokalisieren, d. h. dort, wo der Stamm des Ischiadicus 


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8 


M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechanistnus der 


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seine einzelnen Wurzeln aufnimmt, sollten als Wurzelneuralgie be- 
zeichnet werden. 

Da die Wurzeln dieses Nerven sich in breiter Facherform frei in das 
Gebiet des kleinen Beckons vertiefen und dann in das Gebiet des Riick- 
gratkanales wetter in den Sack der Dura mater treten, hatte man die 
Moglichkeit, iiber die Neuralgie der Ischiadicuswurzeln in den Grenzen 
des kleinen Beckens, iiber eine solche in den Foramina intervertebralia, 
iiber die Wurzelneuralgie des N. ischiadicus im Gebiete des Riickgrat- 
kanales, der Lange der Dura et Pia mater nach usw. zu sprechen. Bei 
tier Diagnose der Wurzelneuralgie miiBte man also verschiedene Lokali- 
sationen dieses Prozesses seiner Lange nach, vom Collum femoris an 
bis zum Riickenmarke, d. h. im Gebiete des kleinen Beckens, in den 
Foramina intervertebralia, in dem Ruckgratkanale und in den Sacken 
der Dura et Pia mater zu differenzieren verstehen. 

Gegen eine solche Annahme sprechen aber Untersuchungen Stoffels, 
die zeigten, daB N. ischiadicus nicht seiner Lange, sondern seines Quer- 
schnittes nach in einzelne Teile zerlegbar ist. Stoffel 960 ) wendete nam- 
lich an Leichen ein besonderes Mittel der Nervenpraparierung an, indem 
er einen Glasring auf einzelne sensible Hautzweige der hinteren Extremi- 
tat zog, und diesen Ring der ganzen Lange des N. ischiadicus nach 
hinaufschob. Er iiberzeugte sich dabei, daB die sensiblen Faden dieses 
Nervs uberall von den motorischen Fasern getrennt sind. Was die 
sensiblen (Haut-) Zweige des N. ischiadicus anbelangt, so bildet jeder 
derselben, da er iiber eine eigene Lokalisation im Querschnitt des Nervs 
und in der Haut an der Peripherie verfiigt, ein selbstiindiges Biindel, 
das man von dem angegebenen Hautgebiete der unteren Extremitat- 
iiber den ganzen Plexus sacralis bis zu dem Riickenmarke verfolgen 
kann. 

Dies findet Stoffel auch in bezug auf die Nervenzweige, die nicht 
Bestandteile des N. ischiadicus sind. Man kann sie ebenfalls als einzelne 
Biindel durch verschiedene Wurzelgeflechte bis zu dem Riickenmarke 
verfolgen; ebensolche selbstandige Biindel stellen z. B. infolgedessen 
dar: die NN. clunei inferior et medius, die die Haut des GesaBes ver- 
sorgcn, und N. cutaneus femoris posterior, der iiber die Hautempfind- 
lichkeit der hinteren Hiiftenflache verfiigt, wie auch N. cutaneus 
surae medialis, N. cutaneus surae lateralis, N. suralis, die letzten Zweige 
der NN. peronei profundi et superficialis und NN. plantares. 

Stoffel behauptet, daB nur die sensiblen Fasern, keinesfalls aber die 
motorischen Faden des N. ischiadicus, im Ischiasprozesse einen Anted 
haben. Seiner Meinung nach'bildet der N. ischiadicus keinen fest zu- 
sammenhangenden Nervenstamm, sondern ein loses Geflecht einzelner 
Biindel, und zwar von verschiedenen Funktionen, die nur mechanisch 
zu einem Ganzen verbunden sind. Infolgedessen gibt es, seiner Behaup- 


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(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des N. ischiadicus. 


609 


tung nach, keine Neuralgie des ganzen Ischiadicusstammes, sondern nur 
die Neuralgie einzelner Biindel, die diesen Nerv bilden. 

Das Abgrenzen der Ischias stellte vom anatomischen Standpunkte 
aus auch friiher manche Schwierigkeiten dar. 

Cotugno 20 ), der das Bild der Ischias feststellte und sich dabei haupt- 
sachlich auf die Klagen der Patienten stiitzte, gab eine vorziigliche Be- 
schreibung des Laidens, vermochte aber weder in anatomischer Be- 
ziehung noch bei der Feststellung der Lokalisation des Ioidens genauere 
Daten anzugeben. Dieser Umstand veranlaBte seine Zeitgenossen und 
Nachfolger zu einer Anzahl Auseinandersetzungen des zu behandelnden 
Leidens, — Auseinandersetzungen, die nicht immer der Wirklichkeit 
entsprachen. So z. B. erkennen einige Autoren (Biro 1 *), Talma 9 *) und 
andere) zwei Typen der Ischias an. Erstens Ischias posterior, die 
ihrer Meinung nach eine Anzahl von Schmerzen, unangenehraen Empfin- 
dungen, Parasthesien und anderen verscliiedenen Storungen anderhin- 
teren Seite des Beines, in den Grenzen des Kreuzplexus hervorbringt; 
zweitens Ischias anterior (die vordere Form), die sich durch dieselben 
Storungen an der auBeren und inneren Flache der unteren Extremitat, 
d. h. in deni Gebiete des Lenden-Wurzelplexus charakterisiert. 

Da die an Ischias Leidenden oft fiber Schmerzen in der Lenden- 
gegend oder an den Seitenteilen des Korpers (oberhalb der Crista 
iliaca) klagen, so schreiben einige Arzte auch diese letzteren Schmerzen 
und auch Lumbago dem Bilde der Ischias zu. Obwohl diese Schmerzen 
nicht immer mit dem Gebiete des N. ischiadicus ubereinstimmen, weil 
die genannten Stellen von den Brustnerven versorgt werden, schienen 
sie doch den Autoren zu der Ischias gehorig, weil die Lendengegend 
teilweise auch von den Wurzeln aus dem Kreuz-Lsndengeflechte, dessen 
unterer Teil ein Bestandteil des N. ischiadicus ist, bedient werden. 
Um so leichter konnten diese Gelehrten das Lumbago der Ischias bei- 
legen, da eine objektive Untersuchung in solchen Fallen gewohnlich 
eine Sehmerzhaftigkeit beim Drucke der Nervenstamme, die aus den 
Lendenwurzeln entspringen (N. iliohypogastricus und besonders des N. 
ischiadicus selbst) zeigt. 

Es gibt einige Autoren, die bestrebt sind, sich von alien anatomischen 
Schranken zu befreien. So behauptet z. B. Biingner' 1 ), daB die Ischias 
zu den diffusen Leiden gehore, die sich nur wenig auf ein bestimmtes 
Territorium beschriinken. ,,Die Ischias ist eine im Kbrper schon 1angst 
verbreitete Erkrankung" (S. 833). 

Andere Forscher halten es fur mdglich, das Bild der Ischias liber die 
Greuze des N. ischiadicus hinaus zu erweitern. So findet Strusberg 91 ), daB 
die Ischias nicht nur eine Erkrankung des N. ischiadicus ist, sondern 
sich auch auf mehrere Nerven, die aus dem Riickenmarke oberhalb 
oder unterhalb des N. ischiadicus hervorgehen, ausbreitet. (,,Als 


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M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechanismus der 


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lschias bezeichnete Erkrankung be&chrankt sich nicht immerauf das 
Gebiet der Hiiftennerven, sondern kann auf ausgedehnte Nerven- 
gebiete, die sowohl hoher wie tiefer am Riickenmark ihren. Ursprung 
haben, iibergreifen“, S. 1779.) 

Andererseits stellt Sicard 92 ), die Mannigfaltigkeit der kliiiischen 
Bilder bei der ,,lschias essentialis“ in Betracht ziehend, ein klinisches 
Kriterium nur fur einen Symptomenkomplex fest, der der lschias ent- 
spricht. Seiner Meinung nach mussen folgende Symptome aus dem 
Bilde der ,,Lschias essentialis“ ausgeschlossen werden: 1. Doppel- 
seitige Schmerzen, 2. Schmerzen bei Verwickelung der Geschlechts- 
organe, des Rectums und der Sphincterstdrungen, 3. ausstrahlende 
Schmerzen in das Bauchgebiet oder in die Regio inguinalis, 4. Schmerzen 
bei Storungen der vasomotorischen Spharen (Varices, Odern, Mai per- 
forant), 5. Schmerzen bei Storungen der motorischen Spharen, die mit 
Paralysen verkniipft sind u. dergl., und schlieBlich: 6. werrn das Leiden 
im Alter von 12 bis 15 Jahren erscheint. Dagegen rauB die Skoliose, 
nach Sicards Ansicht, als charakteristisches Symptom der Lschias l)e- 
trachtet werden. 

Diese Schwierigkeiten in der Abgrenzung der Ischiasform sind auch 
bis jetzt noch nicht gelost und werden in der neuen Lehre von ,,lschias 
radicularis 11 nicht beriicksichtigt. Sehr wenig erklart das neue Krank- 
heitsbild auch die Eigentumlichkeit der objektiven Untersuchung in den 
Ischiasfalien, bei welcher der Schmerz beim Druck auf den Nerv sich 
nicht mit den Grenzen subjektiver Schmerzempfindung deckt. Infolge- 
dessen konnen sich z. B. willkiirliche Schmerzen auf der hinteren Ober- 
flache des Beines konzentrieren, und sind infolgedessen alle Griinde 
dazu gegeben, eine Neuralgie desStammes desN. ischiadicus zu diagno- 
stizieren, erweisen sich aber bei der objektiven Untersuchung sehr 
schraerzhaft NN. peroneus sujxrficialis, surae posterior et lateralis, 
als ob nicht der Stamm des N. ischiadicus, sondern diese seine Zweige 
von der Neuralgie befallen waren. Indessen mu3 aber vom Standpunkte 
einer radicularen Neuralgie aus auch der Stamm des N. ischiadicus 
druckempfindlich sein, wenn seine Zweige infolge Erkrankung ihrer 
Wurzeln beim Drucke schmerzhaft sind, und zwar aus dem Grunde, 
weil dieser Stamm die Fasern der betroffenen Zweige in sich enthalt, — 
weil diesem Stamme auch dieselben Wurzeln angehoren, die an der Bil- 
dung seiner Hauptzweige teilnchmen. 

Autoren, indem sic organische Veranderungen der Wurzeln in ihren 
Ischiasfallen annehmen, und indem sie die Ursache dieser Erkrankung 
am haufigsten in der Erkrankung der Riickenmarkshullen lokalisieren, 
glauben den pathologischen Tatbestand der lschias gefunden zu haben, 
der, wenn auch nicht fiir die ganze ungeheuere Kasuistik dieses Leidens 
maBgebend, so doch mindestens fiir die Kranken gilt, bei denen sich 


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(sogenannten Wurzel-)Xeuralgie des X. ischiadicus. 


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bei objektiver Untersu chung eine Stoning der Sensibilitat, der Reflexe- 
tatigkeit usw. herausstellt. Bedauerlicherweise gibt es in diesera Ver- 
suche — den Tatbestand der Ischias zu ergriinden — nichts Neues, 
weil die Erkrankung der Riickenmarkshaute nicht nur vom pathologo- 
anatoinischen Standpunkte aus, sondern auch in klinischer Beziehung 
sehr gut bekannt ist. Von diesem Standpunkte aus haben die Autoren 
keinRecht, die Falle von Pachi-lepto-meningitis, in denen das Symptom 
Lasegues oder der Valleixschen Druckpunkte vorhanden ist, als Ischias 
zu betrachten; ebenso hatten sie auch kein Recht gehabt, die Falle von 
Tabes fur Ischias zu halten, weil bei diesen Fallen solche Symptome 
konstatiert worden waren. 

Anderseits treten jene Gelehrten, die das klinische Bild der Ischias 
als eine Neurose ohne pathologo-anatomische Unterlage darstellen, 
vollkoramen aus den Grenzen der Ischiaslehre heraus. 

Das Erforschen der Ischias veranlaBt uns infolgedessen schon jetzt 
mehrere Fragen und Einzelheiten im Gebiete des Ischiasbildes, die schon 
von anderen Autoren auf eine oder andere Weise gelost worden waren, 
nochmals zu durchmustern. 

Sehr interessant ist z. B. die Frage der Atiologie der Ischias, d. h. 
des Mechanismus, der bei alien gleichen Bcdingungen eine Erkrankung 
bloB jener Nervenfasern begiinstigt, die in den Stamm des N. ischiadicus 
eintreten. Sehr wichtig scheint es auch zu entscheiden, warum bei der 
Ischias Zweige desselben Plexus lumbosacralis, die einen geinein- 
samen Ursprung mit dem N. ischiadicus haben — namlich NN. cruralis 
et obturatorius —, dabei vollkommen verschont bleiben konnen und 
warum NN. clunei, gluteus inferior, cutaneus femoris posterior, gluteus 
superior dabei viel seltener oder viel weniger betroffen worden sind. 

Wie bekannt, bilden ein Teil der Fasern der XII. Brustwurzel und 
die Wurzeln des Lenden- und Kreuzteiles des Riickenmarkes, indem 
sie sich miteinander verschlingen, den Plexus lumbosacralis. Der Ober- 
teil des Plexus lumbosacralis, der den Plexus lumbalis bildet, nimmt 
einen Teil der Fasern der XII. Brustwurzel, Lendemvurzel I, II, III 
und einen Teil der IV. Lendemvurzel ein. In das Kreuzgeflecht treten 
die iibrigen Teile der vierten, die ganze V. Lendenwurzel und samtliche 
Kreuzwurzeln ein. 

Diese zwei Geflechte bilden den Ursprung folgender peripherischen Xerv r en 
der unteren Extremit&t. 1. X. ilio hypogastricus entspringt der XII. Brust- und 
der I. Lendenwurzel. 2. X. ilio inguinalis zweigt sich von der I. Lendenwurzel ab. 
3. N. genito cruralis geht aus der I. u. II. Lendenwurzel hervor und teilt sich in 
zwei Zweige: X. spermaticus externus u. X". lumboinguinalis. 4. N. cutaneus 
femoris lateralis entspringt aus der II. Lendenwurzel. ;>. X. cruralis aus den I., II., 
III. und IV. Lendenwairzeln. 6. X. obturatorius aus der II. u. III. Lendenwurzel. 

Das Kreuzgeflecht, das aus der IV. u. V. Lenden- und aus der I., II., III., IV. 
und V. Kreuzwurzel hervorgeht, bildet mehrere Xervenstamme, nfimlich: I. Der 


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M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechauismus dor 


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motorische Zweig zum N. pyriformis aus der II. Kreuzwurzel. 2. N. gluteus su¬ 
perior entspringt den Wurzeln der V. L. und I., II. S. 3. N. gluteus inferior ent- 
springt der I. und II. Kreuzwurzel. 4. N. cutaneus femoris posterior gekt aus 
der I. und II. Kreuzwurzel hervor und zerf&llt in folgende Zweige: a) NN. clunii 
inferiores gehen zu der Haut des unteren Teiles des GesaBes; b) NN. perineales 
verzweigen sich ini Perineum; c) NN. cutanei femoris posteriores gehen als einzelne 
St&mme unter der Fascie, dann unter der Haut bis zu der Mitte des Oberschenkels, 
wobei einzelne Zweige bis zu der Mitte der Wade hinabreichen. 5. N. isckiadicus 
stammt aus alien Wurzeln des Plexus sacralis — also ist dieser Nerv aus IV. und 
V. L. und I., II., III., IV. und V. S. gebildet. Die sensiblen Zweige dieses Nervs 
teilen sich in der Haut der hinteren, auBeren und antero-lateralen Oberflache des 
Unterschenkels und des FuBes. 

Einer Erkliirung bedurfen auch Bedingungen, die bei alien gleichen 
Umstanden die Druckempfindlichkeit nicht des ganzen N. ischiadicus 
saint seinen skmtlichen peripherischen Zweigen verursachen, sondern 
solche Schmerzhaftigkeit entweder bei den peripherischen Zweigen 
allein oder nur bei dem Stamme dieses Nerven oder nur l>ei einer 
Abzweigung desselben, z. B. N. cutaneus femoris posterior, begiinstigen. 
Dadurch auBern sich diese objektiven Symptome der Neuralgie in solchen 
Fallen nur bei einzelnen Teilen des N. ischiadicus, dagegen bleiben 
andere Teile desselben Nerven beim Drucke unempfindlich und mussen 
infolgedessen fiir ganz gesund gehalten werden. 

Die Unordnung im Gebiete der reflektorischen Tiitigkeit verdient 
ebenso erwahnt zu werden: in einigen Fallen sind die Reflexe erhciht, 
bei anderen sind sie dagegen verloren gegangen oder konnen auch normal 
bleiben. Diese verschiedenen Zustande konnen entweder durch eine 
organische Erkrankung verursacht werden, oder sind sie von den 
funktionellen Einfliissen (Hemmung — Anbahnung) abhangig. Von 
diesem Standpunkte aus muB man jedesmal fiir jene Schwankung der 
Reflexe eine spezielle Erklarung suchen. 

Der Zustand der Sensibilitat in der befallenen Extremitat laBt sich 
auch in Erwagung ziehen. In diesem Falle muB man nicht nur den 
Stand der Sensibilitat im Gebiete des Nerven Ischiadicus und fruker 
aufgezahlter Zweige, die mit dem N. ischiadicus gemeinsamen Stamm 
haben, feststellen, sondern die Sensibilitat soil auch im Gebiete von 
NN. cruralis, obturatorius und von unteren Brustnerven in Betracht 
gezogen werden. Bei der Untersuchung der Hautsensibilitat muB man 
auf alle ihre Eigenschaften, d. h. auf Beruhrungsgefiihl, Schmerzempfin- 
dung, Kalte-, Warme-, Dnick- und Muskelgefiihl usw. genaueste Auf- 
merksamkeit zuwenden. Weiter muB man auch beriicksichtigen, ob alle 
Arten der Sensibilitat infolge der erkrankten jx'ripherischen Nerven 
(oder ihrer Wurzeln) sich gegen die Peripherie gleichmaBig und all- 
mahlich (sog. distaler Typus) herabsetzen; oder ob sich bloB einzelne, 
resp. besondere Arten derselben mit Auswahl (sog. Sensibilitatsstorungs- 


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(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des N. ischiadicus. 


613 


typus intraspinalen Ursprunges) verandern. Endlich muB man darauf 
achten, ob die Sensibilitatsveranderung sich diffus oder bandartig, 
inselformig, in Form einzelner geometrischer Figuren (Rhomben, 
Kreise, Strange) auBert (sog. radicularer oder segmentarer Typus der 
Sen si bi litatsstoru ngen). 

Auf diese Punkte Riicksicht nehmend, erlaube ich mir einigeF&lle 
von Ischias mit den SchluBfolgerungen, die diese Beobachtungen ziehen 
lassen, zu veroffentlichen. 


II. 

I. Sc hi.man, 42 Jahre alt, Kontrolleur in der Frauenabteilung einer 

Tabakfabrik, klagt letzte zwei Monate iiber intensive Schmerzen an der hinteren 
Seite seines linken Beines, die ihn weder gehen, noch sitzen, noch schlafen lassen. 
Bei genauem Ausfragen gibt er an. daB er auBer Schmerzen im Beine noch Schwere- 
gefiihl im Kreuze und Perineum cmpfindet 

Bei deni systematischen und ausfiihrlichen Ausfragen stel'.t es sich heraus, 
daB die Symptome dieser Erkrankung sich schon vor 20—25 Jahren fiihlbar 
machten. Diese Symptome iluBerten sich in einem unangenehmen Schweregefiihl 
im Kreuze und in den Schmerzen nach Pollutionen in der linken Ges&Bgegend 
Diese Empfindungen vergingen gewohnlich im Laufe eines Tages und besonders 
dann, wenn der Patient eine gute Strecke zu EuB zuriicklegen muBte. Seitdem 
er vor 8 Jahren seinen Dienst verandert hatte und der Kontrolleur in erw&hnter 
Frauenabteilung der Tabakfabrik geworden ist, wiederholten sich bei ihm PoJlu- 
tionen, weil er sehr empfindlich gegen die Erauenwelt war. Gleichzeitig sind die 
erw&hnten unangenehmen Empfindungen im Kreuze, im Beine und im Perineum 
wieder erschienen. Bald bemerkte Sch.. ., daB diese Empfindungen auch ohne 
Pollutionen, uber immer in den Nachmittagsstunden sich zeigten, — nachdem er 
dienstlich als Kontrolleur die Arbeiterinnen, wie es in solchen Eabriken iiblich ist, 
,,untersuchen“ muBte. Diese Arbeiterinnen, die um die Mittagszeit die Eabrik 
vcrlieBen, verhielten sich wahrend dieser Untersuchung, um die Gunst des Kon- 
trolleurs zu gewinnen, sehr herausfordernd, infolge dessen regte sich bei dieser 
Kontrolle Herr Sch .... auf und dabei „traufelte bei ihm der Saft aus dem Gl>ede“ 
usw. Im Alter von 35 Jahren erkrankte er an Gonorrhoea mit Orchitis. Zwei Jahre 
sp&ter entstanden bei ihm zum ersten Male heftige Schmerzen im Beine, die sich 
nach 3—5 tagiger Bettruhe beruhigten. Seitdem beginnt or sein Bein immer nach 
dem „stiirmischen Coitus 11 zu fiihlen. Zum zweiten Male bekam Herr Sch . . . 
einen Anfall von neuralgischen Schmerzen, nachdem er eine schwere Last auf- 
gehoben hatte: zu dieser Zeit entstanden bei ihm auBer Schmerzen im Beine noch 
Schmerzen im Kreuze und schwoll ihm die linke Hodo an. Bettruhe und heiBe 
U mschlage auf die erkrankte Hode beruhigten dieselben; gleichzeitig schwanden 
die Schmerzen im Kreuze und Beine. Die jetzige letzte Attacke entstand bei ihm. 
nachdem er eine Nacht in einer starken, aber erfolglosen Aufregung verbrachte, 
weil die betreffende Frau sehr widerspenstig und unnachgiebig war. Dabei hat 
er viol Wein getrunkeu und hat sich moglicherweise crkiiltet. Nachsten Morgen 
erschienen bei ihm unertragliche Schmerzen im Kreuze, Perineum und in dem 
linken Beine. Gleichzeitig schwoll bei ihm auch die linke Hode an. Von dieser 
Zeit an hat der Patient sich der Bettruhe unterzogen; auBerdem wandte er Wftrme, 
Galvanisation, Massage an, aber ohne groBen Nutzen. 


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614 


M. Lapinsky: Zur Frage liber den Meohanismus der 


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Bei objektiver Untersuchung merkt man folgendes: das linke Bein hat normale 
Konturen nnd ist nicht angeschwollen. Beim Betasten ist aber dieses Bein kalter 
als das rechte. Der Patient halt das linke Bein in dem Knie- und Hiiftengelenke 
gebeugt. Beim Herausstreckon des Beines empfindet er eine Schwere, und ein 
Ameisenlaufengefiihl im Beine. Aktive Bewegungen in alien Gelenken und Muskel- 
gmppen des linken Beines sind leicht moglich. Der Umfang des linken Beines ist 
dem des rechten im Chopartschen Gelenke, 4 Querfinger unter Tuberositas 
tibiae, in dem unteren Viertel des Oberschenkels und in der Beinwurzel 
gleich. Passive Bewegungen sind in alien Gelenken leicht moglich; aber die Beugung 
des ausgestreckten Beines im Huftgelenke erzeugt ein starkes Schmerzgefiihl, 

dem N. ischiadicus entlang. Die Ge¬ 
lenke fluktuieren nicht und . geben 
keine Empfindung der Crepitation bei 
passiver Bewegung. Beim Drucke ge- 
gen den N. tibialis auf seinem ganzen 
Verlaufe im Wadengebiete empfindet 
der Patient starke Schmerzen; NN. 
peroneus, popliteus und ischiadicus 
(im Gebiete des Oberschenkels, an 
Tuber ischii und in der N&he von 
Spina ilei posterior) sind gar nicht 
druckeinpfindlich; NN. clunei inferior, 
superior et lateralis, N. cruralis mit 
seinen Hauptzweigen und N. obtura- 
torius sind ebenso beim Drucke nicht 
schmerzhaft. Plexus liypogastricus 
sehr druckempfindlich. Die Unter¬ 
suchung der Sensibilit&t fiir Be- 
riihrungs-, Schmerz- und fiir Tempera - 
turempfindungen zeigte auf dem gan¬ 
zen Fu Be, dem Unterschenkel, der hin- 
teren und auBeren Oberflache des 
Oberschenkels ganz normale Verhalt- 
nisse. Dagegen lieB sich eine starke 
Empfindlichkeit fiir Nadelstiche auf 
der linken Seite des Scrotum, Peri¬ 
neum, im Gebiete des XII. D. am 
Riicken beiderseits und auf der vor- 
deren Oberflache des Oberschenkels 
im Gebiete des I. und II. L. konsta- 
tieren (Zeichnung 1). Der Kitzelreflex 
links fehlt, rechts ist er normal. Cremasterreflex ist beiderseits normal. Der 
Achillessehnenreflex fehlt auf der linken Seite, rechts ist er normal. Die Patellar - 
reflexe sind beiderseits normal. Die Bauchref'exe, der obere und der mittlere 
sind normal, beide unteren fehlen. Dio linke Hode ist angeschwollen. Epididymis 
ist sehr schmerzhaft. Die Untersuchung per rectum rief einen heftigen Schmerz an 
tier vorderen Oberflache des Kreuzbeines hervor. Die Prostatadriise ist sehr groB, 
weich, mit einigen groBen Erwoiterungsherden und beim Betasten sehr schmerz¬ 
haft. Bei vorsichtiger Massage dieser Druse, auch der Samenblasen, die auch 
sehr verdickt erscheinen, entleeren sich diese Herde, dabei lauft aus Urethra unge- 
fahr ein Teeloffel eitriger blutgefiirbter Fliissigkeit. 

Den ersten Tag nach der Prostata massage hat der Patient Urindrang empfun- 




Abb. 1. Schema Krowers. Hvperasthesie 
im Gebiete XII. D. auf beiden Seiten 
(nur von hinten). I., II., L. und am Scro¬ 
tum links. 


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(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des N. ischiadicus. 


615 


den, aber die Schmerzen im Beine sind schon im Laufe der Nacht so sehr Under ge- 
viorden, daB der Patient den nachstenTag aufstehen und den Arzt besuchen konnte. 

Drei Tage nach der Prostatamassage stellte die Untersuchung das Symptom 
von Lasegue, wie friiher, fest. Auch war der N. tibialis beim Drucke schmerzhaft; 
dagegen ist die Hyperasthesie der Hode, des Perineum, des XII. D. und I., II. L. 
vollkommen verschwunden. Kitzelreflex und Achillesreflex am linken Beine normal. 


Die Hode ist nicht mehr vergroBert, aber der Epididymis ist beim Drucke noch maBig 
schmerzhaft. Keine Ver&nderung der galvanischen Reaktion an den NN. ischia¬ 
dicus, cruralis, obturatorius beiderseits. 

Diagnosis: Ischias, Prostatitis, 

Spermatocystis. Behandlung: Ther- 
raohydrotherapie und Massage der 
Prostata, resp. Spermatocysten. Nach 
einem Monate solcher Behandlung sind 
die spontanen Schmerzen verschwun¬ 
den. Bei objektiver Untersuchung 
fand man folgendes: Der N. tibialis ist 
maBig beim Drucke empfindlich. 

Lasegues Symptom negativ. Der Kitzel¬ 
reflex, der Achillessehnenreflex und die 
Hautsensibilitat iiberall normal. Die 
Prostatadriise maBig empfindlich. 

Nach drei Monaten hat der Patient 
wieder diesel ben Schmerzen im linken 
Beine bekommen. Wieder ist das 
Lasegue-Symptom vorhanden. N. tibia¬ 
lis ist dieses Mai nicht schmerzhaft 
beim Drucke; dagegen ist der Stamm 
vom N. ischiadicus nicht nur an den 
typischen Stellen, d. h. an Incisura 
ischiadica, an Collum femoris, sondern 
auch auf seinem ganzen Verlaufe vom 
unteren Rande des M. glutei bis zur 
Kniekehle druckempfindlich. Die Sen- 
sibilitat ist am linken Beine fiir Warme. 

Kalte und Beriihrung ganz normal, 
dagegen fur Nadelstiche am Unter- 
schenkel (Zeichnung 2), im Gebiete S lf 
S,, L s und an der vorderen Oberflache 



Abb. 2. Drei Monate spiiter; Herab- 
setzung der Schmerzempfindlichkeit im 
Gebiete L. I, II, auf beiden Seiten und 
L. V, S. I, II am linken Beine. 
Schema Kochers. 


des Oberschenkels im Gebiete L lf 2 herabgesetzt. Der rechte Ischiadicusnerv an 
der Hohe der Glutealfalte beim Drucke sehr schmerzhaft. Patellar- und Achilles- 
sehnen-, auch Kitzel- und Cremasterreflex sind normal. Samtliche Bauchreflexe 
weichen von der Norm nicht ab. Kein Symptom Lasegues ist auf dem rechten Beine 
zu konstatieren. Die Empfindlichkeit fur Nadelstiche ist aber auch auf dem rechten 
Beine im Gebiete L,, 2 herabgesetzt. Linke Hode ist hart und angeschwollen; 
Epididymis ist sehr empfindlich. Auch die rechte Hode und Epididymis sind beim 
Betasten schmerzhaft, hart und angeschwollen. Untersuchung und Massage der 
Prostatadriise sind fiir den Patienten sehr schmerzhaft. Die linke und rechte Hiilfte 
der Prostata sind vergroBert, und beide enthalten Erweichungsherde. Sehr emp¬ 
findlich ist Vesicula seminalis auf der linken Seite. Wahrend der Massage der 
Prostatadriise und beim Drucke auf Vas deferens floB beinahe ein Teeloffel rot- 
licher eitriger Fliissigkeit heraus. 


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M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechanism us der 


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Der Patient behauptet, daB die Verscharfung der Schmerzen in seinen Beinen 
von der Zeit begann, als er die Arbeiterinnen in der Fabrik anting zu untersuchen. 
Jedesmal regte er sich dabei auf, und fiihlte gleichzeitig ein Schwere- und W&rme- 
gefiihl im Perineum, im Riicken und leichte Schmerzen im linken Beine. Diesen 
Anfall von Schmerzen erklart er durch Ereignisso einer Nacht, drei Tage vorher, 
,,die er sehr stiirmisch von geschlechtlichem Standpunkte verbracht hatte“. 

Es wurden dem Patienten drei Kerzen (Ergotin Bonjeani 0,3 Ext. belladonna 
0,015, Ext. opii 0,02) tfiglich und Bettruhe verschrieben. AuBerdem wurdo ihm 
die Notwendigkeit klargemacht, die „Frauenkontrolleurstelle“ zu verlassen, das 
Trinken zu vermeiden, und ein maBiges Geschlechtsleben zu fiihren. 

Xach einer Woche teilte der Patient dem Arzte mit, daB die verschriebenen 
Kerzen ihm sehr gut geholfen und er jetzt keine Schmerzen mehr habe. Bei 
objektiver Untersuchung ist die Hautsensibilit&t auf dem rechten und linken 
Beine normal gefunden. Die rechte und die linke Hode haben eine normale Kon- 
aistenz, aber beide Epididymiden sind maBig empfindlich. 

. Der angefiihrte Fall ist in vielen Beziehungen interessant. 

Bei erster objektiver Untersuchung ist eine Reihe von Symptoinen 
konstatiert worden, die zugunsten einer organischen Veranderung des 
Nervensystems gesprochen haben. Nftmlich, trotzdem die Hautsensi¬ 
bilitat normal erschien, fehlten die Kitzel- und Achillessehnenreflexe; 
da aber diese Reflexe zwei Tage s pater sich wieder zeigten, da auBerdem 
auch die Hyperasthesie verschwunden, iiberdies die Motilitat nicht 
betroffen und keine Muskelatrophie zu konstatieren war, muBte infolge 
einer solchen Unbestandigkeit der Symptome eine organische Lasion 
ausgeschlossen, dagegen eine funktionelle Erkrankung angenommen 
werden. 

Die Sensibilitats veranderung stellte eine segmentare oder radiculare 
Topographic und einigermaBen eine Dissoziation dar. Die Sehinerz- 
empfindliehkeit zeigte sich namlich das erstemal an gewissen Stellen 
sehr erhoht, zur Zeit der Rezidive aber war dieselbe herabgesetzt. 
Temperatur- und Beruhrungiigefuhl zeigten sich an denselben Stellen 
ganz normal. 

(In Wirklichkeit deckten sich einige Figuren von Kocher nicht voll- 
kommen mit denen der Hautsensibilitatsveranderung bei unserem Kran- 
ken: z. B. auf der Abb. 1 zeigt sich die Hautsensibilitat im Gebiete 
des XII. D. ganz normal, aber nur von vorne; auf der Abb. 2 ist 
die Hautsensibilitat im Gebiete des I. und II. L. unverandert, aber nur 
von hinten.) 

Eine besondere Erwagung in dieser Topographie verdient der 
Umstand, daB die Sensibilitat bei der linken Ischias sich nicht nur links, 
sondern auch auf dem rechten Beine verandert zeigte (Abb. 1, D. XII., 
Abb. 2, L. I., II.). Andererseits zeigte sich die Sensibilitatveranderung 
bei der Neuralgie des Nervus ischiadicus nicht nur im Gebiete der 
Wurzeln, die den N. ischiadicus bilden, z. B. L. V., S. I., II. (Abb. 1), 
sondern auch im Gebiete solcher Wurzeln, die an der Bildung des X. 


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( 80 genannten YVurzel-)Neuralgie des N. ischiadicus. 


617 


ischiadicus keinen Anted nehmen (z. B. D. XII. und L. I., II. Abb. 1 
Oder L. I., II. Abb. 2). 

Zu bemerken ist, daB die Kitzel- und Achillesselinenreflexe zur 
Zeit des Rezidivs normal waren, die Schmerzempfindlichkeit (fiir 
die Nadclstiche) aber im Gebiete des S. I. und L. V., die diese Reflexe 
bedienen, zu derselben Zeit vermindert war. Auf diese Weise lieB sich 
also ein Bctroffensein der zentripetalen Leitung, und zwar mit einer 
gewissen Auswahl konstatieren; die Schmerzleitung war namlich ge- 
hemmt, die Beruhrungs- und Temperaturempfindung und el)enso die 
zentripetalen Teile der Reflexbogen sind dagegen vollkommen intakt 
geblieben. 

Die Druckempfindlichkeit des N. ischiadicus zieht auch die Auf- 
merksamkeit auf sich. Der Nervenstamm war bei der ersten Unter- 
suchung nicht druckempfindlich, obwohl der Patient die Schmerzen 
im ganzen Beine fiihlte. Dagegen erschien der Stamm des N. ischiadicus 
wahrend der Rezidive sehr empfindlich. In der zweiten Krankheits- 
periode war dagegen der Nervenstamm druckempfindlich, ohne 
daB der Patient spontane Schmerzen fiihlte. Dagegen N. tibialis auf 
dem linken Beine, der in der ersten Krankheitsperiode druckempfind¬ 
lich war, hatte jetzt wahrend der Rezidive seine Druckempfindlichkeit 
verloren. Merkwurdigerweise war zu dieser Zeit der Nervus ischiadicus 
nicht auf der kranken, sondern auch auf der gesunden Seite druck¬ 
empfindlich. Vom atiologischen Standpunkte tritt die Erkrankung der 
Organe des kleinen Bee kens sehr deutlich hervor. 

Aus der Anamnese, aus den subjektiven Beschwerden und bei 
objektiver Untersuchung sieht man, daB der Patient eine chronische 
Prostatitis hatte. 

Eine Prostataerkrankung laBt sich auch aus den Klagen des Pa- 
tienten iiber oftere Pollutionen in den jugendlichen Jahren, und aus 
dessen Erwahnungen von prostatischem ,,Safte“ vermuten, der bei der 
,,Frauenkontrolle“ traufelte. Gleichzeitig mit diesem chronischen 
Leiden des Genitalapparates tritt auch der oft wiederkehrende Schmerz 
in dem linken Beine hervor. 

Der atiologische Zusammenhang zwischen diesen beiden Leiden 
scheint sehr iiberzeugend zu sein. Aus den Erzahlungen des Patienten 
selbst, der sich sehr genau beobachtete, laBt sich diese Abhangigkeit 
der Schmerzen, die sich zum ersten Male im Beine fiihlbar machten, 
von dem Zustande der Prostatisdruse konstatieren. Dieselbe geriet 
augenscheinlich jedesmal bei der Kontrolle und der Untersuchung der 
Arbeiterinnen in einen Zustand der Hyperamie und Hypersekretion. 
Ebenso spricht zugunsten dieses Zusammenhanges die Verscharfung 
der Schmerzen nach einem nicht gelungenen Coitus oder nach einem 
,,zu stiirmischen Geschlechtsakte“ usw. Endlich bestatigt diese Ver. 


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M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechanismus der 


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mutung der Erfolg der Prostatamassage (mit Entleerung aus dieser 
Druse eitriger, blutgefarbter Fliissigkeit), nach der eine Beruhigung 
der Schmerzen im Beine eingetreten ist. Da diese Schmerzen schon 
nach der ersten Massage sich beruhigten und nachlieBen, beweist das 
den atiologischen Zusanimenhang der beiden Leiden. 

Diesel be Massage verursachte auch die Wiederhcrstellung der 
normalen Empfindlichkeit auch an den Stellen, wo sich vorher eine 
Hyperasthesie oder Hypalgesie konstatieren lieB. Dieselbe Wirkung 
hatte die Massage auch auf den Zustand der Reflexe und auf die Hoden- 
schwellung. 

Dieser Umstand drangt die SchluBfolgerung auf, daB eine Ver- 
anderung der Prostatadriise, ihre Hypersekretion oder eine Retentio 
ihres Sekretes, eine Reibe krankhafter Symptorae bei unserem Patienten 
zur Folge hatte. Dadurch namlich konnten: a) die Schmerzen im Ge- 
biete des linken Nervus ischiadicus entstehen, b)infolgedessenveranderte 
sich die Empfindlichkeit fur Nadelstiche auch auBerhalb dieses Nervs, 
namlich am Rucken und in den unteren Extremitaten, c) durch die 
Erkrankung dieser Druse konnten die Kitzel-, die Achillessehnen- und 
die unteren Bauchreflexe gehemmt werden, d) endlich konnte auch 
dadurch die Blutzirkulation in der Hode verandert werden. 

Von diesen Zustandsveranderungen waren (abgesehen von der 
Konsistenz der Hoden) nur die Veranderungen der Reflexe und die 
Konturen der Gebiete mit veranderter Sensibilitat einer objektiven 
Kontrolle zuganglich. 

Das Schmerzgefiihl an und fiir sich ist zu den subjektiven BewuBt- 
seinszustanden zu rechnen, die bei gewohnlichen objektiven MeB- 
methoden schwer zu ermessen sind; daher ist es schwer nach der Massage 
der Prostata eine wirkliche Veranderung dieser Schmerzen, d. h., 
ihre Verminderung oder VergroBerung unter dem Einflusse dieses 
Eingriffes feststellen zu konnen. (Obwohl immer auf eine wohltuende 
Wirkung der Massage zu schlieBen ware, weim man den subjektiven 
Empfindungen des Patienten glauben konnte.) 

Zugunsten der Ischiasdiagnose sprachen in diesem Falle dasLasegue- 
Symptom, die Dmckempfindlichkeit des Nervenstammes und die typi- 
schen subjektiven Beschwerden. Ausgeschlossen waren Neuritis, Arthritis, 
Rheumatismus, Erkrankungen der Riickenmarkshullen, Radiculitis usw. 

Die Sensibilitatsstorungen entsprachen in diesem Falle den Typen, 
die von Kocher, Thornburn und anderen Autoren fiir die Beteiligung 
der einzelnen Wurzeln oder Segmente festgestellt worden sind. Infolge- 
dessen konnte man hier von einer radicularen Ischias im Sinne von Camus, 
Dejerine und anderen reden, hatte aber mit demlypus genannter Autoren 
nur durch die Figuren der veranderten Sensibilitat Ahnlichkeit, aber 
auch diese Figuren bewahrten ihre Grenzen nur eine kurze Zeit, um selbe 


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(sogenannten Wurzel-)Neuralgie dcs N. ischiadicus. 


619 


sp&ter nach einer ganz kurzen Periocle zu verlieren, weil die Storungen 
der Sensibilitftt, die sie hervorgebracht, wieder verschwanden. Aus 
diesem letzten Umstand laBt sich der SchluB ziehen, daB man in diesem 
Falle der radicularen Ischias von einer funkticnellen Erkrankung reden 
konnte; eine organische Erkrankung der Wurzeln war aber wie gesagt 
in diesem Fade infolge einer # schneden Wiederherstedung der verander- 
ten Spharen vodkommen ausgeschlossen. 


II. Th. Ko .... sski, 44 Jahre alt, tritt in die Univereitatsnervenklinik ein 
< Arzt-Kurator E. 0. Pobyvanetz) und klagt iiber Schmerzen ini rechten Beine den N. 
ischiadicus entlang. Dieser Schmerz 
entstand ziemlich akut, Mitte August, 
in Form sehr unangenehmer Empfin- 
dungen imGesaBe, blitzartiger Schmer¬ 
zen auf der rechten Seite im Scapular- 
gebiete und im rechten FuBe. Einen 
Monat vorher lieB sich der Patient 
von Dr. Varavka kurieren, der ihm 
unter anderen auch nasse Umsehlfige 
und Flatten mit dem Biigeleisen ver- 
ordnete, aber leider ohne jeden Erfolg. 

Vor mehreren Jahren litt Herr K...s- 
ski an Urethritis 'gonorrhoica und 
wurde damals mit Injektionen be- 
handelt. Lues ist in Abrede gestellt. 

Bei objektiver Untersuchung lieB 
sich die Skoliose des unteren Brust- 
teiles konkav nach rechts feststellen. 

Die rechte gluteale und Wadengegend 
hatten im Vergleiche mit denselben 
Teilen links einen verkleinerten Um- 
fang. Die Huftgelenke der beiden 
FuBe waren fur passive Bewegungen 
ganz frei und nicht schmerzhaft. Das 
linke Kniegelenk war ganz normal; 
das rechte Kniegelenk ist vor 15 Jahren 
infolge einer traumatischen Lasion 
reseziert worden. Die Sprung- und 
Zehengelenke beiderseits waren ganz 
normal. 

Die aktive Motilitat im rechten 

Beine war gut erhalten. Die elektrische Reaktion (der faradische und galvanische 
Strom) wich nicht von der normalen ab. 

Das Symptom Lasegue war am rechten Beine sehr ausgepragt. Der rechte 
N. ischiadicus war bei in Drucke in der Glutealgegend, auf der Hohe von Spina 
sehiadica posterior, Collum femoris und in der Glutealfalte sehr empfindlich. 
NN. tibilialis und peroneus waren weniger druckempfindlich. Die Hautcmpfind- 
liehkeit fur Warme, Kalte, Beriihrung und Schmerz an beiden Beinen, am Bauche, 
am Riicken, an der Brust, und an den beiden oberen Extremit&ten weicht im 
ganzen nicht von der Norm ab, aber einzelne Gebiete, namlich XI., XII. D. und 
I., II., III. L. (Abb. 3, Kochers Schema) vorne rechts, und von hintenXI., XII. D., 
Archlv filr Psychlatrie. Bd. 67. 41 




Abb. 3. Eine Hyperalgcsie im Gebiete 
D. XI, XII, L. I, II, III und S. Ill, 
IV, vor der Massage der Prostata- 
druse. 


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M. Lapinsky: Zur Frage liber den Meehanismus der 


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I., II., III. L. und III., IV. S. rechts hinten zeigten eine Hypalgesie. Am st&rk- 
sten war die Hyperalgesie in der Nfihe von Spina anterior, inferior ausgeprftgt. 
Die Kitzel-, Cremaster- und Bauchreflexe verhielten sich normal; auch Achilles- 
sehnenreflexe wichen von der Norm nicht ab; der linke Patellareflex verhielt sich 
in den normalen Grenzen. (Der rechte Patellarrcflex war infolge der Resektion 
des rechten Kniegelenkes nicht moglich hervorzubringen.) Die Untersuchung 
der Kleinbeckenorgane per rectum lieB eine groBe, sehr empfindliche Prostata 
mit einigen Erweichungsherden feststellen. Die vordere Oberflache des Kreuz- 
beines war bei dem Drucke mit dem Finger sehr empfindlich; Regio promontoria bei 

dem Drucke sehr schmerzhaft; ebenso 
der Plexus hypogastricus superior. 
Diagnose: Ischias, Prostatitis. 
Die verordnete Behandlung be- 
stand aus HeiBluftbadem und Massage 
der Prostatadriise. Nach drei Mas- 
sagen dieser Druse (Dr. A. B. Brovrin- 
ski) haben die Schmerzen im Beine 
nachgelassen. Die Prostata, die wah- 
rend dieser drei Massagen auch sehr 
schmerzhaft war, war wahrend der 
vierten Massage schon weniger emp¬ 
findlich und die Erweichungsherde in 
ilirem Inneren verschwanden. 

Die Untersuchung der Sensibilitat 
eine Woche nach dem Beginn der Be¬ 
handlung hat dieses Mai festgestellt, 
daB die Hypalgesie im Gebiete D. 
XI., XII., L. I., II., III. und S. III., 
IV. rechts verschwunden ist, dagegen 
eine noch starkere Hypalgesie (Abb. 4) 
an SegmentenL. I., 11 sich entwickelte. 
Die Kitzel-, Cremaster-, Bauch- und 
Achillessehnenreflexe waren beider- 
seits normal. 

Nach der zehnten Massage der 
Prostata war die Hautsensibilitat auf 
der vorderen und liinteren Oberflache 
des rechten Beines, des Riickens und 
des Bauches wieder vollkommen lier- 
gestellt. Eine Ausnahme in dieser Be - 
ziehung, aber nur im Gebiete des L. 
II., in der Nahe des Spina anterior 
inferior, zeigte jetzt das rechte Bein, 
wo sich eine starke Hyperalgesie kon- 
statieren lieB. 

Nach den zwei folgenden Massagen der Prostata sind die Schmerzen im rechten 
Beine noch schwaclier geworden. Die Sensibilit&tsuntersuchung stellte am rechten 
Beine ganz normale Verhaltnisse fest; was aber das linke Bein anbelangt, das der 
Patient als ganz gesund betrachtete, zeigte sich jetzt an demselben eine bedeutende 
Hyperalgesie im Gebiete des L. I. (Thomburns Schema, Abb. 5). Plexus hypo¬ 
gastricus ist auf Druck ebenso schmerzhaft wic friiher. Dagegen ist die Prostata 
weniger schmerzhaft geworden. Im weiteren Verlaufe der Krankheit ist auch 




Abb. 4. Nach der 4. Massage der 
Prostata: Hyperalgesie ist verschwun¬ 
den, statt dessen entwickelte sich eine 
Hypalgesie in L. I, II rechts. 

Abb. 5. Eine hyperalgetische Zone in 
L. I am linkcn Beine nach wiederholten 
Massagen der Prostatadriise. 


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(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des N. ischiadicus. 


621 


diese Hyperalgesie verschwunden. Die Hautsensibilit&t war an beiden Beinen 
wieder vollkomraen hergestellt. Die Prostatadriise und Plexus hvpogastricus 
sind fiir den Druck weniger schmerzhaft geworden. Nach einem Monate wurde 
der Patient aus der Klinik gesund entlassen. Die spontanen Schmerzen waren 
vollkommen verschwunden. das Lasegue stark vermindert. Die Hautsensibilitat 
wich von der Norm nicht ab. 

Auch in diesem Falle ist Ischias konstatiert worden. Zugunsten 
dieser Diagnose sprachen spontane typische Schmerzen, starke Empfind- 
lichkeit der Nerven beim Drucke, Skliose und das Symptom Lasegues. 
AuBerdem lie Ben sich die den Schemen Thornburns, Kochera u. a. 
entsprechende Sensibilitatsstorungen im Gebiete einzelner Segmente, 
resp. Wurzeln, feststellen, infolgedessen ware auch dieser Fall als 
Ischias radicularis zu betrachten. Diese Beobachtung ist insofern 
interessant, da die Hautempfindlichkeit in diesem Falle nicht nur im 
Bereiche des erkrankten N. ischiadicus, sondern auch auBerhalb des- 
selben auf der vorderen Oberflache des Bauches und Oberschenkels 
im Gebiete der Wurzeln D. XI., XII. und L. I., II., III., die an der 
Zusammenstellung des X. ischiadicus keinen Anteil nehmen, veriin- 
dert war. 

Die Sensibilitatsstorungen hatten keinen bestandigen Charaktcr 
und waren von sehr unsteter Lokalisation; dabei veranderte sich die 
Sensibilitatsfarbung gerade in einer diametral entgegengesetzten 
Richtung, infolgedessen wurde z. B. Hyperalgesie durch Hypalgesie 
abgelost, spater aber zeigte sich wieder Hyperasthesie auf der Stelle, 
wo friiher Hypalgesie war. Die Unstetigkeit und Beweglichkeit dieses 
Bildes der Sensibilitatsstorungen auBerto sich endlich darin, daB das 
Gebiet erhohter Empfindlichkeit von der erkrankten rechten auf 
die gesunde linke Seite iiberging. Nicht samtliche Arten der Sen¬ 
sibilitat, sondern nur jene Empfindlichkeit fur Nadelstiche waren 
verandert; dagegen waren Beriihrungs-, Temperatur- und andere 
Arten der Sensibilitat unverandert. Eine interessante Eigentiimlichkeit 
zeigten hier die Reflexe. Cremasterreflex z. B. reagierte auf Hautreizung, 
trotzdem die Schmerzempfindlichkeit im Gebiete der I., II. und III. 
Lendenwurzeln, die diesen Reflex bedienen, herabgesetzt war. Ebenso 
verhielt sich auch der Patellarreflex, der vorhanden war, trotzdem 
die Schmerzleitung im Gebiete der II., III. und IV. Lendenwurzeln, 
die diesen Reflex vermitteln, vermindert war. Auch tier Achillessehnen- 
reflex war vorhanden, trotzdem die Wadenmuskulatur atrophisch 
aussah. 

Diese Tatsachen lassen den SchluB ziehen, daB die zentripetale 
Leitung in diesem Falle mit einer gewissen Auswahl betroffen war, 
infolgedessen die Sensibilitat fiir Nadelstiche gelitten hatte, dagegen 
die Beriihrungs- und Temperaturempfindung und zentripetale Bahnen, 

41* 


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{522 M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechanismus der 

die die Reflexbogen bedienen, unverandert geblieben sind. Auch in 
diesem Falle lafit sich ein chronischer ProzeB (Prostatitis) in den Organen 
des kleinen Beckens konstatieren. Ebenso kann man hier einen atiolo- 
gischen Zusammenliang des eben behandelten Symptomenkomplexes, 
besonders der Schmerzen im Beine, der Schmerzhaftigkeit des Plexus 
hypogastrici beim Drucke und der Hautsensibilitatsstbrungen mit 
dem Verlaufe dieses Prozesses im kleinen Bee ken feststellen. Besonders 
scharf tritt dieser Zusammenhang hervor, wenn man auch den nach der 
Massage der Prostata erreichten therapeutischen Effekt in Betracht 
zieht. Nachdem sich da infolge dieser Massage die Schmerzhaftigkeit 
der Prostatadriise verminderte, haben sich auch die Schmerzen im 
Beine und die Druckempfindlichkeit des Plexus hypogastricus ver- 
mindert und hat sich die Hautsensibilitat des Beines verandert. 

Auch in diesem Falle kann man also von einer Ischias radicularen 
Typus reden, die gleich der friiheren Beobachtung eine funktionelle 
Erkrankung darstellt, weil alle Symptome sehr schnell verschwinden 
und wieder die normalen Verhaltnisse eintreten. 

III. Go.. . man, 52 Jahre alt, klagte iiber Schmerzen im rechten Beine, 
den N. ischiadicus entlang, die nach seiner Aussage sich infolge von „Ermiidun- 
gen und sitzender Lebenswoise einstellten und schon lange dauerten“. Die letzten 
6 Monate wandte der Patient mehrmals — zweeks Behandlung seines Leidens — 
Galvanisation seines Beines, Bader, Massage und ahnliches, aber ohne groBen Erfolg 
an. Vor 2 Monaten verbog sich bei ihm das Riickgrat nach einer Seite, und die 
Arzte stellten ihm die Diagnose „Ischias scoliotica“. 

Vor 15 Jahren hatte der Patient ahnliche Schmerzen, aber auf der linken Seite, 
namlich im hnken Beine, im Gebiete des linken Hiiftgelenkes und im Kreuze 
gehabt, die mit einigen Intervallen ein paar Jahre dauerten. Als Folge dieser 
Schmerzen veranderte sich die Funktion des linken Hiiftgelenkes. Bei passiven 
Bewegungen konnte man den Oberschenkel in diesem Gelenke nicht iiber 60—65° 
beugen. Gleichzeitig anderte sich auch der Gang bei ihm. Der Patient begann 
etwas zu hinken, sich beim Vorwartsbewegen nach der linken Seite zu beugen. 
AuBerdem tritt aus der Anamnese hervor, daB er vor 25—30 Jahren ein Leiden 
des genitalen Apparatus (Urethritis) gehabt hatte. 

Bei objektiver Untersuchung wichen die passiven und aktiven Bewegungen 
im FuBe, im Unterschenkel und im Kniegelenke des linken Beines nicht von der 
Norm ab; was das linke Hiiftgelenk betrifft, gingen in demselben die aktiven und 
passiven Bewegungen bloB in den Grenzen 55—60° vonstatten; bei weiterem 
Biegen des Beines entsteht eine Anspannung im hinteren Teile der Hiiftgelenks- 
hiillen, dabei erzeugon aber alle Arten von aktiven und passiven Bewegungen keine 
Schmerzen — weder im Hiiftgelenke, noch im Kreuze, noch iiberhaupt im linken 
Beine. 

Das Hiiftgelenk ist in seiner auBeren Gestalt etwas verandert worden, zeigte 
aber keine starke Abweichung von den normalen Verhaltnissen. Die Muskulatur 
ist am linken GesaBe etwas atrophisch. AuBorhalb dieser Veranderung im Hiift- 
gelenke erscheint das linke Bein in bezug auf Hautsensibilitat, Reflexe, Druck¬ 
empfindlichkeit der Nervenstamme usw. ganz normal. 

Was das rechte Bern betrifft, wichen die grobe Kraft und die passiven Be¬ 
wegungen in samtlichen Gelenken von den normalen Verhaltnissen nicht ab. 


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(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des N. ischiadicus. 


62a 


Das Lascgues-Symptom ist sehr deutlich ausgepragt. Der rechte N. ischiadicus 
ist beim Drucke auf der Hohe des Collum femoris in der Glutealfalte und oberhalb 
des Knies sehr schmerzhaft. Ebenso sind der N. peroneus beim Drucke am Capi- 
tulum fibulae und N. tibialis in der Kniekehle und an der FuBsohle schmerzhaft. 

Die Patellar-Achillessehnen, Kitzel- und Cremasterreflexe sind normal. Die 
Bauchreflexe sind sehr deutlich. Das Riickgrat ist m&Big skoliotisch nach rechts 
gekriimmt. Plexus hypogastricus, renalis et Solaris'sind beim Drucke sehr schmerz- 
haft. 

Dio Untersuchung der Hautsensibilit&t fur Nadelstiche, Beriihrung, Warme 
und Kalte zeigte bei dem Patienten eine Herabsetzung aller Empfindungsarten im 
Gebiete L. II., III., IV. und V. 
auf der inneren und vorderen Seite 
des rechten Beines und eine Hyper- 
asthesie im Gebiete D. XII. und L. I. 
an der vorderen Oberflache des- 
selben (Abb. 6). Die Untersuchung 
per rectum stellte eine vergrdBerte 
und sehr empfindliche Prostatadriise 
fest. Beim Urethroskopieren (Dr. S. 

S. Rei*e) wurden eine starke Schwel- 
lung imd Hyperamie des Colliculum 
seminale und auf der vorderen Ober¬ 
flache der Prostata kleine fibrose 
Auswiichse und Granulationen kon- 
statiert. Bei der Untersuchung per 
rectum wurde auch Massage der 
Prostata ausgefuhrt, wahrend derer 
ein halber Teeloffel eitriger blut- 
gefarbter Fliissigkeit aus Urethra 
herausfloB. Bei dieser Gelegenheit 
wurde auch mit der elektrother- 
mische.n Nadel eine Kaustik der Pro¬ 
stata ausgefuhrt und dabei wurden 
aus der Pars prostatioa urethrae 
finige fibrose Auswiichse und Granu¬ 
lationen weggeschnitten. Als Folge 
dieses operativen Eingriffes entstand 
eine ziemlich starke Blutung aus 
dem Penis, die beinahe 24 Stunden 
dauerte. Nach dieser Blutung haben 
nach der Aussage des Patienten die 
Schmerzen im Beino nachgelassen 
und der Lendenteil des Riickgrats, der bis jetzt skoliotisch gekriimmt war, ist ge. 
rade geworden. 

Bei der zweiten Untersuchung im Ambulatorium, 2 Tage spater, klagte der 
Patient iiber Schmerzen, wio vorher, nur das Lasegue-Symptom und die Skoliose 
waren weniger ausgeprftgt. Die Hyper&sthesie im Gebiete D. XII. und L. I. ist 
vollkommen versehwunden. 

Vier Monate spater tritt der Patient wieder zweeks Behandlung seiner 
Ischias in die Nervenklinik ein. 

Bei der Untersuchung der Spinalfliissigkeit ist Nonne-, Alpert- und Wasser- 
mann-Reaktion negativ ausgefallen. Das Punktat war vollkommen durchsichtig; 




Abb. 6. Hvpasthesie am L. Ill, IV, V, 
Hyperalgesie an D. XII, L. I, II. 


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624 


M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechanismus der 


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auch unter den Mikroskopeu zeigten sich keine Formenelemente. Spezifisches 
Gewicht 0,2. Das iibrige klinische Bild unterschied sich vom friiheren Status 
nur durch das Verschwinden der Hauthyperastkesie im Gebiete D. XII und L. I. 
Hypalgesie aber blieb wie friiher bestehen. Denselben Tag wurde eine Acu- 
punctura Colliculi seininalis und das Absclineiden noch einiger fibrosen Auswiichse 
an demselben vorgenommen. Nach diesem Eingriffe trat eine starke Blutung ein. 
Bald nach der Acupunctur begann der Patient grolle Erleichterung im rechten 
Beine zu fiihlen. Jede 10 Tage wurde eine solche Acupunctur wiederholt. Nach 
der funften Acupunctur und einer taglichen Prostatamassage, ohne daB noch 
irgendwelche Behandlung vorgenommen wurde, zeigte sich die Hautsensibilitat 
im Gebiete L. II., III., IV. und V. weniger analgetisch. Das Symptom Lasegue 
hat nachgelassen. Die Prostata war bei der Massage sehr wenig empfindlich. Der 
Patient klagte nicht mehr iiber spontane Schmerzen, aber der N. ischiadicus war 
beim Drucke noch empfindlich. Sechs Wochen spater erklarte der Patient im 
Moment* des Einstiches mit elektrischer Nadel (wahrend einer Acupunctur), ein 
besonders angenehmes Gefiihl erapfunden zu lmben. Seit diesem Tage fiihlt er 
sich ganz gesund. Keine spontanen Schmerzen, keine Druckempfindlichkeit am 
rechten N. ischiadicus, kein Lasegue; die Hautsensibilitat, die Refloxe usw. wichen 
von der Norm nicht ab. Die faradische und galvanische Beaktion auf beiden 
Beinen zeigt keine Abweichung von der Norm. 

Die Behandlung des Patienten bestand hauptsachlicit aus Massage 
und Acupunctura mit elektrotkermischer Nadel des Colliculum semi- 
nalis. Unter dieser Kur stellte sich die Hautsensibilitat wieder her, 
Schmerzen und Skoliose verschwanden. 

Diese Beobachtung, die auch einen Fall von dem sog. radicularen 
Typus der Ischias darstellt, zeigt sich in manchen Beziehungen sehr 
interessant. Die Vermutung, dafi in diesem Falle eine (luetische) Er- 
krankung der Spinalhiillen (im Sinne Dejerins) vorlag, ist. nicht nur 
aufGrund der therapeutischenErfolge, sondern auch durch die negativen 
Untersuchungsresultate der Spinalfliissigkeit vollkommenausgeschlossen. 

In diesem Falle waren gleich den friiheren Beobachtungen die Sen- 
sibilitatsstorungen nicht nur im Bereiche des N. ischiadicus, sondern 
auBerhalb seines Ausbreitungsgebietes vorhanden. Diese Stoning hatte 
zweifachen Charakter: auf dem Bauche und in der Inguinalfalte — 
im Gebiete D. XII. und L. I. war die Sensibilitat erhoht, dagegen am 
Beine im Territorium L. II., III., IV., V. dieselbe herabgesetzt. 
Diese Sensibilitatsstorungen waren aber nicht bestandig und w'echselten 
sich ziemlich schnell ab. Im vollen Gegensatze zu den friiheren Beobach¬ 
tungen, wo eine Auswahl der Sensibilitatsverandemng fe.stgestellt 
wurde, gibt es in diesem Falle keine Dissoziation, und samtliche Sensibili- 
tatsarten sind dabei gleichmaBig veriindert. Da diese Herabsetzung 
oder Erhohung der Empfindlichkeit sich durch ihre Unbestandigkeit 
unterschieden, muB man dieselbe als eine funktionelle Stoning betrach- 
ten, die sich ohne Unterbrechung der zentripetalen Leitung entwickelte. 
Eine interessante Eigentiimlichkeit boten hier die Haut- und Sehnen- 
reflexe — namlich Achilles-, Patellar- und Cremasterreflexe. Diese reflek- 


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(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des N. ischiadicus. 625 

torischen Mechanismen, die von den I., II., III., IV. und V. Lumbal- 
wurzeln bedient werden, sollten herabgesetzt sein oder voilkommen 
fehlen, wenn man die Verminderung der Hautsensibilitat im Gebiete 
dieser Wurzeln beriicksichtigt; dagegen wichen diese Reflexe von der 
Norm nicht ab. Dieser Umstand bedeutet, daB eine Dissoziation oder 
einc Auswahl in der Erkrankung der zentripetalen Leitung im rechten 
Beine doch vorhanden war, infolgedessen die Leitung zum BewuBtsein 
der Schmerzen, der Beruhrung und anderer Empfindungen gehemmt 
war, dagegen die zentripetale Leitung der reflektorischen Verrichtungen 
ohne irgendein Hindernis funktionierte. Die Veranderung der Sensibili- 
tat wurde in einzelne Segmente — oder Wurzelgebiete — verteilt, 
infolgedessen dieser Fall dem radicularen Typus der Neuralgie ent- 
spricht; die radiculare Verteilung der Sensibilitatsstorung zeigte sich 
aber hauptsachlich auBerhalb des Ausbreitungsgebietes des Ischiadicus 
(D. XII. und L. I., II., III., IV.), infolgedessen man auch in diesem 
Falle keinen Grund hat, von einer radicularen Erkrankung des 
N. ischiadicus, d. h.von einer radicularen Ischias zu reden. 

Es ist sehr wichtig zu konstatieren, daB ein mit der Ischias gleich- 
zeitiges Leiden in den Organen des kleinen Beckens vorhanden war. 
Die in diesem Falle, laut der Anamnese und laut des objektiven Befundes 
\ orhandene Prostatitis gehorte zu den alten inveterierten Prozessen, 
die sich jedenfalls friiher als die hier zu betrachtende Neuralgie des N. 
ischiadicus entwickelte. Anderseits gehorte aber die hier zu besprechende 
Ischias auch zu alten und vernachlassigten Leiden. Ihren Beginn muB 
man in der Erkrankung suchen, die vor 15 Jahren im linken Beine an¬ 
ting und mit der Veranderung des linken Hiiftgelenkes endigte. 
Auch dieses letztere Leiden muB man in Anbetracht einiger Beobach- 
tungen*) als Folgeerscheinung einer Erkrankung der Organe im kleinen 
Becken betracbten. Sicherlich waren auch damals Prostatitis und 
Colliculitis vorhanden, weil, wie bekannt, diese Leiden sich durcheinen 
chronischen Verlauf unterscheiden und jeder Behandlung Trotz bieten. 
Diese Vermutung ist desto glaubwiirdiger, weil sich eine dunkle An- 
deutung iiber Urethritis in der Anamnese findet, und weil der objektive 
jetzige Befund eine Prostatitis und Colliculitis festgestellt hat. 

Was jetzt das rechte Bein — das heiBt die Neuralgie in demselben — 
betrifft, so muB man auch dieses Leiden mit dem sich im kleinen 
Becken schon mehrere Jahre hinziehenden Prozesse in Zusammenhang 
bringen. Trotzdem das rechte Bein friiher gesund war, muB man seine 
jetzige Erkrankung als ein Rezidiv der friiher schon dagewesenen 


*) Lapinsky: Zur Frage der als Begleiterscheinung bei Leiden der Visceral - 
organe auftretenden Knie- und Hiiftgelenkserkrankungen. Dtsch. Arch. f. klin . 
Med. 114 . 


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626 M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechanismus der 

Erkrankung betrachten. Man muB namlich eine aus den Kleinbecken- 
organen wiederholt aus&trahlende Attacke der Schmerzen vermuten, 
die infolge einer Erkrankung dieser Organe entstanden ist. Diese Organe, 
nachdem sie durch die Erkrankung das Gleichgewicht verloren haben, 
auBerten ihren abnormalen Zustand durch Schmerzausstrahlungen in 
der Peripherie. 

Eine atiologische Abhangigkeit der Ischias von der Prostata- 
erkrankung wird auf mehrere Tatsachen begriindet, z. B.: Hyper- 
iisthesie im Gebiete des XII. D. und I. L. verschwand gleich, nachdem 
Dr. Rtist fibrose Auswxichse vom Colliculum seminale entfernt und eine 
starke, durch die Elektropunktur ins Colliculum seminale, Ableitung 
von der Prostata gemacht hatte. Dieser therapeutische Eingriff, der 
fruher als eine richtige Therapie des Ischias vorgenommen wurde, hatte 
sofort auch eine wohltuende — auf das subjektive Befinden, namlich 
auf die spontanen Schmerzen ausiibende — Wirkung gehabt. Dagegen 
hat der Patient von der richtigen Ischias therapie — Galvanisation, 
Bader usw. —, die er fruher angewandt hatte, keine Erleichterung ver- 
spiirt. 

Die im weiteren Verlaufe der Erkrankung weiter angewandte 
Prostatabehandlung hatte ein und dasselbe Resultat — das Wiederher- 
stellen der Sensibihtat und Verschwinden der spontanen Schmerzen. 
Auch die Skoliose und das Lasegue-Symptom sind dadurch beeinfluBt 
worden, so daB die Besserung der Ischias in diesem Falle durch die 
Prostatabehandlung bewirkt wurde. Anderseits, in Anbetracht dieses 
therapeutischen Erfolges, muB man die Ursache der Schmerzen und der 
Sensibilitatsveriinderung im Beine und in den Hoften in der primaren 
Erkrankung der Prostata ersehen. 

IV. Frau N. P. P .... s, 34 Jahre alt, schon 15 Jahre verkeiratet, hat 
uur einmal, und zwar vor I2Jahren geboren. Sie leidet an Schmerzen denlinken 
N. ischiadicus entlang und im Kreuze. Die letzten 3 Monate verbog sich bei ihr 
das Riickgrat nach rechts und veranderte sich ihr Gang. Die letzten 2 Jahre sind 
die Menstruationen sehr reichlich und schmerzhaft geworden. Bei gyniikologischer 
Untersuchung wurden ein kleiner RiB des Gebarmuttercollums und heftige starke 
Blutstauungen im kleinen Becken festgestellt. 

Boi obiektiver Untersuchung wurde eine rechtsseitige Skoliose und ein 
stark ausgeprftgtes Lasegue-Symptom links konstatiert. Elektrische Reaktion ist 
an beiden Beinen fiir galvanischen und faradischen Strom normal. Am linkeu 
Beine waren typische Ihinkte am Ischiadicus-Stamme, besonders in der Gluteal- 
falteund in der Kniekehle, beim Drucke sehr schmerzhaft; der Achilles- und der 
Patellarreflex war am linken Beine sehr erhoht. Der Kitzelreflex an derselben 
Seite von normaler Kraft und normalem Umfang; samtliche Bauchreflexe an der 
linken Seite fehlten. Die Hautsensibilitkt war fiir Nadelsticho am linken Beine 
im Gebiete D. XI., XII., L. V., S. 1, II., III., V. (Abb. 7) herabgesetzt. Andere Sensi- 
bilitatsartcn, namlich Beriihrungs-, Warme- und Ijagegefiihl wichen von der Norm 
nicht ab. Dagegen waren dieselben Gebiete fiir die Kalte sehr hyperasthetisch. 
Plexi hypogastricus, renales et Solaris waren beim Drucke sehr empfindlich. Bei 


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(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des N. isehiadicus. 627 

der Untersuchung per rectum wurde festgestellt, daB die vordere Oberflache des 
Kreuzbeines und besonders Promontorium fiir den Druck sehr empfindlich waren. 
Das rechte Bein war in alien Beziehungen normal. Diagnose: Ischias scoliotica. 
Hyperaemia genitalium, laceratio colli uteri. 

Die Behandlung, die aus heiBen Bauch-, Bein- und Krouzprozeduren bestand, 
brachte eine Verminderung der Hyper&mie im kleinen Becken und Herabsetzung 
der Druckempfindlichkeit der vorderen Oberflache des Kreuzbeines, der sympa- 
thischen Bauchgeflechte, des N. isehiadicus und der spontanen Schmerzen, infolge- 
dessen konnte sich die Patientin schon zwei Wochen nach dem Kurbeginn gerade 
halten; die Schmerzen, die sie friiher, besonders nachts, beunruhigten, storten den 
Schlaf jetzt nicht mehr. Die objektive 
Untersuchung stellte dabei fest, daB 
die in den vorher erwahnten Seg- 
menten verminderte Schmerzempfind- 
lichkeitsich jetzt weniger herabgesetzt 
zeigte, auch die Bauchreflexe auf der 
linken Seite sich jetzt wieder ein- 
stellten. 

Drei Wochen spater erschien die 
Patientin mit den friiheren Klagen 
iiber die Ischiasschmerzen und be- 
richtete dabei, daB die Menses bei 
ihr 5 Tage vor der normalen Zeit 
begonnen, sehr reichlich und sehr 
schmerzhaft war. Dieses vorzeitige 
Eintreten der Menses erkl&rte die 
Patientin durch die UnmaBigkeit des 
Sexuallebens, die letzte Tage statt- 
gefunden hatte. Die Schmerzen wfth- 
rend dieser Menstrualperiode waren 
nicht nur im Bauche, sondem auch 
im Kreuze und im kranken Beine, den 
Isehiadicus entlang. Objektiv stellte 
man jetzt wieder die friiher dage- 
wesene (das letztemal aber nicht 
mehr vorhandene) Skoliose, Sym¬ 
ptom Lasegues, erhohte Patellar- und 
Achillessehnenreflexe und Herab¬ 
setzung der Schmerzempfindung im 
Gebiete D. XI., XII., L. V., S. I., IL, III., V. fest. Die Empfindlichkeit fiir 
Warme, Kalte und Beriihrung wich auf den Beinen und am Korper nicht von der 
Norm ab. Dagegen setzten sich jetzt die FuBsohlenreflexe, die friiher normal waren, 
herab, und die Bauchreflexe verschwanden beiderseits wieder vollkommen. 

Wieder lieB sich eine starke Druckempfindlichkeit an der vorderen Flftche 
des Kreuzbeines konstatieren, die das letztemal nicht vorhanden war. 

Nach 7 Tagen einer Behandlung mit Belladonna-Ergotinzapfen stellte sich 
die Schmerzempfindlichkeit am Beine wieder her. Die Skoliose und das Las6gue- 
Symptom verschwanden. FuBsohlen-, Bauch-, Achillessehnen- und Patellarreflexe 
zeigten sich normal. Die Druckempfindlichkeit an der vorderen Oberflache de» 
Kreuzbeines verschwand. Die Schmerzhaftigkeit des Plexus hypogastricus beim 
Drucke setzte sich sehr herab. In weiterer Behandlung verschwanden, dank der 
heiBen Prozeduren, die Hyperftmie im kleinen Becken und gleichzeitig auch die 
letzten Erscheinungen der Ischias. 



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M. Lapinsky: Zur Frage liber den Mechanismus der 


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Die Ischiasdiagnose wurde hier auf den typischen spontanen 
Schmerzen der Druckempfindlichkeit des N. ischiadicus, deni Symptom 
Lasegues und Skoliose begriindet. 

Auch diesen Fall muBte man zu den Neuralgien segmentaren oder 
radicularen Typs rechnen, der auBerdem mit einer funktionellen 
Skoliose verbunden war. 

Als Zeichen der segmentaren resp. radicularen Ischias waren hier 
Sensibilitatsstorungen, die mit Segmentgrenzen D. XI., D. XII., 
L. V., S., I., II., III. zusammenfielen. 

Auch in diesem Falle, gleich dem friiheren, war die Sensibilitat 
mit einer Auswahl zerstort. Nicht alle Arten der Sensibilitat, sondern 
nur die Schmerzempfindungen waren herabgesetzt, dagegen blieben 
die Beriihrungs- und die Temperatursensibilitat ganz normal. 

Der Kitzel- und Achillessehnenreflex ziehen auch in diesem Falle 
die Aufmerksamkeit auf sich. In Anbetracht der Sensibilitatsherab- 
setzung (fur die Schmerzempfindung) im Gebiete L. V., S. II., S. I. 
sollten diese Reflexe in diesem Falle vollkommen gefehlt haben oder 
mindestens herabgesetzt sein; in Wirklichkeit aber verhielten sich hier 
die Reflexe unverandert. Da in diesem Falle die zentripetalen Leitungen 
fiir diese Reflexe und auch der taktilen und der Temperaturempfindun- 
gen ohne Stoning vonstatten gingen, die Schmerzleitungsbahnen da¬ 
gegen gehemmt waren, muB man auch in diesem Falle eine dissoziative 
Stoning im Riickemnarke annehmen. 

Gleich den friiheren Fallen zeigten sich auch eigentiimliche Haut- 
flecken im Gebiete der Wurzeln, die nicht an der Ischiadicusgestaltung 
teilnahmen, z. B. D. XI. und XII. Die Unstetheit der Sensibilitats- 
und Reflexstorungen, anderseits auch die schnelle Wiederherstellung der 
veranderten Funktionen des Nervensystems sprechen gegen Annahme 
einer organischen Stoning jener Gebiete der Nervenzentren, wo diese 
Storungen konstatiert wurden. Infolgedessen muB man in diesem Falle 
eine organische Verandening der Spinalwurzeln ausschlieBen. Auch 
bei dieser Patienten fand gleich den friiher erwahnten Kranken im 
kleinen Becken ein chronischer ProzeB statt, der sich lange vor der 
Ischias entwickelte: Laceratio colli konnte also ihren Ursprung in der 
einzigen Geburt, d. i. vor 12 Jaliren haben. Ein Zusammenhang der 
Ischiasentwicklung mit dem Zustande der Kleinbeckenorgane laBt 
sich aus den klinischen Veranderungen im Beine schlieBen, die in Ab- 
hangigkeit von dem Zustande jener Organe wechselten. Z. B. eine 
Verscharfung der Schmerzen im Beine, das Wiedererscheinen von Sko¬ 
liose, — Herabsetzung der Schmerzempfindung und des Lasegues- 
Symptomes fielen mit der zu friih eingetretenen Menstrualperiode und 
mit dem stiirmisch verbrachten Geschlechtsverkehr zusammen. Ander¬ 
seits aber konnte man sich mit bloBem Auge iiberzeugen, daB die Hyper- 


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(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des X. ischiadicus. 


629 


iimie der Genitalorgane die nachste Ursache dieser Veranderungen 
war, weil Schmerzen und andere Erscheinungen zuriickgegangen sind, 
nachdem die Hyperamie der Beckenorgane nachgelassen hat. Die Be- 
nxhigung der Schmerzen imBeine und im Kreuze ging mit der Hyperamie- 
verminderung im Genitalapparate, mit der Herabsetzung der Druck- 
empfindlichkeit der sympathischen Geflechte im Bauche und der vor- 
deren Seite des Kreuzbeines parallel. 


Liu. 2 


U- 


V. Herr S. J. P. tritt in die Nervenklinik mit einer ihm vor 4 Monaten 
gestellten dunklen Diagnose beginnender Tabes oder Myelitis disseminata ein. 
Diese beiden Diagnosen wur- 
den auf der klinischen Unter. 
suchung begriindet, weil die 
Achillessehnenreflexe bei der 
Untersuchung des Patienten 
von einern Spezialisten nicht 
gefunden wurden, und die Sen- 
sibilitat in den unteren Extre- 
mitaten nach segmentar. resp. 
radicular. Typus verandert war. 

Eine Woche s pater fand ein 
anderer Neurologe bei dem 
Herm S. J. P. eine starke Ver- 
minderung der groben Kraft 
in den Beinen. eine diffuse 
Herabsetzung der Sensibilitat 
in denselben und eine starke 
Erhohung der Sehnenreflexe in 
den unteren Extremitfiten, und 
zwar Achilles-Klonus -Reflexe. 

AuBerdem fand eine Blasen- 
storung statt. Vor 3—4 Jahren 
hatte der Patient neuralgische 
Schmerzen im linken Beine, ein 
Spannungsgefiihl in beiden Bei¬ 
nen, Schwache in denselben und 
Urindrang. Geschlechtsfunk- 
tion war vorhanden, aber die 
Ejaculation war immer pracox. 

Jetzt klagte der Patient iiber Schwache in den beiden Beinen und iiber kon- 
stante Schmerzen im linken Beine. Diese Schmerzen und die Schwache wurden 
mit iiberfiilltem und mit ganz ausgedehntem Bauche immer starker. Dagegen 
verminderten sich und verschwanden sogar die Schwache und die Schmerzen 
jedesmal nach den Abfiihrmitteln. Lues, Potus, Gonorrhoe wurden in Abrede 
gestellt. Im Alter von 15—18 Jahren hatte der Patient maBig onaniert. 

Bei der Untersuchung in der Klinik wurde folgendes gefunden: Aktive Be- 
wegungen in den Beinen waren vorhanden, die Muskelkraft in den Beinen aber 
herabgesetzt. Keine Muskelatrophie und iiberhaupt keine trophische Veranderun¬ 
gen in den unteren Extremitaten. Das Lasegue-Syinptom war beiderseits sehr 
tark ausgepragt. Beide NN. ischiadici waren beim Drucke in der Gluteal- 
alte sehr schmerzhaft. Plexi hypogastrici, superior et inferior ebenso beira Drucke 




Abb. 8. Hypalgesie an L. I, II, III, IV, V 
links, L. IV, V, S. Ill, V rechts. 


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630 


M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechanismus der 


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sekr scbmerzhaft. Der linke N. tibialis in seinem ganzen Verlaufe auf Druck sehr 
empfindlich. Die Patellar- und Achillessehnenreflexe waren bis zum Klonusgrade 
erhoht. Die Hautsensibilitftt fiir Nadelstiche war im Gebiete einzelner Dermato- 
mere herabgesetzt, und zwar am linken Beine im Gebiete L. I., II., III., IV., V. 
(Abb. 8), am rechten Beine im Gebiete L. IV., V. und S. III., V. Das Beriih- 
rungs- und Teraperaturgefiihl und der Puls in beiden AA. tibiales antica waren 
normal. Bauch, Riicken, Brust, die oberen Extremit&ten, Hals, Gesicht und 
Schfidel wichen in bezug auf Hautsensibilitat, grobe Kraft, Ernahrung, Reflexe 
und elektrische Reaktion nicht von der Norm ab. Bei der Untersuchung per Rectum 
lieB sich folgendes feststellen: m&Bige Erweiterung der Hamorrhoidalvenen; sehr 
groBe Druckempfindlichkeit des Rectum. Die vordere Flache des Kreuzbeines 
war beim Drucke sehr scbmerzhaft. Dio Prostatadriise war nicht vergroBert, 
aber etwas verdickt und beim Drucke ebenfalls sehr schmerzhaft. Beim Drucke 
auf die rechte Halfte der Prostata empfand der Patient intensive Schmerzen in der 
rechten Wade. Der Druck auf die linke Halfte der Prostata erregte starke Schmer- 
im linken GesaBgebiete und in der linken Wade. Bei urethroskopischerUntersuchung 
(Dr. Reise) wurden Urethritis posterior, Colliculitis, fibrose Auswiichse und Granu- 
lationen am Colliculum seminale und ein eitriger AusfluB aus Vas deferens fest- 
gestellt. Diagnose: Ischias bilateralis, Hyperaesthesia Recti, Prostatitis, Colliculitis. 

Die Behandlung bestand taglich aus Massage und Erwarmen der 
Prostatadriise ( Arzpergcr , lokale Dampf- oder HeiBwasserdusche), 
aus warmen Vollbadern und lokalen (im Perineum) Injektionen einer 
Novokainlosung und nacb jedem 7. oder 10. Tage — Acupunctur in 
Colliculum seminale. 

Nacb 15 Tagen einer solchen Behandlung lieBen sich subjektiv 
und objektiv groBe Veranderungen feststellen: Die spontanen Schmer- 
zenhaben sehr nachgelassen und die grobe Kraft hat so sehr zugenommen, 
daB der Patient, der vor 2 Wochen mit Miihe 200—300 Schritte machen 
konnte, jetzt den ganzen Tag auf den FiiBen war und die Treppen 
mehrmals am Tage ohne Schmerzen oder eine Ermiidungzu spiiren stieg. 

Bei der objektiven Untersuchung war die Schmerzhaftigkeit der 
NN. ischiadici beiderseits sehr vermindert. Die Patellar- und Achilles¬ 
sehnenreflexe wurden normal, die Hypalgesie am linken Beine war 
verschwunden und dieselbe auf dem rechten Beine durch Hyperalgesie, 
und zwar im Gebiete L. IV. ersetzt. 

Der Patient muBte plotzlich die Klinik verlassen. Sechs Monate 
spate r erhielt ich von ihm einen Brief, in dem er iiber die vollkommene 
Wiederherstellung seiner Gesundheit berichtete. Wahrend dieser sechs 
Monate war er in der Behandlung eines Spezialisten fiir Prostata- 
krankheiten, der seine Prostata mit Thermopenetration, Massage und 
Acupuncturen weiterbehandelt hatte. Jedesmal nach dem Stich mit 
der elektrothermischen Nadel hatte der Patient stark geblutet., aber 
diese Blutung brachte ihm in bezug auf spontane Schmerzen, Urin- 
drang und grobe Kraft in den beiden Beinen groBe Besserung. 

Auch in diesem Falle handelte es sich, gleich den vorhererwahnten 
Kranken, um eine Ischias. Zugunsten dieser Diagnose sprachen das 


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(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des X. ischiadic us. 


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Lasegue-Syinptom, die Druckempfindlichkeit des N. ischiadicus und 
die spontanen Schmerzen. Die vermutete Tabes und Myelitis disse¬ 
minata waren vollkommen ausgeschlossen. Da auBerdem noch eine 
Hypalgesie in einzelnen Gebieten, die mit den Schemen der radicularen 
Sensibilitatsstorung nach Kocher, Thornburn u. a. zusammenfiel, fest- 
gestellt war, konnte man hier von einer radicularen oder segmentaren 
Ischias sprechen. 

In voller Analogic mit den friihererwahnten Kranken war die 
Sensibilitat nicht in alien ihren Arten, sondern nur in bezug auf die 
Schmerzempfindung verandert, konstatiert worden. Dagegen war das 
Beruhrungs-, Temperatur- und Lasegue-Gefuhl ganz normal. Diese 
Sensibilitatsstorungen wurden in den Wurzelgebieten L.II., III., IV., V. 
und S. I. links und L. IV., V. und S. III. rechts festgestellt. Da diese 
Wurzeln an der Verrichtung der Cremaster-, Patellar- und Achilles- 
seknenreflexe teilnehmen, sollte man erwarten, daB diese Reflexe ent- 
weder vollkommen fehlen oder wenigstens herabgesetzt seien. Dagegen 
waren sie in der Klinik erhoht oder ganz normal. Diese Tatsache lieB 
den SchluB ziehen, daB auch hier die Sensibilitatsleitungsbahnen im 
Riickenmarke mit einer Auswahl befallen wurden, die Schmerzleitung 
war namlich gehemmt, dagegen waren die zentripetalen Leitungen fiir 
die genannten Reflexe und fiir Beruhrungs- und Temperatur-Gefulile 
ganz normal. 

Da diese Sensibilitats- und Reflexveranderung'sich durch eine groBe 
Unstetheit und durch einen schnellen Wechsel des Grundtones und des 
Grades unterschied, so muB man diese Leitungsveranderung nicht zu 
den organischen, sondern zu den funktionellen Storungen rechnen. 

In voller Gbereinstiminung mit den friiher beschriebenen Kranken 
wandten folgende Umstande die Aufmerksamkeit auf sich: gleichzeitig 
mit den Schmerzen und anderen Erscheinungen in den Beinen war 
noch eine griindliche Stoning in den Organen des kleinen Beckens 
vorhanden: eine Erkrankung des Dickdarmes (in Form der hamorrhoi- 
dalen Erweiterung und erhohter Empfindlichkeit der Schleimhaut 
dieses Darmes), eine chronische Entziindung der Prostatadrilse, verbun- 
den mit Hyperasthesie. Die iitiologische Bedeutung dieser Prozesse 
beziiglich der Ischias folgte in diesem Falle aus der Aussage des Patienten 
und aus dem objektiven Befunde. Das allgemeine Krankheitsbild 
stellte namlich groBe Schwankungen dar, und auch einzelne Symptome 
charakterisierten sich durch eine groBe Unstetigkeit, die von dem Zu- 
stande der Kleinbeckenorgane abhing. Sogar das Hauptsymptom, 
namlich die spontanen Schmerzen und andere subjektive Empfindungen 
in den Beinen, stellte unter dem Einflusse der Oberfiillung mit Gasen 
usw. des Darmtractus die groBten Schwankungen dar; dies lieB sich 
aus dem Umstande, daB die Schmerzen sich nach der Darmentleerung 


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632 


M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechaniaraus der 


beruhigten, schlieBen. Dieselben Schmerzen nahmen eine andere Far- 
bung an und entstanden sogar an anderen Stellen unter der Druck- 
wirkung auf die Prostatadriise. Die Erscheinungen in der Motilitats- 
sphare stellten je nach dem Zustande der Prostatadriisen ebenso starke 
Schwankungen dar. Jedenfalls konnte man sich durch diesen Zustand 
der Prostata — und iiberhaupt durch eine Erkrankung der Organe 
im kleinen Becken — verschiedene krankhafte Symptome in den Beinen 
erklaren, die aus der Anamnese bekannt waren. GewiB zeigten Erschei¬ 
nungen in der Motilitatssphare je nach dem Zustande der Prostata- 
druse groBe Schwankungen. So muBte man sich jedenfalls die Besserung 
der aktiven Beweglichkeit, die sich binnen 15 Tagen nach der An- 
wendung ableitender Therapie, Ther mother a pie und Massage der Pro- 
statadriisen zeigte, erklaren. Eine groBe Unstetigkeit wurde auch im 
Zustande der Sehnenreflexe konstatiert. Im Laufe von 8 Tagen kamen 
die Reflexe in einen normalen Zustand; dagegen waren sie vorher bis 
zum Klonuszustande erhoht, 3 Monate friiher haben sie vollstandig 
gefehlt und nach weiteren 2 Wochen waren sie wieder erhoht. 

Ahnliche Unstetigkeit lieB sich auch im Gebiete der Hautsensibili- 
tat konstatieren: bei der ersten Untcrsuchung wurde hier Hypalgesie 
segmentaren Type festgestellt; ahnliche Sensibilitatsstorungen hatte 
sicherlich auch jener Neurologe gefunden, der auf Grund dieses Be- 
fundes die Diagnose der Tabes gestellt hatte. Eine Woche spater, 
als die Diagnose auf Myelitis lautete, zeigte die Hautsensibilitat 
keinen segmentaren Typus, sondern eine diffuse Herabsetzung. Aclit 
Tage spater, nach dem Eintritt in die Klinik, stellte sich die Haut¬ 
sensibilitat wieder her, und es erschien sogar die Hyperasthesie radicu- 
liiren Typus. 

Eine solehe Unstetigkeit der Symptome sprach gegen eine mate- 
rielle Erkrankung des Nervensystems und bewies dagegen die funk- 
tionelle Natur der Riickenmarksstorung. 

Indem ich bloB iiber diese fiinf Falle ohne besondere Aus wall 1 
berichtete, die aber meinen Grundgedanken klar genug darlegen, halte 
ich es nicht fiir notig, zahlreiche andere analoge Beobachtungen meiner 
Kasuistik anzufiihren und gehe jetzt zu der weiteren ausfiihrlicheren 
Betrachtung der hier beschriebenen Kranken iiber. 

III. 

Die Diagnose einer Ischias i\nrde hier durch mehrere Standpunkte 
begriindet. Zugunsten dieser Diagnose sprachen subjektive Empfin- 
dungen, und zwar die Schmerzen den N. ischiadicus entlang. Weiter 
berechtigten mich nocli verschiedene objektive Erscheinungen eine 
solehe Diagnose zu stellen, namlich: Skoliose, Druckempfindlichkeit des 


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(sogenannten Wurzel-JNeuralgie des N. ischiadicus. 


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N. ischiadicus in den Punkten Valleix und das Symptom Lasegues. 
Als eine Anomalie oder eine Eigentumlichkeit ware die Veranderung der 
Motilitat bei dem Herra P. (Fall V) zu erwahnen, der infolge groBer 
Schwache in den Bcinen z. B. kaum 200—300 Schritte zu FuB zu machen 
vermochte. Bei demselbenKranken war auch eine Storung der Reflexe, 
und zwar der Haut- wie auch der Sehnenreflexe beobachtet. 

Erwahnt. zu werden verdient der Umst&nd, daB die Pruckempfind- 
lichkeit des N. ischiadicus sich durch eine besondere Auswahl unter- 
schied, namlich: schmerzhaft waren die Nerven im Wadengebiete; 
dagegen blieben die Nervenstamme am Oberschenkel beim Drucke 
schmerzlos oder umgekehrt. Durch eine besondere Topographie unter- 
schieden sich die Sensibilitatsstorungen nicht nur im Gebiete des N. 
ischiadicus, sondern auch auBerhalb desselben. 

Diese Sensibilitatsstorungen, denen die Autoren ihre Aufmerksam- 
keit schon mehrmals zuwandten, veranlassen, jeden Fall mit solchen 
Empfindungsverandcrungen zu der sog. radicularen Neuralgie zu 
rechnen. Xach den im ersten Kapitel angefiihrten literarischen An- 
gaben beurteilend, konnte man auch diese hier angefiihrten Falle fiir 
radiculare Ischias betrachten. 

In alien meinen Fallen waren Plexi sympathici hypogastrici superio- 
res et inferiores und bei einigen auch die vordere Oberflache des Kreuz- 
beines druckempfindlich. 

Endlich waren in alien meinen Fallen stabile chronische Storungen 
in den Organen des kleinen Beckens nachweisbar: bei Mannern wurden 
Prostatitis, Spermatocystitis, Hamorrhoidalknoten, Hamorrhoidal- 
phlebitis usw., bei Frauen Erkrankungen der Gebarmutter, der Eier- 
stocke, Peri-, Parametritis und verschiedene Storungen anderer Teile 
der Genitalsphare, des Rectum und iiberhaupt der Kleinbeckenorgane. 

Sehr wichtig erscheint der Umstand, daB verschiedene therapeu- 
tische MaBregeln, die fiir die Behandlung der Organe des Kleinbeckens 
angewandt wurden, eine Erleiehterung |der Schmerzen und YVieder- 
herstellung der Sensibilitat, der reflektorischen Tatigkeit usw. zur 
Folge hatten. 

Einige klinische Symptome verdienen, einer besonderen Erwagung 
unterzogen zu werden. 

In dieser Beziehung lenken besonders Veranderungen der groben 
Kraft, der reflektorischen Tatigkeit, des Umfanges der Extremitat 
infolge allgemeiner Abmagerung oder infolge der Atrophie der Muskel- 
massen die Aufmerksamkeit auf sich. 

Sensibilitatsstorungen liefien sich durch mehrere Eigentiiinlich- 
keiten unterscheiden. Erstens fielen Territorien mit veranderter Sensi¬ 
bilitat nicht ihrer Richtung nach, wie manche Autoren dies beobach- 
teten, weder mit dem Verlaufe des Stanimes N. ischiadici, noch seiner 


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M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechanismus der 


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Zweige zusammen. Diese Gebiete mit veranderter Sensibilitat 
hatten eine spitzwinkligo Form und waren nicht nur im Bereiche des 
Verzweigungsraumes des N. ischiadici, sondern auch auBerhalb des- 
selben konstatiert worden. Zweitens hatten diese Territorien mit ver¬ 
anderter Sensibilitat keine rhomboide Gestalt, infolgedessen keine 
Ahnlichkeit mit den an&sthetischen Figuren, die bei der Erkrankung 
peripherischer Nerven beobachtet werden (Strieker 9 *). Dieselben Figuren 
verliefen bei meinen Kranken nicht zirkular- oder spiralartig, wie es 
nach Strieker 9 *, Flalau 87 ), Dobrochotoff 96 ) und anderen fiir die Wurzel- 
erkrankung charakteristisch gehalten wird. Sie unterschieden sich auch 
von den Figuren der Sensibilitatsstorungen bei Hysterie oder bei 
Rindenherden. Anderseits erinnerten diese Territorien veranderter 
Sensibilitat bei meinen Kranken durch ihre Lokalisation, wie auch 
durch ihre Konturen an die segmentare Verteilung der Sensibilitat 
nach Thornburn, Allen-Starr u. a. 

Drittens verdient die Unstetigkeit der Sensibilitatsstorungen in 
unseren Fallen einer Erwahnung. Der Storungsgrad schwankte sehr 
stark; auch wechselte der Charakter dieser Stoning; ein und dasselbe 
Gebiet an der Hautoberflache warin einer Krankheitsperiodeanasthetisch, 
in einer anderen unterschied sie sich durch eine erhohte Sensibilitat. 

Viertens scheint es auBerordenthch wichtig, daB die Sensibilitat, 
resp. die zentripetale Leitung im Rtickenmarke mit einer besonderen 
Auswahl gestort wird. Die Schmerzleitung war z. B. herabgesetzt, 
dagegen zeigte sich das Beriihrungsgefiihl unverandert, oder umgekehrt; 
oder es waren z. B. alle Arten der Empfindung herabgesetzt, dagegen 
zeigten sich Haut- und Sehnenreflexe, die mit den Segmenten, wo die 
Sensibilitat verdorben war, verbunden w T aren, erhoht, d. h. zentripetale 
Fasern leiteten nicht die Impulse, insofern dieselben zum BewuBtsein 
aufsteigen sollten, dagegen leiteten sie ganz gut, wenn sie die Reflex- 
bogen im Rtickenmarke bedienen sollten. 

Fiinftens muBte man auch eine gewisse Auswahl in der Erkran¬ 
kung der zentripetalen Leitungsfahigkeit in der Tatsache ersehen, daB 
die Hautsensibilitat nicht dort verandert war, wo der Patient spontane 
Schmerzen empfunden hat, sondern andorwarts, manchmal sogar auBer¬ 
halb des Verbreitungsgebietes des N. ischiadicus, -— im Riicken, an 
der inneren Oberflache des Oberschenkels, am Bauche usw. Eine Aus- 
wahl oder eine Dissoziation auBerte sich in diesem Falle darin, daB ein 
Teil der zentripetalleitcnden Fasern funktionierte und Schmerzempfin- 
dungen dem BewuBtsein zufuhrte, dagegen der andere Teil derselben 
ausgeschaltet war und nichts mehr leitete; infolgedessen verspiirte der 
Patient die Erkrankung dieses anderen Gebietes gar nicht, weil dasselbe 
ihr Gleichgewicht in bezug auf Schmerzleiten verloren hatte, trotz- 
•dem dieses Gebiet spontane Schmerzen erzeugen konnte. 


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(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des X. ischiadicus. 


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Diese Eigentumlichkeit der zentripetalen Leitungsfahigkeit wurde 
bei ahnlichen Krankeu auch von anderen Autoren beobachtet, blieb 
aber aus unbekannten Griinden von den Gelehrten, die die Ischia# 
radicularis griindeten bis jetzt unaufgeklart. Um ein kleines Beispiel 
davon zu geben, fiihre ich hier einige Daten aus zufallig genommener 
Literatur an. 

Bertheol 1 ) sah in seinem III. Falle (S. 69) der radicularen Ischias 
Hyperasthesie fiir Kalte, Warme und fur Schmerz, dagegen blieb 
die Beriihrungsempfindung unverandert. Dasselbe zeigte sich auch 
in anderen Fallen desselben Autors (S. 73), wo mehrere, aber nicht alle 
Sensibilitatsarten am Beine herabgesetzt waren („hypaesthesies aux 
divers modes de la sensibilite"), dagegen wurden die Achillessehnen- 
reflexe, die von denselben Wurzeln bedient werden, als normal vermerkt. 
Im VII. Falle Bertheol s wurde in dem von Ischias befallenen Bein ein 
Streif des segmentaren Typs herabgesetzter Empfindung nur fiir 
Schmerz notiert (S. 81), an einer anderen Stelle desselben Beines wurde 
eine Verminderung der Beruhrungs- und Schmerzempfindung konsta- 
tiert (,,Sur la face posterieure du membre inferieur droit existe une 
zone d’hypaesthesie profonde specialment pour la sensibilite a la dou- 
leur sous la forme d’un ruban“, S. 83). Andere Teile desselben Beines 
zeigten auch eine Sensibilitatsherabsetzung mit einer besonderen 
Auswahl (,,. . . le reste de la jambe et la cuisse presente lui aussi . . . 
une diminution des differentes formes de la sensibilite", S. 84, d. h. 
eine Veranderung nicht aller, sondern nur einiger Empfindungsmodali- 
taten). Gleichzeitig waren die Patellar- und Achillessehnenreflexe er- 
erhoht, Cremaster- und Sphincterreflexe waren aber normal. 

Dasselbe trifft man auch bei Bonola 9 ). Im I. Falle dieses Autors 
(S. 372) fand sich ein hyperasthetischer Streifen im Gebiete der L. V. 
und S. I., II. Wurzeln vor nur fur Schmerz und Temperatur; 
gleichzeitig wurden aber Kitzel- und Achillessehnenreflexe, die von 
denselben Wurzeln bedient waren, als abgeschwacht notiert. ■— Im 
II. Falle desselben Autors (S. 372) zeigte sich das Gebiet ungefahr 
S. I., II., III. und L. V. hyperasthetisch, trotzdem Kitzel- undAchilles- 
sehnenreflexe vorhanden waren. Dagegen fehlte der Patellarreflex; 
ebenso ist die motorische und die trophische Sphare normal. Im 
IV. Falle war die Sensibilitat nur fiir Schmerz und Warme herabgesetzt. 

Strussberg 97 *) beobachtete bei Ischias Herabsetzung des Beriih- 
rungsgefiihles; in seinen meisten Fallen fand er auch die Schmerz- und 
Temperaturempfindliehkeit herabgesetzt (S. 1176). In seinem IV. Falle 
wurde eine starkc Herabsetzung samtlicher Sensibilitatsarten im Ge¬ 
biete L. I., II., III., IV., V. und S. I., II., III. konstatiert, trotzdem 
Patellar- und Kitzelreflex normal waren. Im V. Falle war die Sensibili¬ 
tat im Gebiete S. I., II., III., IV., V. und L. V. herabgesetzt; trotzdem 

Archiv fiir Psychlatrle. Bd. 67. 42 



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M. Lapinsky: Zur Frage liber den Mechanismus der 


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der Achillessehnenreflex auf der kranken Seite ebensogut war wie auf 
der normalen Seite; auch andere Reflexe wichen von der Norm nicht ab. 

Hierher gehort auch der II. Fall Biros 18b ), der eine Frau, 25 Jahre 
alt, betrifft. Bei dieser Patientin mit rechtsseitiger Ischias warden 
Lasegues-Symptom, Herabsetzung der Sensibilitat im Gebiete des 
N. peroneus und das Fehlen des Achillessehnenreflexes festgestellt. 
Zu guns ten der Ischiasdiagnose sprachen die normale elektrische Reak- 
tion, das Fehlen aller paralytischen Symptome und ■— nachdem die 
Schmerzen aufgehort haben ■— die Wiederherstellung des fehlenden 
Reflexes. Interessant war in diesem Falle die Unempfindlichkeit des 
N. techiadicus beim Drucke. Im III. Falle Biros, in dem das Lasegue- 
Symptom positiv konstatiert wurde, war der Stamm des N. ischiadicus 
nicht druckempfindlich. Die Sensibilitat im Gebiete N. peronei war 
herabgesetzt und der Achillessehnenreflex fehlte, stellte sich aber nach 
dem Aufhoren der Schmerzen wieder her. Eine Dissoziation zeigte sich 
in diesem Falle darin, daB der Achillesreflex fehlte, trotz normaler Sen¬ 
sibilitat im Gebiete des Tendo Achillis. 

Jaboulay 62 ) beschreibt einen Patienten, bei dem Motilitat, Reflexe, 
Temperatur und Schmerzempfindung normal waren, dagegen die Be- 
ruhrungsempfindung auf dem kranken Beine herabgesetzt war (S. 208). 

Im X. Falle Dobrochotov s 28 ) (S. 51) wird ein 44jahriger Patient 
mit rechtsseitiger Ischias beschrieben, bei dem das ganze rechte Bein 
und der Riicken von der X. Wurzel abwarts in bezug auf Beruhrungs- 
und Schmerzempfindung unempfindlich waren, dagegen das Temperatur- 
gefiihl ganz normal war. An demselben Beine fand man einen Streifen 
vor, an dem die Empfindung fiir Schmerz, Beriihrung, Kalte und Warrue 
vollkommen verschwunden war. Dobrochotov sieht in dieser Tatsaebe 
den Beweis fiir eine organische Erkrankung der Lu mbosa kralwurzel 1 1 ; 
mit dieser SchluBfolgerung kann man aber nicht ubereinstimmen. 
Gegen die Erkrankung der hinteren und vorderen Wurzeln V. und 
S. I., II. spricht in seinem Falle das Vorhandensein der Achillessehnen- 
reflexe und ihre Gleichheit mit denselben auf der gesunden Seite, 
ebenso spricht der normale Patellarreflex gegen die Erkrankung der 
II., III. und IV. Lumbalwurzeln. 

Dasselbe laBt sich auch iiber den Fall Lortat-Jakob-Sabarreanu 6 *) 
sagen. Bei ihren Patienten mit der linksseitigen radicularen Ischias 
war das Gebiet L. I., II., III., IV. undV. hyperasthetisch, S. I. und II. 
dagegen vollkommen anasthetisch, trotzdem die Achillessebnen-, 
Patellarreflexe gesteigert und Cremasterreflexe sogar stark erhoht 
waren. Der elektrische Strom zeigte keine Degenerations - 
erscheinungen. In Anbetracht dessen, daB die Achilles- und Cremaster¬ 
reflexe erhoht waren, trotzdem die Sensibilitat im Gebiete S. I., 
II. und L. I., II., III. gestort war, laBt sich daraus scblieBen, 


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(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des X. ischiadicus. 


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daB die zentripetale Leitung mit einer Auswahl verandert 
Avar: die reflektorischen Bogen haben ihre Funktionsfahigkeit auf- 
bewahrt, dagegen waren die Bahnen von denselben Wurzeln, die sen¬ 
sible Erupfindungen leiten, in ihxem Aveiteren Verlaufe zum Gehirne 
gehemmt. Die Autoren hielten ihren Fall fur eine radiculare Ischias 
organischen Ursprungs (,,I1 s’agit done bien ici dune sciatique organi- 
que,“ S. 634), deren Ursache sie in einer Meningitis radicularis luetica 
sehen. Im zweiten Falle derselben Autoren handelt es sich ebenso urn 
eine linksseitige radiculare Ischias. Auch in diesem Falle blieb die 
Beruhrungssensibilitat normal, dagegen Schmerz-, Kalte- und Warme- 
empfindungen gestort waren (S. 921). Usav. usav. 

Diese Daten anfuhrend, mochte ich zeigen, da 13 bei der radicularen 
Ischias eine Dissoziation in der spinalen Leitungsfahigkeit auch von 
anderen Autoren mehrfach beobachtet Avurde. Anderseits aber in An- 
betracht dessen, da!3 diese Ischiasart durch eine Dissociation charakteri- 
siert wird, da!3 bei dieser Erkrankung entweder der Reflexbogen 
oder irgendeine Sensibilitatsempfindung \ r erschont bleibt, sprechen 
solche klinische Befunde gegen eine Wurzelerkrankung organischen 
Charakters, d. h. gegen Pachileptomeningitis, gegen Einklemmung 
oder Umschnurung der Wurzeln, gegen parenchymatose oder inter- 
stitielle Entziindung derselben usw. Eine Wurzeleinklemmung im 
Riickgrate hatte sich durch ein Bild von Anaesthesia dolorosa geau Bert; 
bei diesem Bilde sollten im vollen Gegensatze zu dem, was hier beobach¬ 
tet Avurde, die Sensibilitat und die Reflexe fehlen, und die Nerven beim 
Drucke nicht schmerzhaft sein. Eine parenchymatose oder interstitielle 
Wurzelerkrankung sollte auch ein ganz anderes Bild darstellen: Radi¬ 
culitis anterior sollte sich in der Veranderung der Motilitat und der 
elektrischen Reaktion auBern; eine solche Erkrankung der hinteren 
Wurzeln hatte sich in Sensibilitatsveranderungen distalen Types 
auBern sollen. Aber beim distalen Typus werden, wie bekannt, alle 
Sensibilitatsarten gleichmaBig, ohne AusAvahl, und zAvar desto mehr, 
je weiter von den zentralen Teilen die zu untersuchende Stelle liegt, 
betroffen. 

Diese Erscheinungen haben desto mehr Bedeutung, als die ob- 
jektiven Symptome einer Radiculitis (nicht aber radicularen Ischias) 
Jiicht kompliziert und sehr gut bekannt sind. Nach den Beobachtungen 
von Camus 22 ), Dejerine-Boduin 2 “), Dejerine-Thomas w ), auBern sich 
die objektiven Symptome der Sensibilitatsveranderungen bei spinalen 
Radiculitiden in der Herabsetzung samtlicher Sensibilitatsarten. Nur 
in den leichtesten Fallen beschrankt sich die Sensibilitatsveranderung 
nach den Erfahrungen dieser Autoren mit einer Herabsetzung, dagegen 
wird in alien mehr ausgepragten Fallen eine vollkoramene Vernichtung 
der Schmerz-, Beruhrungs- und Temperaturempfindungen beobachtet. 

♦ 42* 


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M. Lapinsky: Zur Frage des Mechanisinus der 


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(„Dans les cas les plus legers il s'agit d une simple hypaesthesie; dans 
les cas plus accentues, il y a perte complete des sensibilites tactile, 
douloureuse, thermique," 25 ) S. 389.) Die Stoning der Motilitat auBert 
sich in einer schlaffen Paralyse (,.Trouble de motilite . . . evoluent 
asscz vite vers une paralysie flasque accentue,“ 27 ) S. 389). Gleichzeitig 
mit der Paralyse schwachen sich allmahlich die Haut- und Sehnen- 
reflexe ab und gelien bald vollkommen verloren. (,,En meme temps 
qu’apparaissent les troubles moteurs. les reflexes tendineux et cutanes 
s’affaiblissent et disparaissent,“ 27 ) S. 390.) Der Nervenstamm scheint 
weniger druckempfindlich als bei der pcripherischen Erkrankung, d. h. 
weniger als bei gewohnlichcr Neuralgic oder bei Neuritis (,,La douleur 
a la pression des troncs nerveux y est moins marquee, que dans les formes 
peripheriques,“ 27 ) ibidem). Einzelne Beobachtungen der Wurzel- 
verhnderung bei tuberkuloser Meningitis zeigen 23 ) (S. 402), daB die 
Wurzeln in ihrcn Hiillen eingeklemmt werden, daB sich in ihrem Inneren 
echte Cysten entwickeln konnen usw., was mit der Stoning samtlicher 
Fasern ohne Auswahl verbunden sein soil. 

Die Versuche einiger Klinizisten, die Erkrankung der Riicken- 
markshullen und auch die parenchymatose oder interstitielle Wurzel- 
erkrankung zu der Ischias zu rechnen und dadurcli die eigentiimliche 
Verteilung der Hyper- und Anasthesien zu erklaren, scheinen in manchen 
Beziehungen nicht sehr begriindet, weil samtliche Autoren bis dahin 
jegliche organische Veranderungen des Nervensystems bei Ischias 
verneint und dieses Leiden in das Kapitel der funktionellen Neurosen 
einregistriert haben. Das ist der Grund, weshalb man alle organischen 
Veranderungen bei Ischias ausschlieBen muB, und desto mehr, weil 
einige organische Erkrankungen des Riickenmarks und auch des 
pcripherischen Systems eine Quelle der in die Peripherie aus- 
strahlenden Schmerzen sein konnen. Diese Schmerzen kann man 
aber gewiB nicht zu den neuralgischen rechnen. Von diesem Stand- 
jiunkte aus scheint es erstens ganz unlogisch zu sein, eine organische 
Wurzelerkrankung fiir Neuralgia zu halten, und zweitens muB man 
iiberhaupt eine organische Wurzelerkrankung vollkommen dort aus¬ 
schlieBen, wo die Sensibilitatsveranderungen, Motilitats- und Reflex- 
stdrungen einen, wenn auch radieularen, Typus darstellen, aber doch 
nicht standig oder andauernd, sondern wechselnder Natur sind, wo auch 
andere Zeichen funktioneller Erscheinungen vorhanden sind und wo 
die Sensibilitat nicht gleichmaBig, sondern mit einer Auswahl beein- 
triichtigt ist. 

Was aber die Sensibilitatsstbrung pcripherischen Typus mit 
subjektiven Klagen liber Schmerzen betrifft, welches Bild die Autoren 
zu der radieularen Ischias rechnen, und ihre Ursache in der Erkrankung 
der Riickenmarkshullen sehen, kann man nicht mit einer solchen Auf- 


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(80genannten Wurzel-)Neura]gie des N. ischiadieus. 


B39 


fassung der Krankheit einverstanden sein und mu 15 solche Falle ein- 
fach fur Pachileptomeningitis oder ahnliches halten. 

Aber wenn man schon eine Dissoziation in den zentripetalen 
Leitungen nieht durch eine organische Wurzclerkrankung erklaren kann, 
so konnten wir dieselben noch weniger durch ein organisches Leiden 
der peripheren Nervenstamme erlautern. Gegen eine solche Deutung 
hatten vor alien Dingen die Sensibilitatsstorungen gesprochen, die sich 
bei Erkrankung der Nervenstamme durch einen eigentiimlichen 
Charakter, das ist durch eine diffuse Beeintrachtigung samtlicher 
Sensibilitatsarten mit Zunehmen ihrer Intensitat gegen die Peripherie 
unterscheiden; auBerdem verandert sich die Sensibilitat in diesen 
Fallen nur im Gebiete eines bestimmten Nervs, und zwar entsprechend 
seinem Ausbreitungsgebiete; niemals geschieht es, daB die Hautsensibili- 
tat dagegen in dem Verzweigungsraume des N. cruralis oder des N. 
obturatorius, die an und fur sich keine in diesem Falle subjektiven 
Symptome zeigen kbnnen, verandert ware (was namlich in den friiher 
angefuhrten Fallen bei den verschiedenen Autoren und auch in meinem 
Falle beobachtet wurde) usw. 

Da diesc Dissoziation weder durch eine Erkrankung der Riicken- 
markshullen noch durch das Befallensein der Wurzeln und noch weniger 
durch Storungen der peripherischen Nerven erklart werden kann- 
bleibt nichts iibrig, als die Ursache der Sensibilitats- und Reflexverande, 
rung irgendwo hoher, d. h. im Ruckenmarke selbst zu suchen. 

Meine eigenen Falle nenne ich ,,Ischias“, aber aus den Griinden, 
die ich in den weiteren Teilen meines Artikels erlautern werde, ver- 
meide ich im vollen Gegensatze zu anderen Autoreii den Zusatz ,,radi- 
cularis". 

Gegen eine mechanische oder eine andere organische Wurzel- 
erkrankung spricht in meinen Fallen die Unvereinbarkeit der 
Sensibilitatsstorungen mit Reflexveranderungen. In Antracht dessen, 
daB die Reflexe von denselben Wurzeln wie die Hautsensibilitat bedient 
werden, niuBte man erwarten, daB die Reflexe im Gebiete der lierab- 
gesetzten Sensibilitat vollkommen fehlen oder mindestens herab- 
gesetzt sein sollen. Diese Erwartung lieB sich aber in meinen Fallen 
nicht bestatigen. In denselben waren z. B. die Achillessehnen- und 
Patellarreflexe IkI herabgesetzter Sensibilitat fur Schmerzempfindung 
im Gebiete der L. II., III., IV. und S. I. bis zur Klonusstufe erhoht. 
Eine solche Erhohung der Reflexe bezeichnet, daB weder der periphe- 
rische, noch der zentrale Teil des reflektorischen Bogens beschadigt 
wurde. Daraus laBt sich der SchluB ziehen, daB die Erkrankung in 
diesem Falle sich durch eine Auswahl unterschied, daB die Schmerz- 
leitung zum BewuBtsein gehemmt, dagegen die Leitung der reflek¬ 
torischen Impulse sogar erleichtert war. Anderseits bedeutet eine solche 


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M. Lapinsky: Zur Frage iiber don Mechanisraus der 


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Auswahl in dem klinischen Bilde, daB deren Ursache auBerhalb der 
Wurzeln, moglicherweise in der Mitte des Riickenmarks liegt. 
Diese letzte Vermutung scheint desto glaubwiirdiger, weil die Sensibili- 
tatsstbrungen infolge einer Erkrankung einzelner Spinalsegmente sich 
durch ahnliche Lokalisation unterscheiden konnen. 

Was die Bedeutung der Erkrankungen des Genitalapparates, des 
Urintraktus und des unteren Teiles des Darmes, die in alien meinen 
Fallen beobachtet wurden, betrifft, war ihre ursachliche Wichtigkeit 
in diesem Symptomenkomplexe besonders in Anbetracht der therapeu- 
tischen Erfolge demonstrativ. Die Heilmittel, die als ihr Ziel die Organe 
des kleinen Beckens hatten, trugen zu einer schnellen Erleichterung 
der Schmerzen, einer Wiederherstellung der Motilitat, der Reflexe 
und der Sensibilitat bei. Mit anderen Worten gesagt, lieB sich zwischen 
der Organerkrankung im Kleinbecken und der Entwickelung der Ischias 
ein gewisser kausaler Zusammenhang feststellen. In diesem Zusammen- 
hang kann man nichts anderes ersehen, als die Beziehung einer Ursache 
zur Folgerung, als cine tttiologische Folgeerseheinung der Ischias- 
entwicklung durch eine primare Organerkrankung im Kleinbecken, und 
zwar nicht nur in bezug auf Schmerzmechanismus, sondern auch in bezug 
auf Motilitatsstbrung, auf Veranderang der Sensibilitat und der Reflexe. 
Jedenfalls konnte man hier eine primare, lange vor der Ischias entstan- 
dene Erkrankung dieser Organe in alien Fallen feststellen. 

Die Schmerzen in der unteren Extremit&t, und zwar in der Form 
der Ischias, als eine Folgeerseheinung der Organerkrankung im Klein¬ 
becken, stellen keine absolute Neuigkeit dar. Viele Autoren erwiihnen 
sie als Folge einer primaren Organerkrankung im Kleinbecken nicht nur 
von Schmerzen, sondern auch sogar von Abmagcrung der unteren 
Extremitaten. Z. B.: 

Talma 98 ) (S. 238) sah bei Gebarmuttererkrankung eine Ischias 
antica et postica, GefaBspasmus im Beine und Kiilte desselben, und 
eine Abmagerung der Beinmuskulatur. 

Schultze 96d ) raeint, daB Retroflexio uteri sich in Form einer Ischias 
auBern konne. 

Jaboulay 52 ) (S. 213) beobachtete einen Patienten mit Ischias, 
deren Entwickelung die Anfalle starker Schmerzen im Gebiete des N. 
genitocruralis wahrend der Ejaculationis seminis bei Coitus mehrere 
Jahre lang vorangingen. Diese Anfalle waren so heftig, daB der Patient 
sich von dem Eheleben vollkommen zuriickhalten muBte. Sicher hatte 
der Patient Colliculitis, Prostatitis oder Spermatocystitis, welche Er¬ 
krankungen sich lange Zeit vor der Ischias entwickelten. Derselbe Autor 
beschrieb in seinem X. Falle (S. 220) eine Frau, 37 Jahre alt, die an Ischias 
litt. Auch bei ihr ging der Ischiasentwicklung ein chronischer entziind- 
lieher ProzeB im Kleinbecken, der mit Hiimatosalpings endigte, voraus. 


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(sogenannten YVurzel-)Neuralgie des N. ischiadicus. 


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BertheoP) erwahnt in seinem I. Falle der Ischias (S. 67), daB die 
linke Hode bei diesem Patienten auBerordentlich grofi und hart war. 
Sein zweiter Patient litt nach Trauma und Gonorrhoea an Hamatocele 
die sich lange Zeit vor der Ischias entwickelte'. GewiB muB man Er- 
krankungen dieser Organe, wenn diese auch auBerhalb der Bauchhohle 
liegen, als Prozesse im Kleinbecken betrachten. Der vierte an Ischias 
leidende Patient Bertheoh, 58 Jahre alt, hatte im 40. Jahre (S. 72) 
eine akute Prostatitis gehabt. 

Der Patient Nr. 3 Dobrochotov s 25 ) (S. 51), der ebenfalls an Ischias 
litt, hatte gleichzeitig eine chronische Urethritis langen Datums. An 
derselben Erkrankung litt auch sein Patient Nr. 22 (S. 88). Notthaf 11 ) 
sah bei Prostatitis sehr oft Ischiaserscheinungen. Wossidlo 66 ) beobach- 
tete dasselbe. Fournier 63 ) und auch Lesser -12 ) beobachteten sehr oft 
Ischias nach Gonorrhoea. Offergeld 62 ) behandelte Ischias sehr oft bei 
Retroflexio uteri. Oppenheim 77 ) meint, daB die lange Zeit zuriick- 
gehaltenen Fakalmassen eine Ischiasneuralgie hervorrufen konnen. Der- 
selbe Autor (ebenda S. 762) konstatierte sehr oft Ischias bei entziind- 
lichen Prozessen im Kleinbecken, besonders bei Perimetritiden. Usw. 

Man sieht also, trotzdem niemand diese Frage speziell bearbeitete, 
Andeutungen iiber atiologische Beziehung dieser beiden Erkrankungen 
zueinander. 

Meine jetzigen fiinf Falle publizierend, muB ich vorausschicken, 
daB sich in meinen sehr vielen anderen Beobachtungen der Ischias, 
und zwar bei den Frauen wie auch bei den Mannern, die ich hier an- 
zufiihren fiir iiberflussig halte, mich stets fiber die Existenz eines 
atiologischen Zusammenhanges zwischen der Organerkranku ng im 
Kleinbecken und der Ischiasentwicklung iiberzeugen konnte. 

Diese meine Beobachtungen zeigten, daB in alien meinen Fallen 
eine Erkrankung in einer oder anderen Etage des Kleinbeckens, resp. 
eines Organes in demselben der Ischiasentwicklung vorausging, und 
zur Zeit des Aufbliihens der Ischias stets sehr stark ausgepragt war. 
Eine Behandlung dieser primaren Erkrankung im Kleinbecken hatte 
immer unbestreitbaren EinfluB auf den Zustand der Schmerzen im Ge- 
biete des N. ischiadicus. Ebenso wie in den hier angefiihrten, wurde 
z. B. auch in den meisten anderen Fallen konstatiert, daB der patholo- 
gische EinfluB der Prostatadriise oder des Eierstockes oder irgend- 
eines anderen Organes im Kleinbecken sich nicht nur auf das Gebiet 
des N. ischiadicus, sondem auch auBerhalb des Sakralplexus ausbreitet, 
daB ein pathologischer ProzeB in einer Kleinbeckenetage den Sen- 
si bilitatszustand im Gebiete der L. I., II. und D. XI., XII. undnoch 
hoher, z. B. die Bogen unterer Bauchreflexe beeinflussen kann. Da alle 
diese Vorrichtungen und Mechanismen von der Prostatadriise, dem 
Eierstocke usw. weit entfernt liegen, so muB man, um diesen EinfluB 


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M. Lapimky: Zur Frage iibcr den Mechanismus der 


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direkt durch unvermittelte Nachbarschaft, z. B. durch den Druck 
dieser Organe auf die bcnachbarten Nerven, rebp. Wurzeln, die aus dem 
Kleinbecken ausgelien (z. B. D. XII. und L. I., II), zu erklaren, diese 
Erscheinung auf cine andere Weise deuten; augenscheinlich \virkt dieser 
unanfechtbare EinfluB durch Vermittlung eines nervosen Apparates, 
der von der Prostata, Gebarmutter, Tuba Fallopiae usw. aus in Tatigkeit 
gebracht wird und dessen Erregung jenen Nervenmcchanismen und 
Vorrichtungen durch Mitwirkung des Riickenmarkes vermittelt wird. 

Zugunsten dieser Vermutung spricht der Umstand, daB viscerale 
Organe ihre eigenen zentripetalen Bahnen haben, die aus einem, dem 
bestimmten Segmente des Riickenmarkes, die zentripetalen Impulse 
zufuhrenden Neurone bestehen. Diese Impulse konnen im Riicken- 
marke, je nach dem, bald den Hemmungs-, bald den Erregungseffekt 
erzeugen; einmal konnen sie das ganze Leitungsvermogen und dabei 
auch die intraspinale Sensibilitatsleitung vermindern, ein anderes Mai 
dagegen diesel be steigern usw. 

Der Umstand, daB die Sensibilitat, die Reflexe und sogar die 
Schmerzenspannung selbst durch die Gebarmutter-, Eierstock- und 
Prostatabehandlung beeinfluBt wird, scheint sehr wichtig, und zwar in 
zwei Beziehungen. Erstens sprechen die Unstetigkeit der klinischen 
Erseheinungen und ihre sehnelle Wiederherstellung ad normam dafiir, 
daB die Ursache der Gleichgewichtsstorung des Nervensystems nieht 
in den organischen Veranderungen, sondern in funktionellen Stbrungen 
zu suchen ist. Zweitens, zeigt uns dieser Umstand, daB diese funktio¬ 
nellen Schwankungen von dem Zustande des Organs, das zum N. 
ischiadicus keine direkte Beziehung hat, abhangt, daB diese Organe 
nieht auf seinen Wurzeln liegen, letztere nieht driieken und iiberhaupt 
auf keine Weise direkt den Nervenstamm beeinflussen konnen. 

Die Bedeutung der Organerkrankungen des Kleinbeckens in dem 
Mechanismus der Schmerzentstehung wurde am Krankenbette schon 
mehrmals 57 ), 59 ), 82 ) bei anderen Angelegenheiten notiert. Auch hier, 
ebenso wie in jenen Artikeln, liiBt sich das Prinzip der metamerischen 
Verteilung der Sensibilitatsstoru ng und der Schmerzentwicklung fest- 
stellen. Dies ist namlich der Verteilungstypus der Anasthesien resp. 
Hyperasthesien, die in solchen Fallen die radiculare Erkrankung bei 
Ischias ersehen liiBt; derselbe Erkrankungstypus zwingt die Autoren 
zur SchluBfolgerung, daB die Ischiasursache in solchen Fallen in der 
organischen Erkrankung der Spinalwurzeln, die an der Bildung des 
Ischiasplexus teilhaben, liegt. 

Im vollen Gegensatze zu den friiher zitierten Autoren rechne ieli 
meine Ischiasfalle, die alle Zeichen einer Radiculitis haben, zu der 
Neuralgie des N. ischiadicus und schlieBe hier jede organische Erkran- 
kung der Nervenfasern iiberhaupt, einschlieBlich auch derjenigen in den 


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(sogenannten \Vurzel-)Neuralgie ties X. ischiadicus. 


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Wurzeln, aus; in der Lagerung der Anasthesie-, resp. Hyperiisthesie- 
streifen erseheich hier das Prinzip nicht radicularer, sondern segruentarer 
oder metamerischer Verteilung der Anasthesien oder Hyperasthesicn. 

Da jeder Metamer seine Wurzeln hat, unterscheidet sich meine 
Auffassung, insofern es die klinieche Symptomatologie betrifft, in nichts 
von derjenigen anderer Autoren, die in ihren Fallen eine Radiculitis 
ersehen. Das inetamerische Prinzip unterscheidet sich von der radi- 
culitischen Auffassung nur in bezug auf Lokalisation der pathogno- 
mischen Storungen: die Anhanger der Radiculitis suchen den Grund 
des klinischen Bildes in den Wurzelerkrankungen, dagegen findet man 
vom metamerischen Standpunkte aus diesen ProzeB in der Tiefe des 
Riickenmarkes, in den Gebieten einzelner Ncuromeren vor. 

Diesen Unterschied zwischen meiner Auffassung liber sog. Ischias 
radicularis und den hier angefuhrten Anschauungen anderer Autoren 
auffiihrend, mochte ich anderseits den Unterschied dieser verschiedenen 
Betrachtungsweisen noch in anderer Beziehung, und zvvar in bezug auf 
Auffassung der Ischiasatiologie betonen. Die Anhanger des Radiculitis- 
prinzipes sehen die Ischiasursache in der Erkrankung der harten und 
we'chen Riickenmarkshullen, und zwar in der Riickgratshbhle oder in 
Foramina intervertebralia, dagegen laBt sich die Ursache der Ischias 
in meinen Fallen auBerhalb dieser Hohle suchen. Diese Ursache, und 
zwar nicht nur diejenige der Entstehung, sondern auch diejenige einer 
gewissen Lokalisation (besser gesagt: Projektion) in der Peripherie, 
muB man in der Organerkrankung des Kleinbeckens suchen; da die dort 
sich entwickelnden Prozesse weit von N. ischiadicus liegen, da sich 
dieeelben gewohnlich auf diesen Nerv nicht per continuitatem aus- 
breiten konnen, da weiter dieselben auf die Nervenstamme mittels 
Beriihrung oder Druck ihre Unversehrtheit nicht storen und iiberhaupt 
zur organisehen Veranderung derselben nicht beitragen, so laBt sich 
der schadliche EinfluB der erwahnten Prozesse in den Kleinbecken- 
organen auf die entfernten Nervenstamme durch einen Meehanismus er- 
klaren, der zu den konsensuellen oder sympathischen gerechnet 
werden soil. Solehe Mechanismen, popular gesagt, wirken aus der 
Entfernung, storen nur Leistung und Funktion, vernichten aber 
niemals das Gewebe, infolgedessen man Ischias solchen Ursprungs 
als ein funktionelles Leiden, als — wie es bis jetzt gehalten wurde — 
eine Neurose betrachten muB. 

Was das Primurn movens dieser Erkrankung betrifft, so muB 
man dasselbc in der primarenStorung derProstatadruse,des Rectums, der 
Gebarmutter, des Eierstockes usw. suchen. Ein solcher SchluB laBt sich 
schon aus den Erzahlungen der Patienten ziehen, die z. B. eine Yer- 
schlechterung in ihrem Zustande bei Verstopfung, nach sturmischeni 
Coitus, infolge einer Stoning der Menstruation usw. verspiirten. Objek- 


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M. Lapinsky : Zur Frage iiber den Mechanismus der 


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tiv konnte man dasselbe nach einem Drucke auf die Gebarmutter, Tuba 
Fallopiae, Prostatadriise usw. beobachten, infolgedessen z. B. zum 
Stillstand gekommene Schmerzen in den Beinen wieder heftig auf- 
traten. Diese Anschauung wird auch durch die Resultate der Therapie 
bestatigt. So hatten z. B. heiBe Prozeduren auf Perineum oder die 
untere Bauchgegend oder die Massage der Prostatadriise groBe Wechsel 
in der Sphare der Sensibilitat, der Reflexe, der Motilitat und der sub- 
jektiven Empfindungen zur Folge. 

Solche Erwagungen und Ergebnisse lassen den SchluB ziehen, 
daB man die Ischiadicusneuralgie fiir ein Symptom einer Dickdarm- 
erkrankung, einer Prostatitis, einer Spermatocystitis, einer Oophoritis 
oder dergl., und iiberhaupt fiir eine Schmerzprojektion aus dem 
Kleinbecken halten muB. 

Was die Verteilung der veranderten Sensibilitat im Gebiete ein- 
zelner Segmente an den unteren Extremitaten und den benachbarten 
TeiJen betrifft, so kann man diejenige durch segmentaren, resp. 
metameren Bau des Riickenmarkes. d. h. durch segmentare Verteilung 
der Hautsensibilitat im Riickenmarke erklaren. 

Die auBerordentliche Kompliziertheit des klinischen Bildes der 
sog. Ischias radicularis vereinfacht sich bedeutend, wenn man die 
mannigfaltigen Symptome dieses Leidens in zwei Gruppen zerlegt, 
von welchen jede ihre bestimmte anatomische Topographie und einen 
speziellen pathognomonischen Mechanismus hat. 

In die erste Gruppe muB man die eigenartigen Sensibilitatsstorun- 
gen in Form von Hyperasthesie oder Anasthesie fiir alle oder nur fiir 
einige Sensibilitatsarten, die Veranderungen der aktiven Motilitat 
sowie der reflektorischen Beweglichkeit und endlich auch den Ernah- 
rungszustand der von der Neuralgie befallenen Extremitat, speziell 
die Atrophie der Muskel, einreihen. 

Zur zweiten Gruppe kann man aus diesen komplizierten Sympto- 
men verschiedene Schmerzerscheinungen, und zwar erstens den 
spontan entstandenen Schmerz und zweitens die Schmerzen, die 
sich bei objektiver Untersuchung, namlich beim Drucke auf den Nerven- 
stamm, entwickeln, rechnen. 

DemgemaB sind zwei verschiedene Erkrankungslokalisationen in 
dem Symptomenkomplexe dieser Ischias zu unterscheiden. Eine dersel- 
ben ist eine peripherische; eine Erkrankungslokalisation in der Peripherie 
verursacht spontane Schmerzen und solche beim Drucke auf den Nerven- 
stamm und soli sich in dem Nervenstamm selbst vorfinden. Eine andere 
ist eine spinale; sie soli sich im Riickenmarke, und zwar dort vorfinden, 
wo die zentripetalen Fasern sich schon auf dem Riickenmarkquerschnitte 
facherartig ausbreiten, indent sie sich ihren Funktionen nach in einzelne 
Strange verteilen. 


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(sogenannten Wurze l-)Neuralgie des N. ischiadicus. 


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Wenn diese zu vermutende, im Riickenmarke zu lokalisierende 
Ursache imstande ist, die zentripetale Leitung des einen oder des 
anderen Stranges zu hemraen, so kann dieser intraspinale ProzeB, wie 
es namlich bei intraspinalen Storungen beobachtet wird, den Ausfall 
einzelner Sensibilitatsarten bewirken, d. h. verschiedene sensorische 
Spharen, und zwar im Gebiete einzelner Segmente, werden dadurch 
mit einer besonderen Auswahl betroffen. Diese zweite spinale Erkran- 
kungs-, resp. iiberhaupt Storung. lokalisation kann auch eine Reflex- 
storung zur Folge haben, resp. eine solche erklaren. Wenn z. B. diese 
Ursache in der Hohe eines Reflexbogens liegt, so soli der durch diesen 
Bogen bedingte Reflex fehlen. Dagegen sollen die Reflexe gesteigert 
sein, wenn sich dieselbe Unache oberhalb des Reflexbogens vorfindet, 
trotzdem die Sensibilitat in dem Gebiete, das die reflexogene Zone dar- 
stellt, vollkommen fehlen kann. 

Zugunsten dessen, daB eine doppelte Storungslokalisation hier 
vorlag, daB hier zwei parallel verlaufende Storungen vorhanden 
waren, dessen Symptome, wenn auch gleichzeitig aufgetreten, bestanden, 
doch jede an und fur sich unabhangig von zwei verschiedenen Quellen 
abhingen, sprach der Umstand, daB sich kein Parallelismus zwischen 
den Symptomen des einen und des anderen Ursprungs bemerkbar 
machte, und das — anderseits — verschiedene Symptome spinalen 
Ursprungs mit denjenigen des jieripherischen im Widerspruch standen 
oder umgekehrt. Infolgedessen fielen die spontanen Schmerzen terri¬ 
torial nicht mit den bei objektiver Untersuchung entstandenen Schmer¬ 
zen (beim Drucke z. B.) zusammen, ebenso konnten infolgedessen die 
gesteigerten Reflexe bei vollkommener Anasthesie, oder das Fehlen 
derselben bei gesteigerter Sensibilitat beobachtet werden. 

Dieselbe zweifache Ursache macht verstandlich, daB die Reflexe 
und die Sensibilitat nicht nur im Gebiete des von Neuralgie befallenen 
Nervs verandert waren, sondern auch auBerhalb desselben, daB 
anderseits die Reflexe, trotz Fehlens der Sensibilitat und der Atrophie 
der Muskeln, die den Bogen dieser Reflexe bedienen, gesteigert 
waren. 

Die periphere Erkrankungslokalisation — im Nervenstamme 
selb.st — ruft die spontanen Schmerzen und diejenigen beim Drucke 
hervor, dagegen trug die intraspinale Storung zur Sensibilitatsverande- 
ning segmentaren oder radicularen Typs oder Dissoziation der Sensi¬ 
bilitat bei. 

Diese nach ihrer Atiologie, ihrem Ursprunge, nach der Zeit ihres 
ersten Erscheinens, vielleicht auch nach anderen Griinden verschie¬ 
denen Symptomenkomplexe, die bei einem und demselben Kranken 
gleichzeitig vorhanden waren, mtissen doch eine, und zwar gemeinschaft- 
liche Entstehungsursache, aber vielleicht verschiedene vermittelnde 


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M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechanismus der 


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Mechanismen, die zum Erscheinen dieser verschiedenen Symptomen- 
komplexe beitragen, haben. 

Fruher, 1km der Erw&gung der Atiologie der hier angefuhrten klini- 
schen Falle, wnrde nantlich schon erwahnt, daB die Ver&nderungen 
der Sensibilitat, sowie die Reflexe usw. zu den funktionellen Storungen 
gerechnet werden sollen, die infolge der printaren Erkrankung der Klein- 
beckenorgane entstehen. 

Ebendaselbst vturde erwahnt, daB diese erkrankten Organe einen 
pathognomoni&chen EinfluB nicht durch direkte Nachbarschaft an die 
peripheren Nervenstamme der unteren Extremitat entwickeln konnten, 
indent sie etwa solche driickten oder sogar zerstorten; sonderndie patho- 
gnomonische Wirkung dieser Prozesse entwickelt sieh bei der voll- 
konnnenen Unversehrtheit zentripetaler Bahnen, und auBerte sieh in der 
bloB voriibergehenden Veranderung einer oder der anderen Funktion. 

Ebendaselbst wurde auch erwahnt, daB dieser EinfluB aus der 
Entfernung durch eine besondere Vorrichtung, durcli deren Erregung 
die Verrichtungen der entferntliegenden Organe gestort werden konnen, 
bedient werden muB. Dieser ProzeB, der bloB auf die Verrichtung 
wirkt, diesel be unterdriickt, aber keinesfalls die Gesamtheit der Nerven- 
elemente vernichtet oder diejenigen Organe zerstort, muB zu der Kate- 
gorie der hemmenden Mechanismen gerechnet werden. 

Was die Mechanismen anbelangt, die die spontanen und die 
beint Drucke walirend objektiver Untersuchung entstehenden Schmer- 
zen hervorrufen, so miissen diese eben nach der Analogic mit dem 
Schmerzmeehanismus in anderen Organen ihren Anfang in der 
lokalen Blutzirkulationsveranderung resp. n der GefaBluntenstbning 
haben. Eine lange dauernde Erweiterung oder Verengerung der Blut- 
capillaren ntuB hier unter die nachsten Ursaehen, die die Schmerz- 
entpfindungen bedingen, gestellt werden. 

IV. 

Prozesse, die man zu der Zahl der hemmenden Mechanismen rech- 
net, spielen sieh stets intraspinal ab, d. h. sie entwickeln ihren EinfluB 
immer in den Zellen der Zentren selbst oder in den Zellenfortsetzungen, 
die diese Zellen miteinander verbinden, entwickeln sieh aber nie in den 
lK?ripherischen Nervcnfasern. Die Heramungserscheinungen der Motili- 
tatsakte, und zwar in bezug auf die Kontraktilitat der glatten und quer- 
gestreiften Muskelfasern, werden nun am besten studiert gehalten. 

Nach Setschenovs Lehre gehort die hemmende Verrichtung nicht 
dem Riickenmarke, sondern nur der grauen Masse des Gehirns an. 
Schiff anderte dieselbe, indem er die Hemmungsfahigkeit iiberhaupt 
der grauen Masse des Gehirns und des Rtickenmarkes, und zwar gleich- 
maBig zusehrieb. 


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(sogcnannten YVurzel-)Neuralgie des N. ischiadicus. 


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Goltz Meinung 6 ), 41 ), 42 ) nach bestelvt der Hemmungsmechanismus 
eines gegebenen reflektorischen Aktes in dem Kampfe zwischen zwei 
— und zwar der reflexerregenden und reflexhemmenden — Stimularten. 
In diesem Kampfe muB ein von einem gewissen Pnnkte ausgehender 
Stimul den Muskel — und zwar vermittelst einer gewissen Faser -— 
erreichen. Der andere Stimul aber, von einem anderen Punkte 
beginnend, kreuzt intraspinal die Bahn des ersteren und hemmt in den 
Zellen des Riickenmarkes einen dynamischen Akt in seiner Entwicklung. 
Dadurch werden aber blob die aktiv gespannten Muskeln gehemmt, 
dagegen werden die Muskeln, die bis dahin in Ruhe waren, durch diesen 
zweiten Stimul in Tatigkeit gebracht. 

Bethe 6 ) (S. 373) ist der Meinung, daB die gcgenseitige Vernichtung 
der dynamogenen Impulse sich durch die hemmenden oder umgekehrt 
sich in der fibrillaren Umhullung der Nervenzelle abspielen muB; da 
diese einander vernichtenden Impulse — einer von dem anderen — 
noch in der Zellbekleidung unterdriickt werden, so bleibt die Zelle 
selbst trotz dieser aufsteigenden Erregungen ganz teilnahmslos. 

Goltz (1. c.) behauptet, daB der Reflexakt dann gehemmt wird, 
wenn dessen Reflexbogen, resp. Reflexzentrum gleichzeitig auch von 
irgendeinem anderen Reize getroffen wird, und zwar muB dieser letzte 
Reiz ganz anderen Ursprunges sein, muB von einer ganz anderen Richtung, 
resp. einem anderen Organe kommen und auf diesem Wege eine Bahn 
benutzen, die in diesem reflektorischen Akte bisher nicht teilgenommen 
hatte. Dieser Hemmungsakt geschieht infolgedessen stets intraspinal. 
(,,DieHemmung bestehtdarin, daB die Tatigkeit eines in Erregung befind- 
lichen Organes durch Erregungen, die ihm von einem zweiten Organe 
auf dem Wege intrazentraler Bahnen zukommen, aufgehoben wird,“ 1. c.) 

Ein Beispiel einer solchen Hemmung kann man in der Hemmung 
der Atmungsverrichtung wahrend der Reizung des N. laringeus superior 
ersehen. Hering 48 ) hat bewiesen, daB die Atmung ein ganz automatisch 
zu regulierender reflektorischer Akt ist, bei dem zentripetale Reizungen, 
via N. vagus, von dem Lungenparcnchym hinaufsteigen. Das Zusammen- 
fallen der Lungen beim Ausatmen erregt das Inspirium und hemmt 
gleichzeitig das Exspirium, dagegen erregt die Lungenausdehnung beim 
Einatmen das Exspirium und hemmt das Inspirium. 

Rosenthal") zeigte, daB man den Atmungsakt zum Stillstand 
bringen kann, wenn man das zentrale Stuck des N. laringei superioris 
reizt. Dasselbe beobachtete Wegeli 106 ) beim Reizen des N. trigeminus. 

Goltz* 1 ), 42 ) vermutete in dem Hemmungsprozesse eines reflektori¬ 
schen Aktes zw r ei verschiedene anatomische Substrate, womit andere 
Gelehrte einverstanden sind. Eines dieser Substrate macht die ganze 
Bahn eines reflektorischen normalen Aktes aus, besteht aus zwei Neu- 
ronen und hat die Aufgabe, diesen Akt vonstatten gehen zu lassen. 


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M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechanismus der 


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Das andere hat zuru Ziele, diese reflektorische Bahn zu hemmen und 
besteht aus einem Neuron. Was das erste anatomische Substrat, 
d. h. den normalen zu hemmenden Reflexbogen betrifft, so glaubten 
einige Autoren, zu denen Ramon-y-Cajal, Kolliker , Lenhossek u. a. geho- 
ren, da6 dasselbe aus zwei Neuronen, und zwar aus dem zentripetalen 
Schenkel, d. h. aus dem Spinalganglionneuron und dem zentrifugalen 
Schenkel, d. h. aus der motornchen Zelle der Vorderhorner mit ihrem 
Achsencylinder gebildet wird. Die Untersuchung der Querleitung des 
Riickenmarkes bei den Tieren, bei denen die sentorische Zellensubstanz 
des Riickenmarkes durch vert chit dene chemitche Agenten vergiftet 
wairde, zeigte aber, dafi der Reflexbogen mindestens aus drei Teilen 
besteht; von diesen gehort bloB einer zu den zentrifugalleitenden Ap- 
paraten, die iibrigen Teile •— zweites und drittes Glied — leiten die 
Impulse zentripetal. 

Der intraspinale Teil des Reflexbogens muB nach Tiedemann 10 °) 
(S. 201) in sich einen oder sogar mehrere endogene Neuronen der Hinter- 
horner enthalten. Die Verkettung dieser einzelnen Teile vollendet. 
sich mit Hilfe sog. Synapse, dank derer der Nervenvorsatz eines Neu¬ 
rons mit dem Zelleibe des zweiten zusammengelotet wird. Der erste 
Neuron — der zentripetale Schenkel des Reflexbogens —, der sein 
trophisches Zentrum in dem Spinalganglion und seine Endung im 
Riickenmarke hat, sendet seine Forttatze zwischen Nervenzellen 
der grauen Masse des Hinteihorns. Dcr zentrifugale Schenkel des 
Reflexbogens beginnt in der Zellmasse des Riickenmarkes und endigt 
in dem Exekutivorgan in der Peripherie. Zwischen den Zellenmassen 
des zentrifugalen Schenkels dieser Bahn und den Endungen des zentri¬ 
petalen Neurones aus dem Spinalganglion liegen mehrere Ketten der 
Zellen mit den faserartigen Fortsetzungen, sog. Zwischenneurone 
des Reflexbogens. Manche Autoren halten diese Zellen und motorische 
Zellen des Vorderhornes fiir das Zentrum eines normalen Reflexbogens, 
das, ihrer Meinung nach, bestimmte Grenzen hat. 

Das zweite anatomische Substrat in dem Hemmungsprozesse ist 
namlich — Goltz' Meinung nach — dasjenige, durch elas der hemmende 
Impuls zu einem Reflexakte hinauf; teigt. Dieser anatomische Apparat 
besteht nur aus einem zentripetalen Neurone, der sein trophitches Zen¬ 
trum in dem Spinalganglion und teine Endungen in Form eines 
Biischels oder Baumchens in dem Riickenmarke hat, in dem dieser 
Neuron irgendwo, den zu hemmenden normalen Reflexbogen entlang, 
endigt. Goltz glaubt, claB dieses zweite anatomische Substrat mit 
dem ersteren in dem friiher erwahnten Zellenzentrum des normalen 
Reflexbogens zusammentrifft. 

Die Stelle, wo die hemmenden Impulse mit dem zu hemmenden 
Reflexbogen zusammentreffen sollen, bildete fur mehrere Autoren einen 


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(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des N. ischiadicus. 


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Gegenstaml der speziellen Untersuchung. Da der Achsencylinder eines 
Neurones — nach den Ansichten englischer Schule — sich durch 
sog. Synapse mit dem Zellenleibe cipes anderen Neurones vereinigt, so 
entstand die Frage, ob die Hemmung des Reflexbogens nicht in der 
Synapse selbst zustande koramen konne, und zwar entweder in der 
hinteren Synapse, die das Spinalganglion mit den Zellen des Hinter- 
homs, oder in derjenigen, die die Hinterhornzellen mit denjenigen des 
Vorderhorns vereinigt. 

Tiedemann 100 ) (S. 208) entscheidet diese Frage iiber die Hemmungs- 
moglichkeit in den Synapsen ganz negativ; er ist zu dem Schlusse ge- 
kommen, daB man Hemmung oder Ermudung des Reflexbogens in 
diesen Fallen in der ersten Station des Hinterhornes suchen muB 
(S. 239). 

Frolich 35 ) (S.239), der sich fur dieses Thema besonders interessierte, 
stellt sich einige Stationen, in denen sich der Hemmungsmechanismus 
abspielen kann, vor: erstens kann eine solche Hemmung, seiner Mei- 
nung nach, in denEndungen des sensorischen Nervs, d.h. in der ersten 
Synapse, zweitens in dem Zellzentrum des Reflexbogens, drittens 
an der Grenze dieses Zentrums, d. h. in der zweiten Synapse, in den 
motorischen Zellen des Vorderhorns und viertens in den Nerven- 
leitern, die in dem exekutiven Organe zu suchen sind, entstehen. Nach 
der Meinung dieses Autors spielen die Hauptrolle in dem Hemmungs¬ 
mechanismus nicht so viel die zahlreichen zentripetalen Fasern, und zwar 
ihre Endungen, sondern die Nervenzellensubstanz, mit der alle diese 
Endungen verbunden sind, und in die sich verschiedene, manchmal 
ganz gegensatzliche Impulse gleichzeitig ergieBen. Die Qualitat und die 
Bedeutung dieser Impulse werden zwar durch die Reaktion dieser 
intrazentralen Zellensubstanz genauer bestimmt. Die Empfindlichkeit 
dieser intraspinalen Zellen, die gleichzeitig verschiedene einander ver- 
nichtende Impulse erreichen, haben also in dem Hemmungsprozesse 
eine wesentlicbe Bedeutung. Die Eigentumlichkeit und der Charakter 
dieser Impulse und ihr hemmender Effekt kann sich erst nach der 
Verarbeitung dieser Impulse durch diese intraspinale Zellen kundgebeu. 
Der HemmungsprozeB entwickelt sich also nach Frolich (ebenda S. 240) 
nicht in den Endungen der Nervenfasern, sondern in der mit ihnen zu- 
sammengeloteten Nervenzellensubstanz des Riickenmarkes. 

Auf Grund seiner Untersuchungen glaubt Frolich, daB die Reizung 
eines Punktes an der Peripherie einen gewissen reflektorischen Akt 
nur dadurch hemnien kann, weil die aus diesem Punkte ausgehenden 
zentripetalen Impulse jene Nervenzellensubstanz erreichen, die ein 
Zwischenglied zwischen den Vorderhornzellen und den letzten Endungen 
der Hinterwurzelfasern darstellt, und durch die der zu hemmende 
Reflexbogen lauft. Nur der zentripetale Teil der Reflexbogen, und zwar 


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M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechanismus der 


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die zelligen Einschaltungen, d. h. die sensorischen Zellen der Hinter- 
horner wird unter diesen Bedingungen der Heraraung untenvorfen. 
Diese Zellen, indent sie die auf sie fallenden Impulse aufnehmen und auf 
eine besondere Weise verarbeiten, verlieren dadurch die Fahigkeit, 
verschiedene Reize weiterzuleiten. 

Da aus diesen Untersuchungen hervorgeht, daB die Leitungen der 
reflektorischen Akte infolge der gleichzeitigen peripherischen Reizungen 
gehemmt werden, so konnte man anderseits erwarten, daB auch andere 
zentripetale Innervationen — fur andere Verrichtungen —, und zwar 
dann, wenn dieselben dureh die erwiihnte Nerve nzellensubstanz 
gleichzeitig mit den Reizungen anderen Ursprungs aufsteigen, gehemmt 
werden konnen; diese anderen zentripetalen Leitungen wiirden also 
dann verhindert werden, wenn die Zellen in die diese sich ergieBen, auf 
der Bahn der hemmenden Impulse liegen. 

Diese Vermutung einer unter solchen Bedingungen moglichen 
Hemmung der motorischen Akte oder der Empfindungen, die von den 
Hinterwurzeln aus in die Zellen der endogenen Neuronen in dem Riicken- 
marke (z. B. Gowersehe Biindel) aufsteigen, scheint ganz annehmbar, 
wenn man die allgemeine Eigentumlichkeit des Nervenzellgewebes und 
einige Analogiett in Betracht zieht, z. B.: Es ist namlich bekannt, daB 
die Nervenzellen ein Organ darstellen, das die iiber die sog. Schwelle 
des inneren Widerstandes der Nervenzentren durchdringenden Stimule 
sehr langsam leitet und ihnen auf ihrem Wege groBe Schwierigkeiten 
entgegenstellt (Biddermann 11 ). Dieser innere Widerstand bedarf, um 
ihn zu tiberwinden, einer gewissen Zeit, wahrend der sich in diesen 
Zellen das sog. refraktare Stadium entwickelt. 

Dieser Widerstand wird aber anderseits noch starker, wenn das 
betreffende Zentrum, d. h. gcwisse Nervenzellen vorher schon auf 
irgendeine Weise gereizt wurden. Infolgedessen beobachteten z. B. 
Broca und Bichet 12 ), indent sie motorischc Zentren der Gehirnrinde mit 
Hilfe des faradischen Stromes reizten, keine Bewegung der Extremitat, 
wenn diese Rindenzentren des Gehirnes gleich vorher dureh denselben 
Strom gereizt wurden. 

Zwadermacker 2h ), X1 ) beobachtete an denMenschen den blinzelnden 
Reflex am Auge, indem er starke Lichtaufblitze vor den Augejt machte. 
Dieser Blinzelreflex horte aber sofort auf, wenn die Aufblitze schneller 
als eine halbe Sekunde vor sich gingen. Offenkundig hemmte die vorher- 
gegangene Lichtreizung die Bahn fiir eine neue Erregung mit Hilfe 
des Lichtes. 

Man kann bei der Katze Schluckbewegungen reflektorischen Ur- 
sprungss hervorbringen, wenn man den N. laryngeus superior reizt; diese 
Schluckbewegungen fehlten aber, wenn die Reizung dieses Nerves in 
einem zu schnellen Tempo vonstatten ging; dabei entwickelte sich die 


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(sogenannten Wurzel-JNeuralgie des N. ischiadicus. 


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Hemmung dieses reflektorischen Aktes durch den inneren Widerstand 
in den Nervenzentren, der infolge des zu schnellen Reizungstempos 
entstand. Solche Beobachtungen veranlaBten die Autoren ( Schiff ) 
zu schlieBen, daB die Erschopfung der Nervenzentren im Grunde des 
Hemmungsmechanismus liegt. 

Setschenof 9311 ) rief beim Frosche mehrere Muskelzuckungen hervor, 
wahrend er ihm eine Hinterwurzel mit leichtem faradischem Strome 
reizte; dieselben Muskeln blieben aber vollkommen bewegungslos, wenn 
er den faradischen Strom etwas starkte. Der Autor erklart diese Ver- 
sagung des Reizes durch eine Hemmung des reflektorischen Bogens 
infolge eines starkeren Reizes. 

Biddermann n ) bemerkte, daB man sofort den Motilitatsakt in den 
untergeordneten Muskeln erreicht, wenn man die betreffende Hinter- 
wurzel erregt; dieser Autor beobachtete aber sehr starke Verzogerung 
dieser motorischen Reaktion und eine veranderte Form derselben, werm 
er einen Elektrod an den proximalen Abschnitt des N. ischiadicus legte. 
Daraus zog der Autor den SchluB, daB die auf dem Wege zur motorischen 
Wurzel liegenden Nervenzellen im Riickenmarke den Impulsen, die 
durch dieselben laufen, einen sehr starken Widerstand entgegen- 
bringen. 

Baglioni' 13 ) wollte auseinandersetzen, welche Nervenzellen des 
Riickenmarkes — motorische odor sensorische —■ imstande sind, die 
betreffende Gbermittelung der Stimule zu hemmen, besser gesagt, 
welche Nervenzellen sich durch die Fahigkeit auszeichnen, unter det 
Wirkung der zentripetalen Reizung gehemmt zu werden; um das zu 
erklaren, reizte Baglioni mit Hilfe des faradischen Stromes den zen- 
tralen Stumpf des M. ischiadicus eines Frosches und beobachtete dabei 
nur einzelne Muskelzuckungen, trotzdem die Reizung der Zentripetal- 
fasern ununterbrochen dauerte und infolgedessen eine dauerhafte, 
u nunterbrochette, d. h. tetanische Muskelspannung zu erwarten gewesen 
ware. Da Baglioni vermutete, daB die Ursache einer solchen Um- 
wandlung der zu erwartenden Resultate in der Eigenschaft der Arbeit, 
resp. Funktion, der grauen Masse des Riickenmarkes zu suchen war, 
fiihrte er einige Versuche an den Froschen, die fur diese Zwecke ent- 
weder mit Fenol oder mit Strychnin vergiftet wurden. Wahrend dieser 
Versuche ist Baglioni zum Schlusse gekommen, daB das Fehlen der 
tetanischen Muskelzusammenziehung bei der mit dem faradischen 
Strome ununterbrochener Reizung‘der zentripetalen Fasern im N. 
ischiadicus durch das Beharrungsvermbgen der Nervenzellen im Riicken- 
marke zu erklaren war. Diese Zellen summierten gewohnlich die Reize, 
um dieselben weiter zu befordern; infolgedessen entstand eine Leitungs- 
hemmung der zentripetalen Impulse in den intrazentralen Teilen der 
zu besprechenden Nervenbahn. 

Archiv fiir Psychiatric. Bd. 67. 43 


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M. Lapinskv: Zur Frage tiber den Mechanismus der 


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Raglioni wahlte fiir seine Versuche Fenol und Strychnin aus dem 
Gninde, weil diese chemischen Mittel sich durch eine elektiv-erregende 
Wirkung — Fenol auf die Vorderhorner, besonders auf die moto- 
rischen Teile der Nervenzentren, und Strychnin auf die hinteren 
Teile des Riickenmarkes, l)esonders auf die sensorischen Teile des Nerven- 
systerns ■— auszeichnen. Als dieser Autor bei seinen Versuchen an dem 
Frosche jedes dieser erwahnten Mittel fiir sich allein amvandte, und dabei 
dessen Hinterwurzeln oder dessen zentralen Stumpf des N. ischiadicus 
reizte, konnte er sich iiberzeugen, daB die Leitung verscbiedener zentri- 
petalen Impulse nur in dem sensorischen Abschnitte des intrazentralen 
Teiles, d. h. in den Hinterhornzellen, gehemmt werden kann. Nach- 
dem Baglioni sein Tier mit Fenol vergiftet und dadurch die Leitung 
in den motorischen Teilen des Riickenmarkes leichter gemacht hatte, 
beobachtete er bei der Reizung seines Frosches — an dessen Hinter¬ 
wurzeln — nur einzelne klonische Zuckungen. Wenn man diese durch 
Fenol vergifteten Tiere, bei denen folglich die Nervenzellen der Hinter- 
horner intakt bleiben, lange Zeit ununterbrochen mit dem faradischen 
Strome reizte, so zeigten sich iiberhaupt keine Muskelkontraktionen, 
trotzdem die elektrischen Entladungen ohne Zweifel ins Riickenmark 
drangen. Offenkundig werden diese Entladungen in den sensorischen 
Zellen gehemmt und annulliext. In einer anderen Versuchsreihe ver- 
giftete Baglioni seine Frosche mit Strychnin; bei dieser Versuchsanord- 
nung beobachtete der Experimentator bei Reizung der hinteren Riicken- 
markswurzeln einen unu nterbrochenen Tetanus der entsprechenden 
Muskeln, trotzdem Strychnin nicht auf die Vorderhornzellen, sondern 
nur auf die Zellen des Hinterhorns wirkt; aus diesen Beobachtungen 
schloB Baglioni, daB die Hemmung der zentripetalen Impulse in den 
Zellen der Hinterhorner entsteht, weil diese durch Strychnin vergifteten 
Zellen die Hemmungsfahigkeit fiir zentripetale Leitungen verloren. 

Um zu entscheiden, ob die Ursache der Abwesetiheit der Muskel¬ 
kontraktionen bei den durch Fenol vergifteten Froschen nicht in der 
Storung der Vorderhornzellen lag, gab Baglioni solchen Tieren noch 
eine entsprechende Dosis Strychnin, die wie bekannt auf die Hinter¬ 
hornzellen wirkt, dieselben vergiftet und auf diese Weise die Leitungen 
erleichtert, und beobachtete dann bei der Reizung der betreffenden 
Hinterwurzeln eine tetanische Muskelkontraktion. Auch iiberzeugten 
diese Kontrollversuche also den Autor, daB die Hemmung der zentri¬ 
petalen Impulse in dem Hinterhorne, und zwar in seinen Zellen entsteht. 

Die Versuche Raglionix zeigten also, daB die Hemmung eines ge- 
gebenen Reflexbogens nur in seinem zentripetalen Schelikel, und zwar 
in den sensorischen Zellen des Riickenmarkes vorkommt, die allein die 
Fahigkeit besitzen, die zentripetalen, aus der Peripherie herkommenden 
Leitungen zu hemmen. 


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(sogenannten Wurzel-)Xeuralgie clea X. isehiadieus. 


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Wedemky 108 ) (S. 30) unternahm mit Strychnin ahnliche Versuche 
und iiberzeugte sich dabei, daB Strychnin den sensorischen Teil des 
Reflexbogens ermudet, dagegen bewahrt dabei die motorische Halfte 
ihre normale Kraft. 

In den Versuchen Verworns 103b ) und Beritoffs lb ) fand dieses Gc- 
setz auch eine Best&tigung. 

Dusser de Barcnnes J * a ) meint, daB Strychnin anf den Leib der sen¬ 
sorischen Nervenzellen in den Hinterhornern wirkt, derselben vergiftet 
und seine Leistungsfahigkeit hemmt. 

Was die Hemmungsbedingungen und die Eigenschaft der Hem- 
mungsimpulse anbelangt, so ist Baglioni zura Schhisse gekommen, daB 
jede Reizungsart, die Hemmungsvermogen enverben kann, wenn der 
Reiz eine gewisse Spannungshohe erreicht und seine Welle der 
Impulse sich mit bedeutender Geschwindigkeit in das Riickenmark 
ergieBen kann. Diese Bedingungen der Hemmung hangen von der 
Eigenschaft der sensorischen Zellen des Riickenmarkes ab; diese Zellen 
treten namlich in ein sehr langwieriges, refraktares Stadium, wenn die 
Reizungen zu schnell vonstatten gehen, treten aber in dies Stadium 
nicht, wenn die Reize ein langsames Tempo haben. Die Impulse, 
die ins Gehirn oder ins Riickenmark mit groBen Intervallen eintreten, 
werden ohne irgendeine Schwierigkeit den motorischen Zentreo iiber- 
mittelt; dagegen bringt ein zu schnelles Tempo der Erregung die sen¬ 
sorischen Zellen in einen solchen refraktaren Zustand, der nur mit 
deren Erschopfung oder Paralyse zu vergleichen ist; ihre Verrichtungen 
werden dabei gehemmt. 

Baglioni brachte wahrend seiner Versuche Muskelkontraktionen 
hervor, wenn er den zentripetalen Schenkel eines Reflexbogens 4-—12 mal 
in einer Sekunde reizte, und dabei Pausen 0,25—0,108 von einer Sekunde 
machte; diese Muskelkontraktionen waren besonders dann deutlich, 
wenn die Zahl der Reize nicht zwei in einer Sekunde iiberschritt, und wenn 
die Pause zwischen zwei Erregungen um 0,5—1,0 Sekunde schwankte. 
Wenn Baglioni die Zahl der Reize auf 20—48 in einer Sekunde ver- 
mehrte, so waren mehrere Muskelzuckungen, aber bloB im Anfange des 
Versuches sichtbar; im weiteren Verlaufe des Versuches entwickelte 
sich eine vollkommene Muskelruhe, offenkundig aus dem Grande, weil 
die sensorischen Nervenzellen unter dem Einflusse der ununterbrochenen 
Stromungen der zulaufenden Erregungen deren weitere Leitungen zu 
den Vorderhornzellen hemmten. 

Derselben Meinung ist auch Wedensky 108 ) (S. 41). In seinen V T er- 
suchen offenbarte sich die hemmende Wirkung des faradischen Stromes 
nur bei der Unterbrechungf-zahl 20—1(K) in der Sekunde; bei einem 
langsameren Rhythmus war keine Stoning der Muskelzuckungen zu 
liemerken. AuBerdem fand er, daB die Strome von hoherer Spannung 

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M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechanismus der 


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hemmender wirken als die niedriger gespauntep elektrischen Reize. 
Besonders wichtig wies sich bei seinen Hemmungsversuchen der Er- 
miidungszustand der sensiblen Nerven auf; die Hemmung gelingt nicht, 
wenn der betreffende sensible Nerv erschopft ist. 

Dank dieser Versuche kann man also fur bewiesen halten, daB erstens 
eine Erregung, die zentripetal bis zum Riickenmark aufsteigt, ihre eigene 
weitere Leitung hemmen kajin, und zwar im Gebiete der sens orb chen 
Zellen des Riickenmarkes, wenn sie ein zu schnelles Tempo hat; zweitens 
vermag diese Reizung auch andere zentripetale Leitungen, die dieselbe 
Riickenmarksetage von einem anderen Punkte aus erreichen, hemmen. 
Die fur beide Falle einzige Bedingung ist die ununterbrochene Stro- 
muug der Reize; dadurch werden namlich die Ketten der Nerven- 
zellen, und zwar im Gebiete des Hinterhornes, gehemmt. 

Was den Hemmungsmechanisinus selbst anbelangt, so kommt 
Ticdemann 100 ), der sich sehr fur diese Frage interessierte, zu dem 
.Schlusse, daB derselbe in der Entwicklung eines absoluten refraktaren 
Stadiums besteht, das durch eine geniigend schnelle Stromung in 
den zentripetalen Bahnen der hinaufsteigenden Reize entwickelt 
und von derselben Stromung unterstiitzt wird. Die Versuche, die Tiede- 
mann ausgefiihrt hat, uberzeugten ihn, daB die Reize, die den N. ischia- 
dicus entlang aufsteigen, zum Entstehen des refraktaren Stadiums in 
den Nervenzellen der Hinterhorner bei gewissen Bedingungen beitragen 
(S. 203); ganz teilnahmslos dagegen verhalten sich dabei die Zellen in 
den Spinalganglien. Ticdemann iiberzeugte sich darin, nachdem er 
die Spinalganglien bei seinen Versuchstieren abschnitt; die Reizung 
des zentralen Ischiadicusstumpfes rief bei solchen Tieren die Hemmung 
der zentripetalen Leitung hervor. Dabei lieB sich konstatieren, daB 
sich der hochste Dekrementszustand im Ruckenmarke oberhalb der 
Eintrittsstelle des Reizes, unterhalb derselben und auf der gegeniiber- 
liegenden Seite des Riickenmarkes entwickelte. Da die sorgfiiltige 
Durchforschung dieses Autors und anderer Gelehrten jede Entstehungs- 
moglichkeit des Dekrements in der Peripherie, d. h. in der Nervenfaser 
ausschloB, so leuchtete es ein, daB das Stadium decrementi bei solchen 
Bedingungen sich nur in den Zentren, und zwar in den sensorischen 
Zellen des Riickenmarkes eines einzigen oder mehrerer endogenen 
Neuronen entwickelt. 

Was die Frage anbelangt, ob die sensorischen Impulse, d. h. 
Schmerz-, Temperatur-, Beruhrungs- usw. Empfinduugen im Riicken- 
marke gehemmt werden konnen, ob dafiir gewisse anatomische Daten 
oder uberzeugendc physiologische Experimente sprechen konnen, so 
muB man gestehen, daB die beweisenden Griinde fiir diese Vermutuug 
ohne Zweifel in der Literatur vorhanden sind. 

Erstens sind alle Griinde vorhanden, zu denken, daB diesel ben 


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(sogenannten WurzeI-)Neuralgie des X. ischiadicus. 


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sensoriechen Nervenzellen, aus denen die Zellenkette des zentripetalen 
Schenkels eines Reflexbogens zusammengesetzt ist, auch die verschie- 
denen peripherischen Empfindungen in den speziellen Riickenmarks- 
bahnen, und zwar fiir Temperatur-, Schmerz-, Beriihrungs- usw. Wahr- 
nehmungen ein- und umschalten. Anders gesagt, unterwerfen sich jene 
Zellen der endogenen Neuronen, aus denen die Strange von Gowers , 
Goll, Burdach usw. entstehen, dem Hemmungsmechanismus. Zugunsten 
dieses Urteils sprechen viele experimentelle Beobachtungeu, obwohl 
sie nicht speziell fiir dieses Thema, sondern fiir ganz andere Zwecke 
gemacht wurden. Z. B.: 

Goltz 42 ) uberzeugte sich, daB der sog. Quackreflex beira Frosche, 
der bei leichtem Streicheln (taktile Reizung) des Riickens entsteht, 
verschwindet, wenn man gleichzeitig einen sensiblen Nerv reizt. Aus 
diesem Versuche folgt also, da6 die taktilen Empfindungen im Riicken- 
marke sicher gehemmt werden konnen, wenn man gleichzeitig einen 
starken Strom ununterbrochener Erregungen von einer anderen peri¬ 
pherischen Quelle in das Riickenmark einfiihrt. 

Dasselbe wurde auch in bezug auf die Schmerzempfindungen, d. li. 
von den durch Schmerzreizung der Haut (z. B. mit Schwefelsaure) 
konstatiert. Setschenoff und Paschulin 93 ) behaupteten auf Grund ihrer 
Versuche, daB die taktilen Reflexe, und zwar jene, die durch leichte 
mechanische Hautreizungen hervorgerufen werden, sich nicht hemmen 
lassen, d. h., daB man die Leitung taktiler Empfindungen im Riicken- 
marke nicht hemmen kann. Indem Danilewsky 29 ) diese Frage weiter 
durchforschte, ist er zu dem Schlusse gekommen, daB auch die durch 
die leichten chemischen (schmerzerzeugenden) Agenzien und die durch 
thermische Reizungen hervorgerufenen Reflexe nicht gehemmt werden 
konnen; mit anderen Worten gesagt, lassen sich die Schmerz- und Tem- 
peraturleitungen nicht hemmen. Diese Erwagungen beider Autoreu 
wurden aber nicht bestatigt. 

Lewisson 66 ) und Freunsberg 37 ) fiihrten folgenden Versuch aus. 
Nachdem sie einen gekbpften Frosch auf die Weise liber einem GefaBe 
mit der Schwefelsaurelo^ung aufgehangt hatten, daB seine HinterfuBe 
in diese Losung tauchen konnten, beobaehteteu diese Autoren eine 
Reihe rhythmischer automatischer Bewegungen dieser Glieder; sobald 
die Pfote des herabhangenden FuBes bis zum Kuie in die saure Losung 
tauchte, begann sofort die reflektorische Zusammenziehung der Flexoren 
des Oberf chenkels und der FuB ging in die Hohe, aber nach kurzer Zeit, 
d. h. nach Entfernung der erregenden Fliissigkeit hingen sie wieder 
herab. Dieses Hochheben und Herabziehen vollzog sich von selbst 
solange der so angeordnete Versuch dauerte. Diese Bewegungen horteu 
aber sofort auf, und die Pfote hing unbeweglicb in die Saure, wenn man 
wahrend des Versuches den oberen Teil des Kbrpers mit Hilfe des elek- 


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M. Lapinsky: Zur Frage fiber den Meehanismus der 


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trischen Stromes reizte, oder wenn man einen sensiblen Nerv, am besten 
der vordereu Extremitat, in der Pinzette zusammenpreBte. Dieser Ver- 
such zeigte also, daB die Schmerzempfindungen ihren reflexerregenden 
EinfluB dank der Einschaltung einer neueu Reizung verloren, daB 
folglich die Schmerzleitung unter der Wirkung einer anderen, sich in 
das Riickenmark, und zwar aus einer anderen Quelle hereindrangenden 
Reizung gehemmt wurde 58 ). 

Schischova 96b ) hemmte diese reflektorische Bewegung beim Frosche, 
indem sic einen N. ischiadicus bei dem Versuchstier reizte. 

Schliefer 98c ) (S. 7) rnachte ahnliche Versuche und meinte, daB hier 
eine Hemmung der Schmerzleitung stattfand. 

Ich selbst machte vor mehreren Jahren iiber die Empfindlichkeit 
der Reflexbogen fiir die hohen Temperaturen an den Froschen folgenden 
Versuch. Ich hing einen gekbpften Frosch am Unterkiefer auf cin 
Stativ so, daB seine Pfoten in ein mit warmem (45° R.) Wasser gefiilltes 
Glas herabsinken und in diese Fliissigkeit bis zum Knie tauchen konnten. 
Die Wirkung des heiBen Wassers machte sich in der Haut der liinteren 
Beine des Froschcs sofort fiihlbar, und zwar dadurch, daB die Beine, 
sobald die Pfoten in heiBes Wasser tauchten, sofort in Bewegung ge- 
rieten. Wenn man aber wahrend dieses Versuches die Haut am Riicken 
mit einer Pinzette zusammenpreBte oder den schon vorher praparierten 
X. brachialis zukniff, so horte diese Reflexbewegung sofort auf, und die 
Beine muBten hilflos in das heiBe Wasser sinken. Nach meinem Vor- 
schlage wiederholte denselben Versuch Dr. Zamkow, der Assistant 
des physiologischen Instituts in Kiew, und erreichte analoge Re- 
sultate. Die reflektorischen Bewegungen in den unteren Extremi- 
taten des Frosches horten ebenfalls auf, und die Beine blieben im heiBen 
Wasser hangen, wenn er an dem oberen Korperteile des Frosches einen 
intensiven Strom anwandte. Die Temperaturempfindungen wurden 
also im Riickenmarke bei Tieren gehemmt. In einer anderen Reihe 
von Experimenter; mit lauem VV T asser ohne irgendein chemisches Agens 
vermiBte Dr. Zamkov jede reflektorische Bewegung. Usw. usw. 

W edensky 109 ) reizte in seinen Versuchen an Froschen Plex. lum- 
balis — also ein viscerales Nervengebilde •— und fand dabei, daB das 
experimentierte Tier an einigen Stellen der Hautoberflache eine starke 
Hyperiisthesie aufwies; auf anderen Stellen aber war die Haut voll- 
kommen anasthetisch. 

Aus diesen, wie auch aus den fruher erwahnten Versuchen von 
Leivisson, Goltz, Freunsberg u. a., lassen sich zwei SchluBfolgerungen 
ziehen. 

Erstens zeigen diese Versuche, daB es reflektorische Bewegungen 
gibt, an denen die sensorischen Zellen in den Hinterhornern des Riicken- 
markes teilnehmen, die die differenzierten Empfindungen empfangen 


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(sogenaimten Wurzel-)Neuralgie des N. iscliiadicus. 


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und sie umschalten. Das geht daraus hervor, daB eine farblose und 
indifferente Empfindung, und /war das Eintauchen der Beine in das 
Wasser von neutraler Reaktion oder von indifferenter Temperatur 
keine reflektorische Bewegung hervorzurufen imstande war. Diese 
letzte tritt erst dann ein, wenn die sensiblen Zellen der intraspinalen 
Kette wahrend dieses reflektorischen Aktes in ihre differenzierende 
und umschaltende Tatigkeit treten. Diese intraspinale Zellenkette 
nahm in diesem Falle verschiedene Reizungen von der Saure, Beruh- 
rungs- und Temperaturempfindungen wahr, unterschied dieselben von 
anderen Gefiihlen, und schaltete sie in spezielle Bahnen um. Diese 
Zellen liegen, wie bekannt, in den Hinterhornern des Riickenmarkes, 
und zwar in den sog. Nucleus sensibilis spinalis proprius et Nucleus 
basalis raagnocellularis und nehmen an Leitungsumschaltung der Emp- 
findungen von den hinteren Wurzeln auf die Strange von Gowers, Goll, 
Burdach usw. teil. Um eine reflektorische Bewegung in diesen Fallen 
hervorzurufen, sollte man folglich in die reflektorische Bahn die sen¬ 
siblen Zellen fur Temperatur-, Schmerz- und Beriihrungsempfindungen 
einechalten. 

Die zweite SchluBfolgerung, die aus diesen Versuchen hervorgeht, 
betrifft dieselben Zellen, die zwei verschiedene Ziele zu verrichten 
ha ben, und zwar ihre Fahigkeit, einerseits differenzierte Wahrnehmungen 
dem Gehirne zuzuleiten, und — anderseits den reflektorischen Akt im 
Riickemnarke zu vermitteln. Diese Versuche zeigten also, daB diese Zellen 
zwei oder mehrere Funktionen verrichten koirnen, w r enn aber dies gleich- 
zeitig geschieht und differenzierte Empfindungen eine gewisse Hohe iiber- 
treffen, so leiden daran ihre reflektorischen Verrichtungen. Infolgedessen 
werden durch diese hochgespannten Empfindungen die genannten Zellen 
in ihrer Leitungstatigkeit und Wahrnehmungsfahigkeit fiir verschiedene 
Empfindungen gehemmt. Beisolchen Bedingungen werden die differen- 
zierten Reize keine Reflex be wegungen hervorrufen, und der erregende 
Apparat (heiBes Wasser, Saure usw.) wiirde seine spezifische Qualitat 
verlieren; unter solchen Umstanden werden die Beine in einer schmerz- 
erzeugenden Fliissigkeit, ebenso wie im Wasser von indifferenter 
Temperatur und neutraler Reaktion, hilflos herabsinken, w’eil die 
empfindenden Zellen die betreffenden Reize nicht mehr w T ahrnehmen 
konnen, da sie fiir jene gehemmt sind. Es leuchtet ein, daB man die 
durch die taktilen, schmerzerzeugenden oder durch die thermischen 
Reize hervorgerufenen Reflexakte hemmen kann, wenn man gleich- 
zeitig in dasselbe Riickenmarkssegment eine Welle anderer starken Reize 
sendet. Da diese differenzierten Empfindungen fiir Temperatur, Schmerz 
und Beriihrung vermittelst Gow'erscher, Gollscher und Burdachscher 
Strange, d. h. endogener Neuronen, w'ahrgenommen werden, da weiter 
diese Neuronen wahrend der reflektorischen Akte gehemmt w'erden. 


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M. Lapinsky: Zur Frage liber den Mechanismus der 


so ware zu erwarten, daft dieselben Neuronen auch auBerhalb des reflek- 
torischen Aktes gehemmt werden konnen. Dies sind namlich Zellen, 
die Fabritius’ Meinung nach 330 ) (S. 277, 381) eine sehr groBe Rolle 
in der Umschaltung der Temperatur- und Schmerzleitungen im Hinter- 
horne spielen. Hier beginnen verschiedene spezifische Bahnen, die auch 
dein BewuBtsein verschieden gefarbte Empfindungen iibertragen. Da 
aber dieselben Neuronen, die wahrend der Reflexakte in ihrer Tatigkeit, 
differenzierte Empfindungen zu leiten, resp. zu differenzieren, gehemmt. 
werden, tragen sie zur Obermittlung dieser Empfindungen in das Gehirn, 
resp. in das BewuBtsein bei, so konnen dieselben Zellen auch in dieser 
letzterenTatigkeit verhindert werden; infolgedessen wird unter solchen 
Bedingungen die eine oder die andere Wahrnehmung fiir hohe Sinnes- 
zentren vollkommen verloren gehen. Es soli also unter solchen Be¬ 
dingungen eine Art von Hyp- oder Anasthesie entstehen. 

Diese Erwagungen lassen uns zu dem Schlusse kommen, daB die 
Leitungen der Temperatur-, Beruhrungs- und Schmerzempfindungen 
iiberhaupt im Riickenmarke sicher gehemmt w'erden konnen, wenn an¬ 
dere starkere Reizungen, und zwar in schnellerem Rhythmus, gleieh- 
zeitig in das Riickenmark eintreten. 

Das alltagliche Leben lehrt uns ebenso, daB z. B. der Schmerz 
andere Wahrnebmungen hemmen kann, daB sogar die Schmerzempfin¬ 
dungen hoherer Spannung — andere gleichzeitige Schmerzempfin¬ 
dungen leicbteren Grades schmerzlos machen, d. h. sie hemmen die 
Bahn, auf der diese zum Gehirn hinaufsteigen. Wahrend der Kindes- 
wehen z. B. kann das ReiBen des Perineums oder dessen Zerschneiden 
unfiihlbar bleiben. Wahrend des stenokardischen Anfalls verschwin- 
den Ischiasschmerzen. Wahrend der Gallensteinkolik horen alle anderen 
Schmerzen auf. Usw. 

Claude Bernard 103 ), die Frage iiber die recurrent^ Sensibilitat 
durchforschend (sensibilite recurrente), ist zu dem Schlusse gekommen, 
daB der Schmerz das Nervensystem erschopft, infolgedessen entsteht 
mehr oder weniger eine tiefe Anasthesie (,,La doulcur amene un epuise- 
ment nerveux, qui se traduit par une insensibilite plus ou moins com¬ 
plete"). Diese SchluBfolgerungen des beriihmten Physiologen lassen 
sich am leichtesten durch den Hemmungsmechanismus erklaren; 
man kann namlich die von Claude Bernard beobachteten Sensibilitats- 
stonmgen durch Entstehen des absoluten refraktaren Stadiums in den 
zenlripetalen Zellenketten deuten und die nachste Ursache dessen 
Entstehens in einer anderen peripherischen Storung, die starke Reizung 
erzeugt, ersehen. 

Diese SchluBfolgerung laBt sich auch aus den Hemmungsversuchen 
der reflektorischen Bogen, und zwar vermittelst Reizungen der Klein- 
beckenorgane ziehen. Z. B. Lemsson 66 ) sah wahrend der Versuche an 


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(sogenannten WurzeI-)Neuralgie des N. ischiadicus. 


659 


Kaninchen und Hunden betreffs der Haut- und Sehnenreflexe das 
sofortige Aufhoren derselben, sobald der Autor die Blase oder die Gebar- 
mutter bei seinen Tieren quetschte oder einklemmte. 

Freunsberg 37 ) beobachtete, indem er an den Hunden das Riicken- 
mark durchtrennte und die auf diese Weise experimentierten Tiere frei in 
der Luft aufhing, an den HinterfiiBen eine Reihe rhythmischer Be¬ 
wegungen, rein reflektorischen Ursprangs, die an den Schritt oder 
Lauf eines Tieres auf horizontaler Flache erinnerten. Diese Bewegungen 
der Hinterbeine horten aber sofort auf, als sich in der Blase eine ge- 
niigende Urinmenge samraelte, dagegen kehrten die automatischen 
Bewegungen wieder zuriick, nachdem sich die Blase entleert hatte. 
Gad und Flatau 39 ) machten ahnliche Beobachtungen. Uchtomsky 
(,,Uber Abhangigkeit . . . motorischer Effekte von nebensachlichen 
zentralen Erscheinungen.“ Arbeiten aus dem Physiologischen Institut zu 
Petrograd. Bd. IV/V S. 184, 1909—1910) stellte bei den Hunden 
starke Herabsetzung der Sehnenreflexe in den hinteren Beinen fest, 
wenn er gleichzeitig in den Diekdarm seiner Versuchstiere das kalte 
Wasser einflieBen lie 6 . Bodon 10 ) konstatierte bei Untersuchung der 
Bauchreflexe bei Frauen das Fehlen derselben bei chronischer Pelveo- 
peritonitis. Man muB dieses Ausfalien der Reflexe als eine Hemmungs- 
erscheinung der Reflexbogen von den Kleinbeckenorganenen aus be- 
trachten. Anders gesagt, wurde die Hemmung der intraspinalen zentri- 
petalen Bahnen in den Hinterhornern nicht nur bei den akut angestellten 
Versuchen an den Tieren, sondern auch am Krankenbette bei chroni- 
schen Erkrankungen der Genitalorgane beobachtet. 

Obwohl in diesen angefuhrten Versuchen bloB Reflexe gehemmt 
wurden, aber auf Grand der Analogie mit den Hemmungsergebnissen 
thermischer und schmerzhafter Reflexe (Versuche von Goltz, Lewisson, 
Freunsberg, Lapinsky, Zamkoff und anderen) muB man mit voller 
Uberzeugung annehmen, daB die Reizung der Kleinbeckenorgane 
nicht nur die indifferenten, reflexogenen Impulse, sondern auch ver- 
schiedene Empfindungen, wie Kalte, Warme, Beruhrang, Schmerz usw., 
die in den Sinneszentren wahrgenommen werden, hemmen kann. 

Einer meiner Patienten, der an Prostatitis, Verenguug Urethrae 
und an einer sehr starken Hypcrasthesie der Blase litt, war gezwungen, 
seine Blase sehr oft, besonders in der Nacht zu entleeren. Eimnal, als 
er die Nacht bei seinen Bekannten verbrachte, fand er in seinem Zimmer 
keinen Nachttopf und muBte infolgedessen mehrmals drauBen sein 
Bedurfnis verrichten. Zufalligerweise waren auch seine Stiefel, die der 
Diener zum Putzen weggetrageu hatte, nicht da, und dem Ungliiek- 
lichen blieb weiter nichts anders iibrig, als die Nacht fiinfmal barfuli 
liber den kalten FuBboden seines Zimmers und die kalten nassen Granit- 
stufen der Gartenterrasse zu laufen. Von einem unertraglichen Bediirf- 


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660 


M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechanismus der 


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nisse getrieben, verlieB der Patient sein warrnes Bett, lief in den Garten, 
fiihlte aber in den FuBsohlen weder Kalte noch irgendeine unangenehme 
Empfindung, solange die Exurination dauerte; seine FuBsohlen be- 
gannen aber die Kalte beiin Auftreten auf die kalte Erde und den 
naBkalten Granit sofort sehr unangenehm zu empfinden, als er nach 
Verrichtung seines Bedurfnisses zuriicklaufen muBte. Offenkundig 
hemmten die von dem Kleinbeckenorgane (Blase) hinaufsteigenden 
imperativen Impulse die Hinterhornzellen und verhinderten ihre Fahig- 
keit, das Kaltegefiihl zu differenzieren, dieses Gefiihl auf die betreffen- 
den Bahnen einzuschalten und jene weiter zum Bewu Btsein zu be- 
fordern. Usw. 

Was die Nervenfasern, auf denen die Reizungen aus dem Klein- 
becken zum Riickenmarke aufsteigen, anbelangt, so ist in der Literatur 
dieser Apparat sehr gut studiert 57 ), 57a ), 59 ), 82 ). Hier muB man ganz 
kurz erwahnen, daB diese von dem Kleinbecken aus zum Riickenmark 
leitenden zentripetalen Fasem, die Verrichtungen der eiulogeuen Neu- 
ronen der hinteren und Seitenstrange hemmen sollen, aus einem Neu¬ 
ron bestehen. Dieser Neuron hat seine sensible Endung in einem 
visceralen Organe, tritt in den sympathischen Grenzstrang durch sym- 
pathisches und intervertebrales Ganglion, um weiter zusammen mit der 
Hinterwurzel in dem Riickenmarke einzutreffen. 

Was den weiteren Verlauf dieser zentripetalen sympathischen 
Fasem im Riickenmark anbelangt, so konnen die Untersuchungen 
Michailoivs 74 ) ein Licht in dieser Beziehung ergieBen. Dieser Autor 
verfolgte im Riickenmarke den Gang der Fasern, die aus visceralen 
Organen durch Ganglion stellatum und durch sympathischen Grenz¬ 
strang verlaufen. GemaB seinen Untersuchungen schneiden die zentri¬ 
petalen Fasern, die z. B. aus Ganglion stellatum in das Hinterhorn des 
Riickeumarkes eintreten, dasselbe in mehreren Richtungen durch. Er- 
stens, ist ihrLauf in denStrangen von Goll undLowenthal undinderMitte 
der grauen Substanz des Hinterhorns festgestellt. Michailow sah auBer- 
dem zentripetale sympathische Fasern auch in der vorderen Randzone 
der Burdachschen Strange. Zweitens richten sich die sympathischen 
zentripetalen Fasern weiter in der Mitte der Pyramidenbahnen und in der 
Dicke der Burdachschen Strange hinauf, und zwar auf beiden Seiten, 
nachdem sie die innere Randzone des Hinterhorns durchgegangen waren. 
Drittens gehen die betrcffenden Fasern das Hinterhorn in dessen 
auBerer Randzone durch und steigen nachher in der Mitte der direkten 
cerebralen Fasern hinauf. 

Man kann mit vollern Rechte gelten lassen, daB den gleichen Ver¬ 
lauf auch jene sympathischen zentripetalen Fasern haben, die von dem 
Kleinbecken aus durch den sympathischen Grenzstrang verlaufen und 
schon auf der Hohe des Kreuz- und Lumbalmarkes in das Riickenmark 


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(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des N. ischiadicus. 


661 


eintreten. Der Gang dieser Fasern im Hinterhorne des Riickenruarkes 
ist einem Facher ahnlich. Diese in der Hinterwurzel in ein scbmales 
Biindel zusammengebundenen Fasern breiten sich in dera Hinterhorne 
aus, indem sie sich in die Hinter- und die Seitenstrange, und zwar nicht 
nur auf ihre Seite, sondern auch auf die gegenuberliegende richten. 
Dieser Facher liegt in naclister Nachbarschaft mit den sensorischen 
Zellen, die an dem zentripetalen Schenkel des reflektorischen Bogens 
teilnehmen. Dieser Facher geht nach dem Eintritt in das Hinterhorn 
durch Nucleus sensibilis proprius (Jakobsonii), der, wie bekannt, aus 
sehr kleinen Zellen besteht und stellt eine ununterbrochene konstante 
Zellensaule, die in dem Kreuzmarke beginnt und sich in der sensiblen 
Wurzel Nervi trigemini, und zwar in dem Halsmarke, in dem verlanger- 
ten Marke und in Pons varolii endet. Diese Zellensaule, die in dem 
hintersten Teile des Hinterhorns liegt, hat ausschliefilich sensitive 
Tatigkeit. In dieser Saule liegen jene Zellen, die ihre Nervenfortsatze 
in die Strange von Burdach und von Goll schicken ( Jakobson 53 ), 59 ). 
Derselbe Facher der centripetalen sympathischen Fasern, die Reizungen 
aus den sympathischen Gebilden des Kleinbeckens iibertragen, geht auch 
durch deu Kern Nuclei magnocellularis basalis s. spino-cerebellaris. 
Dieser letzte Kern liegt ebenso in dem Hinterhorne und dessen Fasern 
treten in den Seitenstrang, und zwar teilweise auf die gleichnamige 
Seite, teilweise auf die gegenuberliegende, namlich durch die hintere 
Commissur, in das Biindel direkter cerebraler Bahnen. Dieselben 
sympathischen Fasern des genannten Biindels dringen auch durch den 
Kern von N. nucleus magnocellu laris centralis cornu posterioris, 
der im sog. Kopfe und Halse des Hinterhorns zwischen Substantia 
Rolando und Basis cornu posterioris liegt und, obwohl diese Zellen zu 
der Kategorie der sensorischen Gebilde gerechnet sind, ist die Richtung 
ihrer zentripetalen Achsencylinder bis jetzt noch nicht bestimmt worden. 

Die zentripetalen in den Organen des Kleinbeckens beginnenden 
Fasern lehnen sich also, nachdem sie die Hinterwurzel passiert und 
sich im Ruckenmarke in Form eines breiten Fachers aufgeschlagen 
hatten, gegen jene Zellen der Hinterwurzeln, die die reflektorischen 
Akte vermitteln, verschiedene differenzierte Empfindungen aufnehmen 
und dieselben auf die endogenen Fasern Gowerscher, Gollscher und 
Burdachscher Strange umschalten. Diese Fasern gehen auBerdem auch 
zwischen den Pyramiden- und Cerebellarbahnen, die, wie bekannt, in 
direkter Beziehung zu den spontanen und reflektorischen Bewegungen 
stelien. 


V. 

Die hier angefiihrten Versuche mehrerer Autoren, die dieHemmungs- 
moglichkeit der Schmerz-, Beriihrungs- und Temperaturempfindungen 


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662 


M. Lapinsky: Zur Frage Uber den Mechanismus der 


durch Reizungen zeigen, wenn man diese Reizungen von einem anderen 
Organe aus gleichzeitig mit diesen Wahmehmungen in das Riickcn- 
mark einfiihrt, erklaren das Zustandekommen jener Sensibilitats- 
veranderungen, die in meinen Fallen und von anderen Autoren bei 
sog. radicularer Ischias beobachtet wurden. 

Da die Kleinbeckenorgane bei unseren Patienten sich im Zustande 
einer starken Reizung befanden, die eine ununterbrochene zentripetale 
Welle erregen nnd durch die Hinterwurzel in das Riickenmark senden 
sollten, so konnten diese Reizungen, auf Grund Baglionis u. a. Versuche, 
jene interzentralen Zellen der endogenen Neuronen hemmen, die Warme-, 
Khlte-, Beriihrungs- und Schmerzempfindungen umschalten und 
weiterbefordern. 

Auf Grund dieser Erwagungen ist es ganz logisch zu schlieBen, 
daB die Reizungen von dem kranken Kleinbeckenorgan aus Wahr- 
nehmungen von Temperatur, Beriihrung und Schmerz, und zwar im 
Gebiete einzelner Metameren, nicht nur hemmen konnten, sondern 
muBten, und daB diese Hemmungsresultate sich also in Form anasthe- 
tischer Streifen auBern sollten. Die anasthetischen Streifen, die bei 
meinen bereits angefiihrten Kranken ihrer Lokalisation nach den Figuren 
Thornburns, Kochers u. a. entsprechen, sind also nichts anderes, als 
Resultate einer Hemmung der intraspinalen Zellen einzelner Neu- 
romere, sind also keine Folge einer organischen Stoning der Spinal- 
wurzeln, keine organicche Lasion, sondern eine funktionelle Erschei- 
nung. Dieses Phanomen gehort also zu den intraspinalen Ereignissen. 
stellt keinen peripherischeu ProzeB dar, ist kein Resultat der Erkrankung 
der Riickenmarkshiillen, sondern erscheint als Folge einer Erkrankung 
der Kleinbeckenorgane, die schon friiher vorhanden war. 

Was die feinen Einzelheiten des Heinmungsmechanismus anbelangt, 
so muB man, ohne in die der experimentellen Analyse unzulanglichen 
Kleinigkeiten einzugehen, den Satz aufstellen, daB die Aufgabe der 
Hemmung in der Verlangerung des refraktaren Stadiums des Leitungs- 
vermogens in der Zelle bis zum Stadium eines absoluten Unvermogens 
besteht. Dieses letzte Stadium ist nichts anderes, als eine Verrichtung 
der Selbstverteidigung des Organismus — seiner Nervenzentren — 
gegen Uberbiirdung von Wahmehmungen; diese Bedingungen der 
Selbstverteidigung konnen in jeder sensiblen Zelle. und zwar in dem 
Falle entstehen, wenn sich sehr intensive und sehr schnell gehende 
Reizungen auf diese Zelle ergieBen. Bei solchen Umstanden fallt diese 
Zelle in das refraktare Stadium, das ihr Leitungsvermogen hemmt. 

Ebenso wie die Streifen der Anasthesie resp. Hypalgesie durch 
Hemmungsreizungcn, die von einem anderen Organe aus aufsteigen, 
erkliirt werden konnen, kann man auch das Entstehen der Hyperasthesien 
im Gebiete einzelner Metamere durch denselben Mechanismus auslegen. 


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(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des N. ischiadicus. 


663 


Es gibt sehr viele Beobachtungen, die zeigen, daB eine Reizung 
eines zentripetalen Nerves einen reflektorischen Akt manchmal hemmt, 
manchmal denselben aber auffrischen und verstarken kann, z. B.: 

Frohlich 36 ) hat sich iiberzeugen konnen, daB Aplysia limacina 
ein sehr gunstiges Objekt fur Demonstration der Hemmungtgesetze 
darstellt; bei diesem Tiere kann man z. B. denVerlust des Tonus durch 
Reizung seiner Hautoberflache vermittelst eines schwachen Stromes 
hervorrufen; dasselbe Tier reagiert aber mit sehr starken, aus- 
gebreiteten rhythmischen Beweguiigen auf Reizung mittelst eines 
starkeren Stromes. Anderseits aber bringt eine leichte Beriihrung 
seines Kopfes diese rhythmischen Schlage der Flossen zum Stehen und 
hemmt dieselben. 

Schiff ist der Meinung, daB jede Reizung, wenn sie sich auf eine 
groBe Oberflache ausbreitet, die Reflexe hemmt, dagegen dieselben 
aufregt, wenn sie sich auf ein kleines Gebiet beschrankt. 

Bubnoff und Haydenhayn 1 *) sind auf Grand ihrer Experimente 
zu folgenden Schliissen gekommen: ,,Vergleicht man die Entwick- 
lung schwacher sensibler Reizung auf die rahende und tatige Ganglien- 
zelle, so ergibt sich als gemeinsamer Gesichtspunkt, daB jede Reizung 
jedesmal Vorgange im hoheren Grade verstarkt, die im Augenblicke 
weniger entwickelt sind, — in der rahenden Zelle — die der Erregung, 
— in der tatigen — die der Hemmung zugrunde liegenden Prozesse. 
Dadurch wird der jedesmal bestehende Zustand der Zelle aufgehoben 
und in den gegenteiligen verwandelt." Das heiBt: der Effekt der Rei¬ 
zung ist yon dem Zustande, der durch die zentripetalen Impulse zu 
erregenden Zelle abhangig. Wenn diese Zelle sich im Ruhezustande 
befindet, so regt dieser Iinpuls sie zur Tatigkeit an; wenn aber diese 
Zelle in diesem Momente eine besondere Tatigkeit entwickelt, so bringt 
die neue Reizung sie jetzt zum Stillstand. Eine bestimmte Reizung 
kann also die Verrichtung einer Zelle verandern und dieselbe sogar in 
den gegenteiligen Zustand versetzen. 

Zyon nob ) (S. 197) fand dasselbe in bezug auf Herz und GefaB- 
innervation. Jede Reizung hemmt die vasomotorischen Zentren, wenn 
dieselben sich in einer tonischen Erregung befinden (infolgedessen 
erweitern sich die von ihnen verordneten GefaBe). Dagegen regt diese 
Reizung vasomotorische Zentren auf und zieht dadurch die betreffen- 
den GefaBe zusammen, wenn die vasomotorischen Zentren sich vorher 
in einem Ruhezustande befanden. 

Zu demselben Schlusse kommt auch Goltz, indem er zugibt, daB die 
hemmenden Impulse sich ihrer Natur nach in nichts von den anbahnen- 
den und auffrischenden unterscheiden, infolgedessen kann eine und 
dieselbe Reizung in einem Falle einen Akt heramen und in einem 
anderen dagegen denselben anbahnen und auffrischen. 


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664 M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechanismua tier 

Genau auf diese Weise mufl man den Fall Nottaa' 6 ) auffassen, 
der viele Klinizisten durch das ratselhafte Aufleben der Empfindlich- 
keit bei seinen Kranken in Verlegenheit gebracht hat. Notta beobach- 
tete namlich einen typischen Fall der Ischiadicusneuralgie, wahrend 
der die Hautempfindlichkeit auf einem bestimmten Gebiete der hinteren 
Oberflache des Beines herabgesetzt gefunden wurde. Die Hautempfind- 
lichkeit stellte sich aber wieder her, nachdem die benachbarten, im 
Sinne der Sensibilitat ganz normalen Hautterritorien einem speziellen 
Reize (vermittelst faradischen Strdmes) unterzogen worden waren. Die 
Ursache der Sensibilitatsherabsetzung sah der Autor in einer organisehen 
Lasion des peripherischen Neurons und infolgedessen war fur ihn die 
Wiederherstellung der Sensibilitat unter solchen Bedingungen ganz unbe- 
greiflich. Fine solche Wiederherstellung war aber durch Verschwinden 
eines organisehen Prozesses im Stamme des N. ischiadicus oder in dessen 
Wurzeln schwer zu erklaren, ohne daO dafiir besondere therapeutische 
MaBregeln an dem kranken Nerv selbst getroffen wurden. Wenn die 
Sensibilitatsherabsetzung durch einen organisehen ProzeB in dem 
peripherischen Nerv hervorgerufen worden ware, so ware diese Wieder¬ 
herstellung nur nach Regeneration der verfallenen Fasern zu erwarten 
gewesen. Wenn diese Verhinderung der Sensibilitatsleitung eine Folge 
des Zusammendruckens des ganzen Stammes durch irgendeinen peri¬ 
pherischen ProzeB ware, so ware das ganze klinische Bild in die Grenzen 
einer Anesthesia dolorosa eingetreten. Eine zu vermutende Einklem- 
raung des peripherischen Nervs muBte aber sehr stark sein, damit 
sich eine Anasthesia dolorosa entwickeln konnte, wie dies aus den Ver- 
suchen Neugebauers 75 ) zu ersehen ist. Aber weder eine Einklemmung 
noch eine Degeneration des Nervs konnen nach irgendeiner Reizung 
desselben, und zwar auBerhalb seines Gebietes so plotzlich zum Ver¬ 
schwinden gebracht warden. Eine Einklemmung des Nervenstammes 
muBte auBerdem noch von Motilitatsstorungen begleitet werden, was 
aber im Falle Nottas nicht beobachtet wurde. Eine provisorische vor- 
ubergehende Stoning der Blutzirkulation, und zwar in Form von Ge- 
faBspasmus, wie z. B. bei doigt mort, konnte eine kurzdauernde Er- 
scheinung von Hautaniisthesie hervorrufen, doch kann ein solcher 
ProzeB weder subjektiv noch objektiv unbemerkt bleiben und hatte 
in der Krankengeschichte von Notta notiert werden mussen, w'ovon aber 
in der Beschreibung der Erkrankung keine Rede ist. Die einzige Er- 
klarung dieser Wiederherstellung der Sensibilitat im Falle Nottas ist 
in dem Verschwinden des langdauernden refraktaren Stadiums oder 
anders gesagt des Verhindenmgstonus, der die Zellenkette des Hinter- 
horns uberbiirdete, zu suchen. Das Aufhoren dieses Stadiums ist ge- 
maB der Lehre von Haydenhayn-Bubnoff nach dem Hervorbringen neuer 
Reizungen an denselben Zellenketten vermittelst anderer Hautnerven 


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(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des N. ischiadicus. 


665 


in benachbarten Gebieten und mit Hilfe elektrischen Stromes zustande 
gebracht worden. 

Faber 33 lj ) (S. 333) beobachtete eine starke Hauthyperasthesie der 
rechten Bauchhalfte bei einer Patientin, wahrend sie Blut erbrach. Mit 
der Wiederherst^llung der normalen Verdauungstatigkeit kehrte auch 
normale und gleichmaBige Empfindlichkeit an der Bauchoberflache 
wieder. 

Mansel-Moulin 10h ) stellte in mehreren Fallen eine Hyperalgesie 
an der Bauchoberflache wahrend der AbsceBreifung bei Appendicitis 
fest. Nachdem sich der AbceB entleerte, verschwand gewohnlich diese 
Hyperalgesie. Diesen Befund bestatigte auch James Sherren 90b ) in 
40 Fallen rait AbsceBbildung bei Appendicitis. 

Derselbe Mechanismus der zentripetalen Reizungen, die von den 
erkrankten Visceralorganen aus geleitet werden, muB wahrschein- 
lich auch im Grunde jener Hauthyperasthesien liegen, die besonders 
von den englischen Autoren studiert wurden. Dieser Mechanismus 
stellt sich also entweder in dem Beleben der Hautperzeptionen oder in 
der Anbahnung derselben. Lange, Boss, Head, u. a. zeigten z. B., daB 
nach verschiedenen Visceralerkrankungen eine Erhohung der Empfind¬ 
lichkeit fur Sfich und Beriihrung in verschiedenen Korpergebieten folgen; 
die Erkrankung bestimmter Organe auBert sich immer auf einer be- 
stimmten Stelle dutch eine Sensibilitatserhohung, welche Erscheinung 
von Head ,,Zona“ genannt wurde. 

Ebensolche hyperasthetische Zonen wurden auch von anderen 
Autoren bei verschiedenen Visceralerkrankungen festgestellt, infolge- 
dessen das Bestehen der Headschen Zonen jetzt von alien Seiten an- 
erkannt ist. 

Die Beobachtungen Willamowskis 101 ) haben in dieser Beziehung 
eine sehr groBe Bedeutung, weil es diesem Autor gclungen ist, zu be- 
w'eisen, daB die Headschen Zonen nicht nur hyperasthetisch, sondern 
auch anasthetisch gefarbt sein konnen. Dieser Umstand wurde aber 
auch schon friiher von Head selbst beobachtet, der sich iiberzeugte, 
daB einzelne Territorien. die sich von ihrer Umgebung durch eine Hyper- 
asthesie unterscheiden, in manchen Fallen anasthetisch vorkommeu 
konnen. Wcnn man also in dem ersten Falle von einer Auffrischung 
der Zellenleitung, infolgedessen die eine oder die andere Wahrnehmung 
scharfer zum BewuBtsein hinaufsteigt, sprechen kann, muB man 
im anderen Falle eine Verhinderung der zentripetalen Leitungen an- 
erkennen. Diese Erwiigungen erlauben bei Ischias in meinen Fallen das 
Vorkommen der Hypalgesie des Beines, die Ablosung der Hyperasthe- 
sien durch Anasthcsien (nach Massage der Prostata) usw. zu erklaren. 

Wenn in der Hyperasthesie der Hautzonen cin Mechanismus der 
Belebung zu vermuten ist, so muB man in der Herabsetzung der Sensi- 


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M. Lapinsky: Zur Frage liber den Mechanismus der 


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bilitat ein Hemmungsresultat, keinesfalls aber eine organische Erkran- 
kung der Leitungsbahnen ersehen, weil diese Herabsetzung der Sensibili- 
tat von einer sehr kurzen Dauer war, und die Fahigkeit besaB, sich sehr 
schnell wiederherzustellen und sogar durch eine Hyperasthesie auf- 
gelost zu werden. 

Die angefiihrten, wenn auch aus ganz verschiedener Veranlassung 
gemachten Beobachtungen anderer Autoren sind fur unsere Falle voll- 
kommen brauchbar und raachen die Entstehungsmoglichkeit der 
Hyperasthesien im Gebiete einzelner Metamere an den unteren Extremi- 
taten, am Bauche und am Kreuze, als Folge einiger krankhaften Rei- 
zungen in den Kleinbeckenorganen ganz verstandlich. Diese Prozesse 
erzeugen eine Welle der zentripetalen Reizungen, die zum Riickenmark 
hinaufsteigen und im Gebiete einzelner Riickenmarkssegmente oder 
Neuromere jene Summe von Erregungen entwickeln, die den vorher- 
bestehenden negativen Tonus in den Zellenketten zum Verschwinden 
brachte, die Leitungen erleichterte, und die Hyperasthesien im Gebiete 
einzelner Metameren des Korpers hervorrief. Infolgedessen mu6 man 
die Streifen hyperasthetischen metameren Typs an den unteren Extre- 
mitaten ebenso fur ein Zeichen der Erkrankung der Kleinbeckenorgane 
halten, nicht als organisation, und zwar peripherischen Ursprungs, son- 
dern eine funktionelle und intraspinale Erscheinung betrachten. 

VI. 

Der Zustand der erhohten oder herabgesetzten Reflexe bei angefiihr- 
ten Kranken, die Veranderung ihrer groben Kraft, die Stoning der 
Muskelernahrung und die Atrophie derselben laBt sich durch denselben 
entfernten EinfluB, d. h. durch den Mechanismus der Hemmungen 
oder Anbahnung, keineswegs aber durch organische Erkrankung der 
Wurzeln erklaren. 

Die Frage iiber Hemmung der Sehnen-, Haut-, vegetativen und 
anderen Reflexe ist sehr gut erforscht. Head* 9 ) (S. 27) beobachtete 
an dem Hunde eine Unterbrechung des Urinierens wahrend der Reizung 
des Perineums. Ewald beobachtete dasselbe, als er an dem Hunde mit 
dem durschnittenen Riickenmarke den Schwanz in dem Moment zu 
ziehen anfing, als die Exurinatio bei diesem Hunde begann. Mit Hilfe 
dieses Eingriffs konnte dieser Experimentator die Exurinatio zum 
Stillstand bringen. Goltz 42 ) beobachtete an dem Hunde mit durch- 
schnittenem Riickenmarke koordinierte Bewegungen der hinteree Ex- 
tremitaten, die einen bestimmten Rhythmus, eine gewisse RegebnaBig- 
keit hatten und ihrem Charakter nach an einen regelrechten Schritt 
oder Marsch erinnerten. Die Ursache dieser automatischen Bewegung 
liegt nach Goltz' 1 Meinung in einem Mechanismus, der durch eine passive 


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(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des N. ischiadicus. 


667 


Ausdehnung der Muskeln der hinteren Extremitaten angebahnt und 
reguliert wird. Dieser rhythmische Schritt horte aber sofort auf, wenn 
man das Tier an dem Schwanz zu ziehen anfing. Derselbe Mechanismus 
ist auch in den Versuchen N othnagete 16 ) an den gehirnlosen Frbschen 
zu ersehen. Wenn namlich Nothnagel den N. ischiadicus auf einem Beine 
mittelst faradischen Stromes reizte, horte die reflektorische Erregbarkeit 
auf dem Kontrollbeine sofort auf, stellte sich aber nach dem Aufhoren 
der Reizung wieder her. Man kann also die reflektorischen Akte hemmen, 
wenn man gleichzeitig mit denselben einigc intensive Impulse in das 
Riickenmark einfuhrt. 

Es sind alle Griinde vorhanden zu glauben, daB die Organe des 
Kleinbeckens durch ihre zentripetalen sympathischen Fasern fort- 
wahrend die Impulse, die den Muskeltonus der unteren Extremitaten 
und dadurch auch ihre reflektorische Tatigkeit auf eine oder die andere 
Weise beeinflussen, zum Riickenmark senden. 

Es ist ganz am Platze, auch die friiher zitierten Versuche Lewissons 
mitEinklemmung der Blase und derGebarmutter und dieBeobachtungen 
Freunsbergs, Gad-Flataua liber die Hemmungen der Reflexe der Hinter- 
extremitaten von der mit dem Urin uberfullten Blase aus zu erwahnen. 

De Boer 16 ) erfuhr aus dem Artikel Botazzis, indem er die Literatur 
des Muskeltonus studierte, daB zwei Stoffe in dem Muskel vorhanden 
sein miissen, die die Schnelligkeit einzelner Muskelzuckungen liervor- 
rufen und den Muskeltonus uuterstiitzen. In derselben Literatur fand 
sich vor, daB Pekelharing. s 85 ) Meinung nach der Muskeltonus und die 
Geschwindigkeit einzelner Muskelzuckungen eine Folge verschiedener 
chemischer Reaktionen sind, daB Perrocinto 86 ) in den Muskelzellen 
zwei Arten nervoser Endungen, von denen einige mit dem sympathi¬ 
schen und andere mit dem cerebrospinalen Nerveusystem in Verbin- 
dung stehen, entdeckte, wobei Mossos Meinung nach das cerebro- 
spinale Nervensystem einzelne schnelle Muskelzuckungen bedient und 
das sympathische den Muskeltonus unterstiitzt. De Boer 16 ), indem 
er die Vermutung Mossos und anderer erwiihnter Autoren priifen wollte, 
inachte die Versuche am Frosche, bei dem er Rami communicantes des 
sympathischen Bauchgrenzstranges zum N. ischiadicus durchschnitt; 
das Resultat dieser Operation war, daB die experimentierte Extremitat 
infolge der Abschwachung der Muskulatur des Beines und des Tonus- 
verlustes derselben langer wurde. Als dieser Autor spater noch den 
N. ischiadicus durchschnitt, wurde die Extremitat nicht mehr langer. 
De Boer stellte dasselbe auch an dem isolierten Muskel, M. gastrocne¬ 
mius, feat. Auf Grund solcher Versuche kam der Autor zu dem Schlusse, 
daB der Muskeltonus durch das sympathische System, dessen Bauchteil 
nicht nur die Visceralorgane, sondern auch die quergestreiften Muskeln 
und ihren Tonus durch das Verbrennen der EiweiBstoffe in dem Sarko- 

Arcliiv fiir Psychiatrie. Bd. 07. 44 


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668 


M. Lapinsky: Zur Frage liber den Mechaniamus der 


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plasma verwaltet, reguliert wird. Die einzelnen, und zwar schnellen 
Muskelzuckimgen, resp. Bewegungen, werden dagegen von dem cere- 
brospinalen Nervensystem stimuliert, und sind nichts weiter, als das 
Resultat der Verbrennung der Kohlenhydratstof f e. 

Indem De Boer 17 ) seine SchluBfolgerungen an warmbliitigen Tiereu 
priifen wollte, machte er verschiedene Versuche an Katzen, bei denen 
er einen Teil des rechten Bauchsympathicus ausschnitt. Als Folge 
dieses Eingriffes ergab sich folgendes: 1. die rechte hintere Extremitat 
wurde infolge des Muskeltonusverlustes an dieser Extremitat 1 anger, 
wenn man das Tier auf das Stativ hing. 2. Die Passivbewegungen 
an demselben Beine wurden freier. 3. Die Muskeln des rechten Beines 
wurden beim Vergleiche mit denselben an der liuken Seite viel weicher. 
4. Die Sehnenreflexe am rechten Beine wurden hoher. 5. Der Schwanz 
bei dem so operierten Tiere neigte sich nach der gesunden Seite. 
6. Irgendeine Ataxie bei den experimentierten Tieren war nicht zu be- 
merken. 

De Boer erklart die Reflexerhohung bei seinen Tieren dutch den 
Tonusverlust der Muskulatur an der experimentierten Seite, infolge- 
dessen die betreffenden Muskeln einen viel groBeren und hoheren 
Schwung machten, als die Muskeln, die ihren Tonus aufbewahrt haben; 
er sah also bei seinen Tieren ganz dasselbe, was nach der Kleinhirn- 
exstirpation beobachtet wurde, wobei namlich die Reflexe in den Muskeln 
mit verlorenetn Tonus hoher wurden. Der Autor konnte sich den Muskel- 
tonusverlust in der experimentierten Extremitat durch GefaBerweiterung 
in derselben nicht erklaren, weil der Tonus der Muskel fruiter verloren- 
ging, als die GefaBerweiterung entstand. De Boer glaubt deshalb, daB 
er mittelst seiner Operation, die die Herabsetzung des Muskeltonus 
und die Veranderung der Reflexe zur Folge hatte, die zentripetalen 
Fasern, die von den Visceralorganen aus zum Riickenmarke auf- 
steigen, vernichtete; die Folge da von war eine Veranderung des Muskel¬ 
tonus und der Reflexe. 

Diese Arbeit De Boers laBt den SchluB ziehen, daB die Impulse, 
die von dem Kleinbecken aus durch das sympathische Nervensystem 
fortgepflanzt werden, die Reflexe in den klinischen von mir angeftihrten 
Fallen entweder vollkommen hentmen oder dieselben im Gegenteil 
auffrischen und bis zum Klonus (Fall V) beleben konnten. 

Dieselben Versuche De Boers konnen anderseits auch die Verandc- 
ruttg der groben Kraft in den unteren Extremitaten (Fall V) bei Er- 
krankung der Kleinbeckenorgane •— infolge eventuellen Verfallens 
des Muskeltonus oder dank einer Hemmung der Verbrennung, resp. 
Aneignung der Kohlenhydrate und der EiweiBstoffe — verstandlich 
machen. 


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(sogenanntcn Wurzel-)Neuralgie des X. ischiadicus. 


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Hier ist es vollkommen am Platze zu bemerken, da 6 die Ergebnisse 
dieser Versuche im vollen Einklange mit den Beobachtungen anderer 
Autoren stehen, die einige Storungen der aktiven Bewegungen nach 
Verletzungen der Kleinbeckenorgane oder in der Bauchhohle beobach- 
teten, und welche Stoningen nach Rombergs Vorschlag Reflexlahmungen 
genannt wurden. Z. B.: 

Comhaire h0 ) beobachtete eine Lahmung der hinteren Extremitat 
auf der operierten Seite an einem Hunde, bei dem eine Niere exstirpiert 
wurde, ohne daB irgendwelche Veranderungen in den Nervenzentren 
oder in den peripheren Nerven vorhanden waren, wo aber statt dessen 
die Lasion des Nierengcflechtes und eine groBe Welle der zentripetalen 
Reizungen, die von demselben zum Ruckenmarke emporstiegen, und 
auf eine oder auf die andere Weise die Verrichtungen im Ruckenmarke 
verandern konnten, zu erwarten waren. Lewisson 66 ) (1. c. S. 264) zer- 
driickte die Gebarmutter beim Kaninchenweibchen und beobachtete 
eine Lahmung beider hinteren Extremitaten als Folge dieses Eingriffes. 
Dieselbe Lahmung beobachtete der Autor, wenn er die Gebarmutter 
aus ihrer normalen Lage in die Hohe brachte und entweder iliren Korper 
oder nur ein Horn derselben in die vordere Bauch wand fixierte. Lewisson 
beobachtete auch die gleiche Erscheinung beim Zusammendriicken der 
Blase am Kaninchen, die vor dem Experimente entleert wurde. 
Mackensie 70a ) erwahnt, daB nach dem Zusammenpresseu des Testi- 
culums ein starker Kraftverfall entsteht, der einer Lahmung, die nach 
der Einklemmung der Niere oder des Eierstockes entsteht, lihnlich ist. 
Stenley, Graves, Stockes, Leyden 6S ) u. a. 50 ) machten ahnliche Beobach¬ 
tungen. Usw. usw. 

Alle diese Ergebnisse lassen die Klagen der angefuhrten Kranken 
iiber die Kraftherabsetzung in den Beinen, liber die Unmoglichkeit, 
lange Zeit zu FuB zu gehen usw. fiir glaubwiirdig gelten. Es scheint 
aber anderseits auch ganz begreiflich, daB die hier beschriebenen Pa- 
tienten (Beobachtungen I. und V.) nach der Prostatamassage usw. 
eine Kraftvermehrung verspurten und infolgedessen eine gewisse 
Strecke zu FuB zuriicklegen konnten. 

Richet 87 ) machte eine sehr interessante Beobachtung an sich selbst. 
Nachdem er sich seiner Handschuhe entledigt hatte, setzte er beide 
Hande der Wirkung des kalten Windes aus und stellte in denselben 
bald eine Herabsetzung der Sensibilitat, und zwar hauptsachlich fiir 
Beruhrung, und eine Verminderung der groben Kraft bis zu einer voll- 
kommenen Lahmung fest. Biese Storungen der Sensibilitat und der 
motorischen Sphare zeichneten sich aber durch besondere Eigentiiin- 
lichkeitcn aus. Sie breiteten sich z. B. auf beiden Extremitaten aus, 
wenn auch nur eine Hand dem Einflusse des Windes ausgesetzt wurde. 
Bas Ausbreitungsgebiet dieser Storungen entspraeh entweder dem 

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M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechanismus der 


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Verzweigu ngsgebiete des N. radialis oder seltener jenem des N. ulnaris; die 
Grenze der verlorenen Sensibilitat auf der Hand fiel mehrmals mit den 
Grenzen des N. radialis so genau zusammen, dab dieselbe in der Mitte 
der Dorsalseite des Mittelfingers zwischen der normalen und der ver- 
iinderten Hautempfindlichkeit zu liegen kam. Die Hautoberflache 
wurde an solchen Stellen cyanotisch. In einem Falle konnte Richet 
den GefaBspasmus (doigt mort) am Zeigefinger feststellen, dagegen 
behauptete der Daumen seine normale Zirkulation, war aber ebenso 
unempfindlich wie der Zeigefinger. Der GefaBspasmus wurde nicht 
nur auf der entbloBten, sondern auch auf der bekleideten Hand beob- 
achtet. Der Autor schlieBt in diesem Falle aus den Ursachen der Lah- 
mungserscheinungen in der Hand und der Gefiihllosigkeit den lokalen 
EinfluB der Kalte aus. In diesen Lahmungserscheinungen und in der 
Gefiihllosigkeit sieht Richet Folgeerscheinungen eines gewissen Reflex- 
mechanismus, in dem die Kalte, indem sie die peripherisehen Nerven- 
endungen beeinfluBt, die Ruckenmarkszentren erreicht und dieselben 
erregt. Als Resultat einer solchen Reizung entsteht der GefaBspasmus, 
und zwar jener der Capillaje und als Folge da von entwickeln sich An¬ 
asthesien und Lahmungen. 

Indem Richet die Schwache des Armes und seine Gefiihllosigkeit 
sich durch Spasmus der Capillare zu erklaren suchte, vergaB er nach den 
Griinden zu suchen, warura dieser Spasmus sich nur im Gebiete der 
einzelnen peripherisehen Nerven entwickelte, warum die Grenze dieses 
Spasmus gerade in der Mitte des Mittelfingers verlief, warum dieser 
Spasmus bloB auf der Radialisseite dieses Mittelfingers zum Vorschein 
kam und auf der Ulnarisseite aber feklte? Der Autor setzt auch nicht 
auseinander, warum sein Daumen seine normale Blutzirkulationbewahrte, 
seine Hautsensibilitat dagegen ebenso wie sein Zeigefinger, an dem 
ein absoluter GefaBspasmus (doigt mort) notiert wurde, verlor. 
Er sucht auch nicht nach Erklarungen, warum der GefaBspasmus 
sich auch auf die behandschuhte Hand ausgebreitet hatte. Usw. In 
Anbetracht solcher Vernachl&ssigung kann man mit Richet, mit 
seinem Bestreben, Anasthesien und Lahmungen durch Storung der 
peripherisehen Blutzirkulation zu erklaren, nicht einverstanden 
sein. Das von ihm beobachtete Bild fordert eine ganz andere Deutung, 
und zwar: da die Lahmungen und Anasthesien nicht mitdem Versorgungs- 
gebiete der A. radialis oder A. ulnaris zusammenfallen, sondern den Ge- 
bieten einzelner Metameren entsprechen, deren genaue Grenze nach 
einigen Autoren durch die Mitte des Mittelfingers verlaufen kann, so 
muB man annehmen, daB die Ursache dieses klinischen Bildes nicht in 
der Blutversorgung und nicht in der Peripherie, sondern in der meta¬ 
meren Verteilung, und zwar im Ruckenmarke zu suchen ist. Man muB 
namlich annehmen, daB die Kalte eine Hemmung im Ruckenmarke 


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(sogenannten Wurzel-)Neuralgie ties N. ischiadicus. 


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zustande brachte, die die Motilitatsimpulse und Sensibilitatsleitungen 
in dem siebenten Neuromere des Halsmarkes verhinderte. 

Eine analoge Beobachtung wurde auch von mir an einem Kran- 
ken wahrend der hydropat hie chen Kur gemacht. Dieser Kranke, der 
an Tabes litt, muBte jede Minute abwechselnd warme und kalte FuB- 
bader nehmen; als er diese Kur begann, fiel ihm sofort auf, daB es ihm 
sehr schwer fiel, seine FiiBe aus dem warmen Wasser (32° R) heraus- 
zuziehen, und dies war eine Folge der Schwache in den Muskeln des 
Oberschenkels, die sich momentan unter der Wirkung des heiBen 
Wassers entwickelte. Kaltes (12° R) Wasser hatte eine ganz entgegen- 
gesetzte Wirkung; und der Patient, der eine Minute vorher seine Beine 
nur mit groBer Mtihe aus dem warmen Wasser heben konnte, hob seine 
FiiBe sehr leicht und miihelos aus dem kalten Wasser. Das warme Wasser 
wirkte auf die motorische Sphare in diesem Falle hemmend, kaltes 
dagegen brachte die motorischen Zentren des Riickenmarkes mehr in 
Tatigkeit. 

Eine analoge Erscheinung, und zwar im Gebiete der Motilitat der 
unteren Extremitaten zeigte auch ein anderer Patient der Nervenklinik, 
der spater wegen der Cystome in dem VIII. Halssegmente des Riicken- 
markes operiert wurde. Dieser Kranke, bei dem beide Beine stark 
paretisch waren und Patellar- und Achillesreflex vollkommen fehlten, 
konnte sein ausgestrecktes Bein nicht in die Hohe heben (Beugung im 
Hiiftgelenk), wenn die FiiBe eine Zeitlang unbedeckt waren und infolge- 
dessen kalt wurden; diese Bewegung ging aber leicht und prompt vor 
sich, wenn die Beine unter der Decke sich erwarmt hatten. Man muB 
hinzufiigen, daB keine Steifheit in den kalt gewordenen Beinen fest- 
gestellt wurde und daB auch die Reflexe ebenso fehlten wie friiher. 
Die Schwacheerscheinungen muBten also in diesen Fallen ebenso wie 
im Falle Rickets, durch Hemmung der spinalen motorischen Zentren 
von den sensiblen Hautnerven aus und durch Einwirkung der Kalte 
erldart werden. 

Ein anderer Patient derselben Klinik, der ein typisches Bild der 
Lues spinalis Erbs darstellte und sehr scharf ausgepragte spastisebe 
Symptome in den Beinen zeigte, empfand jedesmal nach der Exurina¬ 
tion eine so groBe Schwache in den Beinen, daB er kaum sein Bett 
wieder erreichen konnte; diese Mudigkeitssymptome fehlten aber voll¬ 
kommen und der Kranke konnte ziemlich leicht und frei geben, wenn 
seine Blase durch den Urin ausgedehnt -wurde. Es ist ganz logisch zu 
schlieBen, daB die Reizwellen, die die reflektorischen Bogen fur die 
unteren Extremitaten im Riickenmarke hemmten und infolgedessen 
spastische Erscheinungen sich in denselben so verminderten, daB 
der Patient seine FiiBe bei iiberfullter Blase freier und leichter bewegen 
konnte, von der Blase aus emporstiegen. 


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M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechanismus der 


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Soldier Falle habe ich noch zwei: 

Die klinischen Assistenten A. K.Browtschinsky und A. R. Kiritschin- 
sky studierten den Stand der Achillesreflexe vor und wahrend der 
Massage der Prostatadriise bei einem Patienten, der an einer links- 
seitigen Ischias, einer sehr starken Hyperasthesie der Prostata und 
an einer deutlichen Herabsetzung des Achillesreflexes, der Sensibilitat 
und der groben Kraft in dem linken Beine litt. Nachdern sie ihre Ver- 
suche 20 mal wiederholt hatten, fiel ihnen auf, daB der Achillesreflex 
an dem linken Beine 4 mal, und zwar bei dem ziemlich starken Drucke 
auf die Prostata wahrend der Massage derselben gesteigert war. Die 
Einwirkung der Prostatareizung auf die Sensibilitat lernten die Autoren 
an demselben Kranken mit Hilfe des Freyschen Algesimeters; es 
stellte sich wahrend dieser Versuche heraus, daB der Kranke wahrend 
und nach der Massage der Prostata den Schmerz schon bei viel weniger 
tiefem Eindringen des Stifles in die Haut (um V 2 —2 mm seichter als 
vor der Massage) empfand. Nach der Massage der Prostata beobachtete 
der Patient jedesmal auch eine Erhohung der groben Kraft und ein 
besonderes Gefiihl der Erfrischung in dem linken Beine. Aus ihren 
Experimenten zogen die Autoren den SchluB, daB der Druck auf die 
Prostata die Hemmungsfolgen in dem Riickenmarke, die durch die 
Reizungen von den Kleinbeckenorganen aus in den spinalen Zentren 
entstanden und die Schmerzleitungen, Reflexe und die motorischen 
Impulse hemmten, aufzuheben pflegte. 

Ich beobachtete noch zwei Patienten mit solchen stark ausgeprag- 
ten spastischen Symptomen in beiden Beinen, die jedesmal voll- 
kommen weich wurden, wenn die Blase sich entleerte. Einer von diesen 
Kranken war ein Mann, der nach einer Luxation des VI. Dorsalwirbels 
fiinf Jahre im Bette lag; spater, als er aufstand, blieb er doch parapare- 
tisch. Der zweite Patient war eine Frau, 55 Jahre alt, mit einer inve- 
terierten rechtsseitigen Hemiplegie. Das rechte Bein versagte ihr 
immer, wenn die Blase mit Urin uberfullt war. 

Ein sehr groBes Interesse erregen die Falle der Ischias, in denen die 
Muskeln des von Neuralgie befallenen Beines eine deutliche Atrophie 
zeigen. Das Interesse an diesem klinischen Ereignisse erscheint um 
so erklarlicher, weil die Atrophie oder die Abmagenxng der Muskeln 
mit der Annahme eines organischen Befallenseins der spinalen Zentren 
oder peripherischen Nerven, denen diese Muskeln untergeordnetsind, ver- 
bunden ist. Infolgedessen drangt sich dem Kliniker jedesmal, wenn er 
der Muskelatrophie imVerlaufe der Ischias begegnet, dieVermutungauf, 
daB die betreffende Erkrankung kein funktionelles Leiden ist, und nicht 
zu den Neurosen gerech net werden kann, sonderneine organische Verande- 
rung der Riickenmarkszentren oder der peripherischen Nerven darstellt. 


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(sogennnnten Wurzel-)Neuralgie des N. ischiadicus. 


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Man kann die Muskelatrophie und die infolgedessen sich entwik- 
kelnde Verminderung des Umfanges des betroffenen Korperteiles teil- 
Aveise aufGrund von De Boers Versuchen erklaren. In derTat, naralich 
da zwei Nervensysteme, und zwar das myelinische und das arayeli- 
nische bestehen und beide sich der quergestreiften Muskulatur unter- 
ordnen, wobei der EinfluB des ersten Systems in der Entwicklung der 
groben Kraft und uberhaupt in der Bewegung, resp. in der Arbeit, 
und jener des zweiten sich in der Unterstiitzung des Muskeltonus und 
dessen Ernahrung auBert, so scheint es ganz natiirlich anzunehmen, 
daB die gleichzeitige Wirkung auf eine Extremitat beider Systeme 
unter normalen Bedingungen sich in einer vorziiglichen Ernahrung 
dieses Beines, in dem normalen Muskeltonus, einer angeeigneten Arbeit 
und in der passenden Kraft auBern muB; in dem Falle aber, wenn bloB 
das eine oder wenn sogar beide Nervensysteme gehemmt werden, ist 
der Kraftabfall der betreffenden Extremitat, die Herabsetzung des 
Muskeltonus und die verminderte Aneignung des Nahrungsmaterials 
eine natiirliche Folge, und an der betreffenden Extremitat werden 
ganz andere verminderte Massen konstatiert werden. 

Es ist hier ganz am Platze, an Versuche Gardes 36 ) zu erinnern, 
der die trophische Funktion des Nervensystems als eine reflektorische 
Tatigkeit betrachtet, deren Erreger in der uns umgebenden Natur mit 
ihren samtlichen Kraften zu suchen ist. Es ist ihm gelungen zu be- 
weisen, daB die Nervenzellensubstanz das Hauptagens ist, das die tro¬ 
phische reflektorische Tatigkeit vermittelt, da er in den Versuchen be- 
zuglich der trophischen Tatigkeit des N. trigemini eine Stoning der 
Hornhaut nur in dem Falle erreichte, wenn die Nervenzellen auch in 
dem Ganglion Gasseri ladiert wurden. Einen ganz anderen Effekt bei 
diesen Versuchen beobachtete dieser Autor, wenn er nur den peripheri- 
schen Nerv ladierte. Anderseits glaubt Gaule, daB der trophische Ein¬ 
fluB auf Gewebe sich in den Driisen, den glatten Muskelfasern, den 
BlutgefaBen, in den Wanden des Verdauungstraktus usw. durch 
eine direkte ortliche Einwirkung des Nervensystems verwirklicht. 

Gaule, indem er die Bahn der reflektorischen Beeinflussung des 
Nervensystems auf die Muskulatur bestimmen wollte, machte eine Reihe 
von Versuchen amFrosche, in denen er entweder das sympathischeGan¬ 
glion oder den Ramus communicans, der im Inneren der hinteren Wurzel 
von dem Ganglion zum Ruckenmarke verlauft, reizte. Als der Autor mit 
Hilfe des elektrischen Stromes oder auf irgendeine andere Weise das Gan¬ 
glion cervicale superius oder das Ganghon thoracicum primum reizte, ent- 
wickelten sich sehr ausgesprochene dystrophische Veranderungen in den 
einzelnen Muskeln, und zwar nicht nur auf der Seite, wo das Ganglion 
gereizt wurde, sondern auch auf der gegeniiberliegenden. Dieser letzte 
Umstand brachte den Autor zu der SchluBfolgerung, daB die trophischen 


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M. Lapinsky: Zur Frage iiber den Mechanismus der 


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Impulse nicht eiufach direkt von dem Ganglion zentrifugalwarts auf die 
Mu skein stromen, sondern diese trophische Beeinflussung durch einen 
Umweg zuerst zentripetalwarts das Riickenmark erreichen und erst 
von da ab eine zentrifugale Richtung annehmen. GaiUe s Meinung nach 
geht also die dystrophische Beeinflussung vom sympathischen Ganglion 
aus durch den Ramus sommunicans und durch das Ganglion spinale 
in das Riickenmark und breitet sich dort weit aus. Das Wesen dieser 
Wirkung ersieht der Autor in den hemmenden und anderer Art Pro- 
zessen, die sich in dem sympathischen Ganglion entwickeln und sich 
in das Riickenmark ergieBen. 

Gaule iiberzeugte sich, daB das sympathische Ganglion fiir alle 
Reize unerregbar wird, wenn man es vorher abkiihlt oder es der Wirkung 
des elektrischen Stromes aussetzt oder auf irgendeine andere Weise 
reizt. Dasselbe beobachtete er auch dann, wenn er den besonderen 
sympathischen, dem Ganglion zufiihrenden Zw r eig reizte; auf diese Weise 
konnte der Autor die trophische Funktion des sympathischen Ganglions 
zum Stillstand bringen, dagegen erhohte er sehr diese Fahigkeit und 
iiberhaupt seine Empfindlichkeit, wenn er diesen Zweig durchschnitt. 
Nachdem Gaule sich iiberzeugt hatte, daB man die trophische Wirkung 
des sympathischen Ganglion auf die Muskulatur hemmen kann, wenn 
man dasselbe reizt, fiihrte er unter diesen Bedingungen eine Reihe von 
Versuchen iiber den Ernahrungszustand des M. bicpitis aus. Als der 
Autor die unpolarisierten, an das Ganglion angesetzten Elektroden 
einschaltete oder ausschaltete, iiberzeugte er sich, daB der Strom dem 
Riickenmarke iiberreicht wird, und daB das Tier, das ihm als Versuchs- 
objekt diente, infolgedessen jedesmal mit Zusammenzucken reagierte. 
Gleichzeitig bemerkte Gaule , daB die Muskelsubstanz in einzelnen Ab- 
schnitten des betreffenden Muskels vers-ellwand, daB an diesen Stellen 
hohle Raume entstanden, die sich mit der, aus den gerissenen Capillaren 
geronnenen Fliissigkeit und mit Blut fiillten. Die Muskelfasern sind an 
diesen Stellen zugrunde gegangen, indem sie entweder sich in eine 
Fliissigkeit verwandelten oder gerannen, sich auseinanderschoben, 
Liicken enthielten und den ihnen angeeigneten Tonus und die Festigkeit 
vollkommen verloren. Eine gewisse Rolle muBten in diesem Prozesse 
Gaule s Meinung nach auch die BlutgefaBe spielen. 

Gaule, indem er anerkennt, daB die trophische Beeinflussung des 
Nervensystems in Verteidigung gegen die aufleren Einfliisse der Korper- 
gewebe, und zwar auf dem Wege der Entwicklung verschiedener Prozesse 
der Aneignung in denselben begriffen, ist iiberzeugt, daB die auBereu 
Einfliisse das Ubergewicht erreichen und die Korperteile in dem Falle 
zum Verschwinden bringen konnen, wenn die trophische Tatigkeit 
des Nervensystems gehemmt wird. Auf diese Weise faBt der Verfasser 
die Ergebnisse seiner Versuche auf, wahrend der er Schmelzung und 


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(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des N. ischi^dicus. 


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Verschwinden der Muskeln beobachtete, als er die sympathischen 
Ganglien reizte. Durch diese Reizungen wurde, seiner Meinung nach, 
die Tatigkeit jener Nervenzellen (in den Vorderhornern) des Riicken- 
markes, die fur die Unterstiitzung der Prozesse der Aneignung und der 
Umgestaltung in den Muskelfasern sorgen muBten, gehemmt, infolge- 
dessen zergingen und verwandelten sich diese letzteren in eine fliissige 
Masse. Es ist klar, daB jener chemische ProzeB, der deni Mechanismus 
der Muskelernahrung zugrunde liegt, und zu dessen Unterstiitzung 
auch gewisse sympathische Ganglien beitragen, zu dieser Zeit zum 
Stillstande gebracht wurde. Diese Arbeit Gaule s zeigt also, daB die 
Impulse, die in den visceralen Organen entstehen, in der Ernahrung 
der Muskelgewebe eine groBe Rolle spielen, und zwar deshalb, 
weil die visceralen Organe von dem sympathischen System bedient 
werden und die Nerve nstrome von den visceralen Raumen aus nur 
mit Hilfe dieses Systems das Riickenmark erreichen konnen. 
Wenn als von diesen Raumen sehr scharfe Impulse zum Riicken- 
marke hinaufzusteigen beginnen, so wird infolgedessen die Tatigkeit 
der Nervenzellen in den Vorderhornern, die die Aneignung des Ernali- 
rungsmaterials und dessen Umwandlung in das Muskelgewebe regulieren, 
gehemmt. Da einzelne Muskeln eine segmentare Bildung haben und 
deren einzelne Segmente mit den ihnen entsprechenden, einzelnen 
Riickenmarkssegmenten zusammengebunden sind, so wird sich die 
Veranderung eines Muskels unter der Hemmung der spinalen trophischen 
Funktionen auf seiner ganzen Lange nicht gleichzeitig und gleichmaBig 
entwickeln, sondern wird sich nur in seinen einzelnen Biindeln und 
Abschnitten starker auBern, und zwar in jenen, die mit den Neuromeren, 
resp. spinalen Segmenten, auf die sich die hemmenden Impulse von 
einem entsprechenden Splanchnomere ergieBen, zusammengefugt 
werden. 

Hier ist vollkommen passend, die Meinung Mackenzies 10 *) iiber 
die Bedeutung fur allgemeine Ernahrung der Erregungswellen, die von 
inneren Organen aus zum Riickenmarke hinaufsteigen, zu erwahnen. 
Mackenzie glaubt namlich, daBein ununterbrochenerStromder Reizungen 
zum Riickenmarke durch das sympathische System lauft und dort die 
Nervenzellen, die Muskeln, GefaBe usw. verwalten, beeinfluBt. Hier muB 
man ebenso an einige klinische Beobachtungen erinnern, bei denen man 
bei den Erkrankungen der Visceralorgane eine Atrophie der Muskeln, und 
zwar nicht nur in der Nahe, sondern auch in groBer Entfernung von dem 
erkrankten Organe fand. Aouis 90 ) z.B. beobachtete eine Atrophie des Mus¬ 
kels Deltoideus wahrend der Abscesse der Leber. Wolkowitsch 109 *) 
beschrieb eine Atrophie einzelner Abschnitte der MM. obliqui und 
transversi abdominis an der vorderen Bauchwand bei chronischen 
Entziindungen des Blinddarmes. 


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M. Lapineky: Zur Frage iiber den Mechanismus der 


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R. Remack wollte (0*terr. Zeitschr. f. pract. Heilkunde. Nr. 2, 
S. 35, 1862) das ratselhafte Leiden (Atrophie usw.) des Muskelsystems 
bei Saturnismus durch eine primare Erkrankung des visceralen sym- 
pathischen Systems erklaren. Durch die therapeutischen Erfolge, die 
er bei seinen bleigelahmten Kranken erhielt, kam er zu dem Schlusse, 
daB Bleilahmung zu den Erkrankungen des sympathischen Nerven- 
systems gerechnet werden mu 6. 

Kussmaul-Meyer (Zur pathologischen Anatomie des chronischen 
Saturnismus. Arch. f. klin. Med. 9, S. 385, 1872) bestiitigten diese Mei- 
nung Remacks, nachdem sie in dem Plex. coeliacus, cervicalis superior 
und in den anderen sympathischen visceralen Gebilden bei einem blei- 
vergifteten Kranken sklerotische Erscheinungen samt dem Zugrunde- 
gehen der Nervenzellen festgestellt hatten. 

Diese Beobachtungen finden ihre Erklarung in den Versuchen 
Gavle s und erlauben gleichzeitig, den atrophischen ProzeB in solchen 
Fallen als Folge einer funktionellen Storung in den Nervenzentren, 
als eine Hemmungsfolge der trophischen Impulse, die von den 
visceralen Organen herstannnen, zu deuten. 

Die Beobachtungen Gaule s, die mit den friiher angefiihrten Unter- 
suchuilgen von Botazzi, Pekelharing, Perrocinto und De Boer voll- 
kommen iibereinstimmen, konnen auch die Abmagerung der Muskeln 
bei meinen hier beschriebenen und aus der Literatur angefiihrten 
Kranken durch funktionelle Storungen in dem Lenden- undKreuzmarke 
unter dem Einflusse der aus dem Kleinbecken sich dahin ausbreitenden 
Reizungen verstandlich machen. 

Diese funktionellen Storungen sind aber gar nichts anderes, als 
eine Hemmungserscheinung der trophischen Mechanismen, die in 
diesen Riickenmarksabschnitten liegen und deren Bestimmung in der 
steten Sorge besteht, daB die Muskeln der unteren Extremitaten sich 
das Ernahrungsmaterial aneignen und fiir seinen Aufbau verarbeiten. 
Dadurch laBt sich die Tatsache erklaren, warum die Reflexe bei meinen 
hier angefiihrten Patienten und in den aus der Literatur entnommenen 
Fallen sich trotz des atrophischen Ausseliens der Muskulatur als erhoht 
erwiesen. Dieses Verhalten der Reflexe spricht • namlich gegen eine 
organische Erkrankung der Vorderhornzellen und gegen materielle 
Veranderung der vorderen Spinahvurzeln, resp. der motorischen peri- 
pheren Nerven, was man aus der Abmagerung der Muskeln schlieBen 
konnte. Eine funktionelle Ursache dieser trophischen Storung laBt sich 
aber anderseits daraus ersehen, daB die normale Ausmessung der be- 
fallenen Muskeln sofort nach dem Aufhoren der Schmerzen, d. h. nach¬ 
dem die Erkrankung im Kleinbecken, die die Schmerzen verursacht 
und die trophischen Impulse gehemmt hatte, ausgeheilt wiirde, sich 
rasch und vollkommen wieder herstellte. 


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(sogenannten Wurzel-)Neuralgie dcs N. ischiadicus. 


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Das wenig erklarte Skoliosesymptom bei der Ischias verdient auch 
crwahnt zu werden. Dieses Symptom wird, wie bekannt, inzwei Formen, 
und zwar entweder als Einbuchtung des Riickgrates oder als Ausbuch- 
tung desselben nach derlschiasseite, also in konkaver oder konvexer Form 
beobachtet, wobei die Muskeln im ersten Falle auf der kranken Seite 
sehr stark angespannt und verkurzt und im zweiten dagegen entspannt 
und verlangert gefunden werden. Da die Skoliose bei meinen angefuhr- 
ten Kranken ohne besondere MaBregeln und jedenfalls ohne Anwendung 
spezieller gymnastischer Dbungen und verschiedener orthopadischer 
Apparate zu verschwinden pflegte, da weiter die Skoliose sich nur 
als eine Komplikation der Ischias entwickelte und bloB unter der 
Wirkung der warmen, und zwar am Bauch z. B. applizierten Proze- 
duren geheilt wurde, so liegt es an der Hand, daB auch dieses Symptom, 
d. h. die Skoliose, in voller Analogic mit anderen Zeichen des zu 
betrachtenden Symptomenkomplexes, der radicularen Ischias, und zwar 
in der Analogic mit jener Serie der Symptome, zu der die Stoning der 
groben Kraft und der Muskelernahrung zu rechnen sind, nichts weiter 
als eine periphere Projektion des Leidens des einen oder des anderen 
Organes im kleinen Becken ist. 

Ein solcher SchluB laBt sich jedenfalls auch aus jenen Versuchen 
De Boers ziehen, bei denen der Schwanz bei seinen experimentierteu 
Tieren nach Durchschneidung sympathischer Zweige, die von dem 
kleinen Becken emporsteigen, so zu liegen kam, daB er nach der Seite 
der durchschnittenen Fasern ausgebogen war. Wenn man diesen 
SchluB uoch weiter ausdehnen wollte, miiBte man sagen, daB bei meinen 
Patienten unter der Wirkung der Reizungen im Kleinbecken ein refrak- 
tares Stadium in den Zellen der Hinterhorner, die die Reizungen auf- 
nehmen, entstand. Infolgedessen gerieten die motorischen Nerven- 
zellen, die vor ihnen liegen, in dieselbe Lage, wie auch nach der Durch¬ 
schneidung der zentripetalen, resp. sensorischen Fasern in den Ver¬ 
suchen De Boers, wo diese Zellen aufhorten, die entsprechenden 
Reizungen aufzunehmen, daher der Tonus der ihnen untergeordneten 
Muskeln herabfiel. Auf diese Weise konnte das klinische Bild de : 
Scoliosis homologa bei den Ischiaskranken zustande komrnen. 

Damit eine Ischias scoliotica heterologa sich entwickeln konnte, 
muBte dazu ein anderer Mechanismus beitragen, und zwar muBten 
die motorischen Zellen der Vorderhorner durch die Reizungen, die 
von den Organen des Kleinbeckens aus zum Riickenmarke hinauf- 
steigen, in den Erregungszustand geraten. Diese Annahme. die 
voraussetzt, daB ein und dasselbe Organ in einem Falle die Zellen 
des Vorderhorns erregen, in einem anderen aber dieselben in eine 
passive Inertie bringen kann, scheint auf den ersten Blick unlo- 
gisch zu sein und einen inneren Widerspruch in sich selbst zu ent- 


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M. Lapinskv: Zur Frage iiber den Mechanismus der 


halten; bei genauer Prufung dieses Grundsatzes sieht man aber, dab er 
vollkommen und gut motiviert ist, weil schon aus dem fruher Gesagten 
ganz klar hervorgeht, dab die starken und dabei in einem schnellen 
Rhythmus verlaufenden Reizungen die sensorischen Zellen ermiiden 
und sie in das refraktare Stadium bringen, dagegen leichte Reizungen in 
einem langsamen Tempo diese Zellen erregen und ihre Tatigkeit er- 
leichtern; anders gesagt, die verschiedenen Reizungen, die aus einer 
und derselben Quelle hervorgehen, in vollkommener Abhangigkeit 
davon, ob sie stark und von welcher Spannung sie sind, konnen in 
einem Falle das absolute refraktare Stadium in den Zellen der Hinter- 
horner hervorrufen, infolgedessen entsteht eine vollstandige Ruhe in den 
Zellen der Vorderhorner und tritt eine Erschlaffung der untergeordneten 
quergestreiften Muskulatur ein; — im anderen Falle aber geht der 
Strom der von derselben Quelle hergeleiteten Impulse ohne irgendein 
Hindernis durch die Zellen der Hinterhorner durch; als Folge davon 
aber entsteht eine sehr starke Aufregung der Vorderhornzellen und 
entwickeln sich dadurch sehr kraftige Zusammenziehungen der ihnen 
untergeordneten Muskeln. 

Zugunsten der Annahme, dab den sympathischen Fasern entlang, 
die aus dem Kleinbecken und uberhaupt von visceralen Organen aus 
zum Riickenmarke hinaufsteigen, die Impulse solcher Art laufen konnen, 
die die tonische Spannung in den, auberhalb visceraler Hohlen liegenden, 
quergestreiften Muskeln erzeugen konnen, spricht z. B. der folgende 
Versuch von Sherrington 70 ) (S. 55). Nachdem Sherrington einen feinen 
Zweig. der vom Darm zu dem Plexus Solaris geht, herausprapariert 
und durchschnitten hatte, begann er den zentralen Stumpf dieses 
Zweiges mit Hilfe des faradischen Stromes zu reizen. Als Folge dieses 
Eingriffes, resp. dieser zentripetalen Reizung, entwickelte sich sofort 
eine starke tonische Zusammenziehung der breiten Muskeln der vorderen 
Bauch wand. In der Absicht, die Bahn festzustellen, durch welche diese 
Reizung in das Riickenmark drang, durchschnitt Sherrington aufein- 
ander folgend die hinteren Wurzeln auf die Weise, dab zuletzt nur eine 
einzige Wurzel unverletzt blieb. Indem Sherrington aber das Reizen 
desselben Zweiges mit Hilfe faradischen Stromes immer weiter fort- 
setzte, iiberzeugte er sich, dab die Zahl der dabei sich zusammen- 
ziehenden Muskeln abhangig von der Zahl der durchschnittenen Wur¬ 
zeln sich verminderte, und am Ende, als blob eine einzige unladierte 
Wurzel iibrig geblieben war, nun sich einige Muskelfasern in der Bauch- 
wand anspannten. 

Mackenzie 7ia ) beschreibt eine Dame, bei der Appendicitis rechts 
eine starke Spaunung der vorderen Bauchwand, eine tonische Spannung 
der M. psoatis, eine Beugung nach vorne des ganzen Korpers 
und eine starke Schmerzhaftigkeit der Lendenmuskeln verursachte. 


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(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des N. ischiadicus. 


679 


Dank der rechtzeitig gemachten Appendektomie verschwanden diese Er- 
scheinungen. Bei der Besichtigung der iibrigen Visceralorgane und 
der Bauchwand wahrend der Operation wurden dieselben ganz nor¬ 
mal gefunden. Mackenzie (ibidem S. 52) uberzeugte sich auch an 
anderen Fallen, da6 die Muskelspannungen infolge einer Erkrankung 
der visceralen Organe lange dauern konnen. 

Talma 98b ) beobachtete motorische Storungen in mehreren Fallen 
infolge einer primaren Erkrankung visceraler Organe resp. sympathischen 
Systems. 

Popehki (Spital-Zeitung Botkins. 18, 1900) rief bei einem Hunde 
mit durchschnittenem Riickenmarke starke Krampfe in den Rumpf- 
muskeln hervor. jedesmal wenn er ganz leicht den Plexus hypogastricus 
beriihrte. 

Claude-Bernard (physiologie et pathologie dusysteme nerveux. 1858) 
berichtet, dab er bei dem Reiben der aus dem Plexus coeliacus heraus- 
tretenden Zweige bei Hunden eine unwillkurliche Bewegung und einzelne 
Muskelzuckungen in den Beinen beobachtete. 

DaB tonische Zusammenziehung der Muskeln bei der Er¬ 
krankung der Organe im kleinen Becken vorkommen konnen, folgert 
aus den alltaglichen Beobachtungen am Krankenbette, aus den 
Anspannungen der Bauchwand bei der Erkrankung der Gallenblase, 
bei Ulcus rotundum ventriculi, bei Appendicitis, aus der Contractur 
der Brustmuskeln bei Entziindung der Pleura (signe de defense) usw. 
Diese und ahnliche Erwagungen lassen den SchluB ziehen, daB das 
klinische Bild der Scoliosis homologa und der Scoliosis heterologa durch 
Reizungen hervorgerufen sein miissen, die in den Organen des Klein- 
beckens entstehen und zu den hinteren Hornern zentripetal hinauf- 
steigen, wobei sie in einem Falle die Leistung.-fahigkeit derselben hemmen 
und im anderen sie anbahnen und ihr Spiel in dieser Beziehung auf- 
f rischen. 

Sehr interessante Erscheinungen wurden in den hier zu beschrei- 
benden Ischiasfallen bei dem Drucke auf die erkrankten Nerven fest- 
gestellt. 

Wie bekannt, sind einige typische Punkte vorhanden, auf denen 
der Druck auf den Nervenstamm bei Ischias sehr schmerzhaft ist. Solche 
Punkte sind in der Nahe von Spina ilei posterior, von Foramen ischia- 
dicum majus, wo der N. ischiadicus aus dem Kleinbecken herausgeht; 
der Stamm dieses Nervs ist druckempfindlich — am unteren Rande des 
M. gluteus maximus, — zwischen Trochanter major und Tuber ischii, — 
unterhalb des Capitulum tibiae und — an dem Malleolus internus et 
externus. Auch in unseren Fallen warcn diese Punkte, aber nicht alle und 
nicht immer, sondern bloB in einigen Fallen, und selbst dann nicht iiber- 


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680 M. Lapinsky: Zur Frage iibcr den Meehanismus der 

all gleichmaCig — bei deni Drucke auf den N. ischiadicus ■—schmerzhaft. 
Fast in alien Fallen aber war der Stamm desNervs, und zwar nicht nurder 
N. ischiadicus, sondern auch NN. tibialis, peroneus und plantaris auch 
auBerhalb dieser Punkte seiner ganzen Lange nach druckempfindlieh. 
In mehreren raeiner Falle mit Plantarisneuralgie rief der Druck auf den 
Nervenstamm keine Schmerzen hervor, wenn man an der FuBsohle oder 
am Unterschenkel oder am unteren Rande des M. gluteus maximus 
driickte, dersellie Eingriff erzeugte aber sehr starke Schmerzen, wenn 
man bei demselben Kranken den Nervenstamm oberhalb der Knie- 
kehle driickte. 

Es sind auch anderseits solche Falle vorgekommen, wo der Nerven¬ 
stamm oberhalb der Kniekehle sehr druckempfindlieh war, die NN. 
peroneus und tibialis dagegen beim Drucke ganz schmerzlos blieben. 
Es kam sehr oft vor, daB der Nervenstamm auf einer Strecke seines 
Verlaufes sehr druckempfindlieh war, aber seine Schmerzhaftigkeit 
verlor, sobald er diese Stelle verlieB. 

Diese merkwiirdige Auswahl der Stellen, an denen der Nerv auf 
Druck mit Schmerzen reagiert, die Unterschiede in der Druckempfind- 
lichkeit des Nervenstammes, die nur auf einer ziemlich kleinen Strecke 
erscheinen, sind beim ersten Blicke sehr schwer erklarlich. Wenn man 
annimmt, daB die Druckempfindlichkeit eines Nervenstammes von einer 
Hyperasthesie der erkrankten sensorischen Nervenfasern abhangig i>t r 
so ware zu erwarten, daB die erkrankten Fasern auf ihrer ganzen Lange 
druckempfindlieh sind, und z. B. im Falle einer Neuralgie des N. plan¬ 
taris auch der Stamm des N. ischiadicus seinem ganzen Verlaufe entlang 
beim Drucke schmerzhaft sein muB, was aber nicht in jedem Falle 
beobachtet wird, sogar ganz im Gegenteil sehr selten vorkommt. 

In mehreren Fallen, wo man tiefere Einspritzungen in den Nerven¬ 
stamm auf der Hdhe des Collum femoris gemacht hatte, wurde fest- 
gestellt, daB der Stich gar nicht schmerzhaft empfunden wurde, land 
zwar besonders dann, wenn der Nerv an dieser Stelle nicht druck¬ 
empfindlieh war, dagegen veranlaBte dieser Eingriff starke Schmerzen, 
wenn der Druck an dieser Stelle den Schmerz ausloste. Dieser Umstand, 
der in einigen Fallen besonders demonstrativ hervortrat, kann darauf 
deuten, daB der Nervenstamm bei der Ischiasneuralgie nur stellenweise, 
resp. streckenweise befallen ist, daB sein oberes Achtel z. B. von der 
Neuralgie betroffen ist und dem Kranken groBe Schmerzen verursacht; 
seine iibrigen sieben Teile dagegen konnen gleichzeitig weder beim 
Drucke, noch spontan schmerzhaft sein. Wenn man die Punkte, wo 
der N. ischiadicus beim Drucke empfindlich ist, mit den Schemen von 
Thornburn, Kocher u. a. nebeneinander stellt, so kann man sich in einigen 
Fallen iiberzeugen, daB die Territorien, wo der Nerv druckempfindlieh 
ist, gerade in das Gebiet einzelner Metamere zu liegen kommen, daB 


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(sogenannten \Vurzel-)Neuralgie des X. ischiadicus. 


681 


die Ischias also in einigen Fallen eine metamere Lokalisation der Schmer- 
zen, resp. der Ursachen derselben zeigt. 

In bezug auf die Mogliehkeit, den Schmerz streckemveise, d. h. 
in einzelnen Abschnitten des Nervenstammes beim Drucke zu erzeugen, 
konnen nicht die Nervenfasern, sondern die Nervenhiillen in Betracht 
kommen. Das liiBt sich schon daraus schlieBen, daB die Nervenfasern 
bei den organischen Erkrankungen der peripheren Nerven, z. B. bci 
den parenchynmtbsen Neuritiden ihrer ganzen Lange nach druck- 
empfindlich sind. Bei solchen funktionellen Erkrankungen, wie die 
Ischias, soil man also das leidende Substrat nicht in den Nervenfasern 
suchen, wie sie in diesem Falle auf ihrer ganzen Lange druckempfind- 
lich sein miiBten, sondern in den Nervenhiillen, die, um verschiedene 
Reizungen aufzunehmen, mit speziellen Endungen versehen sind. 

Solche Erwagungen erlauben noch weitere SchluBfolgeningen zu 
ziehen, und zwar beziiglich der Druckempfindlichkeit und vielleiclit 
auch desSchmerzes selbst. Die Schmerzhaftigkeit beim Drucke und auch 
der neuralgische Schmerz sind moglicherweise nichts anderes, als ein 
Produkt mehrerer zusammenflieBender Bcdingungen, z. B. einer Hy- 
periimie des mit Neuralgic befallenen Nervenstammes oder seiner Hiillen 
usw., und zwar an einer bestimmten Stelle seines Verlaufes. Da der 
Nerv, resp. seine Hiille ihre eigenen sensorisch.cn empfindenden Apparate 
hat, so kann der betreffende Nerv diese veranderten Lebensbcdingun- 
gen entweder beim Drucke oder spontan, wie es bei der Ischias zu 
geschehen pflegt, aufnehmen, auf dieselben reagieren und durch das 
BewuBtsein als Schmerzgefiihl kundgeben. 

Die pathologischen Befunde bei der Ischias widersprechen dieser 
Annahme, daB die Ursache der Schmerzen nicht in der Erkrankung 
der Nervenfasern, sondern in dem Betroffensein der Hiillen des Nerven¬ 
stammes zu suchen ist, gar nicht. Die mikroskopischen Untersuchungeu 
der mit Ischias befallenen Nerven zcigten namlich, daB die Nerven¬ 
fasern ganz normal, dagegen das Epinervium und sogar auch das Peri- 
nervium verandert waren; in diesen Fallen lieBen sich schon makro- 
skopisch eine Anschwellung, eine Verdickung und eine Infiltration fest- 
stellen, und diese Veranderungen wurden mikroskopisch bestatigt 
( Hunt 51 ), Sicard 92 ), Thomas 101 ), 102 ), Lapinsky 61 ). 

Wenn man sich jetzt an die friiher erwahnten Hemmungen und 
Anbahnungen der zentripetalen Leitungen, d. h. an die Mechanismen, 
die in den Zelleneinschaltungen der Hinterhorner unter der Einwirkung 
der aus dem Kleinbecken zum Riickenmarke aufsteigenden Reizungen 
entstehen, erinnert, so liiBt sich die Druckempfindlichkeit des Nerven¬ 
stammes, und zwar in den Valleixschen Punkten, resp. im Gebiete ein- 
zelner Metameren auf eine ganz einfache Weise erkliiren. Es ist namlich 
fast mit Bestimmtheit anzunehmen, daB der an Neuralgic befallene 


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682 


M. Lapinsky: Zur Frage iibcr den Mechanismus der 


Nerv deshalb auf einzelne Strecken seines Verlaufes beim Drucke un- 
empfindlich ist, und die Schmerzen nicht kundgibt, weil seine Hiillen 
an diesen Strecken ganz normal sind. Die Nervenstamme blieben an 
diesen Abschnitten beim Drucke schmerzlos, weil die besonderen Be- 
dingungen, die zur Druckempfindlichkeit des Nervenstammes in den 
Nervenhiillen selbst beitragen iniiBten, sich gar nicht entwickelten; 
diese Reizungen, die von dem Kleinbecken aus hinaufstiegen, trafen das 
Riickenmark nicht an alien Stellen, sondern lieBen einzelne Liicken frei, 
infolgedessen waren einzelne Riickenmarksetagen aus dem Wirkungs- 
kreise solcher Reizungen ausgeschaltet. Daher blieben auch die 
Nervenhiillen an einzelnen Strecken, diesen Liicken im Riicken- 
marke entsprechend, beim Drucke vollkommen unempfindlich, dagegen 
zeigten sich an anderen Stellen unter der Wirkung ihrer gereizten Riicken¬ 
marksetagen sehr schmerzhaft. Da diese Symptome der Druckempfind¬ 
lichkeit sich durch eine Standhaftigkeit und Dauerhaftigkeit auszeicli- 
nen, so laBt sich aus diesem Umstande der SchluB ziehen, daB tlieser 
Erkrankung eine standige metamere Verteilung zugrunde liegt, daB die 
gauze Erkrankung sich in den Bahnen einzelner Korpermetamere ent- 
wickelt, daB die Ischiasneuralgie in manchen Fallen nichts weiter ist, als 
eine Ausstrahlung einer gewissen Erkrankung bestimmter Beckenorgane, 
die aus einzelnen Metameren, resp. Splanchnomeren bestehen. Wenn 
man sich weiter vorstellt, daB die Prostata, die Gebarmutter, der 
Eierstock und verschiedene andere Beckenorgane phylogenetisch aus 
mehreren Korpermetameren entstanden sind, so folgt. daraus, daB die 
Erkrankung einzelner solcher Splanchnomeren der Gebarmutter, der 
Prostata usw. sich durch die Ausstrahlung in dem Gebiete einiger 
ihnen entsprechender Metamere peripheriewarts auBern muB. 

Zu demselben Schlusse, daB die Ischias eine metamerisch ent- 
standene Erkrankung ist, fxihren uns auch die Beobachtungen an dem 
Krankenbette. Bei der Behandlung der Ischias vermittelst tiefer In- 
jektionen (z. B. einer Novokainlosung) in den Stamm des N. ischiadicus 
zeigt es sich manchmal, daB der Erfolg einer solchen Thera pie in einigen 
Fallen nicht von der Leitungsunterbrechung in einem zentralliegenden 
Punkte, sondern von derZahl der druckempfindlichenStellen, die mit der 
Nadel, resp. mit der Novokainlosung injiziert werden muB, abhangig ist; 
die wiederholten Einspritzungen in den Stamm auf der Hohe des Collum 
femoris verbiirgen infolgedessen gar nicht das Aufhoren der Schmerzen. 
obwohl eine solche Einspritzung die Leitungsunterbrechung in dem 
Nervenstamme verursachen und einStillen der Schmerzen in dem Beine 
herbeifiihren sollte. Aus diesen Griinden machen die Autoren, die diese 
Heilmethode empfehlen, mehrcre Einspritzungen in den Nervenstamm, 
vom Collum femoris bis zum Vade herab, den N. ischiadicus entlang. 


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(sogenannten Wurzel-)Xeuralgie des X. iachiadicus. 


683 


so daB durch dieselben einzelne druckempfindliche Stellen mit der 
Novokainlosung durchdrungen werden. Diese druckempfindlichen 
Stellen muB man als Folge des metamerischen Aufbaues der Nerven- 
hiillen betrachten; man muB sie fur die Folge der metamerischen 
Lokalisation der Ischias selbst halten, welch letztere, indem sie sich 
in mehreren Metameren gleichzeitig entwickelt, fur einen jeden Neben- 
abschnitt, resp. Metamer an und fiir sich eine besondere Therapie 
erfordert. 

Man muB aber eine einfache. wie aucli eine radiculare Ischias, sogar 
diejenige, die mit dem Ausfall resp. der Steigerung der Reflexe, mit 
der veranderten Sensibilitat oder mit der Muskelatrophie einhergeht, 
nicht als ein organisches, sondern als ein funktionelles Leiden, als 
eine Neurose betrachten. Indem man einerseits eine primare chro- 
nische Erkrankung der Organe in dem Kleinbecken, und anderseits 
den Hemmungs-, resp. Anbahnungsmechanismus inAnbetracht nimmt, 
kann man sehr leicht eine Herabsetzung oder eine Steigerung derSehnen- 
und Hautreflexe, eine Verminderung der groben Kraft, eine Abmagerung 
der unteren Extremitat, eine Veranderung der Sensibilitat verschiedener 
Art usw. vermitbelst des Mechanismus einer intraspinalen Dissoziation 
erklaren. 

Wenn man aber weiter in Betracht zieht, daB die Erkrankungen 
der inneren Organe — die Organe in dem Kleinbecken inbegriffen — 
mit den Schmerzausstrahlungen in der Peripherie,und z war im Gebiet ein- 
zelner Metamere reagieren 67 ) ist dasEntstehen derNeuralgie imGebiete 
des X. ischiadicus ganz verstandlich. Die Verteilung derAnasthesie oder 
Hyperasthesie in Form der Streifen oder anderer Art Flecken wahrend 
der Ischias, und zwar nicht nur im Gebiete des X. ischiadicus, sondern 
auch in dem Ausbreitungsraum der XX. cruralis, obturatorius, inter- 
costalium usw., wird durch die von dem Kleinbecken aus aufsteigen- 
den und die Zellenketten der Hinterhorner hemmenden oder anbahnen- 
den Reizungen erklarlich. 

Vermittelst derselben Prinzipien der Anbahnung und der Hemmung 
des Riickenmarkes, aber nur im Gebiete einzelner Segmente, laBt sich 
die Schmerzhaftigkeit des X. ischiadicus beim Drucke streckenweise, 
d. h. in den Grenzen der gehemmten oder angebahnten Neuromeren 
erklaren. 

SchluBfolger ungen. 

1. In der Mehrzahl der Falle ist die Ischias eine Folge der Organ- 
erkrankungen in dem kleinen Becken. 

2. In vielen Fallen der Xeuralgie des X. ischiadicus erweist sich die 
Sensibilitat fiir Beriihrung, Stich und Temperatur, und zwar in den 
Grenzen, die den Figuren von Thornburn , Kocker, Seifert u. a. der spina- 

Archlv fiir Psychiatrle. Bd. 07 . 45 


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684 


M. Lapinsky: Zur Frage liber den Mechanisnius der 


len Hautsensibilitatsprojektion entsprechen, verandert und zwar herab- 
gesetzt oder gesteigert oder sogar vollkommen ausgefallen. 

Wenn diese Sensibilitatsveranderung sich durch eine Unstetheit 
und eine Beweglichkeit des Bildes auszeichnet, kann man in solchen 
Fallen der Ischias eine organische Erkrankung des Nervenstammes oder 
seiner Wurzeln ausschlieBen. 

Wenn sich dabei in der Veranderungsweise der Sensibilitat eine 
Auswahl oder eine Dissoziation feststellen laBt, so dafi nicht alle 
Arten der Sensibilitat, und zwar nicht gleichzeitig und gleichmaBig, 
sondern nur einige, und zwar mit einer gewissen Auswahl befallen wer- 
den, so kann die Erkrankung der peripheren Nerven und ihrer Wurzeln 
vollkommen ausgeschlossen, und die Ursache des klinischen Bildes 
intraspinal gesucht werden. 

Der Mechanismus der Sensibilitatsveranderungen kann bei solchen 
funktionellen Erkrankungen in der Hemmung oder Anbahnung der 
Nervenzellen in den Hinterhornern liegen; die dazu notigen Impulse 
konnen aus den erkrankten Organen des kleinen Beckens herruhren. 

Die auBergewdhnliche Ausbreitung der Sensibilitatsveranderung bei 
Ischias, die sich auBerhalb des N. ischiadicus, nicht nur an den beiden 
Beinen (bei einseitiger Ischias), sondern auch am Bauche oder an der 
Kreuz- und Lendengegend, erweist, laBt sich durch eine sehr kompli- 
zierte Metamerie der Organe des kleinen Beckens erklaren, die durch 
zahlreiche zentripetale Verbindungen einzelner Splanchnomere des 
Kleinbeckens mit samtlichen Neuromeren bis zu oberen Dorsal- 
segmenten des Ruckenmarkes hinauf verbunden sind; infolgedessen 
konnen die Erkrankungen im Kleinbecken sich nicht nur in den beiden 
Beinen, sondern auch in den oberen Teilen des Kbrpers, und zwar beider- 
seitig durch verschiedene Ausstrahlungen auBern. 

3. Das Ausbleiben der Haut- und Sehnenreflexe in mehreren Fallen 
der Ischias, was als ein Beweis des organischen Betroffenseins der 
spinalen Wurzeln und als ein sicheres Symptom der radicularen Ischias 
gilt, beansprucht jedesmal ein genaues Studium. In einigen Fallen kann 
dies Ausbleiben der Reflexe sich durch eine Unstetheit auszeichnen; 
die erwahnten Reflexe konnen z. B. unter der Wirkung irgendwelcher 
therapeutischer MaBregeln im Inneren des Kleinbeckens wiedererscheinen, 
sogar gesteigert werden usw. In solchen Fallen, und besonders dann, 
wenn noch dazu die Sensibilitat und andere klinische Symptome mit 
dem Zustande der Reflexe in keiner Parallele stehen, kann man eine 
organische Erkrankung der Wurzeln ausschlieBen und einen funktionel¬ 
len intraspinalen ProzcB annehmen, der seinen Ursprung den anbahnen- 
den und hemmenden, von dem Kleinbecken aus zum Riickenmarke 
ansteigenden Impulsen (von erkrankten Organen im Kleinbecken) 
zu verdanken hat. 


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(sogenannten \Vurzel-)Neuralgie des N. ischiadicus. 


685 


4. Wenn sich bei Erkrankung der Kleinbeckenorgane ein Sympto- 
menkomplex der Ischiasneuralgie mit Veranderung der Sensibilitat 
radicularen oder segmentaren Typus, mit einer besonderen Auswahl 
der veranderten Sensibilitat marten entwickelt, wenn sich da bei eine 
Herabsetzung des Muskeltonus und sogar eine Muskelatrophie, ohne 
aber die elektrische Reaktion der Degeneration zu zeigen, bemerkbar 
macht, so muB man die Entstehungsart dieser Storungen der Muskel- 
ernahrung und des Muskeltonus ebenso wie jene der sie begleitenden 
Sensibilitatsstorungen betrachten. Die Verminderung des Muskel- 
umfanges muB man fur eine funktionelle Erscheinung halten, man muB 
sie als eine Folge der Hemmung der entsprechenden Verrichtungen durch 
Impulse, die zum Riickenmarke von den Kleinbeckenorganen aus hinauf- 
steigen, erklaren. Man darf nicht immer in diesen klinischen Symptomen 
eine organische Erkrankung der Wurzeln ersehen und aus derselben 
eine traurige Prognose folgern; die Muskeln werden sich sehr schnell 
wiederherstellen, nachdem die Impulse, die den Tonus und die Muskel- 
ernahrung hemmen, verschwinden. 

5. Die Prozesse, die zur Dnickempfindlichkeit des Nervenstammes 

und seiner Zweige beitragen, finden sich wahrscheinlich in den Nerven- 
hiillen vor ; diesc Prozesse machen die Nervenendungcn, die sich in dem 
Epinervium vorfinden sollen, beim Drucke sehr schmerzhaft. Die 
launenhafte Verteilung der Dnickempfindlichkeit, z. B. Empfindlichkeit 
der Zweige bei den spontanen Schmerzen im Stamme des N. ischiadicus 
oder umgekehrt, oder Schmerz beim Dmcke anderer Nerven am Beine 
wahrend der Neuralgie des N. ischiadicus, ebeaso wie Sensibilitats- 
veranderungen, die ihrer Lokalisation nach den Typen Thonibum, 
Seifert u. a. entsprechen, lassen sich durch die Abhangigkeit dieser 
Symptome von dem Befallensein einzelner Splanchnomere im kleinen 
Becken erklaren. * 

6. Die Benennung ,,Ischias“, die Cotugno dieser Erkrankung ohne 
Riicksicht auf genaue anatomische Daten gegeben hatte, kann fiir die 
Benennung der spontanen Schmerzen in den unteren Extremitaten als 
passend auch w r eiter beibehalten warden. Wenn man aber die objek- 
tiven Symptome der Ischias, die in der Empfindlichkeit des Nerven beim 
Drucke besteht, feststellen will, muB man sich doch an die anatomischen 
Angaben halten. Vom Standpunkte des anatomischen Denkens muB 
man in solchen Fallen eine Neuralgie des Stammes des N. ischiadicus, 
eine solche seiner Zweige und seiner Wurzeln unterscheiden, in 
Abhangigkeit davon, ob der Stamm des N. ischiadicus selbst, und 
zwar von dem unteren Viertel des Oberschenkels an bis oberhalb Collum 
femoris, oder seine Zw'eige, oder seine einzelnen Wurzeln, namlich 
in der Hohle des kleinen oder des groBen Beckens beim Drucke schmerz¬ 
haft sind. Auf dieser Dnickempfindlichkeit des Stammes, der kleinen 

45* 


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B8() M. Lapinskv: Zur Fragc iibor den Meohanismus der 

Zweigc odcr der spinalen Wurzeln fuBend, kann man zum Unterschiede 
von einer Neuralgie des Stammcs, der Biindel, und einzelner Zweige 
des N. ischiadici mit einem gewissen wissenschaftlichen Vorteile den 
Namen der radicularen Ischias beibehalten. Eine oder die andere Lokali- 
sation der Schmerzen und iiberhaupt der Neuralgieerkrarikung wird 
in den meisten Fallen von dem erkrankten Organe, resp. von seinem 
Splanchnomer in dem Kleinbecken und von dem metamerischen Aufbau 
unseres Korpers genauer bestimmt. 

7. In manchen Fallen der sog. radicularen Lschias mu R man zweierlei 
Leiden vermuten, und zwar das eine in der Peripherie und das andere 
im Riickenmarke selbst. Das peripherische entwickelt sich hochst 
wahrscheinlich in den Hiillen des Nerven und auBert sich in deren 
Hyperamie (und in der Infiltration [?] derselben), und zeichnet sich durch 
die spontanen Schmerzen und durch die Druckempfindlichkeit aus. 
Das intraspinale Leiden liegt in den hinteren Hornern des Riicken- 
markes, besteht in den Hemmungs- und Anbahnungsprozessen und zeigt 
sich in den Vcranderungen der Sensibilitat, der Reflexe, der 
Motilitat, derBlutzirkulation im betreffenden Beine und des Ernahrungs- 
zustandes der Beinmuskulatur. 

Man muB die Ischias radicularen Type in solchen Fallen zu den 
Neurosen rechnen, vveil der peripherische, wie auch der intraspinale 
ProzeB ohne organischc Veranderungen der Nervenelemente ver- 
laufen kann. 

Die doppelte Lokalisation des Prozesses wird besonders in jenen 
Fallen deraonstrativ, in denen die Storungen der Sensibilitat, der 
Reflexe usw. mit dem Gebiete des betreffenden Nervs nicht zusammen- 
fallcn. 

8. Die objektive Untersuchung muB durch die Exploration der Or¬ 
gane des Kleinbeckens per Rectum, per Vaginam und per Urethram 
erganzt werden. In alien Fallen muB man auBerdem die Bauchorgane 
und die sympathischen Geflechte in bezug auf ihre Lage und Dmck- 
empfindlichkeit in Betracht nehmen. 


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(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des N. ischiadicus. 


687 


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(sogenannten Wurzel-)Neuralgie des N. ischiadicus. 


689 


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Zur Frage der Halhizinations-Theorie. 


Von 

Dr. Knichel, Coblenz. 

(Aus der Dr. Hertzschen Privat-Heil- und Pflegeanstalt in Bonn.) 

(Eiugegangen am 12. Dezember 1922.) 

Falle von Gesichtshalluzinationen bei peripher bedingter totaler Erblindung 
sind in der Literatur wiederholt veroffentlicht worden. Man findet solclie bei 
Esquirol, Leubuscher, Galmeil, Uhthoff und Graft. Trotzdem soli hier von einem 
neuen, besonders charakteristischen derartigen Fall berichtet werden, der in der 
Hertzschen Privat-Heil- und Pflegeanstalt in Bonn beobachtet wurde, und dessen 
Krankengeschichte Herr Prof. Dr. Konig mir in dankenswerter Weise zur Ver- 
fiigung stellte. 

Der Diamantschleifer J. F. aus Antwerpen, 38 Jahre alt, akquirierte eine 
Lues, auf die er 1911 durch Flecken am Leibe aufmerksam wurde. 10 Monate 
nach einer spezifischen Behandlung traten Sehstorungen und Schmerzen in den 
Beinen auf. Bei seiner Aufnahme in der oben genannten Anstalt am 21. VII. 1914 
zeigte er schon alle wesentlicken Symptome einer Taboparalyse, verbunden mit 
totaler Erblindung infolge Opticusatrophie. Drei Punkte erheisehen ein beson- 
deres Interesse fiir diesen Fall: Bei seiner Aufnahme weiB der Kranke nicht an- 
zugeben, wann er vollig erblindete. Einige Zeit spftter weiB er iiberhaupt nicht 
mehr, daB er blind ist, „er sieht alles“. Kein einziges Mai wahrend der 5 Jahre 
seines Aufenthaltes in der Anstalt wird er sich seiner Blindheit bewuBt. Ferner 
fiillt an dem Falle die geradezu fabelhafte Fiille von Gesichtshalluzinationen auf. 
Ununterbrochen beschaftigt ihn seine eigene halluzinierte Welt, in der es viel 
hunter und lebhafter zuzugehen scheint, als in der wirklichen. Drittens ist es 
bemerkenswert, daB der Kranke fast alle seine Gesichtshalluzinationen in eine 
Beziehung zu seinen Augen bringt. Die halluzinierten Gestalten wollen ihm sein 
Augenlicht nehmen; ziehen Fiiden durch die Wand nach seinen Augen und zerren 
damit an ihnen; all die Tausende von Zuhaltern, Dirnen, Anarchisten, farbigen 
Strahlen und Fiiden, die er tagtaglich sieht, bringen seine Augen zum „FlieBen“. 
Er tragt deshalb standig einen kiihlenden Umschlag um die Augen, verlangt 
Medizin gegen die Schmerzen und in den wenigen Stunden, da er keine Gesichts¬ 
halluzinationen hat, zeigt er sich freudig dem Arzte und behauptet, seine Augen 
seien wieder gut. Nach allmahlichem Zerfall und unmittelbar voraufgehenden 
schweren An fallen kam der Kranke am 11. III. 1919 zum Exitus. 

Die Falle von Gesichtshalluzinationen bei totaler, peripher bedingter Erblin- 
dung wuidan von den einzelnen Autoren in verschiedenem Simie fiir die eine oder 
andere Halluzinationstheorie ausgebeutet. Uhthoff sieht in ihnen einen sicheren 
Beweis dafiir, daB die Gesichtshalluzinationen kein einfaches Produkt der Reizung 
der peripheren Endausbreitungen des Sehnerven in der Retina sein konnen, wie 
auch Griesinger eingehend betont; diese Falle bewiesen vielmehr die zentrale Ent- 
stehung der Halluzinationen. Niefil v. Mayendorf meint dagegen, „statt das Ent- 
stehen von Gesichtshalluzinationen auf corticale Reize zu beziehen, lage es naher. 


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Knichel: Zur Frage der Halluzinations-Theorie. 


691 


anzunehmen, daB die durch proliferierendes Bindegewebe und andere sich im 
Inneren des Sehnerven abspielende Vorgange affizierten, aber noch leitungsfahigen 
Nervenfasern Reize der Rinde zusenden, die mit denjenigen bei gewissen Wahr- 
nehmungen als ahnlieh empfunden werden“. Auch unser auBerst charakteristi- 
scher Fall regt unmittelbar die Frage an: In welchein Zusanmienhang steht die 
Erblindung oder der ProzeB, der sie verursachte, zu den Gesichtshalluzinationen ? 
Liegt hier eine kausale Beziehung vor, und was ist aus der Annahme eines kau- 
salen Zusammenhanges zu folgern? Ein Versuch, diese Fragen zu beantworten, 
kann indes nicht gemacht werden, ohne zu dem gesamten Halluzinationsprobleni 
Stellung zu nehmen. Das bedeutet aber, ein Problem anschneiden, das schon 
unzahligemal von Psychiatern, Psychologen und Philosophen mit den wider- 
sprechendsten Resultaten erortert. wurde. In seinem Referat iiber Trugwahrneh- 
mungen erklart sich Jaspers schon im Jahre 1912 auBerstande, die ganze hierher 
gehorende Literatur zu iiberblicken, und erst recht jede einzelne Arbeit zu re- 
fcrieren. Stellung nehmen zum Halluzinationsproblem kann heute erst recht nur 
heiBen, die Grundmotive, die sich durch alle Theorien ziehen, und die Arbeits- 
resultate der konsequentesten Vertreter der verschiedenen Anschauungen be- 
riicksichtigen. 

Dariiber, daB es tatsachlich Halluzinationen gibt, d. h. ganz allgemein 
definiert: BewuBtseinsinhalte, die dem Halluzinanten wie Sinneswahrnehmungen 
imponieren, obwohl ihnen kein kuBeres Objekt entspricht, hat sich unter den 
Autoren keine ernstliche Kontroverse erhoben. Dafiir sprachen doch schon die 
zahlreichen Fftlle, die von sonst ganz normalen Halluzinanten, ja oft sehr intelli- 
genten, kritisch veranlagten und hochst sachkundigen Selbstbeobachtem beschrie- 
ben wurden, eine zu deutliche Sprache. Kandinsky* klassische Selbstbeobachtungen 
sind auch in dieser Hinsicht von ganz besonderer Bedeutung. Selbstverstandlich 
weist man mit Recht darauf hin, daB vor allem bei Geistesgestorten vieles falseh- 
lich als Halluzination bezeichnet wird, was sich schon bei eingehender und geeig- 
neter Ausfrage lediglich als mehr oder weniger deutliche Vorstellung, VVahnidee 
usw. herausstellen wurde. DaB unser Kranker echte Halluzinationen hat, unter- 
liegt wohl keinem Zweifel. Wenn man auch noch nicht mit Bestimmtheit zu 
sagen weiB, worauf das Nichtbemerken der Blindheit zuriickzufiihren ist, so ist 
man doch zur Annahme berechtigt, daB die Gleichheit der BewuBtseinsinhalte, 
durch den Halluzinations- oder Wahrnehmungsakt hervorgerufen, mit zum Zu- 
standekommen dieses sonderbaren Symptoms beitrttgt, daB vor allem diese Gleich¬ 
heit den t'bergang vom schlechten Sehen zur volligen Erblindung dem Kranken 
nicht bewuBt werden laBt. Einigkeit herrscht im groBen und ganzen auch unter 
den Psychiatern, solange sie sich darauf beschrftnken, rein klinisch die einzelnen 
Halluzinationsformen gegeneinander und gegen ahnliche Phanoinene abzugrenzen. 
Herzig meint, solange sich die Psychiater mit der Festlegung und Kasuistik des 
in Betracht kommenden Materials begniigten, blieben sie eben auf ihrem Gebiete, 
(lessen Grenzen sie aber iiberschritten, sobald sie nach dem Wesen, der Ursache 
und Entstehungsart der Halluzination forschten. Mit dieser Frage begaben sie 
sich auf ein Feld, das sie nicht nur mit Psychologen, sondern auch mit Philosophen 
slier Richtungen teilen miiBten. Dieser Bemerkung liegt die Anschauung zu- 
grunde, Halluzinationen konnen als psycho-physische Phanomene nicht kausal 
aus materiellen Bedingungen erklart werden. Da es aber fur den Psychiater als 
Xaturwissenschaftler nur ein Erklaren in diesem Sinne gibt, uberschreitet er die 
Grenzen seines Forschungsgebietes, wenn er nach Wesen, Ursachen und Ent¬ 
stehungsart der Halluzination fragt. Konnen Halluzinationen tatsachlich nicht 
gehirnphysiologisch oder, allgemeiner ausgedriickt, nervenphysiologisch erklart 
werden? Sehen wir zunaehst zu, welche Theorien ein derartiges Bestreben ge- 
zeitigt hat. 


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692 


Knichel: 


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Alle altercn Autoren, die sich mit dem Problem besch&ftigt haben, gehen von 
der Voraussetzung aus, dab Wahrnehmungen vor allem wegen der sinnlichen 
Deutlichkeit ihres Objektes und dessen Verlagerung in den aufleren Raum prin- 
zipiell von der Vorstellung zu scheiden seien. Diese Hauptcharakteristika eines 
Wahrnehmungsinhaltes konnen nach den Autoren, die eine periphere Entsteliung 
der Halluzinationen vertreten, einem BewuBtseinsinhalt ausschlieBlich durch die 
Tatigkeit des peripheren Sinnesnerven vermittelt werden. Hoppe, der energiscliste 
Verteidiger dieser Anschauung, definiert: „Halluzinationen sind unwirkliche 
Wahrnehmungen, konstruiert in sinnfalliger Weise aus den bloBen Erregungen der 
die Sinneseindriicke aufnehmenden Nerven, gebildet aus deren Erregungsformen, 
-zustanden und -produkten, ohne sinnfallige Veranlassung von auBen gemacht 
mittels hinzugefiigter Vorstellungen, so daB Gestaltungen scheinbar wirklicher 
Dinge nach Art der Sinneserfahrungen entstehen.“ Es muB darauf hingewiesen 
werden, daB auch Hoppe die Mitbeteiligung von Vorstellungen nicht entbehren 
kann. Allerdings nimmt er an, daB diese in der Retina abgelagert sein konnen. 
Falsch an dieser Theorie ist die Auffassung, daB Halluzinationsgebilden ihre sinn- 
liche Deutlichkeit und Leibhaftigkeit, worunter ihre Projektion in den objektiven 
Raum zu verstehen ist, einzig und allein durch Erregung des peripheren Sinnes¬ 
nerven verliehen werden konne. Der von Esquirol mitgeteilte Fall, bei dem diq 
basalen Ganglien bis in den Stabkranz vollig erweicht waren, beweist, daB echte 
Halluzinationen entstehen konnen ohne Miterregung des peripheren Sinnesappa- 
rates. In demselben Sinne, wenn auch nicht mit der Beweiskraft des autoptischen 
Befundes, sprechen die interessanten Falle von Gesichtshalluzinationen bei totaler 
peripherer Erblindung. Allerdings miissen wir bedenken, daB ein Opticus zwar 
fur auBere Lichtreize vollig unempfiinglich und so auch leitungsunfahig sein kann, 
aber deshalb doch nicht in alien Fallen erregungslos zu sein braucht, daB sich 
z. B. noch von dem KrankheitsprozeB erzeugte Erregungen in ihm abspielen und 
zur Sehrinde fortgeleitet werden konnen. Unhaltbar ist ferner die Annahme, ein 
unmodifizierter Reiz, wie er ausgeht von einem Entziindungsherd, einer Geschwulst, 
einem Fingerdruck auf die Augenbulbi, dem Druck eines Cerumenpfropfes auf das 
Trommelfell, konne die peripheren Sinnesflachen oder die Leitungsfasern zufallig 
so treffen wie die Reize, die von einem Objekt ausgehen, und so die adequate 
Ursache einer komplizierten Halluzination bilden, z. B. der halluzinatorischen 
Walurnehmung eines Gemaldes, eines Musikstiickes. Derartig inadequate Reize 
konnen direkt und ausschliefilich nur fiir das Zustandekommen subjektiver Emp- 
findungen von Licht, Farbe oder Schall — sogenannter elementarer Halluzina¬ 
tionen — verantwortlich gemacht werden. Hiermit soil nicht gesagt sein, daB 
aus der Art dieser Reize die Empfindung selbst erkliirt werden kann; denn wes- 
halb wir Licht empfinden, wenn der Sehpurpur bleicht, die Zapfehen schrumpfen, 
der Opticus erregt und das Sehzentrum in Mitleidenschaft gezogen wird, bleibt 
ein Geheimnis, das die Naturwissen.sehaft mit dem Worte „spezifische Sinnes- 
substanz“ zudeckt, und fiir das die Metaphysik die sonderbarsten Erklarungen 
gibt. Selbst wenn man die unmogliche Anschauung Hoppes akzeptieren wollte, 
oder sich mit Nie/31 v. Mayendorf vorstellen wollte, die „Ahnlichkeit“ eines von 
der Peripherie kommenden Reizes reiche sclion aus, um das Bild eines bestimmten 
Gegenstandes halluzinatorisch zu erwecken, so sprechen immer noch gegen diese 
Theorie die zahllosen Halluzinationsinhalte, die in einem unzweideutigen Zusam- 
menhang mit den, den Halluzinanten beherrschenden Vorstellungen stehen; ferner 
die zahlreichen Falle, bei denen sich die heftigsten Prozesse am Sinnesapparat 
abspielen, ohne daB Halluzinationen entstehen; die fast nicht minder zahlreichen 
Falle von Halluzinationen, bei denen an den peripheren Sinnesnerven nichts Ab- 
normes festgestellt werden kann. Es spricht dagegen, daB wahrend der verschie- 
densten Stadien eines Prozesses ein und dieselbe Halluzination bestehen kann. 


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Zur Frage dcr Halluzinations-Theorie. 


693 


oder daB in unmittelbarer Aufeinanderfolge die mannigfaltigsten Gebilde hallu- 
ziniert werden konnen. 

Xach anderen Autoren wird zwar das Bild, das halluziniert wird, als solches 
im Gehirn als Vorstellung erzeugt; dieses Vorstellungsbild erhiilt aber die Wahr- 
nehmungscharaktere nur durch sekundare Erregung des peripheren Sinnesappa- 
rates. Hagen nennt Halluzinationen „Krampf im sensiblen Nerven“. Nach ihm 
ist die Energie im Nerven stets in seiner ganzen Ausdehnung tatig und die Reiz- 
leitung eine zweisinnige. Ahnliche Anschauungcn v r ertreten Schiile und Krafft- 
Ebing. Wie Ooldscheid sich ausdriickt, nehmen die Autoren an, daB auf zentri- 
fugalen Bahnen die Erregung von der Gehirnrinde abflieBt zur Peripherie, dort 
auf die zentripetalen iibergeht, zur Rinde zuriickflieBt und so den Anschein einer 
primaren, peripheren Reizung erweckt. Gegen ein doppelsinniges Leitungsver- 
mogen, selbst gegen die Annahme verschiedener Fasersysteme ist wenig einzu- 
wenden. Auch kann man oder muB man sogar zugeben, daB vor allem eine sehr 
lebhafte, zentral entstandene Halluzination den ganzen Sinnesapparat, also auch 
dessen periphere Teile erregen kann, sofern man nicht, wie Goldstein, die von 
Parisch beschriebenen positiven und negativen Nachbilder von Halluzinationen 
ablehnen will. Die Abanderung, die in manchen Fallen Gesichtshalluzinationen 
erfuhren durch das Vorhalten von farbigen Glasern, Konvex- und Konkavbrillen, 
Prismen, durch Dnick auf die Bulbi sollen auch eine sekundare Miterregung des 
peripheren Sehnerven beweisen. Sie wird aber mit Jolly besser als Folge eines 
Schlusses aufgefaBt, den die Halluzinanten von den gleiehzeitigen, wirklich ab- 
geanderten Wahrnehmungen auf die Halluzinationsinhalte vollziehen; denn 
schlieBlich werden durch diese Experimente doch nur die von auBen kommenden 
Lichtstrahlen beeinfluBt und nicht etwa die halluzinatoriseh mitcrregte Retina. 
Unrichtig an der Theorie Hagens ist die Auffassung, daB die Miterregung des 
peripheren Sinnesnerven notwendig sei. Das beweist der Fall Esquirols. Und 
das Zustandekommen der sinnlichen Deutlichkeit und Leibhaftigkeit bei den 
andern Fallen, bei denen dieser beweisende pathologische Befund nicht vorliegt, 
von der peripheren Miterregung abhangig machen zu wollen, ist schon allein des- 
halb nicht angangig, weil durch die Miterregung das Zustandekommen der Leib¬ 
haftigkeit gar nicht erklart wiirde, ebensowenig wie es durch die Erregung eines 
andern Teiles des Xervensystems erklart wird. Die Leibhaftigkeit der Halluzina- 
tions- wie die der Wahrnehmungsinhalte ist durch die Akte unmittelbar gegeben, 
ohne daB wir uns der Momente bewuBt werden, die sie bedingen. Wenn Wernicke 
sie von der Erregung der Organempfindungszentren, und andere von einer Er¬ 
regung des corticalen Sinneszentrums abhfingig sein lassen, so sind das Postulate 
— allerdings, wie Jaspers meint, unabweisbare —, die nicht durch Erfahrung 
und Experimente gestutzt werden konnen. Damit haben wir im wesentlichen 
auch schon unsere Stellungnahme zu alien ubrigen Theorien angedeutet. 

Xach Meynert und Kandinsky hinterlassen alle Sinneseindriicke in sub- 
corticalen Sinneszentren Residuen. Werden diese Zentren erregt, so treten diese 
Residuen wieder ins BewuBtsein, ausgestattet mit derselben Sinnlichkeit und 
Leibhaftigkeit, wie sie den Wahrnehmungsinhalten zukommen. Nach Meynert 
sind diese Zentren dauernd automatisch erregt. Unter normalen Verhaltnissen 
besitzt aber die Gehirnrinde die Fahigkeit, die automatische Erregung zu hem- 
men, so daB es nicht zu Halluzinationen kommt. Eine mehr die mannigfaltigen 
psychischen V'organge, vor allem das Vorkommen der echten Pseudohalluzina- 
tionen beriicksichtigende Theorie hat Kandinsky ausgebaut. Er denkt sich fiinf 
verschiedene Gehirnzentren: I. diis subcorticale Sinneszentrum; II. das corticale 
Sinneszentrum; III. das corticale Zentrum des abstrakten Vorstellens; IV. das 
corticale motorische Sprachzentrum; V. das corticale Zentrum des klarbewuBten 
Denkens. Ein Reiz kann nur zentri{)etal geleitet werden, also von der Peripherie 


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Knichel: 


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iiber Zentrum I zu den Rindenzentren und nicht umgekehrt. Versetzt ein Reiz 
Zentrum I in Tiitigkeit, so entsteht in V ein Gebilde mit Leibhaftigkeit und Sinn- 
lichkeit behaftet, und zwar ist es ein Wahrnehniungsgebilde, wenn der Reiz von 
auBen komint; eine Halluzination, wenn er vom subcorticalen Teil der Sinnes- 
nerven ausgeht. Wird Zentrum II gereizt, so resultiert in V eine gewohnliche 
sinnliche V T orstellung. Ist der Reiz in II und in seinem ganzen Verlauf bis zu V 
anormal stark, so resultiert eine echte Pseudohalluzination, d. h. eine Voretellung 
von abnorm lebhafter Sinnlichkeit, aber ohne Lebhaftigkeit. Das subcorticale 
Sinneszentruin spielt in dieser Theorie, um einen Ausdruck Grasheys zu gebrauchen, 
die Rolle eines deus ex machina. Es ware bedeutend weniger gegen Kandinsky s 
Anschauungen einzuwenden, wenn irgendeine Veranlassung zur Annahme vor- 
ltige, daB in den verhaltnismftBig sehr kleinen subcorticalen Zentren die zahllosen 
Wahmehmungsresiduen niedergelegt sind, iiber die ein erfahrenes Individuum 
nerfiigt. Das ist aber, wie fast alles in dieser Theorie, rein hypothetische An- 
vahme, die sich aber auch nicht auf die geringste Erfahrungstatsache zu stutzen 
liermag. Ja, es kann sogar als bewiesen gelten, daB die subcorticalen Zentren ledig- 
vch als Reizumschaltestationen aufzufassen sind. Auf Grund der gehimphysio- 
logischen Forschungen von Munk, Hitzig, Ferrier, Flerhsig und der klinischen 
Erfahrung von Rinden- und Seelen blind heit oder -taubheit usw. haben wir die 
organischen Korrelate fiir Wahrnehmungen und Vorstellungen hochstens in der 
Gehirnrinde und nicht in den subcorticalen Zentren zu suchen. Sind diese aber 
nur als Reizumschaltestationen aufzufassen, so hat eine Erregung dieser Zentren 
keine weitere Bedeutung als eine Erregung des peripheren Sinnesnerven iiber- 
haupt. Somit gelten fiir die Theorien von Meynert und Kandinsky dieselben Ein- 
w&nde, die gegen die vorhergehenden erhoben wurden. 

Sowenig die bisher angestellten Dberlegungen fiir die peripheren Ent- 
stehungstheorien sprechen, um so mehr scheinen sie durch eine ganze Reihe ein- 
wandfrei festgestellter Falle gestiitzt zu werden. Wir kennen namlich zahlreiche 
Falle, bei denen wir uns sagen miissen, ohne diese oder jene Abnormitfit am peri¬ 
pheren Sinnesapparat ware es nicht zur Halluzination gekommen. Hier seien 
kurz einige der interessantesten Falle angefiihrt. 

1. Alter Patient Graft s: Beide Bulbi atrophiert und verkalkt; seitdem ele- 
mentare Gesichtshalluzination. Spater nach heftigor Gemiitserschiitterung auch 
komplizierte Halluzinationen. Nach Durchschneiden beider Optici weder ele- 
mentare noch komplizierte Halluzinationen mehr. 

2. Alter Patient Christians mit komplizierten Gesichtshalluzinationen nur 
bei Nacht; keinerlei Ursache festzustellen. Bei der Autopsie Geschwulst in Sella 
turcica, die beide Optici platt gedriickt hatte. 

3. Ganz almlich der Fall de Schiveinitz. 

4. Alte Patientin Uhthoffs mit zentralen Aderhautflecken, mit entsprechen- 
den zentralen Undeutlichkeitsskotomen. Eines Tages bei gleichzeitigem Druck 
im Kopf in den Skotomen Halluzinationen, die Lowenkopfe, Bftume usw. auf- 
weisen. Mit Projektion in die Feme nehmen die Gebilde an GroBe zu, wandern 
mit den Augenbewegungen, verschwinden beim AugenschluB, verdecken den 
Hintergrund. Allmfthliches Abblassen der Halluzinationen. Nach volligem Ver¬ 
schwinden noch einigemal willkurliche Erweckung derselben moglich. 

5. Sander berichtet von einem Kranken, der regelm&Big Madchenstimmen 
vemahm, sobald er Wasser aus einer Leitung flieBen horte. 

Uhlhoff, Ndgeli, Hudovering, Kaldbaam haben noch andere derartige Falle 
veroffentlicht, die einen im ersten Augenblick stutzig machen konnen. Auch bei 
unsereni Kranken steht sicher ein Teil der Halluzinationen in einem Abhiingig- 
keitsverhiiltnis zu der Opticusatrophie. Goldstein hat derartige Falle eingehend 
nach alien Seiten hin beleuchtet und kommt zu dem Resultat: „Wie immer der 


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Zur Frage der Halluzinations-Theorie. 


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periphere Reiz gestaltet sein mag, stets ist die zentrale Disposition die Vorbedin- 
gung dafiir, dad auf den peripheren Reiz hin eine komplizierte Halluzination 
entsteht.“ Unter dieser zentralen Disposition nicht genau bestinnnbare, abnorme 
Verlialtnis.se in der Gehirnrinde verstehend, die eine anormale psychische Funktion 
bedingen, und nicht, wie Goldstein, einen erhohten Energieverbrauch in einem 
anatomisch lokalisierbaren Zentrum, pflichten wir dem Autor bei; beliaupten 
also, niemals entsteht eine Halluzination, solange in der Rinde die normalen 
Verliftltnis.se herrschen, von welcher Art und Stfirke der periphere Reiz auch sein 
mag. Dieser kann wohl insofern die einzige Ursache der Halluzination sein, als er 
zur Rinde fortgeleitet, dort die zentrale Disposition selbst hervorrufen kann oder 
sie perfekt machen kann. Im eigentlichen Sinne aber lost er die Halluzination 
nur aus, regt die in ihrer normalen Tiitigkeit gestorte Rinde an, die dann unab- 
hftngig von der Qualit&t des Reizes, der Natur der psychischen Stoning ent- 
sprechend reagiert. Da es sich in den Fftllen, wie wir sie oben beschrieben haben, 
teils um hysterische, erblich belastete, neurasthenische Personen handelt, teils 
um solche, die eine starke psychische Erschiitterung infolge des Unfalls, der den 
peripheren Defekt setzte, oder infolge einer vorausgehenden Operation usw. er- 
litten, kann man bei ihren Halluzinationen die notwendige zentrale Disposition 
voraussetzen. wenn sich auch momentan keine Symptome psychischer Storung 
zeigen. Auch in den seltenen Fallen, bei denen die zentrale Disposition durch 
nichts angedeutet ist, z. B. in dem viel erorterten Fall de Schweinitz und dem 
von Uhthoff , ist diese doch als vorhanden anzunehmen; denn eine periphere Er- 
regung an sich kann keine komplizierte Halluzination erzeugen. Wenn es nicht 
die abnorme Funktion der Hirnrinde 1st, die Halluzinationen bedingt, so ist nicht 
einzusehen, warum die Natur des jieripheren Reizes gleichgultig ist. warum ein 
krankhafter Froze 11. Fingerdruck, elektrischer Strom, der Reiz einer normalen 
VVahrnehmung zu derselben Halluzination fiihren konnen; ist nicht einzusehen, 
wie Reflexhalluzinationen entstehen konnen, d. h. Halluzinationen in einem Sin- 
nesgebiet, sobald ein anderes gereizt wird. 

Wie haben nun die einzelnen Autoren die zentrale Disposition gedeutet? 
Auf welche Erfahrungen konnen sich ihre Erklarungsversuche stiitzen? 

Typisch fiir die materialistische Auffassung. die den meisten Deutungen zu- 
grunde liegt, ist die Theorie Jendrassiks. Er sieht die Ursache einer Halluzination 
,.in einer Idee, die sich auf vorbereitetem Gelande festsetzt“. Unter dem vorberei- 
teten Gelande versteht er ein Gehirnsubstrat, in dem eine oder mehrere Zellen zu 
kurze Auslftufer, abnorme Grolle oder Form, unvollkommene chemische Kon- 
stitution usw. aufweisen. Infolgedessen bleibt in dem Gehirn eine Assoziation 
offen, durch die dauemd Erregungen fliellen, wie durch die insuffiziente Herz- 
klappe dauemd Blut flieBt. Liegt diese insuffiziente Stelle im sensorischen Rin- 
denl)ezirk, so erzeugt die standig durchflieCende Erregung Halluzinationen, wie 
die bei einer stecken gebliebenen Orgeltaste durchstromende Luft Tone erzeugt. 
So etwas konnte nur in der Bliitezeit des Materialismus als befriedigende Erkla- 
rung gelten. Die Schopfer anderer hierher gehorender Theorien verraten durch 
ihre Ausdrucksweise den Anhftnger des psycho-physischen Parallelismus. Horen 
wir hierzu Jaspers-, .dedeni psychischen Vorgang denkt man sich einen somatisch- 
funktionellen Vorgang zugeordnet. Indem man diese funktionellen V’orgftnge 
nicht gerade anatomisch-lokalisatorisch, aber eben doch funktionell-lokalisatorisch 
auffadt, steigt man mit der Lokalisation iiber die zentralen Sinnesflftchen hinaus 
in die verschiedenen Stationen des Reiches des dem Seelischen Zugeordneten. 
Wir konnen zu alldem nur sagen, dall man von jenen funktionell-somatisch zu¬ 
geordneten Vorgangen nichts we ill und nicht weiti, wie man sie finden konnte; 
dad man eine Reihe von psychologischen Unterscheidungen besitzt, die durch 
eine solche Zuordnung an Wert nichts gewinnen; dall schlieBlieh solche theore- 


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tischen Erw&gungen iniiner fiir einige Fillle ganz plausibel sind, aber nie fiir alle 
passen." Beschriinken wir uns darauf, mit einigen Bemerkungen die Unzulang- 
lichkeit der einzelnen, hierher gehorenden Theorien aufzuweisen. 

Xach der sogenannten zentrifugalen Entstehungstheorie ist eine Halluzina- 
tion die Folge einer anormalen Steigerung jenes von Griesinger beschriebenen 
„leisen Mithalluzinierens im zentralen Sinnesorgan, das alles Vorstellen begleitet, 
von dem dieses eben jenen fiir seine Klarheit und Leibhaftigkeit so unentbehr- 
lichen, dem einen Menschen karger, dem andem reichlicher zugemessenen sinn- 
lichen Schatz von Farbe, Bild, Klang, jenen Korper von Sinnlichkeit mitbekommt“. 
In diesem Sinne definiert Krafft-Eb'nvg : „Eine Halluzination ist die Folge der Er- 
regung des Zentralapparates eines Sinnesnerven durch einen adaquaten Vorstel- 
lungsreiz, in dem Grade, daB die nach auBen projizierte Erregung desselben die 
.Starke einer sinnlichen Wahmehmung erhiilt.“ Wenn man mit dieser Theorie 
nichts weiter behaupten will, als eine Halluzination ist eine besonders stark an- 
geregte Vorstellung, die infolge der abnormen Intensitat sinnliche Evidenz und 
Leibhaftigkeit annimmt, so ist nichts dagegen einzuwenden, aber auch nichts er- 
klart. Es soli doch dargetan werden, wie eine tjbererregung des Y’orstellungs- 
zentrums, unter der man selbstverstandlich einen rein materiellen Y T organg, einen 
gesteigerten, lokal begrenzten .StoffwechselprozeB versteht, es fertig bringt, eine 
bestimmte Vorstellung zu erzeugen; wie sie es fertig bringt, auf das Sinneszentrum 
fortgeleitet, die der bestimmten Y r orstellung entsprechenden Sinnesqualitaten 
zu erregen; wie sie es zuletzt zuwege bringt, daB das Sinnesbild im objektiven 
Raum erscheint. Fiir die zentrifugale Theorie sollen sprechen: der Zusammen- 
hang zwischen Halluzinationsinhalt und dem den Halluzinanten eigenen Y r or- 
stellungskreis, die Tabsache, daB sich manche Halluzinanten dieses Zusammen- 
hanges bewuBt werden, die Abnahme der Halluzinationen bei geistigen Schwache- 
zust&nden, die Moglichkeit der willkiirlichen Erweckung der Halluzinationen, die 
Haufigkeit der Gehorshalluzinationen — die meisten \ T orstellungen verinittelt 
die Sprache, also das akustische Sinneszentrum. — Zur weiteren Kritik dieser 
Theorie seien nur die Fragen aufgeworfen: Wie entstehen die Perzeptionshallu- 
zinationen, die keinen Zusammenhang mit dem Ideenkreis des Individuums auf- 
weisen? Wie entstehen Kandinsky s Pseudohalluzinationen, die oft groBere Sinn¬ 
lichkeit aufweisen als echte Halluzinationen, aber keine Leibhaftigkeit? 

Hagen sieht die zentrale Disposition in einer primaren Ubererregung des 
Sinneszentrums selbst. Die verschiedensten Vorgiinge konnen dieses in einen 
Zustand erhohten nervosbn „Turgors“ versetzen, der das Bestreben hat, sich 
peripher zu entladen. Tritt diese Entladung ein, so entsteht eine Halluzination 
als „Krampf im sensiblen Nerven, der vollig der YY’illkiir entruckt ist“. Xach 
dieser Anschauung waren zwar die Perzeptionshalluzinationen erklarbarer, aber 
auch nur diese. 

Goldstein faBt auch die zentrale Disposition als einen abnormen Erregungs- 
zustand des corticalen Sinneszentrums auf. Zw r ar ist dieses bei jeder Erregung 
der Vorstellungsspluire auch in einer gewissen Erregung, woraus sich das normale 
Mithalluzinieren Griesingers und die Bezieliung des Halluzinationsinhaltes zum 
Y 7 orstellungsleben erklaren soil. Aber mit der Erregungssteigerung in der Vor- 
stellungsregion wiichst nicht die Erregung in der Sinnesregion, da es sich in beiden 
um ganz verschiedene Erregungsformen handelt, die nicht ineinander iibergehen 
konnen. Gerade das Gegenteil ist der Fall: Je intensiver die Erregung im Y’or- 
stellungsgebiet, um so abstrnkter das Denken, d. h. um so weniger sinnliche Be- 
standteile aus dem Sinneszentrum klingen mit an. Das beruht auf der Abhangig- 
keit der beiden Erregungsformen, von der alien Tatigkeiten im Organismus zu- 
grunde liegenden, konstanten „nutritiven Erregung' 1 . Je groBer die Erregung 
in der Y’orstellungssphiire, um so mehr Energie verbraucht sie, um so weniger 


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Zur Frage der Halluzinations-Theorie. 


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kann der Sinnesregion zugeflihrt werden. Fallen Vorstellung und Wahmehmung 
fort, z. B. beim Einschlafen, so bendtigt das Vorstellungszentrum weniger Energie, 
die jetzt dera Sinnesgebiet zugute kommt, in dem deshalb die sinnlichen Bestand- 
teile lebhafter erregt werden, unter Umstanden so lebhaft, daB hypnagoge Hallu- 
zinationen und Trftume entstehen. Wird der Energieverbrauch im Sinneszentrum 
gesteigert durch einen KrankheitsprozeB, funktionelle Cberanstrengung usw., so 
ist das die letzte Ursache der Halluzination. Durch den Sitz und die Ausdehnung 
eines Erw'eichungsherdes z. B. ist nach Goldstein der Inhalt einer Halluzination 
bestimmt. Die in der EinfluBsphare dieses Erweichungsherdes liegenden „Merk- 
systeme“ werden halluzinatorisch erregt, wenn die Erregung einen gewissen Grad 
erreicht hat; werden so erregt, wie sie der ehemalige Sinneseindruck geschaffen 
hat, wenn sie der Erweichungsherd noch nicht zum Zerfall gebracht hat; ist letz- 
teres der Fall, so werden nur noch Bruchteile eines friiheren Sinneseindruckes 
halluziniert. Diese Auffassung kommt der Anschauung Jendrassiks sehr nahe. 
Ubrigens glaubt Goldstein, durch die Halluzinntionen im Fieberdelirium einer- 
seits und die gleichzeitige Verwirrtheit im Denken anderseits sei bewiesen, daB 
eine Ubererregung des Sinneszentrums eine Untererregung des Vorstellungs- 
zentrums zur Folge habe. Er fiihrt also die Verwirrtheit auf eine Untererregung 
im Vorstellungszentrum zuriick. Ganz abgesehen davon, daB man Denken nicht 
einfach gleich Vorstellen setzen kann, weist Riilf mit Recht darauf hin, daB gerade 
das von Goldstein selbst gew&hlte Beispiel zeige, auf wie schwachen FiiBen die 
ganze Theorie stehe; denn die Verwirrtheit des Deliranten kann doch hochstens 
durch eine abnorme Ubererregung imd nicht Untererregung erklart werden. 

Kahlbaum glaubt, Halluzinationen konnten sowohl durch primtire Erre¬ 
gung der Sinnesregion als auch durch Reize vom Vorstellungszentrum her ent¬ 
stehen. Aber auch diese Theorie erklart neben so manchem anderen nicht das 
Entstehen der Pseudohalluzinationen. Kraepelin, ein Anhfinger dieser Anschauung. 
sucht sie folgendermaBen zu erklaren: Ist das Sinneszentrum nicht erregt, aber 
der vom Vorstellungszentrum kommende Reiz (Reperzeption) sehr stark, so ent¬ 
stehen Vorstellungen von abnormer Sinnlichkeit (Pseudohalluzinationen). Befindet 
sich die Sinnesregion von vornherein in abnormer Erregung und ist die Reper¬ 
zeption sehr schwach, so resultiert eine echte Halluzination, als Grenzfall eine 
Perzeptionshalluzination, wenn namlich die Reperzeption gleich Null ist. Riilf 
fragt mit Recht: Sollte nicht gerade das Umgekehrte wenigstens die Pseudo- 
halluzination besser erklaren? Das Wesentliche an dieser ist doch die abnorme 
sinnliche Deutlichkeit, und diese kann ihr im Sinne dieser Autoren doch nur 
durch eine moglichst starke Erregung des Sinneszentrums werden. 

Diese Ausfiihrungen zeigen geniigend, daB keiner dieser Autoren eine Formel 
gewinnt, nach der alle Halluzinationsformen eine befriedigende Erklarung fin- 
den, selbst wenn man einmal das, was sie als zentrale Disposition deuten, ohne 
ihre Deutungen durch Tatsachen erharten zu kdnnen, kritiklos akzeptiert. Doch 
noch ein Wort zu diesen zum groBten Teile rein hypothetischen Voraussetzungen. 
Alle operieren mit dem Begriff der Lokalisation von Sinnes- und Vorstellungs- 
tatigkeit. Was wissen wir dariiber? Wundt glaubt, daB urspriinglich alle Teile 
ties Gehirns indifferent wfiren und erst durch die Tatigkeiten spezifiziert wiirden. 
Er stiitzt sich dabei auf die Evolutionstheorie und auf die Erfahrung, daB ver- 
letzte Rindengebiete in ihrer Funktion allmiihlich durch andere ersetzt werden. 
Andere geben eine gewisse Differenzierung der Gehimspharen zu, glauben aber, 
daB eine bestimmte Abgrenzung nicht vorliegt, sondem daB dasselbe Sinnes¬ 
zentrum sich in verschiedene Gebiete erstreckt. Immer mehr setzt sich Flechsigs 
Anschauung durch, nach der den spezifischen Sinneswahmehmungen auch eigene 
Gehimspharen, wenn auch nicht mit mathematischer Bestimmtheit und Begren- 
zung entsprechen; nach der auch den inneren Wahmehmungen, die von Ge- 


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dachtnis und Phantasie erzeugt werden, bestimmte Rindenbezirke — Assozin- 
tionszentren — zukommen. So sehr fiir diese Auffassung die Ffille von Seelen- 
blindheit und -taubheit usw., die Embryologie und vergleichende Anatomie 
sprechen, so glauben doch Forscher wie Ranke und Lob, dab noch niclits Sicheres 
iiber die Lokalisation gesagt werden konne. Fine andere Ansicht, die noch von 
Philosophen und auch Physiologen vertreten wird, lautet: Wenn es auch auf 
Grand phvsiologischer Tataachen feststeht, dab die Sinne ohne Verbindung mit 
dem Gehirn ihre Funktion nicht verrichten konnen, so sind doch nicht gewisse 
Rindenregionen als eigentliche oder einzige Statten der Empfindung aufzufassen. 
Die peripheren Sinnesfliichen sind auch oder vielmehr die einzigen Statten der 
Empfindung. So sagt der Philosoph und Physiologe Rohmer: „Nichts finde icli 
in den physiologischen Lehrbiichem sinnverwirrender, als die Retina als das 
Organ der Gesichtsempfindung genannt und daneben die Behauptung zu horen, 
es seien doch eigentlich die Gehirnganglien das empfindende Organ. So sehr 
sind hier alle exakten Begriffe abhanden gekommen, dab man gar nicht iuehr 
inerkt, wie man in diesen beiden Darstellungen zwei grandverschiedene Behaup- 
tungen vor sich hat, von denen jede ganz verschiedene Anforderangen an eine 
Theorie der Sinneswahrnehmungen" (und auch der Halluzinationen) „stellen 
mub.“ Die Vertreter dieser Ansicht stiitzen sich auf die Tatsache, dab Knochen- 
fische keine Gehirnrinde besitzen, aber eine der unsem fthnliche Netzhaut, die 
Gesichtsempfindungen also im Organ selbst stattfinden miissen. Femer stiitzen 
sie sich auf das Zeugnis des Bewubtseins, das das Sehen ins Auge, das Schmecken 
in den Mund und nicht ins Gehirn verlegt. An die von Lotze aufgestellte Theorie 
der Lokalzeichen, die diese psychische Lokalisation der Empfindung erkliiren 
soil, vermogen diese Autoren nicht zu glauben. Es soil hier nicht der Wert oder 
Unwert der verschiedenen Ansichten dargetan werden. Es sollte nur darauf 
hingewiesen werden, wie sehr noch die Ansichten iiber die Lokalisation von 
Wahrnehmungen und Vorstellungen auseinander gehen. Wenn aber noch nicht 
einmal diese Grundfrage eindeutig beantwortet werden kann, so ist. es sicherlioh 
verfehlt, sich auf eine bestimmte Auffassung beziiglich der physiologischen Ver- 
haltnisse in den verschiedenen Rindenzentren festzulegen; dem einen fiir ge- 
wohnlich eine hohere Ansprechbarkeit zuzuschreilien als dem andern oder eine 
andere Erregungsform oder fiir die verschiedenen LeitungBrichtungen verschiedene 
Leitungswiderstande anzunehmen. Es liegt bisher nicht die geringste Veran- 
lassung dazu vor, die gegenseitige Beeinflussung der Gehirnganglien in irgend- 
einer Weise einzuschranken, es sei denn, uni eine Theorie zu konstruieren, die 
doch nicht ihren Zweck erfiillt. 

Fest steht nur: Halluzinationen entstehen in der Gehirnrinde, wenn dort 
anormale Verh&ltnisae herrschen. Die Erregung des peripheren Sinnesapparates 
ist nicht notig. Sinnes- und Vorstellungszentren sind bei dem Zustandekommen 
der Halluzination initbeteiligt. Vorstellungen und Wahrnehmungen kommen 
nur zustande, wenn die beiden Regionen funktionsfahig sind; wie sie auf Grand 
der physiologischen Vorgiinge in diesen Regionen entstehen, ist nicht restlos 
erklarbar. Nicht zu erkliiren ist, wie Vorstellungszentrum und .Sinnessphare zu- 
sammenarbeiten, wie der psychisclie Gehalt der Halluzination zu sinnlicher Deut- 
lichkeit und l^eibliaftigkeit kommt. Der tiefste Grand fiir die Unzul&nglichkeit 
all dieser Theorien liegt in der Unmoglichkeit, den psychischen Gehalt der Hallu¬ 
zination aus somatischen Verhftltnissen zu erkliiren, und wie wenig Aussicht 
besteht, dieses Unniogliche jemals moglich zu machen, moge uns Dubois-Reymond 
sagen: „Durch keine zu ersinnende Anordnung oiler Bewegung materieller Teil- 
chen liibt sich eine Briicke ins Bewubtsein schlagen. Bewegung kann nur Be¬ 
wegung erzeugen <Kler in potentielle Energie zuriick sich verwandeln. Potentielle 
Energie kann nur Bewegung erzeugen, statisches Gleichgewicht erhalten. Druck 


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Zur Frage der Halluzinations-Theorie. 


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oder Zug iiben. Die Summe der Energie bleibt daher stets dieselbe. Mehr ala 
dieses Geaetz bestimmt, kann in der Korperwelt nicht geschehen, auch nicht 
weniger. Die mechanische Uraache geht rein auf in der mechaniBchen Wirkung. 
Die neben den materiellen Vorgftngen im Gehim einhergehenden geistigen Vor- 
gange entbehren fiir unseren Verstand des zureichenden Grundes. >Sie stehen 
auBerhalb des Kausalgesetzes, und darum schon Bind sie nicht zn verstehen.“ 
Da sich Halluzinationen nicht nervenphysiologisch in dem Sinne erklftren 
lassen, wie man etwa Atmung und Verdauung auf Grund der physiologischen 
Verhaltnisse im Respirations- und Intestinaltraktus erklftren kann, begniigt man 
Bich vor allem in neuerer Zeit mit einer psychologischen oder psycho-patholo- 
gischen Deutung. Man versucht darzutun, welcher von den psychiBchen Vor- 
gangen und in welcher Weise dieser abgeftndert sein muB, damit eine Halluzina- 
tion resultiert. DaB liier der Widerstreit der Meinungen ungleich groBer ist ala 
bei den Theorien, die auf dem eben erorterten Erklftrungsprinzip beruhen, ergibt 
sich aus der Natur der Methode, auf die die Psychologen bei der Zusammen- 
fassung ihres Tatsachenmaterials unter allgemeinen Gesichtspunkten angewiesen 
sind. Das Material wird den Psychologen durch das BewuBtsein geliefert. Dieses 
bietet aber immer nur fertige und einfache Tatsachen. Nichts von den einzelnen 
Faktoren, die einen bestimmten BewuBtseinsinhalt bedingen, nichts von der Art, wie 
diese zusammenwirken, meldet das BewuBtsein. Auf Grund dieses Sachverhaltes 
ist man auf die sogenannte genetische Methode angewiesen. Man leitet aus den 
einfacheren BewuBtseinsinhalten das Zustandekommen der komplizierteren her. 
Da sich aber der gesamte BewuBtseinsinhalt so nicht erklftren lfiBt — die ein- 
fachsten Inhalte, oft Empfindungen gcnannt, sind nicht aus den sie begleitendeu 
Nervenfunktionen zu erklftren, die Gedanken sind nicht lediglich das Resultat 
zusammenwirkender Empfindungen —, muB die Psychologie immer die Resultat© 
der Metaphysik zur Erklftrung heranziehen. Aus dieser Abhftngigkeit von der 
Metaphysik resultiert die Mannigfaltigkeit in den Versuchen, Halluzinationen 
psychologisch zu erklftren. Da es nicht unsere Absicht sein kann, die einzelnen 
philosophischen Systenie auf ihre Richtigkeit zu priifen, kdnnen wir auch darauf 
verzichten, zu den einzelnen hierher gehorenden Theorien Stellung zu nehmen. 
Wir wollen uns darauf beschrftnken, im Zusammenhang dasjenige anzufiihren. 
was von seiten der Psychologie zur Klftrung des Halluzinationsproblems gesagt 
werden kann. 

Halluzinationen sind Vorstellungen, die auf Grund abnormer Betatigung 
psychischer Vermogen sinnliche Deutlichkeit und Leibhaftigkeit annehmen. Vor¬ 
stellungen sind Reproduktionen von Sinneswahrnehmuagen, ohne daB deren 
Objekt noch gegenwartig ist und unsere Sinnesapparate reizt. Goldstein glaubt 
bewiesen zu haben, Sinneswahmehuiungen und Vorstellungen seien prinzipiell 
gleiche psychische Phftnomene und folgert daraus: ,,Halluzinationen sind in jeder 
Beziehung den Walirnehmungen gleiche psychische Vorgftnge 14 . Beide, Vorstel- 
lung und Wahrnehmungstatigkeit, sind aber real verschieden: eretens weil ihr 
Formalobjekt verschieden ist, d. h. die Art, wie sie ihr Materialobjekt auffassen, 
dieser Priifstein fiir die spezifische Identitftt oder Verschiedenheit von psvchi- 
schen Akten und Kraften. Die ftuBeren Sinne nehmen ihre Objekte nftmlich 
immer als wirkliche, leibhaftige, im objektiven Raum liegende wahr. Es ist das 
transzendente, logische Moment, durch das sich der Wahmehmungsakt wesent- 
lich von dem Vorstellungsakt unterscheidet, der seine Objekte als unwirkliche, 
bildhafte, im subjektiven Raum liegende auffaBt. Goldstein hat nicht recht, 
weim er glaubt, die unmittelbare Beziehung auf die AuBenwelt l&ge nicht im 
Wahmehmungsakt selbst, sondem sei die Wirkung eines sich anschlieBenden, 
blitzschnell vollziehenden SchluBverfahrens, das sich stiitze auf die Gesamtheit 
unserer friiheren und augenblicklichen, inneren und ftuBeren Erlebnisse. Woher 
Archiv fUr Psychiatric. Bd. 67. 46 


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soli iiberhaupt der Begriff des AuBenseins kommen, wenn nicht durch den Wahr- 
nehmungsakt als solchen? Goldstein will dock nicht den fundamentalen Satz 
umstoBen: Nihil est in intellectu quod non prius fuerit in sensu. Das Formal- 
objekt beider psychischer Ttttigkeiten unterscheidet sich aber auch insofem, als 
die Vorstellungstatigkeit die Qualitaten aller iiuBeren Sinne erf as sen kann, wah- 
rend diese auf ganz bestimmte angewiesen sind; das Auge auf die Farbe. das Ohr 
auf die Tone, die Nase auf den Geruch usw. Beide unterscheiden sich aber auch 
vor dem BewuBtsein. Vor ihm sind sie so real verschieden wie Ursache und Wirkung. 

Wie entstehen nun normalerweise Vorstellungen ? Alles, was sich eirnnal 
im BewuBtsein abgespielt hat, hinterlaBt ein Residuum. Ob wir diese mit Her- 
bart als die im UnterbewuBtsein fortdauernden, ehemals bewuBten Akte selbst 
oder als latente psycho-physische Dispositionen auffassen miissen, soli bier dakin- 
gestedt bleiben. Vermittels der Reproduktionsfahigkeit des Gedachtnisses und 
der Phantasie treten diese Residuen wieder ins BewuBtsein. Die Reproduktion 
kann spontan oder willkiirlich verlaufen. Die spontane vollzieht sich, indem ein 
momentaner BewuBtseinsvorgang einen friiheren weckt durch die Beziehung. 
in der er zu diesem steht. Diese Beziehung kann eine raumlich-zeitliche oder die 
der Ahnlichkeit und Unahnlichkeit oder eine logische sein. Die willkiirlicke Re¬ 
produktion folgt densell>en Gesetzen der raumlich-zeitlichen und Ahnlichkeits- 
assoziation oder der logischen Verkniipfung wie die spontane, nur vollzieht 
sie sich auf Veranlassung des Widens hin, auflerdem stlitzt sie sich 
auch mehr auf die logische Verbindung. Normalerweise verlauft die Vor¬ 
stellungstatigkeit in harmonischer Wechselwirkung mit den anderen psychischen 
Akten. Das reflexe SelbstbewuBtsein und die davon abhangige freie Willens- 
bestimmung liemmen die spontane Phantasietatigkeit. Gemiitsbewegungeu, 
worunter wir den gesamten Komplex von Gefiihlen, Trieben, Neigungen, Stim- 
mungen, Interessen, Affekten, Leidenschaften verstehen, regen sie an. Stark 
gefiihlsbetonte Vorstellungen und Wahrnehmungen regen unsere Phantasie auf. 
So 16Bt ein schauerliches Erlebnis sie oft noch nicht im Schlafe zur Ruhe kom- 
men. Auch uncharakteristische Wahrnehmungen, monotone Gerausche, ver- 
schwommene Wolken und Nebelgebilde regen unsere Gefiihle und mittelbar die 
Phantasie an, weil diese den Verstand und Willen kaum zur Betatigung veran- 
lassen. Insofern ist der Wegfall von Wahrnehmungen im Schlaf mit eine Ur¬ 
sache zum Zustandekoinmen des Traumes, da Verstand und Wide keine Betati¬ 
gung finden, und die spontan sich entwickelnden Gefiihle und Vorstellungen 
die Szene beherrschen. Kehren wir nach dieser etwas eingehenderen Betrachtung 
des normalen Vorstedungsverlaufes zum Halluzinationsproblem zuriick. Will 
man von seiten der Psychologie eine auf alle Haduzinationsformen anwendbare 
Fonnel aufstellen, so kann man auch nur ganz allgemein sagen: „lst die normale 
Wechselwirkung zwischen den psychischen Akten zugunsten der Phantasie ge- 
stort, so besteht eine psychische Disposition fiir die Umwandlung einer Vor- 
stellung in eine Halluzination.“ Wie im Einzelfalle die psychische Konstellation 
ist, wodurch die starke Betonung einer bestiminten Vorstellung, die sie zur Hal- 
luzination verdichtet, entsteht, kann nicht immer angegeben werden. Indes 
zeigen die gleich anzufiihrenden jjsychologischen Erfahrungen, daB sie meistens 
erfolgt durch die Verkniipfung von Vorstellung mit einem das ganze BewuBtsein 
ausfiillenden Gefiihl, wodurch gleichsam reflexe Selbstbesinnung und freier Wide 
zur Unt&tigkeit und Abh&ngigkeit verurteilt werden. 

1. Kinder. Frauen und Kiinstler werden in weit hoherem Grade von Ge- 
fiikl und Phantasie beherrscht als Erwachsene, Manner und Gelehrte, bei denen 
.Verstand und Wide den spontanen Verlauf jener mehr ziigeln. Nun steht es 
fest. daB die Vorstellungen jener durchschnittlich eine groBere sinnliche Leb- 
haftigkeit aufweisen als die Vorstellungen dieser. Infolge der unbeherrschten 


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Zur Frage der Halluzinations-Theorie. 


701 


Phantasie falscht das Kind seine Beobachtungen, ha.lt es Einbildungen fiir Wirk- 
lichkeit, belebt es seine Puppen (Kapitel der Kinderluge). Gerade von phantasie- 
tiichtigen Kunstlern wird berichtet, daB sich unter dem EinfluB der Phantasie 
ihre Vorstellungen in Halluzinationen verwandelt haben. Tieck soil eine Hallu- 
zination gehabt haben, als er in freudiger Erwartung seiner Braut entgegen ging; 
Goethe bei seinem aufregenden Ritt nach Sesenheim. 

2. Lebhafte Phantasietfttigkeit verstarkt das illusionare Element, das sich 
schon in unsern normalen Wahmehmungen mehr oder weniger findet. Die Ver- 
liebte sieht ihren Br&utigaiu anders aLs die Unbeteiligte, und die Verschmfihte 
wieder anders als diese beiden. Der Angstliche halt im Dunkeln ein weiBes Tuch 
fiir ein Gespenst (Erlkonig). Nun verwirft man in neuerer Zeit die von Esquirol 
gemachte scharfe Trennung der Illusionen von Halluzinationen ( Starring und 
Dyroff). Riilf sieht in jeder Illusion ein halluzinatorisches Element. Uhthoff 
berichtet von Fallen, bei denen anfangs Illusionen bestanden, falsche Deutungen 
von Glaskorpertriibungen, die dann in komplizierte Halluzinationen iibergingen. 
Engel, Menschen, die bei einer Patientin auch auf dem enuclliierten Auge hallu- 
ziniert worden. Nach Fauser haben beide dieselbe Genese: „Uberall wo die aktive 
geistige Tatigkeit und das Gefiihl davon zeitweise, bei stiirkeren Affekten, oder 
dauernd, bei Dementia praeeox, zurucktritt, werden die assoziativen Funktionen 
uber die apperzeptiven iiberwiegen und wird ein entsprechend groBerer Teil der 
subjektiven psychischen Prozesse den Charakter rein passiver Erlebnisse anneh- 
men, der sie damit mit dem auBeren WahrnehmungsprozeB auf eine Stufe stellt, 
und so inneren Erlebnissen die Bedeutung von auBeren Wahmehmungen, von 
Ninnestauschungen verleihen kann.*‘ Auch Jaspers , der wohl am scharfsten den 
Unterschied zwischen Halluzination, Pseudohalluzination und Illusion betont, 
bezweifelt, ob dieser auf die Dauer aufrechterhalten werden kann. „Vorlaufig 
gebrauchen wir ihn (Unterschied) noch als Werkzeug zur Charakterisierung der 
I’hanomene, und vielleicht wird auch gerade in der Opposition zu ihm die Be- 
obachtung der Sinnestauschungen, die schon lange nichts Neues gebracht hat, 
angeregt.“ 

3. Wie rasch die Umwandlung des Vorstellungscharakters in den Wahr- 
nehmungscharakter sich vollzieht, sobald die Phantasie und die Gefiihle nicht 
mehr so stark der Kritik der Vernunft und dem EinfluB des Willens unterliegen, 
zeigen die hypnagogen Halluzinationen und Traume. Im Traume wirft sich die 
Phantasie zur Beherrscherin unserer Seelenkriifte auf und beeinfluBt sie nuch 
den rein psychologischen Gesetzen der Assoziation, der Ahnlichkeit und Un- 
iihnlichkeit, der r&umlichen und zeitlichen Verkniipfung. Nebenbei sei bemerkt, 
daB auch beim Traume jene zentrale Disposition vorhanden ist, die wir oben 
fiir das Zustandekommen : der Halluzination fiir notig erachteten. Worin sie aller- 
dings bestehe. wissen die Physiologen auch hier nicht genau anzugeben. Preyer 
sieht sie gegeben in der Anhfiufung von Eimiidungsstoffen, von Kohlen- und 
Milchsiiure im Gehirn. Mosso in Turin hat mittels einer Wage nachgewiesen, 
daB die Gehimrinde im Schlafe weniger Blut enthfilt. Parkinje nimmt an: die 
einzelnen Rindenzellen verloren beim Einschlafen den gegenseitigen Kontukt 
durch Verkiirzung ihrer Ausluufer. Salmon in Florenz sieht die Ursache des 
Schlafes in einer vermehrten Bromausscheidung der Hyjx>physe. WiUems meint, 
tier primare Faktor sei der Wegfall der Sinneswahrnehmungen, der dann die 
eben aufgezkhlten physiologischen Faktoren ausloste, die wohl alle beim Zustande- 
kommen des Schlafes initwirkten. Welches auch immer die physiologischen Yer- 
hiiltnisse der Hirnrinde wahrend des Schlafes und Traumes sind, es ist schon 
wertvoll genug, daB wir wisesn, daB es andere sind als im Wachzustande. Die 
Streitfrage, ob Triiume Illusionen oder Halluzinationen sind, verliert an Bedeu¬ 
tung, sobald die strenge Scheidung zwischen diesen nicht mehr aufrecht ge- 

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702 


Knichcl: 


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halten werden kann. Die Tatsache, daB wir im Traume manchnial wissen, daB 
wir traumen, also ein richtiges Realitatsurteil fallen, weist auch auf die prin- 
zipielle Gleichlieit von Traum und Halluzination hin; beide wachsen auf dem 
Boden derselben psychischen Disposition. 1st die Verstandestatigkeit bei beiden 
gleich Null odcr steht sie ganz im Dienste der Phantasie, so ist ein Erkennen 
der Subjektivitat der Traume und Halluzinationen ausgeschlossen; hat sie sicli 
aber noch eine gewisse Kraft und Selbstandigkeit bewahrt, so werden diese als 
subjektive Phanomene erkannt, ohne daB sie deshalb ihre Leibhaftigkeit einzu- 
biiBen brauchen. Worauf diese Leibhaftigkeit beruht, ist, wie schon oben be- 
tont, nicht zu erweisen. Das BewuBtsein sagt uns nicht, von der Tatigkeit welchen 
Nerventeiles es abhangt. 

Die prinzipielle Gleichheit von Traumen und Halluzinationen, die Berechti- 
gung der Auffassung, daB eine der Beeinflussung von Verstand und Wille ent- 
zogene Vorstellung sinnliche Deutlichkeit und Leibhaftigkeit annehmen kann, 
erweisen sehr deutlich die Verhiiltnisse im kiinstlichen Schlaf, der Hypnose, vor 
allem die posthypnotischen Halluzinationen und der der hypnotischen Lethargie 
und Katalepsie sehr ahnliche Zustand der Hysterie. Von Bedeutung ist, daB in 
diesen Zustanden das BewuBtsein nicht so stark verandert ist wie im Schlafe. 
Die Hypnotisierten und noch mehr die Hysterischen wissen von dem, was in 
ihnen und um sie vorgeht, wenn auch nicht in dem MaBe wie ein Normaler. Nur 
ihr reflexes SelbstbewuBtsein und die von ihm abhangige freie Willensbestim- 
mung ist mehr oder weniger abgeschwiicht. Die Phantasie beherrscht die Innen- 
welt und ihr organisches Korrelat, die Gehirnrinde. Was die Phantasie auf GeheiB 
des Experimentators oder sonstigen Faktors vorstellt, wird mit Hilfe des Ner- 
vensystems verwirklicht. Ein wirklich einwirkender Schmerz wird nicht gefiihlt, 
ein wirklich vorhandener Mensch wird nicht gesehen, oder umgekehrt: nicht 
Vorhandenes mit sinnlicher Deutlichkeit und Leibhaftigkeit wahrgenommen. 
„Binet suggerierte einer Person, sie werde beim Erwachen einen anwesenden 
Herrn nicht sehen. Aus der Hypnose erweckt, sah sie den Herrn tatsfichlich 
nicht, obwohl er vor ihr stand. Als sie in ihr Zimmer zuriickkehren sollte, stellte 
der Herr sich zwischen sie und die Tur; sie stieB auf ihn, ohne ihn zu sehen und 
erfuhr nur einen unbegreiflichen Widerstand. Man nahin einen Hut vom Tisch, 
lieB die Person diesen sehen und fiihlen und setzte ihn dem Herrn auf den Kopf. 
Die Versuchsperson sah diesen gleichsam in der Luft schweben (Willems)." Als 
Gegenstiick dieser negativen Halluzination ein Beispiel von einer positiven. 
Janet berichtet von drei hysterischen Personen, die im Wachzustande unmittel- 
bar jede Halluzination erleben. Der einen sagte er, ein Elefant sei ins Zimmer 
getreten. Sofort geht sie ihm aus dem Wege, um ihm Platz zu machen, reicht 
ihm Brot, damit er es mit dem Russel fasse. 

4. Auch die Hiiufigkeit der Halluzinationen nach Haschisch- und Opium- 
genuB, bei Alkohol-Affekt- und paranoiden Psychosen, der Charakter der west- 
falischen und schottischen Hellseher sprechen fiir die hier gescliilderte psycho- 
logische Deutung des schwierigen Problems. 

Es wird nun noch von cinigen seltenen Fallen berichtet, bei denen gerade 
durch einen besonders intensiven Willensakt Vorstellungen groBere Sinnlichkeit 
und sogar Leibhaftigkeit erlangt haben. Goethe erziihlt, daB er sich willkiirlich 
eine Blume vorstellen konnte, so daB diese Bild, Gestalt und Farbe bekam. Leo¬ 
pold Schefer konnte Tone jedes Instrumentes willkiirlich horen. Die schon er- 
wahnte Patientin Uhthoffs vermochte willkiirlich ihre friiheren Halluzinationen 
zu erneuem. Man hat vielfach bestritten, daB es sich in diesen Fallen um echte 
Halluzinationen handele, oder wenigstens nicht zugegeben, daB sich die Vor¬ 
stellung unter dem Einflusse des Willens zur Halluzination umwandelte. Gerade 
der Fall Uhthoffs laBt auch folgende Deutung zu: der Wille regte, seiner normalen 


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Zur Frage der Halluzinations-Theorie. 


703 


F&higkeit entsprechend, die Vorstellung, die schon oft halluziniert wurde, an. 
Einmal ins BewuBtsein getreten, erhiilt sie wieder ihre abnorme Gefiihlsbetonung 
und wird so zur halluzinatorischen Wahrnehniung. Doch wodurch die Vorstellung 
auch in dem einzelnen Falle ihre anormale Intensitat erhalt, in der allgemeinen 
Fassung kann der Satz aufrechterhalten werden: Eine psychische Disposition 
fur das Zustandekommen von Halluzinationen ist gegeben, sobald die normale 
Wechselwirkung zwischen den verschiedenen BewuBtseinsakten zugunsten der 
Vorstellungskraft gestort ist. Das klingt sehr allgemein und nichtssagend. Aber 
mehr kann nicht behauptet werden, wenn es fur alle vorkommenden Halluzina¬ 
tionen giiltig sein soil; denn wie will man es z. B. erldfiren, daB mancher Hallu- 
zinant durchaus kein abnormes psychisches Verhalten an den Tag legt, keine 
Abschwachung der Urteils- und Willenskraft, keine gesteigerte Phantasietatig- 
keit aufweist; daB der aus der Hypnose Erwachte sich genau so normal verhiilt 
wie vor dem Experiment; und doch driingt sich plotzlich zu der vom Hypnotiseur 
bestimmten Zeit eine bestimmte Vorstellung, an die die Versuchsperson unter 
Umstanden wahrend der ganzen Zeit nicht im geringsten gedacht hat, init der- 
artiger Intensitat ins BewuBtsein, daB sie zur Halluzination wird. Wo kommt 
diese Intensit&tssteigerung her? Warum tritt sie in dem bestimmten Augen- 
blick auf? Mit anderen Worten: Die Psychologie ist nicht imstande anzugeben, 
welche psychische Konstellation, welches Intensit&tsverh&ltnis unter den zahl- 
losen, bewuBten und unbewuBten, sinnlichen und geistigen Elementen unserer 
Seele bestehen muB, damit sich eine bestimmte Vorstellung zur Halluzination 
verdichtet, ebensowenig wie die Physiologie angeben kann, wie die Gehimatome 
gelagert sein miissen, damit eine Halluzination von bestimmtem Inhalt resultiert. 
Aber selbst wenn dieses letzte Ziel physiologischer und psychologischer Forschung 
erreicht ware, bliebe immer noch das groBe Rfitsel zu losen: Wie wirken Gehirn- 
rinde und Psyche zusammen? Warum geht die mechanische Ursache nicht rest- 
los auf in der psychischen Wirkung? Mit andem Worten: Es miiBte noch das 
tiefste aller Probleme, das der psycho-physischen Natur des Menschen gelost 
werden, ein Problem, von dem es im „Faust“ heiBt: Noch niemand konnt’ es 
fassen, wie Leib und Seel’ zusammen passen. So tief wie dieses Problem ist auch 
letzten Ende das Halluzinationsproblem, und so verschieden die metaphysischen 
Deutungen der Natur des Menschen, so mannigfach sind die Erklarungsversuche 
des psycho-physischen Phanomens der Halluzination. 


Literatur-Angabe. 

Bertschinger: Etwas iiber Halluzinationen. Allg. Zeitschr. f. Psychiatr. u. 
psych.-gerichtl. Med. 74. — Eakuchen: Uber halbseitige Gesichtshalluzinationen 
und halbseitige Sehstorungen. Inaug.-Dissert. Heidelberg 1911. — Earner: Aus 
der Psychologie der Sinnestiiuschungen. Arch. f. Psychiatr. u. Nervenkrankh. 49. 
— Grashey: t)ber Halluzinationen. Munch, med. Wochenschr. 1893. — Gold¬ 
stein: Zur Theorie der Halluzinationen. Arch. f. Psychiatr. u. Nervenkrankh. 
1911. — Hagen: Zur Theorie der Halluzinationen. Allg. Zeitschr. f. Psychiatr. u. 
psych.-gerichtl. Med. 25. — Herzig: Bemerkungen zu den bis jetzt vorgebrachten 
Theorien der Halluzinationen. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 1915. — 
Hoppe: Erklarungen der Sinnestauschungen. Wurzburg 1888. — Jaspers: Zur 
Analyse der Trugwahrnehmungen (Leibhaftigkeit und Realitfitsurteil). Zeitschr. 
f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. — Jaspers: Die Trugwahrnehmungen. Zeitschr. 
f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 1912. — Jendrassik: Uber die Entstehung der 
Halluzination und des Wahns. Neurol. Zentralbl. 1905. — Jolly: Beitrage zur 


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704 Knichel: Zur Frage der Halluzinations-Thcorie. 

Theorio der Halluzinationen. Arch. f. Psychiatr. u. Nervenkrankh. 4. •— Kan¬ 
dinsky: Zur Jjehre von den Halluzinationen. Arch. 1. Psychiatr. u. Nervenkrankh. 
1881. — Kandin«lcy: Kritische und klinischo Betrachtungen im Gebiete der Siu- 
nestkuschungen. Berlin 1895. — Kahlbautn: Die Sinnesdelirien. Allg. Zeitschr. f. 
Psychiatr. u. psych, -gerichtl. Med. 28. — Kratpdin: t v ber Trugwahrnehmungen. 
Vierteljahrsschr. f. wissensch. Philos. 5. — Kratpdin: Lehrbuch der Psychiatrie. 
5. Aufl. — Leubuseher: t'ber Entstehung der SinnestauBchungen. 1867. — Lotze: 
Medizinische Psychologie. 1859. — Loire nstein: Die Zurechnungsffihigkeit der 
Halluzinanten nach psychologischen Prinzipien beurteilt. Inaug.-Diss. Bonn 
1914. — Meyer: t)ber einseitige Halluzinationen. Inaug.-Diss. Leipzig 1896. — 
Niefil v. Mayendorf: Zur Theorie des corticalen Sehens. Arch. f. Psychiatr. u. 
Nervenkrankh. 89. — Redlirh: t v ber das Fehlen der Wahmehmung der eigenen 
Blindheit bei Geistoskranken. Jahrb. f. Psychiatr. u. Neurol. 29. — Ridf: Das 
Halluzinationsproblein. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 1914. — Sander: 
Sinnestauschungen. Real-Enzykl. Eulenberg. 18. — Schirmer: Subjektive Licht- 
empfindung bei totalem Verlust des Sehvcrmogens durch Zerstorung der Rinde 
beider Hinterhauptslapjien. Inaug.-Diss. 1905. — Schroder: Von den Halluzina¬ 
tionen. Monatsschr. f. Psychiatr. u. Neurol. 1915. — Sokolow: Die experimentelle 
Auslosung der Gesichtshalluzination durch periphere Reize. Arch. f. Psychiatr. 
u. Nervenkrankh. 55. — Spitzer: Psychologie und Gehirnforschung. Arch. f. 
Psychiatr. u. Nervenkrankh. 59. — Stertz: Zum Verstandnis der mangelnden 
Selbstwahrnehnningen der eigenen Blindheit. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychatr. 
1920. — Stocker: Zur Genese der Halluzinationen. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. 
Psychiatr. 50. — Uhthoff: Bcitrage zu den Gesichtshalluzinationen bei Erkran- 
kungon des Sehorgans. Monatsschr. f. Psychiatr. u. Neurol. 1899. — Willems: 
Grundfragen der Philosophic und Padagogik. 1. Aufl. — Wundt: Gnindzuge der 
physiol. Psychologie. 


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Biicherhesprechiiiigeii. 

W. Spielmeyer, Histopathologie des Nervensystems. 1. Bd. Allgemeiner Teil. 
Mit 316 zum groBen Teil farbigen Abbildungen. Berlin, Julius Springer, 1922. 
Grundzahl 36: geb. Grundzahl 39. 

Seit dem Erscheinen des leider Fragment gebliebenen Atlas der pathologisehon 
Histologie des Nervensystems und dem bekanntcn Handbuch der pathologischen 
Anatomie des Nervensystems fehlt es uns an einer umfassenden Darstellung der 
Histopathologie des Nervensystems. Diese Liicke wird durch das vorliegende 
Lehrbuch in gliicklicher Weise ausgefilllt. 

Spielmeyer beschert uns mit seiner Histopathologie ein ausgezeichnetes Werk. 
In der Einleitung werden Ziele und Wege der Histopathologie des Nervensystems 
umrissen. Der erste Abschnitt behandelt die pathologischen Verandcrungen an den 
einzelnen Gewebsbestandteilen des Nervensystems, der Ganglienzellen, Nerven- 
fasern, der Neuroglia imd des meftodermalen Gewebes. Der zweite Abschnitt ist 
den pathologisch-anatomischen Symptomenkomplexen gewidmet, den degenera- 
tiven Vorgangen, den zentralen Veranderungen infolge von Zirkulationsstorungen, 
der Entztindung und Regeneration. Jodem Kapitel ist ein Literaturverzeichnis bei- 
gegeben. Die einzelnen Abschnitte, von einem so grundliohen Kenner und Forscher 
der normalen und j»thologischen Histologie des Nervensystems, wie Spielmeyer, 
bearbeitet, gewinnen unter seiner klaren und eingehenden Darstellung Leben, mag 
es sich um reine Darstellung der Beschreibung oder um kritische Sichtung ver- 
schiedenartiger Befunde handeln. FUr alle, die sich mit diesem Arbeitsgebiet be- 
fassen, wird das Buch ein zuverlassiger Ratgeber und Ftihrer sein. Dali in der Dar¬ 
stellung die Probleme, die den Autor besondere interessieren. ausfiihrlicher be¬ 
handelt sind, ist begreiflich. 

Die mit Liebe ausgewahlten und besonders schon reproduzierten zahlreichen 
Abbildungen erleichtem die Lekttire und gewahren dem Betrachtenden einen GenuB. 

Vornehm ist die Ausstattung des ganzen Werkes, die ihm der Verlag hat zuteil 
werden lassen. 

Mit groBer Erwartung werden wir dem Erscheinen des speziellen Teils ent- 
gegensehen kdnnen. S. 

Theodor Kirchhoff, Deutsche Irrenarzte. Einzclbilder ihres Lebens und 
Wirkens, Herausgegeben mit Unterstiitzung der Deutschen Forschungsanstalt 
ftir Psychiatrie in Miinchen sowie zahlreicher Mitarbeiter. 1. Bd. Mit 44 Bild- 
nissen. Berlin, Julius Springer, 1921. Geb. Grundzahl 9. 

Das Werk ist auf Anregung Kraepelins entstanden. Dem Horausgeber Kirch- 
hoff, der die Hauptarbeit ubernommen hat und von dem eine grfiBere Anzahl Ab¬ 
schnitte stammen. standen zahlreiche Mitarbeiter zur Seite, von denen jeder 
einzelno ein oder mehrere Lebensbilder verfaBt hat. Der erste Band enthalt die 
Lebensschilderungen von 47 deutschen Irrenarzten, die gr6Btenteils Ende des 18. 
und in den ersten zwei Dritteln des 19. Jahrhunderts ihre Tatigkeit entfaltet ha ben, 
und von neun ihrer Vorl&ufer (u. a. Paracelsus, Peter Frank, Gall). Die Verfasser 
haben sich liebevoll in die individuelle Eigenart eines jeden einzelnen, in die Art 


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706 


Bucherbesprechungen. 


ihres Denkens und den Geist ihrer Tatigkeit versenkt. Neben bekannteren Daten, 
insbesondere liber Absonderlichkeiten und AuBwuchse auf therapeutischem Gebiet, 
enthalt das Buch eine Fiille interessanter Einzelheiten iiber die Macht der die 
Kopfe verwirrenden Naturphilosophie im Anfang des 19. Jahrhunderts, der sich 
nur wenige zu entziehen vermochten, und die friihzeitige klare Erkenntnis ein- 
zelner, die ihrer Zeit vorauseilten, ferner iiber die beginnende Wirkung der exakten 
Forschung in der Paychiatrie, schlieBlich iiber die Entwicklung des Anstaltswesens. 
Beaondera wertvoll ist die eingekende Erorterung der wissenschaftlichen Tatigkeit 
und Wirksamkeit der einzelnen Personlichkeiten, die auafiihrliche Besprechung 
ihrer groBeren Werke, die dazu beitragt, dab das Buch eine Art Entwicklungs- 
geschichte der deutschen Psychiatrie geworden ist. Die Entwicklung des Anstalts- 
wesens in den verschiedenen deutschen Landesteilen ist durch die Lebensschilde- 
rung der jeweils dort fiihrenden mid bahnbrechend wirkenden Irrenarzte jener 
Zeit besonders beriicksichtigt worden. Die durchweg fliissige Darstellung wird 
nur selten durch einige Langen in der Schilderung personlicher Erlebnisse einzelner 
gestdrt. Alles in allem liegt ein abgerundetes Werk vor, dessen hervorragende 
Ausstattung und Ausschmiickung mit zahlreichen bis dahin meist unbekannten. 
Bildern alter Irrenarzte besonders anzuerkennen ist. Eunge, Kiel. 

J. Varendonck, t'ber das vorbewuBte phantasierende Denken. Mit einem 
Geleitwort von Prof. Dr. J. Freud. Internal, psychoanalytische Bibliotbek. 
Bd. XII. Leipzig, Wien, Zurich, Internat. psychoanalytischer Verlag, 1922. 

Verfasser hat sich die Aufgabe gestellt, die Mechanismen des vorbewuBten 
phantasierenden Denkens aufzudecken. Er unterscheidet zwei Arten des Denkens: 
das logische Denken, das der Wirklichkeit entspricht und eine gedankliche Wieder- 
gabe von Verbindungen ist, die mis die Wirklichkeit bietet. Dieses arbeitet fUr die 
Mitteilung mit sprachlichen Elementen. Das vorbewuBte phantasierende Denken 
arbeitet muhelos, sozusagen spontan mit den Erinnerungen. Er beschaftigt sich 
ausschlieBlich mit den Tagtraumen Normaler, besonders seiner eigenen. Diese 
Phantasien nimmt er fast durchweg als durch Affekte aus dem VorbewuBten 
hervorgerufen an. Das willkurliche Denken steht hoher als das vorbewuBte, un- 
willkurliche, da bei ihm das Ich die Herrschaft iiber die Affekte besitzt. Im Tag¬ 
traumen sieht er ein bei alien menschlichen Wesen vorkommendes psychisches 
Phanomen, eine spatere Ausdrucksform eines primitiven Vorganges, den man bis 
in fruhe Zeiten der physischen Entwicklung zuruckverfolgen kann. Der unbewuBte, 
der vorbewuBte und der bewuBte Denkvorgang sind nur drei dem Grad nach ver- 
schiedene AuBerungen der gleichen Funktion. S. 

S. Ferencyi, PopulUre Yortriige iiber Psychoanalyse. Internat. psychoanal. 
Bibliothek. Bd. XIII. Leipzig, Wien, Zurich, Internat. psychoanal. Verlag, 1922. 

Diese Vortrage sind fur weitere Kreise bestimmt. In jedem, ob es sich um 
Traume, Suggestion, Kriminologie, Philosophie usw. handelt, wird die Psycho¬ 
analyse verherrlicht, durch die die GesetzmaBigkeiten und Mechanismen im un- 
bewuBten Seelenleben entdeckt sind. Zu den standigen Gepflogenheiten dieses 
Lobpreisers scheinen die Angriffe gegen die Vertreter der Psychiatrie zu gehoren, 
die die psychologischen Gesichtspunkte beim Studium der Geisteskrankheiten 
ganz vemachlassigt hatten. S. 

Stefan Hollds und S. Ferencyi, Zur Psychoanalyse der paralytischen Geistes- 
stdrung. Beihefte der Internat. Zeitschr. f. arztl. Psychoanalyse. Nr. V. 
Leipzig, Wien, Zurich, Internat. psychoanal. Verlag. 

Ein Versuch, um „zu erkunden, ob einiges von der Symptomatik der Paralyse 
mit Hilfe der Psychoanalyse verstandlich gemacht werden kann. Die Folgerungen,. 


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Biicherbesprechungen. 


707 


die gezogen werden, muten mehr als eigenartig an, so wird die manisch-groBen- 
wahnsinnige Phase der Paralyse angesehen als eine stufenweise Regression der 
narziBtischen Libido zu den tiberwundenen Ichentwicklungsstufen. Die Paralysis 
progressiva ist vom psychoanalytischen Standpunkte gesehen eigentlich eine 
Paralysis regressiva. Was hier iiber die Iohentwicklung, iiber den „Ichkern“ aus- 
gefiihrt wird, diirfte schwerlich auf allgemeine Zustimmung rechnen. S. 

L. Ldwenleld, Hypnotlsmus und Medizin. GrundriB der Lehre von der Hyp- 
nose und der Suggestion mit besonderer Beriicksichtigung der arztlichen 
Praxis. Miinchen u. Wiesbaden, J. F. Bergmann, 1922. Grundzahl 3; geb. 
Grundzahl 4. 

Lcwen j eld bringt in diesem Werk eine gute Darstellung der fiir den Arzt er- 
forderlichen Kenntnisse auf dem Gebiete der Hypnose und der Suggestion, immer 
in Hinblick auf ihre Verwertung fiir Heilzwecke. Ein besonderes Kapitel ist der 
Technik des Hypnotisierens gewidmet, es enthalt wichtige Ratschlage fiir eine 
kunstgerechte hypnotische Behandlung. Die Gefahren der Hypnose hatten viel- 
leieht eine starkere Hervorhebung verdient. S. 

Ernst Kretschmer, Korperbau und fharakter. Untersuchungen zum konsti- 
tutionsproblem und zur Lehre von den Temperaturen. Mit 32 Textabbil- 
dungen. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Berlin, Julius Springer, 1922. 
(Inzwischen erschien die 3. Auflage, Grundzahl 7,5; geb. Grundzahl 9.) 

Das schnell bekannt gewordene Buch Kretschmers, das ausfiihrlich im 
64. Bande S. 253 von Runge besprochen ist, liegt in 2. Auflage vor. 

Einzelheiten sind verbessert und erganzt, ohne grundsatzliche Anderungen 
vorzunehmen. Ein beachtenswerter Versuch, das alte Problem der Beziehungen 
zwischen Korperbau und Charakter einer Losung naher zu bringen. Inwieweit 
die herausgearbeiteten psychiatrischen Typen und die normalpsychologischen 
Temperamentstypen zu Recht bestehen, werden weitere Untersuchungen lehren 
miissen. S. 

J. H. Schultz, Gesundheitsschadigungen nach Hypnose. Sammlung zwang- 
loser Abhandlungen auf dem Gebiete der Xerven- und Gesichtskrankheiten. 
Xeue Folge. H. 1. Halle, Carl Marhold. 

Es ist verdienstlich, daB J. H. Schultz in dieser hypnosefreudigen Zeit auf die 
durch die Hypnose gesetzten Gefahren eindriicklich aufmerksam macht. Auf 
Grund einer Sammelrundfrage wird ein Material von 26 Allgemein- und Einzel- 
schtidigungen beigebracht. Fast das gesamte Material fallt der Laienschauhypno.se 
oder hypnotischen Laienzirkeln zur Last. • S. 

Berieht iiber die T&tigkeit des Deutschen Vereins zur Fiirsorge fiir jugend- 
liche Psychopathen und seiner Ortsgruppe GroB-Berlin vom 1. Juni 1919 
bis 31. Dezember 1920. 

Das Bestreben nach Einrichtungen zur Fiirsorge fiir jugendliche Psycho¬ 
pathen macht sich mehr und mehr geltend. Es ist daher wertvoll, einen Blick zu 
tun in diesen von der Geschaftsfiihrung (Ruth von der Leyen) herausgegebenen 
Berieht des Deutschen Vereins zur Fiirsorge fiir jugendliche Psychopathen. In dem 
Zeitraum vom 1. Juli 1919 bis 31. Dezember 1920 wurden der Ortsgruppe GroB- 
Berlin 390 Kinder iiberwiesen. Xachdriicklich werden als Forderungen fiir die all¬ 
gemeine Psychopathenfiirsorge drei Punkte vorangestellt: engste Zusammen- 
arbeit zwischen Arzt und Erzieher, Einheitlichkcit der arztlichen und der erziehe- 
rischen Fiirsorge. Es ist interessant zu lesen, wie sich die Ausgestaltung dieser 
Forderungen in der Praxis gestaltet. S. 


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708 


Bucher besprechungen. 


0. MonkeniOiler, Die geistigen Kranklieitszustande des K'ndesalters. Aus 

Natur und Geisteswelt 505. Leipzig-Berlin, B. G. Teubner. 

Das Buch erfiillt seine Aufgabe, in knapper und gemeinverstandlicher Form 
auch weiteren Kreisen einen Einblick in die abnormen peychischen Zustande und 
Vorgange des Kindesalters zu gewahrcn, in ausgezeichneter Weise. 3. 

Robert Lehmann, Leitladen zur Einfiihrung in das Gesundheits-Turnen. 

Dusseldorf, Druckerei und Verlag L. Schwann. 

Das mit Abbildungen versehene Heft will oine Anleitung geben, wie in Heil- 
statten, Erziehungsheimen, ldndlichen Krankenhausern usw. bei konstitutionell 
schwachen und krankheitsgefahrdeten Kindem, bei nervoeen und kraftigungs- 
bediirftigen Erwachsenen Leibesiibungen als Heilfaktor Verwendung finden sollen. 
Es bildet eine gute Handbabe fur alle Personen, die solche Turniibungen zu leiten 
haben. Einfiihrung in das Schulturnen ist sehr zu wiinschen. Auch die Bedeutung 
der Klappuchen Kriechiibungen in der Gesundheitsgymnastik wird hervor- 
gehoben. 


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Autorenverzeiclmis. 


Originalien. 

Abderhalden, Emil. Richtigstellung zu 
„Die Bedeutung der Abderhalden- 
schen Reaktion fiir Psychiatrie und 
Nervenkrankheiten nack dem keu- 
tigen Stande unserer Kenntnisse" 
von Max Kastan. S. 352. 

Berger, H. Otto Binswanger zura 70. 
Geburtstag. Vor S. 137. 

Daffner, Hugo. Zur Psyckopathologie 
der Konigsberger Mucker. S. 151. 

Fischer, Siegfried. Die sogenannten Be- 
wuBtseinsstorungen. Eine psycho- 
pathologische Untersuchung. S. 537. 

Ganter, Rudolf. t)ber die Dicke und das 
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