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Full text of "Archiv Für Kriminal Anthropologie Und Kriminalistik. V. 34.1909"

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ARCHIV 

FÜR 

KRIMINAL - ANTHROPOLOGIE 


KRIMINALISTIK 


MIT EINER ANZAHL VON FACHMÄNNERN 

HERAUSGEGEBEN 

VON 

Prof. ür. HANS GROSS 


VIERÜIDDREISSIGSTER BAND. 



LEIPZIG 

VERLAG VON F. C. W. VOGEL 
1909. 


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ARCHIV 

FÜR 

KRIMINAL - ANTHROPOLOGIE 

UND 

KRIMINALISTIK 

MIT EINER ANZAHL VON FACHMÄNNERN 
HERAUSGEGEBEN 


Prof. Dr. HANS GROSS 


YIERTODDREISSIGSTER BAUD. 



LEIPZIG 

VERLAG VON F. C. W. VOGEL 
1909 . 


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Inhalt des Yierunddreissigsten Bandes 


Erstes und zweites Heft 

ausgegeben 27. Juli 1909. 


Original-Arbeiten. Seite 

L Eine „Heilige“. Von Dr. Method Dolenc. (Mit 1 Abbildung) . I 
H. Fälle von Sadismus. Von Staatsanwalt Schildermair . . . . 12 
HI. Eifersucht als Triebfeder von Verbrechen. Drei Straffälle mitgeteilt 

von Dr. R. Ehmer, Staatsanwalt .16 

IV. Die Einwirkung von Volksparken auf die Kriminalität der Jugend. 

Von Dr. Ernst Schultze . . . . . ..32 

V. Über die gerichtsärztliche Beurteilung perverser Geschlechtstriebe. 

Von Dr. med. Heinrich Gräf .•.45 

VI. Befangenheit als Verdachfsgrund. Von Privatdozent Dr. jur. et phil. 

Hans Reichel . . . **.123 

VH. Ein Gedicht in Rotwelsch von Hoffmann v. Fallersleben (Leipzig 1843). 

Mitgeteilt von Dr. Jos. B. Holzinger.128 

V1H. Beiträge zum Auslieferungsrecht und Auslieferungsverfahren. Von 

Prof. Dr. Rosenblatt. 130 

Kleinere Mitteilung. 

Von Dr. H. Groß: 

Das Verfolgen von Fußspuren.180 

Zeitschriftenschau. ' 


Drittes und viertes Heft 

ausgegeben 16. September 1909. 

Original-Arbeiten. 

IX. Die Feuerbestattung vom gerichtsärztlichen Standpunkt. Von Dr. 


Ernst Stark.196 

X. Zur Frage der Feuerbestattung vom gerichtlichen Standpunkte. Von 
Hans Groß .238 

XI. Krankheit oder Laster? Von Dr. Fleischer.242 

XII. Eine kriminalistisch - chemische Untersuchung von Klebstoff. Von 

Dr. Hans Schöfer.251 

XHI. Beiträge zum Kapitel über sexuale Verirrungen. Von Staatsanwalt 

Dr. R. Ehmer.261 


XIV. Orientalische Strafrechtsstudien. Von Dr. Ladislaus v. Thöt . . 271 


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IV Inhaltsverzeichnis. 

Seite 

XV. Zur Verteidigung der Graphologie. Von Frau Magdalena 

Thumm-Kintz el.307 

XVI. Dunkle Linien in der Schrift und verwandte Erscheinungen. Von 

A. Delhougne. (Mit 4 Abbildungen).311 

XVII. Zur forensischen Würdigung der Bißverletzungen. Von Gerichtsarzt 

Dr. Marx und Medizinalrat Dr. Pfleger. (Mit 4 Abbildungen) . 332 

Kleinere Mitteilungen. 

Von Prof. Dr. P. Näcke: 


1. Seltsamer Selbstmordversuch.339 

2. Resultate der Besserungsanstalten.339 

3. Unempfindlichkeit durch Suggestion oder Ekstase.340 

4. Trinken von Blut zum Wahrsagen.341 

5. Über Echopathie.342 

6. Konjekturalethnologie, — anthropologie, überhaupt Konjektural- 

wissenschaft .343 

7. Heilung der Warzen durch Suggestion.344 

8. Echte und falsche Epilepsie.344 

9. Aufhören von Verbrechen durch suggestiv erzeugte Ideale . 345 

10. Über die „Hörigkeit“.345 

11. Schwängerung in erotischer Ekstase.347 

12. Beiträge zum „Zungenkusse“.347 

13. Die Päderastie als Kult- oder Ritualhandlung.34S 

14. Der Afterkuß.348 

15. Handlangerdienste der Kirche bei Verschlechterung der Rasse 349 

16. Penis-Fraktur als Racheakt.350 

17. Die Entwickelungsfähigkeit der Neger.351 

18. Die Art der Fürsorgezöglinge.355 

19. Neueres über Linkshändigkeit.356 

20. Medianität, Linkshändigkeit und Homosexualität.357 

21. Vom Alpdrücken.358 

22. Das angeblich Ähnlich-Werden zwischen den Gesichtern von Ehe¬ 
leuten und zwischen denen im hypnotischen Rapport Stehenden 358 

23. Vergraben von Exkrementen und einiges andere Skatologische 359 

24. Onanie aus Aberglauben.360 

25. Instinkt, Verstand und Nachahmung .360 

26. Die Prostituierte im Irrenhaus.361 

27. Platonische Prostituierte oder die „demi-vierges in praxi . . 362 

28. Eine charakterologisch wichtige Art von Lüge.362 

29. Die gemütliche Abstumpfung der Geisteskranken.364 

30. Weiteres zur Graphologie.364 

31. Einige Bemerkungen zum Aufsatz M. Thumm-Kintzel: „Zur Ver¬ 
teidigung der Graphologie“ auf Seite 307 . 366 

32. Bedeutende Gedächtnisleistungen.368 

Büch erbesprech ungen. 

Von Prof. Dr. P. Näcke: 

1. Otto Groß: Über psychopatische Minderwertigkeiten . . . 370 

2. Stokis: Recherches sur le Diagnostic M6dico-Legal de la mort 

par submersion.370 


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Inhal tsverzeichnis. 


V 

Seite 

3. R. Sauer: Klinik für psychische und nervöse Krankheiten 370 

4. Aronsohn: I. Oswald Aloing. Eine pathologische Studie zu 


Ibsens „Gespenstern“.371 

5. Wilhelm: Die rechtliche Stellung der (körperlichen) Zwitter, 

de lege lata und de lege ferenda.371 

6. Buschan: Menschenkunde.371 

7. Havelock Eiost: Mann und Weib .372 

8. Sommer: Klinik für psychische und nervöse Krankheiten . 372 

9. W. Camerer: Philosophie und Naturwissenschaft .... 373 

10. Ode brecht: Kleines philosophisches Wörterbuch .... 373 

11. Becher: Der Darwinismus und die soziale Ethik .... 373 

12. Joos: De „kuische Priesterschaar“ in de ncgentiende eeuw 373 

13. Platen: Het „Hofschandaal“ te Berlijn.373 

14. Freimark: Okkultismus und Sexualität.374 

15. Stockis: 1. Quelques recherches de police scientifique, 2. La 
dömonstration ä l’audience de Pidentitö de 2 empreintes digitales 374 

16. Abels: Alte und moderne Einbrecher.375 

17. Hans Fuchs: Eros zwischen euch und uns.375 

18. Darwin: seine Bedeutung im Ringen um Weltanschauung und 

Lebenswert.375 

19. Abels: Hoteldiebe. Feuilleton der Münchener Neuesten 

Nachrichten vom 8. Mai 1909 . 376 

20. Eltinger: Das Verbrecherproblem etc.376 

Von A. Abels: 

21. Dr. H. Brunswig: Explosivstoffe.376 

22. Dr. E. Kedesdy: Die Sprengstoffe.377 


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1 . 


Eine „Heilige“. 

Von 

Dr. Method Doleno, Graz. 
(Mit 1 Abbildung) 


ln Länderstrichen mit ausgesprochen frommer, glaubensstarker 
Bevölkerung, die fernab von der geräuschvollen Welt ihr Dasein fristet, 
wird die Volksseele von Zeit zu Zeit für den Glauben an die Mög¬ 
lichkeit eines unmittelbaren Verkehres zwischen einem schlichten Erden¬ 
wesen und dem Himmel besonders empfänglich. Äußere Erscheinungen 
sind es, die den Wahn an einen solchen Verkehr bei einem engen 
Kreise von Menschen auslösen; dringt aber einmal die Kunde hievon 
in die weite Welt, dann steigert sich der Wahn, je weitere Kreise 
ihm verfallen, an Umfang und Stärke ins Unermeßliche, ein Ziehen, 
Wandern, Pilgern zum „Gottbegnadeten“ hebt an, und — alsbald wird 
der Gottbegnadete zum — „Heiligen“! 

Im Herbste 1908 verbreitete sich in Innerkrain und den anstoßenden 
Gebieten rasch die Neuigkeit, eine „Heilige“ sei im Lande erstanden. 
Nicht zum ersten Male seit den letzten 2 Jahrzehnten. Eine „Heilige“, 
genannt die „verzückte Lentschka“, wurde vor mehr als 20 Jahren 
in der Reifnitzer Gegend (Unterkrain) von ihren Zeitgenossen be¬ 
wundert und verehrt; doch ist mir ihr endliches Schicksal heute nicht 
mehr erinnerlich. Ein anderer Fall war ein alter, würdiger Geistlicher; 
er lebte als Exposit von der Welt abgeschieden auf einem steilen 
Berge Unterkrains mit einer prächtigen Aussicht und stand Jahre 
hindurch im Rufe eines „Heiligen“. In meiner Studentenzeit, die ich 
in Unterkrain verbrachte, traf ich wiederholt Leute, die aus Kroatien 
kommend Kranke zu dem alten Geistlichen führten oder wenigstens 
zu dem Behufe zu ihm zogen, um sich von ihm verschiedene Gebrauchs¬ 
gegenstände, wie Brot, Papier (besonders grünes für Augenkranke) 
weihen zu lassen. Die geweihten Sachen wurden dann eiligst nach 
Hause getragen und von den Kranken verwendet. Viele sollen davon 
genesen sein . . . Anfangs der 90er Jahre starb er, ohne daß das 
Andenken an seine Taten ein nachhaltiges geblieben wäre. 

Archiv für Kriminalanthropologie. 34. Bd. 1 


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I. Method Dolenc 


Diesmal handelt es sich wiederum um eine „Heilige“. Das Pilgern 
zu ihr begann Anfangs Oktober 1908; Fremde ans Krain, Görz und 
andern angrenzenden Gebieten strömten in hellen Scharen herbei, so daß 
sich der Angelegenheit alsbald die Tagespresse von Laibach bemäch¬ 
tigte und die Behörden zur Steuer des vermeintlichen Unfugs anrief! 

Die Sache spielte sich in einer hügeligen, waldreichen, spärlich 
besiedelten Gegend ab, in einem Weiler zwischen Loitsch (4. Eisen¬ 
bahnstation von Laibach gegen Adelsberg zu) und der weltbekannten 
Quecksilberbergstadt Idria. Die dortige Bevölkerung, der Nationalität 
nach slovenisch, ist ungemein religiös, wie in Innerkrain überhaupt. 
Auf Sittlichkeit wird sehr viel gehalten und kaum irgendwo sind 
uneheliche Kinder eine solche Seltenheit wie hier. Ich entsinne mich 
aus meiner Jugendzeit, was für ein unliebsames Aufsehen, entstand, 
als eine Eeuschlerstochter in meinem Heimatsorte — einem Dorfe an 
der Grenze zwischen Innerkrain und Görz — eines unehelichen Kindes 
genesen war. Man hielt es für eine Schmach des ganzen Dorfes, das 
trotz seiner Einwohnerzahl von über 500 Personen seit Jahrzehnten 
so etwas nicht erlebt hat. Allerdings gibt es auch Innerkrainerinnen 
genug, die zu Falle kommen, wenn sie in die Fremde gegangen und 
auf der Suche nach dem Brot im großstädischen Getriebe untergetaucht 
sind. Allein nach der Bückkehr ins Heimatsdorf wird ein Mädchen 
das Mutter geworden, stets mit scheelen Augen betrachtet. Die Ab¬ 
neigung gegen die Gefallenen überträgt sich, ganz im Gegensätze zu 
den Verhältnissen in anderen Ländern, z. B. Kärnten, Salzburg, selbst 
auf ihre Kinder. Ja, vielfach wird diesen schon bei der Taufe — 
wohl über Einflußnahme der Geistlichkeit — ein Stigma fürs Leben 
aufgedrückt. Man gibt ihnen den Namen jenes Heiligen, der gerade 
auf den Geburts- oder Tauftag fällt, mag er noch so unvolkstümlich 
und exotisch klingen! 

Ich glaube, vorstehende Schilderung dieser Verhältnisse dürfte 
nicht unangebracht sein; etwas Einschlägiges finden wir nämlich bei 
unserer vermeintlichen Vermittlerin zwischen dem Himmels- und 
Erdenreiche. Sie wurde als uneheliches Kind ihrer damals im 33. Jahre 
stehenden Mutter Anna I. am 13. Oktober 1867 geboren. Man könnte 
wetten, daß sie am Tage der heiligen Theresia — 15. Oktober — 
getauft wurde; dies ist nämlich ihr Taufname. Ihre Mutter steht 
im 74. Lebensjahre, Theresia selbst im 41., also unzweifelhaft nicht 
mehr weit entfernt vom Klimakterium. 

Ob der Vater der Theresia I. je krank war, ob in seiner Familie 
irgendwelche Geisteskrankheiten aufgetreten sind, ist nicht feststellbar. 
Ihre Mutter hat jeden Kontakt mit dem Vater des Kindes verloren; 


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Eine „Heilige“. 


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sie weiß nicht einmal, ob er noch am Leben ist. Von den Verwandten 
der Mutter war niemand krank, sie sind alle von hohem Wüchse und 
kräftiger Konstitution. Als Kind hatte Theresia große Entbehrungen 
zu erleiden; ihre Mutter mußte als Tagelöhnerin für sich, fürs Kind 
und für ihren längst verstorbenen Vater aufkommen. Die Schule be¬ 
suchte Theresia nur ganz kurze Zeit, erlernte aber bei ihrer guten 
Begabung und ihrem großen Fleiße dennoch lesen und schreiben. 
Gesund war sie immer. Die Zeit des Eintritts der menses ist nicht 
feststellbar, sie kommen noch immer, stets regelmäßig und stark. Bis 
zum 19. Jahre diente sie als Magd. Da traf sie ein Unglück; sie 
kegelte sich den rechten Ellbogen aus und brach sich die linke 
Hand hinter der Faust. Nach ihrer Genesung mußte sie sich als 
Näherin durchbringen. Sie arbeitete meist in häuslicher Zurück¬ 
gezogenheit und war immer recht brav. Seither besserten sich auch 
ihre Vermögensverhältnisse. Doch blieb sie stets weltlichen Dingen 
abgekehrt, arbeitete fleißig und lebte gottesfürchtig. Ihre Frömmigkeit 
war eine so tiefe, daß sie jeden Tag bei jeder Witterung in das nächste, 
s /4 Stunden entfernte Dorf zur Frühmesse ging. Irgendwelche sexuelle 
Regungen wurden bei ihr nie bemerkt. Sie war auch Mitglied der 
Mariengesellschaft. 

So verlief Theresiens Leben bis zum 16. August 1908. An diesem 
Tage gegen Mittag fiel sie ihrer von der Feldarbeit nach Hause 
kommenden Mutter stürmisch um den Hals und rief aus: „Mutter 
haben sie schon von einer Verzückten gehört? Sie haben eine im 
Hause!“ (Der obenerwähnte Fall von der „verzückten Lentschka“ 
war seinerzeit weit und breit bekannt.) Am nächstfolgenden Tage 
traf die Mutter, von der Arbeit zurückgekehrt, ihre Tochter auf dem 
Boden knieend in verzückter Stellung. Sie versuchte sie aufzurütteln 
es war nicht möglich, — sie war wie starr. Die Mutter rief sie beim 
Namen, holte Nachbarsleute herbei; doch blieben alle Versuche, sie 
zu sich zu bringen, erfolglos. Erst nach einer ziemlichen Weile er¬ 
wachte sie und sagte zur Mutter: „Mutter, glauben sie jetzt daran,, 
wo es ihnen Gott offenbart hat?“ — Die erste Zeit darauf kamen 
solche Verzückungen einmal, später zwei-, dreimal wöchentlich, 
allmählich wiederholten sie sich täglich. Seit Dezember 1908 kehrten, 
sie täglich 3mal wieder: zur Zeit des Läutens um 7 Uhr früh, 
zu Mittag und wenn die Ave-Maria-Glocke erklang. Vom 15. August 1908 
weiter war sie, die überaus fromme, gottesfürchtige Person, überhaupt 
in keiner Kirche mehr. Sie selbst hat dies dahin aufgeklärt, daß sie 
es nicht mehr nötig habe, zur Messe zu gehen, seit sie von Jesus r 
den sie immer liebte, die Wohltat erhalten, daß sie verzückt werde. 

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I. Method Dolenc 


Denn während der Verzückung nehme sie im Himmel an der heiligen 
Messe teil, Jesus selbst spende ihr die heilige Kommunion. 

Der Verzückungszustand hielt bis zu t V 2 Stunden an. Nachher 
war sie frisch, nähte oder strickte Strümpfe. Sie sprach stets vernünftig, 
empfand keine Schmerzen, hatte zwar weniger Appetit, war aber im 
allgemeinen lustiger denn je. Die Verzückungen wurden alsbald bei 
den Dorfinsassen bekannt, denn Theresia selbst beauftragte ihre Mutter, 
die Sache weiter zu erzählen. In der Tat kamen bald Nachbarn, 
dann auch ganz fremde Leute in hellen Scharen, seit etwa Dezember 1908 
manchmal an Hundert täglich, um die Verzückte zu sehen. Die Dorf¬ 
insassen waren auch nicht wenig stolz, daß sie eine „Heilige“ im 
Dorfe beherbergten. . . . Nach jeder Verzückung erzählte Theresia 
mit Predigerstimme den andächtig lauschenden Leuten, sie sei im 
Himmel gewesen, habe Gott, Mutter Gottes, Engel, Heilige und ver¬ 
storbene Bekannte gesehen, gesprochen. Die Menge starrt sie an, 
betet, Weiber weinen. . . . Ehe die Leute das Haus der „Heiligen“ 
verlassen, legen sie ihren Obolus zu Füßen der Verzückten, Mehl oder 
Eßwaren, Geld: wie Zeitungen berichteten, wurden ihr selbst Dukaten 
geschenkt. — 

Am 11. Dezember 1908 schritt nun die Gendarmerie ein und 
erstattete wegen aller dieser Vorkommnisse eine Anzeige gegen Theresia 
und ihre Mutter; die beiden seien Schwindlerinnen, die die Verzückungs¬ 
zustände der Theresia arrangieren, um von den gläubigen Leuten 
Nutzen zu ziehen. Die Sache sei auch von sanitätspolizeilichem 
Standpunkte bedenklich, weil sich in der Stube der Theresia Leute 
aus den verschiedensten Orten ansammeln, und dort trotz der schlechten 
Luft bis zu 2 Stunden ruhig ausharren; die Gefahr der Verbreitung von 
ansteckenden Krankheiten werde hierdurch geradezu heraufbeschworen. 

So kam die Sache in die Hände der Behörden. Die Bezirks- 
hauptmanrischaft trat die Anzeige an das Bezirksgericht Loitsch ab. 
Dieses pflog zunächst Erhebungen in der Richtung des Betrugs (U 308/8). 
Man lud die Verzückte vor. Das Zustellorgan berichtete, Theresia I. 
könne bei der grimmigen Kälte den Weg nach Loitsch nicht machen; 
denn wenn sie im Freien ihren „Zustand“ bekäme, könnte sie erfrieren. 
Nun entschloß sich das Gericht, die Verzückte unter Zuziehung eines 
Gerichtsarztes kommissionell zu untersuchen. Für das Erscheinen der 
Kommission an Ort und Stelle wurde die Zeit so gewählt, daß man 
die Verzückte in ihrem Zustande in Augenschein nehmen konnte. 

In der Keusche der Theresia I. waren an 50 Leute versammelt. 
Alle lobten ihren bisherigen Lebenswandel und gaben ihrer Überzeugung 
Ausdruck, daß man es mit einem Wunder Gottes zu tun habe. 


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Eine „Heilige“. 


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Die Mittagsstunde nahte. Theresia I. geriet in Verzückung 
(1l, 55 ' Vm.). Das diesfällige gerichtliche Augenscheinsprotokoll lautet: 

„Theresia I. sitzt vollkommen unbeweglich auf der Bank am 
Ofen, angelehnt an eine eigens zu diesem Zwecke hergerichtete Diele^ 
unter den Füßen hat sie einen Schemel. Die Hände hält sie im 
Schoße gefaltet, als ob sie beten würde. Den Kopf hält sie gegen 
rechts nach oben hin geneigt, die Augen sind dem Himmel zugekehrt, 
wohin sie unverrückt starrt, der Mund geschlossen. Die einzigen 
Lebenszeichen sind: Hie und da ein fast unmerkliches Zucken mit 
den Wimpern, kräftiges Schlucken, ganz ruhiges Atmen und ziemlich 
schnelles Pulsieren der Adern (104 mal in der Minute). Wird die 
Augenschleimhaut berührt, zuckt die Verzückte anfangs mit den Augen 
gar nicht, gegen Schluß dieses Zustandes drückt sie die Augenlider 
zu, doch nicht so viel, daß das ganze Auge verdeckt würde. Bläst 
man ihr kräftig ins Gesicht, oder packt man sie bei den Haaren, 
zuckt sie ein wenig mit den Augenwimpern. Will man den Kopf 
aus seiner Lage nach links drehen, so sträubt sie sich mit allen 
Muskeln dagegen; nur unter Anwendung von ziemlicher Kraft glückt 
der Versuch, gleich darauf fällt der Kopf in die frühere Lage. Auf 
Lichteinfall reagieren die Pupillen regelrecht. Als ihr die Augen 
zu einem solchen Versuche zugedeckt werden, drückt sie sie zu. Die 
Augen tränen in einem fort, insbesondere gegen Ende der Verzückung; 
in diesem Stadium hat sie auch selbst öfters die Augen schnell halb 
geschlossen. Das gleiche tritt ein, wenn ihr die Mutter die schwei߬ 
bedeckte Nase von Zeit zu Zeit mit einem Tuche abtrocknet. Weder 
Mund noch Unterkiefer lassen sich öffnen, so krampfhaft hält sie sie 
geschlossen. Anfangs der Untersuchung war die Muskulatur der Hand 
völlig leblos, gegen Ende blieb die Hand in der Lage, wie man sie 
gestellt hatte. Die krampfhaft zusammengedrückten Füße konnte 
man nicht auseinandertun. Auf einen leichten Nadelstich in die Hand 
zuckt sie fast unmerklich mit dem Daumen und atmete etwas tiefer 
auf. Beim Nadelstich in die Lippe hat sie nur einige Male kräftig 
geschluckt. Der Gesichtsausdruck ist mehr stumpf. Ruft man sie 
an, bekommt man den Eindruck, daß sie vollkommen gut hört; denn sie 
rührt die Augenlider und Lippen und macht ungefähr eine Gebärde, als ob 
sie sagen wollte: „Laßt mich in Frieden!“ — Gegen Ende der Ver¬ 
zückung dreht sie den Kopf selbst auf die linke Seite dem Fenster 
zu, schließt halb die Augen, öffnet sie wiederum, beginnt sich ein 
wenig mit den Händen zu bewegen. Auf einmal atmet sie tief auf, 
blickt verwundert um sich herum, benimmt sich überhaupt wie ein 
Mensch, der eben aus dem Schlafe erwacht. Zunächst schweigt sie 


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I. Method Dolenc 


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noch und tut, als ob sie schläfrig wäre, dann, erst nach einer geraumen 
Weile, gibt sie auf die gestellten Fragen eine Antwort.“ — 

Diese Verzückung hielt von 11, 55 ' Vm. bis l, 15 ' Nm. an. Nach¬ 
stehend das Bild der Verzückten; es wurde nicht bei der kommissioneilen 
Amtshandlung aufgenommen, sondern einige Tage darauf von einem 
Amateurphotographen. Er nahm sich damals eine Begleiterschaft von 

20 handfesten Burschen mit, um 
vor eventuellen Angriffen der 
Ortsinsassen geschützt zu sein. 
Denn diese behüteten sietreu, 
auf daß ihr Fremde kein Leid 
antäten oder gar sie nicht ir¬ 
gendwohin fortbrächten. 

Aus der Reihe der in das 
Augenscheinsprotokoll aufge¬ 
nommenen Fragen des Sachver¬ 
ständigen an die ; „Heilige“ so¬ 
wie ihre Antworten mögen ei¬ 
nige besonders markante hier 
Platz finden, um zu zeigen, in 
welcher Richtung sich ihre 
Phantasie besonders rege betä¬ 
tigt. Im Protokolle wurde be¬ 
sonders vermerkt, daß Theresia 
J. alle Antworten mit hoch er¬ 
hobener Stimme und mit dem 
Pathos eines Predigers gab. 

Frage: Was haben Sie gesehen? 

Antwort: Den Himmel habe ich gesehen. 

F.: Haben Siö Gott gesehen? wie ist er? 

A.: Gott ist unermeßlich schön. 

F.: Was haben Sie aber noch im Himmel gesehen? 

A.: Was soll ich weiter gesehen haben? Es ist genug daran! 
F.: Was taten Sie im Himmel? 

A.: Auf dem Schoße Gottes lehnte ich und schlief. 

F.: Haben Sie Träume gehabt? 

A.: Warum Träume? Ich empfand ein süßes Gefühl, weil ich 
bei Gott war, und darum war ich ruhig, weil ich bei ihm war. 

F.: Haben Sie die Mutter Gottes gesehen? 

A.: Auch die Mutter Gottes habe ich früher öfters gesehen, 
heute habe ich aber nur auf seinem Schoße geschlafen. 



Theresia J. in Verzückung. 


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Eine „Heilige'. 


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F.: Wie schaut der Himmel aus? 

A.: Ungeheuer schön ist der Himmel. Mein Geist sah ihn. Ihnen 
kann ieh es nicht wiedergeben, da es nicht einmal der heilige Panlns 
zu tun vermochte. Wem nicht gegeben zu sehen, der kann es auch 
nicht vollkommen ermessen. Heute war ich nur auf dem Schoße 
Gottes, bis mich der Geist Gottes zurückgerufen hat. Jetzt bin ich 
auch mit dem Geiste hier, wo ich früher bloß mit dem Körper war. 

F.: Taten Ihnen nicht die Augen weh? Hörten Sie, als man 
Sie anrief? 

A.: Warum sollten mir die Augen weh getan haben? Eb ist 
genug Kraft in ihnen. Ich hörte Sie, als Sie mich gerufen haben, 
aber es stand nicht in meiner Kraft, Ihnen Antwort zu geben. 

F.: Haben Sie Nadelstiche empfunden? 

A.: Ich habe nirgends einen Schmerz verspürt! 

F.: Spüren Sie irgend welche Übelkeiten? 

A.: Übelkeiten spüre ich keine, ich bin ganz wohl. Hier muß 
ich sitzen, damit mir Geist und Kraft wiederkehren, und dann werde 
ich auch bei vollen Kräften sein. — 

Der Sachverständige stellte noch einige andere Fragen; Theresia 
wurde verwirrt und lehnte weitere Fragenbeantwortungen ab, es sei 
genug an den bisherigen. Nun — verfiel Theresia neuerdings in 
Verzückung. (Die Austragung dauerte von l, 15 ' bis l, 30 ' Nm.) An 
den Mienen der Umstehenden war helle Freude zu lesen. Sie liehen 
ihrer Überzeugung unverhohlen Ausdruck: „Gott selbst wollte der 
Gerichtskommission ein Wunder zeigen, daher berief er ihren Geist 
neuerlich zu sich!" Die Weiber brachen in Tränen der Rührung 
aus. Man drängte sich hart an die Verzückte heran, gleichsam ent¬ 
schlossen, sie zu schützen, sollte ihr die Gerichtskommission etwas 
antun wollen! 

Die zweite — außergewöhnliche — Verzückung dauerte nur eine 
halbe Stunde. Als Theresia wieder erwachte, hielt sich die Gerichts¬ 
kommission absichtlich im Hintergründe der Stube auf, um einstweilen 
von ihr nicht gesehen zu werden. 

Nun stellten andere Anwesende verschiedene Fragen an sie. Sie 
gewann vollständig ihre Fassung und erzählte ihnen mit Gebärden 
eines Predigers von ihren Wahrnehmungen im Himmel: Jesus und 
Maria haben sie zu sich gerufen, zwischen diesen beiden sei sie ge¬ 
wesen. Oh! welch’ ein Glück! Sie habe einen weißen Schleier ge¬ 
habt, ein weißes Kleid als Braut Jesu Christi, wie schon oftmals! 
An seiner Brust habe sie gelehnt, er habe ihr einen Ring an den 
Finger gesteckt ... Sie habe auoh den heiligen Geist gesehen . . . 


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8 I. Method Doeenc 

Der Himmel sei unendlich schön, mit schönen, kostbaren, blumen- 
durchwirkten Webereien bedeckt, alles strahle von himmlischem Glanze. 
Weiße Engelein mit goldenen Kränzen, goldenen Kronen und kost¬ 
baren Mäntelchen gebe es da . . . Die größte Pracht sei aber Jesus 
und Gott, der Vater selbst. Sie habe in seinem Schoße schon oft 
geruht Man halte ihn für einen Greis; allein er ist nicht alt, ein 
schöner, majestätischer, nicht zu alter Herr sei er und unendlich 
freundlich .... Übrigens habe sie auch Bekannte gesehen. Die 
(folgt der Name eines jüngst verstorbenen Mädchens) habe sie in 
weißem Kleide mit aufgelöstem Haare angetroffen. Ob auch unge- 
taufte Kinder im Himmel weilen? Jawohl! Da sei ein Bübchen 
daher gelaufen gekommen und habe ihr gesagt, sie solle den Eltern 
ausrichten, daß es ihm gut gehe. Da sie das Bübchen nicht gekannt 
hätte, nannte es sich selbst beim Namen: es sei das .... sehe Kind, 
das vor der Taufe gestorben sei . . . Nur seien solche Kinder mehr 
dunkel gefärbt und haben weniger himmlischen Glanz, als die getauften. 
Wer sie durch den Himmel führt? Ihr Onkel, der im Alter von 
2 Jahren gestorben, nunmehr aber ein großer Mann geworden sei... 

So ging es auf die Befragungen ihres Umstandes weiter; häufig 
flocht sie mitten in die Antwort bekannte Predigerausrufe ein, z. B.: 
„Vertrauet auf Gott! Alles werdet ihr erreichen, wenn ihr auf Gott 
vertraut! Es wird euer Nutzen sein, wenn ihr betet!“ u. dgl. m. 

Daraufhin ließ sich die Gerichtskommission der Verzückten 
wiederum blicken und stellte neuerlich einige Fragen an sie. Einige 
wenige davon mögen hier noch Platz finden. 

F.: Sind Sie nicht hungrig, da Sie lange über Mittag nichts zu 
sich nehmen? 

A.: Der Körper ist immer hungrig, der Geist aber nicht. (Sie 
lachte dabei.) 

F.: Ist es Ihnen nicht unangenehm, wenn so viele Leute um Sie 
herumstehen? 

A.: Es ist mir nicht zuwider. Ich rief sie nicht; wenn sie aber 
kommen, so ist das wohl der Wille Gottes! 

F.: Wie fühlen Sie sich vor der Verzückung? Spüren Sie 
irgendwie, daß dieser Zustand herankommt? 

A.: Freilich spüre ich’s, bevor es kommt. Inwendig spüre ich, 
daß mich etwas im Geiste ruft . . . Dann mag ich nichts mehr um 
weltliche Dinge, überhaupt um niemanden um mich wissen! Kommt 
der Ruf, so ist es mir, als ob ich einschlafen müßte. Der Geist geht 
hoch hinauf, die Kraft schwindet. Ich sehe, wenn mir jemand die 


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Eine „Heilige". 


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Augen berührt, doch beachte ich eö nicht, weil mein Geist durch die 
körperlichen Angen den Himmel schant. 

F.: Werden Sie einst in den Himmel kommen? 

A: Das hat mir niemand gesagt. Warum? Ich weiß es schon 
jetzt, daß es sein wird, weil schon jetzt mein Geist hinaufgeht. 

F.: Wie ist Ihr Befinden im allgemeinen? 

A.: Mein Körper befindet sich wohler, ist widerstandsfähiger, 
ich verspüre ein Gefühl der Freude am ganzen Körper. 

F.: Wie sind Sie bei Appetit? 

A.: Appetit habe ich, doch brauche ich wenig. Ich habe keine 
Zeit hier zu leben. 

F.: Sind Sie froh, wenn Ihnen jemand etwas bringt? 

A.: Wer wäre nicht froh! 

F.: Wie ist Ihre Natur überhaupt? 

A.: Ich bin nicht zornig, ich will es auch nicht sein. Seit dem 
Großfrauentag (15. August) bin ich noch nicht aus dieser Stube ge¬ 
gangen, doch vermisse ich die Luft nicht Wenn alle Leute hinaus 
gehen, ist Luft genug, noch zu viel. — 

Zum Schlüsse brachte der Sachverständige mit Absicht einige 
Fragen vor, um sie bezüglich ihrer Reizbarkeit auf die Probe zu 
stellen. Sie antwortete mit großer Zungenfertigkeit und blieb keine 
Antwort schuldig. — 

Die eigentliche Untersuchung der Verzückten in somatischer Be¬ 
ziehung fiel ziemlich dürftig aus; einesteils versicherten alle, die 
Theresia genau kannten, sie sei körperlich stets gesund gewesen, 
andemteils empfahl es sich, von einer eingehenden körperlichen Unter¬ 
suchung Abstand zu nehmen, um nicht bei den anwesenden Verehrern 
der Verzückten Erbitterung zu erwecken. Aus dem Befunde wäre 
hervorzuheben: Theresia I. ist von mittelgroßer Statur, schlecht ge¬ 
nährt, von gesunder Gesichtsfarbe; sie weist weder auf dem Schädel, 
noch sonstwo sichtbare Merkmale überstandener Krankeiten oder 
erlittener Verletzungen auf. Die Schilddrüsen sind vergrößert, am 
Halse ist das Pulsieren der Adern sichtbar. Die Venen sind sehr 
elastisch. 

Über das Verhalten der Verzückten in geistiger Beziehung wurde 
durch Befragen von Personen, die seit ihren Verzückungszuständen 
wiederholt mit ihr in Berührung gekommen waren, noch folgendes 
erhoben: Sobald die Verzückung aufhört, gibt sich Theresia vollkommen 
vernünftig und ist stets bereit, auf jede gestellte Frage zu antworten. 
Sie kommt dem einfachen Volke gegenüber — und in der Regel 
kommt nur solches zu ihr — nie in Verlegenheit. Öfters hat es sich 


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I. Method Dolenc 


ereignet, daß Bie jemand befragt hat, ob sie seinen Verwandten im 
Himmel gesehen hätte. Häufig lautete die Autwort, „bisher noch 
nicht!“ Doch schon am nächsten Tage sagte sie, sie habe ihn ge¬ 
sehen, und trug den Umstehenden auf, dem Fragesteller, wenn er 
nicht anwesend war, dies zur Kenntnis zu bringen. — 

Der Sachverständige gab auf Grund des gesamten Untersuchungs¬ 
materials sein Gutachten dahin ab, es handle sich um eine Hysterische. 
Ihr Werdegang — Unfall in der Jugend, Berufswandel, eintöniges, von 
der Welt abgeschlossenes Leben, ziemlich schlechte Vermögensverhält¬ 
nisse, den Lebensgenüssen abgekehrtes Naturell — drängte sie zur 
Vertiefung ihres religiösen Sinnes. Ihre gute Begabung und lebhafte 
Phantasie malten ihr die Freuden des Himmels ans, ein immer hef¬ 
tigeres Verlangen, die Freuden des Himmels schon auf Erden zu 
genießen, stellte sich ein, zeitigte auf dem Wege der Autosuggestion 
hysterische Ekstasen, die sich schließlich zu visionär-ekstatischen Ver¬ 
zückungen steigerten. In der Folge kehren diese durch die tägliohen 
kirchlichen Gebräuche — Frühmesse, Mittags- und Abendläuten — 
ausgelöst, regelmäßig wieder. Der Inhalt ihrer Halluzinationen ist 
demnach vornehmlich religiösen Charakters; doch klingt auch noch 
ein anderes Gefühlsmoment leise mit, jenes der — selbstverständlich 
ungewollten — Geschleohtslust Die Verzückte verkehrt immer mit 
Gott-Vater, der, obwohl ein älterer, doch immer noch ein schöner Mann 
ist, sie schläft in seinem Schoße, sie ist die wirkliche Braut Christi, 
erhält von ihm ein Brautkleid, einen Brautring, sie begegnet im Himmel 
meist Personen männlichen Geschlechtes. Es scheint, als ob sich ihre 
Natur durch die leise ans Sinnliche anklingenden Halluzinationen für 
die Jungfrauenschaft entschädigen wollte . . . 

Alles in allem: Die gerichtliche Kommission gewann die Über¬ 
zeugung, daß die Verzückte eine kranke, hysterische Person, und keine 
Schwindlerin sei, sowie, daß weder sie, noch ihre Mutter ihre zahl¬ 
reichen Besucher zur Darbringung von Geschenken veranlassen. Das 
gerichtliche Verfahren war somit erschöpft, die Anklagebehörde legte 
die Anzeige zurück, das Strafverfahren wurde eingestellt — 

Nunmehr trat die Aufgabe an die Verwaltungsbehörde heran, 
dem weiteren Zuzuge der Bevölkerung zur „Heiligen“, als die sie 
insbesondere im heimatlichen Dorfe galt, Einhalt zu gebieten. Die 
Bezirkshauptmannschaft entledigte sich dieser Aufgabe mit großem 
Geschick. Über ihre Veranlassung wurde anfangs Februar 1. J. 
öffentlich verlautbart, Theresia sei geisteskrank, ihre Verzückungen 
seien lediglich Folgen der Krankheit. Das gleiche tat die Geistlich¬ 
keit der nahen Pfarreien von. der Kanzel herab. Das Gemeindeamt 


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Eine „Heilige“. 


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brachte schließlich eine Tafel an der Kensche der Theresia I. an, die 
weitere Besuche der Genannten untersagte. Seit die wahre Ursache 
und Natur der Verziickungszustände bekannt geworden, fanden sich 
übrigens auch schon Besucher ein, die die Verzückte zum Besten 
hielten. Man fragte sie z. B., ob sie im Himmel jemand gesehen 
hat, obwohl dieser jemand noch nicht gestorben ist, oder überhaupt 
nie gelebt hat. Die Verzückte ging auf die Beantwortung der Frage 
ahnungslos ein und kam natürlich in keine geringe Verlegenheit, als 
man mit der Wahrheit über die gestellte Falle herausrückte. So kam 
es, daß mit der Zeit die Besuche im großen Stile der Verzückten 
selbst nicht mehr erwünscht waren, obwohl sie selbstverständlich noch 
immer von ihrer göttlichen Mission überzeugt ist Der allgemeine 
Glaube an ihre „Heiligkeit“ ward aber durch das geschickte Ein¬ 
greifen der Behörden vernichtet, nur hie und da erscheint noch 
ein verspäteter Besuch bei ihr, einige junge Personen weiblichen Ge¬ 
schlechtes vermögen an die Krankheit der Verzückten noch immer 
nicht zu glauben. — 

Der Fall schien mir der Veröffentlichung wert. Eimal, weil er 
zeigt, wie kritiklos die gläubige Volksseele Ereignissen gegenübersteht, 
die mit überirdischen Dingen in Zusammenhang gebracht werden. 
Wenn auch vorliegend kein vorsätzliches Ausbeuten des gläubigen 
Volkes in Erscheinung trat, so liegt es doch auf der Hand, wie leicht 
dies unter Umständen der Fall sein kann. 

Sodann entbehrt der Fall auch nicht eines gewissen Interesses 
wegen der Stellungnahme der Behörden zur Verzückten. Der Gefahr 
einer Ausbreitung von ansteckenden Krankheiten, die sich dadurch 
anließ, daß so viele Leute aus den verschiedensten Gegenden, in einer 
ungelüfteten Stube zusammengepfercht, in engste Berührung kamen, 
mußte gesteuert werden. Auch war die Besorgnis, es könnte ein 
religiöser Wahnsinn epidemisch ausbrechen, nicht von der Hand zu 
weisen. Die Wahl der Mittel, um einen weiteren Zuzug zur Verzückten 
im großen Stile hintanzubalten, war sehr angemessen. Ein sofortiges, 
energisch betriebenes Eingreifen, etwa eine Fortschaffung oder Inter¬ 
nierung der Verzückten in einer Heilanstalt, hätte höchstwahrscheinlich, 
wenn zu nichts ärgerem, so doch zu Auschreitungen der „gläubigen 
Gemeinde der Verzückten“ geführt, die von gar bedauerlichen Folgen 
für die Opfer begleitet sein könnte. 


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II. 

Fälle von Sadismus. 


Von 

Staatsanwalt Sohiedermair in Nürnberg. 


Von Sadismus spricht die Kriminal-Psychologie nicht nur dann, 
wenn beim Geschlechtsakt in begleitenden grausamen, beleidigenden 
oder gewalttätigen Handlungen eine Steigerung der Lust gesucht wird, 
sondern auch dann, wenn solche Akte überhaupt die Stelle einer 
eigentlichen geschlechtlichen Handlung vertreten; unter letzterem Ge¬ 
sichtspunkte werden insbesondere auch die „Mädchenstecher“ den 
Sadisten zugerechnet. Es mag ein wissenschaftliches Interesse bieten, 
eine aktenmäßige Darstellung einiger in den letzten Jahren in Nürnberg 
vorgekommenen Fälle der zweiten Art zu erhalten. Es ist zwar in 
keinem der Fälle, von denen sicherlich stets eine Anzahl auf dieselbe 
Person zurückzuführen ist, möglich gewesen, den Täter mit der Sicher¬ 
heit zu ermitteln, daß auch seine Persönlichkeit für die Untersuchung 
des Sadismus verwertet werden könnte, aber es kann von Wert sein, 
wenigstens nach der objektiven Seite erhebliches Tatsachenmaterial 
zu erhalten. 

Die Fälle gliedern sich in zwei Gruppen. Die erste stammt aus 
dem Januar 1903, die zweite aus dem November 1905. Sie sind im 
einzelnen: 

Erste Gruppe: 1. Am 10. Januar 1903 nachmittags 5 45 Uhr, 
als der dreizehnjährige Buchhalterssohn Hermann B. vor einem Laden 
am Hauptmarkte stand, ging langsam ein Mann an ihm vorbei, der 
dann im Gedränge verschwand. Er hatte unbemerkt dem B. mit 
einem spitzen dolchartigen Instrumente oberhalb des linken Knies am 
linken Oberschenkel einen Stich, 6 mm lang und 5 cm tief versetzt; 
weitere nachteilige Folgen ergaben sich nicht. 

2. Am 13. Januar 1903 abends gegen 10 Uhr ging die acht¬ 
zehnjährige ledige Arbeiterin Sophie E. über die Hallertorbrücke; es 
kam ihr ein Mann entgegen und fragte sie, ob er sie nach Hause 
begleiten dürfe. Sie wies ihn ab, er ging gleichwohl eine Strecke mit 
ihr; als der Mann fort war, sah sie auf ihrer rechten Seite in der 
Nähe der Geschlechtsteile Umhängekragen, Schürze und drei Röcke 


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Fälle von Sadismus. 


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auf eine Länge von etwa 15 cm scharf durchschnitten; eine Verletzung 
erlitt sie nicht. 

3. Am 15. Januar 1903 vormittags 6 45 Uhr, als die Drechlers- 
frau Earoline R. durch die Kobergerstraße ging, kam ein Mann auf 
sie zu und sagte, sie solle mit ihm geben. Als sie keine Antwort 
gab, sagte er: „Saumensch“, und, als sie dann schrie, machte er an 
ihrem Lodenkragen mit einem scharfen Gegenstand einen 3 cm langen 
Schnitt und entfloh. 

4. Am 15. Januar 1903 mittags 12 Uhr kam in der Königs¬ 
straße auf den elfjährigen Realschüler Konrad D. ein Mann zu und 
fragte ihn nach der Fenitzerstraße. In demselben Augenblicke faßte 
er den Knaben am Rockkragen, zog ihn in die Höhe und schnitt ihm 
mit einem blitzenden Gegenstand Havelock und Hosenbein mit einem 
Schnitt entzwei. Als der Knabe schrie, gab ihm der Mann einen 
Stoß auf das linke Bein und lief davon. Eine körperliche Verletzung 
erlitt der Knabe nicht. 

5. Am 16. Januar 1903, mittags l 45 Uhr, als der achtzehnjährige 
Buchhändlerssohn Max P. eben den Zeitungskiosk seines Vaters betrat, 
bückte sich ein an der Eingangangstür stehender Mann, als ob er 
etwas aufheben wollte; P. spürte in demselben Augenblick einen 
leichten Stoß an dem linken Bein oberhalb des Knies. Der Mann 
entschuldigte sich und ging fort. Als P., der dann in die Bude ge¬ 
treten war, sich setzen wollte, verspürte er ein heftiges Brennen am 
Bein. Die Untersuchung ergab, daß er 5 cm oberhalb der linken 
Kniescheibe eine 1 cm breite und ebenso tiefe, anscheinend von einem 
zweischneidigen dolchartigen Messer herrührende Wunde an der be- 
zeichneten Stelle des Beines hatte. Die Wunde hatte keine weiteren 
nachteiligen Folgen. 

6. Am 26. Januar 1903 abends 7 3 /4 Uhr kam in der Keßler¬ 
straße ein Mann auf die ledige siebzehnjährige Arbeiterin Klara Z. 
zu über die Straße herübergesprungen; er fuhr ihr mit einem Gegen¬ 
stand die linke Seite hinunter, lief dann davon und bestieg die Straßen¬ 
bahn. Die Besichtigung der Kleider ergab, daß Schürze und Rock 
auf eine Länge von 30—40 cm von oben nach unten zerschlitzt waren- 
Eine körperliche Verletzung erfolgte nicht. 

Von den Tätern wurden nachstehende, der leichteren Vergleichung 
wegen hier zusammengefaßte Personalbeschreibungen gegeben: 

Fall 1: Etwa 1,65 m groß, etwa 30 Jahre, schwarzer Schnurr¬ 
bart, schwarzer Anzug, schwarzer Überzieher. 

Fall 2: Sehr groß, 28—30 Jahre alt, volles Gesicht, schwarzer, 
großer Schnurrbart, schwarzes gewelltes Haar nach Art der polnischen 


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11 . ScHIEDERMAIR 


Juden; schwarzer Überzieher, schwarzer, steifer Hut, schwarzer Hom- 
zwicker, gelbe Handschuhe, gelbe Uhrkette, hochdeutsche Sprache. 

Fall 3: Mittelgroß, dunkler Bart, hochdeutsche Sprache, sprach 
halblaut; dunkler Überzieher, dunkler steifer Hut, helle Handschuhe, 
Zwicker oder Brille. 

Fall 4: Ziemlich groß und untersetzt, etwa 30 Jahre, schwarzer, 
ziemlich langer Vollbart; schwarzer, guter Überzieher, schwarzer steifer 
Filzhut, goldner Zwicker. 

Fall 5: 1,70—1,75 m groß, 26—30 Jahre alt, bleiches Gesicht, 
schwarzer Schnurrbart, hochdeutsche Sprache, Frauenstimme; grauer 
fast neuer Havelock, schwarzer, steifer Filzhut. 

Fall 6: Ziemlich groß, Schnurrbart; grauer Überzieher, schwarzer, 
steifer Hut, Zwicker. — 

Zur Würdigung nachstehender Personalbeschreibungen ist noch 
nachstehende Beobachtung von Interesse. Am 12. Januar 1903 
abends zwischen 7 J /4 und 7’/2 Uhr bemerkte der Ausgeher Karl Sch.» 
wie ein Mann in einer Straßenunterführung einen Vollbart anlegte. 
Personalbeschreibung: 1,70 m groß, untersetzt, 28—30 Jahre alt» 
schwarzer, starker Schnurrbart; schwarzer Überzieher, schwarzer, 
steifer Filzhut, dunkle, gestreifte Hose, schwarze Schnürschuhe, Zwicker 
mit gelbem Steg. 

Zweite Gruppe: 1. In der Nacht vom 5. auf 6. November 05 
gegen 11 Uhr gingen das dreizehnjährige Dienstmädchen Frieda N. 
und die Tochter ihrer Dienstherrschaft, die vierzehnjährige Eisen¬ 
dreherstochter Henriette B. von einer gesellschaftlichen Feier nach 
Hause. In der Pillenreutherstraße kam ihnen ein Mann nach; der Mann 
stieß plötzlich die B. zur Seite und ging auf die N. los. Er hat 
hiebei, wie sich bei Untersuchung der N., die sich noch nach Hause 
begeben konnte, ergab, ihr in der Höhe der siebenten linken Rippe 
einen 2 cm langen Stich beigebracht, der Magen und Leber verletzte 
und in einigen Tagen den Tod der N. herbeiführte. 

2. In der gleichen Nacht, 'I* Stunde später ging in der gleichen 
Stadtgegend die sechzehnjährige Schreinerstochter Lina S., die mit 
ihren Eltern eine Wirtschaft besuchte, auf einige Augenblicke vor die 
Türe. Da kam ein Mann an sie heran, holte zum Schlage aus, traf 
sie an der rechten Seite des Unterleibs und verschwand. Die S. hatte 
eine Stichverletzung an der rechten Hand, die sie in der Gegend des 
Unterleibs gehalten hatte, und am Unterleib. Die Wunden heilten 
regelmäßig. 

3. In der gleichen Nacht, wieder '/•» Stunde später ging die 
47jährige Malerswitwe Madlon Sch. in derselben Stadtgegend von 


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Fälle von Sadismus. 


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einer Gesellschaft nach Hause. Ein Mann ging an ihr vorbei, sie 
empfand gleichzeitig einen Schlag gegen den Unterleib, der Mann 
lief davon. Die Nachschau ergab einen Stich im Unterleibe; er heilte 
ohne weitere Folgen. 

4. Am 13. Nov. 1905 morgens l 45 Uhr gingen die Arbeiter-^ 
innen Sophie H. und Marie W. in der Rothenburgerstr. nach Hause. 
Erstere befriedigte in einem Seitengäßchen ihrBedfirfnis; plötzlich sprang 
ein Mann auf sie zu und brachte ihr in der Leistengegend zwei Stiche 
bei; er sprang dann über die Mauer des nahegelegenen Friedhofs. 
Die Wunde war lebensgefährlich, heilte aber. (Die beiden beteiligten 
Personen sind nicht völlig glaubwürdige Persönlichkeiten.) 

5. Am 20. Nov. 1905 abends 6 Uhr, als die fünfzehnjährige 
Arbeiterin Marie B. durch die Wölkernstraße ging, ging an ihrer 
rechten-Seite ein Mann vorüber, der ihr an die Brust griff. Als sie 
die Stelle nachsah, bemerkte sie einen 10 cm langen Schnitt 
in der Schürze und in der Bluse; das Korsett zeigte ebenfalls eine Be¬ 
schädigung; es scheint, daß der Stich an der Planschette, die er traf, 
aufgehalten wurde. 

Personalbeschreibung: Fallt: Schwarzes Haar, schwarzer, 
herabhängender, mittelstarker Schnurrbart, Vollbart. 

Fall 2: Ziemlich groß, 40—50 Jahre alt, mager, schwarzer 
Schnurrbart, Bartstoppeln im übrigen Gesicht. 

Fall 3: Ziemlich groß; Überzieher oder langer Bock. 

Fall 4: Schlanker Körperbau, schwarzer steifer Filzhut. 

Fall 5: Sehr groß, 1,70—1,75 m, schlank, 60 Jahre alt, grauer 
bis zur Mitte der Brust reichender Vollbart; dunkler Havelock mit 
Pelerine, dunkler, oben eingedrückter weicher Filzhut, Zwicker oder 
Brille. (Entnommen den Akten der Staatsanwaltschaft bei dem Land¬ 
gerichte Nürnberg G 69/03, C 856/05, 136/06, 338/06.) 


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HI. 

Eifersucht als Triebfeder von Verbrechen. 

Drei Strafiälle 

mitgeteilt ron 

Dr. B. Ehmer, Staatsanwalt in Graz. 

Fall Straffall Kratzer. 

Am 5. November 1908 wurde der im Wirtschaftsgebäude des 
Krennscbeu Gehöftes in Ungerdorf mit dem Füttern der Pferde be¬ 
schäftigte Grundbesitzerssohn Martin Krenn durch hellen Feuerschein 
von seiner Arbeit aufgeschreckt; er war kurz zuvor von seiner Mutter 
Theresia Krenn (44 Jahre alt) aufgeweckt worden, da er eine Fahrt 
zu einer entfernten Bahnstation zu besorgen hatte. Seine Mutter batte 
sich darauf wieder im Wohnhause zur Buhe legte, wo sie im selben 
Gemache mit einer Magd (Marie Hikl) nächtigte. Sonst war im Ge¬ 
höfte nur noch der 47 jährige Frächter Karl Kratzer anwesend, der 
mit Martin Krenn im Pferdestalle das Lager teilte und gleichzeitig 
mit ihm aufgewacht war. Der Besitzer war mit den anderen Kindern 
auf einer entfernten Hube abwesend, wo er durch mehrere Tage die 
Obsternte zu besorgen hatte. 

Das Feuer fand in den Futtervorräten reichliche Nahrung und 
verbreitete sich so rasch über das strohgedeckte Wirtschaftsgebäude 
hin, daß das Vieh kaum gerettet werden konnte; während der Bergungs¬ 
arbeiten wurde Martin Krenn von einer stürzenden Giebelmauer ge¬ 
troffen und so schwer verletzt, daß er bald darauf seinen Geist aufgab. 

Ein Verdacht, daß es sich um einen Industriebrand handle, war 
ausgeschlossen. Das Gehöft war in gutem Bauzustande, die Besitzer 
. gut situiert, wohl für die Baulichkeiten aber nicht übermäßig und 
seit Jahren für die gleiche Summe, nicht aber für die Erntevorräte 
versichert, die zur Zeit, da infolge der Dürre des Jahres allenthalben 
Futtermangel herrschte, doppelt wertvoll und schwer zu beschaffen 
waren. Irgendwelche Vorbereitungen, etwa Beiseiteschaffen wertvoller 
Geräte usw. war nicht nachweisbar. 

Auch auf unvorsichtiges Hantieren mit Feuer und Licht seitens 
der Hausgenossen konnte der Brand nicht zurückgeführt werden. 
Die waren, da man morgens zeitlich zur Arbeit gehen mußte, früh 


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Eifersucht als Triebfeder von Verbrechen. 


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am Abend zur Ruhe gegangen. Vor Ausbrach des Brandes hatte die 
Besitzerin Theresia Krenn auf dem Wege vom Wohnhause zu dem 
am Ende der Wirtschaftsgebäude liegenden Pferdestalle und am Rück¬ 
wege nichts Verdächtiges wahrgenommen, — das Feuer war auch an 
dem der Stallung entgegengesetzten Ende des Wirtschaftsgebäudes aus¬ 
gebrochen, in dessen Räumlichkeiten seit vielen Stunden zuvor nie¬ 
mand von den Bewohnern etwas zu tun hatte, — an dem aber auch 
kein Weg vorüberführt, so daß auch für die Annahme, der Brand 
sei vielleicht durch ein von einem Passanten zufällig weggeworfenes 
Zündhölzchen veranlaßt worden, kein Anhaltspunkt vorlag; ebenso¬ 
wenig boten diese Räumlichkeiten etwa einem ungebetenen Gaste Ge¬ 
legenheit dort zu nächtigen, — der hätte sich sicher eher in den Heu¬ 
boden zurückgezogen und bei der herrschenden niederen Temperatur 
kaum mit einem Lager in dem offenen Wagenschuppen vorlieb ge¬ 
nommen. 

Es war also die Vermutung, daß der Brand gelegt worden sei, 
nicht von der Hand zu weisen. Tatsächlich sprach Theresia Krenn 
sofort diesen Verdacht aus und lenkte ihn auf Josefa Kratzer, die 
Gattin des Frächters, der im. Gehöft seine Pferde stehen hatte. 

Der 47 jährige Karl Kratzer war seit 14 Jahren mit der 43 jäh¬ 
rigen Josefa geb. Pittner verehelicht und lebte mit ihr nicht aufs beste. 
Das zänkische Weib, das ihm sechs Kinder geboren hatte, machte ihm 
das Leben sauer, vor Jabren hatte er einen Seitensprung gemacht 
und bat eine hierbei erworbene Krankheit auf seine Frau übertragen, 
was zur Besserung ihrer Beziehungen nicht beitrug. Die Gatten hatten 
früher in einer anderen Gegend gehaust und waren im Sommer 1907 
in die Gemeinde Ungerdorf gezogen, wo sie nacheinander bei ver¬ 
schiedenen Bauern wohnten, aber nirgends dauernd Unterkunft fanden, 
da ihnen überall nach wenigen Monaten gekündigt worden war, teils 
weil sie mit der Entrichtung des Mietzinses säumig waren, teils weil 
sich Josefa Kratzer mit den Vermietern nicht vertrug. 

So hatte sie sich z. B. im Herbste 1907 mit ihrer damaligen 
Hauswirtin Nigelhell entzweit und dieser wegen Beschimpfungen ge¬ 
legentlich einer gegenseitigen Zänkerei zu einer Geldstrafe verholfen, 
während sie selbst straflos ausging, da ihre Gegnerin zur Verhand¬ 
lung über die angestrengte Ehrenbeleidigungsklage zu spät gekommen 
war. Trotz dieses für sie günstigen Ausganges verfolgte die Kratzer 
ihre Gegnerin mit ihrem Hasse und rief ihr wiederholt bei ver¬ 
schiedenen Begegnungen die Drohung zu: „Warte nur, deine Keusche 
wird noch aufgehen“, was die Arglose allerdings dahin deutete, daß 
die Kratzer ihr noch einige Prozesse auf den Hals laden wolle und 

Archiv für Kriminalanthropolog-ie. 34. Bd. 2 


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IQ. R. Ehmer 


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die dadurch erwachsenden Kosten ihr geringes Hab und Gut auf¬ 
zehren werden. 

Josefa Kratzer lebte aber nicht nur selbst mit den Leuten in 
Streit, sondern fand auch daran Gefallen, ihre Umgebung zu Streitig¬ 
keiten zu hetzen. So schürte sie eine Feindschaft zwischen der 
Theresia Hohl, ihrer späteren Hauswirtin und einer Nachbarin T, 
erzählte ersterer von üblen Nachreden der letzteren und äußerte sich, 
sie würde sich solches nicht gefallen lassen und der T das Haus 
anzünden. Als die Hohl eine solche Zumutung mit Entrüstung ab¬ 
lehnte, gab die Kratzer dann wohl klein bei, meinte es sei ihr nicht 
ernst mit dem Vorschläge gewesen, „aber mit Häuselmist könnte die 
Hohl das Haus der T schon verunreinigen, dies wäre auch etwas. u 

Seit Mitte August 1908 wohnten die Kratzers bei Tippl, die ihnen 
jedoch einen Pferdestall nicht zur Verfügung stellen konnten; Kratzer 
brachte daher seine Pferde in dem etwa 25 Minuten entfernten Krenn- 
schen Gehöfte unter und wurde dort, soweit er nicht auswärts be¬ 
schäftigt war, auch tagsüber durch die Wartung seiner Pferde fest¬ 
gehalten, — die Nächte brachte er anfangs zumeist bei seiner Familie 
zu, — als aber die Witterung unfreundlicher wurde und er in seinem 
Berufe mehr Beschäftigung fand, blieb er vielfach auf der Krenn- 
schen Behausung über Nacht, — teils weil es ihm zu beschwerlich 
war, in der Dunkelheit spät nach vollendetem Tagewerke heimzu¬ 
gehen und frühmorgens zur Wartung seiner Pferde den Weg wieder 
zurückzulegen, teils auch weil er den Klagen und Vorwürfen seiner 
Ehegattin wegen ihrer tatsächlich ungünstigen wirtschaftlichen Lage 
entgehen wollte. 

Er kam immer seltener heim, blieb seit Mitte Oktober ganz weg 
und schickte nur ab und zu etwas Geld und Lebensmittel seiner 
Gattin oder gab solches seinen Kindern, die um es zu holen, zu 
ihm kamen. 

Ende Oktober, etwa acht Tage vor dem Brande, erschien nun 
Josefa Kratzer, die das Fernbleiben ihres Gatten mit wachsendem 
Ärger und Mißtrauen in seine eheliche Treue erfüllt hatte, beim Krenn- 
schen Gehöfte und machte der Theresia Krenn, die sie, von Eifersucht 
geplagt, für die Ursache der Entfremdung ihres Mannes ansah, eine 
häßliche Szene, in deren Verlaufe sie dieser vorwarf, daß sie „beim 
Hosentürl ihres Mannes stehe“ und ihn ausfüttere. 

Theresia Krenn blieb die Antwort nicht schuldig, suchte sie 
jedoch vergeblich von der Grundlosigkeit ihrer Eifersucht zu über¬ 
zeugen und nannte sie schließlich, ärgerlich geworden, eine „bärende 
Pritschen“ (bärend, Ausdruck für eine hitzige, läufige Sau, — Prit- 


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Eifersucht als Triebfeder von Verbrechen. 


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sehen, — weibliche Scham, im übertragenen Sinne leichtfertiges Weibs¬ 
bild, — Hure). Über diese Beschimpfung geriet Johanna Kratzer 
außer sich, verließ scheltend und mit der Äußerung, „außer muß er 
aus dem Stall“ den Hof und begab sich zum Nachbargehöfte, wo 
sie der Besitzerin Johanna Paier ihre Not klagte und von der Be¬ 
schimpfung erzählte. Diese sowie Martin Krenn sen., welcher zum 
Ende des Auftritts zwischen der Kratzer und seiner Gattin gekommen 
war und der Kratzer naebging, versuchten ihr die Haltlosigkeit ihres 
Verdachtes nachzuweisen und sie zu beruhigen, Johanna Kratzer 
schenkte ihnen aber kein Gehör. 

Dieser Auftritt gab auch dem nach dem Brandleger forschen¬ 
den Gendarm einen Anhaltspunkt, den Verdacht der Täterschaft auf 
Johanna Kratzer zu lenken, zumal die Krenns sonst allgemein beliebt 
sind und keine Feinde haben. 

Zur Rede gestellt, leugnete Johanna Kr. die Tat und behauptete, 
während der Brandnacht das Haus nicht verlassen zu haben; — ihr 
zehnjähriger Sohn gab, abgesondert vernommen, dem Gendarm aber 
an, daß seine Mutter während der Nacht völlig angekleidet das 
Zimmer verlassen und ihm frühmorgens verboten habe, etwas davon 
zu erwähnen. Wohin sie gegangen und wie lange sie ausgeblieben 
sei, konnte der Knabe, der bald nach dem Weggange der Mutter 
wieder einschlief, nicht angeben. 

Festgenommen, leugnete Johanna Kratzer auch vor dem Bezirks¬ 
gerichte und trotz Vorhaltes der oben besprochenen Verdachtsmomente, 
die erst im Laufe der Erhebungen völlig gesammelt wurden, die Tat, 
— als ihr aber angekündigt wurde, daß sie vom Bezirksgerichte K 
an das Landes- als Untersuchungsgericht G eingeliefert werde, schritt 
sie unvermittelt und aus eigenem Antriebe zum Geständnisse und gab 
am 12. November an: 

Seit 14 Tagen sorgte mein Mann weder für mich noch für unsere 
drei Kinder; ich beschloß daher, ihn in seinem Wohnort bei Frau Krenn 
aufzusuchen und ihn zur Rede zu stellen. 

Ende Oktober begab ich mich zum Hause des Martin Krenn und 
verlangte von seiner Frau Theresia den Futterbogen meiner Hausfrau, 
den mein Mann einmal von Hause mitgenommen und nicht wieder 
zurückgebracht hat. 

Theresia K. begann sofort mich zu beschimpfen, nannte mich 
unter anderem eine bärende Pritschen und sagte, ich solle schauen, 
daß ich weiter komme. 

Ich begab mich hierauf zur Nachbarin vlg. Leopold (Paier), der 
ich mein ganzes Leid klagte, sie gab mir aus Mitleid Lebensmittel. 

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III. R. Ehmer 


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Dann ging ich nach Hause, in der Hoffnung, daß mein Mann 
doch noch zu mir zurückkehren werde. Tag für Tag wartete ich 
dann auf meinen Mann, aber vergebens, — ich habe die letzten 
Nächte nicht mehr geschlafen und war der Verzweiflung nahe. Die 
Kränkung, die mir mein Mann und die Krenn antat, fraß sich immer 
tiefer. Als er durch volle acht Tage auch noch nicht gekommen ist, 
beschloß ich aus Zorn über die mir angetane Beschimpfung und in¬ 
folge der Eifersucht, weil ich dachte, mein Mann komme deshalb nicht 
zu mir und nach Hause zurück, weil er mit der Frau Krenn ein Ver¬ 
hältnis unterhalte, das Krennsche Anwesen anzuzünden. 

Ich ging am 3. November um 3 Uhr früh, — so viel zeigte 
meine Weckeruhr, — vom Hause weg und kam in zirka 20 Minuten 
beim Krennschen Hause an, — daselbst war im Stalle schon Licht 
und hörte ich dort auch sprechen. 

Damit nun ja niemanden etwas geschehe und auch die Krenn¬ 
schen ihr Vieh leicht retten könnten, beschloß ich den Stadl anzu¬ 
zünden, der in der entgegengesetzten Richtung vom Stall und Wohn¬ 
gebäude liegt. 

Ich entzündete ein Zündhölzchen und steckte das brennende 
Zündholz in das Strohdach des Stadels. Ich wartete noch eine 
Weile, ob das Feuer ausbräche, bemerkte aber nichts davon und 
begab mich nach Hause zurück. 

Als ich etwa eine Viertelstunde entfernt war, sah ich das Feuer 
aufflammen, — lief heim und legte mich nieder. 

Am Morgen erfuhr ich dann, daß das ganze Anwesen abge¬ 
brannt und der junge Krenn von einer stürzenden Mauer erschlagen 
worden sei. 

Ich bereue meine Tat aufs tiefste und betone nochmals, daß ich 
sie nur ausführte, weil ich auf Frau Krenn eifersüchtig war und 
mir dachte, daß mein Mann nach Hause kommen müsse, wenn das 
Krennsche Haus abbrenne. 

Dieses Geständnis wiederholte sie dann auch vor dem Unter¬ 
suchungsrichter und bei der Schwurgerichtsverhandlung, allerdings 
immer in etwas abgeschwächterer Weise, indem sie einerseits ihre 
Notlage und Verzweiflung in immer grelleren Farben schilderte, an¬ 
dererseits behauptete, vor Eifersucht ganz „schädeldamisch“ gewesen 
zu sein, so daß sie nicht mehr wußte, was sie tue. 

Bei der Verhandlung erwies sie sich als eine ziemlich schlag¬ 
fertige und streitsüchtige Person, als rachgieriger Charakter. Die sie 
belastenden Momente namentlich die früheren Drohungen mit Brand¬ 
legung leugnete sie nnd zieh die Zeugen, die ganz unbefangen aus- 


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sagten und auch nichts von einer Gehässigkeit zeigten, bewußter Lüge. 
Dem Ein wände, daß sie knapp vor Ausführung der Tat im Stalle 
sprechen hörte und dies nur ihr Gatte (der sich übrigens der Aussage 
entschlug) und der verunglückte Martin Erenn gewesen sein könne, 
sie also daraus ersehen konnte, daß ihr Mann nicht wie sie vermutet 
hat, sich bei der Frau Erenn in deren Schlafstube befunden habe, 
begegnete sie mit der Behauptung,, sie habe auf die Stimmen im 
Stalle nicht so genau hingehorcht Um die Grundhältigkeit ihrer 
Eifersucht zu erweisen, brachte sie bei der Verhandlung auch die 
allseits als unwahr bezeichnete Behauptung vor, daß Martin Erenn 
(der ältere) Beziehungen zu einer Dirn unterhalte und sich zur Brand¬ 
zeit mit dieser schon mehrere Tage auf der Hube aufgehalten habe. 
— Es konnte dagegen nachgewiesen werden, daß die Dirn stets im 
Gehöfte anwesend war und Martin Erenn nur mit zweien seiner Einder 
auf der Hube hauste. 

Nach dem Eindrücke, den man bei der Hauptverhandlung ge¬ 
wann, wirkte als Triebfeder zur Tat nicht lediglich Eifersucht, sondern 
wie die Angeklagte gleich anfangs zugab, später aber in Abrede stellte, 
zum guten Teile auch Eränkung über und Rachsucht wegen der Be¬ 
schimpfung mit „bärende Pritschen“, während die angebliche Ver¬ 
zweiflung wegen ihrer Notlage nur als Mittel, um für sich Stimmung 
zu machen, vorgeschützt wurde, denn nach dem Ergebnisse der Er¬ 
hebungen ging es der Angeklagten wirtschaftlich zwar nicht besonders 
gut, aber auch nicht so schlecht, wie sie es darzustellen suchte. 

Bemerkenswert ist hier die übrigens auch in anderen Straffällen 
beobachtete Tatsache, daß aus früheren Äußerungen der Angeklagten 
sich die Richtung ergibt, in der sich ihr Zerstörungstrieb dann auch 
wirklich geltend machte. Das wiederholte Vornehmen, durch Brand¬ 
legung Rache zu nehmen, das Lustgefühl, welches mit den betreffen¬ 
den Vorstellungen verbunden war, ebenso aber auch die Vorstellung 
von der Art der Durchführung einer solchen Tat mochten immer 
mehr und mehr die Hemmungsvorstellungen zurückgedrängt und 
gewissermaßen den Weg gebahnt haben, auf dem die Angeklagte 
schließlich bei besonders mächtig gewordenen Affekten zum Ver¬ 
brechen schrttt. 

Darüber, warum Johanna Eratzer gerade bei Ankündigung ihrer 
Überstellung an das Landesgericht zum Geständnisse schritt, gab sie 
keine Aufklärung. Es ist aber eine Erfahrungstatsache, daß eine un¬ 
mittelbar bevorstehende tiefgreifende Änderung in der äußeren Lebens¬ 
lage vielfach Stimmungen hervorruft, die dann den Nährboden für 
Selbsteinkehr bilden, das Gewissen wachrufen und zur Erleichterung 


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111. R. Ehmer 


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des Gewissensdruckes durch Einbekennen der vollbrachten Übeltat 
fahren. 

Naturgemäß kommt ein auf diese Weise geborenes Geständnis 
der Wahrheit am nächsten; ist dann die Änderung in der Lebenslage 
wirklich eingetreten, hat sich der Schuldige mit seiner neuen Lage 
vertraut gemacht und sich hineingefunden, so kehrt auch die Lebens¬ 
lust wieder und es tritt dann immer mehr und mehr das Streben zu¬ 
tage, das Geständnis abzuschwächen und die Tat zu beschönigen. 

Josefa Kratzer wurde mit 11 Stimmen gegpn eine schuldig ge¬ 
sprochen und über sie unter Anwendung des außerordentlichen Mil¬ 
derungsrechtes eine neunjährige schwere Kerkerstrafe verhängt. 


Fall II. Straffall Odiles. 

Ignatz G., 1859 geboren, lernte im Jahre 1892 in Gr. das 10 Jahre 
jüngere Dienstmädchen Josefa H. kennen, das schon eine etwas be¬ 
wegte Vergangenheit hinter sich hatte, — er stieß sich weder daran, 
noch an die Existenz eines außerehelichen Kindes seiner neuen Be¬ 
kanntschaft Die Beziehungen beider wurden zärtlichere, erlitten eine 
Unterbrechung, als Josefa H. auf einige Zeit Gr. verließ; nach mehreren 
Monaten traf er sie aber wieder zufällig auf der Straße, knüpfte mit 
ihr wieder an und ehelichte sie im Jahre 1893. Er brachte in die 
Ehe ein Vermögen von etwa 12000 K, das er sich zum Teile als 
Milchfübrer erspart hatte, sie — wie er sich später drastisch ausdrückte — 
einen Kittel. Die Ehe war eine ungetrübte, er liebte seine Frau, ließ 
ihr in keiner Richtung etwas abgehen und schenkte ihr unbedingtes 
Vertrauen. 

So erfuhr er z. B. etwa */2 Jahr nach seiner Verehelichung von 
einer Tante, daß sein Bruder Josef, den er zu seiner Hochzeitsfeier¬ 
lichkeit eingeladen und bei sich bequartiert hatte, am Morgen nach 
der Hochzeitsnacht, als der junge Gatte um 5 Uhr früh das Haus 
verlassen mußte, um seinem Geschäfte als Milchführer nachzugehen, 
sich soweit vergessen habe, daß er seine Schwägerin im Bette auf¬ 
suchte und die Rolle des glücklichen Bräutigams übernahm. Er stellte 
seine Frau zur Rede, diese leugnete, sich ihrem Schwager hingegeben 
zu haben, worauf G. die Sache auf sich beruhen ließ und nur die 
Beziehungen zu seinem Bruder abbrach. 

Eine vorübergehende Trübung erfuhren die ehelichen Beziehungen 
zwischen den Ehegatten, als Ignatz G. im Jahre 1997 erfuhr, daß 
sich seine Frau dem Vater ihres außerehelichen Kindes M. wieder 
genähert habe, was ihm die Gattin Ms., die sich vorher vergeblich 


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an Josefa 6. gewendet hatte, mitteilte, um das Wiederaufleben des 
früheren Verhältnisses zwischen der 6. und ihrem Gatten zu vereiteln. 

Ingnatz G. schrieb dem M. einen groben Brief, forderte ihn auf, 
sich lieber um sein Kind als um dessen Mutter zu kümmern, söhnte 
sich mit seiner Frau, die ihm die Harmlosigkeit des Verkehrs mit M. 
glaubhaft machte, bald wieder aus, ja nahm sie in diesem Jahre noch 
in den Mitbesitz eines Hauses im Werte von 40000 K auf, das er 
angekauft hatte, schloß mit ihr allgemeine Gütergemeinschaft und 
setzte in einem Erbvertrage auch deren Kind zum Erben ein. Seit 
1896 waren beide Gatten in einem von Ignatz G. gekauften Kaffee¬ 
schanke tätig, der sehr gut ging und ihnen weitere Ersparnisse er¬ 
möglichte. 

Das Geschäft führten beide Gatten abwechselnd, so daß immer 
einer im Lokale war, der andere inzwischen eine Erholungspause hatte. 

So lebte das Ehepaar G. ruhig und in scheinbar glücklicher Ehe 
bis in den Sommer 1908 hinein. Ignatz G. nahm es weiter nicht 
krumm, daß seine Gattin mit manchen Gästen freundlicher war und 
schäkerte, denn „das gehört zum Geschäfte“. 

Mitte August 1908 lenkte aber Michael G., ein jüngerer Bruder 
des Ignatz G., dessen Aufmerksamkeit darauf, daß Michael S., Schank¬ 
bursch in einer Wirtschaft, die in dem von den Eheleuten G. bewohnten 
Hause betrieben wird, mit Josefa G. öfters zusaramenkomme. 

Ignatz G. wurde nun argwöhnisch, ging der Sache nach und 
erfuhr unschwer von Leuten, denen der Tratsch Lebensbedürfnis ist, 
daß seine Frau öfters in der bezeichnten Wirtschaft vorspreche und 
mit S. verliebte Blicke wechsle. Er beobachtete nun die Lebens¬ 
führung seiner Frau. — Als diese eines Abends Ende September 1908 
später nach Hause kam, als es durch ihre Geschäftsgänge geboten 
war, machte er ihr eine heftige Szene und mißhandelte sie; zwischen 
den Ehegatten trat infolgedessen eine Spannung ein, sie sprachen 
nur das Notwendigste miteinander, Ignatz G. verließ das gemeinsame 
Schlafgemach und bezog für sich ein kleineres Zimmer. Die Frau 
bat ihn um Verzeihung, versprach weinend, den Verkehr mit S. auf¬ 
zugeben, wurde aber doch mit ihm wieder gesehen. 

Am 5. 10. erzählte Michael G. seinem Bruder näheres über den 
Verkehr seiner Frau mit S., und von gemeinsamen Wagenfahrten 
beider, ferner, daß sie bei verschiedenen Festlichkeiten zusammen¬ 
gekommen seien, daß S. die G. im Juli öfters in ihrer Sommerwohnung 
aufgesucht habe, wo sie sicher waren, von Ignatz G. nicht gestört zu 
werden, da dieser, um seiner Frau die Erholung zu gönnen, das Ge¬ 
schäft allein besorgte und nicht abkommen konnte. 


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Aach Aloisia D., eine Nichte des G., die bei ihm bedienstet war, 
wnrde redselig. Bishin hatte sie geschwiegen, weil sie besorgte, daß 
G. im Falle eines Zerwürfnisses mit seiner Frau das Geschäft auf- 
geben würde und sie brotlos werden könnte. Nun das Zerwürfnis 
da war, erzählte auch sie, was sie wußte. Sie berichtete von einem 
nächtlichen Zusammentreffen der G. mit S. unter der Linde vor der 
Wohnung, weiter auch, daß sie vor Zeiten Michael G. in der Woh¬ 
nung des Ignatz G. mit des letzteren Frau in einer etwas verfäng¬ 
lichen Situation angetroffen habe. 

Ingnatz G. wurde hierdurch tief betroffen. — „Mein Schmerz war 
unermeßlich, — nicht genug, daß ich meine Frau aufgeben sollte, die 
ich trotz alledem noch immer liebte, — auch mein Geschäft stand 
auf dem Spiele, — mein erster Gedanke war: Scheidung. 

Als Ignatz G. in niedergedrückter Stimmung am fraglichen Abend 
aus dem Geschäfte heimging, traf er im Hofe auf S., warf diesem vor, 
daß er auf seine Frau lauere und hatte mit ihm einen heftigen Auf¬ 
tritt — Heimgekommen traf er seine Frau bereits zu Bette, erklärte 
ihr, er sehe ein, daß sie miteinander nicht mehr gut auskommen 
könnten, sie möge einige Zeit Buhe geben bis die Eaffeeschänke ohne 
Verlust verkauft werden könne, dann würden sie auseinandergehen. 
Die Frau begann zu weinen, beteuerte, daß an ihren Beziehungen zu 
S. nichts Verfängliches sei, die Leute lögen, fiel ihm um den Hals 
und kam schließlich zu ihrem Gatten ins Bett 

Am 6. 10. besuchte Ignatz G. seine Schwägerin, die Frau des 
Michael G., holte sie aus und erfuhr von ihr, daß vor längerer Zeit 
Josefa G. nachts unter dem Fenster des Michael erschienen sei und 
ihn herabgerufen habe. Michael G. folgte dem Bufe und blieb längere 
Zeit aus. 

Ueber das Folgende gibt Ignatz G., dem ich nun das Wort lasse, an: 

Als ich von der Schwägerin heimkam, traf ich meine Frau, der 
ich kurzerhand mitteilte, daß ich nicht mehr ins Geschäft gehen 
werde. Sie war hierüber sichtlich bestürzt, folgte mir in die Wohnung, 
wo sie wieder zu weinen anfing und beteuerte, sie werde nicht mehr 
mit S. gehen. Ich trug ihr auf, bis 4 Uhr Nm. in den Schank zu 
gehen, dann würde ich sie ablösen; ich tat dies und hieß sie, bis 
8 Uhr der Buhe zu pflegen, dann mich abzulösen. Wer nicht kam, 
war meine Frau; ich schickte mehrmals um sie, vergeblich, sie war 
nicht zu Hause. Als ich um 10 Uhr abends heimkam, lag sie im 
Bette u. z. im kleinen Zimmer, da sie mir inzwischen das größere 
eingeräumt hat. Ich stellte sie wegen ihres Benehmens zur Bede, sie 
erklärte weinend, sie wage es nicht, über den Hof zu gehen, da S. 


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Eifersucht als Triebfeder von Verbrechen. 


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ihrethalben seine Stellung verloren habe; als sie wieder von S. anfing, 
wnrde ich zornig und schlug sie, kehrte ins Geschäft zurück und 
schickte ihr von da ein von ihr verlangtes Getränk. Als ich um 
V 2 I 2 Uhr nachts heimkam, war meine Frau nicht zu Hause. Aloisia D. 
erzählte mir, sie habe sich in Seide angezogen, mit Pretiosen ge¬ 
schmückt und sei in einen Gasthof gegangen, um dort zu übernachten. 

Am 7.10. stellte ich meinen Bruder Michael wegen des Umgangs 
mit meiner Frau zur Rede, er gestand mir zu, mit ihr durch Jahre 
wiederholt u. z. bis Juli 1908 geschlechtlich verkehrt zu haben, — 
wie er behauptet, aus Liebe zu mir, weil sie erklärte, wenn sie ihn 
nicht haben könne, gehe sie von mir weg. Ich ließ mir dieses Ge¬ 
ständnis von meinem Bruder schriftlich geben, weil ich es als Beilage 
zu einer Scheidungsklage zu verwenden gedachte. 

Nach der Unterredung mit meinem Bruder ging ich ernstlich mit 
mir zu Rate, in meinem Kopfe wogten die verschiedensten Gedanken 
durcheinander: — scheiden lassen konnte ich mich nicht, denn dann 
war ich ruiniert, lieb hatte ich das Weib noch bis jetzt und trotzdem 
betrog sie mich an allen Ecken, — da reifte in mir der Entschluß, 
ihrem und meinem Leben ein Ende zu machen. Ich kaufte mir einen 
Revolver und Patronen und verwahrte ihn in meinem Zimmer. 

Dreimal legte ich mich in der Zeit von Mittag bis Abend 8 Uhr 
zu Bette, um über den fürchterlichen Entschluß noch einmal zu 
schlafen, — allein ich fand keinen Schlaf. — Nachmittags schrieb 
ich mehrere Briefe an meine Stieftochter, an die Oberin des Klosters, 
in dem sie erzogen wird, traf noch letztwillige Anordnungen und 
zerriß den Zettel mit dem Geständnisse meines Bruders. 

Im Laufe des Tages ließ mich meine Frau fragen, ob sie Beim- 
kommen könne und verlangte die Übersendung von Geld, dies ver¬ 
weigerte ich, ersteres gestattete ich, doch kam sie erst gegen 7 Uhr 
abends und legte sich bald zu Bette. 

Ich konnte keinen Schlaf finden, ging am 8. 10. um 5 Uhr früh 
ins Geschäft und blieb dort tagsüber, — auch die Frau fand sich dort 
ein, ging um V*9 Uhr abends wieder heim und legte sich nieder. 
Ich blieb bis gegen 12 Uhr nachts, trank in kleinen Portionen 
V 4 Liter Slivovitz, um mir Mut zu machen, sperrte das Geschäft, 
sprach am Heimwege noch mit einem Wachmann, ging dann zuerst 
in mein Zimmer, zündete ein Licht an, nahm den Revolver, den ich 
gleich nach dem Ankäufe geladen hatte, samt der Patronenschachtel 
an mich, ging mit dem Revolver in der einen, dem Leuchter in der 
anderen Hand zum Bette meiner Frau, stellte die Schachtel und den 
Leuchter auf. das Nachtkästchen, den Revolver behielt ich in der 


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Hand, — meine Frau war erwacht, ich sagte zu ihr: „So, jetzt 
brauchst mir keine Schande mehr zu machen und ich brauche mich 
nicht mehr zu genieren, jetzt ist Schluß mit uns zwei.“ — Sie er¬ 
widerte: „Mir ist alles eins“, und auf das hin schoß ich; ich hatte 
den Hahn schon früher gespannt und hielt die Waffe so nabe an 
ihren Kopf, daß der Zwischenraum kaum handbreit war. Ich schoß 
4 mal gegen ihren Kopf in der Absicht, sie zu töten. Daß sie wäh¬ 
rend der Abgabe der Schüsse gerufen hätte, „Vater, laß mich leben“, 
(dies wird von der Ohrenzeugin D. behauptet) ist mir nicht erinner¬ 
lich. Nach den 4 Schüssen gegen meine Frau zielte ich gegen meine 
Schläfe und feuerte 2 mal, — die Schüsse gingen los, allein in der 
Aufregung hielt ich den Revolver so schlecht, daß ich mich nicht 
traf. Nun lud ich den Revolver neuerlich, ich glaube, nur 2 Patronen 
hinein getan zu haben, ich feuerte wieder gegen meine rechte Schläfe, 
der t. Schuß traf, der 2. ging fehl. Nun sperrte ich die Eingangstüre 
zum Zimmer, die ich beim Nachbausekommen zugesperrt hatte, auf 
und rief der Aloisia D., sie solle einen Wachmann holen. Was weiter 
geschah, weiß ich nicht, es ist möglich, daß ich noch geschossen 
habe; aber wie oft und wohin, ist mir nicht erinnerlich (tatsächlich 
gab G. noch 4 Schüsse ab). Den Wachleuten habe ich dann selbst 
die Türe geöffnet und gesagt, ich habe meine Frau erschossen, da 
bin ich. 

Ich wollte die Frau töten, weil ich sie viel zu lieb habe, um sie 
einem anderen zu gönnen, und da ohne sie das Leben für mich auch 
keinen Wert hatte, wollte ich mich auch umbringen. Daß dieser 
Entschluß fest war, geht daraus hervor, daß ich im anderen Zimmer 
zwischen Bett und Fenster an einem Haken einen Strick mit einer 
Schlinge vorbereitet hatte (sie wurde beim Lokalaugenscheine gefunden), 
in diese wollte ich mich zuerst einhängen und dann auf mich schießen, 
in der Aufregung kam ich aber gar nicht in dieses Zimmer und 
vergaß darauf. Ich weiß genau, was ich getan habe, und warum ich 
es getan habe, geht wohl aus meiner Leidensgeschichte hervor.“ 

Josefa G. war lebensgefährlich verwundet, die Wunden heilten 
zwar oberflächlich zu, doch blieb ihr Bewußtein getrübt Über den 
Vorfall war sie gar nicht orientiert, glaubte, sich ihre Verletzungen 
bei einem Falle über eine Stiege zugezogen zu haben und hielt 
Leute, die sie ansprachen, für den Michael — am 28.10. starb sie an 
Gehirnlähmung. 

Ignatz G. wurde von seiner nicht allzuscbweren Verletzung ge¬ 
heilt und am 10. 11. wegen des Verbrechens des Gattenmordes vor 
die Geschworenen gestellt. Die sprachen ihn frei, — wie.man hinterher 


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erfahr, nicht, weil sie ihn für schuldlos hielten, sondern weil ihnen 
die gesetzlich angedrohte Todesstrafe für die Tat zu hart erschien 
nnd sie kein Mittel an der Hand hatten, die ihnen für sein Ver¬ 
schulden angemessen scheinende Strafe (mehrjähriger Kerker) über 
ihn verhängt zu sehen. 

Auch in diesem Drama spielte die Eifersucht eine unverkennbare 
Rolle, u. z. weniger beim Täter als bei dessen Bruder Michael, der 
erst dann ersteren auf die Untreue seiner Gattin aufmerksam macht, 
als diese ihre Gunst einem anderen zuzuwenden begann. 

Auch bei Ignatz G. hat zweifellos diese Leidenschaft zur Ent¬ 
stehung und Fassung seines Entschlusses mitgewirkt Daneben aber 
wirkten und zwar wohl in nicht zu unterschätzendem Grade die Ver¬ 
zweiflung über den Zusammenbruch seines mühselig und emsig auf¬ 
gerichteten Lebensgebäudes und der bei dem in Jahren vorgeschrittenen 
Manne begreifliche Mangel an Spannkraft, aus den Trümmern sich 
ein neues Heim zusammen zu zimmern, ein Minus an Energie, sein 
Lebensschiff anderswohin zu lenken und sich in andere Lebens¬ 
verhältnisse zu schicken oder der Spottlust seiner gewohnten Umgebung 
die Spitze zu bieten. 

Der österreichische Strafprozeß schließt die Geschworenen außer 
dem Falle, daß ihnen nach § 322 eine Frage nach Erschwerungen oder 
Milderungsumständen vorgelegt wird, deren Vorhandensein nach dem 
Strafgesetze eine Änderung des Strafsatzes oder der Strafart begründen, 
prinzipiell und absolut von jeder Einflußnahme auf die Straffrage aus; 
sie sind vor Beginn ihrer Beratung nach § 326 von ihrem Obmanne 
dahin zu belehren, daß nicht sie, sondern nur die Richter berufen sind, 
die gesetzlichen Folgen auszusprechen, welche den Angeklagten im 
Falle einer Schuldigerklärung treffen, daher sie ihre Erklärung ohne 
Rücksicht auf die gesetzlichen Folgen ihres Ausspruches abzugeben haben. 

So ideal dieses Prinzip in der Theorie erscheinen mag, in der 
Praxis bewährt es sich nicht und es geht wohl kaum irgend eine 
Session des Schwurgerichts vorüber, ohne daß eine Verhandlung eben 
wegen des Ausschlusses der Geschworenen von jeglichem Einflüsse 
auf die Straffrage gewiß nicht zum Gedeihen der Rechtspflege und 
zur Aufrechterhaltung und Stärkung des Rechtsbewußtseins der Be¬ 
völkerung, mit einem Mißerfolge enden würde. 

Es macht sich auch immer wieder das Bestreben der Geschworenen 
geltend, Einfluß auf die Straffrage zu nehmen oder wenigstens ihrer 
Anschauung in dieser Richtung Ausdruck zu geben, sei es, daß sie in 
der irrigen Meinung, einhellige Bejahung der Schuldfrage ziehe strengere 
Strafe nach sich, auch bei vollkommen klarer Schuldfrage diese nicht 


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III. R. Ehmer 


einhellig bejahen, sei es, daß sie, was gesetzlich ebenso unzulässig, 
als menschlich begreiflich ist, an den Gerichtshof das Ersuchen richten, 
bei Ausmessung der Strafe Milde walten zu lassen. Es kann den Ge¬ 
schworenen gewiß nicht verargt werden, daß sie nicht lediglich die Tat, 
sondern ihren Wahrspruch als kausal für die Strafe ansehen und 
deshalb die Folgen ihres Ausspruches bei Abgabe desselben in Rück¬ 
sicht ziehen; sie sind eben nicht Maschinen, sondern fühlende Menschen. 

Es wäxe daher an der Zeit und gewiß nur im Interesse der 
Rechtspflege gelegen, den Geschworenen die legale Möglichkeit einer 
Einflußnahme auf die Strafbemessung zu gewähren, sei es, daß man 
den Obmann oder zwei aus ihrer Mitte zu Wählende zur Beratung 
über die Straffrage zuzieht oder daß man ihnen gestattet, die Schuld¬ 
frage mit dem Beisatze „unter mildernden Umständen tt zu bejahen 
und an eine solche Beantwortung bestimmte Folgen knüpft 


Fall HL Straffall Ridky. 

Am klarsten und reinsten tritt das Eifersuchtsmotiv in folgendem 
Straffalle zutage: 

Die im Jahre 1876 als achtes Kind eines Arbeiters geborene 
Katharina R. wuchs, wie begreiflich, in ärmlichen Verhältnissen auf, 
genoß durch einige Jahre Schulunterricht in einem Kloster, bildete 
sich dann im Weißnähen aus und war seit dem 16. Lebensjahre darauf 
angewiesen, sich selbst ihren Unterhalt zu verdienen, was ihr um so 
schwerer ankam, als sie stets kränklich war und vielfach an nervösen 
Kopfschmerzen litt Von ihrer Umgebung wird sie als nervös, sehr 
reizbar, exaltiert geschildert, — nach dem Gutachten der Psychiater, 
die während der Voruntersuchung wegen des zu schildernden Straf¬ 
falles ihren Geisteszustand eingehend untersuchten, ist sie geistig voll¬ 
kommen klar, ganz intelligent, aber abnorm veranlagt, höchst leiden¬ 
schaftlich, exzessiv sinnlich, überspannt, offenbar hysterisch, Zeichen 
einer Geisteskrankheit wurden bei ihr jedoch nicht vorgefunden. 

In ihrem 19. Lebensjahre lernte sie in Gr. den 1879 geborenen 
Maschinenschlosser August E. kennen, der sich nach ihrer Behauptung 
an sie herandrängte und ihr „Liebe einzuflößen“ trachtete, doch fand 
sie ihn damals antipathisch und wich einem näheren Verkehre mit ihm 
aus' E. kam dann nach Wien, wo er seiner Militärdienstpflicht genügte. 

Im Jahre 1896 zog die R. auch dorthin, traf mit E. zuerst auf 
der Gasse zusammen, dann besuchte sie dieser in ihrer Wohnung; 
durch das Wiener Leben „angeregt und lebenslustiger geworden“, 
fand sie an E. immer mehr Gefallen, ihre Beziehungen wurden wärmer, 


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Eifersucht als Triebfeder von Verbrechen. 


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schließlich gab sie sich ihm zu eigen. E. versprach, als die R. 1899 
eines Kindes genas, sie zn ehelichen, sobald er sich eine feste Lebens¬ 
stellung errungen habe. R. kehrte zu ihren Eltern nach Gr. zurück. 
E. fand nach Beendigung seines Militärdienstes eine Stelle in Frankfurt, 
dann in K., wo ihn die R. besuchte, aber wieder wegfuhr, als sie 
darauf kam, daß er mit einem anderen Mädchen ein Verhältnis unter¬ 
halte. Er knüpfte mit ihr aber wieder briefliche Beziehungen an, es 
kam zu einer Aussöhnung, E. kehrte nach Gr. zurück, die R. traf 
nach Kräften Vorbereitungen für die nun einzugehende Ehe, schaffte 
unter vielen Entbehrungen Möbel an etc., — E. aber fand ein Leben mit 
ihr wegen ihrer Reizbarkeit unerträglich und flüchtete vor ihr ins Ausland! 

„Ich habe sie immer gern gehabt, — da sie aber wegen ihrer 
Leidenschaft und Eifersucht unerträglich wurde, mich und meine An¬ 
gehörigen aufs gröblichste beschimpfte, fürchtete ich, mit ihr unglücklich 
zu werden. Ich habe, um mit ihr zu brechen, meine Dienstplätze 
auf gegeben, sie ist mir aber immer wieder aus eigenem Antriebe (nicht, 
wie sie behauptet, auf meine Bitten) nachgefahren, und flehte nach 
jedem der vielen Zerwürfnisse wieder um Versöhnung und weiteren 
Verkehr, — ich ließ mich, da ich sie im Grunde genommen liebte, 
immer wieder mit ihr ein.“ 

So kam es im Laufe der Jahre bis zum Jahre 1908 wiederholt 
zu Streitigkeiten, Trennungen und Versöhnungen, — die R. war in¬ 
folge des Verkehrs mit E. noch 2 mal Mutter geworden, — die oft 
besprochene Verehelichung kam aber nie zustande; wie sehr die R. 
auch darauf drängte, E. wußte immer wieder Ausflüchte, hielt sie hin 
und zeigte sich nur dann ihren Wünschen gefügiger, wenn es sich 
darum handelte, Zwangsvollstreckungen zur Einbringung der Unter¬ 
haltungsbeiträge für das eine am Leben gebliebene Kind — die anderen 
zwei waren im Laufe der Zeit gestorben — zur Einstellung zu bringen. 

Im Sommer 1908 kamen beide wieder in Gr. zusammen und 
setzten ihr Verhältnis fort, — die R. sah nun den E. öfters mit der 
19jährigen L. sprechen, vermutete in ihr eine Rivalin, klärte sie über 
ihre Beziehungen zu E. auf, geriet in hochgradige Erregung, konnte 
nicht arbeiten, verfolgte den E. auf Schritt und Tritt und machte ihm, 
als sie ihn eines Abends mit der L. auf der Gasse traf, eine heftige 
Szene, in deren Verlaufe sie ihn im Gesicht zerkratzte und darauf 
von ihm mißhandelt und leicht verletzt wurde. Sie brachte dies zur 
Anzeige, lauerte dann dem E. auf der Gasse auf, stritt mit ihm, er 
drohte mit einer Gegenklage, bat sie dann um Verzeihung, wußte sie 
zu beruhigen und zu versöhnen, und trat mit ihr wieder über ihr 
Drängen in intimen Verkehr; als er sie aber Tags darauf in ihrer 


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III. R. Ehmer 


Wohnung besuchte, fuhr sie auf ihn los und verletzte ihn mit einer 
Schere an der Nase. Eingedenk der von ihr bei früheren Gelegen¬ 
heiten wiederholt ausgestoßenen Drohungen, daß sie ihn einmal ver¬ 
stümmeln werde, blieb E. ihr nun fern, suchte jedes Zusammetatreffen 
mit ihr zu vermeiden und sah sie tatsächlich erst am 17. 9, als sie 
bei der gegen ihn ob Übertretung der leichten körperlichen Beschädigung 
angeordneten Verhandlung erschien, zu der über ihre Veranlassung 
auch die L. als Zeugin geladen war. 

E. hielt sich bei dieser Verhandlung völlig reserviert und machte, 
wie durch die Vernehmung der Verhandlungsfunktionäre hinterher 
konstatiert wurde, gegen die B. ebensowenig einen Ausfall oder eine 
abfällige Bemerkung wie sein* Verteidiger oder die L., mit der er, 
nachdem er zu einer Geldstrafe von 20 E und zur Zahlung eines 
Schmerzensgeldes von 24 K an die R. verurteilt worden war, den 
Verbandlungssaal verließ. 

Anders spiegelte sich der Gang der Verhandlung in der Auffassung 
der R. ab, deren Darstellung des Vorgangs bei Gericht und des 
Folgenden für ihre Wesenheit so charakteristisch ist, daß sie wörtlich 
wiedergegeben werden soll. 

„Schon vor der Verhandlung sah ich im Warteraum, daß E. mit 
der L. tuschelte, beide mich boshaft lächelnd anblickten und offenbar 
gegen mich etwas im Schilde führten. Hierüber und über die offen¬ 
sichtige Mißachtung meiner Person seitens des E. geriet ich in hoch¬ 
gradige Erregung, hielt mich aber im Vertrauen auf mein gutes 
Recht zurück. 

Während der Verhandlung stellte mich der Verteidiger geradezu 
als eine Dirne hin, die L. gab eine unwahre Zeugenaussage ab, und 
da ich mich hiedurch in meiner Geschlechtsehre aufs heftigste gekränkt 
sah und das Gefühl hatte, als ob auf mich mit Fingern gewiesen 
würde, als wie auf eine Dirne, und ich nirgends ein Recht für mich 
ersah, wuchs meine Erregung, so daß ich kaum wußte, was für einen 
Ausgang die Verhandlung genommen habe. 

Nach Verlassen des Verhandlungssaales hörte ich, wie E. 
triumphierend zur L. sagte, daß ihm nichts geschehen sei, mich packte 
die Wut, daß E., der mich verführt, wiederholt betrogen und in der 
Not elend im Stiche gelassen hatte, auf Grund einer falschen Aussage 
einer Person, von der ich wußte, daß sie nun seine Auserwählte und 
Geliebte sei, straflos ausgehe und sich über mich lustig mache. Mir 
war nun alles gleich, was über mich kommen würde, wenn ich mich 
nur an E. rächen könnte. Ich beschloß, ihm einen Denkzettel zu geben, 
mit Vitriol anzusebütten und dann meinem Leben ein Ende zu machen. 


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Eifersucht als Triebfeder von Verbrechen. 


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Ich eilte zuerst zu meinem Vater, dem ich erzählte, daß ich gegen 
E. nichts ausgerichtet habe und dagestanden wäre, wie eine Dirne, 
wartete eine Antwort gar nicht ab und lief in meine Wohnung, riß 
mir die Kleider vom Leibe, zog schnell andere an, nahm mir gar 
keine Zeit zu essen, ergriff ein Einsiedeglas mit Vitriol, das ich zu 
Wirtschaftszwecken im Hause hatte und eilte damit vor die Wohnung 
des E., um ihm dort aufzulauern. Als E. seine Wohnung verließ 
(2 Uhr Nm.), folgte ich ihm heimlich und täuschte mich nicht in der 
Annahme, daß er zur L. gehen werde. Ich verbarg mich in der 
Nähe der Behausung der L. in einem Gasthause, ließ mir etwas Essen 
und zu Trinken reichen, setzte mich dort so, daß ich das Haus im 
Auge behalten konnte. Ich sah, daß E. (etwa um 3 Uhr Nm.) mit der 
L. am Arm fortging und wartete auf seine Rückkehr. Alles zitterte 
in mir vor Erregung, ich wußte mich aber soweit zu beherrschen, daß 
ich mit den Wirtsleuten und mit Gästen unauffällig sprechen konnte. 

E. kam mit der L. etwa um V 2 6 Uhr wieder zurück und betrat 
deren Wohnung, als er von dort nach einer Viertelstunde allein wegging 
und sich der Straße zuwendete, (das Haus steht in einem Garten) verließ 
auch ich eiligst das Gasthaus, nahm das Glas mit dem Vitriole zum 
Ausschütten bereit in die Hand und begab mich auf die Straße. E. ging, 
ohne mich zu beachten, gegen mich zu; ohne mich aufzuhalten schüttete 
ich ihm den ganzen Inhalt des Glases ins Gesicht, er fuhr mit den 
Händen gegen das Gesicht, mich reuje sofort die Tat, ich wagte aber 
nicht mehr an ihn heranzutreten und ihm zu helfen und ging ohne 
mich um ihn zu kümmern nach Hause.“ 

Diese Schilderung ist im großen und ganzen wahrheitsgetreu, 
nur unterließ es Katharina R., im Verhöre anzugeben, daß sie vor 
ihrem Weggehen aus ihrer 'Wohnung auch schwarze Brillen, deren 
sie sich sonst nie bedient hat, aufgesetzt, ihr Gesicht überdies mit 
einem schwarzen Schleier dicht verhüllt und so unkenntlich gemacht 
hat. Während ihres Aufenthaltes im Gasthause erzählte sie der 
Wirtstochter wohl von ihrem Verhältnisse zu E. und daß sie auf ihn 
warte, weil sie mit ihm etwas zu besprechen habe, zeigte sich aber 
nicht sonderlich erregt und nahm auch am Gespräche anderer Gäste, 
teil. Als sie den E. gegen die Straße kommen sah, postierte sie sich 
so hinter einem Laternenpfahl, daß E. an ihr vorbeikommen mußte. 
Nach der Tat rief sie aus: „Jetzt ist’s gut!“ und verschwand eiligst. 

E. erlitt schwere Brandwunden im Gesicht und büßte beide 
Augen ein. 

Katharina R. wurde schuldig gesprochen und zu 5 Jahren schweren 
Kerkers verurteilt. 


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IV. 


Die Einwirkung von Volksparken auf die Kriminalität 

der Jugend. 

Von 

Dr. Ernst Schultze in Hamburg-Großborstel. 


In fast allen Kultnrländern beschäftigt man sich gegenwärtig viel 
mit der Frage der Volksparke. Überall, wo die städtische Bevölke¬ 
rung, insbesondere die Bevölkerung der Großstädte, stark anwächst, 
beginnt man zu erkennen, daß für die Erholungsmöglichkeiten der 
Menschen, die hier, von der Natur abgeschnitten, in endlose Reihen 
steinerner Häuser gebannt sind, nicht genügend gesorgt ist. England 
und die Vereinigten Staaten, in denen Sport und Spiel weiter aus¬ 
gebildet sind als in deutschen Landen, gehen uns darin vorauf. Von 
größter Bedeutung ist nun die Tatsache, daß die Volksparke, wie sich 
durch ein bestimmtes amerikanisches Beispiel nachweisen läßt, nicht 
nur die Gesundheit, die Stimmung, die Lebensfreudigkeit der Besucher 
fördern, sondern daß sie auch nachweisbar zur Zurückdrängung 
der Kriminalität der Jugend beitragen. 

Zwar ist dies ja eigentlich schon ohne weiteres klar. Aber gerade 
selbstverständliche Dinge müssen leider häufig erst bewiesen werden, 
wenigstens wenn es sich um gemeinnützige Einrichtungen handelt, 
die dem Staate oder der Stadt Geld kosten, ohne daß sich auf Heller 
und Pfennig nachrechnen läßt, daß die aufgewendeten Summen „ren¬ 
tabel" angelegt sind, daß sie sich also in barem Gelde oder wenigstens 
in Ersparnissen mit einem bestimmten Prozentsatz verzinsen werden, 
wie etwa ein städtischer Schlacbthof oder ein Elektrizitätswerk 

Für die gute Einwirkung der Volksparke auf die Bevölkerung 
ist besonders kennzeichnend eine Reihe von Urteilen, die aus 
Chicago vorliegen. In dieser unsympathischen, rußigen, rauchigen, 
lärmenden, nüchternen, häßlichen, ganz auf den Gelderwerb gestellten 
zweitgrößten Stadt der Vereinigten Staaten hat man Volksparke schon 
seit längerer Zeit geschaffen. Seit etwa fünf Jahren aber sind gerade 
in den südlichen Stadtteilen, also in denen, die sich unmittelbar um die 


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Die Einwirkung von Volksparken auf die Kriminalität der Jugend. 33 

großen Fabriken, um die Werkstätten der Pullmanngesellschaft, um 
die riesigen Anlagen der Sch weineschlächtereien, um die Hochofen¬ 
betriebe und Eisenwalzwerke herum gruppieren, eine große Zahl neuer 
Parke geschaffen. Von deren Einwirkung auf die moralische Haltung 
der Bevölkerung, insbesondere der Kinder, soll hier die Rede sein. 

Nicht nur Menschenfreunde, nicht nur die Parkbehörden selbst 
bezeugen, daß das Benehmen der Erwachsenen ebenso wie das der 
Kinder in den den Volksparken benachbarten Straßen ein wesentlich 
anderes geworden sei — auch die Polizei teilt diese Ansicht durch¬ 
aus. Früher mußte sie alle Augenblicke Kinder verhaften, weil sie 
alle erdenklichen Arten von Unfug verübt hatten. Großstadtkinder, 
die ohne die Aufsicht der Eltern sind und in den Straßen herum¬ 
lungern, pflegen dort weder Gutes zu lernen noch Gutes zu tun. 
Vorübergehende mit Schneeballen werfen ist noch ein verhältnismäßig 
unschuldiges Vergnügen. Laternen ausdrehen, Fenster- und Laden¬ 
scheiben einschlagen macht schon mehr Spaß. Ab und zu tritt auch 
einmal ein besonders böswilliger Fall hervor, der den Gerichten 
zu schaffen macht und die Kriminalstatistik um einen schwarzen 
Punkt bereichert. 

Es liegt nun auf der Hand, daß der Antrieb zu manchem hä߬ 
lichen Vergehen fortfällt, sobald durch einen großen Volks park die 
Möglichkeit der Erholung ohne dumme Streiche gegeben ist. Die 
Kinder können sich hier wundervoll beschäftigen: die kleineren 
können Burgen aus Sand bauen, die größeren können Räuber und 
Soldat oder Farmer und Indianer spielen, sie können baden und 
plantschen, können sich verstecken und nacheinander jagen, ohne 
notwendig einen Vorübergehenden umzurennen oder selbst in Gefahr 
zu kommen, überfahren zu werden; sie können im Grase liegen und 
in den Himmel hineinträumen, im Winter können sie Schlittschuh 
laufen, die Abhänge auf Rodelschlitten hinuntersausen, Schneemänner 
bauen — und was der schönen Spiele der Kindheit mehr sind. Die 
Energie der Jugend findet dann einen natürlichen Aus¬ 
weg. All die überströmende Kraft, die in unseren Jungen einen 
Ausweg sucht, der sich in glücklicheren Verhältnissen, namentlich auf 
dem Lande, in den Spielen im Freien ohne weiteres findet, die aber 
in der Großstadt naturnotwendig mit dem ernsten Treiben und der 
Berufspflicht der Erwachsenen Zusammenstößen muß, findet wieder 
ein freies Feld der Tätigkeit, sobald Volksparke geschaffen sind, in 
denen sich die Jugend nach Herzenslust tummeln kann. In Chicago 
war die Polizei ungemein erstaunt, nach der Eröffnung der neuen 
Volksparke in der Südstadt zu finden, daß sie wesentlich entlastet 

Archiv für Kriminalanthropologie. 84. Bd. 3 


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IV. ERN8T S<?HÜLTZE 


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wurde, weil sich der Tätigkeitsdrang der Kinder nunmehr darin ent¬ 
lud, daß sie Fußball spielten oder um die Wette liefen oder schwam¬ 
men und sich gegenseitig neckten, nicht aber den Vorübergehenden 
einen Schabernack antaten. Und die Gerichtshöfe konnten ebenso 
feststellen, daß nun weniger übermütige oder böswillige Streiche 
der Jugend vor die Schranken des Gerichts gezogen wurden als 
zuvor. . . . 

Übrigens ist auch die moralische Einwirkung der Volks¬ 
parke auf die Erwachsenen nicht zu unterschätzen. Die Hun¬ 
derttausende, die in den neugeschaffenen Parken ihre Erholung finden, 
wissen nun, was sie mit ihrer freien Zeit anfangen sollen. Aller 
Kampf um eine Verringerung der Arbeitszeit durch die Gesetzgebung 
oder durch die Taktik der Gewerkschaften ist ja doch im Grunde 
genommen ziellos, wenn der Arbeiter nachher nicht weiß, was er mit 
der gewonnenen freien Zeit beginnen soll. In den rußigen Straßen 
spazieren laufen ist kein Vergnügen; zu Hause mag man auch nicht 
immer sitzen; wer keine Häuslichkeit hat, sondern nur als Schlaf¬ 
bursche zur Miete wohnt, hat häufig den Wunsch, sich anderswo 
aufzuhalten. Seitdem nun die Parke geöffnet sind, gewährt es den 
Hunderttausenden schwer arbeitender Menschen ein bisher nicht ge¬ 
kanntes Vergnügen, in ihrer freien Zeit im Grase zu liegen, in die 
Äste der Bäume zu schauen oder den ziehenden Wolken am Himmel 
nachzublicken, auf den Teichen umherzurudern, Schlagball zu spielen, 
zu baden und zu schwimmen, in den Volksbibliotbeken eine Zeit¬ 
schrift oder ein gutes Buch zu lesen, im Winter Schlittschuh zu laufen 
oder auf einem Rodelschlitten den Abhang hinunter zu fahren — 
kurzum, sich an Körper und Geist so recht von Grund aus zu erholen 
und auszuspannen. 

Auch die Einwirkung auf die Reinlichkeit ist beträcht¬ 
lich: und eine Zunahme der körperlichen Reinlichkeit ist meist auch 
von größerer moralischer Reinlichkeit, wenigstens in ein¬ 
zelnen Dingen, begleitet Die Einwohner Südchicagos haben in den 
Schwimmhallen der Volksparke jetzt die Annehmlichkeit des Badens 
für das körperliche Wohlbefinden und für die Gesundheit am eigenen 
Leibe erfahren. Insbesondere für die zahlreichen Einwanderer aus 
Südost- und Osteuropa, die nach Chicago kommen und dort in den 
Fabriken die schwersten Arbeiten verrichten, ist dies von hervor¬ 
ragendem Einfluß. Oft und oft hat sich der Fall ereignet, daß ein 
frisch zugezogener Einwanderer von seinen Verwandten, die schon 
längere Zeit im Lande sind, sogleich nach seiner Ankunft in eine 
Parkbadeanstalt geschleppt wurde, um seinen äußeren Menschen etwas 


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Die Einwirkung von Volksparken auf die Kriminalität der Jugend. 35 


aufzufrischen. Man kann getrost annehmen, daß manch einer, der 
sich für eine überlange Frist auf ein einziges Bad beschränkte, jetzt 
regelmäßig wöchentlich mindestens ein Bad nimmt. Die von den 
Badeanstalten der Volksparke in Südchicago gewählte Verbindung von 
Brausebad und Schwimmbad ist sehr geschickt — ja, ich möchte sie 
für geradezu notwendig halten. Denn wo nur Brausebäder vorhanden 
sind, üben sie noch nicht die Anziehungskraft aus wie in der Ver¬ 
bindung mit Schwimmbädern. Ich will nur an die Tatsache erin¬ 
nern, daß z. B. in einer oberschlesischen Stadt, wo Brausebäder für 
die Arbeiter eingerichtet wurden, diese Badeeinrichtungen nicht oft 
genug freiwillig benutzt werden, so daß förmliche Abkommandierungen 
zum Baden erfolgen müssen. 

Aber der erwachende Sinn für Reinlichkeit beschränkt sich nicht 
auf die eigene Persönlichkeit, er greift auch auf die ganze Um¬ 
gebung, sowohl zu Hause als auch in der weiteren Umwelt, über. 
Wer sich an die schmutzigen und unansehnlichen Straßen schon ge¬ 
wöhnt hatte, wird jetzt, nachdem er die schönen Parkwege kennen 
und lieben gelernt hat, nicht mehr mit jenen zufrieden sein, sondern 
auch seinerseits dahin streben, daß die Straßen in besseren Zustand 
kommen. Und wer seinen Körper sauberer hält als früher, der wird 
sich in seinem eigenen Haushalt nicht mehr damit genügen lassen, 
nur das Notwendigste an Säuberungsarbeiten zu verrichten — er wird 
auch hier größere Reinlichkeit durchzusetzen suchen. Endlich wird 
auch die politische Reinlichkeit ihren Vorteil davon haben — für 
amerikanische Städte kein gering anzuschlagender Gewinn. 

Alles das sind Beobachtungen, die ein Einzelner oder eine Be¬ 
hörde machen kann und über die Meinungsverschiedenheiten vielleicht 
kaum vorhanden sind. Für die Lauen und Gleichgültigen aber, bei 
denen der Appell an das Herz und an den gesunden Menschenverstand 
nicht genügt, um sie zu Freunden der Sache der Volksparke zu 
machen, werden größere Wirkung positive Zahlen tun. Auch 
solche liegen für die Volksparke Chicagos vor. Sie sind von be¬ 
sonderer Bedeutung, weil Chicago auch diejenige Stadt ist, in welcher 
die Einrichtung der Kindergerichtshöfe am längsten besteht. 
Schon am 1. Juli 1899 wurde der erste Kindergerichtshof in Chicago 
(Chicago Juvenile Court) eröffnet Dessen Verhandlungen und Ent¬ 
scheidungen aber umfassen ein so ausgedehntes Beobachtungsmaterial, 
das für statistische Aufnahmen weit geeigneter ist als die Verhand¬ 
lungen gegen Kinder und Jugendliche, die vor den gewöhnlichen 
Gerichtshöfen stattfinden. Chicago bietet daher als zweitgrößte Stadt 
der Vereinigten Staaten, als einer ihrer größten Indnstriemittelpunkte, 

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IV. Ernst Schültze 


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als erste Stadt mit einem besonderen Jugendgerichtshof und als die¬ 
jenige Stadt Nordamerikas, die ein System von über die ganze Stadt- 
fläche verteilten Volksparken am großzügigsten durchgeführt hat, be¬ 
sonders günstige Verhältnisse zur Beurteilung der Frage ihrer Ein¬ 
wirkung auf die Kriminalität der Jugend dar. 

Die „Chicago School of Civics and Philanthropy“ hat ausführliche 
Untersuchungen über diese Fragen unternommen, die sich auf die 
Zeit vom 1. Juli 1899 (an dem der Jugendgerichtshof eröffnet wurde) 
bis zum 30. Juni 1907 erstrecken. 

Man teilte für die Zwecke dieser Untersuchung die Parke der 
Stadt Chicago in drei Gruppen. Die erste Gruppe wird von den 
großen städtischen Parken gebildet, die schon seit längerer Zeit be¬ 
stehen — die zweite von den kleinen Grünplätzen und Kinderspiel¬ 
plätzen, die ebenfalls schon mehrere Jahre in Wirksamkeit sind — 
die dritte von den mittelgroßen Parken der Südstadt, die nach ihren 
Zielen und nach der Art ihres Betriebes einen Typus für sich bilden. 
Bei der Untersuchung sind nur die Knaben berücksichtigt worden, 
die vor dem Jugendgericbtshof erschienen; bekanntlich ist die Kri¬ 
minalität des männlichen Geschlechts eine wesentlich höhere als die 
des weiblichen. Hauptsächlich handelt es sich um Vergehen wie 
Diebstahl, Gewalttätigkeit, groben Unfug, Böswilligkeit und ähnliches. 
Das Alter der kleinen Verbrecher erstreckte sich von 7 bis zu 
17 Jahren. Ihre große Mehrzahl war aber älter als 10 Jahre, und 
die größte Zahl aller Fälle bezog sich auf Jungen im Alter von 
15—16 Jahren. Um eine genaue Übersicht zu erhalten, wurden in 
der Untersuchung der „School of Civics and Philanthropy“ alle Fälle, 
in denen Knaben vor dem Kindergerichtsbof gestanden hatten, für 
dessen 1., 5. und 8. Jahr auf Karten der Stadt durch Stecknadeln 
mit farbigen Köpfen bezeichnet; jedes Jahr hatte seine besondere 
Farbe. Ebenso wurden die Fälle eingetragen, in denen Besserung 
erzielt worden war. Dadurch wurde es möglich, die Verteilung der 
Vergehen und Verbrechen von Kindern und Jugendlichen und deren 
Weiterentwicklung zu übersehen und ein Urteil darüber zu gewinnen, 
ob etwa in der Umgebung der Volksparke die Kriminalität der Jugend¬ 
lichen von Anfang an schwach entwickelt oder im Laufe der Zeit 
zurückgegangen war. Die erfolgreichen Fälle, in denen eine zweifel¬ 
lose Besserung eines vom Kindergerichtshof einmal verurteilten Kindes 
festzustellen war, wurden auf der Karte besonders kenntlich gemacht. 
Als solche Fälle wurden diejenigen gezählt, in denen die vom Gericht 
ausgesprochene bedingte Verurteilung nicht in Kraft trat, weil die 
Besserung des Übeltäters unverkennbar war. 


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Die Einwirkung von Volksparken auf die Kriminalität der Jngend. 37 


Natürlich ist es mit großen Schwierigkeiten verknüpft, 
auch aus einer noch so genauen statistischen Untersuchung nach Art 
der geschilderten bestimmte Schlüsse zu ziehen, insbesondere in einem 
Lande, in welchem der gesamten Bevölkerung die Ortsveränderung 
so sehr in Fleisch und Blut übergegangen ist wie in Nordamerika. 
Dort werden alle solche Zahlenreihen immer dadurch durchkreuzt 
werden, daß die Bevölkerung sich in starkem Flusse befindet 
daß der Einzelne ein halbes Jahr hier und ein halbes Jahr dort 
wohnt, und daß von Seßhaftigkeit gerade in den Großstädten nur 
in einer beschränkten Anzahl von Fällen gesprochen werden kann. 
Auch ist in Betracht zu ziehen, daß die Volksparke eine dauernd 
gute Wirkung wohl nur auf den jugendlichen Gelegenheitsverbrecher 
ausüben können, nicht aber auf den erblich belasteten, der durch die 
moralische Verfassung, die er mit auf die Welt bekommen hat, durch 
Trunksucht der Eltern, durch völlige Vernachlässigung von ihrer Seite, 
durch tausend ungünstige Umstände in so großer Gefahr ist, moralisch 
zu verkommen, daß er nur durch beständige und überaus geschickte 
pädagogische Einwirkungen gerettet werden könnte. Volksparke und 
Spielplätze werden ihre Wirkung also immer nur in solchen Fällen 
üben können, die verhältnismäßig leicht liegen, die jedenfalls nicht 
hoffnungslos sind, und es wäre selbstverständlich eine maßlose Über¬ 
treibung, wenn man annehmen wollte, das Problem der Kriminalität 
der Jugend überhaupt allein schon durch Volksparke und Spielplätze 
lösen zu können. 

Nun zu den Ergebnissen der Untersuchungen der „ School of 
Civics and Philanthropy“. 

Die erste Gruppe von Volksparken bestand aus den großen 
Parken, die die Stadt Chicago schon vor längerer Zeit geschaffen 
hat. Sie enthalten Basenflächen, Baumgruppen, Seen und Teiche, 
Tennisplätze, die für jedermann unentgeltlich benutzbar sind, Ruder¬ 
boote, die für ein kleines Entgelt gemietet werden können, u. a. mehr 
Als Beispiel sei der Lincolupark genannt, der im Norden der Stadt 
liegt und 32 Acres (1 Acre =* 0,4 Hektar) umfaßt. Er kostete der 
Stadt eine Summe von 20 Millionen Mark. Ähnliche Parke, wenn 
auch meist von geringerer Ausdehnung, finden sich auch in den 
übrigen Teilen der Stadt, die sich im Jahre 1900, was vergleichs¬ 
weise erwähnt sein mag, mit ihren 1 700 000 Seelen über ein Gebiet 
von 495 Geviertkilometern erstreckte, während Berlin im gleichen Jahre 
mit einer ungefähr gleich großen Bevölkerung nur 64 Geviertkilometer, 
also einen achtmal kleineren Flächenraum, einnahm. Die Bebauung 
Chicagos ist eben außerordentlich weitläufig: es gibt Straßen von 


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IV. Ernst Schultze 


40 km Länge. Die Holzplanken, welche die unbebauten Grundstücke 
inmitten halb oder mehr bebauter Stadtviertel umschließen, tragen viel 
dazu bei, der Stadt einen so häßlichen, fast möchte man manchmal 
sagen „verkommenen“ Anstrich zu geben. — Von den anderen großen 
städtischen Parken sei der Jacksonpark erwähnt (211 Hektar groß 
— der größte Park Chicagos), der im Jahre 1893 der Schauplatz der 
Weltausstellung war. Dann wären in anderen Teilen des städtischen 
Weichbildes der Humboldtpark, der Garfieldpark, der Douglaspark, 
der Washingtonpark zu nennen, von denen der letztere in seinen 
schönen Baumgruppen, seinen wundervollen Blumenbeeten und 
Treibhäusern und in seinen großen Teichen, auf denen Wasserlilien 
und andere Wasserpflanzen schwimmen, einen besonders prächtigen 
Schmuck besitzt. 

Aus den Untersuchungen der „School of Civics and Philanthropy“ 
ließ sich nun nicht entnehmen, ob eine Verminderung der Zahl der 
Vergehen und Verbrechen Jugendlicher in der Umgebung dieser großen 
Parke während der Zeit zu beobachten war, seitdem der Kinder¬ 
gerichtshof geschaffen wurde. Aber man kann eine solche Folge auch 
nicht erwarten, denn diese 6 großen städtischen Volksparke sind sämt¬ 
lich vor dem 1. Juli 1899 geschaffen worden. Indessen muß man 
es doch wohl als eine Folge der Wirksamkeit dieser Parke betrachten, 
daß die Zahl der Fälle, in denen eine Besserung von Kindern und 
Jugendlichen nachzuweisen war, die der Kindergerichtshof verurteilt 
hatte, für die unmittelbare Umgebung dieser großen Parke eine höhere 
war als für den Durchschnitt der ganzen Stadt. Der Durchschnitt 
für die ganze Stadt Chicago betrug nämlich 39 Proz., während er für 
die Straßenviertel, die in einem Kranz von einer englischen Meile 
Entfernung sich um die 6 großen Parke herumlegen, 46 Proz. beträgt. 
Diese Einflußzone ist wohl annähernd richtig geschätzt; eine englische 
Meile beträgt in unserem Längenmaß etwa 1,6 km. Zudem ist die 
Annahme dieser Breitenzone auf Grund von Angaben der städtischen 
Parkbeamten erfolgt, die der Ansicht sind, daß die regelmäßigen Be¬ 
sucher der Parke etwa aus dieser Entfernung herbeikommen. Ganz 
besonders lehrreich ist aber, daß viele von den 46 Proz. erfolgreicher 
Besserungsfälle in der unmittelbaren Einflußzone der großen städtischen 
Parke sich auf Kinderbeziehen, die vor der Verurteilung anderswo 
wohnten und deren Eltern ihre Wohnung erst nach der Verurteilung 
in die Einflußzone der Parke verlegten. Übrigens sind die Eltern ebenso 
wie die Polizei in der Überzeugung von der guten Einwirkung der Parke 
einig. Einer der erfolgreichen Besserungsfälle, den ich der Zeitschrift 
„Charities and the Commons“ entnehme, sei hier kurz wiedergegeben: 


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Die Einwirkung von Volksparken auf die Kriminalität der Jugend. 39 

Ein neunjähriger Knabe wurde wegen Diebstahls vor den Kinder¬ 
gerichtshof gebracht und für kurze Zeit in Besserungserziehung ge¬ 
geben. Ein Jahr später stand er abermals vor den Schranken des 
Gerichts und wurde der Überwachung durch einen der Beamten für 
die Besserungserziehung überwiesen. Wieder 3 Jahre später mußte 
er abermals vor Gericht gezogen werden und wurde nun einer Zwangs¬ 
erziehungsanstalt überwiesen, der die hoffnungslosen Fälle übergeben 
zu werden pflegen. Nachdem er seine Strafzeit dort abgesessen hatte, 
zogen seine Eltern, die bis dahin in einem Stadtteile gelebt hatten, 
der Volksparke oder ähnliche Erholungsmöglichkeiten nicht aufwies, in 
die Nähe des Lincoln-Parks. Bald gewöhnte sich hier der Knabe 
daran, seine ganze freie Zeit im Park zu verbringen. Seither hat er 
sich so ordentlich geführt, daß er nicht mehr mit dem Kindergerichtshof 
in Konflikt gekommen ist. Und dies ist nicht der einzige Fall dieser 
Art. Ganz zweifellos werden von den großen städtischen Parken auf 
die Kinder ihrer Umgebung Einflüsse der besten Art ausgeübt. 

Die zweite Gruppe von Parken, die in der Chicagoer Unter¬ 
suchung unterschieden wurden, besteht aus 12 kleinen Spiel¬ 
plätzen, die insbesondere für kleinere Kinder bestimmt sind. Drei 
von diesen Plätzen liegen so nahe an den neu geschaffenen Parken 
der Südstadt, welche die dritte Gruppe bilden, daß sie die Möglichkeit 
zu gesonderter Untersuchung nicht boten. Bei der Kleinheit der Spiel¬ 
plätze der zweiten Gruppe ist die Zone ihrer Wirksamkeit keine große: 
sie wird von Theodore A. Groß, ihrem Direktor, so eingeschätzt, daß 
etwa 70 Proz. der Kinder, die sie benutzen, nur eine viertel englische 
Meile, also 0,4 km entfernt wohnen, 90 Proz. eine halbe Meile, also 
etwa 0,8 km entfernt Diese Einflußzone ist zu klein, als daß sichere 
Schlüsse aus einer statistischen Untersuchung der Kriminalität der 
Kinder in ihr gezogen werden könnten. Dennoch ist der Versuch 
gemacht worden, die betreffenden Zahlen zu berechnen: er hat ergeben, 
daß in den Jahren 1900—1907 in der unmittelbaren Einflußzone der 
12 kleinen Spielplätze (d. h. in einer Entfernung von einer viertel 
englischen Meile) die Abnahme der Kriminalität der Jugend 24 Proz. 
betrug, während sie eine Zunahme von 10 Proz. zeigt, wenn die 
Einflußzone auf eine halbe englische Meile berechnet wird. Die 
Durchschittszahl für die ganze Stadt Chicago zeigt bei einem Vergleich 
der Jahre 1900—1907 eine Abnahme von 18 Proz. Der Vergleich der 
drei Zahlen scheint zu bestätigen, daß es unmöglich ist, sichere 
Schlüsse aus statistischen Aufnahmen über so kleine Gebiete zu ziehen. 
Die Statistik ist die Wissenschaft der Durchschnittsberechnung. Allzu 
kleine Proben darf sie also nicht zugrunde legen. 


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IV. Ernst Schultze 


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Selbst wenn aber diese kleinen Spielplätze einen günstigen Einfluß 
auf die Kriminalität der Jugend nicht geübt haben sollten, so ist doch 
eigentlich nur ein Schluß daraus möglich: daß ihre Wirksamkeit 
nicht groß genug ist, weil sie zu wenig Anziehungskraft auf die Kinder 
besitzen. Die kleinen Kerlchen von 4 Jahren bis zu 8 oder 10 Jahren, 
die sich auf diesen Plätzen hauptsächlich tummeln, bilden ja doch 
nur in den allerseltensten Fällen ein Objekt für die Kindergerichts- 
höfe. Werden die Kinder älter, so wollen sie sich nicht mehr damit 
begnügen, im Sand zu graben, Kuchen zu backen und kleine Burgen 
zu bauen; dann wollen sie ihre Kräfte üben und sich den wilden 
Spielen hingeben, die für die gesunde Jugend vom 8. Jahre an ge¬ 
radezu Lebensbedürfnis sind. Auf kleinen Spielplätzen haben sie dazu 
keinen Baum. Auch ist ihnen die Anwesenheit kleinerer Kinder un¬ 
behaglich, nicht nur, weil sie alle Augenblicke einen dieser kleinen 
Knirpse umzurennen in Gefahr sind, vielmehr auch weil es sich mit 
der Würde eines zwölfjährigen oder nun gar vierzehnjährigen Jungen 
nicht verträgt, mit Sechs- oder Achtjährigen auf demselben Grund 
und Boden zusammen zu spielen. Die Scheidung dieser Altersklassen 
ist das Natürliche, und wo die Älteren nicht die Kleineren verdrängen 
wollen oder können, da halten sie sich eben selbst fern und verlegen 
ihre Spiele lieber auf die Straße. Kleine Spielplätze bieten deshalb 
größeren Kindern viel zu wenig, als daß sie einen Einfluß auf sie 
ausüben könnten. 

Wir wenden uns nun zu der dritten und letzten Gruppe 
der städtischen Parke Chicagos, zu den Volksparken der Süd¬ 
stadt, die von dem „South Park Board“ ins Leben gerufen wurden. 
Das ist eine städtische Behörde, die im Jahre 1903 geschaffen wurde, 
um die südlichen Stadtteile, die eine besonders starke Arbeiterbevölke¬ 
rung aufweisen, für welche größere Erholungsmöglichkeiten geschaffen 
werden mußten, mit einem ganzen Netz von Parken zu überziehen. 
Diesem Parkausschuß für die Südstadt wurden große Mittel bewilligt: 
er konnte während der ersten drei Jahre seiner Tätigkeit über 
24 Millionen Mark ausgeben und erhielt bis zum Berichtsjahre 1906 
bis 07 (siehe den amtlichen Bericht) Bewilligungen im Betrage von 
mehr als 80 Millionen Mark. Der Ausschuß hat absichtlich davon 
abgesehen, nur einen großen Park zu schaffen, der zwar der un¬ 
mittelbaren Nachbarschaft große Annehmlichkeiten geboten, der Be¬ 
völkerung der weiter entfernt liegenden Stadtteile aber doch nur 
wenig genutzt hätte. Vielmehr hat er in weitsichtiger und geradezu 
vorbildlicher Weise versucht, eine größere Anzahl kleinerer Parke 
über die Südstadt zu verstreuen und insbesondere auch solche ihrer 


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Die Einwirkung von Volksparken auf die Kriminalität der Jugend. 41 


Teile damit zu versehen, die schon dicht bebaut waren. Die aller¬ 
wichtigste Seite der Tätigkeit der neuen Behörde war aber der Ver¬ 
such, die neugeschaffenen Parke in den Dienst der verschie¬ 
densten gemeinnützigen Zwecke zu stellen und dadurch 
jeden einzelnen von ihnen zu einer Art Volksheim zu 
machen. Man hat sich also nicht damit begnügt, Basenflächen an¬ 
zulegen, Baumgruppen zu pflanzen (für die besondere Baumschulen 
angelegt werden, zumal sich die Bäume und Sträucher erst an die 
rauchige und rußige Luft Chicagos gewöhnen müssen) und Sand¬ 
spielplätze für Kinder herzurichten, die übrigens mit sogenanntem 
Torpedosand versehen werden, der auch an besonders windigen Tagen 
nicht Staub aufwirbelt. Sondern es sind auch reichlich Tennisplätze 
für Erwachsene angelegt worden, ferner Plätze für alle möglichen 
Ballspiele, Teiche zum Budern und zum Schlittschuhlaufen, Abhänge zum 
Schlittenfahren im Winter, Musikpavillons, Schwimmbäder, Turnhallen, 
Speisehäuser, Volksbibliotheken und Lesehallen, Klubzimmer, Vortrags¬ 
und Vereinssäle — und was man sich nur irgend wünschen mag. 

Das Kennzeichnende dieser Volksparke der Chicagoer Süd¬ 
stadt ist also einmal, daß sie in allen Teilen dieses Stadtviertels zu 
finden sind; ferner, daß jeder dieser Parke die genannten Einrichtungen 
neben einander besitzt, sodaß aus ihrer Vereinigung eine prächtige 
Zusammenfassung gemeinnützigen Lebens entsteht; und endlich, daß 
diese Einrichtungen (mit Ausnahme der Speisehäuser, denen indessen 
billige Preise vorgeschrieben sind) völlig unentgeltlich benutzt werden 
können. In dieser Beziehung hat man also einen Schritt getan, der 
z. B. selbst unser deutsches Tarnwesen in den Schatten stellt. Im 
allgemeinen ist dies ja, was seine Verbreitung und seinen Einfluß an¬ 
geht, dem amerikanischen durchaus überlegen, und unsere deutsche 
Turnerscbaft kann auch auf ihre sozialen Leistungen stolz zein. Aber 
die Amerikaner zeigen uns hier doch einen neuen Weg, indem sie 
Turnhallen für das männliche wie für das weibliche Geschlecht ge¬ 
schaffen haben, die ohne Entgelt und ohne daß man einem Turnverein 
anzugehören braucht, jederzeit benutzt werden können. Die Mitglieder 
der meisten deutschen Turnvereine sind doch darauf beschränkt, die 
Turnhallen nur zu bestimmten Stunden in der Woche zu benutzen; 
die Turnhallen der Volksparke in Südchicago können von jedermann 
während des ganzen Nachmittags und Abends ohne Beitragszahlung 
oder Vereinszugehörigkeit benutzt werden. Das bietet natürlich einen 
starken Anreiz, und Tausende entschließen sich zum Turnen und zu 
Freiübungen, die sonst zu schwerfällig oder zu knauserig dazu sein 
würden. Schließlich haben aber auch die Turnvereine, oder in Amerika 


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IV. Ernst Schultze 


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noch mehr die Spielvereine ihren Vorteil davon, weil sich die nun 
für körperliche Übungen neu Gewonnenen in bedeutender Zahl solchen 
Vereinen anschließen. 

Es fehlt hier an Raum, die Wirksamkeit der Turnhallen, der 
Schwimmbäder, der Wat- und Spritzbäder für Kinder, der Spielplätze, 
der Speisehäuser, der Parkbibliotheken und Lesehallen, der Tanzsäle, 
der Klubzimmer, der Versammlungssäle, der Teiche, der Freikonzerte 
in den Parken- Süd-Chicagos näher zu schildern. Ich habe dies in 
einem ausführlichen Aufsatz „Amerikanische Volksparke“ getan.') 
Daß gerade die Zusammenfassung dieser gemeinnützigen 
Bestrebungen auf dem Boden der Volksparke auf die gesamte 
umwohnende Bevölkerung großen Einfluß ausüben und auch die 
Kriminalität der Jugendlichen wesentlich herbsetzen mußte, liegt klar 
auf der Hand. Tatsächlich zeigen auch die Zahlen, daß dieser gute 
Einfluß sich schnell bemerkbar gemacht hat. Denn während im 
Jahre 1900 und noch im Jahre 1904 (unmittelbar nach Eröffnung der 
Volksparke der Südstadt) die südlichen Stadtviertel Chicagos zu¬ 
sammen etwa 40 Proz. aller jugendlichen Verbrecher und Übeltäter 
der Stadt stellten, war zwei Jahre nach der Eröffnung der Volksparke 
der Südstadt dieser Prozentsatz auf 34 vom Hundert gefallen. Oder 
anders gerechnet: während die Kriminalität der Jugendlichen in allen 
Gebieten der Stadt zusammen ohne die Südstadt von 1900—1907 um 
12 Proz. gestiegen war, hatte sie in der Südstadt selbst um 17 Proz. 
abgenommen. 

Noch stärker fallt die Abnahme der Kriminalität der 
Jugend in der Südstadt in die Augen, wenn man sie nicht als 
Ganzes betrachtet, sondern die unmittelbaren Einflußzonen der Volks¬ 
parke herausschält: d. h. die Straßen viertel, welche die Parke in einer 
Entfernung von einer halben englischen Meile (0,8 km) umgeben. So 
zeigt z. B. der Volkspark des 9. Bezirks der Südstadt eine Abnahme 
der Kriminalität der Jugend um 28 Proz. In den Bezirken 6 und 8 
sind zusammen drei Volksparke geschaffen worden. Die Folge war, 
daß die Kriminalität der Jugendlichen um ein volles Drittel, also um 
331/ 3 Proz. zurückging, obwohl die Bevölkerung gleichzeitig zunahm. 
In einem anderen Bezirk, in dem die Bevölkerung annähernd gleich 
stark blieb, (er trägt die Nummer 2 V 2 ) hat die Abnahme der jugend¬ 
lichen Kriminalität sogar 70 Proz. betragen. Alle diese Bezirke liegen 
in der Umgebung der Schlachthöfe, in einem Teile der Stadt also, 

1) Dieser Aufsatz erschien in der Zeitschrift „Coneordia" der Zentralstelle 
für Volkswohlfahrt vom 15. September 1908. Er wird als besondere kleine 
Broschüre im August 1909 im Verlage von Felix Dietrich, Leipzig, erscheinen. 


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Die Einwirkung von Volksparken auf die Kriminalität der Jugend. 43 


in dem soziale und moralische Reformbestrebungen jahrelang die ge¬ 
ringste Aussicht zu haben schienen. Als Ganzes genommen, zeigt 
dieser Teil der Stadt für die Kriminalität der Jugend eine Abnahme 
von nicht weniger als 44 Proz., wenn man das Jahr 1907 mit dem 
Jahre vor der Eröffnung der Volksparke vergleicht. 

Auch die Statistik der Besserung jugendlicher Verurteilter in der 
Südstadt zeigt das gleiche günstige Bild, ja fast ein noch besseres. In der 
unmittelbaren Einflußzone der 11 Volksparke, die in der Südstadt bis 
zum Jahre 1907 geschaffen waren, betrug der Prozentsatz der Besse¬ 
rungen in den Jollen der bedingten Verurteilung zwischen 33 und 
100 Prozent» Berechnet man den Durchschnitt, so ergibt sich ein Pro¬ 
zentsatz von 46, während der Prozentsatz für die ganze Stadt im 
Durchschnitt 39 betrug. 

* * 

* 

Auf alle Fälle ergibt sich unzweifelhaft ein wesentlicher 
Einfluß der Volksparke auf die Kriminalität der Jugend. 
Die Chicagoer Untersuchung zeigt uns ganz klar, was in dieser Be¬ 
ziehung zu tun ist: neben die großen Parke, von denen für jeden 
Stadtteil nicht gut mehr als einer wird geschaffen werden können, 
muß für jeden einzelnen Bezirk der Stadt ein kleinerer Volkspark 
treten, der nicht nur Spazierwege und ein paar Bänke zum Ausruhen 
und „Spazierensitzen 11 enthalten muß, sondern alle die Einrichtungen, 
die die Volksparke Süd-Chicagos schnell zu so außerordentlichem 
Einfluß gebracht und ihnen bei der gesamten Bevölkerung eine wahr¬ 
haft enthusiastische Liebe errungen haben. Ganz kleine Spielplätze 
und Grün-Plätze genügen dafür nicht, wenngleich sie für die 
kleineren Kinder natürlich unentbehrlich sind. Wir werden die Über¬ 
zeugung gewinnen müssen, daß wir für Volksparke wesentlich größere 
Summen aufwenden sollten, als dies bisher geschehen ist. Je mehr 
unsere großen Städte wachsen, je anstrengender und aufreibender 
unsere Berufstätigkeit wird, je mehr wir von der Natur und ihren 
stärkenden und beruhigenden Einflüssen durch das städtische Leben 
abgeschnitten werden, desto mehr wird es zu einer Lebensfrage für 
die körperliche und moralische Gesundheit weitester Volkskreise, daß 
wir auch innerhalb der Städte oder zum mindesten in leicht erreich¬ 
barer Entfernung (nicht mehr als eine viertel Stunde elektrischer 
Bahnfahrt) die Gelegenheit schaffen, uns an dem Busen der Natur 
auszuruhen und neue Kraft für unser Arbeitsleben zu sammeln. 

Insbesondere dem Problem der Kriminalität der Jugendlichen 
wird man selbst mit den sorgfältigsten und liebevollsten Erziehungs¬ 
maßnahmen, mit der bestüberlegten Reform unseres Gerichtswesens 


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IV. Ebnst Schultze 


doch nicht gerecht werden können, wenn wir nicht gleichzeitig alles 
tun, um den Kindern körperlich und moralisch ein ge¬ 
sundes Aufwachsen zu ermöglichen: d. h. wenn wir sie 
nicht dem Leben der Straße entziehen und ihnen statt 
dessen gesunde und ungestörte Tummelplätze für ihren 
jugendlichen Übermut bieten. Alle Volksparke, die wir schaffen, 
werden uns helfen, dies Problem zu lösen. Und wenn uns die Neun¬ 
malweisen, die alles und jedes zunächst unter dem Bilde von Mark- 
und Pfennig-Zahlen im Jahreshaushalt ansehen, vorrechnen wollen, 
daß die städtischen Kassen durch all die zahllosen Anforderungen, 
die an unsere modernen Städte gestellt werden, so in Anspruch ge¬ 
nommen sind, daß für Dinge, die sich nicht unmittelbar rechnungs¬ 
mäßig verzinsen, nichts mehr übrig bleibt, so müssen wir lernen, für 
die Behandlung wichtiger Kulturprobleme den Einfluß solcher Augen¬ 
blicksmathematiker zu überwinden, so gut sie es auch meinen mögen. 


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V. 


Über die gerichtsärztliche Beurteilung perverser 
Geschlechtstriebe. 

Von 

Dr. med. Heinrich Qräf, Cuxhaven. 


Im Leben des einzelnen und besonders für das Wohl und Fort¬ 
bestehen eines Staates spielt der Geschlechtstrieb, der Trieb der Er¬ 
haltung der Art, eine große Rolle. Dieser Trieb zeigt eine ganze 
Reihe von Abweichungen von der Norm, die für Psychiater und 
Gerichtsarzt von großem Interesse sind. Mit diesen normwidrigen, 
perversen Gescblechtstrieben und ihrer Beurteilung vom gerichtsärzt¬ 
lichen Standpunkte wollen wir uns in folgendem beschäftigen. 

Was verstehen wir denn unter perversen Geschlechtstrieben? 
Triebneigungen, die von dem normalen Geschlechtstriebe, Koitus 
zwischen Mann und Weib, der der Befriedigung der Geschlechtslust 
und der Fortpflanzung dient, abweichen. Es losen dabei inadäquate 
Reize geschlechtliche Gefühle aus. Wir finden neben kleinen, noch 
im Bereich des Normalen liegenden Abweichungen, Perversitäten, wie 
Lustmord und Leichenschändung und als Gegensatz der Liebe zum 
anderen Geschlechte widernatürliche Unzucht mit dem gleichen Ge¬ 
schlecht oder mit Tieren. Die wichtigsten Typen der perversen 
Geschlechtstriebe, die für uns in Betracht kommen, sind Sadismus, 
Masochismus, Fetischismus, Exhibitionismus, Sodomie und als wich¬ 
tigste die konträre Sexualempfindung oder Homosexualität. Es han¬ 
delt sich bei diesen Abweichungen des normalen Geschlechtstriebes 
teils um krankhafte Erscheinungen, von v. Krafft-Ebing (47) als 
„Perversionen“ bezeichnet, teils um verabscheuungswürdige Laster, für 
die der Ausdruck „Perversitäten“ gilt Es dürfte, wie auch Ho che 
(33) meint, nicht immer möglich sein, Perversion und Perversität 
streng voneinander zu trennen. 

Die Bezeichnungen Sadismus, Masochismus, Fetischismus stammen 
von v. Krafft-Ebing und sind durch dessen „Psychopathia sexualis“ 
Gemeingut der Gebildeten geworden. Westphal (104) prägte die 


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V. Heinrich Graf 


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Bezeichnung „konträre Sexualempfindung“. Als Sadismus bezeichnen 
wir eine Paarung von Grausamkeit und Wollust. Es wird durch 
grausame, gewalttätige oder beleidigende Handlungen eine Steigerung 
der Wollust beim Geschlechtsakt erstrebt In manchen Fällen tritt 
auch die grausame Handlung an Stelle des verschmähten Koitus und 
ruft Wollust nnd geschlechtliche Befriedigung hervor. Den Namen 
Sadismus gab v. Krafft-Ebing (47) dem perversen Triebe „nach dem 
berüchtigten Marquis de Sade, dessen obscöne Romane von Wollust 
und Grausamkeit triefen“. Der Masochismus ist das direkte Gegen¬ 
stück zum Sadismus. Bei ihm strebt der Masochist danach, die 
Steigerung der Libido durch Schmerz am eigenen Körper herbei¬ 
zuführen. Demütigende Situationen, erlittene Mißhandlungen, be¬ 
dingungslose Unterwerfung des eigenen Ich unter den Willen einer 
anderen Person erhöhen die Wollust oder treten bei geminderter 
Potenz als Ersatz für den normalen Beischlaf ein. Ihren Namen hat 
die Erscheinung nach dem Schriftsteller Sacher-Masoch, der in seinen 
Romanen die seinerzeit noch unbekannte Erscheinung zum Gegen¬ 
stände seiner Erzählungen machte. Wie v. Krafft-Ebing angibt, soll 
Sacher-Masoch selbst mit dieser sexuellen Anomalie behaftet gewesen 
sein. v. Schrenck-Notzing (89,90) schlägt dafür den Ausdruck 
Algolagnie = Schmerzgeilheit vor und unterscheidet eine aktive und 
passive Algolagnie. Eulenburg will Sadismus als „Lagnänomanie“, 
Masochismus als „Machlänoraanie“ bezeichnet haben. Für den Ge¬ 
richtsarzt ist es wohl am richtigsten, sich an die allgemein eingebür¬ 
gerten Bezeichnungen von Krafft-Ebings zu halten. 

Sadismus. 

Sehen wir uns den Sadismus näher an, so können wir in seinen 
Anfängen leicht eine Ausartung männlicher Geschlechtscharaktere er¬ 
kennen. Dem Manne ist das Streben, sich das Weib zu erobern, 
angeboren. Das äußert sich vielfach beim normalen Geschlechts¬ 
verkehr durch den Liebesbiß und ähnliche im geschlechtlichen Affekte 
an der Partnerin verübte leichtere Mißhandlungen. Hier gehören diese 
Äußerungen noch ins Bereich des Normalen. Erinnert sei hier an 
die Liebeswerbung mancher wilden Volksstämme, wo das Weib durch 
Keulenschläge wehrlos gemacht wird. Man könnte also unter Um¬ 
ständen von einem atavistischen Rückschläge sprechen. Daß der 
Anblick grausamer Handlungen sexuell erregend wirkt, ist bekannt 
Ich erinnere an die Gladiatorenkämpfe im alten Rom, an die Be¬ 
liebtheit der Stiergefechte im modernen Spanien. Körperliche Züch¬ 
tigungen können auf Kinder lusterregend einwirken. Nach Donath 


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Über die gerichtsärztliche Beurteilung perverser Geschlechtstriebe. 47 


(13) können Schläge, ob sie empfangen werden oder erteilt sind, in 
frühem Alter bei Kindern zu den ersten geschlechtlichen Regungen 
führen. In jedem Menschen schlummert ein gewisser Zug von Grau¬ 
samkeit. Nach Schmidtmann (8) wird bei den dazu veranlagten 
Kindern durch körperliche Züchtigungen und Lektüre darüber ein oft 
bleibender Eindruck im Kindergemüt hinterlassen und großgezogen. 
Kommt dazu noch ungeeignete Lektüre, wie Indianergeschichten 
u. dergl., so entwickelt sich bei dem betreffenden Individuum leicht 
eine sadistische Triebverkehrung. In den Kinderjahren werden die 
sadistischen Akte häufig als Grausamkeiten an Tieren ausgeübt. In 
der Zeit der Geschlechtsreife und beim normalen Verkehr können die 
sadistischen Neigungen verblassen. Bei Abnahme der Potenz treten 
sie aber vielfach mit erneuter Stärke hervor und führen zu den größten 
Scheußlichkeiten. Über sadistische Akte finden wir mancherlei An¬ 
gaben bei v. Krafft-Ebing (47). So zwingt ein Mann, der gewöhnlich 
gegenüber seiner schönen Frau impotent ist, diese gewaltsam zum 
Koitus z. B. auf einer Wiese, im Gebüsch, im Eisenbahnabteil. Überall, 
wo Gefahr droht, überrascht zu werden, ist er potent, im Ehebett nicht 
Diese Handlungen sind entschieden als grausam zu bezeichnen, drohte 
doch der Frau bei Überraschung zum mindesten öffentliche Blo߬ 
stellung. Der Mann hätte sich dann wegen Erregung öffentlichen 
Ärgernisses zu verantworten gehabt. Weiter finden wir bei v. Krafft- 
Ebing einige Fälle von Lustmord. Solche Lustmorde werden ent¬ 
weder im Stadium des höchsten Orgasmus verübt oder der Täter tötet 
sein Opfer nach vollzogenem Koitus, oder aber es findet gar kein 
stuprum statt und der Mord selbst ist das Äquivalent für den Koitus. 
Doch nicht jeder Mord einer weiblichen Person nach vollbrachtem 
Koitus ist als Lustmord anzusehen. Vielfach ist es dem Täter nur 
darum zu tun, die Zeugin seines Sittlichkeitsverbrechens zu beseitigen. 
Von Lustmord kann nur die Rede sein, wenn dem Mord sexuelle 
Momente zugrunde lagen. Gewöhnlich finden sich dabei Verstüm¬ 
melungen des weiblichen Körpers, wie Abschneiden der Brüste, 
Schnitte in den Leib, Wühlen in den Eingeweiden, Herausnahme der 
Genitalien. Manchmal hat erst nach der Ermordung ein Geschlechts¬ 
akt mit dem noch warmen Körper stattgefunden, gelegentlich in von 
dem Täter gesetzte Einschnitte hinein, besonders wenn es sich um 
Kinder mit kleinen Genitalien handelt Meist sind die Opfer der 
Lustmörder weibliche Personen, jedoch werden auch Lustmorde an 
Knaben vollzogen. Einen solchen Fall veröffentlicht Krticzka Frei¬ 
herr v. Jaden (51); es handelt sich um einen 21jährigen Ungar, der 
einen 3 */j jährigen Knaben erst päderastierte und dann ermordete. 


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V. Heinrich Graf 


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Nach dem Obergutachten der Wiener Fakultät handelte es sich bei 
dem für zurechnungsfähig erklärten Täter nm ein Surrogat normalen 
Geschlechtsverkehrs, hervorgerufen durch Reizung infolge von Alkohol¬ 
genuß nnd durch Mangel an sexueller Befriedigung, also nm temporäre 
Perversität. Mehrere gleichartige Fälle von Mord an Prostituierten 
nach dem Koitus finden wir bei Kölle (41) und bei v. Krafft- 
Ebing (47), zitiert nach Feuerbach nnd Lombroso. Jeder der Mörder 
gab an, daß ihm nach dem Geschlechtsverkehr die Lnst gekommen 
sei, das Weib zu ermorden. Auf gleiche Entstehungsnrsache sind 
in den Großstädten jedenfalls manche Ermordungen Prostituierter 
zurückzuführen. 

Mit reiner Mordlust haben wir es wohl auch bei den Bauchauf- 
schlitzern zu tun, wie Jack, the ripper, Vachers, der Aufschlitzer und 
ähnlichen berüchtigten Menschen. Zur Mordlust gesellen sich sogar 
noch Gelüste nach dem Fleisch oder Blut des Opfers. Hierher ge¬ 
hören die Fälle Leger und Tirsch v. Krafft-Ebings. Beide Male war 
ein stuprum vorhergegangen, also Wollust und Mordlust vergesell¬ 
schaftet. In manchen Fällen fehlt aber der Trieb zum Koitus voll¬ 
ständig, der Mord als solcher ruft Erektion und Ejakulation hervor. 
Ein typisches Beispiel für diese Triebverkehrung ist der vielerwähnte 
Italiener Verzeni. Nach seinem eigenen Geständnis empfand Verzeni 
beim Erwürgen seiner weiblichen Opfer höchste Wollust und außer¬ 
dem hatte er eine unbezwingbare Begierde, seinen Opfern das Blut 
auszusaugen. Der weibliche Körper als solcher reizte ihn gar nicht. 
Normale geschlechtliche Triebe scheinen diesem Scheusal fremd ge¬ 
wesen zu sein. Ähnliche Beispiele berichtet Schmidtmann (8), wo 
der Mörder auch nach Fleisch und Blut der Ermordeten lüstern war. 

Außer dem Lustmord kommen sadistische Taten vor, wo es sich 
nur um Mißhandlungen von Weibern handelt. Solche Fälle finden 
wir bei Tarnowsky (101), v. Krafft-Ebing (47), Eulenburg 
(14). Sie haben gemeinsam die Zufügung von Schmerz durch Stich 
mit Messern oder Nadeln oder durch Schläge vor, während oder 
nach dem Koitus. Als sadistische Attentate sind auch die Taten der 
sogen. Messer- oder Mädchenstecher anzusehen. Die Messerstecher 
verwunden weibliche Personen in den Unterleib oder in andere 
Körpergegenden mit Messer oder Stilet. Ein Zusammenhang mit dem 
Geschlechtstriebe ist aus der Tat selbst nicht immer ohne weiteres 
ersichtlich. Bloch (6) und v. Krafft-Ebing bringen Beispiele typi¬ 
scher Mädchenstecher. Sie ereigneten sich in Ludwigshafen, Kiel, 
Augsburg. Verfasser hat 190 t als Student in der chirurgischen Klinik 
in Kiel selbst einige der gestochenen Mädchen gesehen. Waren auch 


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Über die gerichtsärztliche Beurteilung perverser Geschlechtstriebe. 49 

die Verwundungen nicht gefährlich, so war doch in Kiel die Auf¬ 
regung unter der Bevölkerung ganz gewaltig. 

Zu den sadistischen Akten ist ferner der Besudelungstrieb zu 
rechnen. Hier empfindet der Täter geschlechtliche Befriedigung darin, 
daß er Frauenspersonen die Kleider mit einer Säure oder einer anderen 
ätzenden Flüssigkeit bespritzt und beschmutzt und dadurch die Kleider 
verdirbt Tarnowsky (101), Bloch (6), Moll (60), v. Krafft- 
Ebing (47) bringen für diesen perversen Trieb Beispiele herbei. Aus 
den Krankengeschichten erhellt deutlich die Verbindung dieser Taten 
mit dem geschlechtlichen Fühlen. 

Wie Ho che (33) meint, ist auch die Leichenschändung als modi¬ 
fizierter Sadismus anzusehen. Die Leichenschänder üben entweder 
nur den Koitus an der Leiche aus, oder zerstückeln diese noch außer¬ 
dem. Bekannt ist als Beispiel von Nekrosadismus der Sergeant Ber- 
trand; weitere Fälle von Nekrophilie berichten v. Krafft-Ebing und 
Groß (23). 

Von gerichtsärztlichem Interesse wichtig sind außerdem noch 
sadistische Akte an Tieren. Hier kann einmal Tierquälerei als solche 
in ihren verschiedenen Modifikationen in Betracht kommen als auch 
Sadismus am Tiere zur Anreizung der Potenz. Auch hierfür bringt 
die „Psychopathia sexualis“ lehrreiche Beispiele. Wir ersehen daraus, 
daß es bei einigen Männern, um potent zu werden, erforderlich ist, 
erst Mißhandlung von Tieren mit anzusehen oder selbst vorzunehmen. 
Über den sogen, „ideellen Sadismus“ gehen wir hinweg, da er nicht 
direkt forensisches Interesse hat. Wichtiger ist dagegen der „Erzieher- 
Sadismus“. Leider finden wir diesen gar nicht so selten. Ab und 
zn bringen die Tageszeitungen Notizen über Mißhandlungen von 
Kindern durch Lehrer und Erzieher. Es handelt sich hier nicht um 
gelegentlich überschrittenes Züchtigungsrecht, sondern um systema¬ 
tische Marterung der Pflegebefohlenen aus Lust an der Grausamkeit 
Um Erziehersadismus handelte es sich jedenfalls bei dem 1903 ver¬ 
urteilten Dippold. Näcke (72) äußert sich ausführlich über die 
Frage, ob Dippold Sadist war und kommt zu dem Ergebnis, daß bei 
ihm Sadismus vorlag. Dafür spricht nach Näcke die Raffiniertheit 
der Grausamkeiten und ihre Verschiedenartigkeit. Näcke hält Dip¬ 
pold trotz seines Verkehrs mit Prostituierten für einen homosexuellen 
Sadisten. 

Bloch (6) rechnet zum Sadismus auch noch Brandstiftung aus 
sexuellen Motiven, ferner sexuelle Kleptomanie, den sogen. „Tropen¬ 
koller“, die Sucht des Publikums beim Zuscbauen bei gefährlichen 
Situationen, z. B. bei Automobilrennen, die amerikanische Lynchjustiz 

Archiv für Kriminalanthropologie. 84. Bd. 4 


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V. Heinrich Graf 


u. dergl. Mit der sexuellen Kleptomanie werden wir uns weiter unten 
befassen. Ob der „Tropenkoller“ mit hierher zu rechnen ist, möchte 
ich bezweifeln. Wir haben es doch dabei mit dem schädigenden 
Einfluß des Tropenklimas auf die Psyche des Betreffenden zu tun 
und müssen den „Tropenkoller“ als die Äußerungen einer allgemein 
psychischen Krankheit ansehen. Sexuelle Motive bei Brandstiftung 
dürften, wenn nicht noch andere Zeichen geistiger Erkrankung vor¬ 
liegen, den Täter nicht straffrei erscheinen lassen. Die anderen er¬ 
wähnten Züge sind forensisch unwichtig. 

Nächst der später zu besprechenden konträren Sexualempfindung 
hat der Sadismus von allen perversen Geschlechtstrieben die meiste 
forensische Bedeutim^r^ljp' j^n^r^jht zahlreiche Paragraphen des 
Strafgesetzbuches/flftft bei der ABu njgihqg sadistischer Verbrechen in 
Frage kommen./x^fandelt es sich um^Xlirlosmackung und Notzucht 
an Weibern, so tritt iAK^i^mu Juchthaus wird bestraft, wer 

durch Gewalt o«r dur ch [) r pLmng- mit Gegenwärtiger Gefahr für Leib 
oder Leben eine wraupngDerson z^rDjraung des außerehelichen Bei¬ 
schlafs nötigt, oder wN^jßJlJa^msperson zum außerehelichen Bei¬ 
schlafe mißbraucht, nachdem er sie in einen willenlosen oder bewußt¬ 
losen Zustand versetzt hat. Sind mildernde Umstände vorhanden, so 
tritt Gefängnisstrafe nicht unter einem Jahre ein.“ Unter Notzucht 
ist also der mit Gewalt erzwungene außereheliche Beischlaf zu ver¬ 
stehen. Wie wir sahen, kann der Beischlaf — im obenerwähnten 
Falle war es der eheliche — mit Gewalt erzwungen werden. In 
den meisten Fällen von Notzucht dürfte der Beweggrund dazu aller¬ 
dings nicht in Sadismus des Täters zu suchen sein. Manchmal wird 
der Notzucht die Tötung des Opfers folgen, beabsichtigt oder unbeab¬ 
sichtigt. Ist die Tötung beabsichtigt, um den Zeugen des Verbrechens 
stumm zu machen, so liegt Mord vor, aber nicht eigentlicher „Lust¬ 
mord“ wie wir oben sahen. Unbeabsichtigte Tötung kann z. B. da¬ 
durch erfolgen, daß der Täter seinem Opfer die Kehle zudrückt, um 
es am Schreien zu verhindern, und es dadurch erwürgt. Ferner kann 
bei Mißverhältnis von männlichen und weiblichen Genitalien, wenn 
es sich um kleine Mädchen oder alte Frauen handelt, durch Einrisse 
in den Genitalien gelegentlich Verblutungstod eintreten. Um eigent¬ 
lichen „Lustmord“ handelt es sich nur, wenn dem Mord sexuelle 
Momente zugrunde liegen. Hier würde § 211 in Kraft treten: „Wer 
vorsätzlich einen Menschen tötet, wird, wenn er die Tötung mit Über¬ 
legung ausgeführt hat, wegen Mordes mit dem Tode bestraft“. In 
diesem Paragraphen wird verlangt, daß die Tat „vorsätzlich“ und 
„mit Überlegung“ ausgeführt wurde. Man wird oft bezweifeln müssen, 


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Über die gerichteärztliche Beurteilung perverser Geschlechtetriebe. 51 

daß eine so grauenhafte Tat wie ein Lnstmord mit Überlegung voll¬ 
bracht wird. Wurde die Tötung nicht mit Überlegung ausgeführt, so 
hat § 212 Anwendung zu finden „Wer vorsätzlich einen Menschen 
tötet, wird, wenn er die Tötung nicht mit Überlegung ausgeführt hat, 
wegen Totschlags mit Zuchthaus nicht unter fünf Jahren bestraft". 
Lustmord wird wahrscheinlich, wenn an der Leiche Verletzungen 
sind, die ein Koitus nicht herbeiführen kann, wie Öffnung der Leibes¬ 
höhlen, Herausnahme der Genitalien und anderer innerer Organe, Ab- 
schneiden der Brüste usw. In allen derartigen Fällen dürfte wohl 
der Gerichtshof die Untersuchung des Geisteszustandes des Täters ver¬ 
anlassen, oder es wird dies der Verteidiger beantragen. Wir wollen 
später auf diese Fragen eingehen. Jedem Menschen wird der Ver¬ 
dacht auf Unzurechnungsfähigkeit des Täters aufsteigen bei den 
Fällen von Leichenschändung. Jedermann hat einen instinktiven 
Abscheu vor Leichen, so daß es niemand' begreifen wird, daß sich 
ein Mensch mit Liebkosung von laichen abgibt und vor allem an 
diesen den Koitus vollzieht. Wohl in den meisten Fällen dürfte eine 
geistige Minderwertigkeit oder Unzurechnungsfähigkeit der mit solch 
perversen Trieben behafteten Menschen vorhanden sein. Für Be¬ 
strafung von Leichenschändung bestehen § 168 und § 367 St.G.B. 
Nach § 168 wird „wer unbefugt eine Leiche aus dem Gewahrsam 
der dazu berechtigten Person wegnimmt, ingleichen wer unbefugt ein 
Grab zerstört oder schädigt, mit Gefängnis bis zu zwei Jahren be¬ 
straft“. Nach § 367 wird bestraft mit Geldstrafe bis zu 150 Mark 
oder mit Haft „wer ohne Vorwissen der Behörde einen Leichnam 
beerdigt oder beiseite schafft, oder wer unbefugt einen Teil der Leiche 
aus dem Gewahrsam der dazu berechtigten Personen wegnimmt“. In 
dem obenerwähnten Fall von Groß (23) war der Täter in der Nacht 
in das Haus eingestiegen, hatte die im Totenbett liegende Frau ge¬ 
schlechtlich zu brauchen versucht und da angeblich wegen Toten¬ 
starre sein Versuch nicht recht geglückt war, hatte er sie „aus Wut“ 
verstümmelt.... Die Brüste hatte er mit sich genommen. Der Täter 
wurde wegen widernatürlicher Unzucht und Wegnahme von Leichen¬ 
teilen und wegen Hausfriedensbruch zu einem Jahr Gefängnis und sechs 
Monaten Haft verurteilt 

Handelt es sich bei den sadistischen Vergehen um Mißhandlung, 
Messerstecherei, Besudelungstrieb und Tierquälerei, so kommen in 
Betracht die §§ 223, 223 a, 303, 360 Absatz 13. § 223 bestraft die 
vorsätzliche körperliche Mißhandlung oder Gesundheitsbeschädigung 
mit Gefängnis bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bis zu 1000 Mark. 
§ 223 a würde in Frage kommen bei Messerstechereien, da durch diesen 

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V. Heinrich Graf 


Paragraphen Körperverletzung mit einer Waffe, insbesondere mit einem 
Messer bestraft wird und zwar mit Gefängnis nicht unter zwei Monaten. 
Was in § 223a das Gesetz unter „hinterlistigem Überfall“ versteht: 
„unvermuteter Angriff mit dem Willen des Angreifers, damit die Ab¬ 
wehr abzuschneiden“, dürfte beim sadistischen Verbrechen wohl kaum 
jemals vorliegen. Und Komplizen hat der sadistische Verbrecher ebenso¬ 
wenig. Auch der Grziehersadismns fällt nnter § 223. Wohl steht ge¬ 
wöhnlich dem Lehrer oder Erzieher ein Züchtignngsrecht zu. jeden¬ 
falls ist es aber in dem Falle Dippold ganz bedeutend überschritten 
worden. Der mit dem Besndelungstrieb behaftete Mensch wird sich 
vor Gericht wegen Vergehen gegen § 303 zu verantworten haben. Er 
hat vorsätzlich und rechtswidrig eine fremde Sache beschädigt. Wegen 
Vergehen gegen den gleichen Paragraphen hat sich zu verantworten, 
wer fremde Tiere mißhandelt und dadurch beschädigt. Es wird von 
dem Eigentümer abhängen, ob er den Täter deshalb bestraft wissen 
will, denn „die Verfolgung tritt nur auf Antrag ein“. Mit Geldstrafe 
bis zu 150 Mark oder mit Haft bestraft nach § 360 Absatz 13 das 
Strafgesetzbuch den, „wer öffentlich oder in Ärgernis erregender Weise 
Tiere boshaft quält oder roh mißhandelt“. 

Zivilrechtlich hat der Sadismus eine geringere Bedeutung. Sadi¬ 
stische Mißhandlungen der Frau durch den Ehemann können die Frau 
veranlassen, gegen ihren Mann auf Scheidung zu klagen. Nach § 1568 
B.G.B. berechtigt schwere Verletzung der ehelichen Pflichten zur 
Scheidung. Als schwere Verletzung der Pflichten gilt auch grobe 
Mißhandlung. Der Gerichtsarzt wird in solchen Fällen einmal sein 
Gutachten über das Geschlechtsleben des Ehemannes vor und wäh¬ 
rend der Ehe abzugeben haben. Dann wird auch die vita sexualis 
der Ehefrau darauf zu untersuchen sein, ob bei ihr vielleicht besondere 
Frigidität Vorgelegen hat, die den Mann zu seinen Taten gereizt haben 
könnte. Schließlich wird der Gerichtsarzt die erlittenen Mißhandlungen 
der Frau auf ihre Schwere zu prüfen haben. In den meisten Fällen 
von Mißhandlungen von Ehefrauen dürfte der Alkohol und seltener 
sadistische Beweggründe eine Rolle spielen. 

Masochismus. 

Eine sehr geringe forensische Bedeutung hat der Masochismus. 
Wie wir sahen, handelt es sich bei ihm darum, daß der damit Be¬ 
haftete sich danach sehnt, Schmerzen zu erleiden oder sein Ich anderen 
Personen zu unterwerfen. Da also die Schmerzen und Demütigungen 
selbst gewollt oder herbeigeführt sind, so wird der Masochist nicht 
gegen den Täter Strafantrag stellen, ln manchen Fällen liegt aber 


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Über die gerichtsärztliche Beurteilung perverser Geschlechtstriebe. 53 


dem Masochisten gar nichts daran, die Schmerzen und Unbilden in 
Wirklichkeit zu erleiden. Er gefällt sich nur darin, sich in seiner 
Phantasie in derartige Situationen zu versetzen. Führt er in Wirk¬ 
lichkeit einmal eine solche Szene herbei, so läßt der empfundene 
Schmerz ihn bald wieder von seinem Beginnen abstehen und er treibt 
von nun an auch fernerhin nur noch seinen „ideellen Masochismus“. 
Wir können den Masochismus als eine krankhafte Ausartung ein¬ 
zelner Züge des weiblichen psychischen Geschlechtscharakters an- 
sehen. Das echte Weib will dienen und vom Manne beherrscht sein. 
Beim Masochismus hat der Mann diesen Trieb. Auch hier kommt 
es zu den scheußlichsten geschlechtlichen Akten. Vielfach läßt sich 
der Masochist nur mißhandeln, um potent zu werden. Schläge aufs 
Gesäß wirken durch die Spinalnerven erektionserregend. Anderseits 
hat sich ein solcher Mensch aber durch seine perverse Phantasie so. 
oft in masochistische Ideen und Szenen hineingelebt, daß schon die 
Vorstellung derartiger Situationen Erektion und Ejakulatiön herbei¬ 
führt und beim Koitus Impotenz besteht Der Eine will von schönen 
Weibern gepeitscht werden, der Andere will Page seiner „Herrin“ 
spielen, der Dritte dient der „Herrin“ als Reittier, der Vierte läßt 
sich mit Stricken binden, eventuell mit wirklichen Marterwerkzeugen 
foltern. Ein Fünfter leckt Weibern die Füße ab oder verlangt mictio 
oder defaecatio mulieris in seinen Mund und was die Phantasie der¬ 
artig perverser Individuen an Obszönitäten noch mehr ersinnen mag. 

Ist auch die erlittene Mißhandlung selbst gewollt, so wird doch, 
wenn sie zur Kenntnis des Staatsanwaltes kommt, nach § 223 vor¬ 
gegangen werden; denn der früher bestehende Grundsatz „volenti 
non fit injuria“ gilt heute nicht mehr. Derartige Sachen werden 
aber überhaupt sehr selten offenkundig werden. Der Gerichts- oder 
Polizeiarzt dürfte vielleicht Gelegenheit haben, masochistisches Treiben 
gelegentlich in Bordellen festzustellen. Dort sind die Perversitäten 
des Geschlechtstriebes wohl bekannt und man ist aus Geschäftsrück- 
sicbten auf sie eingerichtet. So berichtet Bloch (6) von einer von 
Staatsanwalt Dr. Ertel in Hamburg beschriebenen richtigen Folter¬ 
kammer bei einer Hamburger Prostituierten. Andere Frauen bieten 
sich unter dem Decknamen „Masseuse“, „strenge Erzieherin“ oder 
„Gouvernante“ in den Zeitungen an. „Masseuse“ hat wohl mehrere 
Bedeutungen, da sich unter diesem Titel auch gewerbsmäßige Ab¬ 
treiberinnen verbergen. Auf jeden Fall wird es für den Gerichtsarzt 
von Wert sein, solche Zustände zu kennen und mit offenen Augen 
zu betrachten, da sie ihm vor Gericht gelegentlich von Wichtigkeit 
sein können. Von großem kriminalpsychologischen Interesse sind 


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die masochistischen Ausartungen, die man als „geschlechtliche Hörig¬ 
keit“ bezeichnet. Es sind das solche Fälle, in denen eine Person 
der anderen so untertan ist, daß sie überhaupt keinen eigenen Willen 
mehr hat oder ihn nicht geltend macht, wenn man sie zu Taten auf¬ 
fordert, die dem Strafgesetz widersprechen, v. Krafft-Ebing berichtet 
über zwei Morde, deren Beweggrund geschlechtliche Hörigkeit war. 
Soweit man aus Zeitungsnachrichten Schlüsse ziehen darf, scheint es 
sich auch bei der Allensteiner Ermordung des Majors v. Schönebeck 
um geschlechtliche Hörigkeit des Hauptmanns v. Göben gehandelt zu 
haben. Die angekündigte Veröffentlichung von v. Schrenck-Notzing 
über dieses Familiendrama wird voraussichtlich Klarheit bringen. Ein 
interessantes Gutachten über den Geisteszustand eines jungen Beamten 
veröffentlicht v. Schrenck-Notzin'g (89). Es handelte sich dabei 
um einen Beamten, der sich von seinen Untergebenen duzen ließ, ihre 
alten Uniformen anzog und sich andere Sachen zuschulden kommen 
ließ, die äich mit seiner Eigenschaft als Vorgesetzter nicht vertrugen, 
v. Schrenck-Notzings Gutachten lautete auf „larvierte passive Algo- 
lagnie“. Geeignete Behandlung führte Heilung des masochistischen 
Zustandes herbei. 


Fetischismus. 

Wir sahen, daß bei Prostituierten, besonders in den Großstädten, 
eine ziemlich genaue Kenntnis von perversen Richtungen des Ge¬ 
schlechtstriebes herrscht. Dieses Wissen machen sich manche Men¬ 
schen bei ihren Diebstählen zunutze, indem sie geschlechtliche Beweg¬ 
gründe für ihre Tat ins Feld führen. Mit Diebstahl haben wir es 
gelegentlich zu tun bei dem „Fetischismus“. Unter „Fetischismus“ 
verstehen wir die Verkehrung des Geschlechtstriebes, bei der nicht 
das Weib als solches anziehend auf den Mann wirkt, sondern nur 
Teile des Körpers oder sogar nur Kleidungsstücke oder Teile der 
Kleidungsstücke oder nur gewisse Kleiderstoffe. Der anziehende Teil 
ist für den Mann der Abgott, sein Fetisch. Der Fetischist betrachtet 
als Ziel seiner Befriedigung nicht den Koitus, sondern irgend eine 
ihm besonders angenehme Manipulation mit seinem Fetisch, v. Krafft- 
Ebing sagt „das Abnorme liegt hier nur darin, daß ein Teileindruck 
vom Gesamtbilde der Person des anderen Geschlechts alles sexuelle 
Interesse auf sich konzentriert, so daß daneben alle Eindrücke ver¬ 
blassen und mehr oder minder gleichgültig werden“. Wir können 
sagen, daß eine gewisse Art von Fetischismus noch als physiologisch 
zu betrachten ist. So kann z. B. Schwärmerei für die Augen, die 
Hand, den zierlichen Fuß der Geliebten bestehen. Und das ist als 


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Über die gerichteärztliche Beurteilung perverser Geschlechtstriebe. 55 

normal zn betrachten; denn die Hauptsache ist doch hier die geliebte 
Person selbst, und daneben wird ein Körperteil von ihr noch be¬ 
sonders angeschwärmt. Beim pathologischen Fetischismus kann aber 
die Trägerin selbst ganz zurücktreten, nur ein Teil von ihr wird ab¬ 
göttisch geliebt. Wir finden in der Literatur bei v. Krafft-Ebing 
(47), Bloch (6), Moll (60), Schmidtmann (8) Beispiele von Teil¬ 
anziehung durch Augen, Nase, Mund, Ohren, Hand, Fuß, Haar, 
dann durch Teile der weiblichen Kleidung als Schuh, Absatz, Hand¬ 
schuh, Unterrock, besonders Kostüme, weiße Leibwäsche, Taschen¬ 
tuch, Strumpf. Ja selbst körperliche Fehler, wie schielende Augen, 
krumme Nasen werden zum Fetisch. Verfasser kennt selbst einen 
Mann, der sich über braune Damenstrümpfe ganz wahnsinnig auf¬ 
regen konnte, so daß er beim Anblick eines Weibes mit solchen 
Strümpfen sofort heftige Erektionen bekam und der Betreffenden 
lange nachlief. Der Trieb ging nicht so weit, daß er zur Ursache 
von unerlaubten Handlungen wurde. 

Der pathologische Fetischismus kann durch die Verkehrung des 
Geschlechtstriebes zur psychischen Impotenz führen. Der Gegenstand 
des Fetischismus steht gewöhnlich in keiner unmittelbaren Beziehung 
zum normalen Geschlechtsakte, dadurch verliert der Fetischist nach 
und nach den Beiz für den Koitus. Manchmal kann auch der Ge¬ 
schlechtsverkehr nur unter gewissen Bedingungen zustande kommen, 
z. B. wenn sich der Fetischist im Geiste seinen Fetisch vorstellt oder 
wenn das Weib in der ihm zusagenden Weise bekleidet ist. So 
konnte der von Moll (60) begutachtete Mann nur mit Weibern 
koitieren, die weiße Wäsche trugen; v. Krafft-Ebing berichtet über 
Patienten, die, um potent zu sein, ein Taschentuch, einen Damen¬ 
stiefel oder einen anderen Fetisch bei sich haben mußten. Diese 
Art des Fetischismus könnte also vielleicht Gegenstand einer Ehe¬ 
scheidungsklage werden, über die wir später noch ausführlicher 
sprechen werden. Forensich wichtiger sind die Äußerungen des 
Fetischismus, bei denen der Trieb so mächtig ist, daß er zu Dieb¬ 
stahl oder Raub führt. Bei diesen Diebstählen handelt es sich meist 
um Stehlen von Frauenwäsche, wie Taschentücher, Handschuhe, 
Frauenschuhe, Schürzen, Beinkleider, Sammt oder Seidenstoffe, Pelz¬ 
werk. Es sind Fälle beschrieben, wo Männer hunderte von Taschen¬ 
tüchern gestohlen haben. Nachdem sie damit ihre Manipulationen 
betrieben hatten, wie Küssen oder Onanie, wurden die Objekte sorg¬ 
fältig verpackt und weggelegt Die Täter gelangten zur Anzeige, 
wenn sie die Taschentücher aus der Tasche zogen und damit viel¬ 
leicht gleichzeitig die Geldbörse. Handelte es sich um Leibwäsche, 


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so vermißten die Frauen das Wäschestück nnd suchten nach dem 
Diebe. Es liegt in diesen Fällen ein Vergehen gegen § 242 vor; 
denn der Täter hat die Absicht, die fremde bewegliche Sache sich 
widerrechtlich anzueignen. Geschieht die Wegnahme mit Gewalt oder 
unter Anwendung von Drohungen, so liegt nach § 249 Raub vor. 
Aber auch die schon beim Sadismus besprochenen Paragraphen der 
Körperverletzung und Sachbeschädigung können bei fetischistischen 
Verbrechen in Frage kommen. Nämlich bei Zopfabschneidern, die 
Haarfetischisten sind. Nach mehreren Gerichtsentscheidungen ist Zopf- 
abschneiden als Körperverletzung zu bestrafen. Sachbeschädigung 
liegt vor bei Stoffetischisten, die nicht nur die Neigung haben, ihre 
Lieblingsstoffe zu streicheln, zu küssen, damit zu onanieren, sondern 
auch oft im Gegenteil die Sucht haben, die Stoffe zu zerschneiden 
oder zu besudeln. Hier würde also eine Verbindung sadistischer und 
fetischistischer Triebe vorliegen, und das ist keine Seltenheit. Wir 
finden bei manchen Menschen Verbindung von Sadismus mit Maso¬ 
chismus und anderseits eine Verbindung dieser beiden Anomalien mit 
dem Fetischismus, v. Krafft-Ebing ist der Ansicht, daß der Schuh¬ 
fetischismus nur eine Abart des Masochismus ist. Wie er meint, 
kommt diese besondere Verkehrung dadurch zustande, daß das In¬ 
dividuum den Wunsch hat, mit dem Fuß oder Schuh getreten zu 
werden. Durch weitere Gedankenreihen entsteht schließlich eine Vor¬ 
liebe für den Schuh. Hoche erwähnt noch eine Abart des Fetischis¬ 
mus: „dem Fetischismus nahestehend, ohne doch dazu zu gehören, 
sind die jedenfalls nicht häufigen Fälle, in denen bestimmte Hand¬ 
lungen, z. B. Entwendungen, als solche von Wollustgefühl mit oder 
ohne Angst begleitet werden. 

Fetischismus kann als Beweggrund zur Tat vorgeschützt werden 
bei manchen Diebstählen, um dadurch Straffreiheit oder wenigstens ein 
geringeres Strafmaß herbeizuführen. Außerdem in den seltenen Fällen, 
wo es sich um Zopfabschneiden aus reiner Gewinnsucht handelt 
Fetischistische Motive für sein eigenartiges Handeln führte ein cand. 
theol. an, der von Kurelia (52), Alzheimer (1) und noch manchen 
anderen Ärzten beobachtet und begutachtet wurde. Dieser Kandidat 
hatte sich eine Reihe Unterschlagungen, Schwindeleien usw. zu 
Schulden kommen lassen, hatte sein Geld in schlechter Gesellschaft 
verjubelt, war desertiert u. a. mehr. Wenn er in Geldverlegenheit 
war, besuchte er Ärzte, erzählte ihnen, daß er eine unbezwingbare 
Leidenschaft für Frauenschuhe hätte, daß er deshalb einer Person mit 
solchem Fußzeug nachgereist und nun von allen Baarmitteln entblößt 
wäre. Kurella hat nie einen fetischistischen Anfall bei dem Patienten 


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Über die gerichteärztliche Beurteilung perverser Geschlechtstriebe. 57 


bemerkt, obgleich dieser nach Kurellas Ansicht genügend Gelegenheit 
gehabt hat, schönes Schnhzeug zu sehen. Patient hat normal koitiert 
und von seinem perversen Triebe angeblich nur gesprochen, wenn 
er sich Vorteil davon versprach. Kurelia hält deshalb den Patienten 
für einen „Erzschwindler und Simulanten“. Anders beurteilt Alzheimer 
denselben Patienten. Alzheimer hält Perversion des Geschlechtstriebes 
für vorliegend und zwar führt er an, daß Patient erblich belastet ist, 
anomale Schädelbildung zeigt und unter seiner Beobachtung beim 
Anblick absichtlich hingestellter Frauenschuhe länger dauernde Puls¬ 
erhöhung und innere Unruhe dargeboten hat. Diese beiden so ab¬ 
weichenden Gutachten beweisen, wie schwer es in manchen Fällen 
ist, ein richtiges Urteil abzugeben. 

Wir kommen damit zur gerichtlich-psychiatrischen Betrachtung 
dieser drei Triebverkehrungen. Da sie mancherlei gemeinsame Züge 
nnd außerdem Übergänge darbieten, wollen wir sie hier gemeinsam 
besprechen. Einig sind sich die Autoren darüber, daß wir es hier 
mit krankhaften Perversionen zu tun haben. Die damit behafteten 
Individuen sind meist von Eltern oder Großeltern her erblich belastet 
und bieten auch sonst Anzeichen von Entartung. Es handelt sich 
vielfach um neuro- oder psychopathische Personen und auch sonst 
finden wir körperliche Entartungszeichen. Über die Erklärung der 
Entstehung dieser Anomalien gehen die Meinungen auseinander, 
v. Krafft-Ebing erklärt sowohl Sadismus wie Masochismus als ent¬ 
standen auf dem Boden sexueller Hyperästhesie. Mit dieser sexuellen 
Hyperästhesie werden die Assoziationen der Lust am Schmerzzufügen 
und Lust am zugefügten Schmerze verbunden zu pathologischen 
Assoziationen. „Sadismus und Masochismus, sagt er, sind Resultate 
in dem Sinne, in dem alle komplizierten Erscheinungen des Seelen¬ 
lebens Assoziationen sind." v. Schrenck-Notzing führt alle Perversionen 
des Geschlechtstriebes auf eine Gelegenheitsursache zurück. Mit oder 
ohne angebornene Anlage kann sich auf Grund eines „okkasionellen 
Momentes“—bei Sadismus und Masochismus erteilter oder empfangener 
Prügel oder erlittener Verwundungen — eine Perversion entwickeln. 
In einem Teile der Fälle nimmt er angeborene Anlage an, im anderen 
Teile Erwerbung. Wir kommen später bei der konträren Sexual¬ 
empfindung auf diese Streitfragen zurück. Auch v. Krafft-Ebing muß 
zugeben, daß zwischen angeborenem und erworbenem Sadismus kein 
strenger Unterschied durchführbar ist. Den Fetischismus erklären 
beide Autoren für erworben, v. Krafft-Ebing sagt „Man kann sich 
der Meinung Binets anschließen, daß im Leben eines jeden Fetischisten 
ein Ereignis anzunehmen ist, welches die Betonung gerade dieses 


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einzigen Eindrucks mit Wollustgefühlen determiniert hat“. Alle 3 Ano¬ 
malien sind also krankhaft und das ist für die gerichtsärztliche Be¬ 
urteilung von größter Wichtigkeit. Nicht gesagt ist aber damit, daß 
durch die Krankhaftigkeit ohne weiteres Straffreiheit bedingt wird. 
Über diesen Punkt wollen wir weiter unten sprechen. 

Exhibitionismus. 

Eine eigenartige Verkehrung des Geschlechtstriebes stellt der 
Exhibitionismus dar. Bei ihm wird die Befriedigung der Geschlechts- 
lust in dem Entblößen und der absichtlichen Zurschaustellung der 
Genitialien gefunden. Die meisten Exhibitionisten sind Männer. Beim 
weiblichen Geschlecht findet sich diese Anomalie seltener. Sehen wir 
uns einmal die Entstehungsart dieser Triebverkehrung näher ad. ln 
vielen Fällen fiel der erste exhibitionistiscbe Akt mit zufälligem 
Urinieren zusammen. Entweder sahen weibliche Personen zufällig 
das Glied des Urinierenden oder dieser drehte sich absichtlich, viel¬ 
leicht im Zustande von Berauschtbeit um. Das Erschrecken oder auch 
das Belachen des Vorfalles führte bei dem Betreffenden zu Lust¬ 
empfindung, und in Zuständen geschlechtlicher Erregung suchte er 
wiederholt diesen Vorgang herbeizuführen, häufig ausgehend von dem 
Gedanken, daß der Anblick des männlichen Gliedes bei dem weib¬ 
lichen Gegenüber Gefallen erregen müsse. In anderen Fällen wiederum 
wirkte das Erschrecken der Frauenspersonen als geschlechtlicher Beiz. 
Der Exhibitionismus als solcher gewährt vielen Menschen Geschlechts¬ 
befriedigung, von anderen Männern wird diese erst noch durch Onanie 
herbeigeführt Außer in der beschriebenen Weise kommt Exhibitionis¬ 
mus nach Hoche (33) noch vor bei jugendlichen unerfahrenen Per¬ 
sonen, die glauben „anbandeln“ zu können und bei alten Onanisten. 
Bei diesen stellt das Erschrecken der weiblichen Zeugen oder die 
Spekulation auf das Auftreten sexueller Empfindungen beim vis-ä-vis 
auch ohne Absicht der Verführung einen neuen Reiz dar. Ferner 
kommt Exhibitionismus vor bei Epileptikern oder an Psychosen mit 
Herabsetzung der Intelligenz leidenden Personen mit angeborenem 
oder erworbenem Schwachsinn; außerdem infolge psychischer Schwäche 
bei Imbezillität, bei Dementia paralytica, Dementia senilis, bei Alko¬ 
holismus. Seiffer (92) fand unter 86 Fällen von Exhibitionismus 
18 Epileptiker, 17 Demente, 13 „Degenerierte“, 8 Neurastheniker, 
8 Alkoholiker, 11 „gewohnheitsmäßige“ Exhibitionisten. Näcke (76) 
ist der Ansicht, daß die Exhibitionisten wohl ausnahmslos Minder¬ 
wertige sind. Die Ansicht, daß Exhibitionismus meist bei Hysterikern, 
Dementen, Epileptikern, Paralytikern und Paranoikern vorkommt, teilen 


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Über die gerichtsärztliche Beurteilung perverser Geschlechtstriebe. 59 

auch andere Autoren wie Schmidtmann (8), Cramer (12), Schaefer 
(86), Jolly (37), Jahrmärker (36), Bloch (6),Hoche (34), v.Krafft- 
Ebing (47), v. Schrenck-Notzing (89, 90), Seydel (94), 
Weygand (105) und andere. Unter den 86 Exhibitionisten Seiffers 
befanden sich 11 weibliche. Sie entblößen bei ihren exhibitionistischen 
Handlungen gewöhnlich die Brüste. Bloch möchte nach Burgls 
Vorschlag „Exhibition und Exhibitionismus“ unterschieden wissen und 
zwar soll erstere Bezeichnung nur für eine einmalige, letztere für 
die mehrmalige oder gewohnheitsmäßige Ausübung gelten. Bloch 
meint, daß Exhibition auch bei Geistesgesunden vorkommt, Exhibi¬ 
tionismus „abgesehen von einzelnen seltenen Ausnahmen bei nicht 
geisteskranken Wüstlingen“ nur bei geisteskranken oder geistig defekten 
Individuen. Nach Schaefer (86) gibt es eine zweckbewußte Ex 
hibition, die nicht eigentlich krankhaft ist, „die vielmehr gerade ihre 
sozusagen normale Erscheinung darstellt“. Sie kann sich allerdings 
mit krankhaften Verhältnissen verbinden, z. B. mit Tabes und Alko¬ 
holismus. Diese wirken dann in doppelter Weise fördernd auf Ex¬ 
hibitionismus, einmal durch Steigerung des Reizes, dann durch Herab¬ 
setzung der Hemmungen. Auch Cramer (10) ist der Meinung, daß 
bei völlig geistig Gesunden exhibitionistische Handlungen Vorkommen. 
Bei Degenerierten kommen solche Akte vor. Sie fallen nach Hoche 
„unter die Kategorie der impulsiven Handlungen mit vorausgehender 
Angst und nachfolgendem Gefühl der Erleichterung.“ Nach J olly (37) 
gehören die Exhibitionisten im weiteren Sinne zu den Sadisten. Ander¬ 
seits kann man bei ihnen aber auch von masochistischen Beweg¬ 
gründen im weiteren Sinne reden, nämlich manchmal wirkt direkt 
die Gefahr des Entdeckt- und Angezeigtwerdens sexuell erregend. Es 
ist nach Jolly sicher, daß bei den Exhibitionisten der Zwang eine 
solche Stärke annehmen kann, daß er alle Schranken durchbricht und 
dann die Verantwortlichkeit ausschließt. Man kann hier von einer 
„Psychopathia sexualis“ sprechen, „deren Besonderheit aber nicht 
darin gesucht werden darf, daß außergewöhnliche Arten der Geschlechts¬ 
empfindung auftreten, sondern daß diese Empfindung mit einer, aus 
pathologischen Gründen unwiderstehlichen Gewalt zur Betätigung 
drängt.“ 

Der Hergang des Aktes beim Exhibitionismus ist immer an¬ 
nähernd gleich. Auf Straßen, öffentlichen Plätzen, unter Laternen, in 
Hausfluren, bei öffentlichen Bedürfnisanstalten usw. stellt sich der 
Täter hin und unter Anschein des Urinierens entblößt er sein Glied. 
Kommen nun weibliche Personen vorbei, so zeigt er diesen das ent¬ 
blößte Glied vor. Manchmal redet er dabei nichts, manchmal, besonders 


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wenn kleine Mädchen kommen, fordert er diese zu näherer Betrach¬ 
tung auf. Häufig wird auch gar nicht der Vorwand des Urinierens 
gebraucht, der Mann zieht bei passender Gelegenheit das entblößte 
Glied aus der Hose hervor oder hat seinen Geschlechtsteil eine Zeit 
lang entblößt außerhalb des Beinkleides, hat ihn aber mit dem Mantel 
bedeckt, den er im geeigneten Augenblicke zurückschlägt. Attentate 
auf Frauen oder Kinder sind dabei selten, oft bildet Onanie den 
Schluß des exhibitiouistischen Aktes. 

Als Beweggrund für ihre Taten geben manche an, daß sie von 
einem inneren schrecklichen Angstgefühle gepackt würden, sodaß sie 
unter starkem Herzklopfen und Schweißausbruch in eine Art von 
Traumzustand gerieten, in dem sie gezwungen wären, ihre Geschlechts¬ 
teile zu entblößen und zu onanieren. Erst nach vollbrachter Tat hätten 
sie das Gefühl der Erleichterung. Hoche spricht in solchen Fällen 
von impulsiven Handlungen Degenerierter. Um solche Individuen 
dürfte es sich wohl hauptsächlich handeln. Dafür sprechen einmal 
die bei neurasthenisch Entarteten vorkommenden Angstzustände als 
auch die daraus folgende läppische Art der Geschlechtsbefriedigung. 
Diese erklärt sich auch noch durch die bei solchen Menschen infolge 
von sinnloser Onanie oder von Krankheit bestehende Impotenz. 
Überhaupt spielt bei Entstehung dieser Triebverkehrung Impotenz und 
Onanie eine große Rolle. Der geistig Minderwertige onaniert häufig 
ohne Maß und Ziel und wird dadurch impotent. Gibt sich aber 
der geistig Gesunde im Übermaße diesem Laster hin, so wird er für 
normale Geschlechtsreize unempfindlich und sucht durch perverse 
Akte neue Reize v für seine gesunkene Potenz. 

Wie Seif fers Statistik lehrt, liefern auch die Epileptiker bei dieser 
Perversion einen großen Beitrag. Der exhibitionistische Akt wird 
entweder im epileptischen Dämmerzustände ausgeführt, oder er ist 
das Äquivalent eines solchen. Auch die anderen krankhaften Zustände, 
bei denen Exhibitionismus vorkommt, wurden schon erwähnt Bei 
allen diesen krankhaften Zuständen dürfte die gerichtsärztliche und 
forensische Beurteilung keine großen Schwierigkeiten machen. 

Es handelt sich um Vergehen gegen § 183 St.G.B., da die öffent¬ 
liche, schamlose Entblößung der Genitalien als unzüchtige Handlung, 
durch die öffentliches Ärgernis verursacht wird, aufzufassen ist. Ist 
der Täter durch Geisteskrankheit, Geistesschwäche oder durch den 
epileptischen Dämmerzustand nicht im Zustande der freien Willens¬ 
bestimmung, so tritt nach § 51 Straffreiheit ein. Anders liegt der 
Fall jedoch, wenn es sich um ein geistig gesundes Individuum handelt. 
Läßt sich bei ihm nicht wirklich eine krankhafte Grundlage und ein 


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Über die gerichtsärztliche Beurteilung perverser Geschlechtstriebe. 61 


krankhafter Zwang nach weisen, so kann von einer Straffreiheit auf 
Grund von § 51 keine Rede sein. Es hat eine sachverständige Unter¬ 
suchung des Geisteszustandes stattzufinden. Wir werden unten noch 
im Zusammenhänge mit den anderen Gescblechtsverirrungen darüber 
sprechen. 

Als Abart der Exhibitionisten seien noch die sog. „Frotteurs“ 
erwähnt, Menschen, die ihre verhüllten oder entblößten Genitalien an 
Personen des anderen Geschlechts reiben und dadurch geschlechtliche 
Befriedigung erzielen. Auch bei ihnen handelt es sich meist um 
krankhafte Individuen. Ihre Beurteilung ist ebenso wie die der 
Exhibitionisten. Der Vollständigkeit halber seien hier auch noch 
die „Voyeurs“ und „Voyeuses“ angeführt, die teils aktiv durch 
sexuelle Akte anderer Personen geschlechtlich erregt werden, teils in 
der passiven Rolle sich beim Geschlechtsakte von anderen betrachten 
lassen. Auch bei ihnen liegen exbibitionistische Beweggründe vor, 
gerichtsärztliche Bedeutung kommt ihnen wohl kaum zu. 

Homosexualität. 

Wir kommen nun zu dem forensisch wichtigsten perversen Ge¬ 
schlechtstriebe, zu der mannmännlichen Liebe oder widernatürlichen 
Unzucht, zu den Vergehen gegen § 175 StGB. Für diese Art des 
Geschlechtsverkehres gibt es eine ganze Reihe Bezeichnungen, wie 
„Konträre Sexualempfindung“, „Homosexualität“, „Urningtum“ oder 
„Uranismus“, „gleichgeschlechtliche“, „mannmännliche Liebe“, „Pä¬ 
derastie“. Der früher allgemein übliche Ausdruck war „Päderastie“. 
Man verstand darunter jeden geschlechtlichen Verkehr zwischen 
Männern, insbesondere aber seine häufigste Form, die immissio penis 
in anum aut os. Infolge aufklärender Untersuchungen über die 
gleichgeschlechtliche Liebe hat man die Bedeutung des Begriffes 
Päderastie eingeschränkt und bezeichnet nur noch die immissio penis 
tn die natürlichen Körperöffnungen des Mannes mit diesem Ausdrucke. 
Eine ganze Reihe von Forschem haben sich mit dem Rätsel der 
gleichgeschlechtlichen Liebe befaßt und darüber in der Literatur be¬ 
richtet Das ist der Anstoß gewesen dafür, daß für die Gleichberech¬ 
tigung der mannmännlichen Liebe eine Agitation eingesetzt hat, die 
weit über das Ziel hinausschießt und sich dreist an die Öffentlichkeit 
drängt Eine fast unübersehbare Literatur ist darüber zusammen¬ 
geschrieben worden. 

Bei Durchsicht dieser Schriften findet man, daß sich auf diesem 
Gebiete die Anschauungen recht geändert haben. Man hat früher die 
Päderastie für ein verabscheuungswürdiges Laster gehalten, und im 


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Volke gilt diese Meinung jetzt noch. Wissenschaftlich läßt sich diese 
Ansicht jedoch nicht mehr uneingeschränkt aufrecht erhalten, vielmehr 
werden wir sehen, daß ein Teil der Gleichgeschlechtlichen zwar nicht 
Kranke, wohl aber Abnormale sind. Um gerichtsärztlich diese 
Anomalie gerecht und richtig zu beurteilen, wollen wir die Ansichten 
der Autoren über ihre Entstehung und Begutachtung kennen lernen. 

Ansichten der Antoren. 

Westphal (103) gab 1868 der gleichgeschlechtlichen liebe den 
Namen konträre Sexualempfindung und bezeichnete sie als „eine an¬ 
geborene Verkehrung der Geschlechtsempfindung mit dem Bewußtsein 
der Krankhaftigkeit dieser Erscheinung“. Nach ihm entsteht sie auf 
dem Boden erblicher Belastung. Man findet neuropathische Symptome 
bei den damit Behafteten. Auffällig ist ein frühzeitiges Erwachen des 
Geschlechtstriebes, häufig im 8. Lebensjahre, sofort mit einer Neigung 
für das gleiche Geschlecht. Mit der konträren Sexualempfindung ist 
oft ein neuropathischer Zustand vergesellschaftet, überhaupt ist die 
Erscheinung krankhaft, jedoch sind nicht alle Individuen, die sich der 
widernatürlichen Unzucht hingeben, als pathologisch anzusehen. Die 
Berichte und Biographien der Homosexuellen gleichen sich auffallend. 
Diese Individuen zeichnen sich durch große Lügenhaftigkeit aus, sowie 
durch ihre Neigung zu weiblicher Kleidung und Schmuckgegenständen. 
Die Frage, kann die konträre Sexualempfindung als ganz isoliertes 
Symptom vorkommeu bei Fehlen sonstiger pathologischer Erschei¬ 
nungen, oder überwiegen dabei die krankhaften Erscheinungen von 
seiten des Nervensystems und der Psyche, läßt Westphal zunächst 
unentschieden, ebenso wie es einen pathologischen Mord und Dieb¬ 
stahl gibt, so nach Westphal auch eine pathologische Geschlechts¬ 
verirrung. 

1875 und 1876 geben Gock und Servaes weitere Beiträge zur 
Kenntnis von der konträren Sexualempfindung, auch Westphal be¬ 
richtet 1876 über einen neuen Fall. - Gock (22) meint, daß ein ge¬ 
wisser Grad von Schwachsinn den Ausgangspunkt dieser krankhaften 
Geschlechtsverirrung bildet. Servaes (93) fand bei seinen Fällen 
eine neuropathische Grundlage, gesteigerte Reflexerregbarkeit neben 
angeborener psychopathischer Disposition; er hält die Erscheinung 
auch für krankhaft. 

Die gleiche Ansicht vertritt in seinen ersten Schriften und in der 
Psychopatbia sexualis v. Krafft-Ebing. 1882 meint v. Krafft- 
Ebing (50), die konträre Sexualempfindung ist eine krankhafte 
Lebenserscheinung, speziell ein neuropathiscbes Belastungssymptom. 


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Über die gerichtsärztliche Beurteilung perverser Geschlechtstriebe. 36 


Ein isoliertes Vorkommen derselben ist fraglich. In seiner Psycho- 
pathia sexualis (47) unterscheidet er eine angeborene und eine erwor¬ 
bene konträre Sexualempfindung. 

Nach v. Krafft-Ebing kommt die angeborene oder besser die ein¬ 
geborene Gleichgeschlechtlichkeit vor bei sonst normal entwickelten 
Männern oder Weibern. Diese zeigen gar keine Abweichungen an 
den Geschlechtsteilen, nur ihre sexuellen Empfindungen sind auf das 
gleiche Geschlecht gerichtet Typisch ist für diese Individuen folgendes: 

1. Das Geschlechtsleben erwacht ungewöhnlich früh und stark. 
Nicht selten zeigen sich außerdem noch andere abnorme sexuelle Er¬ 
scheinungen. 

2. Die geistige Liebe dieser Personen ist häufig schwärmerisch 
exaltiert. Der Geschlechtstrieb macht sich mit selbst zwingender 
Stärke geltend. 

3. Wir finden neben den funktionellen oft psychische Degenera¬ 
tionszeichen. 

4. Neurosen wie Hysterie, epileptoide Zustände, Neurasthenie 
finden sich, letztere meist in angeborenen Bedingungen wurzelnd und 
dauernd bestehend. Sie wird durch Onanie geweckt und unterhalten, 
aber ebenso durch erzwungene Abstinenz. Bei Männern kommt es auf 
Grund derselben zu sexueller Neurasthenie mit reizbarer Schwäche 
des Ejakulationszentrums. 

5. In der Regel bestehen psychische Anomalien, glänzende oder 
ganz schlechte Begabung, Schwachsinn, moralisches Irresein, Ver¬ 
schrobenheit Die Begabung erstreckt sich besonders auf Musik, 
schöne Künste u. dergl. Bei zahlreichen Urningen kommt es zeit¬ 
weise oder dauernd zu Irresein. 

6. Fast immer ist erbliche Belastung nachweisbar in der Aszen- 
denz und Blutsverwandschaft. 

Wichtig ist auch die Tatsache, daß sich der wollüstige Traum 
des männlichen Homosexuellen auf Männer, der des weiblichen auf 
Weiber erstreckt. 

Den meisten Urningen fehlt das Bewußtsein der Krankhaftigkeit 
ihrer Geschlechtsverirrung, sie fühlen sich dabei sogar ganz wohl 
und verlangen, daß die gesetzlichen Schranken, die ihrer Art der 
Geschlechtsbetätigung im Wege stehen, aufgehoben werden. Nur 
wenige empfinden es peinlich, daß sie nicht die gleichen geschlecht¬ 
lichen Regungen haben, wie die anderen Menschen. 

Die angeführten Gründe sieht v. Krafft-Ebing als Beweis dafür 
an, daß die gleichgeschlechtliche Liebe als „ein funktionelles 
Degenerationszeichen und als Teilerscheinung eines neuro-psycho- 


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V. Heinbich Gkäi' 


pathischen, meist hereditär bedingten Zustandes anzusehen ist Die 
Erklärung der Entstehungsweise, die dieser Autor gibt, ist folgende: 
Es entwickelt sich im Menschen ein peripherer Sexualapparat und 
ein zentrales Geschlechtszentrum. Bei beiden ist die Anlage eine 
bisexuelle, aus der die normal monosexuelle entsteht Den peripheren 
Geschlechtsteilen entsprechend entwickelt sich auch der zentrale Ge* 
schlechtsapparat Ebenso wie sich bei dem peripheren Sexualapparat 
Rudimente des entgegengesetzten Geschlechtes finden, wie Reste des 
Müller8cben Ganges oder des Wolffschen Körpers, Brustwarzen beim 
Manne usw., so weisen auch im zentralen Apparat Reste auf die 
phylogenetische Bisexualität hin. Beweise dafür sind die sogenannten 
Mannweiber oder Weibmänner, die Entwicklung seelischer und körper¬ 
licher weiblicher Eigenschaften bei Eunuchen nach Beseitigung der 
Hoden und männlicher nach Entfernung der Eierstöcke im Kindes¬ 
alter, ferner das Vorkommen von Zwittern. 

Der konträre Geschlechtstrieb findet sich jedenfalls nur bei 
organisch belasteten Individuen, daher die Störung im sexualen Zentral¬ 
apparat. Bei normal veranlagten Menschen vollzieht sich die normale 
monosexuelle Entwicklung der peripheren und zentralen Sexualapparate. 
Auf Grund der bisexuellen Reste im Menschen entsteht die Verkehrung 
der Geschlechtsempfindung als krankhafte Perversion. Die konträre 
Sexualempfindung ist aber nicht bei allen damit behafteten 
Individuen gleichmäßig stark ausgeprägt. Ihre Ausdehnung bei dem 
einzelnen ist geradezu ein Gradmesser für die Belastung dieses 
Menschen. Die am wenigsten ausgebildete perverse Geschlechts¬ 
empfindung ist die psychische Hermaphrodisie. Neben der ausge¬ 
sprochenen Empfindung zum eigenen Gescblechte findet sich dabei 
noch solche zu dem anderen, wenn auch meist schwächer oder nur 
episodisch auftretend. Die Hauptmasse der geschlechtlich Perversen 
sind die Homosexuellen oder Urninge. Ihr Geschlechtsleben ist nach 
v. Krafft-Ebing die direkte Karrikatur der natürlichen Empfindungen. 
Der Geschlechtstrieb des Urnings ist oft abnorm stark, seine Lieb¬ 
schaften sind schwärmerisch. Die Geschlechtsbefriedigung besteht in 
Umarmung mit dem Geliebten, Kuß, gegenseitiger Onanie, coitus inter 
feraora, selten Päderastie. Oft genügt schon die bloße Umarmung zur 
Ejakulation und das erklärt sich aus der sexuellen Neurasthenie mit 
reizbarer Schwäche des Erektions- und Ejakulationszentrums. Der 
Koitus mit dem Weibe ist entweder ganz unmöglich, oder läßt sich 
nur mit Hilfe von Phantasievorstellungen mühsam bewerkstelligen. 
Er verursacht Ekel und starke körperliche Ermattung, seelische Nieder¬ 
geschlagenheit und Unbehagen, ln seinen sonstigen Lebensäußerungen 


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Über die gerichtsärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe. 


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und Betätigungen unterscheidet sich der Homosexuelle nicht wesent¬ 
lich vom normalen heterosexuellen Manne. 

Eine weitere Unterart der Homosexuellen sind die Effeminierten 
oder weibischen Homosexuellen. Diese Individuen haben außer ihrer 
perversen Geschlechtsempfindung noch eine Neigung zu weiblichen 
Beschäftigungen, Handarbeiten, weiblicher Kleidung, Kunst usw. Sie 
fühlen sich am wohlsten in Weiberkleidern und verkehren auch gerne 
in Frauengesellschaften. Sie fühlen sich unter diesen auch gewisser¬ 
maßen gauz als Weib. Auch beim homosexuellen Akt fühlen sie sich 
in der Rolle des Weibes. Sie lieben dabei außer den beim männ¬ 
lichen Homosexuellen beschriebenen Arten der Geschlechtsbetätigung 
auch noch passive Päderastie oder auch immissio penis io os. Im 
Bezug auf den Koitus mit dem Weibe verhalten sie sich genau so 
wie die „männlichen" Homosexuellen. 

Noch etwas mehr „weiblich“ sind die von v. Krafft-Ebing als 
Androgynen bezeichneten Konträrsexuellen. Nicht nur Charakter und 
Fühlen ist bei ihnen weiblich, sondern die Individuen nähern sich 
auch in Skelettbildung, Gesichtstypus und Stimme dem weiblichen 
Geschlechte. „Offenbar stellt diese selbst anthropologische Ausprägung 
der cerebralen Anomalie eine besonders hohe Stufe der Entartung 
dar“. Die Genitalien dieser Entarteten sind in der Regel vollkommen 
differenziert Manchmal findet man einige anatomische Degenerations¬ 
zeichen wie Epi-Hypospadie usw. 

Was hier von Männern mit Perversion des Geschlechtstriebes 
gesagt ist, gilt in entsprechender Weise auch von den weiblichen 
Homosexuellen. Hier unterscheidet v. Krafft - Ebing „psychische 
Hermaphrodisie“, „Homosexualität“, „Viraginität“ und „Gynandrie“. 
Die Weiber mit Viraginität fühlen in Gewohnheiten, Handlungen usw. 
männlich, bei den Gynandriern entspricht Knochenbau, Haltung, Gang 
schon mehr oder weniger dem des Mannes. Eine ganze Anzahl 
unserer heutigen Emanzipierten sind weibliche Homosexuelle. Der 
Koitus mit dem Manne ist den weiblichen Konträrsexualen entweder 
wegen großen Ekelgefühles ganz unmöglich oder wird ohne Lust und 
ungern gestattet. Untereinander gewährt diesen Weibern Kuß, Um¬ 
armung, gegenseitige Betastung der Genitalien mit Onanie, cunnilinguus, 
in manchen Fällen auch der Gebrauch eines künstlichen männlichen 
Gliedes geschlechtliche Befriedigung. 

Außer der eben beschriebenen angeborenen Geschlechtsverirrung 
gibt es auch noch eine erworbene Perversität, v. Krafft-Ebing 
will die gezüchtete perverse Geschlechtsempfinduog allerdings nicht 
recht gelten lassen. Er sagt „Niemals wird der unbelastete Mensch 

Archiv für Krimmalanthropologie. 84. Bd. 5 


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V. Heinrich Graf 


durch Onanie, Verführung durch Personen desselben Geschlechtes 
konträrsexual“. Er möchte die erworbene Gleichgeschlechtlichkeit 
lieber als eine tardive bezeichnet wissen; denn immer liegt nach seiner 
Meinung erbliche Belastung vor. Auf Grund einer latenten Homo¬ 
oder zum mindesten Bisexualität ist trotz früherer normaler Geschlecbta- 
betätigung diese Verkehrung später entstanden und imponiert so als 
erworbene, sollte aber richtiger tardive heißen. Er macht einen Unter* 
schied zwischen perversen Akten und Perversion: „Das entscheidende 
ist hier der Nachweis der perversen Empfindung gegenüber dem 
eigenen Geschlechte, nicht die Konstatierung geschlechtlicher Akte an 
demselben“. Perverse Akte kommen vor in Gefängnissen, Schiffen, 
Kasernen, Pensionaten, Internaten, ferner bei impotent gewordenen 
Masturbanten und Wollüstlingen. In den Kasernen nsw. werden die 
perversen Akte nur getrieben wegen Mangel an Weibern und damit 
Fehlen der normalen Geschlechtsbetätigung. Fallen die Hindernisse 
dafür weg, so kehren diese Menschen zum normalen Verkehre zurück. 
Wichtig für den perversen Geschlechtstrieb in allen seinen Äußerungen, 
besonders auch für die konträre Sexualempfindung ist die Onanie. 
Entweder wird der Knabe dazu verführt oder er beginnt sie von selbst 
zu treiben. Mit erwachender Pubertät wird der Trieb zur Selbst¬ 
befriedigung gewöhnlich stärker und stärker und es bedarf immer 
neuer und gröberer Reize, zur Erhöhung des Wollustgefühls. Damit 
schwindet die Empfindung für die normalen Geschlechtsreize und die 
Neigung zum anderen Geschlechte. Die vielen onanistischen Aus¬ 
schweifungen führen zu sexueller Neurasthenie und moralischer Ver¬ 
derbtheit. Es leiden darunter Ethik, Phantasie, das Gefühlsleben, alle 
neuen Reize für die gesunkene Potenz, Sadismus, Masochismus, Fe¬ 
tischismus, Exhibitionismus, Bestialität und besonders gegenseitige 
Onanie und Päderastie werden zur Befriedigung gesucht. Der normale 
Beischlaf ist ein viel zu schwacher Reiz nnd löst nur mangelhaftes 
Wollustgefühl aus. Infolgedessen oder auch infolge der reizbaren 
Schwäche des Ejakulationszentrums erleidet der Onanist oft Fiasko 
beim ersten Koitus. Findet er aber einen Verführer, so kommt es 
dann zur Päderastie. Ganz ähnlich liegen die Verhältnisse beim im¬ 
potent gewordenen Wollüstling. Soweit gedeiht die Perversität 
beim normalen unbelasteten Onanisten. Zu einer Perver s i o n mit 
sexueller Erregbarkeit durch eine Person des gleichen Geschlechtes 
gelangt nur das belastete Individuum. Ist es beim belasteten 
Onanisten zur Perversion gekommen, so kann er wie der geborene 
Urning verschiedene Stufen durcbmachen. v. Krafft-Ebing unter¬ 
scheidet hier 


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Über die gerichtsärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe. 


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I. „einfache Verkehrung der Geschlechtsempfindung“, 

II. Eviratio und beim Weibe Defeminatio, 

III. Übergangsstufe zur Metamorphosis sexualis paranoica, 

IV. Metamorphosis sexualis paranoica. 

Die letzten beiden Stufen betreffen Menschen, die in dem Wahne 

leben, zum anderen Geschlecht zu gehören. 

• _ _ 

Wie wir sahen, hält v. Krafft-Ebing die Homosexualität für 

krankhaft, anderseits will er diese und homosexuelle Akte getrennt 
wissen. Er sagt „Es kann nicht genug betont werden, daß geschlecht¬ 
liche Akte an Personen desselben Geschlechts an und für sich durchaus 
nicht konträre Sexualität verbürgen“. Für die forensische Begut¬ 
achtung derartiger Vergehen sind nach diesem Autor für die Diagnose 
der angeborenen Perversion folgende Punkte von Wichtigkeit: Vor 
allem die erbliche Belastung und das Vorkommen der gleichen Ab¬ 
normität bei mehreren Mitgliedern einer Familie. Da ja bei psychi¬ 
scher Hermaphrodisie der Vater eine Ehe geschlossen haben kann, so 
ist der Fall möglich, daß auch der Sohn homosexuell veranlagt ist. 
Häufig finden sich außer erblicher Belastung noch psychische und 
auch körperliche Entartungszeichen. Wichtig sind auch die Auto¬ 
biographien der Urninge. Allerdings muß man solche Lebensbeschrei¬ 
bungen mit Vorsicht verwerten, da diese Leute vielfach große Lügner 
sind. Sie bringen meist gleichmäßig die Angabe des frühzeitigen 
Erwachens des Geschlechtstriebes mit oder ohne Anlaß an Schläge 
oder ein sonstiges Ereignis und zwar mit der sofortigen Richtung 
auf das gleiche Geschlecht Wichtiger als diese Angaben ist jeden¬ 
falls das Fehlen des Durchbruchs des normalen Geschlechtstriebes und 
das Vorkommen gleichgeschlechtlicher Handlungen im Zeitalter der 
Geschlechtsreife. Besonderer Wert ist zu legen auf das Traumleben 
der Homosexuellen. Es ist ein Beweis dafür, welche Rolle das Ge¬ 
schlechtliche im Leben dieser Menschen spielt. 

Bei der erworbenen konträren Sexualempfindung werden wir 
finden, daß ihr Auftreten erst im späteren Leben erfolgt und auf 
Einflüsse wie Masturbation und andere, die normale Geschlechts¬ 
betätigung störende Einflüsse zurückzuführen ist. Bei ihr besteht das 
Bewußtsein des Lasterhaften und Krankhaften der Geschlechtsverkeh¬ 
rung. Die heterosexuelle Empfindung bleibt vorherrschend im Leben. 

Die früher vertretene Ansicht von der Krankhaftigkeit der per¬ 
versen Geschlechtsempfindung hat v. Krafft-Ebing in seinen neuesten 
Arbeiten geändert und preisgegeben. In seinen „neuen Studien auf 
dem Gebiete der Homosexualität“ (46) vertritt er die Ansicht, Homo- 

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V. Heinrich Graf 


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Sexualität an sich ist keine Krankheit, eher Mißbildung. Sie ist 
unverschuldet, verdient Mitleid und kann bei durchaus normaler 
Psyche auftreten. 

Näcke (77) unterscheidet bei den „lasterhaften“ Geschlechts- 
handlangen zwischen Perversion, Perversität und Surrogat Unter 
Surrogat versteht er eine „temporäre, einigermaßen entschuldbare Per¬ 
versität“. „Unter ,Perversion 4 ist eine angeborene, anomale sexuelle 
Reizbarkeit, die dementsprechend abnorme Akte auslöst, zu verstehen 44 . 
Perversität ist nach Näcke erworben und bleibend. Onanie kann die 
Entstehung mutueller Masturbation und Perversität begünstigen, bei 
der konträren Sexualempfindung fehlt sie aber öfter ganz und gar. 
Überhaupt hält Näcke (72) die Nachteile der Onanie für viel zu 
übertrieben. Er sagt: „Ob wirklich daraus Nerven- und Geistes¬ 
krankheiten entstehen, wie manche glauben, ist mehr als zweifelhaft. 
Nur ein Kranker onaniert frenetisch, nie ein Gesunder“. Onanie führt 
zu den anderen Geschlechtsverirrungen, wie Sadismus, Masochismus 
Päderastie, paedicatio feminae. Für die konträre Sexualempfindung 
ist sie höchstens als begünstigendes Moment anzusehen. Homosexualität 
ist keine Krankheit, sie ist höchstens ein Stigma, aber ein nicht 
schweres. Ob durch die Lektüre homosexueller Schriften diese Inver¬ 
sion erzeugt werden kann, ist fraglich. Die Möglichkeit, daß sie oder 
eine andere geschlechtliche Perversion ohne angeborene Anlage erworben 
werden kann, erscheint Näcke nicht ausgeschlossen. 

In einer anderen Schrift, in der Näcke einen Besuch bei den 
Homosexuellen in Berlin schildert (69), erklärt er die Gleichgeschlecht¬ 
lichkeit für eine Abart der gewöhnlichen Liebe, für eine normale, 
seltenere Variation des Geschlechtstriebes, für eine Art Mißbildung, 
jedoch niemals für Krankheit „Homosexualität ist de facto eine 
„rudimentäre“ Heterosexualität, denn der Mann liebt nicht einen 
x-beliebigen Menschen usw., sondern nur einen, der die inneren — 
oft auch nur die äußerlichen — Eigenschaften des anderen Geschlechts 
an sich trägt“. „Die meisten Homosexuellen denken und fühlen und 
unterhalten sich also — bis auf ihre bestimmte Geschlechtsempfin¬ 
dung — genau so wie die Heterosexuellen“. Nach Näcke gibt es 
kein sicheres Zeichen für Erkennung von Urningen. Man soll den 
Invertierten die Art ihrer Geschlecbtsbefriedigung lassen. Sie sind 
keine die Gesellschaft schädigenden Elemente, im Gegenteil würde ihre 
Erhaltung für die Gesellschaft und Allgemeinheit von Nutzen sein. 
Der Hauptwert bei Feststellung der Diagnose „Homosexualität“ ist 
auf „Serienträume“ zu legen, da sich in ihnen das Leben der Menschen 
am deutlichsten widerspiegelt. 


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Über die gerichtsärztlicho Bedeutung perverser Geschlechtstriebe. 


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In einer Erwiderung gegen Lombroso „Vergleich von Verbrechen 
und Homosexualität“ (78) leugnet Näcke, daß jemand durch Onanie 
oder Verführung dauernd homosexuell werden könne. Er gibt aber 
zu, daß anscheinend bei Verbrechern echte Homosexualität häufiger 
sei. Er meint, die Homosexuellen sind „nicht oder kaum im höheren 
Grade psychopathologisch als die sogenannten Normalen unter den 
Heterosexuellen". Es ist nach ihm entweder die Homosexualität selbst 
oder die Disposition dazu dem Menschen eingeboren und das ist seiner 
Meinung nach nur ein Wortstreit. Die Homosexualität auf Schiffen, 
in Internaten, Gefängnissen usw. ist nur eine vorübergehende. 

In Hirschfelds Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen spricht 
Näcke (70) die gleiche Meinung aus. Er vertritt hier die Ansicht, 
zwischen „echter Homosexualität" und bloßen „homosexuellen Hand¬ 
lungen" besteht kein Unterschied. Auch einen Päderasten an sich 
zählt er (74) noch nicht zu den lasterhaften Homosexuellen. Bei 
echten Konträrsexuellen sind die Genitalien nur selten alteriert (73). 
Brustdrüsen finden sich mehr oder weniger nur bei deutlich Effemi- 
nierten. Abweichungen der Geschlechtsteile finden sich häufiger bei 
Perversität durch lasterhafte Angewohnheit. 

In seiner jüugst erschienenen Schrift „Einteilung der Homo¬ 
sexuellen" spricht Näcke (71) die Ansicht aus, daß die Homosexualität 
in den niederen Volksschichten weniger verbreitet sei als in den 
höheren. Näcke sagt „Verführung und Onanie haben, sehr wahr¬ 
scheinlich wenigstens, nie einen Urning erzeugt; es gehört dazu stets 
eine angeborene Disposition. Der Ursprung ist dunkel, doch spielt 
hierbei jedenfalls die sicher bestehende anatomische und psychische 
bisexuelle Anlage des Menschen eine Hauptrolle." Päderastie kommt 
nach Näcke ungefähr bei 8 Proz. der Gleichgeschlechtlichen vor. 
Dieser Autor teilt die Homosexuellen ein in 

I. Homosexuelle, 

II. Bisexuelle und unterscheidet bei beiden 

1. sehr früh sich zeigende Fälle, 

2. später auftretende Fälle 

a. zur Zeit der Geschlechtsreife, 

b. im späteren Mannes- resp. Greisenalter 

a temporär, 
ß periodisch, 
y kontinuierlich. 

Auch bei der obenerwähnten „ Surrogatinversion“ wie auf Schiffen, 
in Internaten usw. hält er einen Teil der Fälle für „zweifellos homo¬ 
sexuell bedingt“. In dem Nachtrag zu der Arbeit unterscheidet er 


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70 


V. Heinrich Graf 


dann echte Homosexualität, die nur auf rein homosexuellem Wege 
ihre Befriedigung findet und kein Laster ist und die unechte, die die 
Befriedigung homosexuell sucht und eine Perversität ist Erworben 
werden kann nach Näcke nur eine homosexuelle Handlung auf hetero¬ 
sexuellem Boden, nicht sexuell fremdes Empfinden. 

Einen von Näcke recht abweichenden Standpunkt vertritt 
v. Schrenck-Notzing (89, 90, 91) in seinen Schriften. Die An¬ 
sichten dieses Autors sind ungefähr folgende: Angeboren ist bei der 
konträren Sexualempfindung nur die neuropathische Belastung und 
die psychopathische Minderwertigkeit. Ererbt ist ebenso wie bei der 
Tuberkulose die Prädisposition. Auf Grund der ererbten Disposition 
können Gelegenheitsursachen wie empfangene oder erteilte Prügel, 
Jugendschwärmereien, Grausamkeiten, erhaltene blutige Wunden usw. 
der Anlaß zur Entstehung von Geschlechtsverirrnngen sein. Ja sie 
können sogar, wenn stark genug, die Form der Erkrankung be¬ 
stimmen d. h. in dem einen Falle entwickelt sich konträre Sexual¬ 
empfindung, im anderen Sadismus, im dritten Fetischismus. Der Ge¬ 
schlechtstrieb erwacht vorzeitig, dabei fehlt aber in der Regel Ge¬ 
legenheit zum normalen Verkehr, daher Zuflucht zur Onanie. Der 
Eindruck beim ersten Orgasmus gräbt sich tief ein und nach der 
Stärke des Gefühles beurteilt das Individuum den Wert der Perzeption 
für das Ich. „Die Wahrnehmung wird inhaltlich und zeitlich so 
intensiv zusammengedacht, daß fortan das Wollustgefühl von der 
reproduzierten Vorstellung der äußeren begleitenden Umstände regel¬ 
mäßig begleitet wird.“ Es kommt nun zu weiterer Verarbeitung der 
Vorstellung und zu Streben nach häufigerer Wiederholung. Dadurch 
erfolgt Vertiefung und schließlich wird die bestimmte Vorstellung 
zwaugsartig und sie „genügt endlich für sich allein, um sexuelle 
Neigungen zu produzieren“. Sie begleitet die Traumpollutionen und 
wird der Ausgangspunkt' für perverse Geschlechtsregungen. Leicht 
wird bei der modernen getrennten Erziehung der Geschlechter die 
sexuelle Regung auf das eigenene Geschlecht bezogen. Zärtliche 
Freundschaften nehmen durch die sexuelle Betonung geschlechtlichen 
Charakter an. Die Naturanlage allein bietet keine Erklärung dafür, 
warum der Eine homosexuell, der Andere Liebhaber von Schuhnägeln, 
der Dritte von Frauenaugen wird. Also: die angeborene Prädisposition 
bietet den Boden zur Entwicklung der Geschlechtsverkehrung, ohne 
daß sie sich auf die Form der Erkrankungen zu erstrecken braucht. 

Es besteht bei den Perversen nach v. Schrenck-Notzing eine 
Schwäche ohne Störung des Verstandes, und diese macht die Be¬ 
treffenden unfähig, unsittliche Handlungen als rechtswidrig anzusehen 


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Über die gerichtsärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe. 


71 


und zu verstehen. Das ist atich der Grund, warum die Urninge nicht 
einsehen wollen, daß ihr Geschlechtstrieb krankhaft ist. Ihre perverse 
Geschlechtsbetätigung ist als eine Teilerscheinung einer nervösen oder 
geistigen Erkrankung aufzufassen. Findet man auch manchmal außer 
auf geschlechtlichem Gebiete keine krankhaften Erscheinungen, so 
darf man sich dadurch nicht in seiner Ansicht irre machen lassen. 
Gleichgültig ist es, ob man den perversen Geschlechtstrieb als neuro* 
oder psychopathisch auffasst Der Gerichtsarzt kann das isolierte 
Dasein perverser Äußerung des Geschlechtstriebes nicht als Unzu¬ 
rechnungsfähigkeit bedingend gelten lassen. Man hat als typisch für 
Urninge ihre Neigung zu weiblichen Handarbeiten und ähnlichen Be¬ 
schäftigungen schon in den Kinderj'ahren biogestellt. Das ist nach 
v. Schrenck-Notzing nicht beweisend. Überhaupt rät er zur 
Vorsicht beim Ziehen von Schlußfolgerungen ans solchen Beobach¬ 
tungen. „Es ist überhaupt die Frage, ob ein Kind ohne erbliche 
Belastung nicht durch Züchtung allein konträrsexual werden kann.“ 
Auf jeden Fall ist die Tragweite menschlicher Einwirkungen nicht 
zu bezweifeln. 

Bei der Diagnose der Homosexualität empfiehlt v. Schrenck- 
Notzing Vorsicht. Der Arzt ist allein auf das Krankenexamen an¬ 
gewiesen und kann die Aussagen des Patienten nicht durch die An¬ 
gaben der Angehörigen ergänzen. Bei vielen Homosexuellen hat 
durch die Lektüre der „Psychopathia sexualis“ eine unbewußte Auto¬ 
suggestion stattgefunden, deshalb ist der Wert der Autobiographien 
nicht zu überschätzen, wenn sie auch selbst unentbehrlich sind. 
Wissenschaftliche Theorien sollte man auf sie nicht aufbauen. Die 
„Gelegenheitsursachen“ werden sehr häufig vergessen und lassen sich 
nur bei einem Teile nachweisen. Sehr wohl kann sich die erste ge¬ 
schlechtliche Erregung mit dem Anblicke einer sympathischen männ¬ 
lichen Erscheinung oder mit der Berührung dieser Person verbinden 
ohne vorliegende erbliche Belastung. Es kommt ehen dann zu den 
beschriebenen pathologischen Assoziationen. Nach v. Schrenck- 
Notzing kommen äthiologisch für die Entwicklung der konträren 
Sexualempfindung drei Möglichkeiten in Betracht, nämlich 

1. die originäre Gehimanlage, 

2. Erziehungseinflüsse auf dem Boden neuropathischer Dis¬ 
position, 

3. eine Züchtung bei Unbelasteten 

und zwar ist die zweite Möglichkeit die häufigste. 

Die zwar geistreiche Theorie v. Krafft-Ebings von der bisexu¬ 
ellen Anlage des Menschen ist nach v. Schrenck-Notzing ana- 


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72 


V. Hein eich Gkäf 


tomi8ch nicht zu rechtfertigen. Dieser Autor ist zu seiner Ansicht 
über die Entstehung der Homosexualität gekommen durch die Be : 
einflußbarkeit, die diese Erscheinung in vielen Fällen durch die 
Suggestionstherapie erfährt Wie die Denkweise des Perversen durch 
die Suggestion „männlich" umgestimmt werden kann, so muß man 
umgekehrt annehmen, daß die pathologischen homosexuellen Ideen 
des Urnings dessen Handlungen bestimmen und schließlich den Cha¬ 
rakter umgeformt haben. „Wie Gewissen und Moral niemals an¬ 
geboren, sondern erst erworben werden, so ist auch der Geschlechts- 
trieb, gleichgültig ob er im 5. oder 15. Lebensjahr zuerst sich äußert, 
zunächst ohne Ziel, unbestimmt, selbst bei lebhaftester, krankhafter 
Tendenz zur Entäußerung, zur Explosion.“ An anderer Stelle (89) 
sagt v. Schrenck-Notzing, „die Gewöhnung des psychosexuellen 
Mechanismus an inadäquate Reize (Onanie) sind imstande, schließlich 
sogar den Widerstand einer normal empfindenden Persönlichkeit 
dauernd zu besiegen.“ Bei der Vererbungstheorie der Homosexualität 
müßte nachgewiesen werden, daß die Vorfahren homosexuell gewesen 
sind, und auch diese müßten die Geschlecbtsverirrung doch erst ein¬ 
mal erworben haben. „Die stillschweigende Voraussetzung, daß die 
Aszendenten solche Gewohnheiten besaßen und erwarben, bedarf also 
selbst eines zureichenden Beweises und wird auch durch historische 
Mitteilungen über Urningtum nicht erledigt.“ Zur Erklärung der 
perversen Richtungen des Geschlechtstriebes genügt also vollständig 
die Annahme einer erblichen Belastung und psycho- oder neuro- 
pathischen Prädiposition. Als pathognomonische Zeichen der Heredität 
führt v. Schrenck-Notzing an: Geringe intellektuelle Begabung, 
Stimmungsanomalien, Neigung zu lebhafter Gefühlsbetonung und 
Affekt, zu impulsiven Handlungen, leicht erregbare Vorstellungs¬ 
tätigkeit, kleine Reize — große Wirkungen auf die Psyche, Ein¬ 
seitigkeit und ungleichmäßige Entwicklung der geistigen Anlagen, 
Intoleranz gegen Alkohol, Vorliebe für das Ungewöhnliche, zügelloses 
Phantasieleben, Zwangsvorstellungen, starken' Egoismus, abnorm frühes 
und starkes Auftreten des Geschlechtstriebes, erhöhte Reflexerregbar¬ 
keit und reizbare Schwäche. Die konträre Sexualempfindung ist also 
als krankhaft anzusehen und darauf muß bei der forensischen Be¬ 
urteilung geachtet werden. 

Moll hält in seiner 1891 veröffentlichten Schrift „Die konträre 
Sexualempfindung“ (59) diese Verkehrung auch für krankhaft. Äti¬ 
ologisch wichtig ist nach ihm psychische oder nervöse Belastung oder 
Entartung des zentralen Nervensystems. Reine Fälle erworbener kon¬ 
trärer Sexualempfindung sind nach Moll selten. Als belastende Mo- 1 


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Über die gerichtsärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe. 73 

mente sind anzusehen: Trunksucht, Selbstmord, Heirat unter Bluts¬ 
verwandten, Geisteskrankheiten, Lues, Atavismus. Die Tatsache der 
Belastung wird gestützt durch die von v. Kr afft- Ebing angegebenen 
Tatsachen. Warum nicht alle Entarteten homosexuell sind, erklärt 
Moll dadurch, daß bei den mit der sexuellen Perversion behafteten 
Degenerierten der Geschlecbtstrieb der locus minoris resistentiae ist. 
Mitunter sind auch Gelegenheitsursachen beim Erwachen des Ge¬ 
schlechtstriebes wichtig, so besonders für die bestimmte Art der Ge¬ 
schlechtsbefriedigung. Jedoch ist die »Gelegenheit, die Veranlassung 
zur Ausübung des perversen Aktes gibt, nicht mit derjenigen Gelegen¬ 
heit zu verwechseln, die den perversen Trieb zum Ausbruch bringt“. 
Als Gelegenheitsursachen hält Moll für wichtig moralisches Contagium 
und Verführung, das Treiben in großen Erziehungshäusern, perverse 
Lektüre, gegenseitige Onanie, langen Ausschluß von Weibern, strenge 
Erziehung und ausschließlichen Verkehr mit Knaben, Furcht vor Ge¬ 
schlechtskrankheiten und Schwängerung. Die Onanie hält auch Moll 
für ein begünstigendes Moment, daß aber Wüstlinge oft zur Päderastie, 
als zu einem neuen Reiz übergehen, ist nach ihm übertrieben. An 
einer anderen Stelle erklärt er diese Entstehungsart der Homosexualität 
als „Märchen“. Beim Altersblödsinn und bei progressiver Paralyse 
ist diese Perversität häufiger. Die konträre Sexualempfindung ist 
eine Perversion und bei ihr gehört Päderastie zu den Seltenheiten. 
„Gestört ist bei perversem Geschlechtstrieb nur die Art und Weise, 
wie die Psyche auf das Sexualorgan wirkt,“ sagt Moll. Die Diagnose 
ist vor allem aus den erotischen Träumen zu stellen. Da die Homo¬ 
sexualität eine krankhafte Erscheinung ist, „dürfen wir ein damit 
behaftetes Individuum nie für gesund erklären“. Der homosexuelle 
Geschlechtstrieb besteht oft als einziges Symptom, jedoch ist der 
Homosexuelle nicht für geisteskrank zu halten. Wohl besteht die 
Möglichkeit des Koitus bei diesen Menschen, aber er befriedigt sie 
nicht nur nicht, sondern soll sehr angreifend für sie sein. Der gleich¬ 
geschlechtliche Verkehr ist deshalb als Trieb der „Selbsterhaltung“ 
anzusehen. 

Was Moll über die Urninge sonst sagt, haben wir schon teil¬ 
weise früher erwähnt. Nach ihm ist diese Erscheinung mehr in den 
besseren Gesellschaftskreisen verbreitet, auch viel unter dem Geburts¬ 
adel. Viele Perverse lieben nicht Männer mit weibischem Wesen, 
sondern normale Männer. Den Gebrauch weiblicher Kleider durch 
die Urninge unterdrückt der Staat deshalb, weil erfahrungsgemäß 
viele Diebstähle in Weiberkleidung begangen werden, um die Polizei 
auf andere Spuren zu führen. Das Schamgefühl der Urninge besteht 


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74 


V. Heinrich Graf 


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nur ihrem Geschlechte gegenüber. Die seltene Neigung der echten 
Homosexuellen zur Päderastie beruht nicht auf Verführung, sondern 
darin, daß der Urning bei der Art der geschlechtlichen Befriedigung 
Abwechslung wünscht Das von so vielen Perversen erwähnte gegen¬ 
seitige Erkennen „auf den ersten Blick“ ist nach Moll (59 und 66) 
nicht wahr. Auch diese Menschen haben eine große Vorliebe für 
das Militär, was nach Moll als eine Art „Fetischismus“ anzusehen 
ist. Sie suchen Soldaten als Partner für ihren Geschlechtsverkehr zu 
gewinnen. Die männliche Prostitution mißbilligt Moll mit scharfen 
Worten. Als gewöhnliches Alter der männlichen Prostituierten gibt 
er 17 bis 30 Jahre an. 

In seinen 1898 erschienenen „Untersuchungen über die Libido 
sexualis“ (65) will Moll die Perversionen des Geschlechtstriebes auf 
Grund hereditär degenerativer Grundlage zu den psychischen Ent¬ 
artungen, also zu den Geisteskrankheiten im weiteren Sinne, gerechnet 
wissen, auch bei isolierter Homosexualität. „Ein einziges nachweis¬ 
bares Symptom kann zum Begriff des Krankhaften genügen.“ Moll 
wendet sich gegen v. Schrenck-Notzings Ansicht, daß bei Ent¬ 
stehung der perversen Geschlechtsricbtung die Gelegenheitsursachen 
die ausschlaggebende Bedeutung haben. Er meint, es kann mit 
der Keimanlage die Homosexualität ererbt werden, d. h. der Sohn 
erbt von der Mutter deren Neigung zum Manne und umgekehrt die 
Tochter vom Vater die Neigung zum Weibe, aber nicht müssen not¬ 
wendig fetischistische und ähnliche Anlagen ererbt sein. Das abnorm 
frühe Auftreten des Geschlechtstriebes ist nicht für Ererbtsein der 
Homosexualität charakteristisch, mehr spricht dafür der fehlende 
Durchbruch der Homosexualität zur Zeit der Geschlechtsreife. Die 
Eindrücke im Stadium der geschlechtlichen Undifferenziertbeit können 
für das spätere Geschlechtsleben eine Rolle spielen, brauchen es aber 
nicht. Es läßt sich in vielen Fällen von Homosexualität der Nach¬ 
weis führen, daß der Betreffende in der Jugend homosexuell verkehrt 
hat, jedoch wird der Mensch durch solche Jugendhandlungen nicht 
homosexuell, da der mächtige heterosexuelle Trieb doch gewöhnlich 
in der Pubertät durchbricht. Die Heterosexualität bricht bei dem 
Perversen nicht durch, weil sie nicht ererbt ist, oder es besteht eine 
ererbte Schwäche der Heterosexualität. Ohne letztere kann Homo¬ 
sexualität auch im späteren Alter oder bei Weibermangel nicht ge¬ 
züchtet werden. Unsere moderne Psychiatrie erkennt keine Mono¬ 
manien wie Kleptomanie, Pyromanie, perversen Geschlechtstrieb als 
einziges Sympton als strafausschließend an. Diesen Standpunkt teilt 
Moll. Jedenfalls ist nach ihm die sexuelle Perversion ein Straf- 


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Über die gerichtsärztliche Bedeutung perverser Geschlcchtstriebe. 75 

mildernngsgrund. Man kann nicht von der UnnnterdrQckbarkeit des 
perversen Triebes auf Geisteskrankheit schließen, anch der normale 
Geschlechtstrieb ist oft unnnterdriickbar. 

Homosexuelle Gefühle können nach Moll (62) mitunter in der 
Ehe znm Schwinden gebracht werden. Das spricht nicht gegen das 
Angeborensein der Homosexualität, da künstliche Abänderungen, z. B. 
sogar angeborener körperlicher Anlagen möglich sind. Also können 
anch eingeborene psychische Dispositionen durch Einflüsse im Leben 
modifiziert werden. Moll hebt das gerade deshalb hervor, weil es 
gerade von denjenigen bestritten wird, die für Abschaffung von 
§ 175 St. G. B. und Gleichberechtigung des homosexuellen Verkehres 
agitieren. 

v. Kraft-Ebings Ansicht von der bisexuellen Anlage des Men¬ 
schen teilt Moll nicht. Die erbliche Belastung der Homosexuellen 
wird, wie er sagt, von manchen Menschen verneint. Und zwar führen 
diese an, daß zu den Ärzten nur solche Leute kämen, die erblich be¬ 
lastet wären. Diese belasteten Individuen könnten ihren Trieben 
weniger widerstehen als unbelastete. Sie empfänden deshalb ihren 
Drang als krankhaft, kämen mit den allgemeinen sozialen Anschau¬ 
ungen in Konflikt und gingen deshalb zum Arzte. Demgegenüber stellt 
Moll fest, daß in überwiegender Zahl erbliche Belastung nachweisbar 
ist Aus dem homosexuellen Akte an sich geht nach Moll noch nicht 
hervor, daß er ein Zwangsakt ist. Würden wir den Homosexuellen 
ihre perversen Akte nicht zurechnen, so wären seiner Meinung nach 
die Perversen besser gestellt als die Normalen, die ihren Trieb auch 
nicht so befriedigen können wie sie wollen. 

Eulen bürg (14) bezeichnet Uranismus als psychische Anomalie. 
Die konträre Sexualempfindung kann nach ihm bei psychisch kranken 
und psychisch gesunden, „meist jedoch degenerativ oder zum min¬ 
desten „nervös“ (neurasthenisch) veranlagten Individuen Vorkommen“. 
Das gleiche gilt für die verschiedenen heterosexuellen Perversionen. 
Eulenburg sagt: „Es gibt einen gewissen, schwer bestimmbaren, aber 
anscheinend nicht ganz geringen Prozentsatz männlicher Individuen, 
bei dem — zumeist auf Grund eigentümlicher angeborener Veran¬ 
lagung — jede heterosexuelle Beizung meist von vornherein vollstän¬ 
dig fehlt, oder doch schon gegen die Pubertätszeit hin gänzlich zurück¬ 
tritt, und dieser Defekt durch einen stark entwickelten körperlichen 
und seelischen Zug zu männlichen Geschlechtsgenossen, durch mann¬ 
männliche (homosexuelle) Neigung ersetzt wird.“ Inbezug auf von 
Schrenck-Notzings „okkasionelle Momente“ für Entstehung der 
Homosexualität liegt nach Eulenburgs Meinung eine Verwechselung 


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76 


V. Heinbich Graf 


von Ursache und Wirkung vor. Die meisten von dessen Leuten 
hätten schon eine angeborene Homosexualität gehabt als sie in ihrem 
5. oder 8. Jahre Vergnügen beim Anblicke eines penis oder ähnlichem 
empfanden. Nun in manchen Fällen ist man nach Enlenburg be¬ 
rechtigt, Gelegenheitsursachen für Entstehung perverser Triebe ver¬ 
antwortlich zu machen. Onanie hält er für wichtig, jedoch ist das 
Hauptmoment die abnorme neuropsychische Veranlagung, sei sie nun 
angeboren oder auf erblicher Belastung beruhend, oder in früher Jugend 
durch Gehirnkrankbeiten erworben. 

Kirn (40) hält die konträre Sexualempfindung für eine patho¬ 
logische Verkehrung des Geschlecbtstriebes. Die Päderastie ist nach 
ihm im allgemeinen ein scheußliches Laster; davon hebt sich eine 
Anzahl Ausnabmefälle von konträrer Sexualempfindnng ab, basierend 
auf Gebirnentwicklung und geistiger Veranlagung des betreffenden 
Individuums. Dieser perverse Geschlechtstrieb ist keine isolierte krank¬ 
hafte Erscheinung, sondern ein psychischer Ausnahmezustand. Die 
Homosexuellen sollten ihren Trieb auch bemeistern. 

Auf Grund eines einschlägigen Falles vertritt Kautzner (39) die 
Ansicht, daß man für Entstehung der Homosexualität keine angeborene 
Homosexualität annebmen darf. Außere Umstände, Umgang, Er¬ 
ziehung bewirken, daß jemand homosexuell wird. Die heterosexuellen 
Triebe sind bezähmbar, also auch die homosexuellen. Gleichgeschlecht¬ 
liche Betätigung wird mit voller Überlegung ausgeführt, es besteht 
volles Bewußtsein der Strafbarkeit der Handlung, also kann von einem 
unwiderstehlichen Zwange keine Rede sein. 

Wilhelm (106) teilt einen Fall von Androgynie mit, wo es sich 
um einen Mann mit durchaus weiblichem Habitus handelte, mit weib¬ 
lichem Skelettbau, Fettpolster, tänzelndem Schritt. Dieser Mann war 
9 Jahre in der Schweiz als „Kellnerin“ tätig gewesen und wurde 
nachher von einer weiblichen Prostituierten ans Brotneid angezeigt, 
weil er immer abends in Frauenkleidem ausging und sich Männern 
hingab. Wilhelm bemerkt hierzu: „Erkennt man auch die Krank¬ 
haftigkeit der konträren Sexualempfindnng an, so wird man deshalb 
doch nicht unbedingt die Frage bejahen müssen, ob der Homosexuelle 
für die aus der Homosexualität fließenden gleichgeschlechtlichen Hand¬ 
lungen als unverantwortlich und gemäß § 51 St. G. B. als straffrei 
zu betrachten ist“. Es ist nach seiner Meinung je nach dem allge¬ 
meinen Symptomenkomplex oder je nach Stärke des krankhaften Triebes 
nur in gewissen seltenen Fällen Unzurechnungsfähigkeit anzunehmen. 

Seydel (94) will die Individuen mit perversem Geschlechtstrieb 
genau so beurteilt wissen wie die normal empfindenden. Nach Seydel 


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Über die gerichtsärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe. 77 

ist bei diesen Individuen der Schluß berechtigt, daß es sich entweder 
um Menschen bandelt, die im übrigen gesund, sich vor verbrecherischen 
Exzessen vorsichtig zu wahren verstehen, oder daß ihre Vergehen von 
ihren Komplizen gebilligt und der Bestrafung entzogen werden. Die 
speziellen Äußerungen der Perversität müssen im Interesse der öffent¬ 
lichen Sittlichkeit durch Strafe verfolgt und zurückgedrängt werden. 
Es ist schwer zu sagen, wann wirkliche geistige Verirrung vorliegt, 
wann geistige Erkrankung und die sexuelle Perversität als ihr Sym¬ 
ptom. „Es wäre durchaus falsch, alle diese Individuen, die nach allen 
übrigen Seiten sich normal zeigen, als Geisteskranke anzusehen“. Bei 
Überschreiten des Strafgesetzes ist an diese Personen der gleiche 
Maßstab anzulegen wie an geistig gesunde. Berücksichtigt werden 
muß ihre schwache Resistenz gegen Anstrengungen und Reize, auch 
gegen Alkohol. Eine genaue ärztliche Untersuchung, vor allem in 
einer Irrenanstalt, ist erforderlich. 

Salgo (85) spricht sich dahin aus: Die Homosexualität ist als 
abweichend von der Norm anzusehen, jedoch ist solche Abweichung 
nicht als krankhaft zu beurteilen; denn man darf nicht aus einem 
auffälligen Symptome auf Krankheit schließen. Aus der Art der Be¬ 
friedigung des Libido sexualis kann unter keinen Umständen ein 
Schluß auf den psychischen Geisteszustand gezogen werden, „mag die 
Art wie weit entfernt immer von der Norm sein“. Es ist unzulässig 
von einer „Psychopathia sexualis“ zu sprechen. „Die Frage der 
sexuellen Perversität ist als solche nicht Gegenstand der Psychiatrie.“ 
Die Homosexualität bedeutet keine psychische Störung, sie ist ebenso 
wie sexuelle Perversität eine individuelle Äußerung des Geschmackes. 
Die Homosexualität wird im Verborgenen gewagt, nicht wegen der 
Strafandrohung, sondern „wegen des wesentlich gesteigerten Anstands¬ 
gefühls“. Das Unterlassen der sexuellen Betätigung führt nicht zur 
Beeinträchtigung der Gesundheit; wenn die Homosexuellen deshalb 
geschlechtlich abstinent sind, so erleiden sie keinen Schaden an Leib 
and Seele. 

Nach Kraepelin (42) ist die konträre Sexualempfindung eine 
Krankheit, entstanden auf dem Boden einer fast immer angeborenen, 
oft ererbten psychopathischen Veranlagung. Päderastie ist dabei selten. 
Die Liebe der Urninge ist recht unbeständig, manchmal erstreckt sie 
sich auf andere Homosexuelle, vielfach auf Normale. Oft besteht 
Neigung zu Leuten niederen Standes, Kutschern, Lastträgern, beson¬ 
ders beliebt sind Soldaten. Der Verstand der Kranken — Kraepelin 
bezeichnet die Urninge durchgehend als Kranke — ist meist normal 
entwickelt. Ihre Lebensführung ist oft zerfahren. Die geschlecht- 


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V. Heimbich Gbäf 


liehen Beziehungen spielen in ihrem Leben oft eine merkwürdig wich¬ 
tige Bolle. Die Berufswahl der Urninge ist häufig durch ihre Ver¬ 
anlagung bedingt Eraepelin ist ein Gegner der Lehre yon der 
„angeborenen“ Homosexualität „Gegen das Angeborensein der Störung 
spricht die Tatsache der häufigen psychischen Hermaphrodisie“. Die 
Nebennmstände, unter denen die ersten sinnlichen Gefühle auftauchen, 
sind bei Normalen gleichgültig, bei krankhafter Veranlagung jedoch 
nicht Entscheidende Bedeutung für das Zustandekommen der Ge¬ 
schlechtsverkehrung haben die ersten geschlechtlichen Mißerfolge. 
Eraepelin sagt: „Das Erankhafte liegt also, wie ich mitv.Sehrenck- 
Notzing glaube annehmen zu müssen, häufig oder regelmäßig nicht 
in einem ursprünglich verkehrt entwickelten Triebe, sondern es liegt 
in der eigentümlichen, auf Entartung beruhenden Bestimmbarkeit des 
überdies früh erwachenden Trieblebens. Durch sie wird in dem jugend¬ 
lichen Gemüte die erste Anregung der Sinnlichkeit maßgebend für die 
dauernde Gesamtrichtung derselben“. 

Auch von Sölder(96) hält die Homosexualität für krankhaft, 
allerdings nicht für Geisteskrankheit im engeren Sinne. Von einem 
„Zwang“ zur Ausübung des gleichgeschlechtlichen Verkehrs kann 
nach v. So 1 der nicht gesprochen werden. Es sind hier zwei An¬ 
nahmen zu machen, nämlich: 

1. der Homosexuelle ist zur Ausübung des perversen Aktes genötigt, 

2. er vermag denselben nur in perverser Art auszuführen. 

Die erste Annahme ist nach v. Sölder bestreitbar, die zweite jedoch 
nicht. Aus der Homosexualität allein kann daher kein Zwang zur 
Verübung gleichgeschlechtlicher Handlungen abgeleitet werden. Es 
gibt unter den Urningen kalte und hypersexuelle Naturen; bei letz¬ 
teren ist dann eine krankhafte Verminderung der psychischen Wider¬ 
standsfähigkeit vorhanden. Nur im letzteren Falle kann man von 
„Zwang“ reden. Die Macht des geschlechtlichen Antriebes ist bei 
Homosexuellen und Heterosexuellen gleich zu beurteilen. 

Fuchs (30), der Schüler v. Krafft-Ebings, vertritt den Stand¬ 
punkt seines Lehrers und meint, daß die Möglichkeit der therapeu¬ 
tischen Beeinflußbarkeit der Homosexualität „sich nur durch die An¬ 
nahme der bisexuellen Anlage des Menschen erklären läßt“. Nach 
Fuchs ist die konträre Sexualempfindung ein funktionelles Degene¬ 
rationszeichen. „Sexuelle Hyperästhesie kann z. B. unter Umständen 
zu homosexuellen Delikten führen, ohne daß es sich um Perversion 
bandelt.“ 

Jolly (37) hält in einer ganz kleinen Zahl der Fälle die Homo¬ 
sexualität für wirklich angeboren, ganz sicher aber in den weitaus 


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Über die gerichteärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe. 79 

meisten Fällen für erworben, „erworben z. T. in früher Kindheit, z. T. 
erst im späteren Leben.“ Die körperlichen Berührungen bei der 
mutuellen Masturbation spielen dabei eine Rolle. „Nur die größere 
Häufigkeit der Gelegenheit zur Entwicklung, der konträren Sexual¬ 
empfindung bedingt es, daß sie an Zahl der Fälle wohl die der 
anderen Perversitäten übertrifft“. Nicht eine unbeträchtliche Minder¬ 
zahl der jugendlichen Onanisten bleibt unter der Nachwirkung der 
Jugendeindrücke stehen und wird durch Erwerbung pervers. Die 
Perversität kann aber ganz isoliert sein mit sonst völlig normalem 
Seelenleben. In einzelnen Fällen ist ein pathologischer Zwang zur 
Geschlechtsbetätigung, eine wirkliche „Psychopathia sexualis“ anzu¬ 
nehmen. Wenn die Homosexuellen sagen, daß sie nicht Päderastie 
treiben, daß ihre einfache Form der Befriedigung die ja straffreie 
gegenseitige Onanie ist, so ist das nach Jolly Heuchelei. So lange 
eben § 175 besteht, müssen es sich die Homosexuellen gefallen lassen, 
mit demselben Maße gemessen zu werden wie die anderen Sexual¬ 
perversen. Unter den Begriff der eigentlich Geisteskranken fallen 
sie nicht 

Tarnowsky (101) spricht in seiner wichtigen Abhandlung über 
„die krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinnes“ stets von 
Päderastie schlechthin. Er unterscheidet A. eine angeborene, eine 
periodische und eine epileptische Päderastie, B. erworbene Perversität 
und erworbene Päderastie, dazu gehören die senile und paralytische 
Form. Die Beschreibung dieser verschiedenen Arten des perversen 
Geschlechtstriebes können wir übergehen, sie ist in den Schilderungen 
von v. Krafft-Ebing, Moll usw., die zum Teile auf Tarnowsky 
fußen, gegeben. Hervorzuheben ist, was dieser Autor über Kenn¬ 
zeichen für passive Päderastie sagt. In der Knieellenbogenlage führe 
man Erschlaffung der Hinterbacken herbei, manchmal erst durch Er¬ 
müdung zu erreichen. Die Erweiterung des Orifiziums, bedingt durch 
Schlaffheit der äußeren und inneren Sphinkterschichten ist ein recht 
charakteristisches Anzeichen. „Der im Mastdarm eingeführte Finger 
wird nicht eng vom Sphinkter umfaßt, sondern sogar 2 Finger werden 
frei eingelassen.“ Die Exploration verursacht oft Schmerz infolge 
kleiner Einrisse am Rande des orificium ani. Die Untersuchung muß 
bei vollständiger Erschlaffung der Muskeln vorgenommen werden, 
der Explorant darf nicht die Muskeln des Anus kontrahieren. So¬ 
bald man die Hinterbacken mit Gewalt auseinander ziehen muß, ist 
nichts deutlich zu sehen. Die Erschlaffung der den anus umgebenden 
radiären Hautfalten ist auch oft wichtig. Bei alten Kynäden klafft 
der anus auch bei der Kontraktion der Muskeln. Als Zeichen von 


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V. Heinrich Graf 


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einem frischen päderastischen Akte führt Tarnowsky an Nachweis 
von Sperma, vielleicht auch von etwas Blut infolge frischer Ein¬ 
risse des Afters. Am penis des aktiven Päderasten ist meist nicht 
viel zu sehen. Wichtig ist ein ulcus durum am After oder eine 
andere geschlechtliche Infektion. 

Schmidtmann (8) betrachtet es als festgestellte Tatsache, daß 
eine große Anzahl derer, die gleichgeschlechtliche Befriedigung mit 
Gleichgeschlechtlichen finden, nicht durch Entsittlichung und Über¬ 
sättigung zum homosexuellen Verkehre gelangt sind, sondern infolge 
einer besonderen Veranlagung. Jedoch ist nur in sehr wenigen Fällen 
von einer angeborenen Erscheinung zu sprechen, und zwar dann, 
wenn nachzuweisen ist, daß der Trieb bei der ersten Regung in ab¬ 
weichende Bahnen gelenkt wurde. Meist ist die Gleichgeschlechtlich¬ 
keit erworben. Dabei spielen Zufälligkeiten eine große Rolle. Schmerz¬ 
erregung und Schmerzerduldung können, wie bekannt, die ersten ge¬ 
schlechtlichen Empfindungen wecken. Im späteren Leben ist die 
gegenseitige Masturbation wichtig. Die Bedeutung der Onamie für 
das Zustandekommen der Perversität wird nach Schmidtmann 
überschätzt. Von einer psychopathischen Anlage ist vielfach bei der 
Perversität gar nicht die Rede. „Der Sachverständige hat zu er¬ 
forschen, ob die Homosexualität als Teilerscheinung eines psycho¬ 
pathischen oder nervösen Zustandes anzusehen ist, wird in jedem 
Falle genau abschätzen, in welchem Umfange eine solche Störung 
vorliegt.“ Die Theorie der Urninge von der bisexuellen Uranlage des 
Menschen erkennt Schmidtmann nicht an. Wirkliche Päderastie 
wird von den echten Homosexuellen kaum ausgeübt, das tun Wüst¬ 
linge und männliche Prostituierte, wo es sich also nicht um Perversion 
handelt Außer den oben besprochenen Zeichen für Päderastie führt 
Schmidtmann noch an Schlaffheit der Hinterbacken und düten- 
förmige Einsenkung der nates gegen den After hin, ferner Wuche¬ 
rungen der Haut des anus und der Schleimhaut des rectum. Das 
sind alles keine sicheren Zeichen. Relativ sicher ist noch Verstrichen¬ 
sein der radiären Falten am After. Sichere Zeichen sind beim Manne 
Gonorrhoe des Afters, ulcus durum und ulcus molle. Auch nach 
längere Zeit fortgesetzen passiv päderastischen Akten können alle 
Zeichen fehlen. Beim frischen päderastischen Akte finden sich ge¬ 
legentlich auch noch Spermaflecken im Hemd oder auf dem Fu߬ 
boden. Infolge von immissio penis in os oder bei Saugen und Be¬ 
lecken des Gliedes kann sich auch venerische Infektion im Munde finden. 

Schäfer (85) hält die Annahme einer abnorm stark und früh 
in Tätigkeit tretenden allgemein sexuellen Erregbarkeit für genügend 


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Über die gerichtsärztiiche Bedeutung perverser Gescbiecbtstriebe. 


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zur Entstehung der Gleichgeschlechtlichkeit „Treten frühzeitig sexu¬ 
elle Eindrücke ein, welche dem bildsamen und abnorm erregbaren 
sexuellen Trieb gewissermaßen in statn aasoendi die konträre Richtung 
geben, so vermag er vermöge der ihm innewohnenden reizbaren 
Schwäche dem Einfluß nicht zu widerstehen.“ Bezüglich der Stärke 
des homosexuellen Geschlechtstriebes sagt Schäfer: „die echte kon¬ 
träre Sexualempfindung ist eine pathologische Abweichung und wirkt 
mit großer Kraft bestimmend und Widerstände überwindend auf die 
Willensäußerungen. Es braucht darum noch kein eigentlicher psychi¬ 
scher Zwang zu einer Handlung vorzuliegen, die Störung genügt, 
wenn ihr als Motiv eine erhebliche Kraft zugeschrieben werden muß.“ 
Ho che (33,34) hält die Krankhaftigkeit der konträren Sexual¬ 
empfindung nicht für erwiesen. Nach ihm sind „angeborene“ Störungen 
in dem Sinne nicht anzuerkennen, „daß abnorme Vorstellungen sexueller 
Art schon mitgebracht würden oder sich mit Sicherheit entwickeln mü߬ 
ten.“ „Alle Triebe erhalten den zngeordneten Vorstellungsinhalt erst im 
Einzelleben; was von vomeherein abnorm sein kann, ist eine das ge¬ 
wöhnliche Maß überschreitende Bestimmbarkeit des Geschlechtstriebes 
durch zufällige erste Eindrücke und eine vom Gewöhnlichen ab¬ 
weichende Gefühlsbetonung, durch welche Lust und Unlust nicht von 
denselben Eindrücken hervorgerufen werden, wie bei der Mehrzahl 
der übrigen Menschen.“ Die konträre Sexualempfindung ist nach 
Ho che „eine selbständige, auf dem Boden abnormer Veranlagung 
erwachsene Störung, die mit s der Päderastie in keiner Weise identi¬ 
fiziert werden darf.“ Sie stellt aber nicht das einzig Abweichende 
dar, was die Träger dieser Form von Störung aufweisen. Meist 
finden sich erbliche nervöse Belastung oder organische Degenerations¬ 
zeichen. Anffallend ist der unverhältnismäßig große, oft beherrschende 
Einfluß, den der geschlechtliche Faktor auf die ganze Lebensgestaltung 
ausübt. Strafrechtlich gelten für die Gleichgeschlechtlichen dieselben 
Gesichtspunkte wie bei anderen Entarteten.“ „Ob ein Konträrsexualer 
zur Päderastie kommt, hängt nicht von der abnormen Sexualempfindung, 
sondern wie bei normal Empfindenden, aber sexuell Verkommenen, 
von dem Maße der ästhetischen und ethischen Abstumpfung ah.“ Die 
Häufigkeit des Vorkommens der Homosexuellen wird sehr verschieden 
und wohl zu hoch eingeschätzt. Der Psychiater wird meist nur 
wenige derartige Individuen zu sehen bekommen, zu Ärzten, die den 
Homosexuellen freundlich gesinnt sind, kommen anderseits wieder 
sehr viele. Gleichgeschlechtliche Handlungen kommen bei ganz ge¬ 
sunden Menschen vor. Als Beweis dafür führt Hoc he Erlebnisse 
aus einem Alumnat an, in dem richtige Liebesverhältnisse zwischen 

Archiv für Kriminalanthropologie. 84. Bd. 6 


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V. Heinrich Graf 


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Primanern und Tertianern bestanden mit dem Fernbleiben der Päd¬ 
erastie „aber eventuell mit Ausübung der „ beischlafähnlichen Hand¬ 
lungen." Im späteren Leben brach bei allen diesen Schülern der 
normale Geschlechtstrieb durch. Dieser Durchbruch fehlt beim 
Konträrsexualen, der durch das andere Geschlecht unerregbar ist 
Sind die Homosexuellen krank, so sollen sie, rät Ho che, sich wie 
auch andere Kranke in ihre Krankheit ergeben und auf Dinge ver¬ 
zichten, die ihnen versagt sind. Die hohe Intelligenz, die viele Homo¬ 
sexuelle auszeichnet, sollte diesen ihre Stellung erleichtern. Zwei 
Punkte sind nach Ho che noch wesentlich für Entstehung geschlecht¬ 
licher Verirrungen, nämlich einmal die Lektüre der „Psychopathia 
sexualis“ und dann die Onanie. Die Selbstbefleckung führt zu allen 
möglichen geschlechtlichen Anomalien, besonders aber zur Päderastie. 
Sie ist für sexuell verkommene Individuen ein neuer Reiz, ja wie 
Hoche sich drastisch ausdrückt, direkt eine „Kaliberfrage“. „Pä- 
derasten unterliegen keiner anderen Beurteilung als irgendwelche Täter 
anderer Taten“ sagt Hoche. Ein Schluß auf krankhafte Störungen 
ihres Tuns ist nicht erlaubt 

Die Ansichten Cramers (11, 12) decken sich im wesentlichen 
mit denen Hoch es. Auch er hält die konträre Sexualempfindung 
nicht für krankhaft. Gewiß gibt es erblich Belastete, Neurastheniker 
usw. unter den Homosexuellen, meist sind diese aber seiner Meinung 
nach gesunde Menschen. Eine angeborene Homosexualität kommt 
nach Cramer nur selten vor, meist ist sie gezüchtet. Onanisten 
kommen häufig durch „perverse“ Literatur zu gleichgeschlechtlichen 
Handlungen, indem sie autosuggestiv glauben, daß Homosexualität 
für ihr zerrüttetes Sexualempfinden der adäquate Reiz sei. Warum 
sich nach v. Krafft-Ebings Theorie das Genitale monosexuell ent¬ 
wickelt, das Geschlechtszentrum aber bisexuell, versteht Cramer 
nicht Auch Cramer meint, daß die Häufigkeit der Homosexualität 
überschätzt wird. Wären nämlich die Urninge so zahlreich, so könnten 
sie nicht so viel über Vereinsamung und Nichtverstandensein klagen. 
Viele gleichgeschlechtliche Handlungen werden von alten Rouös aus 
Liebe zur Veränderung vollführt Bei Untersuchung von Leuten, die 
gleichgeschlechtliche Handlungen begangen haben, hängt viel von der 
Fragestellung ab. Cramer meint, man kann die Homosexualität in 
jemand hineinfragen. 

Sterz (98) siebt die konträre Sexualempfindung als krankhaft 
an. Er spricht von „geistiger Verschrobenheit“ bei der perversen 
Sexualempfindung und betrachtet die damit Behafteten als „unglück¬ 
liche Entartete“. 


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Über die gerichtsärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe. 


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Sommer (97) vertritt die Ansicht, daß es einen angeborene, 
homosexuellen Trieb gibt, der sich meist schon in der Kindheit äußert. 
Er unterscheidet passive und aktive Homosexualität, aber auch solche 
ohne ausgeprägte Anlage. Letztere ist auf Eindrücke in der Kinder¬ 
zeit auf pathologischer Basis zurückzuführen. Der Ansicht von der 
bisexuellen Anlage des Menschen stimmt Sommer zu. 

Straßmann (100) meint, angeboren ist bei der perversen Ge¬ 
schlechtsrichtung nicht die abnorme sexuelle Veranlagung, sondern 
die degenerative Natur der Psyche. Wie v. S c h r e n c k - N o t z i n g hält 
auch er Gelegenheitsursachen für wichtig. Die Urninge möchte er 
nicht als besondere anthropologisch verschiedene Menschenklasse be¬ 
trachtet wissen. 

Laupts (53) unterscheidet zwischen angeborener und gelegent¬ 
licher Homosexualität und führt sie zurück auf eine zerebral abnorme 
Veranlagung oder Prädisposition. Nach Laupts ist das Geschlechts¬ 
zentrum dabei wichtig. Er sagt: „Das sexuelle Zentrum ist für das 
Geschlecht des Individuums bestimmend'' und „Eine Anziehung findet 
statt zwischen Individuen, die konträre Sexualzentren haben, eine Ab¬ 
stoßung hingegen zwischen denen, die gleichartige Sexualzentren haben. 

Forel (16, 17) sieht die Homosexualität als krankhaft an. Er 
hält die meisten Gleichgeschlechtlichen für Zyniker und Wollüstlinge, 
so sehr sie auch ihre Ideale im Munde führen. Die eigentlichen 
„erworbenen“ Fälle von konträrer Sexualempfindung sind nach Forel 
durch Suggestion oder Autosuggestion entstanden. Vom Standpunkte 
der sexuellen Ethik betrachtet er die perversen Triebe, deren Aus¬ 
übung niemanden schädigt, als ethisch indifferent und insofern harm¬ 
los. Kann sich der Perverse jedoch nur durch Schädigung anderer 
befriedigen, so ist er als Geisteskranker zu behandeln. 

Löwenfeld (56) will die Homosexualität nicht als Krankheit 
oder Entartung angesehen wissen. Sie ist nach ihm bedingt durch 
„die Fixierung der Erinnerung gewisser infantiler oder juveniler 
Sexualerlebnisse und die dauernde Exklusivität des durch diese Er¬ 
innerungen bestimmten Sexualobjektes.“ Unterstützende Faktoren sind 
dafür sexuelle Frühreife, weiblicher Typus der Gehimorganisation, 
schmerzverursachende Prozeduren. Homosexualität ist eine Anomalie, 
in der Mehrzahl der Fälle jedoch eine isolierte psychische Abweichung, 
nicht krankhaft degenerativer Natur. Den Prozentsatz der Gleich¬ 
geschlechtlichen schätzt Löwenfeld niedriger ein als Hirschfeld 
(siehe unten). 

Sioli (95) sprach sich in der Sitzung des Vereins deutscher Irren¬ 
ärzte zu Frankfurt 1893 dahin aus, daß die konträre Sexual- 

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V. Heinrich Gbäf 


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eropfindang nur in einem Defekt bestehe, herbeigeführt durch 
Schwäche der Assoziationsbahnen. Er glaubt, daß die Organ« 
empfindung wegen Schwäche im Assoziationssystem frühzeitig ins 
Bewußtsein trete, und dadurch Onanie herbeigeführt werde. „Durch 
Assoziation wird die Vorstellung des eigenen oder homosexuellen 
Körpers mit dem Wollustgefühl verbunden. In weiterer Folge bilden 
eich sexuelle Perversitäten. Die bestimmten pervers sexuellen Hand¬ 
lungen sind nach Sioli begründet durch Schwächung der assoziativen 
Denktätigkeit 

In der Diskussion erklärte sich Mendel gegen diese Asso- 
ziationstbeorie. Nach ihm sind populäre Bücher über Gleichgeschlecht¬ 
lichkeit mit eine Ursache für diesen perversen Trieb. Er hat die 
Beobachtung gemacht, daß nicht ganz Normale dadurch bestärkt 
werden. 

Wildermuth hält nach seinen Erfahrungen die konträre Sexual¬ 
empfindung für krankhaft. 

Hecker bemerkt, die perverse Sexualempfindung komme da- 
dadurch zustande, daß frühzeitig auf Kinder abnorme geschlechtliche 
Reize einwirken. 

Hofmann (35) unterscheidet eine krankhafte konträre Sexual¬ 
empfindung und eine nicht krankhafte Päderastie, wie sie infolge von 
Unmöglichkeit des Koitus in Internaten usw. getrieben wird. Homo¬ 
sexualität ist nach ihm eine Art Monomanie mit impulsiven trieb- 
artigen Handlungen. Er schildert weiter die oben beschriebenen 
ärztlich wichtigen Zeichen für Päderastie. Nach Hof mann hat der 
Gerichtsarzt auch die durch Päderastie hervorgerufenen Schädlich¬ 
keiten zu beachten wie Verletzungen und psychischen Schok des 
Päderastierten. 

Weygandt (105) nimmt für wenige Fälle von Homosexualität, 
nämlich für solche, bei denen schon in früher Jugend Empfindungen 
für das gleiche Geschlecht hervortreten, das Angeborensein dieser 
Störungen an. Diese Menschen, die infolge ihrer krankhaften Natur¬ 
anlage sich nicht anders als gleichgeschlechtlich betätigen können, 
müssen für ihre Gesetzesverletzung nicht strafrechtlich verantwortlich 
gemacht werden. Anders zu beurteilen sind die Individuen, die die 
Homosexualität erst erworben haben, vielfach infolge von Onanie und 
geschlechtlicher Ausschweifung. Für die Erwerbung der Gleich¬ 
geschlechtlichkeit führt Weygandt ein recht instruktives Bei¬ 
spiel an. 

Asch affen bürg (2) hält die Homosexualität nicht für eine an¬ 
geborene Eigenschaft, sondern für erworben auf dem Boden einer 


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Über die gerichtsärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe. 


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psychopathischen Prädisposition. Der Geschlechtsbetrieb der Homo¬ 
sexuellen ist meist krankhaft verstärkt. Die Onanie spielt bei der 
Geschlechtsverkehrung nicht die Rolle, wie man gewöhnlich glaubt. 
Scharf zu unterscheiden ist zwischen Homosexualität und homo¬ 
sexuellen Handlungen. Der echte Konträrsexuale ist nach Aschaffen- 
burg kein verkommener Wüstling, sondern ein bemitleidenswerter 
Kranker. 

Bloch (6) unterscheidet die echte angeborene Homosexualität, 
die kein Laster, aber auch keine Krankheit ist und die Pseudohomo-i 
Sexualität, die erworben wird. Für die Entstehung dieser rätselhaften 
Gescblechtsverirrung ist die Degeneration höchstens ein begünstigender 
Faktor. Die letzte Ursache aller geschlechtlichen Perversionen ist 
nach Bloch das Variationsbedürfnis und der Reizhunger, der zu den 
schwersten geschlechtlichen Verirrungen führen kann. Eine weitere 
Ursache ist die Bestimmbarkeit des Geschlechtstriebes durch äußere 
Einflüsse und assoziative Einbeziehung mannigfacher Reize., Ein 
weiterer ursächlicher Faktor ist die häufige Wiederholung derselben 
geschlechtlichen Verirrung. Der Mensch kann sich nach Bloch an 
die verschiedensten geschlechtlichen Verirrungen gewöhnen. Suggestion 
und Nachahmungstrieb, Beispiel und Verführung sind hier wichtig. 
Soziale Unterschiede hinsichtlich der Häufigkeit sexueller Perversionen 
bestehen nach Bloch nicht. Die echten Homosexuellen vergreifen 
sich nach seiner Ansicht selten an Kindern. 

Siemerling, zitiert nach Schaefer(87) sagt: „Alle Autoren 
sind sich darin einig, daß die konträre Sexualempfindung Bich dar- 
stellt als eine angeborene, veranlagte Anomalie, die in krankhaften 
hereditären Bedingungen ihren Grund findet.“ Ferner: „es ist eine 
anerkannte Tatsache, daß wir in sehr vielen, ja den meisten Fällen 
anderweitige Erscheinungen des pathologischen Zustandes konstatieren 
können. Freilich ist dies nicht immer so ausgesprochen, daß wir von 
einer Geisteskrankheit im engeren Sinne sprechen können.“ 

Hirschfeld (24 bis 32), der bekannte Vorkämpfer für die Gleich¬ 
berechtigung der Homosexuellen, bestreitet entschieden, daß die Homo¬ 
sexualität eine Krankheit ist Er sieht sie als eine Art Konstruktions¬ 
fehler an und hat die sogenannte „Zwischenstufentheorie“ aufgestellt. 
Es gibt nach Hirschfeld Geschlechtsübergänge zwischen Mann und 
Weib. Beweis dafür sind die Hermaphroditen und Pseudoherm¬ 
aphroditen. Ebenso wie diese Wesen in der Mitte zwischen Mann und 
Weib stehen und durch ihre angeborene fehlerhafte Beschaffenheit 
beweisen, daß Übergänge von Mann zu Weib Vorkommen, so auch 
die Homosexuellen. Auch sie gehören auf diese Stufe und gleich- 


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zeitig ist damit auch für sie bewiesen, daß ihnen ihre Eigenart an¬ 
geboren ist Nach Hirschfeld ist die Uranlage des Menschen 
bisexuell. Es können nun folgende Arten der Entwicklung vor 
sich geben. 

1. Es entwickeln sich männliche Geschlechtsorgane und der auf 
den Mann gerichtete Instinkt verkümmert, es entsteht der normale 
Mann. 

2. Die Geschlechtsorgane entwickeln sich in männlicher Richtung, 
es findet eine Differenzierung der nervösen Sexualteile statt, es ent¬ 
wickelt sich der bisexuell empfindende Mann. 

3. Es entwickeln sich männliche Geschlechtsorgane und Neigungs¬ 
fasern zum Manne; mit dem Verschwinden der weiblichen Geschlechts- 
cbaraktere verkümmert der Trieb zum Weibe. 

Diese dritte Stufe ist der Homosexuelle, der Urning. Der ana¬ 
loge Entwickelungsgang kann beim Weibe stattfinden und es ent¬ 
steht dann 

1. das normale Weib, 

2. das bisexuell veranlagte, 

3. die weibliche Homosexuelle oder Uminde. 

Da die Gleichgeschlechtlichkeit ein Konstruktionsfehler ist, so 
kann niemand für diesen Fehler verantwortlich gemacht oder gar be¬ 
straft werden. Außerdem wird nach Hirschfeld nur in 10 Proz. 
aller Fälle von den Homosexuellen eine aktive oder passive Imitation 
des Koitus getrieben. 9/10 der Homosexuellen sind nur nach gegen¬ 
seitiger Manustupration lüstern, nach Umarmung und Kuß des geliebten 
Mannes. Die Päderastie verschmähen diese Menschen. Sie werden 
auch nur selten Knaben gefährlich; denn der echte Urning liebt das 
kraftvoll Männliche. Außer ihrer Geschlechtsrichtung unterscheiden 
sich die Urninge in nichts vom normal fühlenden Menschen. Hirsch¬ 
feld hat durch Umfragen bei Studenten und Metallarbeitern festzu¬ 
stellen gesucht, wie groß die Zahl der gleichgeschlechtlich fühlenden 
Menschen in Deutschland ist. Er schätzt, daß 1—2 Proz. aller 
Menschen gleichgeschlechtlich und ca. 4 Proz. bisexuell fühlen. Da¬ 
nach würden in Deutschland ca. 1200000 Homosexuelle existieren, 
in Berlin allein ca. 56000. Mindestens 75 Proz. aller Perversen 
stammen seiner Meinung nach von gesunden Eltern ab, 20—25 Proz. 
sind erblich belastet, bei 16 Proz. finden sich ausgesprochene Ent¬ 
artungszeichen. Die Homosexuellen haben nach Hirschfeld in 
Berlin ihre gewissen Lokale, sie halten Versammlungen, Teeabende, 
Gesellschaften, Bälle usw. ab. Es gibt für sie eine männliche Pro¬ 
stitution und noch besonders eine Soldatenprostitution. Die „Soldaten- 


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Über die gerichtsärztliche Bedentung perverser Geschlechtstriebe. 87 

liebe“ soll nach Hirsch fei d in Ländern, wo der mannmännliche 
Verkehr nicht unter Strafe steht, einen geringeren Umfang haben, 
als in Deutschland. 

Ganz kurz sei hier der hannoversche Assesor a. D. Ulrichs er« 
wähnt, der unter dem Namen Numa Numantius eine Reihe Streit¬ 
schriften für Gleichberechtigung der Homosexuellen geschrieben hat, 
und von dem die Bezeichnung „Urning“ stammt. Nach Ulrichs hat 
der Urning eine weibliche Seele im männlichen Körper. Das erklärt 
die andersartige Denk- und Fühl weise dieser Art Menschen. Ulrichs 
war selbst ein Homosexueller. Er wurde wegen der eigenartigen 
Abfassung seiner Schriften meist nicht ernst genommen. 

Römer (84) tritt ebenso wie Hirschfeld für die Gleich¬ 
berechtigung der Urninge ein und teilt durchweg dessen Ansichten. 
Nach ihm kommt Uranismus in mindestens 35 Proz. der Fälle familiär 
vor. In uranischen Familien ist nach seiner Ansicht die erbliche Be¬ 
lastung nicht größer als in anderen. 

Es seien hier noch einige die Homosexualität verteidigende 
Schriften angeführt, teilweise von Laien stammend und meist ent¬ 
halten in Hirschfelds „Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen mit 
besonderer Berücksichtigung der Homosexualität.“ 

Mühsam (67) vertritt den Standpunkt, daß die Homosexualität 
angeboren ist. Er betrachtet sie als eine biologische Decadence- 
Erscheinung und entwickelt folgende Hypothese: Im dekadenten 
Menschen kommt die höchste Kultur seines Stammes zum Austrage, 
„so daß eine weitere Verpflanzung dieses Stammes, dem eine höhere 
geistige Entwicklung ja doch nun versagt ist, nicht mehr wünschens¬ 
wert ist.“ Mühsam setzt die Homosexualität nicht auf die gleiche 
Stufe mit den wirklichen krankhaften Triebverkehrungen wie: Ma¬ 
sochismus, Sadismus, Fetischismus usw. Er unterscheidet zwischen 
verantwortlichem Handeln und unverantwortlichem Trieb. Nach ihm 
ist jeder Mensch von vornherein bisexuell und Homosexualität und 
Heterosexualität sind neben Bisexualität ererbte Erscheinungen. 

Fischer (15) faßt die Homosexualität als eine physiologische 
Erscheinung auf und hält sie für ein Korrektionsmittel der Natur 
gegen Übervölkerung. Er sagt: „Mir scheint die Homosexualität 
eine Selbsthilfe der Natur gegen die Übervölkerung in solchen Ge¬ 
genden, in denen die Dichtigkeit der Menschen eine solche be¬ 
fürchten läßt.“ 

v. Ullrich (102) unterscheidet eine angeborene Homosexualität, 
die ein verkehrtes Empfinden darstellt, und eine erworbene, die 
Lasterhaftigkeit ist. Er führt die angeborene zurück auf die Frigi- 


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dität der Matter, ferner auf zerrüttete Nerven, auf getrennte Erziehung 
der Geschlechter. Er meint, die Homosexuellen sind wohl anormal, 
aber noch lange nicht krankhaft. Er hält fast die Hälfte der Jüng¬ 
linge Deutschlands für homosexuell. (1) 

Merzbach (57) hält die Homosexualität für angeboren und 
jeder Therapie Trotz bietend. Die Gleichgeschlechtlichen sind nach 
ihm physiologisch feiner organisierte Menschen als die Hetero¬ 
sexuellen und stehen zum Teil auf höherer geistiger Stufe als diese, 
Päderastie der Homosexuellen bezeichnet er als „Märchen 11 . 

Sichtung der Ansichten. 

Die* Ansichten der Autoren sind, wie wir sehen, über die gleich¬ 
geschlechtliche Liebe noch recht geteilt Die einen halten Bie für; 
eine Krankheit, die anderen für ein Laster. Die Homosexuellen 
selbst erklären sich für ganz gesund und sehen in der Art ihrer 
Liebe nur eine Abart der normalen. Die herrschende Meinungs¬ 
verschiedenheit ist mit darauf zurückzuführen, daß vielfach kein 
scharfer Unterschied zwischen gleichgeschlechtlichen Handlungen und 
perversem Geschlechtstriebe als solchem gemacht wird. Es ist nach 
unserer Ansicht als erwiesen anzusehen, daß es eine originäre Ver¬ 
kehrung der Geschlechtsempfindung gibt, die sich gleich vom Anfänge 
ihrer Betätigung an auf das gleiche Geschlecht richtet. Außerdem 
werden aber noch vielfach gleichgeschlechtliche Handlungen verübt, 
wie besonders die Päderastie, die mit homosexuellem Fühlen nichts 
gemein haben. 

Beschäftigen wir uns zunächst einmal mit der echten konträren 
Sexualempfindung. In einer kleinen Zahl von Fällen können wir 
sie direkt als angeboren ansehen. Den Begriff „angeboren“ möchten 
wir in dem Sinne angewandt wissen, wie man von einem Klumpfuß, 
einer Hasenscharte oder ähnlichen körperlichen Fehlern als angeboren 
spricht. Angeboren ist aber wohl viel häufiger eine psycho- oder 
neuropathische Veranlagung oder erbliche Belastung, und auf Grund 
dieser wird die Homosexualität erworben. Der echten konträren 
Sexualempfindung möchten wir also die Frille zurecbnen, wo diese 
Triebverkehrung angeboren oder in früher Jugend erworben wird. 
Davon zu trennen sind die auf Grund von geschlechtlicher Aus¬ 
schweifung oder durch Verführung im späteren Leben entstandenen 
Neigungen zu widernatürlichem Geschlechtsverkehr. 

In der Mehrzahl der Fälle von konträrer Sexualempfindung 
dürfte nach unserer Meinung diese Triebverkehrung auf Grund von 
Entartung und erblicher Belastung in früher Jugend erworben sein. 


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Ober die gerichtsärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe. 89 

Zugegeben wird von vielen Autoren wie Moll, v. Krafft-Ebing, 
Eul en bürg, Bio ch, v. Sehr enek-Notzing, Eraepel in, Schmidt¬ 
mann nnd anderen, daß sich im Anschluß an empfangene oder er¬ 
teilte körperliche Züchtigungen Begangen des Geschlechtstriebes bei 
Kindern einstellen können. Dieser erwachende Trieb kann sich auch 
bei den verschiedensten anderen Gelegenheiten äußern, so z. B. beim 
Anblicke eines sympathischen Lehrers, eines nackten Körpers, einer 
Nachtmütze, eines Bedienten mit praller Beithose, eines Soldaten mit 
Lackstiefeln, eines blutenden Fingers usw. Beispiele dafür finden 
wir in der Literatur genügend angegeben. Dieser Eindruck bei der 
ersten geschlechtlichen Empfindung wird, wie v. Schrenck-Notzing 
bemerkt, vom Kinde tief empfunden und unbewußt mit dem Gefühle 
der Wollust immer wieder zusammengebracht Auch später empfun¬ 
denes Wollustgefühl wird von der ersten zufälligen Begebenheit 
regelmäßig begleitet. Die Vorstellung wird im kindlichen Gehirn 
weiter verarbeitet und durch häufigere Wiederholung vertieft Es 
kommt schließlich dahiu, daß die bestimmte Vorstellung allein ge¬ 
nügt, geschlechtliches Empfinden hervorzurufen. So entsteht allmäh¬ 
lich Perversion des Geschlechtslebens, die das ganze Wesen des 
Menschen in dieser bestimmten Bicbtung hin beeinflußt Ja, sie 
äußert sich auch in den nächtlichen Träumen und ruft Traumpollu¬ 
tionen hervor. Als begünstigende Ursache für das Zustandekommen 
der Gleichgeschlechtlichkeit ist wohl die häufige streng getrennte 
Erziehung der Geschlechter anzusehen. Es ist da doch zu leicht 
möglich, daß die ersten Geschlechtsregungen sich auf das gleiche 
Geschlecht beziehen. Wichtig ist dabei auch noch die häufige Ver¬ 
führung zur einfachen oder zur gegenseitigen Masturbation. Es muß 
wohl zugegeben werden, daß die so betriebene Onanie, wie sie unter 
Sohülern in Internaten so verbreitet ist, meist im Zeitalter der Ge¬ 
schlechtsreife unterlassen wird und daß der Trieb zum normalen 
Geschlechtsverkehr durchbricht. Daß aber, wie Näcke sagt, Onanie 
und Verführung wohl noch nie einen Urning erzeugt haben, möchten 
wir doch entschieden bestreiten. Wie oft findet sich in den Selbst¬ 
biograpbien der Homosexuellen die Tatsache, daß sie von anderen 
zur alleinigen oder gegenseitigen Onanie verführt worden sind! So 
finden sich allein in v. Krafft-Ebings Schrift „Der Konträrsexuale 
vor dem Strafrichter“ unter 50 Fällen, die das Angeborensein der 
konträren Sexualempfindung beweisen sollen, 7, bei denen Verführung 
durch Urninge oder andere Menschen zur Masturbation vorliegt. Wir 
rechnen die Verführung in der Jugend mit zu den „Gelegenheits¬ 
ursachen“ für Entstehung der echten Homosexualität. Alle diese 


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7 Homosexuellen sind erblich belastete Menschen. Wenn wir also 
„angeboren“ in dem Sinne einer angeborenen neuropathiscben Be¬ 
lastung oder psychopathischen Minderwertigkrit gebrauchen, so sind 
allerdings auch diese 7 Fälle zu den „angeborenen“ zu rechnen. 

Bei den so verschiedenartigen Äußerungen des perversen Ge- 
schlechtstriebes ist es nicht recht einzusehen, wie alle diese Ver¬ 
schiedenheiten in einer angeborenen Naturanlage ihre Erklärung 
finden sollten. Warum wird ein Mensch homosexuell, ein anderer 
Schuhfetischist, ein dritter Zopfabschneider, ein vierter Liebhaber von 
Damenstrümpfen? Die Form der Perversion muß also durch Ge¬ 
legenheitsursachen bestimmt werden. Nun ist es allerdings nicht 
leicht, immer diese Gelegenbeitsursachen später festzustellen. Manche 
Perverse geben sie ganz bestimmt an, andere haben sie vergessen. 
Und das ist leicht erklärlich. Wieviele Menschen können wohl noch 
sagen, bei welcher Gelegenheit ihre ersten geschlechtlichen Regungen 
auftraten? v. Schrenck-Notzing hat v. Krafft-Ebings Fälle und die 
anderer Autoren auf das „okkasionelle Moment“ hin untersucht und 
es in einer ganzen Anzahl feststellen können. Die Bedeutung von 
Gelegenheitsursachen für Entwicklung des menschlichen Lebens kann 
nicht geleugnet werden. Spielen doch auch in anderer Richtung im 
Eindesalter empfangene Reize und Eindrücke eine wichtige Rolle. 
Alexander v. Humboldt sagt im „Kosmos“ II. Bd. Einleitung, daß 
„oft sinnliche Eindrücke und zufällig scheinende Umstände in jungen 
Gemütern die ganze Richtung eines Menschenlebens bestimmen.“ 

Warum die Gleichgeschlechtlichkeit so viel häufiger ist als die 
anderen Äußerungen des perversen Geschlechtstriebes, ist wohl aus 
der Häufigkeit gleichgeschlechtlicher Handlungen in der Jugend zu 
erklären. Sadismus, Masochismus, Fetischismus können übrigens 
auch in Verbindung mit Homosexualität Vorkommen. Wir möchten 
dabei nochmals auf die Wichtigkeit der Onanie hin weisen, die zu 
allen Verkehrungen des Geschlechtstriebes führen kann. Der „Reiz¬ 
hunger“, das Bedürfnis nach Veränderung der Geschlechtsbetätigung 
ist dabei neben der moralischen Minderwertigkeit, die an sich wie¬ 
derum durch die Onanie geschaffen wird, der Hauptgrund. 

Wir sprachen von neuro- oder psychopathischer Belastung der 
Konträrsexualen. Sie findet sich in der Tat in einem großen, wenn 
nicht dem größten Prozentsätze dieser Individuen. Das wird zwar 
von Römer und anderen, besonders natürlich von den Urningen selbst 
bestritten. Jedoch beweisen die vielen Autobiographien der Urninge, 
daß sehr häufig erbliche Belastung, wie Ehe unter Blutsverwandten, 
Geistes- und Nervenkrankheiten der Eltern oder naher Verwandter, 


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Über die gerichteärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe. 


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Alkohol, Lues usw. vorliegen. Die erbliche Belastung beweist nun 
nicht ohne weiteres, daß wir in den Perversen geistig Kranke zu 
sehen haben. Nein, die Verkehrung des Geschlechtstriebes braucht 
nicht mit einer Schwäche des Verstandes verbunden zu sein. Wohl 
kann sie es, und eine Anzahl der schwer belasteten und entarteten 
Urninge sind entschieden Kranke und zeigen auch noch andere An¬ 
zeichen von Krankheit wie Hysterie, schwere Neurasthenie, selbst 
moralischen Schwachsinn. Bei anderen Urningen kann man wohl 
von einer Mißbildung oder Anomalie, aber nicht direkt von Krank¬ 
heit reden. Jedenfalls kann man die isoliert bestehende Homosexua¬ 
lität nicht zu den eigentlichen Geisteskrankheiten rechnen; denn die 
Lehre von den Monomanien wie Klepto-Pyromanie usw. erkennt, 
wie gesagt, die moderne Psychiatrie nicht an. Also nur da, wo zur 
konträren Sexualerapfindung noch andere pathologische Stigmata 
hinzutreten, müssen wir von Krankheiten sprechen. Solche Kenn. 
Zeichen der Entartung sind nach v. Krafft-Ebing (45) „Anomalien 
der Schädelbildung, abnorme Stellung oder abnorme Größe der Ohren, 
ungleiche Entwicklung der Gesichtshälften, Mißwacbs oder fehlerhafte 
Stellung der Zähne, abnorm großer oder kleiner Mund, Hasenscharte, 
Wolfsrachen, Retinitis pigmentosa, Albinismus, Klumphand und -Fuß, 
Anomalien der Genitalien und Behaarung". 

Gewöhnlich werden von den Autoren und den Urningen selbst 
2 Haupttypen Homosexuelle unterschieden, nämlich die „weiblichen“ 
oder besser die weibischen und die „männlichen“ Homosexuellen. 
Scharf ausgeprägt sind diese Typen jedoch nicht. Beim „weib¬ 
lichen“ Urning besteht danach von Kindheit an eine Neigung zu 
weiblichen Handarbeiten, zu Kochkunst, schöner Literatur, besonders 
aber zu weiblicher Tracht. Der Urning verschmäht als Knabe die 
Spiele seiner Kameraden, er spielt mit Puppen, hilft der Mutter in 
der Küche usw. Später hat er Vorliebe für Kunst, Literatur, Theater, 
Musik, liebt Parfüms, Schmuck. Das äußert sich auch in der Berufs¬ 
wahl. Die Berufe der Verkäufer in Konfektionsgeschäften, Damen¬ 
schneider, Köche, Kellner, Schauspieler, besonders Damenkomiker 
weisen eine ganze Anzahl Konträrsexuale auf. Beim Geschlechtsakte 
fühlt sich der „weibliche“ Urning angeblich als der passive Teil, in 
der Rolle des Weibes. Ferner soll er oft weiblichen Gang, starke 
Entwicklung der Brüste, einen zarten Teint haben, nicht pfeifen 
können (Berz (4)), sich immer wärmer anfühlen wie andere Menschen, 
seine Beckenbreite soll größer sein als die Schulterbreite, während 
das Umgekehrte normal ist, sein Schamgefühl soll besonders dem 
eigenen Geschlecht gegenüber ausgesprochen sein usw. Diese für 


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Urninge „typischen“ Erscheinungen und Eigenschaften dürften von 
den Homosexuellen wohl teilweise allzusehr verallgemeinert sein. Es 
entspricht das ganz der Sucht dieser Leute, jeden, der ein oder das 
andere „urnische“ Zeichen an sich bat, zum Urning zu stempeln, 
ein Bestreben, was Eulenburg als „ekelhafte Urningsschnüffelei“ 
treffend kennzeichnet. Wieviele Männer gibt es nicht, die großes 
Verständnis, oft sogar Kunstfertigkeit in weiblichen Handarbeiten be¬ 
sitzen! So erwähnt v. Schrenck-Notzing einen Reiteroffizier, der sich 
die Überzüge seines Mobiliars selbst gestickt hat und doch durchaus 
geschlechtlich normal fühlte. Verfasser hat selbst einen in glücklicher, 
kinderreicher Ehe lebenden Vetter, der prachtvolle Stiokereien an¬ 
gefertigt hat Wieviele Ärzte gibt es wohl, die nicht nur Kochrezepte 
wissen, sondern auch praktisch zu kochen verstehen! Alle derartige 
Beispiele beweisen, daß man mit den Schlußfolgerungen aus solchen 
Eigenschaften und Neigungen vorsichtig sein muß. Als Untergruppen 
des „weiblichen“ Urningstypus sind die Effeminierten anzusehen, 
deren ganzes psychisches Sein der abnormen Gescblecbtsempfindung 
entsprechend geartet ist und schließlich die Androgynen wie v. Krafft- 
Ebing sie nennt. Bei den letzteren nähert sich die ganze Körper¬ 
form, Skelettbau, Fettpolster usw. der des Weibes. Hier haben wir 
es wohl unstreitig mit einer angeborenen krankhaften Erscheinung 
zu tun; denn wie sich infolge einer Verkehrung der Geschlechts¬ 
empfindung sogar die sekundären Geschlechtscharaktere des anderen 
Geschlechtes einstellen sollen, ist nicht recht einzusehen. Wilhelm, 
der einen Fall von Androgynie mitteilt, hält ebenso wie v. Krafft- 
Ebing und Näcke die Effeminierten und Androgynen für schwer 
Entartete. 

Über den „männlichen“ Typus der Urninge ist nicht viel zu 
sagen. Bloch ist der Ansicht, daß das Zahlenverhältnis zwischen 
„weiblichen“ und „männlichen“ Urningen ungefähr das gleiche ist, 
Hirscbfeld schätzt die Zahl der mehr oder weniger weibliches Wesen 
zeigenden Urninge höher, ebenso Meisner (zitiert nach Blocb). Der 
„männliche“ Urning unterscheidet sich danach in nichts vom nor¬ 
malen Manne. Geschlechtsteile, Statur, Behaarung, Bart, Stimme 
sind völlig die des Mannes. Die seelischen Eigenschaften dieser 
Menschen halten nach Bloch „die Mitte ein zwischen der Psyche des 
heterosexuellen Mannes und der des Weibes“. Das Gefühlsmäßige 
tritt stärker hervor als der Wille, sie sind sanft, aufopfernd, besitzen 
auffallende Beweglichkeit der Phantasie, sind träumerisch. Die oft 
glänzende, aber einseitige Begabung heben v. Krafft-Ebing, Moll, 
Bloch usw. besonders hervor, und die Urninge prahlen mit ihren „ur- 


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Über die gerichtsärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe. 93 

nischen Größen“. Abgesehen von den Effeminierten und Androgynen 
durfte sich wohl kaum eine scharfe Trennung von „männlichen“ und 
„weiblichen“ Urningen machen lassen. 

Was die Geschlechtsbetätigung der echten Homosexuellen 
anbetrifft, so kann diese, wie zugegeben werden muß, infolge des 
normwidrigen Triebes im wesentlichen nur eine gleichgeschlechtliche 
sein. Eine impotentia coeundi besteht natürlich nicht, wie aber alle 
echten Urninge angeben, sind sie dem Weibe gegenüber psychisch 
impotent Sofort beim ersten Koitus erleiden sie Fiasko und später 
stellt sich ein immer mehr zunehmender Ekel vor dem normalen 
Geschlechtsleben ein. In wenigen Fällen berichten diese Leute über 
erfolgreiche Beiwohnungen. Meist sind diese nach ihrer Angabe 
aber nur möglich, indem sie sieb in der Phantasie männliche geliebte 
Personen vorstellen. Außerdem wird durch den Beischlaf nicht nur 
keine Befriedigung erzielt, nein die Urninge fühlen sich danach sehr 
angegriffen und geschwächt. Manche, zur Gruppe der psychischen 
Hermaphroditen gehörende Urninge sind verheiratet und auch Fa¬ 
milienväter. In den weitaus meisten Fällen ist aber eine solche Ehe 
unglücklich und führt oft zur Scheidung. 

Der Gescblechtstrieb erwacht gewöhnlich abnorm früh, ist 
vielfach sofort auf das gleiche Geschlecht gerichtet und bei manchen 
Urningen pathologisch stark ausgeprägt Er beherrscht oft das ganze 
Wesen solcher Menschen. Die Betätigung dieses Triebes erfolgt an¬ 
geblich nur durch gegenseitige Masturbation oder coitus inter femora, 
nur in sehr wenigen Fällen soll Päderastie oder immisio penis in os 
erstrebt werden. Oft soll sich der Urning nur nach Kuß und Um¬ 
armung des geliebten Mannes sehnen. Der Geliebte ist entweder ein 
anderer Urning, häufig verschmähen die Homosexuellen aber gerade 
ihresgleichen und verkehren nur mit Normalen. Wie die Liebe dieser 
Menschen oft überschwenglich ist, so ist sie gleichzeitig meist recht 
unbeständig und flatterhaft. Sie ist aber manchmal noch insofern 
sonderbar, indem sie sich auf Männer aus den niederen Volks¬ 
schichten erstreckt, wie Fabrikarbeiter, Kutscher, Bediente usw. Be¬ 
liebt sind auch bei den Perversen die Soldaten und wie Hirschfeld, 
Näcke und andere berichten, gibt es eine Soldatenprostitution, die sich 
in gewissen Urningslokalen anbietet. Außerdem besteht noch eine aus¬ 
gedehnte männliche gewerbsmäßige Prostitution, vielfach vergesellschaf¬ 
tet mit der weiblichen gewerbsmäßigen. Moll berichtet darüber: ihr 
gewöhnliches Alter ist zwischen 17 und 30 Jahren, aber auch jüngere 
sind darunter. „Es ist skandalös und widerlich zu sehen“, sagt er, was 
für unreife Jungen sich diesem elenden Erwerbszweige hingeben“. 


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Gewöhnlich sagen die Homosexuellen und ihre Verteidiger wie 
z. B. Näcke, „der Mann liebt nicht einen x-beliebigen Mann usw., 
sondern nur einen, der die inneren — oft auch die äußeren — Eigen¬ 
schaften des anderen Geschlechts an sich trägt,“ oder der Urning 
liebt nur einen seinem Wesen entsprechenden normalen Mann. Von 
Verführung der Jugend kann keine Rede sein. Mit Soldaten „anzu¬ 
bandeln tt gilt nach Näcke auch bei den Homosexuellen nicht für 
fein. Kurz, die Verführung wird von ihnen in Abrede gestellt. Dem 
sei wiederum v. Krafft-Ebings „Der Konträrsexuale vor dem Straf¬ 
richter“ entgegengehalten. Von 50 Fällen von „angeborener“ Homo¬ 
sexualität waren 7, wie wir oben sahen, durch Verführung in früher 
Jugend entstanden, weitere 8 der angeführten Personen geben an, 
daß sie andere Knaben oder Männer zu homosexuellen Handlungen 
verführt haben. 

Ist es nicht ferner abscheulich, was Tarnowsky über Verführung 
und gleichgeschlechtliches Treiben in St. Petersburg erzählt? Servaes, 
Meyer v. Schauensee (58) und Kraepelin berichten ebenso über 
Verführung, v. Schrenck-Notzing sagt „die künstlich aufgenötigte 
Rolle des Weibes führt zur Untergrabung männlicher Tugenden. Will 
die Soldatenprostitution denn gar nichts besagen? Beweisen nicht die 
jüngst behandelten Prozesse das Gegenteil? Auch hier heißt es also 
„Vorsicht“ bei kritischer Prüfung der Angaben der Urninge. 

Bei der Begutachtung gleichgeschlechtlicher Handlungen ist für 
die gerichtsärztliche Beurteilung wichtig festzustellen, ob wir es mit 
echter normwidriger Empfindung zu tun haben oder ob nur lasterhafte 
gleichgeschlechtliche Akte vorliegen. Der Gerichtsarzt hat eine genaue 
Körper- und Geistesuntersuchung vorzunehmen. Er wird vor allem 
nach Entartungszeichen suchen, nach erblicher Belastung und beson¬ 
ders nach dem Geschlechtsleben des Individuums fragen. Wesentlich 
ist er hierbei auf die Angaben seines Klienten angewiesen, er kann 
nicht dessen Angehörige befragen. Von vielen Autoren wie Schmidt¬ 
mann, Hoche, Weygand, Forel, Moll, v. Schrenck-Notzing, v. Krafft- 
Ebing und auch von Näcke wird unter Hinweis auf die oft große 
Lügenhaftigkeit der Urninge zur Vorsicht bei Beurteilung ihrer Auto¬ 
biographien gemahnt. Diese Mahnung sollte auch ja beherzigt werden. 
Spielt bei den „Bekenntnissen“ der Perversen doch die Lektüre der 
„Psychopathia sexualis“ bewußt oder unbewußt eine große Rolle. 
Mehr Wert war wohl den Lebensbeschreibungen der Urninge vor 10 
bis 20 Jahren zuzumessen als die wissenschaftliche und „schöne“ 
Literatur über Urningtum noch keinen solchen geradezu beängstigen¬ 
den Umfang angenommen hatte, wie jetzt Die Krankengeschichten 


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Über die gerichtsärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe. 95 

von Westphal, Casper, Gock usw. sind unseres Erachtens viel höher 
zu bewerten als viele Schriften der Jetztzeit Daß bei diesen Bekennt¬ 
nissen die Schriften von Numa Numantius suggestiv gewirkt haben 
sollten, ist wohl kaum anzunehmen. 

Die Zahl der echten Homosexuellen ist recht schwer richtig zu 
schätzen. Wie wir oben (S. 86) sahen, meint Hirschfeld, daß 1 bis 
2 Proz. aller Menschen homosexuell, ca. 4 Proz. bisexuell fühlen. 
Nach anderen Schätzungen, die Hirschfeld mitteilt, bewegt sich die 
Zahl der Urninge zwischen 0,1 Proz. und 2 Proz. Ebenso wurde 
schon die Art der Feststellung dieser Zahlen erwähnt. Gegen die 
Zuverlässigkeit von Hirschfelds Umfrage sprechen sich Bum ke (7) 
und auch Groß (31) aus. Sie halten derartige Stichproben nicht für 
wissenschaftlich zuverlässig. Bumke meint, die Kontrolle der Richtig¬ 
keit ließe sich nicht vornehmen. Sicher seien absichtlich falsche An¬ 
gaben gemacht worden. Außerdem seien gewiß von den Urningen 
manche als Gesinnungsgenossen erklärt worden und zwar aus dem¬ 
selben Prinzip, wie Morphinisten und Alkoholiker viele als gleich- 
gesinnt bezeichnen, um damit ihr eigenes Laster zu beschönigen. 
Diesen Einwänden von Bumke und Groß kann Verfasser nur zustimmen. 
Verfasser studierte gerade zur Zeit von Hirschfelds erster Umfrage in 
Berlin und weiß, daß das Rundschreiben unter den Studenten große 
Entrüstung erregte. Er weiß auch ganz bestimmt, daß von einer 
Reihe von Studenten „aus Scherz“ absichtlich falsche Antworten ge¬ 
geben worden sind; aus Gleichgültigkeit oder Entrüstung haben viele 
gar nicht geantwortet. Ob auf die Rundfrage bei den Metallarbeitern 
und auf die von v. Römers in Amsterdam mehr Wert zu legen ist, 
sei dahingestellt. Sehr wahrscheinlich ist es jedenfalls, daß sowohl 
Hirschfelds als auch v. Römers Zahlen zu hoch sind, da sie in der 
Großstadt aufgenommen worden sind. Dahin ziehen sich bekanntlich 
die „vereinsamten“ Urninge und finden reichlich Genossen. Fürs platte 
Land und für Deutschland überhaupt sind die Zahlen entschieden zu 
hoch. Ganz energisch zurückzuweisen ist aber |v. Ullrichs Ansicht, 
daß die Hälfte der Jünglinge Deutschlands homosexuell sei. 

Wir haben bisher fast stets nur von den männlichen Homosexuellen 
gesprochen, da deren gleichgeschlechtliche Handlungen für die gerichts¬ 
ärztliche Beurteilung im wesentlichen in Betracht kommen. Bezüglich 
der weiblichen Perversen können wir uns kurz fassen. Bei ihnen 
macht sich oft schon frühzeitig eine Vorliebe für Reiten, Fahren, Pferde, 
Knabenspiele bemerkbar, während weibliche Beschäftigung und Hand¬ 
arbeiten verschmäht werden. Später tragen sie gern Männerkleidung, 
rauchen, trinken usw. Als stärker Entartete sind anolog den Effe- 


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ruinierten dieViragynen und analog den Androgyneu die Gynandrier 
zu erwähnen. Ihre Geschlechtsbetätigung besteht in Umarmung, Kuß, 
Betastung der Genitalien, mutueiler Masturbation, cunnilinguus, ge¬ 
legentlich Gebrauch eines künstlichen männlichen Gliedes. Wie beim 
Urning horror feminae besteht, so bei der Urninde horror viri und 
unerträglicher Ekel vor dem Koitus. Auch weibliche Homosexuelle 
sind gelegentlich verheiratet und Mütter. Meist suchen sie sich aber 
in der Ehe möglichst bald ihren Pflichten zu entziehen. Ihre Zahl 
ist noch weniger sicher als die der männlichen Homosexuellen. Das 
Vorkommen dieses perversen Triebes beim Weibe ist wohl meist als 
echte Konträrsexualität anzusehen. Mögen auch Onanie und Gelegen¬ 
heitsursachen dabei nicht unwesentlich sein, so kann doch bei den 
Urninden aus besseren Ständen sicher nicht von Übersättigung und 
Variationsbedürfnis die Rede sein. Diese beiden ätiologischen Momente 
kommen wohl hauptsächlich bei Prostituierten in Betracht, denen der 
Koitus gegen Bezahlung zum Ekel geworden ist. Als weitere Ur¬ 
sachen für gleichgeschlechtliche Handlungen bei Frauen 
kommen Unkenntnis des Koitus, Ekel davor, Angst vor Schwängerung 
und Verführung in Frage. Hierbei dürfte es sich wohl meist um 
Perversität handeln und nicht um Triebverkehrung. 

Betrachten wir nun noch kurz die erworbene Homosexuali¬ 
tät und die gleichgeschlechtlichen Handlungen. Hierhaben 
wir es wohl durchgehend mit Perversität zu tun. Als Ursachen kom¬ 
men besonders in Betracht früh und häufig getriebene Onanie, ge¬ 
schlechtliche Ausschweifungen, gelegentlich Angst vor Geschlechts¬ 
krankheiten und Schwängerung. Der alte Wollüstling, der alle Beize 
der normalen Liebe durchgekostet hat, vergreift sich an kleinen Mäd¬ 
chen oder Knaben und wird aktiver Päderast. Bei ihm wird die 
Geschlechtsbefriedigung, wie Ho che sagt, direkt zur „Kaliberfrage“. 
Oft sind homosexuelle Akte Zeichen und Vorläufer von Altersblödsinn, 
Paralyse usw. und viele derartige Akte geschehen im Alkoholrausch. 
Treffend drastisch drückte sich ein Patient Cramers so aus „das 
ist so eine Schweinerei, wie man sie in der Trunkenheit macht“. 
Häufig sind gleichgeschlechtliche Akte in Gefängnissen, Kasernen, 
Pensionaten, Kadettenanstalten und größeren Internaten und auf 
Schiffen. Bekannt und berüchtigt ist in dieser Hinsicht besonders die 
französische Fremdenlegion. Überall ist es hier der Mangel an 
Weibern, der zu den gleichgeschlechtlichen Akten führt. Von echter 
Inversion kann wohl dabei nur selten oder nie die Rede sein. Es 
bandelt sich hier um geistig ganz gesunde Menschen, die bei passender 
Gelegenheit sofort wieder zum normalen Verkehr übergehen. Bei den 


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Über die gerichtsärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe. 


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gleichgeschlechtlichen Handlungen, wie sie eben besprochen, kommt 
vorwiegend die Päderastie und immissio penis in os in Frage, nur 
selten coitus inter femora und gegenseitige Onanie. 

Die Annahme, daß Päderastie durch die von uns angeführten 
Ursachen erworben ist, bestreitet Hirschfeld, indem er sagt, „ich halte 
nach meinen Forschungen die Wüstlingspäderasten für ebensolche 
Fabelwesen, wie die Hexen“. Moll erklärt, die Meinung des Er¬ 
worbenseins der Homosexualität nach vorhergegangenem Wüstlings- 
leben sei ein „Märchen“. In ähnlicher Weise spricht sich, wie wir 
oben sahen, Näcke aus. Demgegenüber stehen einmal die Ansichten 
der meisten Psychiater wie Hoche, Cramer, Schmidtmann, Stra߬ 
mann und anderen, teilweise beweisen auch hier wieder Kranken¬ 
geschichten und Autobiographien das Gegenteil. 

Gerichtsärztliche Beurteilung. 

Nachdem wir im obigen versucht haben, das Wesen und den 
Ursprung der perversen Triebe im allgemeinen kennen zu lernen, 
wollen wir auf die gerichtsärztliche Beurteilung eingehen. Strafrecht¬ 
lich kommt für die gleichgeschlechtlichen Handlungen besonders 
§175 St. G. B. in Betracht Er lautet: „Die widernatürliche Unzucht» 
welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen 
mit Tieren begangen wird, ist mit Gefängnis zu bestrafen, auch kann 
auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden“. Die Er¬ 
klärung des Paragraphen besagt „Widernatürliche Unzucht“ 
begreift nur „beischlafähnliche“ Handlungen (sodomia ratione sexus 
und ratione generis: Päderastie, Bestialität), nicht Onanie zwischen 
Männern und ist eingeschränkter als der Begriff „unzüchtige Hand¬ 
lungen“ in den §§ 174, 176 — zwischen Personen, setzt nicht 
strafbare Teilnahme des passiven Teils voraus; derselbe kann bewußt¬ 
los, geisteskrank usw. gewesen sein. Bestialität, Berührung des 
Körpers des Tieres mit dem Geschlechtsteil des Menschen (unter bei- 
schlafähnüchen Bewegungen) zum Zweck der Befriedigung der Ge¬ 
schlechtslust (nicht erforderlich Vereinigung der Geschlechtsteile). 

Wir sehen, daß nach § 175 die widernatürliche Unzucht zwischen 
Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Tieren be¬ 
straft wird. Letzteres Vergehen, „Bestialität“, wollen wir weiter unten 
noch näher besprechen. Der Staat bestraft diese normwidrigen Be¬ 
tätigungen des Geschlechtstriebes mit Beeht deshalb, weil er ein 
großes Interesse an der normalen Ausübung dieses Aktes hat. Einmal 
nämlich hängt davon die für das Bestehen des Staates notwendige 
Ergänzung und Vermehrung der Bevölkerung ab, und dann sind 

Archiv für Kri rninalanthropologie, 84. Bd. 7 


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Moral und Sitte Grundpfeiler des Staatswohles und mit Sitte und 
Sittlichkeit hängt die Kultur eines Volkes zusammen. Auch von 
Gegnern des § 175 wie v. Krafft-Ebing, Salgö, Fuchs (20) und 
anderen wird dieses Recht des Staates anerkannt. Außer in Deutsch¬ 
land wird die widernatürliche Unzucht noch bestraft in Rußland, Bul¬ 
garien, England, Dänemark, Schottland, Norwegen, Chile, in den Ver¬ 
einigten Staaten von Nordamerika; in Österreich auch zwischen weib¬ 
lichen Personen. Straffrei ist der gewöhnliche gleichgeschlechtliche 
Verkehr in Frankreich, Italien, Holland, Belgien, Spanien, Portugal, 
Luxemburg, in der Schweiz, Türkei, Mexiko, Japan. 

Unter der widernatürlichen Unzucht und den „beischlafähnlichen 
Handlungen“ ist ursprünglich nur die Päderastie verstanden worden, 
also die immissio penis in anum, überhaupt in corpus vivum. In der 
Entscheidung vom 15. März 1876 (56) wird dagegen gesagt, daß ein 
Eindringen des Gliedes in den Körper der anderen Person unnötig 
sei, wenn nur die beischlafähnliche Handlung an dem Körper anderer 
Personen vorgenommen werde. Nach der Entscheidung vom 24. Ok¬ 
tober 1877 muß sich das Analogon des Beischlafs aus der Beschaffen¬ 
heit des konkreten Falles ergeben. Das Reichsgericht entschied am 
23. April 1880 (82), eine immissio seminis sei nicht nötig, es genüge 
das Reiben des Gliedes am Körper des anderen. Wurde in früheren 
Entscheidungen noch unmittelbare Berührung des männlichen Gliedes 
des aktiven Teiles mit dem Körper des anderen verlangt, wozu die 
Entblößung notwendige Voraussetzung ist, so ist das Reichsgericht 
neuerdings noch zu einer schärferen Auffassung übergegangen, indem 
nach einer Reichsgerichtsentscheidung vom 22. Dezember 1904 (82) 
der Tatbestand eines Vergehens gegen § 175 darin gefunden wurde, 
daß der Angeklagte in 2 Fällen mit seinem entblößten Gliede heftige 
stoßende Bewegungen gegen das von der Hose bedeckte Gesäß des 
anderen gemacht hatte. Es wird angeführt, das Gesetz fordere nicht, 
daß der Körper der zur widernatürlichen Unzucht gebrauchten Person 
an derjenigen Stelle entblößt gewesen sein müsse, gegen welche der 
Akt vorgenommen worden sei. Das Reiben des Gliedes am Ober¬ 
schenkel des anderen ist gleichfalls als ein dem Beischlaf ähnlicher 
Akt angesehen und nach § 175 für strafbar erklärt worden. Es ist 
nicht notwendig, daß zur Anwendung von § 175 Samen entleert wird, 
eine strafbare Handlung kann schon vor Erregung des Wollustgefühls 
vorhanden sein. Wie wir sahen, kann nur der eine Teil bestraft 
werden, wenn bei dem anderen Gründe für Strafausschluß vorhanden 
sind. Streng geschieden werden vom Reichsgericht entsprechend der 
Entstehung dieser Paragraphen „widernatürliche Unzucht“ und „un- 


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Über die gerichtsärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe. 99 

züchtige Handlungen“. So ist nach Moll die Entscheidung eines Rich¬ 
ters, der Manipulationen am Glied nach § 175 bestraft hatte, vom 
Reichsgericht aufgehoben worden, weil im betreffenden Falle unzüch¬ 
tige Handlungen, aber nicht widernatürliche Unzucht vorlag. Die 
gegenseitige Onanie zwischen Männern oder die Onanie eines Mannes 
durch den anderen ist straflos, wenn nicht durch gleichzeitige Kompli¬ 
kation der Akt beischlafähnlich wird. Nach Oppenhof (zitiert nach 
Moll) sind Umarmungen bei der wechselseitigen Onanie nicht ge¬ 
nügend, um den Tatbestand des § 175 zu erfüllen; dazu gehört nach 
Oppenhof das Reiben des Gliedes an dem Körper des anderen. Das 
freiwillige Dulden der widernatürlichen Unzucht seitens eines Mannes 
macht diesen gleichfalls strafbar, „selbst wenn dieser Befriedigung 
des eigenen Geschlechtstriebes nicht gesucht hat.“ In praxi ist der 
Tatbestand des § 175 im konkreten Falle nicht leicht festzustellen. 
Einfach liegt die Sache bei immissio membri in corpus vivum; 
schwerer in den häufigsten Fällen, wenn das Glied einem Teil des 
anderen Körpers angedrückt wird. Die Frage der Strafbarkeit der 
Handlung ist davon abhängig, ob Reibungen des Gliedes am Körper 
ausgeführt worden sind. Die einfache Aneinanderlegung der Körper 
genügt nicht, um die Strafbarkeit herbeizuführen. Finden Bewegungen 
des oder der Körper statt, also Reibungen aneinander, so tritt Straf¬ 
barkeit ein, weil der Akt zu einem „beischlafähnlichen“ wird. Es ist 
oft schwer für den Beteiligten zu sagen, ob Bewegungen ausgeführt 
worden sind oder nicht. Die Feststellung des Tatbestandes wird also 
vor Gericht gelegentlich Schwierigkeiten machen. Für den Gerichts¬ 
arzt wird es sich darum handeln, den Nachweis passiver oder auch 
aktiver Päderastie zu führen. Für Päderastie gibt es, wie wir bei 
Tamowsky und Schmidtmann sahen, wenig sichere Zeichen. Lange 
betriebene Päderastie braucht gar keine Kennzeichen zu hinterlassen, 
weder beim aktiven noch beim passiven Päderasten. Man hat früher 
gemeint, daß bei ersterem der penis eine spitze Form annehme, ähn¬ 
lich wie beim Hunde, das ist aber nicht der Fall. Beim passiven 
Päderasten hat man die „trichterförmige Analöffnung“ für besonders 
typisch gehalten. Sie kann Vorkommen, charakteristischer ist aber 
eher ein schlaffer Schließmuskel, infolgedessen dann der After klafft 
Wichtig ist dabei die von Tarnowsky als wesentlich angegebene Unter¬ 
suchung in Knieellenbogenlage mit Erschlaffung der Hinterbacken. 
Verstrichensein der radiären Falten am After dürfte zu beachten sein. 
Es kommen ferner gelegentlich periproktitische Abszesse vor, ferner 
Wucherungen der Haut des anus und der Schleimhaut des rectum, 
sowie Infektion des Rektums mit Gonorrhoe. Dieses spricht beim 

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Mann sehr fiir Päderastie, sicher wird diese dnrch ein ulcus molle 
oder einen luetischen Primäraffekt am After. Beim frischen 
päderastischen Akt kommt besonders in Frage der Nachweis von 
Sperma nach Fiorence Barberio oder als Spermatozoen. Es kann sich 
am After, im Hemd und auf dem Fußboden finden. Venerische Infek¬ 
tion kann sich anch bei immissio penis in os und ähnlichen Mani¬ 
pulationen im Munde finden. 

Bei Begehung der gleichgeschlechtlichen Handlungen können aber 
anch noch Vergehen gegen andere Paragraphen des Strafgesetzes Vor¬ 
kommen. Vergreift sich der Mann an Knaben unter 14 Jahren, so 
macht er sich nach § 176 3 strafbar; denn dieser Paragraph bestraft 
mit Znchthaus and zwar nach Absatz 3 „wer mit Personen unter 
14 Jahren unzüchtige Handlungen vornimmt oder dieselben zur Ver¬ 
übung oder Duldung unzüchtiger Handlungen verleitet“- Handelt es 
sich um öffentliche Berührung der männlichen Genitalien, die Homo¬ 
sexuelle manchmal in öffentlichen Bedürfnisanstalten an anderen vor¬ 
nehmen, so kann § 183 in Frage kommen. Es liegt dann ebenso 
wie bei der Exhibition ein öffentliches Ärgernis vor. Auch § 180 
kann zur Anwendung kommen. Dieser Paragraph, der die Kuppelei 
bestraft, gilt ebenso für die männliche, wie für die weibliche Pro¬ 
stitution. 

Wir haben bisher nur von der widernatürlichen Unzucht zwischen 
Personen männlichen Geschlechts gesprochen. Der § 175 bestraft aber 
in gleicher Weise die widernatürliche Unzucht, welche von Menschen 
mit Tieren begangen wird. Die Kasuistik über derartige normwidrige 
Geschlechtsbefriedigung ist nicht groß. Diese selten zur Kenntnis der 
Gerichte gelangenden Vergehen kommen häufiger auf dem Lande vor 
und werden von Knechten, Hirten usw. verübt, eben solchen Men¬ 
schen, die viel oder ausschließlich mit Tieren zu tun haben. Viel¬ 
fach sind es schwachsinnige Personen, die sich nicht an das andere, 
Geschlecht heranwagen und ihre Triebe an Tieren befriedigen. Pferde, 
Kühe, Ziegen, Esel, große Hunde, Gänse, Enten, Hühner werden zu 
den Akten der Bestialität gebraucht Meist sind es Männer, die aktiv 
coitus oder paedicatio an den Tieren vollziehen, seltener handelt es 
sich nm Frauen, die sich von Hunden oder Katzen belecken oder be¬ 
gatten lassen. Nach v. Krafft-Ebing besteht im Volke der Aberglaube, 
daß Gonorrhoe durch Sodomie geheilt wird. 

Für den Gerichtsaxzt ist für die Beurteilung sodomitischer Ver¬ 
gehen hauptsächlich wichtig der Nachweis eines solchen. Dieser läßt 
sich führen durch Sperma, das sich an den Genitalien der Tiere findet 
ferner durch Einrisse, die vielfach beim Geschlechtsmißbrauch an den 


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Über die gerichtsärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe. 101 


Tieren Vorkommen, dann durch Tierhaare, Federn oder Vogelblut an 
den Genitalien des Täters, bei Frauen gelegentlich durch Kratzwunden 
an den Oberschenkeln. In vielen Fällen wird der Nachweis sodo- 
mitischer Akte mißlingen, am leichtesten wird er sein, wenn der Täter 
dabei überrascht wird. Bei der Bestrafung kommt es nach Schmidt¬ 
mann auf das Geschlecht des Tieres nicht an, es ist gleich, ob der 
Akt zwischen Mann oder Weib mit einem männlichen oder weiblichen 
Tiere geschieht. Päderastie, cunnilinguus, aktiver oder passiver coitus 
werden in gleicher Weise bestraft. Straffrei bleibt nach Wachenfeld 
die Unzucht mit einem getöteten Tiere. 

Geringer wie die strafrechtliche Bedeutung der sexuellen Perver¬ 
sionen und Perversitäten ist die zivilrechtliche. Besonders kommen 
die perversen Handlungen in Frage bei Anfechtung einer Ehe oder 
bei Ehescheidung. Nach § 1565 B. G. B. kann ein Ehegatte auf 
Scheidung klagen, wenn der andere sich einer nach § 175 St G. B. 
strafbaren Handlung schuldig gemacht hat Die Scheidung ist in 
diesem Falle die Folge des strafbaren Aktes. Alle perversen Hand¬ 
lungen, wie Sadismus, Masochismus, Fetischismus, Exhibitionismus 
und Gleichgeschlechtlichkeit können durch den § 1568 B. G. B. ge¬ 
troffen werden. Danach kann ein Ehegatte auf Scheidung klagen, 
wenn der andere Ehegatte durch schwere Verletzung der durch die 
Ehe begründeten Pflichten oder durch ehrloses oder unsittliches Ver¬ 
halten eine so tiefe Zerrüttung des ehelichen Verhältnisses verschuldet 
hat, daß dem anderen Ehegatten die Fortsetzung der Ehe nicht zuge¬ 
mutet werden kann. Jeder perverse Verkehr, auch gegenüber der 
Ehefrau, wie coitus in os, aut in anum, kann also unter diesen Para¬ 
graphen fallen, auch der, der nicht als Ehebruch oder widernatürliche 
Unzucht aufgefaßt werden kann. Auch die durch die Perversion 
hervorgerufene Impotenz kann eine Scheidungsklage nach § 1568 
B. G. B. veranlassen. Die Norm Widrigkeit des Geschlechtstriebes 
kann zu einer Anfechtung der Ehe nach § 1333 B. G. B. führen, 
indem nach diesem Paragraphen eine Ehe von dem Ehegatten ange- 
fochten werden kann, der sich bei der Eheschließung in der Person 
des anderen Ehegatten oder über solche persönlichen Eigenschaften 
des anderen Ehegatten geirrt hat, die ihn bei Kenntnis der Sachlage 
und bei verständiger Würdigung des Wesens der Ehe von der Ein¬ 
gehung der Ehe abgehalten haben würden. Würde nämlich einer 
der Ehegatten von dem perversen Triebe des anderen Kenntnis gehabt 
haben, so hätte er aller Wahrscheinlichkeit nach die Ehe mit diesem 
nicht eingegangen. 


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Zurechnungsfähigkeit bei perversen Geschlechtsakten, 
a) Ansichten der Autoren. 

Unter den durch einen perversen Geschlechtstrieb bedingten Hand¬ 
lungen kommen oft so abscheuliche und unverständliche vor, daß sich 
unwillkürlich die Frage nach Zurechnungsfähigkeit des Täters auf- 
drängt. Das gilt sowohl für Sadismus, Masochismus, Fetischismus, 
Exhibitionismus, Sodomie, als auch für gleichgeschlechtliche Hand¬ 
lungen. Werden doch gerade letztere von den Autoren verschieden¬ 
artig beurteilt. Wir sahen, daß alle Arten von perversen Handlungen 
bei geistig Kranken, aber auch bei Gesunden Vorkommen können, 
deshalb sind wir der Meinung, daß für alle diese Handlungen eine 
einheitliche Beurteilung geübt werden muß. Für Beurteilung von 
Strafbarkeit oder Straffreiheit einer Tat gibt uns § 51 St G. B. die 
Richtschnur. „Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn 
der Täter zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande 
von Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit be¬ 
fand, durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war“. 

In den Motiven zum Strafgesetzbuch heißt es nach Gramer (12) 
betreffs § 51: „Bei der gewählten Fassung des Paragraphen hat man 
zugleich mit den Schlußworten desselben ausdrücken wollen, daß die 
Schlußfolgerung selbst, nach welcher die freie Willensbestimmung in 
Beziehung auf die Handlung ausgeschlossen war, die Aufgabe des 
Richters ist. Also der Arzt hat sein Gutachten abzugeben bezüglich 
des Zustandes von Bewußtlosigkeit und krankhafter Störung der 
Geistestätigkeit, die Entscheidung über die freie Willensbestimmung 
des Täters steht dem Richter zu. Inbezug auf letztere sagt die 
Reichsgerichtsentscheidung vom 14. September 1886 (12): „Es genügt 
dabei keineswegs die bloße Unfähigkeit zur freien Willensbestimmung 
einem Anreize gegenüber, es muß vielmehr die freie Willensbestimmung 
durch einen Zustand der Bewußtlosigkeit oder krankhaften Störung 
der Geistestätigkeit ausgeschlossen sein.“ 

v. Schrenck-Notzing führt ungefähr aus: Die Tatsache der 
Erkrankung des geschlechtlichen Trieblebens für sich allein macht 
das Individuum durchaus noch nicht unverantwortlich. Der Nachweis, 
daß der Mensch aus organischer Nötigung, also zwangsartig die be¬ 
treffende Handlung begeht, und infolge von Gehimanlage unfähig ist, 
die nötigen Hemmungsvorstellungen zu bilden, lassen es willensunfrei 
erscheinen. Sehr viele Konträrsexuale sind sehr wohl imstande, ihre 
Triebe zu beherrschen. Milde, wie z. B. Moll seinen Klienten zuteil 
werden läßt, kann höchstens als Freibrief für lasterhafte Handlungen 


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Über die gerichtsärztliehe Bedeutung perverser Geschlechtstriebe. 103 

mißbraucht werden. Da der § 51 nicht nach angeborener oder er¬ 
worbener Triebanomalie fragt, sondern danach, ob im Augenblick der 
Handlung Störung der Geistestätigkeit bestand, durch welche die 
freie Willensbestimmung ausgeschlossen war, so ist nach v. Schrenck- 
Notzing zu ermitteln, ob der Mensch auf Grund psychischer Organi¬ 
sation in der Lage war, rechtliche und sittliche Gegenvorstellungen 
zu bilden oder ob diese durch psychische Erkrankung in Verfall 
kamen und unwirksam wurden. Es muß der Kausalzusammenhang 
zwischen der strafbaren Tat und dem durch krankhafte Störung der 
Geistestätigkeit ausgeschlossenen Willen besonders nachgewiesen werden. 
Die anomale Stärke des perversen Triebes allein macht nicht straffrei. 
Wohl kann der Homosexuelle anomale Triebstärke haben, dann hat 
er aber noch die Wahl, sich für eine strafbare beischlafähnliche Hand¬ 
lung oder für die straflose mutuelle Onanie zu entscheiden. Auch 
der normale Mensch ist bei starkem Triebe nicht berechtigt, auf illegalem 
Wege Befriedigung zu suchen. 

Schaefer meint bezüglich § 51 beim Exhibitionismus, daß zur 
Ausschließung der freien Willensbestimmung eine gewisse Erheblich¬ 
keit der Störung zu verlangen sei. Es sagt: Der Jurist richtet sich 
danach, „ob derjenige normale Zustand geistiger Gesundheit vorhanden 
ist, dem die Bechtsanschauung des Volkes die strafrechtliche Verant¬ 
wortung tatsächlich zuschreibt“. An anderer Stelle sagt Schaefer in 
bezug auf die Homosexualität: „Mag der Sachverständige sonst 
Zeichen von Krankheit finden oder nicht, im Grundsatz sollte festge¬ 
halten werden, daß ein Mensch, welcher nur momentan seiner Sinne 
nicht fähig ist, dessen Ich durch einen Affekt so alteriert ist, daß ein 
ganz anderes Bewußtsein an Stelle des eigenen Ich getreten ist, nicht 
für zurechnungsfähig gehalten werden kann.“ Und: „Bezüglich der 
konträren Sexualempfindung bin ich ... . um so mehr geneigt, ihr, 
auch wenn sie als alleiniges pathologisches Symptom in einem ausge¬ 
sprochenen Falle nur nachweisbar ist, die Kraft zuzuschreiben, die 
freie Willensbestimmung aufzuheben“. Schaefer schließt sich hier ganz 
der von ihm zitierten gleichen Ansicht von Grashey an. 

Moll führt ungefähr aus: Nach § 51 brauchen wir nicht Geistes¬ 
krankheit, sondern nur krankhafte Störung der Geistestätigkeit oder 
Bewußtlosigkeit nachzuweisen. Zwar ist aus der erblichen Belastung 
nicht der Schluß zu ziehen, daß der Deszendent an krankhafter Stö¬ 
rung der Geistestätigkeit im Sinne von § 51 leidet, da aber die Homo¬ 
sexualität eine Krankheit ist, wird sich auch in den meisten Fällen 
eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit nachweisen lassen, wenn 
auch nicht jeder krankhafte Geschlechtstrieb strafausschließend wirkt. 


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V. Hehtrich Graf 


Aber durch krankhafte Störung der Geistestätigkeit ist an sieh noch 
kein Strafausscbluß begründet Dazu gehört, wie Moll besonders be¬ 
tont, der Ausschluß der freien Willensbestimmung. Und von letzterer 
kann nicht immer die Bede sein. Viel hängt von der Stärke des 
Triebes ab. Um das gerecht zu beurteilen, bedarf es einer genauen 
Untersuchung des Angeklagten. Oft wird der Trieb abnorm stark 
sein. Man hat da vielfach davon gesprochen, daß hier eine „unwider¬ 
stehliche Gewalt“ im Sinne von § 52 vorläge, das stimmt aber nicht 
§ 52 meint eine physische „unwiderstehliche Gewalt“. § 51 wird 
nach dem Grundsätze „in dubio pro reo“ im entsprechenden Falle 
zugunsten des Angeklagten anzuwenden sein. Auf jeden Fall ist 
nach Moll eine sexuelle Perversion als strafmildernd anzusehen. 

Jolly sagt: „Sexuelle Perversitäten an sich mögen sie noch so 
sehr durch ihre Absonderlichkeit Verwunderung oder Abscheu erregen, 
sind niemals ausreichend, um einen geistig abnormen Zustand im 
ganzen zu beweisen“. Nach Jolly ist schwere Neurasthenie geeignet, 
die Widerstandskraft herabzusetzen. In einzelnen Fällen ist patho¬ 
logischer Zwang, wirkliche „Psychopathia sexualis“ anzunehmen. 
Aber für die Mehrzahl der Fälle gilt das nicht, § 51 kann also nicht 
überall Anwendung finden. Augenblicklich herrscht nach Jolly in 
betreff der Beurteilung von homosexuellen Vergehen eine ziemlich 
weitgehende Duldung. 

Meyer v. Schauensee bemerkt zu 5 51, es komme bei Vor¬ 
handensein von krankhafter Störung der Geistestätigkeit auf das Vor¬ 
stellungsvermögen und nicht auf das Willensvermögen an. Nicht der 
Drang zur konkreten Tat, sondern die allgemeine Zwangsvorstellung, 
unter der der Täter leide, sei das Entscheidende. 

Nach v. Erafft-Ebing sind impotentia coeundi und sitdiche 
Verkümmerung (dementia senilis) wichtige ursächliche Bedingungen 
für das Zustandekommen von Sittlichkeitsdelikten. Vielfach sind dabei 
psychopathische Bedingungen ausschlaggebend. Dadurch wird die 
Zurechnungsfähigkeit vieler in Frage gestellt. Er sagt: „Die Art des 
Deliktes kann niemals an und für sich eine Entscheidung darüber 
herbeiführen, ob es sich um einen psychopathischen oder einen in physio¬ 
logischer Breite des Seelenlebens zustande gekommenen Akt handelt. 
Der perverse Akt verbürgt nicht die Perversion der Empfindung.“ 
Wichtig ist nach v. Krafft-Ebing die Art der Tat sowie ihre Wieder¬ 
holung trotz Bestrafung; pathologische Bedeutung hat auch die impulsive 
Art der Ausführung. 

Schmidtmann spricht sich ähnlich aus wie Jolly und v. Krafft- 
Ebing, daß Perversitäten bei Gesunden und Kranken Vorkommen. 


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Über die gerichtsärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe. 105 

„Im letzteren Falle bilden sie Teilerscheinungen einer Psychose oder 
Neurose, können unter Umständen das hervortretendste Symptom der 
Erkrankung darstellen." Es ist nach Schmidtmann nicht zulässig, aus 
der Eigenartigkeit der Befriedigung des Geschlechtstriebes eine Un¬ 
widerstehlichkeit und Psychopatbia sexualis zu konstruieren. Es ist 
kein Beweis für die Unwiderstehlichkeit, wenn jemand seinen perversen 
Trieben unterliegt. Die Unwiderstehlichkeit darf nicht aus der Art 
der Betätigung, sondern aus den durch Geistes- oder Nervenkrankheit 
gesetzten Bedingungen erklärt werden. „Ausschlaggebend für die 
Beurteilung ist die nachweisbare krankhafte Grundlage." „Allgemeine 
Regeln für die Beurteilung sexueller Perversitäten lassen sich nicht 
aufstellen.“ Nach Schmidtmann muß jeder einzelne Fall für sich 
betrachtet und untersucht und danach § 51 herangezogen werden. Das 
Vorkommen von Geistesstörungen, Epilepsie, Schwachsinn, Imbezillität, 
Alkoholismus, trauma capitis ist zu berücksichtigen. Bei Schwach¬ 
sinnigen ist die Tat oft auf einen plötzlichen Einfall zurückzuführen, 
dem triebartig nachgegeben wird. Das Handeln dieser Menschen ist 
planlos, Überlegung und Hemmungen fehlen ihnen. Ihre Gelüste 
sind triebartig; Rücksicht auf ihre Umgebung besteht nicht. Oft wird 
die Tat geleugnet, doch ist dieses Leugnen nicht als Simulation auf¬ 
zufassen, sondern für die Schwachsinnigen typisch. Sie glauben da¬ 
durch Strafbefreiung zu erreichen. Schwieriger ist nach Schmidtmann 
die Beurteilung bei Schwachsinnigen leichteren Grades, wie bei Neu¬ 
rasthenikern und Entarteten. Der Jurist ist leicht geneigt, nach der 
Schwere des Deliktes die Zurechnungsfähigkeit zu bemessen. Die 
Annahme unwiderstehlicher Gewalt anzuerkennen, ist nach Schmidt¬ 
mann unzulässig. „Die Art der Handlung und ihre gehäufte Wieder¬ 
holung kann beim Fehlen aller sonstigen krankhaften Momente allein 
niemals als Beweis für eine unbezwingliche Gewalt gelten. Dann 
müßten wir ja jedem Gewohnheitsverbrecher diese mildernden Umstände 
zuteil werden lassen.“ 

Nach Hoche sind bei der forensischen Beurteilung sexueller 
Vergehen die noch normalen großen Verschiedenheiten im Verhalten 
des Geschlechtstriebes nicht zu übersehen. Bei den „Disponierten“ 
liegt wohl nicht erhöhte Triebstärke, sondern erhöhte Reizempfänglich¬ 
keit des Zentralnervensystems vor. Wird bei Untersuchung des Geistes¬ 
zustandes der Angeklagten eine Psychose nachgewiesen, so ist ihnen 
der Schutz des § 51 sicher. Die „Unwiderstehlichkeit" bei Entarteten 
ist ebenso wie besondere Umstände (z. B. Alkoholgenuß) in zweifel¬ 
haften Fällen zugunsten des Angeklagten zu verwerten. Erbliche 
Belastung und infolgedessen herabgesetzte Widerstandsfähigkeit bilden 


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V. Heinbich Gkäf 


gelegentlich mildernde Umstände. Hoche und Ascbaffenbnrg teilen 
den Standpunkt: „Homosexualität allein gehört nicht zu den Zuständen 
krankhafter Störung der Geistestätigkeit, durch welche die freie Willens¬ 
bestimmung ausgeschlossen ist“. Es ist nicht jedem Homosexuellen 
der Schutz des § 51 zuzubilligen. 

Nach Cr am er ist die praktische Handhabung des § 51 für 
psychopathisch minderwertige Individuen oft mit Härten verbunden, 
deshalb ist von Autoren wie Jolly, Schaefer, v. Schrenck-Notzing, 
Delbrück empfohlen worden, den Begriff der geminderten Zurechnungs¬ 
fähigkeit einzuführen. Cramer hält die Einführung dieses Begriffes 
nicht für vorteilhaft Der Sachverständige hat nach ihm nur danach 
zu fragen, „ob ein Zustand von Bewußtlosigkeit oder krankhafter 
Störung der Geistestätigkeit zur Zeit der Begehung der strafbaren 
Handlung vorhanden war oder nicht“ Es ist für die Anwendung 
von § 51 auf alle perversen Triebe der Nachweis der Krankheit 
erforderlich. Es muß die krankhafte Basis und der krankhafte Zwang 
erwiesen sein. 

Vom juristischen Stnndpunkte bespricht Numa Prätorius (80) 
die Zurechnungsfähigkeit der Homosexuellen. Er meint, der homo¬ 
sexuelle Trieb sei nicht ein plötzlich auftretender und eine Zeitlang 
wieder verschwindender, „sondern ein mit dem gesamten Wesen der 
Person verwachsener, mit der Konstitution aufs engste verknüpfter“. 
Der homosexuelle Trieb gibt sich fortgesetzt kund, „er hat daher mit 
sonstigen Zwangsideen und Impulsen nicht mehr und nicht weniger 
gemein als auch der heterosexuelle Geschlechtstrieb“. „Man muß die Un¬ 
zurechnungsfähigkeit der Homosexuellen für homosexuelle Handlungen 
stets annehmen.“ Der normale Konträrsexuale muß nach Numa Prätorius 
selbst schon als krank gelten, seine Widerstandskraft gegen homosexuelle 
Reize ist im Verhältnis zum Heterosexuellen äußerst herabgesetzt 

Dazu bemerkt Berze in einer Erwiderung: „Nach meiner 
Meinung tut der psychiatrische Sachverständige gut, wenn er bei 
jedem echten Homosexuellen ohne Ausnahme eine herabgesetzte Wider¬ 
standskraft gegen homosexuelle Reize annimmt; ob die Widerstands¬ 
kraft so weit herabgesetzt ist, daß der homosexuelle Reiz zum un¬ 
widerstehlichen Zwang werden muß, wird natürlich erst in jedem 
speziellen Falle zu entscheiden sein“. „Ich möchte annehmen, daß 
auch die weitherzigste Gesetzesauslegung nicht imstande wäre, die 
Verhältnisse, welche man durch Aufhebung des § 175 herbeiführen 
will, heute schon herzustellen.“ 

Auf dem gleichen Standpunkte wie Numa Prätorius steht nach 
Weygandt der Kriminalist Wachenfeld. Auch dieser hält bei kon- 


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Über die gerichtsärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe. 107 


trärer Sexualempfindung, einerlei ob angeboren oder erworben, den 
§ 51 für zulässig. Den,Einwand, es sei unbillig, Wüstlinge freizu¬ 
sprechen, weist er damit zurück, daß auch verbrecherische Geisteskranke 
nicht bestraft werden, die durch eigene Schuld, wie durch delirium 
tremens oder Hirnlues erkrankt sind. 

Für Straflosigkeit der Homosexuellen treten ferner ein Fuchs, 
jedenfalls beim Weibmann; denn er meint, das seien nicht Angehörige 
des Geschlechts, dem sie anzugehören schienen. Auch der Jurist 
Liszt will die Konträrsexualen nicht für ihre perversen Handlungen 
bestraft wissen. 


b) Sichtung der Ansichten. 

Wir sehen, daß die Ansichten der Autoren über die Zurechnungs¬ 
fähigkeit bei sexuell perversen Handlungen ebenso verschieden sind, 
wie über Entstehung und Beurteilung des perversen Triebes. Bei 
Autoren wie Schaefer, Grashey, Fuchs ist die Neigung vorhanden, 
den § 175 durch Heranziehung des § 51 für die echte Homosexualität 
unwirksam zu machen. Die Juristen Numa Prätorius, Wachenfeld 
und Liszt vertreten den gleichen Standpunkt. Wir möchten dieser 
viel zu weitherzigen Anwendungsweise des § 51 nicht zustimmen. 

Um ein wirklich gerechtes Gutachten über einen wegen wider¬ 
natürlicher Unzucht, Sadismus usw. Angeklagten abzugeben, ist vor 
allem eine genaue Untersuchung eines solchen Menschen erforderlich. 
Wir werden nach erblicher Belastung und Entartungszeichen forschen 
und durch Eingehen auf das Geschlechtsleben des Angeklagten fest¬ 
zustellen suchen, ob wir es mit einem Falle krankhafter Verkehrung 
der Geschlechtsempfindung oder um Begehung von lasterhaften Hand¬ 
lungen zu tun haben. Nun fragt allerdings § 51 nicht danach, ob 
wir es z. B. mit angeborener oder erworbener Gleichgeschlechtlichkeit 
zu tun haben, sondern er will wissen, ob ein Zustand von krank¬ 
hafter Störung der Geistestätigkeit oder Bewußtlosigkeit vorlag im 
Augenblick der Begehung der Tat. Es ist also erforderlich, einen 
Kausalzusammenhang zwischen strafbarer Handlung und krankhafter 
Störung der Geistestätigkeit nachzuweisen. Haben wir es mit wirk¬ 
lich angeborener Konträrsexualität zu tun, so können wir wohl ge¬ 
legentlich von krankhafter Störung der Geistestätigkeit reden. Das 
müssen wir sogar tun, wenn wir es bei dieser Perversion oder den 
anderen Triebverkehrungen wie Sadismus usw. mit Dementia senilis, 
Imbezillität, Idiotie, Schwachsinn, Epilepsie, Alkoholismus, Para¬ 
lyse usw. zu tun haben. Bei solchen ausgesprochenen Krankheiten 
wird § 51 immer zur Anwendung kommen. Schwieriger liegt der 


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Fall aber bei der einfachen Neurasthenie und Nervosität, sowie bei 
anderen leichten Formen von Entartung. Pie Neurasthenie ist ge¬ 
eignet, die Widerstandskraft des Individuums gegen starke Beize herab¬ 
zusetzen. Von einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit oder 
Bewußtlosigkeit kann man hier kaum reden, man wird aber bei diesen 
Individuen einen milderen Maßstab anlegen. Zustände von Bewußt¬ 
losigkeit finden wir häufig bei Schwachsinnigen. Bei ihnen treten 
die Gelüste oft triebartig auf und beim Fehlen der geordneten Über¬ 
legung und der Hemmungen des Normalen wird ihnen nacbgegeben. 
Sehr oft leugnet der Schwachsinnige die Tat und zwar von dem Ge¬ 
danken ausgehend, daß er dann nicht bestraft werden kann. Als 
Simulation ist das nicht aufzufassen. An Simulation ist allerdings 
stets zu denken, wie wir oben bei dem von Kurella und Alzheimer 
und mehreren anderen Ärzten begutachteten cand. theol. mit Schuh¬ 
fetischismus sahen. Auch die Wiederholung einer perversen Handlung 
wie beim leicht schwachsinnigen Exhibitionisten, der sofort nach Ent¬ 
lassung aus dem Gefängnis wieder exhibitioniert, wird den Gedanken 
an Bewußtlosigkeit aufkommen lassen. Die Zustände von Kopf¬ 
schmerzen, Schwindel, Angst mit Schweißausbruch und Herzklopfen, 
die Exhibitionisten, manche Homosexuelle und andere Perverse zu 
ihren Handlungen veranlassen, sind sicher oft als epileptoide Dämmer¬ 
zustände und nach § 51 als Zustand von Bewußtlosigkeit aufzufassen. 
Jedenfalls wird es für Anwendung von § 51 immer erforderlich sein, 
Krankheit, Erheblichkeit der Störung nachzuweisen, infolge deren der 
Mensch außerstande ist, Hemmungen zu bilden und dadurch der freien 
Willensbestimmung beraubt ist. Sicher liegt in einer Reihe von Fällen 
eine wirkliche „Psychopathia sexualis“ vor. Da, wie wir oben sahen, 
nicht alle Perversen als krank zu bezeichnen sind, ist auch nicht allen 
der Schutz des § 51 zuzubilligen. Vielfach hat man von einer „un¬ 
widerstehlichen Gewalt“ der perversen Triebe gesprochen. Dieser 
Begriff ist medizinisch nicht zulässig. Gegen „unwiderstehliche Ge¬ 
walt“ spricht einmal die volle Überlegung, mit der viele perverse 
Handlungen begangen werden. Ferner gibt es unter den Perversen 
Naturen, die hypersexuell und andere, die frigid veranlagt sind. Die 
anomale Stärke des Triebes allein macht nicht straffrei. Ein Gesunder 
wird seinen, wenn auch starken Geschlechtstrieb beherrschen können. 
Darf doch auch der Normale nicht seinem Geschlechtstriebe nach¬ 
geben, er darf ihn nicht mit Gewalt oder öffentlich ausüben. Würde 
also, wie Numa Prätorius und andere es wollen, der Gleichgeschlecht¬ 
liche für jede seiner normwidrigen Handlungen straffrei sein, so würde 
er besser gestellt sein als der Normale. Außerdem hat ja der Kon- 


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Über die gerichtsärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe. 109 


trärsexuale die Wahl zwischen der straffreien gegenseitigen Onanie 
und den strafbaren beischlafähnlichen Handlangen. Und gerade die 
gegenseitige Onanie wird durchweg von den Homosexuellen als die 
ihnen zusagende Art der Geschlechtsbefriedigung angegeben! All¬ 
gemeine Vorschläge für die Beurteilung perverser Geschlechtsakte 
lassen sich nicht geben; denn es ist ein Unterschied, ob man einen 
Lustmord oder eine exhibitionistische oder gleichgeschlechtliche Hand¬ 
lung zu begutachten hat Man wird von Fall zu Fall nach ein¬ 
gehender Untersuchung sein Gutachten abzugeben haben. Danach 
hat dann der Richter zu entscheiden, ob bei Begebung der Tat die 
freie Willensbestimmung ausgeschlossen war. Der Sachverständige 
hat also nur den Richter zu beraten und zu unterstützen, das Urteil 
steht dem Richter zu. 

Bestrebungen zur Aufhebung von § 175. 

Durch weitherzigste Auslegung des § 51 suchen einige Autoren, 
wie wir oben sahen, die Anwendung des § 175 auf die Homosexuellen 
unwirksam zu machen. Es hängt das zusammen mit der seit Jahren 
bestehenden Agitation für Aufhebung des § 175. Wir dürfen uns bei 
der gerichtsärztlichen Begutachtung nicht dadurch beeinflussen lassen, 
sondern müssen auf dem Standpunkte stehen, so lange ein Gesetz in 
Kraft ist, es genau zu handhaben. Von gerichtsärztlichem Interesse 
ist die Agitation gegen § 175 deshalb, weil sein Bestehen die Züch¬ 
tung eines Erpressertums als unbeabsichtigte Nebenwirkung zur Folge 
gehabt hat, und der Gerichtsarzt in die Lage kommen kann, solche 
Erpresser begutachten zu müssen. Wir wollen darum noch kurz auf 
die Gründe, die gegen § 175 angeführt werden und ihre Stichhaltig¬ 
keit eingehen. 

Die Gegner des § 175 führen gewöhnlich folgende Gründe an: 

I. Medizinische Gründe. 

1. Es herrsche wissenschaftliche Einmütigkeit darüber, daß die 
Homosexualität eine angeborene Krankhaftigkeit der Geschlechts¬ 
empfindung sei. Gleichgeschlechtliche Handlungen würden nur von 
echten Homosexuellen begangen und zwar aus „krankhafter Nötigung“, 
unter einem unwiderstehlichen Zwange. Ihr Unterlassen sei nur mög¬ 
lich um des Preis körperlichen und seelischen Siechtums. 

2. Die;. Zahl der Homosexuellen sei bedeutend größer als man 
durchweg annehme, ca. 2 Proz. aller Einwohner Deutschlands fühlten 
gleichgeschlechtlich. 


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3. Die Geschlechtsbetätigung sei nur in ca. 10 Proz. Päderastie, 
in 90 Proz. gegenseitige Onanie. 

4. Verführung Normaler, besonders Jugendlicher, sei durch Homo¬ 
sexuelle nicht zu fürchten. 

5. Die Homosexualität sei aus der bisexuellen Uranlage des 
Menschen zu erklären. 


II. Juristische Gründe. 

1. Die Fassung des § 175, der seinerzeit gegen den Wider¬ 
spruch der preußischen wissenschaftlichen Deputation für das Medizinal¬ 
wesen zustande gekommen ist, entspreche nicht mehr der modernen 
wissenschaftlichen Erkenntnis. 

2. Es sei eine Ungerechtigkeit und Inkonsequenz, daß der gleich¬ 
geschlechtliche Verkehr nur zwischen Männern und nicht auch zwischen 
Weibern untereinander bestraft werde. 

3. Der § 175 habe sehr geringen praktischen Nutzen, da nur 
wenige gegen ihn begangene Handlungen bestraft und die danach 
Bestraften nicht gebessert würden. 

4. Die Fassung des § 175 sei sehr unklar und ließe dem Er¬ 
messen des Richters großen Spielraum. 

5. Der größte Schaden des § 175 sei die Züchtung eines Er- 
pressertums. Werde auch gegen diese Erpresser vorgegangen, so 
würden doch manche aus Furcht vor öffentlicher Anklage entweder 
wirtschaftlich oder gesellschaftlich vernichtet oder zum Selbstmorde 
getrieben. Erfolge auch Freispruch, so sei schon mit der Anklage die 
gesellschaftliche Stellung verloren. 

6. § 175 widerspreche den Grundsätzen des Rechtsstaates, der 
nur da strafe, wo Recht verletzt werde, und bei den im gegenseitigen 
Einverständnis begangenen gleichgeschlechtlichen Handlungen werde 
kein Recht Dritter verletzt 

Als Gründe mehr allgemeiner Art werden gewöhnlich noch an¬ 
geführt, daß die Urninge unterdrückt würden, die recht brauchbare 
Glieder der menschlichen Gesellschaft seien. Es sei ferner nicht er¬ 
wiesen, daß der Verfall des alten Rom und Griechenland mit durch 
Päderastie veranlaßt worden sei. 

Gegenüber der Stichhaltigkeit dieser Gründe sei folgendes aus¬ 
geführt: 

I. Medizinische Gründe. 

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ad 1. Wie wir oben sahen, herrscht durchaus keine Einmütigkeit 
darüber, daß die Homosexualität eine angeborene Krankheit oder 


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Über die gerichtsärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe. 111 


Krankhaftigkeit ist Autoren wie Westphal, Gock, Servaes, v. Schrenck- 
Notzing, Moll, Eulenburg, Kirn, Scbaefer, Sterz, Wilderrauth, Wilhelm, 
Kraepelin, v. Sölder, Fuchs, Jolly, Tamowsky, Forel, Aschaffenburg 
sehen die echte konträre Sexualempfindung als krankhaft an. Näcke, 
Hirschfeld, Römer, Kautzner, Salgö, Sommer, Loewenfeld, Mühsam, 
Ullrichs, Fischer, v. Ulrich, Merzbach, Prätorius, Berze und auch 
v. Krafft-Ebing lassen die Gleichgeschlechtlichkeit nicht als krankhaft 
gelten. Seydel, Schmidtmann, Hoche, Cramer, Straßmann lassen nur 
für wenige Fälle die Bezeichnung krankhaft zu. Bei vielen gleich¬ 
geschlechtlichen Handlungen kann von Krankheit keine Rede sein 
und ebenso wenig davon, daß gleichgeschlechtliche Handlungen nur 
von echten Homosexuellen begangen werden. Auch den unwider¬ 
stehlichen Zwang zur Ausübung perverser Betätigung können wir 
nicht für alle Homosexuellen gelten lassen. Es gibt hypersexuelle 
und frigide Naturen unter ihnen. Richtig ist, daß der echte Konträr¬ 
sexuale nur auf gleichgeschlechtlichem Wege Befriedigung findet, 
aber es steht ihm ja da die straffreie gegenseitige Onanie mit Gleich¬ 
gesinnten zur Verfügung. 

ad 2. Die Zahl der Urninge in Deutschland wird entschieden 
zu hoch angegeben, von ca. 2 Proz. mag vielleicht in der Großstadt, 
aber nicht auf dem Lande gesprochen werden. 

ad 3. Nicht erwiesen ist es, daß nur in ca. 10 Proz. Päderastie 
vorkommt, wäre das der Fall, so würde wohl die männliche Prosti¬ 
tution in den Großstädten nicht so ausgedehnt sein. 

ad 4. Wir haben oben darauf hingewiesen, daß Verführung zur 
Homosexualität und auch durch Verübung homosexueller Handlungen 
vorkommt. Den Beweis führen viele Gegner des § 175 dadurch, daß 
sie ausdrücklich, wie wir unten noch sehen werden, einen Schutz der 
Jugend verlangen. Und ist die Verführung von Soldaten wirklich 
nicht vorhanden und ist sie nicht eine ernste Gefahr für unser Volk? 
Wie Numa Prätorius sagt, besteht sie in Venedig ebenso wie in 
Berlin und Kopenhagen. Selbst angenommen, daß die meisten dieser 
Soldaten nicht homosexuell würden, demoralisierend wirkt solcher Ver¬ 
kehr und die oft damit verbundenen Orgien auf jeden Fall. 

ad 5. Die Theorie der bisexuellen Anlage des Menschen ist nicht 
erwiesen. Auf v. Schrenck-Notzings Gegengründe und die anderer 
Antoren ist bereits hingewiesen. Meynert sagt dazu nach Moll: 
„Zwischen Mann und Weib besteht der Geschlechtsunterschied nicht 
im Gehirn, sondern in den äußeren Genitalien.“ Weygand bemerkt 
zur Theorie der bisexuellen Anlage: „Für die spätere sexuelle Funk¬ 
tion haben jene Anlagen und die ihr entsprechenden Organe keine 


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V. Heinbich Graf 


Bedeutung, so wenig wie etwa die Embiyonalanlage von Kiemen¬ 
bogen für die spätere Atemfunktion irgend eine Bedeutung hat 
Gerade Zwitterbildung der primären Geschlechtsorgane ist keineswegs 
regelmäßig mit perverser oder bisexueller Gescblechtsempfindung ver¬ 
bunden.“ 

Die medizinischen Gründe für Aufhebung von § 175 sind also 
größtenteils nicht stichhaltig. Als Schatz steht den Homosexuellen 
außerdem noch § 51 zur Seite, nach dem sie bei bestehender Krank¬ 
heit straffrei sind. 


II. Juristische Gründe. 

ad 1. Richtig ist daß seinerzeit der § 175 gegen den Wider¬ 
spruch der preußischen wissenschaftlichen Deputation für das Medizinal¬ 
wesen zustande gekommen ist und daß man damals über konträre 
Sexualempfindung noch nicht viel wußte. Deshalb aber den Para¬ 
graphen ohne weiteres aufzuheben, würde ein großer Fehler sein; 
denn es ist, wie auch Salgö und Hoche sagen, etwas ganz anderes, 
einen Gesetzesparagraphen überhaupt nicht zu erlassen, als einen be¬ 
stehenden abzuschaffen. Die Aufhebung des Paragraphen könnte 
leicht so aufgefaßt werden, daß die früher straffällige Handlung nun 
nicht nur geduldet sondern sogar erwünscht sei. Jedenfalls würde 
sie ein Anreiz werden für viele, zügellos ihren perversen Trieben 
nachzugehen. 

ad 2. In der Bestrafung des gleichgeschlechtlichen Verkehrs 
nur zwischen Männern liegt eine gewisse Inkonsequenz. Diese be¬ 
steht jedoch nicht wenn man auf die ursprüngliche Auffassung vom 
Wesen des § 175 zurückgeht Danach verstand man unter wider¬ 
natürlicher Unzucht nur Päderastie und von dieser kann zwischen 
Weibern nicht die Rede sein. Die gegenseitige Onanie zwischen beiden 
Geschlechtern ist ja straflos. Liegt nun allerdings darin eine gewisse 
Inkonsequenz, so ist der Grund dafür in dem Rechtsbewußtsein des 
Volkes zu sehen, das von jeher Päderastie als ein verabscheuungs¬ 
würdiges Laster und Verbrechen betrachtet hat. Gerade die Empfin¬ 
dung des Volkes dürfte wohl vielfach den Richter veranlaßt haben, 
bei der Häufigkeit gleichgeschlechtlicher Vergehen, dem § 175 eine 
etwas weitergehende Auslegung zu geben wie ursprünglich beabsichtigt 

ad 3. Richtig ist, daß von der großen Menge jährlich begangener 
gleichgeschlechtlicher Handlungen nur wenige gerichtlich bestraft 
werden. Das ist jedoch kein Grund, den Nutzen des § 175 überhaupt 
zu bestreiten. Wie aus vielen Autobiographien Homosexueller bervor- 
geht, bat diese Strafbestimmung einen theoretischen Strafzweck wohl 


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Über die gericht9ärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe. 113 

erfüllt, nämlich als Abschreckungsmittel zu wirken. Geben diese 
Menschen doch an, daß sie sich aus Furcht vor Strafe von der Be¬ 
gehung perverser Handlungen haben Zurückbalten lassen. Der Ein¬ 
wand, daß die Strafbestimmungen nicht bessernd wirken, läßt sich 
auch für andere Paragraphen machen. 

ad 4. Unklare Fassung besteht auch noch für andere Gesetzes¬ 
paragraphen und es wird eine zweifelhafte Auffassung möglich sein. 
Dazu bemerkt Bornträger: „Man wird deswegen aber die Strafbar¬ 
keit des Betruges, der Untreue, der Beleidigung, des groben Un¬ 
fugs usw. nicht aufheben, sondern höchstens darnach streben, den Tat¬ 
begriff möglichst scharf zu fassen.“ 

ad 5. Richtig ist der Schaden, der vielfach durch das Erpresser- 
tum angerichtet wird. Es ist zweifellos, daß schon die Verwicklung 
in eine solche Angelegenheit mit Anklage gegen § 175 meist nicht 
nur peinlich, sondern für die Betreffenden direkt schädlich sein kann. 
Nur zu leicht bleibt ein Makel hängen, besser wäre es also in dieser 
Hinsicht, wenn der Paragraph nicht bestände. Aber ist denn das 
Erpressertum wirklich nur eine Folge von § 175? Nein, durchaus 
nicht. Sowohl in Frankreich wie in Italien, wo es entsprechende 
Bestimmungen nicht gibt, ist der Homosexuelle verachtet. Und auch 
hier besteht das Erpressertum in gleicher Weise. Ja in Italien ver¬ 
binden sich damit noch andere Verbrechen. Nach Näcke hat de Blasio 
mitgeteilt, „daß von den meisten jungen Langfingern Neapels nicht 
weniger als 35 Proz. passive Päderasten sind und zwar — um die 
aktiven zu bestehlen.“ Das Erpressertum würde also mit Aufhebung 
von § 175 sicher nicht verschwinden. Und außerdem geht man jetzt 
immer schärfer gegen solche gewissenlosen Blutsauger vor. 

ad 6. Daß bei den im gegenseitigen Einverständnis begangenen 
gleichgeschlechtlichen Handlungen an und für sich kein Recht Dritter 
verletzt wird, ist wohl zuzugeben. Nicht gesagt ist damit aber, daß 
dadurch Straffreiheit begründet ist. Auch der Beischlaf zwischen 
Verwandten findet oft im gegenseitigen Einverständnis statt und ist 
doch auch strafbar. Ebenso wird derjenige, der eine Person mit 
deren Einwilligung getötet hat, gleichfalls bestraft. 

Einige juristische Gründe lassen also die Wünsche nach Änderung 
der Bestimmungen des § 175 nicht unberechtigt erscheinen. Daraus 
aber sofort die restlose Aufhebung des Paragraphen zu fordern, ist 
nicht angängig. Erkennt der Staat die homosexuellen Handlungen 
als gleichberechtigt an, so schafft er damit gewissermaßen eine zweite 
Sorte Staatsbürger. Es ist mit Abschaffung der Strafbestimmung eine 
direkte Sanktionierung gleichgeschlechtlichen Verkehrs verbunden. 

Archiv für Kriminalanthropologie. 34. Bd. 8 


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V. Heinrich Gräf 


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Die notwendige Folge ist die Anerkennung einer männlichen Prosti¬ 
tution und die Duldung von Männerbordellen. Diese Konsequenzen 
wären der reine Hohn sowohl gegen den Kampf gegen das Erpresser- 
tum, der von Homosexuellen und vom Staate in gleicher Weise ge¬ 
führt wird, wie gegen den Kampf gegen die weibliche Prostitution. 
Und eine Gleichwertung mit den Normalen werden die Urninge doch 
nicht erreichen. Groß sagt: „Das liegt in der Natur und im Gesetz 
von der natürlichen Zuchtwahl: das unnormale, unbrauchbare stößt 
ab und wird ausgestoßen.“ „Unterdrückt“ würden die Urninge ge¬ 
wissermaßen auch nach Aufhebung von § 175 sein. Daß manche 
dieser Leute ganz brauchbare Glieder der menschlichen Gesellschaft 
sind, soll nicht bestritten werden. Im allgemeinen herrscht aber, wie 
wir sahen, unter den Autoren keine hohe Meinung über die Tugenden 
und Vorzüge der Homosexuellen. 

Ob der Verfall des alten Griechenland und Rom mit durch die 
Päderastie veranlaßt worden ist, sei dahin gestellt. Die Bevölkerungs¬ 
abnahme Frankreichs dürfte auch wohl mehr auf das Zweikinder¬ 
system als auf Duldung der Päderastie zurückzuführen sein. Dazu 
sagt Eulenburg: „Es ist nicht zu leugnen, daß diese Auffassung und 
Behandlung der Sache der in geschlechtlichen Dingen von jeher 
etwas laxen französischen Volksmoral trefflich entspricht.“ Die Ge¬ 
fahr der Einschränkung der Volks Vermehrung durch Aufhebung von 
§ 175 ist wohl nicht zu fürchten, im Gegenteil ist es vielleicht ganz 
gut, daß diese entarteten Menschen, in denen nach Mühsam „die 
höchste Kultur ihres Stammes zum Austrag kommt“ keine Nach¬ 
kommenschaft erzeugen, die vielleicht noch minderwertiger ist Die 
Gefahr beruht vielmehr in dem Niedergang von Moral und Sitte 
im Volke. 

Die Heilung der Homosexualität hat man vielfach erfolgreich 
durch Suggestionstherapie erreicht. Vorgeschlagen hat man ferner die 
Beseitigung durch Kastration. Dieser Vorschlag von Oliva (79) und 
von Meyer (siehe Vortrag von v. Rabow 81) ist wohl deshalb ab¬ 
zulehnen, weil bekanntlich die libido nicht nur von den Genitalien, 
sondern besonders vom Gehirn ausgeht. 

Die Gesetzesbestimmungen, die man an Stelle von § 175 setzen 
will, laufen im wesentlichen darauf hinaus, daß man die Altersgrenze 
nach § 176 3 bezüglich der unzüchtigen Handlungen und nach § 182 
bezüglich des Beischlafes an Minderwertigen auf 18 Jahre hinauf¬ 
setzen will. Ferner sollen nach § 176 1 mit Gewalt begangene un¬ 
züchtige gleichgeschlechtliche Handlungen bestraft werden. In dem 
Sinne sprechen sich v. Krafft • Ebing, Moll, Bloch, Sommer aus. 


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Über die gerichtsarztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe. 115 

v. Ullrich will nur „bewiesene Verführung und Überredung zur Un¬ 
sittlichkeit“ bestraft wissen, Liszt nur die gewerbsmäßige männliche 
Prostitution. Auf Grund der letzten Prozesse fragt Moll, ob bei Ab. 
Schaffung von § 175 nicht besonders die Soldaten gegenüber homo¬ 
sexuellen Angriffen zu schützen seien. Sommer und Friedlaender 
wollen auch noch § 177 auf den mannmännlichen Verkehr ange¬ 
wandt wissen. Man fordert also einmal restlose Beseitigung von 
§ 175 und setzt an dessen Stelle neue Bestimmungen. Ob man glaubt 
dadurch mehr zu erreichen? Wir möchten es bezweifeln. Daß der 
Paragraph gewisse Härten hat, sei zugegeben. Ihn deswegen auf¬ 
zuheben, ist im Interesse des Volkswohles nicht zulässig. Als Gegen¬ 
strömung gegen die maßlose Agitation für Aufhebung von § 175 
macht sich auf Grund der jüngsten Vorgänge sogar ein Verlangen 
nach Verschärfungen der Strafbestimmungen gegen die widernatür¬ 
liche Unzucht geltend. Wird sich auch der Staat dazu nicht ver¬ 
stehen, so darf er im eigenen Interesse nicht an die Abschaffung 
von § 175 denken. 

Zusammenfassung. 

1. Perverse Geschlechtstriebe sind solche, bei denen der nor¬ 
male Geschlechtsverkehr zwischen Mann und Weib keine Befriedigung 
schafft, bei denen nicht die normalen, sondern andere Beize geschlecht¬ 
liche Gefühle auslösen. 

2. Von Arten der perversen Geschlechtsempfindung unterscheiden 
wir: Sadismus, Masochismus, Fetischismus, Exhibitionismus, Homo¬ 
sexualität, Bestialität. 

3. Sadismus oder aktive Algolagnie ist der Drang, die Wollust 
durch Zufügung von Schmerz zu vergrößern oder durch Grausam¬ 
keit wollüstige Gefühle hervorzurufen. Dieser Drang wird strafrecht¬ 
lich wichtig als Akt von Notzucht, Lustmord, Leichenschändung, 
Messerstecherei, Züchtigung von Pflegebefohlenen, Tierquälerei. Zivil- 
rechtlich kann er durch Mißhandlung der Frau zur Ehescheidung 
Anlaß geben. 

4. Masochismus oder passive Algolagnie ist der Drang, durch 
Erduldung von Schmerz, Demütigung oder Unterwürfigkeit die Wol¬ 
lust zu steigern oder demütigende Akte an Stelle des Koitus treten 
zu lassen. Die gerichtsärztliche Bedeutung ist gering, da es sich um 
selbstgewollte Schmerzen handelt. Wichtig werden kann der durch 
masochistische Ideen bedingte Mord aus Geschlechtshörigkeit 

5. Fetischismus ist die Triebverkehrung, bei der nicht das Weib 
als solches anziehend auf den Mann wirkt, sondern nur Teile von 

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ihm oder Gegenstände seiner Kleidung.' Der Drang nach dem an¬ 
ziehenden Teile kann so stark werden, daß es zu Diebstahl und Raub 
desselben kommt. Haarfetischismus führt öfters zu Abschneiden von 
Zöpfen. 

6. Exhibitionismus ist die Art der Geschlechtsbefriedigung, die 
in öffentlicher Entblößung der Genitalien (beim Weibe in Entblößung 
der Brüste) gesucht und gefunden wird. Meist handelt es sich hier¬ 
bei um Schwachsinnige, Epileptiker usw. Der Exhibitionismus ist als 
eine Erregung öffentlichen Ärgernisses strafbar. 

7. Die Homosexualität oder konträre Sexualempfindung ist die¬ 
jenige perverse Empfindung, die sich im gegenseitigen Verkehr von 
Männern betätigt und darin ihre Befriedigung findet. 

8. Man erklärt die Homosexualität vielfach durchweg als an¬ 
geboren und auf bisexueller Anlage von peripheren Geschlechtsorganen 
und Geschlechtszentrum im Gehirn beruhend; diese Theorie ist ana¬ 
tomisch nicht bewiesen. 

9. Man muß unterscheiden zwischen 

a) einer echten Gleichgeschlechtlichkeit und 

b) zwischen gleichgeschlechtlichen Handlungen. 

10. Die echte Homosexualität kann angeboren und in früher 
Jugend durch Gelegenheitsursachen erworben sein. Bei den gleich¬ 
geschlechtlichen Handlungen handelt es sich durchweg um Laster, 
erworben entweder infolge von Onanie oder von geschlechtlichen 
Ausschweifungen. 

11. Als Bestialität bezeichnet man geschlechtliche Handlungen 
zwischen Menschen und Tieren. 

12. Der § 175 St.G.B. bestraft die von Männern untereinander und 
zwischen Menschen und Tieren vorgenommenen beischlafähnlichen 
Handlungen mit Gefängnis. 

13. Soweit es sich bei allen diesen Handlungen um nachweisbar 
Kranke handelt, steht ihnen der Schutz des § 51 St.G.B. zur Seite. 

14. Für Aufhebung von § 175 besteht eine sehr lebhafte Agita¬ 
tion, die gegen diese Bestimmung eine Reihe medizinischer und 
juristischer Gründe ins Feld führt. 

15. Diese Gründe sind nur in sehr geringem Maße berechtigt 
und lassen es besonders im Interesse der Volkswohlfart nicht zulässig 
erscheinen, daß der § 175 St.G.B. aufgehoben wird. 


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Über die gerichtsärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe. 117 


Literatur. 

1) Alzheimer, Ein „geborener Verbrecher“. Archiv für Psychiatrie und 
Nervenkrankheiten. 28. Bd., 1896, S. 327. 

2) Aschaffenburg, Zur Psychologie der Sittlichkeitsverbrecher. Monats¬ 
schrift für Kriminalpsychologie usw. 2. Bd., S. 404. 

3) Aschaffenburg und Heimberger: „Über die strafrechtliche Be¬ 
handlung der Homosexuellen“. Vortrag im psychiatrischen Verein der Rheinprovinz 
vom 15. Juni 1907 mit Diskussionsbemerkungen. Allgemeine Zeitschrift für 
Psychiatrie usw. 35. Bd., 1908, S. 140. 

4) Berz Walt Whitman, Ein Charakterbild. Jahrbuch für sexuelle Zwischen¬ 
stufen 7. Jahrg. 1. Bd., 1905. 

5) Berz, Zur Frage der Zurechnungsfähigkeit der Homosexuellen. Monats¬ 
schrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform. 4. Jahrg., 1907, S. 49. 

6) Bloch, Iwan, Das Sexualleben unserer Zeit in seinen Beziehungen zur 
modernen Kultur. 1. — 5. Tausend. Berlin 1907. 

7) Bumke, Zur Frage der Häufigkeit homosexueller Vergehen. Münch, med. 
Wochenschr. 1904, Nr. 52. 

8) Casper-Liman-Schmidtmann, Handbuch der gerichtlichen Medizin 
9. Auflage. 1. Bd. 1905, 3. Bd. 1906. 

9) Colla, 3 Fälle homosexueller Handlungen in Rauschzuständen. Viertel¬ 
jahresschrift für gerichtliche Medizin und öffentliches Sanitätswesen. 3. Folge Bd. 31, 
1906, 1. Heft 

10) Cramer, Die Beziehungen des Exhibitionismus zum § 51 des Strafge¬ 
setzbuches. 32. Versammlung des Vereins der Irrenärzte Niedersachens und West¬ 
falens. 1. Mai 1897. Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 54. Bd, 1898, S. 481. 

11) Cramer, Die konträre Sexualempfindung in ihren Beziehungen zum 
§175 des Strafgesetzbuches. Berlin, klin. Wochenschr. 1897, Nr. 43 und 44. 

12) Cramer, Gerichtliche Psychiatrie. 3. Auflage, Jena 1903. 

13) Donath, Zur Psychopathologie der sexuellen Perversionen. Archiv für 
Psychiatrie und Nervenkrankheiten. 40. Bd., 1905, S. 435. 

14) Eulenburg, Sexuelle Neuropathie. Leipzig, Vogel 1895. 

15) Fischer, Hans, Homosexualität eine physiologische Erscheinung? 
Berlin 1903. Referat von Schneickert im Archiv für Kriminalanthropologie und 
Kriminalistik 1903, 13. Bd., S. 186. 

16) Forel, Die sexuelle Frage, eine naturwissenschaftliche, physiologische 
hygienische und soziologische Studie für Gebildete. München 1905. 

17) Forel, Sexuelle Ethik. Ein Vortrag. München 1906. 

18) Friedlaender, Kritik der neueren Vorschläge zur Abänderung des 
§ 175. Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen. 8. Bd., 1906. 

' 19) Friedlaender, Schadet die soziale Freigabe des homosexuellen Ver¬ 
kehrs der kriegerischen Tüchtigkeit der Rasse? Jahrbuch für sexuelle Zwischen¬ 
stufen, 7. Bd., 1905. 


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20) Fuchs, Bemerkungen zur Publikation „Homosexualität und Strafgesetz; 
ein Beitrag zur Untersuchung der Reformbedürftigkeit des § 175 Strafgesetz¬ 
buches von Dr. Friedrich Wachenfeld, Professor der Rechte in Rostock i. ÄL 
(Leipzig, Dietrich sehe Verlagsbuchhandlung Theodor Weicher 1901)“. Friedreichs 
Blätter für gerichtliche Medizin und Sanitätspolizei 52. Jahrg. 1901, S. 321. 

21) Fuchs, Hanns, Sinnen und Lauschen. Briefe an einen Freund. Ein 
Beitrag zur Psychologie der Homosexualität. Jahrbuch für sexuelle Zwischen¬ 
stufen, 7. Jahrg., 1905. 

22} Gock, Beitrag zur Kenntnis der konträren Sexualempfindung. Archiv 
für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, 5. Bd. 1875, S. 564. 

23) G r o s s - Stadtmagistrat Kulmbach, Ein Fall von Leichenschänduug. Archiv 
für Kriminalanthropologie und Kriminalistik 1904, 16. Bd., S. 289. 

24) Hirschfeld, Berlins 3. Geschlecht. Großstadt-Dokumente. Bd 3. 1904. 

25) Hirschfeld, Das Ergebnis der statistischen Untersuchungen über den 
Prozentsatz der Homosexuellen. Leipzig, Spohr. 1904. Ref. Groß, Archiv für 
Kriminalanthropologie und Kriminalistik. 14. Bd.. 1904, S. 57. 

26) Hirschfeld, Gesctilechtsübergänge. Mischungen männlicher und weib¬ 
licher Geschlechtscharaktere. Sexuelle Zwischenstufen. Leipzig, Spohr. 1905. 

27) Hirschfeld, Monatsbericht des Wissenschaftlich-humanitären Komitees 
Charlottenburg-Berlin, Berlinerstraße 104. Jahrg. 4—6. 

28) Hirschfeld, Vom Wesen der Liebe. Zugleich ein Beitrag zur Lösung 
der Frage der Bisexualität. Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, 8. Jahrg. 1906. 

29) Hirschfeld, Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen mit besonderer Be¬ 
rücksichtigung der Homosexualität. 7. Jahrg., 1905. 

30) Hirschfeld, Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen mit besonderer Be¬ 
rücksichtigung der Homosexualität. 8. Jahrg., 1906. 

31) Hirschfeld, Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen mit besonderer Be¬ 
rücksichtigung der Homosexualität. Ref. von Groß. Archiv für Kriminalanthro¬ 
pologie und Kriminalistik. 14. Bd., 1904, S. 379. 

32) Hirschfeld, Zeitschrift für Sexualwissenschaft. Januar 1908, No. 1, 
Leipzig, Wigand. 

33) Hoche, Handbuch der gerichtlichen Psychiatrie unter Mitwirkung von 
Professor Dr. Aschaffenburg, Privatdozent Dr. E. Schultze, Professor Dr. Wollen¬ 
berg. Berlin 1901. 

34) Hoche, Zur Frage der forensischen Beurteilung sexueller Vergehen. 
Neurologisches Zentralblatt. 15. Jahrg., 1896, Nr. 2 S. 57. 

35) Hof mann, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin. 6. Aufl. Wien und 
Leipzig, Urban und Schwarzenberg. 1893. 

36) Jahrmärker, Zur Frage der Zurechnungsfähigkeit bei sexuellen Per¬ 
versitäten. Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform. 4. Jahrg. 
1907, S. 122. 

37) Jolly, Perverser Sexualtrieb und Sittlichkeitsverbrechen. Gerichtliche 
Medizin. 12. Vorträge. Abdruck aus dem klinischen Jahrbuch Jena 1903 S. 199, 
herausgegeben vom Zentralkomitee für das ärztliche Fortbildungswesen in 
Preußen, in dessen Aufträge redigiert von Professor Dr. Kutner. 

38) Katte, Die virilen Homosexuellen. Jahrbuch für sexuelle Zwischen¬ 
stufen, 7. Jahrg., 1905. 

39) Kautzner, Homosexualität. Erläutert an einem einschlägigen Falle. 
Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik, 2. Bd., 1899, S. 153. 


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Über die gerichtsärztliche Beurteilung perverser Geschlechtstriebe. 119 


40) Kirn, Über die klinisch-forensische Bedeutung des perversen Sexual¬ 
triebes. Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin. 
39. Bd., 1883, S. 216. 

41) Kölle, Gerichtlich-psychiatrische Gutachten. Stuttgart, Enke, 1896. 

42) Kraepelin, Psychiatrie. Leipzig 1896. Ein Lehrbuch für Studierende 
und Ärzte. 

48) v. Krafft-Ebing, Der Konträrsexuale vor dem Strafrichter. 2. Auf¬ 
lage, 1895. 

44) v. Krafft-Ebing, Drei Konträrsexuale vor Gericht Jahrbücher für 
Psychiatrie und Neurologie. 19. Bd., 1900, S. 262. 

45) v. Krafft-Ebing, Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie. 2 Auf¬ 
lage, Stuttgart 1881. 

46) v. Krafft-Ebing, Neue Studien auf dem Gebiete der Homosexualität. 
Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, 3 Jahrg., 1901. 

47) v. Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis. 12. Auflage, Stuttgart, Enke, 
1903; 13. vermehrte Auflage, herausgegeben von Dr. Alfred Fuchs, Stuttgart, 
Enke, 1907. 

48) v. Krafft-Ebing, Über gewisse Anomalien des Geschlechtstriebs und 
die klinisch-forensische Verwertung derselben als eines wahrscheinlich funktionellen 
Degenerationszeichens des zentralen Nervensystems. Archiv für Psychiatrie und 
Nervenkrankheiten, 7. Bd., 1877, S. 291. 

49) v. Krafft-Ebing, Zur Ätiologie der konträren Sexualempfindung. 
Jahrbücher für Psychiatrie, 12. Bd., 1894, S. 338. 

50) v. Krafft-Ebing, Zur „konträren Sexualempfindung“ in klinisch¬ 
forensischer Hinsicht. Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-ge¬ 
richtliche Medizin. 38. Jahrg., 1882. 

51) Krticzka Freiherr v. Jaden, Ein an Sadismus grenzender Fall. Archiv 
für Kriminalanthropologie und Kriminalistik. 14. Jahrg., 1904, S. 23. 

52) Kurella, Fetischismus oder Simulation. Archiv für Psychiatrie und 
Nervenkrankheiten. 28. Bd., 1896, S. 964. 

53) Laupts, Betrachtungen über die Umkehrung des Geschlechtstriebes. 
Zeitschrift für Kriminalanthropologie, Gefängniswissenschaft und Prostitutions¬ 
wesen. 1. Bd., 1897, S. 321. 

54) Leppmann, Die Sachverständigen-Tätigkeit bei Seelenstörungen. 
Berlin 1890. 

55) Lim an, Zweifelhafte Geisteszustände vor Gericht. Berlin, Hirsch¬ 
wald 1869. 

56) Loewenfeld, Homosexualität und Strafgesetz. Wiesbaden, Berg¬ 
mann 1908. 

57) Merzbach, Die Lehre von der Homosexualität als Gemeingut wissen¬ 
schaftlicher Erkenntnis. Monatsschrift für Harnkrankheiten und sexuelle Hygiene. 
1. Jahrg., 1904, Heft 1. 

58) Meyer v. Schauensee, Homosexualität oder Kontrasexualität. Monats¬ 
schrift für Krimmalpsychologie und Strafrechtsreform. 3. Jahrg., 1906, S. 227. 

59) Moll, Die konträre Sexualempfindung. Berlin 1891. 

60) Moll, Gutachten über einen sexuell Perversen (Besudelungstrieb). Zeit¬ 
schrift für Medizinal beamte. 1900. 13. Jahrg., S. 409. 

61) Moll, Inwieweit ist die Agitation zur Aufhebung des § 175 berechtigt? 
Deutsche med. Wochenschr. 1907, S. 1910. 


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120 

62) Moll, Perverse Sexualempfindung, psychische Impotenz und Ulie. 
Krankheiten und Ehe. Herausgegeben von Senator und Kaminer. München. 
Lehmann. 

63) Moll, Probleme in der Homosexualität. Zeitschrift für Kriminalanthro¬ 
pologie, Gefängnis Wissenschaft und Prostitutions wesen. 1. Bd. Berlin 1897, S. 157. 

64) Moll, Sexuelle Perversionen, Geisteskrankheit und Zurechnungsfähigkeit. 
Moderne ärztl. Bibliothek, herausgegeben von Dr. Ferdinand Karewski. 1905, Heft 5. 

65) Moll, Untersuchungen über die Libido sexualis. 1. Bd. Berlin, Korn¬ 
feld. 1898. 

66) Moll, Wie erkennen und verständigen sich .die Homosexuellen unter¬ 
einander? Archiv für Kriminalanthropologie u. Kriminalistik, 9. Bd., 1902, S. 157. 

67) Mühsam, Erich, Die Homosexualität. Ref. Schneickert, Archiv für 
Kriminalanthropologie und Kriminalistik, 16. Bd., 1904, S. 364. 

68) Näcke, Die Homosexualität im Orient. Archiv für Kriminalanthro¬ 
pologie und Kriminalistik, 16. Bd., 1904, S. 353. 

69) Näcke, Ein Besuch bei den Homosexuellen in Berlin. Mit Bemerkungen 
über Homosexualität Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik, 15. Bd., 
1904, S. 244. 

70) Näcke, Einige psychiatrische Erfahrungen als Stütze für die Lehre 
von der* bisexuellen Anlage des Menschen. Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, 
8. Jahrg., 1906. 

73) Näcke, Einteilung der Homosexuellen. Allgemeine Zeitschrift für 
Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin. 35. Bd., 1. Heft, 1908, S. 109. 

72) Näcke, Forensisch-psychiatrisch-physiologische Randglossen zum Pro¬ 
zesse Dippold, insbesondere über Sadismus. Archiv für Kriminalanthropologie 
und Kriminalistik. 1903, 13. Bd., S. 350. 

73) Näcke, Häufigkeit der Anomalien der Geschlechtsteile bei Stupratoren 
und sexuell Pervertierten. Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik, 
16. Bd., 1904, S. 364. 

74) Näcke, Höhen und Tiefen der homosexuellen Welt Erwiderung auf 
den Aufsatz von Raffalowich, Les groupes uranistes ä Paris et k Berlin. Archiv 
für Kriminalanthropologie und Kriminalistik, 18. Bd., 1905, S. 360. 

75) Näcke, Homosexuelle Annonce. Archiv für Kriminalanthropologie und 
Kriminalistik, 9. Bd., 1902, S. 217. 

76) Näcke, Kritisches zum Kapitel der normalen und pathologischen 
Sexualität. Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten. 1899, 32. Bd., S. 356. 

77) Näcke, Probleme auf dem Gebiete der Homosexualität Allgemeine 
Zeitschrift für Psychiatrio und psychisch-gerichtliche Medizin, herausgegeben von 
Deutschlands Irrenärzten. 59. Bd., 1902, S. 805. 

78) Näcke, Vergleich von Verbrechen und Homosexualität Monatsschrift 
für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform. 3. Jahrg., 1906, S. 477. 

79) Oliva, Kastration gegen Homosexualität. Ref. Näcke im Archiv für 
Kriminalanthropologie und Kriminalistik. 16. Bd., 1904, S. 352. 

80) Prätorius, Numa, Zur Frage der Zurechnungsfähigkeit der Homo¬ 
sexuellen. Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform. 3. Jahrg., 
1906, S. 557. 

81) Rabow, Zur Kasuistik der angebprenen konträren Sexualempfindung. 
Vortrag in der Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenkrankheiten. 
Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, 1884, 15. Bd., S. 288. 


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Über die gerichtsärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe. 121 


82) Reichsgerichtsentscheidungen, siehe „Entscheidungen des Reichs¬ 
gerichts in Strafsachen“, Jahrg. 1880 und 1904. 

88) Reimann, Exhibition eines nicht erweislich Geisteskranken. Zeitschr, 
für Medizinalbeamte, 1898, 11. Jahrg., S. 205. 

84) Römer, Die erbliche Belastung des Zentralnervensystems bei Uraniem, 
geistig gesunden Menschen und Geisteskranken. Jahrbuch für sexuelle Zwischen¬ 
stufen, 7. Jahrg., 1905. 

85) Saig6, Die forensische Bedeutung der sexuellen Perversität Sammlung 
zwangloser Abhandlungen aus dem Gebiete der Nerven- und Geisteskrankheiten. 
Halle 1907. 

86) Schaefer, Determinismus und Zurechnungsfähigkeit mit 3 Gutachten 
über Exhibition. Vierteljahresschrift für gerichtliche Medizin und öffentliches 
Sanitatswesen. III. Folge, 9. Bd., 1895, S. 99. 

87) Schaefer, Über die forensische Bedeutung der konträren Sexual¬ 
empfindung. Vierteljahresschrift für gerichtliche Medizin und öffentliches Sanitäts¬ 
wesen. 17. Bd., 1899, S. 289. 

88) Schmincke, Ein Fall von konträrer Sexualempfindung. Archiv für 
Psychiatrie und Nervenkrankheiten. 3. Bd., 1872, S. 225. 

89) v. Schrenck-Notzing, Beiträge zur forensischen Beurteilung von 
Sittlichkeitsvergehen mit besonderer Berücksichtigung der Pathogenese psycho- 
sexueller Anomalien. Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik. 1. Bd., 
1899, S. 5. 

90) v. Schrenck-Notzing, Die Suggestionstherapie bei krankhaften Er¬ 
scheinungen des Geschlechtssinnes mit besonderer Berücksichtigung der konträren 
Sexualempfindung. Stuttgart, Enke, 1892. 

91) v. Schrenck-Notzing, Ein Beitrag zur Aetiologie der konträren 
Sexualempfindung. Wien, Holder. 1895. 

92) Seiffer, Über Exhibitionismus. Archiv für Psychiatrie, 31. Bd., 1899, 
S. 405. 

93) Servaes, Zur Kenntnis der konträren Sexualempfindung. Archiv für 
Psychiatrie und Nervenkrankheiten. 6. Bd., 1876, S. 484. 

94) Seydel, Die Beurteilung der perversen Sexual vergehen in foro. Viertel¬ 
jahresschrift für gerichtliche Medizin und öffentliches Sanitätswesen. DL Folge, 
V. Bd., 1893, S. 273. 

95) Sioli, Beiträge zur Genese der konträren Sexualempfindung. Nebst 
Diskussion. Sitzung des Vereins deutscher Irrenärzte zu Frankfurt a. M. 1893. 
Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie, 50. Bd., 1894, S. 378. 

96) v. S öl der, Die Bedeutung der Homosexualität nach österreichischem 
Strafrecht. Jahrbücher für Psychiatrie u. Neurologie. Leipzig u. Wien 1905, S. 403. 

97) Sommer, Kriminalpsychologie und strafrechtliche Psychopathologie auf 
naturwissenschaftlicher Grundlage. Leipzig, Barth. 1904. 

98) Sterz, Beitrag zur Lehre von der „konträren Sexualempfindung“. Jahr¬ 
bücher für Psychiatrie. 3. Bd., Wien 1882. S. 221. 

99) Straßmann, Kasuistische Beiträge zur Lehre von den epileptischen 
Zuständen. Vierteljahresschrift für gerichtliche Medizin und öffentliches Sanitäts¬ 
wesen. 3. Folge. 9. Bd., 1895, S. 80. 

100) Straß mann, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin. Stuttgart, Enke, 1895. 

101) Tarnowsky, Die krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinnes. 
Berlin 1886. Eine forensisch-psychiatrische Studie. 


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V. Heinrich Graf 


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102) v. Ullrich, Homosexualität. Die Kritik vom 18. Januar 1898. Ref 
Näcke, Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie, 56. Bd., 1898, S. 107. 

103) Westphal, Die konträre Sexualempfindung, Symptom eines neuro- 
pathisehen (psychopatischen) Zustandes. Archiv für Psychiatrie und Nerven¬ 
krankheiten. 2. Bd.. 1868, S. 73. 

104) Westphal, Zur konträren Sexualempfindung. Archiv für Psychiatrie 
und Nervenkrankheiten. 6. Bd., 1876, S 620. 

105) Weygandt, Sind die Einwände gegen gesetzliche Bestimmungen be¬ 
treffs sexueller Anomalie wissenschaftlich haltbar? Münch, med. Wochenschr. 
1908, S. 459. 

106) Wilhelm, Ein Fall von Homosexualität (Androgynie). Archiv für 
Kriminalanthropologie und Kriminalistik. 14. Bd., 1904, S. 57. 


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VI. 


Befangenheit als Verdachtsgrund. 

Von 

Privatdozent Dr. jur. et pbil. Hans Reichel in Leipzig. 


Die experimentelle Psychologie ist eifrig am Werke, Methoden 
ausznbilden, mittels deren man die Affektbetontheit gewisser Vor¬ 
stellungen konstatieren oder gar messen kann. Zu nennen wären 
etwa *) die Verwendung des Pulszählers, Breuer - Freuds Psycho¬ 
analyse 2 ), neuestens die Versuche Veraguths, betreffend den psycho- 
galvanischen Reflex 3 ). 

Man hat nun angeregt, diese Methoden auch im Strafverfahren 
für die Feststellung der Schuld oder Nichtschuld Verdächtiger nutz¬ 
bar zu machen. Die Erwägung, von der hierbei ausgegangen wird, 
ist folgende. Ist der Verdächtigte der Täter, so werden die mit dem 
Verbrechenstatbestand verknüpften Vorstellungen eine relativ starke 
Affektbetontheit auf weisen; ist er dagegen unschuldig, so werden diese 
Reaktionen ausbleiben. 

Wäre diese Deduktion zutreffend, so wäre in der Tat die Hoff¬ 
nung berechtigt, daß wir in den erwähnten Untersuchungsmethoden 
demnächst einen wahren Zauberschlüssel für die Erforschung des sub¬ 
jektiven Tatbestandes besitzen würden. Indes jene zuversichtliche 
Schlußfolgerung ist denn doch in ihrer Allgemeinheit nicht aufrecht 
zu erhalten. Folgende Bedenken nämlich stellen sich ihr entgegen: 

ll Nicht hierher gehört die Wcrtheimer-KIeinsche Methode der Assoziations¬ 
werte (Max Wertheimer und Julius Klein, Psychologische Tatbestandsdiagno¬ 
stik; dieselben in H. Groß’ Archiv 14, 72, Alfr. Groß in demselben Archiv 
19, 49 und in der Beil. z. Allg. Zeitung 1906 III. Quartal S. 339, Grabowski 
in derselben Beilage 1905 IY. Quartal ö. 497). Denn diese befaßt sich nicht lnit 
der Aff ektbetontheit, vielmehr mit der assoziativen Verknüpftheit ge¬ 
wisser Vorstellungen. Ob es angängig und empfehlsam sei, diese Methode für 
den Strafprozeß nutzbar zu machen, mag hier dahingestellt bleiben; vgl. darüber 
Alfred Groß in ZSchr. f. d. ges. StrafRWss. 26, 34, Grabowski a. a. 0. 

2) Freud, Drei Studien zur Sexualtheorie; derselbe in Groß’ Archiv 26, 1; 
Friedmann in der Beil, der Münchener Neuesten Nachrichten 1909 I. Quartal 
Nr. 17 S. 139. 

3) Allgemeine Zeitung (München) vom 28. Nov. 1908 S. 748. 


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VI. Hans Reichel 


1) Fehlen der Affektbetontheit läßt keinen sicheren Schluß auf 
die Nichttäterschaft zu. Denn es ist kein allgemein gültiges Ge¬ 
setz, daß jeder Täter eines Verbrechens, wenn um die Straftat befragt, 
hierdurch affektiv erregt werden müßte. 

2) Vorhandensein der Affektbetontheit gestattet keinen sicheren 
Schluß auf die Täterschaft. Denn die Feststellung der Affekt¬ 
betontheit der auf dem Verbrechenstatbestand bezüglichen Vorstellungen 
sagt nichts aus über Grund und Natur des Affekts. Der Affekt 
kann nicht nur hervorgerufen sein durch die Erinnerung der selbst 
verübten Tat und die Furcht, mit Recht als der Täter entlarvt zu 
werden; er kann ebensowohl erzeugt sein durch die Scham, mit Un¬ 
recht verdächtigt zu sein oder die Furcht, bestraft zu werden wegen 
einer nicht begangenen Tat. Die Tatsache der Affektbetontheit für 
sich allein ist hiernach kein eindeutiges Indiz. Erst bei Kenntnis 
von Art und Grund des Affektes dürften wir Schlüsse ziehen auf 
Schuld oder Unschuld der Versuchsperson. 

Die hier ausgesprochenen Sätze werden durch die kriminalistische 
und sonstige Erfahrung Tag für Tag bestätigt. Es ist zwar eine 
Binsenwahrheit, daß der leugnende Täter sich nicht selten durch un¬ 
freies, scheues, auch wohl vordringlich-affektiertes Betragen bemerkbar 
macht, und daß hierbei sogar physiologische Beflexe, wie Erröten, 
Erblassen eine Rolle spielen können. Nicht minder allgemein bekannt 
aber ist andererseits die Tatsache, daß dieser Satz von so vielen 
Ausnahmen durchlöchert ist, daß man ihm nicht einmal empirische 
Allgemeinheit zusprechen kann 1 )- Es geschieht nicht nur tagtäglich, 
daß abgebrühte Gauner, obschon der Tat längst überführt, ohne 
Wimperzucken bei ihrem Leugnen beharren; sondern es kommtauch 
umgekehrt nicht selten vor, daß Unschuldige, über Tat und Täter¬ 
schaft befragt, in die größte Verlegenheit und Verwirrung geraten bei 
dem bloßen Gedanken daran, man könne sie der Täterschaft für fähig 
halten. Es zeugt daher von Anfängertum, wenn hier und da krimi¬ 
nalistische Heißsporne aus der Tatsache, daß ein Verdächtigter sich 
„auffallend“ benommen (gestottert, geschlottert, die Farbe gewechselt) 
habe, kurzerhand einen Vermutungsschluß auf seine Schuld glauben 
ziehen zu können. 

Ich vergesse nie den inquisitorischen Vorgang, der sich in der 
Unterprima unseres Berliner Gymnasiums zutrug, nachdem mein 
Klassenkamerad M. mutwillig eine Fensterjalousie des Klassenzimmers 


1) Vergl. Hans Groß, Kriminalpsychologie 2. Aufl. S. 59 ff. 


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Befangenheit als Verdachtsgrund. 


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zerbrochen hatte. Unser Klassenlehrer, der sich auf seine Menschen¬ 
kenntnis viel zugute tat, glaubte den Schuldigen mit Sicherheit er¬ 
mitteln zu können, indem er jeden von uns (wir waren 60) einzeln 
aufstehen und langsam die Worte hersagen ließ: „Ich habe die 
Jalousie nicht zerbrochen“, wobei er den Betreffenden mit einem, 
wie er glaubte, durchbohrenden Blick fixierte. Wir alle sagten unseren 
Satz her; am kaltblütigsten tat dies M. selbst. Es hätte nur gefehlt, 
daß irgend ein von Natur schüchterner und durch Maßregelungen 
vollends verschüchterter Schüler der letzten Bank bei dem Aufsagen 
der Worte oder bei der Erwiderung des ihn treffenden Blickes ein 
wenig uusicher gewesen wäre: ich bin überzeugt, er wäre von dem 
Schulmanne für den Missetäter gehalten worden, und das „Schul¬ 
beispiel“ wäre fertig. 

Im Zusammenhänge hiermit sei mir gestattet, aus meiner Kuriosen- 
mappe einen Fall mitzuteilen, der im Mai 1902 durch die Presse ging. 
Eine Berliner Tageszeitung berichtete damals wörtlich was folgt: „Ein 
Jurist und Kriminalist, der als scharfer Denker geachtet ist, betrat 
vor einigen Tagen den Laden eines Vermischtwarenhändlers in Wien. 
Er wollte ein 10 Kronen-Goldstück wechseln lassen und machte des¬ 
halb einen einige Heller betragenden Einkauf. Außer dem Geschäfts¬ 
inhaber befand sich noch eine Kundin in dem kleinen Laden, ein 
Fabrikmädchen. Als der Jurist das Goldstück überreichen wollte, 
streckte gerade das Fabrikmädchen in irgend einer Absicht ihren 
Arm aus, der dadurch mit der Hand des Juristen in Berührung kam. 
Das Goldstück entglitt seinen Fingern, fiel zu Boden und bückte er 
sich, um es zu suchen. Aber auch das Mädchen hatte sich sofort 
auf den Boden gekniet, suchte einen Augenblick, erhob sich dann 
rasch und sprach: „Ich find 7 nichts, übrigens hab’ ich auch nichts 
fallen gehört“. Nach diesen Worten verließ sie auffallend rasch den 
Laden. Der Verlustträger suchte weiter, der Geschäftsinhaber kehrte 
mit einem Besen den Staub auf dem Fußboden zusammen, das Gold¬ 
stück kam jedoch nicht zum Vorschein. „Das ist doch merkwürdig“, 
meinte der Jurist, in welchem der Kriminalist erwachte, „weshalb hat 
sich die Frauensperson am Suchen beteiligt, weshalb diese verdäch¬ 
tige Entschuldigung, daß sie nichts fallen gehört hat und weshalb 
dieses rasche Davongehen?“ Der Geschäftsführer zuckte die Achseln 
und meinte: „Näher kenne ich sie nicht, sie ist gegenüber in der 
Glühlampenfabrik beschäftigt“. Der Jurist war ein energischer Mann, 
so leicht wollte er sich nicht bestehlen lassen, auch interessierte ihn 
der Fall von der kriminalistischen Seite. Rasch entschlossen, begab 
er sich zu dem Direktor der gegenüber befindlichen Fabrik und 


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126 


VI. Hans Reichel 


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erzählte ihm den Hergang der Sache. Der Direktor meinte: „Frei¬ 
lich ist die Sache höchst verdächtig, aber wenn man keine Beweise 
hat .... Soll ich das Mädchen entlassen?“ — „Das wohl nicht,“ 
erwiderte der Besucher; „mir genügt es, zu wissen, ob sie die 
Schuldige ist, und darüber könnte man weitere Anhaltspunkte ge¬ 
winnen, wenn Ste sie sofort rufen lassen. Wir werden sehen, wie 
sie sich benimmt.“ Der Direktor klingelte und ordnete an, daß die 
betreffende Arbeiterin in das Comptoir komme. Kaum war die Be¬ 
schuldigte erschienen und des Juristen ansichtig geworden, als sie 
totenbleich wurde, am ganzen Körper zu zittern begann und ausrief: 
„Ich hab’ nichts gefunden!“ Für den Juristen gab es nun keinen 
Zweifel mehr. Diese Angst, diese Beteuerung der Un¬ 
schuld, noch be*vor das Mädchen beschuldigt wurde, 
sprach klar für die Schuld. „Also, Sie bleiben dabei,“ sagte 
er strenge, „das 10-Kronenstück nicht genommen zu haben?“ Ein 
Tränenstrom brach aus den Augen des Mädchens: „So wahr mir 
Gott helfe, ich hab J nichts gefunden.“ Der Jurist erwiderte: „Machen 
Sie das mit Ihrem Gewissen ab,“ empfahl sich dem Direktor und 
verließ mit der Überzeugung das Comptoir, daß jeder Richter diese 
Person auf Grund des vorhandenen Indizienbeweises verurteilen würde. 
Als der Jurist die Straße betrat, kam eiligst der Vermischtwaren- 
händler auf ihn zu: „Gnä’ Herr, das Goldstückl is schon da, es war 
im Erdäpfelsack!“ Und er überreichte ihm das Geld. Augenblicklich 
ging der Jurist wieder zu dem Direktor, bat vor diesem die Arbeiterin 
mit bewegten Worten um Verzeihung und übergab ihr das Goldstück 
als Geschenk.“ 

Dieser höchst lehrreiche Vorfall zeigt auf das Deutlichste, wie 
vorsichtig man in der Verwertung nicht nur von objektiven, sondern 
auch von subjektiven Verdachtsmomenten sein muß, und welch proble¬ 
matischen Wert insbesondere das Erröten und andere Verlegenheits¬ 
symptome in der Person des Beschuldigten besitzen. Es ist psycho¬ 
logischer Dilettantismus, zu glauben, die sich kundgebende Befangen¬ 
heit und Betroffenheit sei ein eindeutiges Symptom, welches nur den 
einen Schluß zulasse, der Befangene fühle sich als Schuldiger. Die 
Befangenheit kann vielmehr ebensowohl auch darauf beruhen, daß 
der Befangene sich als Verdächtigter, und zwar unschuldig 
Verdächtigter fühlt. 

Nach alledem begrüße ich es mit Sympathie, daß nicht allein 
Juristen vom formaljuristischem (prozeßrechtlichen •), sondern auch 


1) Diese Bedenken würden sieh überwinden lassen. 


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Befangenheit als Verdachtsgrund. 


127 


Psychologen und Psychopathologen vom Standpunkte ihrer Wissen¬ 
schaft aus gegen eine kritiklose und vorschnelle Ausschlachtung der 
oben erwähnten Untersuchungsmethoden für die Zwecke des Straf¬ 
prozesses ihr Veto einlegen 1 ). 

1) Vergl. Veraguth und Freud a. a. 0. Die Begründung ist die gleiche 
wie die des Textes. Freud macht noch darauf aufmerksam, daß der Ver¬ 
dächtigte recht wohl ein schlechtes Gewissen haben kann (nämlich wegen einer 
anderen Missetat), ohne doch deswegen gerade der jetzt in Frage stehenden 
Tat schuldig zu sein (Archiv 26, 9). 


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VII. 


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Ein Gedicht in Rotwälsch 

von Hoffmann von Pallorsleben (Leipzig 1843). 

Mitgeteilt von 

Dr. Jos. B. Holsinger, Hof- und Gerichtsadvokat in Graz. 


1 . 

Funkert her, hier laßt uns hocken, 
Hol der Ganhart das Geschwenz! 
Auf dem Terich ist’s ja trocken, 

Wie am Glatthart in der Schrenz. 


2 . 

Und kein Laubfrosch soll uns merken, 
Wenn den Mackum wir beziehen. 

Kann der Billret uns erferken, 

Und der Terich sein ein Quien? 

3. 

Nerrgescherr, ihr Gleicher alle! 

Dippet was ihr habt erfetzt 
Im Polender, in der Galle, 

Alles brisst dem Erlat jetzt! 

4. 

Wie der Fluckart freut sich grandig 
Auch der Gleicher allerwärts, 

Jeder Strombart ist sein Kandig 
Und sein Windfang ist die Schwärz. 

5. 

Jeder dippe jetzt das Seine! 

Betzam, Lechem brisst herbei, 
Regenwürme groß und kleine, 

Jo die ganze Fünkelei! 


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Ein Gedicht in Rotwelsch von Hoffmann von Fallersleben. 


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6 . 

Keris her! jetzt laßt uns schwadern 
Um den Funkert in der Schwärz! 
Keris ströme durch die Adern 
Und voll Keris sei das Herz! 


Keris her! und laßt sie schlafen, 
Schreiling, Müssen, Sonz und Hauz! 
Keris her! wir wollen bafen, 

Weckt uns doch kein Holderkauz! 


W orterklärungen. 

1. Funkert, Feuer, hocken, liegen. Ganhart, Teufel. Geschwenz. Umherlaufen. 
Terich (Terra) Land, Erdboden. Glatthart, Tisch. Schrenz, Stube. 

2. Laubfrosch, Jäger. Mackum, Ort, Stelle. Billret, Baum, erferken, aus¬ 
schwatzen, verraten. Quien, Hund. 

3. Nerrgescherr! guten Abend, Gleicher, Kamerad, dippen, geben, erfetzen, 
erarbeiten, erwerben. Polender, Burg. Galle, Stadt, brissen, zutragen. 
Erlat, Meister. 

4. Fluckart, Vogel, grandig, sehr. Strombart, Wald. Kandig, Haus. Wind¬ 
fang, Mantel, die Schwärz, Nacht. 

5. Betzam, Eier. Lechen, Brot. Regenwurm, Wurst. Fünkelei, Küche. 

6. Keris, Wein, schwadern, saufen, strömen, hin- und her fahren, durchstreifen. 

7. Schreiling, junges Kind. Muße, Weib. Sonz, Sonzer Edelmann. Hauz, Bauer; 
Hauz und Hans Hache häufig Spottnamen der Bauern in Schriften des XVI. Jahrh. 
bafen, tüchtig zechen. Holderkauz, Hahn. 


Archiv für Kriminalanthropologie. 34. Bd. 


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VIII. 


Beiträge 

zum Auslieferungsrecht und Auslieferungsverfahren. 

Von 

Prof. Dr. Bosenblatt in Krakau. 


Das ausgezeichnete Werk von Lammasch über Auslieferungs- 
pflicht nnd Asylrecht (Leipzig 1887) ist zn einem Handbnch für alle 
Entscheidungen über Anslieferungsfragen geworden nnd so oft eine 
Anslieferungsfrage auftaucht, wird bei Lammasch Auskunft nnd Be¬ 
lehrung gesucht 

Seit dem Erscheinen dieses Werkes sind aber im Auslieferungs¬ 
recht so manche neue Fragen aufgetaucbt und so manche alte Fragen 
in einem anderen Lichte erschienen, daß es nicht überflüssig scheint, 
einige dieser in neuester Zeit aufgetauchten Auslieferungsfragen zu 
besprechen und den Versuch zu unternehmen, zu deren Lösung bei¬ 
zutragen. Insbesondere haben sich zufolge der allgemein bekannten 
Zustände in Rußland die Fälle, daß in Rußland strafgerichtlich ver¬ 
folgte Individuen nach Österreich (Galizien) flüchteten und daß deren 
Auslieferung von unseren Gerichten verlangt wurde, sehr stark ver¬ 
mehrt. Daraus ergab sich eine ganze Reihe von Auslieferungsfragen, 
welche bis nun entweder gar nicht oder nicht grundsätzlich entschieden 
worden sind. Die Folge dessen war eine gewisse Unsicherheit in 
der Praxis des Auslieferungsverfahrens, welche dazu führte, daß sogar 
beschlossene Auslieferungen rückgängig gemacht wurden und die 
Gerichte für ihre Entscheidungen keine sichere Grundlage mehr hatten. 

Die Fragen, in denen sich prinzipielle Meinungsverschiedenheiten 
ergaben, betreffen zum Teil das materielle Auslieferungsrecht und 
zum Teil das Auslieferungsverfahren und sind es insbesondere fol¬ 
gende, welche eine Klarstellung und Lösung erfordern. 

I. Unter welchen Voraussetzungen darf überhaupt die Auslieferung 
bewilligt werden? 

II. Welchen Einfluß hat eine Geisteskrankheit des Auszuliefernden 
auf die Auslieferung? 


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Beitrage zum Auslieferungsrecht und Auslieferungsverfahren. 


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III. Welche Voraussetzungen haben die inländischen Behörden 
(Gerichte) selbständig zu prüfen und betr. welcher sind sie an den 
Inhalt des Auslieferungsantrages resp. die Feststellungen eines Aktes 
des die Auslieferung begehrenden Staates (Haftbefehl, Anklageakt, 
Urteil) gebunden? 

IV. Staatszugehörigkeit (Nationalität) und forum delicti commisi 
im Auslieferungsrecht. 

V. Können Personen ausgeliefert werden, welche zur Zeit der 
Begehung der strafbaren Handlung Ausländer waren, zur Zeit des 
Auslieferungsbegehrens aber bereits die österreichische Staatsbürger¬ 
schaft erworben haben? 

VI. Kann im Falle der Ablehnung des Auslieferungsbegehrens 
der Beschuldigte wegen des dem Auslieferungsantrage zugrunde 
liegenden Deliktes im Inlande verfolgt werden? 

VII. Darf der Ausgelieferte im Heimatstaate (Österreich) wegen 
Verbrechen verfolgt werden, welche nicht Gegenstand der Auslieferung 
waren? 

VIII. Muß gegen den beschuldigten Ausländer, ‘der eventuell aus¬ 
geliefert werden soll, die Haft verhängt werden? 

IX. Ist das Justizministerium an den die Auslieferung ver¬ 
weigernden Beschluß des Oberlandesgerichtes gebunden oder darf 
es entgegen diesem Beschluß die Auslieferung anordnen? 

X. Ist eine Wiederaufnahme des Auslieferungsverfahrens zu¬ 
lässig; kann insbesondere die beschlossene Auslieferung nachträglich 
rückgängig gemacht werden und umgekehrt? 

Diese Fragen wollen wir nun der Reihe nach besprechen. 

ad I. Die Auslieferung ist an bestimmte Voraussetzungen und 
Bedingungen gebunden. Zu unterscheiden sind allgemeine und be¬ 
sondere Voraussetzungen der Auslieferung: 

Zu den allgemeinen Voraussetzungen der Auslieferung sind 
folgende zu zählen: 

1. Es muß vor allem ein sogenanntes Auslieferungsdelikt vor¬ 
liegen, d. i. eine strafbare Handlung, wegen welcher nach dem 
Strafgesetze oder nach den besonderen Staatsverträgen eine Auslieferung 
zulässig ist. 

Zulässig ist die Auslieferung nach § 39 des österr. StG.B. und 
im Sinne der meisten Staatsverträge nur wegen Verbrechen. Wegen 
Vergehen und Übertretungen ist die Auslieferung sowohl nach § 234 
St.G.B. wie nach den meisten Staatsverträgen ausgeschlossen. Nur 
für Ungarn, für das Deutsche Reich und für Griechenland besteht die 
Ausnahme, daß auch wegen Vergehen die Auslieferung stattzufinden 

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VIII. Rosenblatt 


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hat, worauf wir noch später zurückkommen werden. Sämtliche Aus¬ 
lieferungsverträge mit Ausnahme desjenigen mit Deutschland (Bundes¬ 
beschluß vom 26. Jänner 1854) haben ferner die Verurteilung oder 
Verfolgung wegen einer vorsätzlichen Handlung zur Voraussetzung, 
woraus sich von selbst ergibt, daß wegen fahrlässiger Handlungen 
eine Auslieferung nicht stattfindet. Nur im Schlußprotokoll des Aus¬ 
lieferungsvertrages mit Rumänien vom 27. Juni 1901 findet sich die 
Bemerkung, daß im Verhältnisse zwischen den im österreichischen 
Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern einerseits und Ru¬ 
mänien andererseits unter dem im Artikel II, Zahl 11, des Überein¬ 
kommens gebrauchten Ausdrucke „Mord“ nur die vorsätzliche Tötung 
verstanden wird, während derselbe Ausdruck im Verhältnisse zwischen 
den Ländern der ungarischen Krone und Rumänien sowohl die vor¬ 
sätzliche als auch die fahrlässige Tötung umfaßt und nach Inhalt 
des AuslieferungsVertrages mit Serbien vom 6. Mai 1881 (R.G.B. 
Nr. 90 ex 1882) hat die Auslieferung auch wegen Tötung, welche 
durch kulposes Verschulden herbeigeführt wurde, zu erfolgen. 

Es muß ferner der Ausliefernde in dem die Auslieferung ver¬ 
langenden Staate wegen eines gemeinen Deliktes verurteilt worden 
sein oder sich in Untersuchung befinden. Politische Delikte sind all¬ 
gemein von der Auslieferung ausgeschlossen. 

In dieser Beziehung schließen die einzelnen Staatsverträge die 
Auslieferung nicht nur wegen rein politischer Delikte aus, sondern 
auch wegen solcher strafbarer Handlungen, die mit politischen De¬ 
likten in Zusammenhang (Verbindung) stehen (fait connexe). Vergl. 
Art. II des früheren Vertrages mit der Schweiz vom 17. Juli 1855; 
(Art. III des gegenwärtig geltenden Vertrages mit der Schweiz vom 
10. März 1896 lautet abweichend, wovon später). Art. III des Ver¬ 
trages mit Montenegro vom 23. September 1872; Art III des Ver¬ 
trages mit Rußland vom 30. Oktober 1874; Art. VII des Vertrages 
mit Holland vom 24. November 1880; Art. III des Vertrages mit 
Belgien vom 12. Jänner 1881; Art. III des Vertrages mit Rumänien 
vom 27. Juni 1901; Art. VI. des Vertrages mit Griechenland vom 
21. Dezember 1904 usw. 

Auf die Frage der Nicbtauslieferung wegen einer politischen 
oder einer damit zusammenhängenden strafbaren Handlung wollen 
wir hier nicht eingehen. Es genügt, auf die umfangreiche Literatur 
über diese Frage zu verweisen 1 ). Es muß jedoch bemerkt werden, 

1) Über den Begriff des politischen Verbrechens im Auslieferungsrecht vgl. 
insbesondere Liszt in dessen Zeitschrift II S. 65ff., Lammasch in derselben 


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Beiträge zum Auslieferungsrecht und Auslieferungsverfahren. 133 


daß die bekannte belgische Attentatsklausel zu weitgehenden Mi߬ 
verständnissen Anlaß geben kann. 

Die meisten Auslieferungsverträge enthalten nämlich die „bel¬ 
gische Attentatsklausel“ benannte Bestimmung, daß ein gegen die 
Person des Staatsoberhauptes oder gegen die Mitglieder seiner Familie 
verübtes Attentat, wenn es den Tatbestand des Mordes, des Meuchel¬ 
mordes, der Vergiftung oder des Versuches einer dieser strafbaren 
Handlungen oder der Mitschuld daran begründet, nicht als eine poli¬ 
tische Straftat oder als eine damit zusammenhängende Handlung 
angesehen werden soll. 

Daraus ergibt sich die Folgerung a contrario, daß solche Hand¬ 
lungen, wenn sie gegen die leitenden Staatsmänner, Minister, Gouver¬ 
neure uud dergleichen, welche als Repräsentanten eines bestimmten 
Regierungssystems gelten, vorgenommen werden, wohl als politische 
resp. mit diesen zusammenhängende strafbare Handlungen anzuseben 
sind und ihretwegen die Auslieferung nicht gewährt werden soll. 

Nun kann man aber Bedenken haben, ob es gerecht ist, das 
Leben derjenigen, welche als Organe der Vollzugsgewalt die Befehle 
ihrer Vorgesetzten resp. ihres Herrschers ausführen, auszuliefern und 
sie weniger zu schützen als diejenigen, welche diese Befehle erteilen. 

Wie schwer es jedoch fällt, im konkreten Falle zu entscheiden, 
ob ein politisches resp. ein mit einem politischen konnexes Delikt 
vorliegt, welches die Auslieferung ausschließt, und wie wünschens¬ 
wert es daher wäre, zu einer Fixierung dieses Begriffes für das Aus¬ 
lieferungsrecht zu gelangen, um zu weit gehenden Konnivenzen gegen 
sogen, „politische Delikte“ vorzubeugen, wollen wir an folgendem 
Beispiel illustrieren. 

Es wurde von Rußland die Auslieferung des X. aus Österreich 
verlangt, welcher beschuldigt war: 

a) gegen eine Gendarmerie-Patrouille eine Bombe geworfen 
zu haben; 

b) einen Landwächter ermordet zu haben, um die Vornahme 
einer Personendurchsuchung zu verhindern. 

Sowohl die Ratskammer wie auch das Oberlandesgericht ent¬ 
schieden sich gegen die Auslieferung aus dem Grunde, weil es sich 
um politische Delikte handle. Begründet wurde insbesondere der Be¬ 
schluß dahin, daß die Handlungen (Werfen einer Bombe gegen eine 
Gendarmerie-Patrouille) zu politischen Zwecken verübt wurden, somit 

Zeitschrift III S. 376ff. und in oben angef. Werk; Löwenfeld ebenda V S. 46ff., 
und viele andere. 


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VIII. Rosenblatt 


als politische Verbrechen anznsehen sind, weil der Handlung des X. 
keine persönlichen, sondern nur politische Motive zugrunde lagen 
daß er aktenmäßig Mitglied einer sozialistischen Kampfesorganisation 
war und es eine bekannte Tatsache ist, daß die sozialistische Partei 
in Rußland durch ihre Kampfesorganisation Attentate auf Militär- 
Patrouillen zu politischen Zwecken verübe. 

Das Justizministerium nahm den Beschluß des Oberlandes- 
gericbtes, insoweit damit die Auslieferung des X. wegen des ihm zur 
Last gelegten Verbrechens des versuchten Mordes durch Werfen einer 
Bombe gegen eine Gendarmerie-Patrouille abgelehnt wurde (factum a), 
zur Kenntnis. Dagegen erklärte das Justizministerium, daß es Be¬ 
denken trage, den Teil des Beschlusses zur Kenntnis zu nehmen, 
womit die Auslieferung des X. wegen Verbrechens des vollbrachten 
und versuchten Mordes (factum b) ebenfalls abgelehnt wird, denn 
die für die politische Natur dieses Deliktes geltend ge¬ 
machten Gründe scheinen dem Justizministerium nicht 
stichhaltig zu sein. 

Die Gründe bestehen wesentlich im Hinweis darauf, daß X. der 
revolutionären oder der sozialistischen Partei angehörte, daß die sozia¬ 
listische Partei durch ihre Kampfesorganisation vielfach Attentate auf 
Sicherheitsorgane zu politischen Zwecken verübte und daß persön¬ 
liche Motive für die Verübung der Tat nicht Vorlagen. 

Die Zugehörigkeit zu einer radikalen Partei und die Tatsache, 
daß von dieser Partei zahlreiche verbrecherische Handlungen aus¬ 
gegangen sind, die unter gewissen Voraussetzungen als politische De¬ 
likte angesehen werden könnten, dürfte zwar eine genaue Prüfung 
notwendig machen, ob das dem X. zur Last gelegte Delikt nicht 
ebenfalls politischer Natur ist, sie wird aber kaum ausreichen, um 
den politischen Charakter dieses Deliktes als festgestellt anzunehmen. 

Hierzu kommt, daß X. die ihm zur Last gelegte Ermordung des 
Landwächters — nach den Auslieferungsbehelfen — begangen zu 
haben scheint, um die Vornahme einer Personendurchsuchung zu 
verhindern. 

War dies wirklich seine Absicht, so kann wohl kaum davon ge¬ 
sprochen werden, daß die Tat — weil zu politischen Zwecken be¬ 
gangen — als ein politisches Delikt zu behandeln sei. 

Das Justizministerium, welches über die Einhaltung der von der 
Monarchie im Auslieferungsvertrage übernommenen internationalen 
Verpflichtungen zu wachen hat, muß Wert darauf legen, daß die im 
Vertrage festgelegte Voraussetzung für die Ablehnung eines Aus¬ 
lieferungsbegehrens im Einklang mit der internationalen Übung aus- 


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Beiträge zum Auslieferungsrecht und Auslieferungsverfahren. 


185 


gelegt und daß ihr Bestand vor Ablehnung eines Auslieferungs- 
begehrens in verläßlicher Weise festgestellt werde. 

Es wird daher ersucht „obige Erwägungen in Betracht zu ziehen 
und neuerdings über das Auslieferungsbegebren Beschluß zu fassen.“ 

Nach neuerlicher Prüfung der Sache beschloß das Oberlandes- 
gericbt die Auslieferung wegen des zweiten Verbrechens b, d. i. wegen 
Ermordung des Landwächters, zu bewilligen, weil, obgleich X. zu 
einer radikalen politischen Partei gehöre, welche zu politischen Zwecken 
zahlreiche verbrecherische Handlungen verübt hat — er die ihm zur 
Last gelegte Tat lediglich deshalb begangen hatte, um einer Personen¬ 
durchsuchung zu entgehen, mithin diese Tat als ein politisches Ver¬ 
brechen nicht betrachtet werden kann. 

2. Eine weitere allgemeine Voraussetzung der Auslieferung ist 
die, daß die Handlung, wegen welcher die Auslieferung erfolgen soll, 
eine strafbare Handlung bilde und zwar sowohl nach den Gesetzen 
des die Auslieferung verlangenden, wie auch nach den Gesetzen des 
um die Auslieferung ersuchten Staates (sogen. Prinzip der iden¬ 
tischen Norm). 

Ist also die Handlung nach dem österr. Strafgesetze nicht strafbar 
dann ist die Auslieferung ausgeschlossen. 

Dies gilt nach den einzelnen Auslieferungsverträgen insbesondere 
auch dann, wenn die Handlung nach den Gesetzen des um die Aus¬ 
lieferung ersuchten Staates verjährt wäre. 

Die Schwierigkeit der Feststellung, ob eine im Auslande be¬ 
gangene strafbare Handlung nach den Gesetzen des Inlandes verjährt 
sei, ist aber namentlich dann, wenn die Voraussetzungen der Ver¬ 
jährung in den Gesetzen beider Staaten verschieden sind, keine geringe. 

So z. B. könnte die strafbare Handlung nach österr. Gesetz unter 
Umständen nur dann als verjährt angesehen werden, wenn Schaden¬ 
ersatz geleistet wurde und wäre es fraglich, ob ein erst im Laufe des 
Auslieferungsverfahrens erfolgter Schadenersatz zur Verjährung hin¬ 
reichen würde. Die Frage wäre wohl mit Rücksicht auf die bekannte 
Judikatur des Österr. Obersten Gerichtshofes in der Frage der 
Rechtzeitigkeit der Gutmachung des Schadens bei der Verjährung 
in Fällen, wo es sich um die Auslieferung eines Beschuldigten han¬ 
delt, zu bejahen. 

3. Endlich wäre als dritte allgemeine Voraussetzung der Aus¬ 
lieferung die Feststellung der Identität des Auszuliefemden (im In¬ 
lande Angehaltenen) mit dem vom Auslandsgerichte Verurteilten resp. 
Verfolgten zu nennen. 


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VIII. Rosenblatt 


Außer diesen allgemeinen Voraussetzungen enthalten aber die 
Aaslieferungsverträge besondere Bedingungen im Verhältnisse zn ein¬ 
zelnen Staaten. 

So insbesondere muß nach einigen Verträgen: 

1. Die strafbare Handlung, wegen welcher die Auslieferung 
erfolgen soll, mit einer bestimmten sch wereren Strafe bedroht sein 
und zwar wird gewöhnlich verlangt, daß dies sowohl nach den Ge¬ 
setzen des die Auslieferung verlangenden, wie nach denjenigen des 
um die Auslieferung angegangenen Staates der Fall sei. 

Man geht hier vom Grundsätze aus „praetor non curat minima“ 
und verzichtet auf die Auslieferung wegen geringfügiger Delikte. 

In dieser Beziehung wird in den vom österr. Staate geschlossenen 
Auslieferungsverträgen meistens ein gewisses Minimum der im Gesetze 
angedrohten Freiheitsstrafe verlangt; so heißt es z. B. im Vertrage 
mit Schweden und Norwegen vom 2. Juni 1868, daß die Auslieferung 
wegen der im Vertrage aufgezählten Delikte nur dann stattfindet, 
wenn diese Delikte nach dem schwedischen oder norwegischen Straf¬ 
gesetz mit einer mindestens zweijährigen schweren Freiheitsstrafe 
bestraft werden können und nach dem österr. Strafgesetz ein Ver¬ 
brechen begründen oder nach dem ungarischen mit schweren Strafen 
bedroht sind. 

In den neueren von Österreich geschlossenen Auslieferungs¬ 
verträgen, so insbesondere im Vertrage mit Rumänien vom 27. Juni 
1903 und im Vertrage mit Griechenland vom 21. Dezember 1904 
wird, namentlich wenn es sich um Vergehen handelt, verlangt, 
daß entweder eine Verurteilung des Auszuliefernden zu einer minde¬ 
stens einjährigen Freiheitsstrafe erfolgt ist oder daß das höchste Aus¬ 
maß mindestens 2 Jahre Freiheitsentziehung beträgt, sonst aber, daß 
die strafbare Handlung, wegen welcher die Auslieferung verlangt wird, 
nach der Gesetzgebung des ersuchenden und des ersuchten Staates 
eine einjährige Freiheitsstrafe oder eine schwerere nach 
sich ziehen kann. 

Es folgt daraus, daß im Verhältnis zu denjenigen Staaten, an 
welche die Auslieferung schon dann zu erfolgen hat, wenn die straf¬ 
bare Handlung mit einer einjährigen oder einer schwereren Freiheits¬ 
strafe bedroht ist, auch in denjenigen Fällen, in denen nach unserem 
Strafgesetze die strafbare Handlung nur mit Kerker von 6 Monaten 
bis zu einem Jahre bedroht ist, die Auslieferung stattfinden müßte, 
weil eben die strafbare Handlung nach unserem Gesetz auch eine 
einjährige Freiheitsstrafe nach sich ziehen kann. Nach den früheren 
Auslieferungsverträgen dagegen, so insbesondere nach dem Aus- 


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Beiträge zum Auslieferungsrecht und Auslieferungsverfahren. 


137 


lieferungsvertrage mit Kußland vom 15. Oktober 1874 findet die 
Auslieferung nur wegen solcher strafbarer Handlungen statt, welche 
nach der Gesetzgebung des die Auslieferung begehrenden uud des um 
die Auslieferung ersuchten Staates — also nach den Strafgesetzen 
beider Staaten — „eine schwerere Strafe nach sich ziehen 
können als jene des Gefängnisses in der Dauer eines 
Jahres.“ Ausgeschlossen ist somit die Auslieferung, wenn die 
angedrohte Gefängnisstrafe ein Jahr zwar erreicht, aber nicht 
übersteigt. 

In denjenigen Fällen also in welchen nach unserem Strafrecht 
nur Kerkerstrafe von 6 Monaten bis zu einem Jahre angedroht ist, 
ist die Auslieferung nach dem Vertrage mit Rußland ausgeschlossen. 

Ob in den neueren Verträgen ein Redaktionsversehen vorliegt 
oder absichtlich die Fälle, wo Auslieferung zulässig sein soll, aus¬ 
gedehnt werden wollten, was auch richtig wäre, können wir nicht 
entscheiden, jedenfalls spricht der Wortlaut des Vertrages für die 
übrigens ganz bedeutende Extension der Auslieferungsdelikte. 

Es muß schließlich noch erwähnt werden, daß in jenen Fällen, 
in welchen es sich um die Auslieferung eines rechtskräftig Verurteilten 
handelt, und die Strafe, zu welcher er verurteilt worden ist, ein Jahr 
nicht erreicht, der Einwand erhoben werden könnte, daß die erwähnte 
Bedingung, daß die strafbare Handlung eine einjährige Freiheitsstrafe 
oder eine schwerere nach sich ziehen kann, nicht mehr vorliegt, da 
der Auszuliefernde bereits rechtskräftig zu einer niedrigen z. B. ein¬ 
monatlichen Gefängnisstrafe rechtskräftig verurteilt worden ist. 

Trotzdem aber wäre unserer Ansicht nach die Auslieferung zu 
bewilligen, da für die Frage der Zulässigkeit der Auslieferung nicht 
die in concreto erkannte Strafe, sondern die in abstracto für die be¬ 
treffende strafbare Handlung im Gesetze angedrohte Strafe maßgebend, 
daher nur diese in Betracht zu ziehen ist. 

2. Es muß gegen den Verfolgten entweder ein verurteilendes Er¬ 
kenntnis vorliegen, oder es sind solche Beweise oder Verdachtsgründe 
beizubringen, worüber er sich bei seiner Vernehmung nicht auf der 
Stelle auszuweisen vermag. (§ 59 St.P.O.). 

3. Endlich darf nicht ein die Auslieferung hindernder Umstand 
vorliegen. 

Im Sinne der meisten Auslieferungsverträge ist aber insbesondere 
die Auslieferung ausgeschlossen in folgenden Fällen: 

a) Wenn der Beschuldigte, dessen Auslieferung begehrt wird, wegen 
der dem Auslieferungsbegehren zugrunde liegenden Straftat im 
ersuchten Staate bereits verurteilt wurde oder in Unter- 


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Buchung gezogen and außer Verfolgung gesetzt worden ist, so- 
feme nicht nach den Gesetzen des ersuchten Staates die Wieder¬ 
aufnahme des Strafverfahrens zulässig wäre; 

b) Wenn nach den Gesetzen des ersuchten Staates die dem Aus¬ 
lieferungsbegehren zugrunde liegende strafbare Handlung nur 
infolge einer Privatanklage oder eines Antrages der betroffenen 
Partei verfolgt werden kann, es sei denn, daß die betroffene 
Partei die Verfolgung begehrt hätte; 

c) wenn der Auszuliefernde in dem um die Auslieferung ersuchten 
Staat wegen derselben strafbaren Handlung verfolgt wird; 

d) wenn der Auszuliefernde in dem ersuchten Staate wegen einer 
anderen strafbaren Handlung als derjenigen, die den Grund 
des Auslieferungsbegehrens bildet, verfolgt wird oder verurteilt 
wurde. 

In den Fällen c und d kann die Auslieferung erfolgen, sobald 
das Hindernis behoben ist Erfolgt aber eine Einstellung oder ein 
Freispruch wegen derselben Handlung wegen mangelnden Tatbestan¬ 
des oder Schuldbeweises, so ist auch die Auslieferung ausgeschlossen. 
Einen eigentümlichen Hinderungsgrund, richtiger Ablehnungsgrund 
der verlangten Auslieferung enthält das Übereinkommen mit Rumänien 
vom 27. Juni 1901 sub ZI. 2 des Schlußprotokolles; wenn nämlich 
die Auslieferung einer Person aus Rumänien wegen eines mit der 
Todesstrafe bedrohten Verbrechens begehrt wird, bei dem es nicht 
ausgeschlossen ist, daß deshalb an dem Ausgelieferten die Todesstrafe 
vollzogen werden könnte, so steht es in dem freien Ermessen der 
rumänischen Regierung die Auslieferung abzulehnen. 

Zu erwähnen bleibt schließlich, daß nach Art. 6 des Auslieferungs¬ 
vertrages mit Griechenland vom 21. Dezember 1904 die Auslieferung 
nicht bewilligt werden soll, wenn der Auszuliefernde nachweist, daß 
das Auslieferungsbegehren tatsächlich zum Zwecke seiner Verfolgung 
wegen eines politischen Deliktes oder einer mit einem solchen Delikte 
zusammenhängenden Handlung gestellt wurde. 

In manchen Auslieferungsverträgen wird auch noch erwähnt, 
daß wenn der Auszuliefernde durch die Auslieferung verhindert wird, 
seine Verbindlichkeiten gegen Privatpersonen zu erfüllen, dies die 
Auslieferung nicht hindert. Nach einigen früheren Auslieferungs¬ 
verträgen hat nämlich ein Schuldenarrest des Verfolgten dessen Aus¬ 
lieferung gehindert. 

ad II. Zu erörtern ist insbesondere die Frage, ob eine 
im Laufe des Auslieferungsverfahrens ausgebrochene 
Krankheit des Auszuliefernden insbesondere eineGeistes- 


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Beiträge zum Auslieferuugsrecht und Auslieferungsverfahren. 139 

krankheit die Auslieferung hindert resp. welchen Ein¬ 
fluß sie auf die Auslieferung übt. 

Daß eine physische Krankheit, welche den Auszuliefernden trans¬ 
portunfähig macht resp. der Gefahr einer Verschlimmerung seines 
Zustandes zu Folge des mit der Auslieferung verbundenen Trans¬ 
portes aussetzen würde, den Vollzug der Auslieferung hindert, so¬ 
lange dieser Zustand dauert, dürfte nicht bestritten werden. Nicht so 
ganz unzweifelhaft ist die Frage, wenn es sich um eine Geisteskrank¬ 
heit handelt. 

In einem uns vorliegenden Falle ergaben sich vor dem Vollzug 
einer bereits vom Justizministerium bewilligten Auslieferung gegründete 
Zweifel, ob der Auszuliefernde nicht an einer Geisteskrankheit leide 
und transportunfähig sei. Es wurde daher die Prüfung seines Geistes¬ 
zustandes durch zwei Gerichtspsychiater angeordnet. Das von diesen 
erstattete Gutachten lautete dahin, daß sich bei dem Auszuliefemden 
allem Anscheine noch eine Geisteskrankheit entwickelt habe und es 
daher geboten sei, mit dem Vollzüge der Auslieferung inne zu halten, 
weil solche Individuen während des Transportes Selbstmord verüben 
können, welchem auch die strengste Beaufsichtigung vorzubeugen 
nicht in der Lage ist; es sei daher vor endgültigem Gutachten eine 
weitere Beobachtung des Auszuliefernden erforderlich. 

Trotzdem entschied die Ratskammer, daß die Auslieferung zu 
vollziehen sei, weil sie es als nicht erwiesen erachtete, daß der Aus¬ 
zuliefernde wirklich geisteskrank sei, die Feststellung seines Geistes¬ 
zustandes aber Sache der Behörden desjenigen Staates sei, welcher 
die Auslieferung verlangt habe. 

Das Oberlandesgericht teilte diese Ansicht nicht; es meinte daß 
die Auslieferung ein strafprozessualer Akt sei, welcher wie jeder an¬ 
dere Akt dieser Art gegen einen Geisteskranken nicht vorgenommen 
werden könne. 

Die Ansicht des Oberlandesgerichtes scheint uns nicht unrichtig 
zu sein. — 

Bekanntlich wird in der Literatur darüber gestritten, ob die Aus¬ 
lieferung nur ein Akt der Rechtshilfe oder auch gleichzeitig ein Akt 
der Rechtspflege des ausliefernden Staates sei. 

Die erste Ansicht vertreten hauptsächlich v. Liszt, Finger und 
Martitz; die zweite Lammasch, welcher meint, daß die Auslieferung 
stets eine Konkurrenz von Strafansprüchen zweier Staaten gegen ein Indi¬ 
viduum wegen derselben Tat voraussetzt (Prinzip der identischen Norm). 

Ich teile diese letztere Ansicht nicht, ebensowenig wie ich mich für das 
Prinzip der Weltstrafrechtspflege erwärmen kann, dessen Unhaltbarkeit 


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VIII. Kosen bi.att 


schon Rohland in seinem internationalen Strafrecht (1877 S. 7 u. ff.) 
nachgewiesen hat, indem er es als einen idealen Irrtum, aber den¬ 
noch als einen Irrtum bingestellt hat 1 ). 

Jedenfalls darf aber gegen einen Geisteskranken weder ein Akt 
der Rechtspflege, noch ein Akt der Rechtshilfe vollzogen werden, da 
er der Möglichkeit beraubt ist, sich dagegen zu wehren. 

Bei der Beurteilung des Einflusses einer Geisteskrankheit des 
Auszuliefernden auf die Auslieferung ist offenbar zu unterscheiden, 
ob behauptet wird, daß die Geisteskrankheit bereits zur Zeit, wo die 
inkriminierte Handlung begangen worden iBt, vorlag, oder daß sie erst 
im Laufe des Auslieferungsverfahrens eingetreten ist. 

Wird das erstere behauptet, so muß diese Behauptung, selbst 
wenn sie erst nach bereits bewilligter Auslieferung erhoben worden 
wäre, geprüft werden, da in einem solchen Falle die Auslieferung 
unzulässig wäre. Eine der wesentlichen Voraussetzungen der Aus¬ 
lieferung ist nämlich die Vorsätzlichkeit der begangenen Handlung, 
denn Gegenstand der Auslieferung sind nach der ausdrücklichen Be¬ 
stimmung der meisten von Österreich geschlossenen Auslieferungs¬ 
verträge nur vorsätzliche strafbare Handlungen; falls also in Frage 
steht, ob die dem Auszuliefernden zur Last gelegte Handlung als eine 
vorsätzliche strafbare Handlung angesehen werden kann, so muß dies 
von unseren Gerichten vor Erledigung des Auslieferungsbegehrens er¬ 
hoben und festgestellt werden 2 ). 

Zweifelhafter ist die Frage dann, wenn die behauptete Geistes¬ 
krankheit erst später eingetreten wäre. Ein Grund zur Ablehnung 
des sonst begründeten Auslieferungsbegehrens würde zwar in solchen 
Fällen nicht gegeben sein, jedoch müßte wohl der Vollzug der Aus¬ 
lieferung für die Zeit der Geisteskrankheit sistiert werden, ähnlich 
wie der Vollzug von Freiheitsstrafen gegen Geisteskranke bis zur Be¬ 
hebung der Krankheit gehemmt erscheint. Ausgeliefert werden Verbre¬ 
cher, nicht aber Geisteskranke. Auch ist in Erwägung zu ziehen, daß dem 
Auszuliefernden doch nach dem Gesetze (§ 59 Öst. StiP.O.) die Mög¬ 
lichkeit gewährt werden muß, nachzuweisen, daß seine Auslieferung 

1) Gegen das Weltrechtsprinzip auch Liszt und Finger. Letzterer sieht 
darin eine ihrem Kerne nach ungesunde Idee (Compend. des österr. Strafrechts I 
S. 91. Anders Harburger: zwei Grundfragen des sog. internat. Strafr. in der 
Zeitschrift v. Liszt XX S. 588ff. Vgl. ferner Hegler: Prinzipien des internat. 
Strafr., 1906 S. 84ff., und Bar: Gesetz und Schuld im Strafrecht I, das Straf¬ 
gesetz, 1906 S. 125 u. ff. 

2) Anders nach den vom Deutschen Reich geschlossenen Auslieferungs¬ 
verträgen. (Vgl. Dr. Cohn: Die Auslieferungsverträge des Deutschen Reiches, 
1908 S. 19. 


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Beiträge zum Auslieferungsrecht und Auslieferungsverfahren. 


141 


unzulässig sei, ein Geisteskranker ist aber nicht in der Lage von 
seinem Rechte den richtigen Gebrauch zu machen und deshalb ist es 
auch zutreffend wenn das Oberlandesgericht in dem oben darge¬ 
stellten Falle erklärt hat, daß gegen Geisteskranke kein strafprozessualer 
Akt somit auch die Auslieferung nicht vollzogen werden darf. 

ad III. Es reicht nicht hin, die Voraussetzungen der Auslieferung 
festzustellen; es drängt sich noch die weitere Frage auf, ob die in¬ 
ländischen Behörden resp. die Gerichte, welche über das vom Aus¬ 
lande gestellte Auslieferungsbegehren Beschluß zu fassen haben, 
sämtliche Voraussetzungen der Auslieferung selbständig zu prüfen be¬ 
rechtigt oder aber — und in welcher Richtung — sie an den Inhalt 
des Auslieferungsbegehrens gebunden sind? 

Treffend sagt Lammasch (Auslieferungspflicht und Asylrecbt 
S. 513), daß die Aufstellung dieser Bedingungen nur dann Wert habe, 
wenn der um die Auslieferung ersuchte Staat berechtigt ist, selbst 
deren Vorhandensein zu prüfen iund nicht etwa genötigt ist, sie auf 
Grund ihrer bloßen Behauptung von Seite des requirierenden Staates 
anzunehmen. 

Es würde sich insbesondere darum bandeln: 

a) Ob die Qualifikation der strafbaren Handlung seitens der Be¬ 
hörden des die Auslieferung verlangenden Staates für unsere 
Gerichte maßgebend ist; 

b) ob unsere Gerichte berechtigt sind, die Schuldfrage zu über¬ 
prüfen und unabhängig vom Inhalte des Auslieferungsbegehrens 
festzustellen, ob der Auszuliefernde hinreichend verdächtig ist, 
die strafbare Handlung begangen oder an ihr teilgenommen 
zu haben. 

ad a). Hier ist vor allem zu unterscheiden, ob es sich um die 
Auslieferung eines bereits rechtskräftig Verurteilten oder eines Be¬ 
schuldigten handelt. 

* ’ Im ersteren Falle müßte wohl die durch ein rechtskräftiges Urteil 
des fremden Staates festgestellte Qualifikation der strafbaren Handlung 
auch für unsere Gerichte maßgebend sein und es wäre wohl nicht 
zulässig im Falle, wenn z. B. die Auslieferung auf Grund eines rechts¬ 
kräftigen Urteiles verlangt wird, mit welchem der Auszuliefernde eines 
Auslieferungsdeliktes schuldig erkannt worden ist, zu behaupten, daß 
das Verbrechen nicht unter die im Vertrage aufgezählten Delikte zu 
subsumieren sei und daher die Auslieferung verweigert werde. 

Der Auszuliefernde ist in diesen Fällen hinreichend dadurch ge¬ 
schützt, daß ihm gegen das Urteil nach den Gesetzen seines Heimats¬ 
landes die entsprechenden Rechtsmittel zur Verfügung standen. Nur 


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142 


VIII. Rosenblatt 


wenn der Anszuliefernde behaupten würde, daß in Wirklichkeit kein 
gemeines, sondern ein politisches (absichtlich verdecktes) Delikt vor¬ 
liege, müßte man unseren Gerichten das Recht der Überprüfung auch 
des rechtskräftigen ausländischen Urteiles zuerkennen. 

Anders liegt die Sache, wenn ein Urteil des fremden Gerichtes 
noch gar nicht vorliegt. Hier sind die über die Auslieferung ent¬ 
scheidenden Behörden berufen selbständig zu untersuchen, ob die 
strafbare Handlung, wegen welcher der Auszuliefernde verfolgt wird, 
ein Auslieferungsdelikt bildet, oder nicht Es werden daher insbe¬ 
sondere die Beweise, welche der Auszuliefernde in dieser Richtung 
anbietet, durchzuführen sein und auf Grund des Ergebnisses der 
letzteren wird das inländische Gericht die Qualifikation der in Rede 
stehenden Handlung selbständig festzustellen befugt sein. 

ad b). Auch über die Schuldfrage haben die um die Auslieferung 
angegangenen Gerichte selbständig zu entscheiden, denn § 59 Österr. 
St.P.O. verlangt, daß von der die Auslieferung verlangenden Behörde 
sogleich oder in einem angemessenen Zeiträume solche Beweise oder 
Verdachtsgrüude beigebracht werden, worüber sich der Beschuldigte 
bei seiner Vernehmung nicht auf der Stelle auszuweisen vermag. Dies 
hat aber selbstverständlich das um die Auslieferung angesucbte Gericht 
zu untersuchen und festzustellen. Wenn also z. B. der Verfolgte sein 
Alibi behauptet und darüber den Beweis durch Zeugen führt, welche 
sogleich einvernommen werden können, so hat das inländische Gericht 
diesen Beweis durchzuführen und sohin festzustellen, ob der Alibi- 
Beweis als erbracht anzusehen sei oder nicht. 

Selbstverständlich wird das Gericht nicht voreilig zu Werke gehen, 
sondern erforderlichen Falls von der die Auslieferung verlangenden 
Behörde im Sinne der angeführten Vorschrift des § 59 St.P.O. vor 
der Beschlußfassung die Beibringung weiterer Beweise verlangen. 

Natürlich werden unsere Gerichte nicht den ganzen Strafprozeß 
durchführen und in alle Einzelheiten eingehen; nur wenn der Aus¬ 
zuliefernde durch sofort durchführbare (liquide) Beweise dar¬ 
zutun vermag, daß kein strafbarer Tatbestand vorliegt, oder daß er 
überhaupt die Tat nicht begangen haben konnte, kann in die Prüfung 
dieser Frage eingegangen und darnach der Beschluß gefaßt werden. 

Die Auslieferungsverträge befassen sich mit diesen Fragen in der 
Regel nicht 

Nur der Vertrag mit Griechenland vom 21. Dezember 1904 ent¬ 
hält im Art. 8 die allgemeine Bestimmung, daß die Bewilligung der 
Auslieferung nach den Gesetzen des ersuchten Staates er¬ 
folgt, und der Vertrag mit Rußland vom 15. Oktober 1874 bestimmt 


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Beiträge zum Auslieferungsrecht und Auslieferungsverfahren. 143 

im Art XVIII, daß durch den Vertrag und innerhalb seiner Bestim¬ 
mungen, die in den beiden Staaten bestehenden, den weiteren Ge¬ 
schäftsgang bei der Auslieferung regelnden Gesetze wechselseitig an¬ 
erkannt werden, womit eigentlich die Vorschrift des § 59 StP.O. für 
das Verhältnis zu Rußland jedenfalls in Kraft erhalten ist 

Da es aber in den meisten Verträgen heißt, daß die Auslieferung 
nur wegen solcher strafbarer Handlungen stattfindet welche nach der 
Gesetzgebung des die Auslieferung begehrenden sowie des um die 
Auslieferung ersuchten Staates mit einer bestimmten Strafe bedroht 
sind, und überdies die Delikte, wegen welcher Auslieferung gewährt 
wird, aufgezählt werden, so ergibt sich hieraus von selbst daß unsere 
Gerichte selbständig zu prüfen haben, ob der Tatbestand einer der 
im Auslieferungsvertrage aufgezählten strafbaren Handlungen vorliegt 
und mit der bestimmten Minimalstrafe bedroht ist. 

Auch kann die obenerwähnte Bestimmung des § 59 StP.O. nicht 
als durch die Auslieferungsverträge aufgehoben angesehen werden, 
wie dies Lammasch a. a. 0. ausführlich nachweist. 

Eine noch weiter gehende Bestimmung enthält der Ausliefernngs- 
vertrag mit der Schweiz vom 10. März 1896. Es heißt in seinem 
Artikel III: „Wegen politischer strafbarer Handlungen wird die Aus¬ 
lieferung nicht bewilligt Die Auslieferung wird indessen bewilligt, 
obgleich der Täter einen politischen Beweggrund oder Zweck vor¬ 
schützt, wenn die Handlung, um deren Willen die Auslieferung ver¬ 
langt wird, vorwiegend den Charakter eines gemeinen Verbrechens 
oder Vergehens hat Der um die Auslieferung ersuchte Staat 
entscheidet im einzelnen Falle nach freiem Ermessen über 
die Natur der strafbaren Handlung auf Grund des Tat¬ 
bestandes.“ 

Hier wird also den Gerichten des um die Auslieferung ersuchten 
Staates ausdrücklich das Recht Vorbehalten, über die Natur der straf¬ 
baren Handlung nach eigenem freien Ermessen zu entscheiden. 

ad IV. Staatszugehörigkeit (Nationalität) und forum 
delicti commissi im Auslieferungsrecht. 

Nicht ansgeliefert werden eigene (österreichische) Staatsangehörige, 
wobei nicht der Zeitpunkt, in welchem die strafbare Handlung be¬ 
gangen worden ist, entscheidet, sondern der Zeitpunkt in welchem 
über das Auslieferungsbegehren entschieden werden soll, zu welcher 
Frage wir noch später zurückkommen werden'). 

1) Dasselbe gilt nach den vom Deutschen Reiche geschlossenen Aus¬ 
lieferungsverträgen. (Vgl. Cohn: Auslieferungsverträge des Deutschen Reiches, 
1908 S. 28). 


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144 


VIII. Rosenblatt 


Nicht ausgeliefert werden ferner fremde Staatsangehörige wegen 
strafbarer Handlungen, welche sie im Inlande begangen haben und zwar 
gemäß des Territorialprinzipes, nach welchem sie im Inlande bestraft 
werden. 

Nicht ausgeliefert werden sodann Ausländer, welche sich im Aus¬ 
lande eines der im § 38 St.G.B. genannten Verbrechen zu Schulden 
kommen ließen, z. B. österreichische Kreditpapiere im Auslande gefälscht 
haben und sodann bei uns ergriffen worden sind, denn diese werden 
von unseren Gerichten nach unserem Strafgesetz verfolgt und bestraft. 

Nicht ausgeliefert werden endlich fremde Staatsangehörige, 
welche in einem fremden Staate sich einer im zweiten Teile des 
Strafgesetzes vorgesehenen strafbaren Handlung (Vergehen oder Über¬ 
tretung) schuldig gemacht haben, weil solche Delinquenten nach § 234 
Abs. 2 Str.G.B. weder an das Ausland auszuliefern noch im Inlande 
zu bestrafen sind. 

Eine Ausnahme besteht nach Art. I des Bundesbeschlusses vom 
26. Jänner 1854 (kundgemacht mit Erlaß des Ministr. d. a. A. vom 
5. April 1854 Rgbl. Nr. 76) im Verhältnis zum Deutschen Reiche, 
da sich die Bundesstaaten verpflichtet haben gegenseitig Individuen, 
welche wegen Verbrechen oder Vergehen von einem Gerichte des¬ 
jenigen Staates, in welchem oder gegen welchen das Verbrechen oder 
Vergehen begangen worden, verurteilt oder in Anklagestand versetzt 
sind, oder gegen die ein gerichtlicher Verbaftsbefehl dort erlassen ist, 
diesem Staate auszuliefern. 

Eine weitere Ausnahme besteht im Verhältnis zu Ungarn, an 
welches im Grunde der Reziprozität laut Erlaß des Justizministeriums 
vom 26. Mai 1875 S. 6742 sowohl wegen Verbrechen als wegen Ver¬ 
gehen Verfolgte ausgeliefert werden, und nur Übertretungen ausge¬ 
schlossen sind. 

Endlich sollen gemäß der Bestimmung des Art. 2 des Auslieferungs¬ 
vertrages mit Griechenland vom 21. Dezember 1904 auch wegen Ver¬ 
gehen Beschuldigte ausgeliefert werden, wenn es sich um eine im 
Art. 2 des erwähnten Vertrages angeführte strafbare Tat handelt und 
wenn die erkannte oder angedrohte Strafe das dort festgesetzte Mindest¬ 
maß erreicht. 

Es könnte hier die Frage aufgeworfen werden, ob diese Bestim¬ 
mung des erwähnten Übereinkommens, welche auch bei Verfolgung 
wegen Vergehens die Auslieferung zuläßt, gültig ist angesichts der 
kategorischen Bestimmung des § 234 Abs. 2 St.G.B., welcher die 
Auslieferung wegen Vergehens ausschließt, denn ein Staatsvertrag 
welcher von den gesetzgebenden Körperschaften nicht bestätigt ist, 


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Beiträge zum Auslieferungsrecht und Auslieferungsverfahren. 


145 


kann ein Gesetz nicht derogieren (Vgl. Lammasch S. 85 bis 87) 
und die Ausführungen der Generalprokuratur zur Kassationsentschei¬ 
dung vom 8. März 1897 Z. 659 N. 2095 der Samml. sowie die 
Gründe dieser Entscheidung, welche wir noch später sub VII be¬ 
sprechen wollen). 

Jedoch ist diese Frage insoferne irrelevant, als die im Art. 2 
des Übereinkommens mit Griechenland aufgezählten strafbaren Hand¬ 
lungen, wenn sie auch nach dem in Griechenland gültigem Straf¬ 
recht Vergehen bilden, im Sinne unseres Strafgesetzbuches stets als 
Verbrechen qualifiziert werden müßten, die Bestimmung des § 234 
Abs. 2, welche die im zweiten Teile des Strafgesetzes aufgezäblten 
strafbaren Handlungen zur Voraussetzung hat, somit keine Anwendung 
finden würde. 

Die weitere Frage welche hier zu besprechen ist, geht dahin, an 
welchen Staat der Verfolgte auszuliefern sei, falls mehrere Staaten 
die Auslieferung verlangen, also konkurrierende Auslieferungsanträge 
vorliegen. 

Es kann der Beschuldigte, der in einem fremden Staate ein Aus¬ 
lieferungsdelikt begangen hat, und in Österreich ergriffen wird, in¬ 
soferne die Ausnahme des § 38 St.G.B. nicht eintritt, ausgeliefert 
werden: 

1. an denjenigen Staat, wo er das Verbrechen begangen hat oder 

2. an denjenigen seiner Staatszugehörigkeit; 

3. oder endlich an denjenigen Staat, von dessen Gerichten er 
verurteilt worden ist und verfolgt wird. 

Der Fall 3 wird sich gewöhnlich entweder mit dem Fall 1 oder 
mit dem Fall 2 decken, d. h. es werden entweder die Gerichte des 
Ortes, wo der Beschuldigte die strafbare Handlung begangen hat, 
seine Verfolgung einleiten und seine Auslieferung verlangen, oder es 
werden dies die Gerichte seines Heimatsstaates tun, wo er gewohnt 
hat und zuständig ist. 

Es kann aber auch der Fall Vorkommen, daß ein Verbrecher 
von den Gerichten eines Staates verfolgt wird, ja auch verurteilt 
worden ist, wo er weder das Verbrechen begangen hat, noch auch 
als Staatsbürger zuständig ist; nehmen wir z. B. an, daß ein russi¬ 
scher Staatsangehöriger in Deutschland österreichische Kreditpapiere 
fälscht, bei uns ergriffen und nach § 38 StG.B. von unseren Gerichten 
verurteilt wird, vor Vollzug des Urteiles aber in das Gebiet eines 
Staates entweicht, mit welchem wir einen Auslieferungsvertrag abge¬ 
schlossen haben. Steht den österreichischen Gerichten das Recht zu, 
seine Auslieferung zu verlangen und umgekehrt? 

Archiv für Kriminalanthropologie. 84. Bd. 10 


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VIII. Rosenblatt 


In den von Österreich geschlossenen Anslieferungsverträgen 
herrscht nun in dieser Beziehung eine große Verschiedenheit, welche 
leicht zn allen möglichen Kollisionen führen kann. Insbesondere 
lassen sich diesbezüglich die Staatsverträge in folgende Gruppen 
einteilen: 

a) Der Auslieferungsvertrag mit Frankreich vom 13. November 
1855 (R.G.B. Nr. 12 ex 1856) — durch den Additionalvertrag vom 
12. Februar 1869 nicht abgeändert; ferner der frühere Vertrag mit 
der Schweiz vom 17. Juli 1855 (aufgehoben dnrch den gegenwärtig 
geltenden vom 10. März 1896), sodann der Vertrag mit Spanien vom 
17. April 1861, der Vertrag mit Schweden und Norwegen vom 2. Juni 
1868 und einige andere bestimmen, daß auszuliefern sind Individuen, 
welche von den zuständigen Gerichten des einen Vertragsteiles in 
Untersuchung gezogen oder verurteilt in das Gebiet des anderen 
Teiles geflüchtet sind. Die Auslieferung erfolgt sohin an den Staat, 
dessen Gerichte den Auszuliefernden verfolgen, ohne Unterscheidung, 
ob er dort das Verbrechen begangen hat oder als Staatsbürger zu¬ 
gehörig ist, sobald diese Gerichte zuständig sind. 

Wenn jedoch der Verfolgte kein Untertan des ersuchtep Staates 
ist, so kann die Auslieferung verschoben werden bis die Regierung 
seines Heimatsstaates in die Lage gesetzt wird, die Beweggründe 
bekannt zu geben, welche sie dieser Auslieferung entgegen stellen 
könnte. Der um die Auslieferung angegangenen Regierung steht es 
dann zu, die Auslieferung zu verweigern oder das reklamierte Indi¬ 
viduum entweder an die Regierung seines Heimatsstaates oder des 
Landes, wo das Verbrechen begangen wurde, auszuliefern. 

b) Im Verhältnis zu Deutschland wird der Beschuldigte nur dann 
ausgeliefert, wenn er von einem Gerichte der Vertragsstaaten wegen 
eines Deliktes, welches er im Staate, welcher die Auslieferung ver¬ 
langt, oder gegen diesen Staat begangen bat, verurteilt oder in 
Anklagezustand versetzt ist. 

c) Nach den Verträgen mit den Vereinigten Staaten von Nord¬ 
amerika vom 3. Juli 1856, mit England vom 3. Dezember 1873 und 
Montenegro vom 23. September 1872 erfolgt die Auslieferung von 
Personen, welche wegen einer auf dem Gebiete des einen Teiles 
begangenen strafbaren Handlung beschuldigt oder verurteilt Sind. 
Das Recht, die Auslieferung zu verlangen, steht somit nur dem Staate 
des delicti commissi zn. 

d) Nach dem Vertrage mit der Schweiz vom 10. März 1906 und 
mit Rumänien vom 27. Juni 1901 werden wie in den Fällen ad a 
diejenigen ausgeliefert, welche von den Gerichtsbehörden des anderen 


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Beiträge zum Ausliefenrngsrecht und Auslieferungsverfahren. 


147 


Vertragsstaates verfolgt werden oder verurteilt worden sind. Die 
Staatszugehörigkeit spielt keine Bolle (mit Ausnahme der eigenen 
Staatsangehörigen); dagegen soll die Auslieferung, falls die strafbare 
Handlung, auf die sich das Auslieferungsbegehren gründet, in einem 
dritten Staate begangen wurde, nur dann erfolgen, wenn die Gesetz¬ 
gebungen des ersuchenden und des ersuchten Staates die Verfolgung 
solcher Handlungen, mögen sie auch im Auslande verübt worden 
sein, gestatten, und wenn der Täter weder nach den Gesetzen des 
ersuchten Staates vor dessen Gerichte zu stellen, noch der Regierung 
jenes Staates, wo die strafbare Handlung begangen wurde, zufolge 
der zwischen diesem und dem ersuchten Staate geschlossenen Ver¬ 
träge auszuliefern ist. 

Der Staat des delicti commissi hat also den Vorzug im Falle 
konkurrierender Auslieferungsbegehren. 

e) Nach dem Auslieferungsvertrag mit Griechenland vom 28. De¬ 
zember 1904 werden diejenigen ausgeliefert, welche wegen eines auf 
dem Gebiete des ersuchenden Staates begangenen Deliktes verfolgt 
werden oder verurteilt sind, jedoch mit der Modifikation, daß wenn 
der Beschuldigte oder Verurteilte nicht Staatsangehöriger eines der 
vertragschließenden Teile ist, es der Regierung, an welche das Aus¬ 
lieferungsbegehren gerichtet wurde, freisteht, diesem Begehren nach 
ihrem Ermessen stattzugeben und den Beschuldigten zum Zwecke 
der Verurteilung entweder in sein Heimatsland oder an das Land, wo 
das Verbrechen oder Vergehen verübt wurde, zu überstellen. 

Es entscheidet also im Verhältnis zu Griechenland das Ermessen 
der um die Auslieferung angesuchten Regierung, ob sie den Ver¬ 
folgten an den Staat des delicti commissi oder an den Heimatsstaat 
ausliefern will. 

Bei konkurrierenden Auslieferungsbegehren mehrerer Staaten 
wegen verschiedener Delikte entscheidet die Schwere der Tat, 
wegen welcher der Auszuliefernde verfolgt wird. 

Daß sich aus diesen so verschiedenartigen Bestimmungen Kolli- 
tionen ergeben können, bedarf keines Beweises und spricht dies nur 
dafür, daß ein einheitliches Auslieferungsgesetz, welches die deutsche 
Landesgruppe der I. K. V. als für Deutschland notwendig zu erklären 
beschlossen hat (vgl. auch Mendelssohn-Bartholdy über das 
räuml. Herrschaftsgebiet des St.G. in der vergleichenden Darstellung 
V. S. 310ff.) auch für Österreich dringend erwünscht ist. 

ad V. Das Strafgesetzbuch bestimmt im § 36, daß wegen Ver¬ 
brechen, die ein Untertan des österr. Kaisertums im Auslande be¬ 
gangen hat, die Auslieferung an einen fremden Staat nicht erfolgen darf. 

io* 


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VIII. Rosenblatt 


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Lammasch (S. 406) meint, daß diese Bestimmung die Aus¬ 
lieferung von naturalisierten Untertanen wegen Verbrechen, welche 
sie vor der Naturalisierung im Auslande verübt haben, nicht bindert, 
da § 36 nur für diejenigen gilt, welche als Untertanen des österr. 
Kaisertums im Auslande eine strafbare Handlung begangen haben. 
Gleichzeitig konstatiert aber Lammascb, daß die österr. Regierung 
es wiederholt abgelehnt hat, sich zur Auslieferung wegen der vor der 
Naturalisierung verübten Verbrechen zu verpflichten. Im Grundriß 
des österr. Strafr. § 6 gibt Lammasch zu, daß auch derjenige, der 
erst nach der Tat Österreicher wurde, nicht ausgeliefert werden könne. 

In den Staatsverträgen heißt es immer, „die vertragschließenden 
Teile verpflichten sich, jene Personen mit Ausnahme der eigenen 
Staatsangehörigen, sich gegenseitig auszuliefern usw.“ 

Es ist also die Auslieferungspflicht bezüglich eigener Staats¬ 
angehörigen unbedingt ausgeschlossen ohne Unterscheidung, ob sie 
zur Zeit der Tat bereits österr. Untertanen waren oder es erst später 
geworden sind. 

In diesem Sinne hat auch der Oberste Gerichtshof mit Urteil 
vom 23. Februar 1903 ZI. 17186 (Nr. 2824 der Sammlung) in einem 
Falle entschieden, in welchem eine russische Staatsbürgerin, welche 
in Rußland wegen eines dort begangenen schweren Verbrechens ver¬ 
urteilt worden ist, nach Österreich flüchtete und hier durch die Heirat 
mit einem österr. Staatsbürger (welche übrigens, wie dies das hier 
durchgeführte Strafverfahren ergeben hat, nur eine Scheinheirat 
ad hoc war, um der Auslieferung zu entgehen) die österr. Staats¬ 
bürgerschaft erworben hat. 

Der oberste Gerichtshof begründet seine Entscheidung wie folgt. 
„Der Grundsatz, daß ein Inländer zur Bestrafung wegen des im Aus¬ 
lande verübten Verbrechens dahin nicht abgegeben werden darf, ist 
nicht nur in der eine Ausnahme nicht statuierenden Bestimmung des 
§ 36 St.G. ausgesprochen, er findet sich auch in den Staatsverträgen 
wegen Auslieferung von Verbrechern und ist insbesondere auch im 
Artikel III des Staatsvertrages mit Rußland wiedergegeben, ohne daß 
dabei unterschieden wird, ob das Staatsbürgerrecht des Inlandes vor 
oder nach der im Auslande verübten Tat erworben worden sei Es 
bestand daher kein Anlaß, die Auslieferung der Angeklagten anzu¬ 
bieten, und war dieselbe gemäß § 36 St.G. lediglich nach dem österr. 
Strafgesetze zu behandeln. Eine andere Auffassung dieser Gesetzes¬ 
bestimmung würde nur zur unrichtigen Folgerung führen, daß ent¬ 
weder die Täterin straflos bliebe, was dem allgemeinen Grundsätze, 
daß jedes Verbrechen bestraft und gesühnt werden muß, wider- 


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Beiträge zum Auslieferungsrecht und Ausliefcrungsverfahren. 


149 


sprechen würde, oder daß die Angeklagte ausgeliefert werden müßte, 
was, wie dargetan wurde, dem Grundsätze des § 36 StG. zuwider¬ 
läuft Mit Recht wurde daher die Angeklagte wegen des ihr zur 
Last gelegten Verbrechens nach dem österr. Strafgesetze verfolgt.“ 

Es kann somit als feststehender Grundsatz angesehen werden, 
daß auch solche Verbrecher, welche zur Zeit, wo sie die strafbare 
Handlung im Auslande begangen haben, Ausländer waren, sodann 
aber in Österreich die österr. Staatsbürgerschaft erlangt haben, nicht 
ausgeliefert werden dürfen. 

Ob aber an diesem Grundsatz de lege ferenda festzuhalten ist, 
wäre jedenfalls noch zu überlegen. Die 10. These der Oxforder 
Beschlüsse des Instituts für Völkerrecht, wonach wenigstens im Falle 
der Erwerbung der inländ. Staatsbürgerschaft nach Begehung des 
Verbrechens im Auslande diese der Auslieferung nicht entgegen¬ 
stehen sollte, hat vieles für sich; sie würde die Zweifel gegen die 
Zulässigkeit der Bestrafung im Inlande beheben und zugleich die 
Bestrafung der flüchtigen Verbrecher sichern. 

ad VI. Nun entsteht aber die weitere Frage: was hat 
mit denjenigen Verbrechern zu geschehen, welche nicht 
ausgeliefert werden? Sind sie im Inlande zu verfolgen oder 
bleiben sie straflos? Es kann diese Frage in verschiedenen Fällen 
Vorkommen und zwar: 

1. Die Auslieferung darf wie ad III besprochen nicht erfolgen, 
weil der vom Ausland Verfolgte inzwischen die österreichische Staats¬ 
bürgerschaft erworben hat. 

2. Die Auslieferung an das Ausland wird verweigert, weil das 
Delikt, wegen dessen die Auslieferung verlangt wird, im Sinne des 
bezügl. Staatsvertrages nicht zu denjenigen strafbaren Handlungen 
gehört, wegen welcher die Auslieferungspflicht besteht 

3. Die Auslieferung wird gar nicht verlangt resp. nicht an¬ 
genommen. 

Im Falle 1 erfolgt, wie der Kassalionshof in der oben angeführten 
Entscheidung erkannt hat, die Bestrafung gemäß § 36 St.G., wenn 
es sich um gemeine Verbrecher handelt, nach österreichischem 
Recht, jedoch mit Berücksichtigung des Gesetzes des Tatortes, insofern 
es milder ist 

Nicht ganz zutreffend ist es, wenn der Kassationshof in der oben 
angeführten Entscheidung vom 23. Februar 1903 bemerkt, „bei dieser 
Auffassung muß von der Berücksichtigung des russischen Straf¬ 
gesetzes ganz abgesehen werden und entfällt hienach die Voraus¬ 
setzung für die Anwendung des § 40 St.G.“ 


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Wir meinen umgekehrt, daß die Vorschrift des zweiten Satzes 
des § 40 „wenn aber nach dem Strafgesetze des Ortes, wo er (der 
ausländische Verbrecher) die Tat begangen hat, die Behandlung ge¬ 
linder ausfiele, ist nach diesem gelinderen Gesetze zu behandeln“ 
auch für die hier besprochenen Fälle Anwendung finden müsse, denn 
es wäre ungerecht und allen Grundregeln des Strafrechtes zuwider, 
jemanden, der als Ausländer im Auslande eine strafbare Handlung 
begangen hat, wenn er späterhin die Inlandsqualität erworben hat, 
nach dem ihm zur Zeit der Tat ganz unbekannten österr. Rechte zu 
behandeln. 

Aber selbst die auf gemeine Delikte beschränkte Anwendbarkeit 
des § 36 St.G. in Fällen, von denen die Rede ist, steht theoretisch 
nicht ganz fest Jedenfalls kann § 36 nicht ohne weiteres auf 
denjenigen Staatsbürger angewendet werden, welcher zur Zeit der Tat 
noch Ausländer war und erst später die österr. Staatsbürgerschaft 
erworben hat, sonst würde man zu der Konsequenz gelangen, daß 
wenn ein Ausländer im Auslande eine nach dortigem Gesetz nicht 
strafbare Handlung begangen hat (z. B. die Handlungen des § 129 
des österr. Strafgesetzbuches in Frankreich, Italien usw., wo sie nicht 
bestraft werden) er dennoch in Österreich gestraft werden soll, wenn 
er späterhin Österreicher wird. 

Wie sollen nun aber diejenigen behandelt werden, die als Aus¬ 
länder im Auslande ein politisches oder ein damit zusammenhängendes 
Verbrechen begangen haben, sich sodann nach Österreich flüchteten und 
hier die Österreich. Staatsbürgerschaft erlangten? 

In einem praktischen Falle dieser Art, welcher viel Aufsehen er¬ 
regt hat, kam die Frage zufolge Einspruches gegen die vor der 
Staatsanwaltschaft erhobene Anklageschrift zur Entscheidung vor das 
kompetente Oberlandesgericht. 

Für die Zulässigkeit der Bestrafung nach inländischem Recht 
wurde geltend gemacht, daß der Angeklagte in analoger Anwendung 
des § 40 StG.B. so zu behandeln sei wie ein Ausländer, dessen Aus¬ 
lieferung nicht angenommen wurde, und es wurde auf die Motive 
der oben angeführten Kassationsentscheidung vom 23. Februar 1903 
hingewiesen. 

Gegen die Zulässigkeit der Bestrafung im Inlande dagegen 
wurden folgende Argumente ins Treffen geführt. 

Die Vorschrift des § 36 StG.B. über die Bestrafung des In¬ 
länders, der im Auslande ein Verbrechen begangen hat, nach inländi¬ 
schem Strafgesetz, hat nur den Fall im Auge, wenn der Täter im 
Zeitpunkte der Verübung der Tat ein Inländer war und kann nicht 


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Beiträge zum Auslieferungsrecht und Auslieferungsverfahren. 


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auf diejenigen Fälle bezogen werden, wo der Täter zur Zeit der Ver¬ 
übung der Tat ein Ausländer war. Für die Theorie der rück¬ 
wirkenden Kraft der Vorschrift des § 36 würde nur das vom Kassa¬ 
tionshof in der wiederholt bezogenen Entscheidung geltend gemachte 
Motiv sprechen, „daß der Täter sonst straflos bliebe, was dem all¬ 
gemeinen Grundsätze, daß jedes Verbrechen bestraft uud gesühnt 
werden müsse, widersprechen würde.“ Dieses Moment ist aber ein 
ethisches und kein juristisches; der Mangel einer ausdrücklichen ge¬ 
setzlichen Bestimmung kann aber die Bestrafung nicht begründen. 

Die angeführte Entscheidung des Kassationshofes bezieht sich 
übrigens nur auf gemeine Verbrecher, nicht auf politische, wie im 
vorliegenden Fall. 

Wäre der Beschuldigte von Anfang an d. i. schon zur Zeit der 
begangenen Tat österreichischer Staatsbürger gewesen, so müßte erst 
im Sinne der Bestimmung des Art. III des österr.-russischen Vertrages 
die russische Regierung dessen Bestrafung verlangen und bestände 
die Pflicht der Verfolgung im Inlande nur bezüglich der im Art II 
des Vertrages aufgezählten gemeinen Delikte; keine dieser Voraus¬ 
setzungen ist aber im vorliegenden Falle gegeben. 

Das Oberlandesgericht akzeptierte diese Ausführungen nicht und 
gab dem Einspruch gegen die Anklageschrift keine Folge. 

Bei der Verhandlung wurde aber der Angeklagte einstimmig frei¬ 
gesprochen. Wir sind nun der Meinung, daß die gegen die Zu¬ 
lässigkeit der Verfolgung im Inlande geltend gemachten Motive stärker 
sind, als die gegnerischen für die Verfolgung und möchten zu den 
obenangeführten Motiven noch folgende hinzufügen. 

Daß die Bestrafung nach § 36 St.G.B. nicht eintreten kann ,dürfte 
unbestritten sein, da § 36 offenbar nur für denjenigen gilt, der im 
Zeitpunkte der Verübung der Tat Inländer war. Für die Bestrafung 
nach § 40 fehlt aber die Voraussetzung, daß die Übernahme der an¬ 
gebotenen Auslieferung verweigert worden ist, denn der Verweigerung 
der Auslieferung kann der Fall, wo die Auslieferung als unzulässig 
gar nicht angeboten werden konnte, nicht gleichgestellt werden. 

Die Anwendung des § 40 im Wege der Analogie auf die Fälle 
wo die Auslieferung als unzulässig gar nicht angeboten worden ist, 
bekämpft auch Lammasch') mit der zutreffenden Bemerkung, daß 
die Bedingungen, welche ein Gesetz für die Behandlung einer Tat 
als Verbrechen aufstellt, nicht durch Analogie ausgedehnt werden 
dürfen. 

1» In der Abhandlung über die Strafbarkeit des Hochverrates gegen Ru߬ 
land nach österr. Recht (Juristische Blätter ex 1883 Nr. 10 S. 110). 


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VIII. Rosenblatt 


Eine Verfolgung im Inlande wäre in diesen Fällen nur dann 
möglich, wenn die betreffende Bestimmung lauten würde, ähnlich wie 
in den Strafgesetz-Entwürfen, daß die Verfolgung im Inlande dann 
zu erfolgen habe, wenn die Auslieferung an die Behörden des Tat¬ 
ortes nicht zulässig oder nicht ausführbar ist. 

Nach § 66 Abs. 2 StG.B. werden bekanntlich hochverräterische 
Handlungen gegen fremde Staaten nach § 65 St.G.B. gestraft, insoferne 
die Gegenseitigkeit vom betreffenden Staate verbürgt und in Öster¬ 
reich gesetzlich kundgemacht ist und mit J. M. V. vom 19. Okt. 1860 
Nr. 233 B.G.B1. wurde kundgemacht, daß bezüglich der Bestrafung 
der auf dem Gebiete des einen der beiden Staaten gegen 
die Sicherheit des anderen begangenen Verbrechen Rußland in 
die Reihe derjenigen Staaten getreten ist, welche gegenüber Österreich 
die Gegenseitigkeit befolgen. 

Mit Erlaß vom 12. September 1863 hat sodann das Justiz¬ 
ministerium den Oberstaatsanwälten mitgeteilt, daß hochverräterische 
Handlungen gegen Rußland auch dann von den österr. Gerichten ver¬ 
folgt und bestraft werden müssen, wenn diese nicht in Österreich, 
sondern in Rußland oder in einem dritten Staate verübt worden wären. 
Daß aber diese Ansicht nicht richtig ist, hat Lammasch in seiner 
bereits erwähnten Abhandlung über die Strafbarkeit des Hochverrats 
gegen Rußland nach österr. Recht überzeugend nachgewiesen. Im 
Art III Abs. 2. des österr.-russischen Auslieferungsvertrages heißt es 
ferner, daß die vertragsschließenden Teile sich verpflichten die von 
ihren Untertanen gegen die Gesetze des anderen Teiles verübten Ver¬ 
brechen und Vergehen in Gemäßheit ihrer Gesetze zu verfolgen, wenn 
dies begehrt wird und wenn diese Verbrechen und Vergehen sich 
als solche darstellen, welche im Art. II des Übereinkommens aufge- 
zäblt sind. 

Im Art. II des Übereinkommens werden aber nur gemeine Ver¬ 
brechen aufgezählt und Art. IV. erklärt überdies ausdrücklich, daß 
politische Delikte von dem Übereinkommen ausgenommen sind. Es 
folgt daraus, daß Inländer, welche im Auslande politische 
Delikte gegen Rußland begehen, nach österr. Strafgesetz 
nicht zu verfolgen sind. 

Zwar regelt der erwähnte Staatsvertrag nur die gegenseitigen 
Pflichten der vertragschließenden Teile und bestimmt Art. II des 
erwähnten Vertrages, wörtlich genommen, nur daß der österr. Staat 
nicht verpflichtet sei, von seinen Untertanen gegen die Gesetze 
des anderen Vertragsteiles begangene Delikte, welche im Vertrage aus¬ 
genommen sind, also insbesondere politische Delikte zu verfolgen, 


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Beiträge zum Auslieferungsrecht und Auslieferungsverfahren. 


15S 


und könnte man daraus deduzieren, daß das Recht des Inlandes die 
von seinen Untertanen gegen das Ausland begangenen Verbrechen zu 
verfolgen, dadurch nicht tangiert wird, jedoch wäre diese Deduktion 
unrichtig, da sich die Pflicht mit dem Rechte deckt. 

Wir stoßen hier auf die bekannte Streitfrage, ob die Auslieferung 
von Verbrechern außerhalb des Auslieferungsvertrages zulässig ist 
d. i. ob der Staat in jenen Fällen, in welchen eine vertragsmäßige 
Pflicht zur Auslieferung wegen bestimmter Delikte nicht besteht, den¬ 
noch den fremden Verbrecher auszuliefern berechtigt ist. Insbesondere 
aber strittig ist die Frage, ob Ausländer, welche im Auslande politische 
Verbrechen begangen haben, über den Auslieferungsvertrag hinaus 
ins Ausland ausgeliefert werden dürfen. 

Das Justizministerium interpretiert und mit Recht die Bestim¬ 
mung des § 41 St.G.B. („bestehen über die gegenseitige Auslieferung 
von Verbrechern mit auswärtigen Staaten besondere Verträge so ist 
im Gemäßheit derselben vorzugehen“) in konstanter Praxis (wie dies 
Lammasch S. 194 bezeugt) dahin, daß hierdurch hinsichtlich jener 
Staaten, mit welchen Österreich Auslieferungsverträge abgeschlossen 
hat, die Geltung des § 39 St.G.B. derogiert sei, weshalb die öster¬ 
reichischen Gerichte wegen nicht im Vertrage aufgezählter Delikte, 
ein von einem fremden Staate verfolgtes Individuum in seiner Frei¬ 
heit nicht beschränken und dessen Auslieferung nicht beschließen 
dürfen und das Justizministerium diese Auslieferung daher auch nicht 
bewilligen könne. 

Daß die Auslieferungsverträge nur von der Pflicht zur Aus¬ 
lieferung handeln ist einfach damit zu erklären, daß doch das Recht 
des Staates zur Auslieferung von Verbrechern resp. das Recht des 
Staates seine eigenen Untertanenen zu verfolgen, nicht Gegenstand 
eines Übereinkommens mit einem fremden Staate sein kann; selbst¬ 
verständlich ist es aber, daß die in den Auslieferungsverträgen stipu- 
lierte Strafverfolgungspflicht zugleich auch einen Verzicht auf die 
weiter gehenden Rechte des Inlandstaates enthält. 

Sowohl das Recht der Auslieferung fremder Untertanen wie das 
Recht der Bestrafung eigener Untertanen für strafbare Handlungen, 
welche im Auslande oder gegen das Ausland begangen worden sind, 
richtet sich sonach nach den Bestimmungen der bezüglichen Aus¬ 
lieferungsverträge und ist durch diese beschränkt, somit erscheinen 
auch die Bestimmungen der §§ 36—40 St.G.B. dadurch derogiert, 
resp. modifiziert. 

Diese Ansicht teilt auch Hye, welcher in seinem Kommentar 
(S. 544) folgendes ausführt: 


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VIII. Bosenblatt 


„Alle vorstehenden in den §§ 37—40 enthaltenen Bestimmungen 
erhalten ihre Vervollständigung, und zwar teilweise eine Beschrän¬ 
kung, teilweise eine Erweiterung, gegenüber einzelnen fremden Staaten 
und in Beziehung auf gewisse Gattungen von Verbrechen, erst durch 
die zwischen Österreich und den verschiedenen fremden Staaten be¬ 
stehenden Staatsverträge über gegenseitige Auslieferung von Ver¬ 
brechern, deren in dieser Richtung teilweise derogierende Wirksam¬ 
keit durch die im nächstfolgenden Paragraphen geschehende Berufung 
ausdrücklich anerkannt ist.“ 

Ebenso schließt Lammasch seine ausführliche Besprechung 
dieser Frage (S. 191) mit den Worten: 

„Aus diesen Erwägungen empfiehlt es sich daher, die Aufzählung 
derjenigen Delikte, wegen welcher ein Staat die Pflicht zur Aus¬ 
lieferung übernimmt, zugleich als den festen Rahmen aufzufassen, 
innerhalb dessen allein er auch sein Recht, auszuliefern, ausübt Dieser 
feste Rahmen kann nun aber in den Verträgen oder in einem all¬ 
gemeinen Auslieferungsgesetze gegeben sein.“ 

Der Fall, daß ein vom Auslande verfolgter Verbrecher, der dort 
ein Verbrechen begangen hat, sich nach Österreich flüchtet und hier 
die österreichische Staatsbürgerschaft erwirbt, dürfte übrigens selten 
und in der Wirklichkeit nur dann Vorkommen, wenn eine ledige 
Ausländerin, welche in ihrem Heimatslande eine strafbare Handlung 
begangen hat nach der Tat einen österr. Staatsbürger heiratet; denn 
es dürfte sich wohl in den seltensten Fällen ereignen, daß einem vom 
Auslande namentlich wegen eines schweren Verbrechens Verfolgten 
die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen wird. Soll nun die 
Ausländerin, welche einen Inländer heiratet dadurch ihre Lage ver¬ 
schlimmern und der Strafverfolgung ausgesetzt sein? 

Wir sprechen selbstverständlich nur von politischen Delikten, 
wegen welcher eine Ausländerin weder im Inlande verfolgt noch an 
das Ausland ausgeliefert wird. Dieses Asylrechtes würde sie nun 
beraubt werden, sobald sie einen österreichischen Staatsbürger heiraten 
würde. Das Gesetz würde sie zwingen ledig zu bleiben bei sonstigen 
schweren kriminellen Folgen. 

Zu welchen unhaltbaren Konsequenzen die gegenteilige Ansicht 
führen würde, ist noch aus folgendem Beispiel zu ersehen. 

A. und B., Bruder und Schwester begehen gemeinschaftlich im 
Auslande ein politisches Verbrechen und flüchten nach Österreich, wo 
sie sich ansiedeln. Die B. bisher ledig, heiratet in Österreich einen 
österreichischen Staatsbürger. Der Bruder A. wird nun nicht aus¬ 
geliefert und auch in Österreich nicht verfolgt, da es sich um ein 


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Beiträge zum Auslieferungsrecht und Auslieferungsverfahren. 


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von einem Ausländer im Auslande begangenes politisches Delikt 
handelt; während die Schwester B. wegen desselben Verbrechens in 
Österreich verfolgt werden sollte! 

Gewiß ist dieses Argument kein ausschlaggebendes, aber viel¬ 
leicht nicht minder beachtenswert, wie das Gegenargument, daß Be¬ 
strafung eintreten muß, weil strafbare Handlungen gesühnt werden 
müssen. 

Aus obiger Darstellung folgt unwiderleglich, daß Ausländer, 
welche im Auslande politische Delikte gegen Rußland begehen, auch 
dann in Österreich wegen derselben nicht verfolgt werden dürfen, 
wenn sie nach Begehung der Tat die österreichische Staatsbürgerschaft 
erlangt haben. 

Mit anderen Worten politische Delikte gegen Rußland können 
nur gemäß derl. M. V. vom 19. Okt 1860 Nr. 233 R.G.B1. verfolgt wer¬ 
den d. i., wenn sie auf österreichischem Gebiete begangen werden; 
sind sie von Ausländem im Auslande, oder von Inländern im Aus¬ 
lande begangen worden, so findet eine Bestrafung nicht statt, folglich 
kann auch der Ausländer, der nach Begehung einer solchen Handlung 
im Auslande sich nach Österreich flüchtet und hier die Staatsbürger¬ 
schaft erwirkt, hier nicht gestraft werden. 

Die I. M. V. vom 19. Oktober 1860 bezieht sich zwar ihrem Wort¬ 
laute nach nur auf hochverräterische Handlungen, es dürfte jedoch 
das oben Gesagte für politische Delikte überhaupt gelten'). 

Eine Illustration zu diesen Ausführungen bietet die Bestimmung 
des Punktes 4 des Schlußprotokolls zum Auslieferungsvertrag mit der 
Schweiz vom 10. März 1896, in welchem erklärt wird, daß der Ver¬ 
trag nicht hindert, daß von dem einen und dem anderen Vertragsteil 
mit oder ohne Vorbehalt des Gegenrechtes auch wegen einer im Ver¬ 
trage nicht vorgesehenen strafbaren Handlung die Auslieferung ge¬ 
währt werden kann, sofern dies nach den Gesetzen des ersuchten 
Staates zulässig ist. 

Daraus folgt aber a contrario, daß diese nur im erwähnten Ver¬ 
trage mit der Schweiz enthaltene, weder den früheren noch den 
späteren mit anderen Staaten geschlossene Auslieferungsverträgen be¬ 
kannte Klausel, eben nur im Verhältnisse zur Schweiz Anwendung 
finden kann, somit gegenüber anderen Staaten die allgemeine Regel 
Platz greift, daß das Recht der Auslieferung sich mit der vertrags¬ 
mäßigen Pflicht zur Auslieferung deckt, daher nur so weit reicht, wie 

1) Vgl. Lammasch; Über polit. Verbr. gegen fremde Staaten in der Liszt- 
schen Zeitschr. III S. 376ff.; Rosenblatt im Archiv für öff. Recht VIII S. 97ff; 
und Gerland in der Vergl. Darst. Bes. TIS. It4ff. 


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VIII. Rosenblatt 


die vertragsmäßige Pflicht, darüber hinaus aber eine Auslieferung 
ausgeschlossen ist 

Die Richtigkeit unserer Ausführungen findet auch teilweise ihre 
Bestätigung in der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes vom 8. Mai 
1897 ZI. 3659 (Nr. 2095 Samml.) mit welcher zu Recht erkannt 
worden ist, daß den Staatsverträgen wegen gegenseitiger Auslieferung 
von Verbrechern durch § 41 StG.B. gesetzliche Kraft verliehen wor¬ 
den ist, und daß die Bestimmung dieser Auslieferungsverträge, das 
Herschafts-Gebiet des hierländischen Strafgesetzes be¬ 
stimmend, an die Stelle der §§ 36—40 StG.B. getreten sind. 

Obige Ansicht teilt auch Professor Roszkowski in seinem im 
Jahre 1882 in polnischer Sprache erschienenem Werke über Asyle 
und Extradition (S. 266). 

Die in Rede stehende Frage war endlich auch Gegenstand 
der Debatten der deutschen Landesgruppe der Internat 
krim. Vereinigung in Frankfurt am 8. Septbr. 1906 (Vergl. die 
Mitteilungen der Internat, krim. Vereinig, vom Jahre 1907 S. 354—390). 

Der Referent Prof. Frank wies insbesondere auf den Unterschied 
in der Textierung des deutsch-spanischen und des deutsch-schweizer. 
Auslieferungsvertrages hin. Der Art. VI des deutsch-spanischen Aus¬ 
lieferungsvertrages vom 2. Mai 1878 lautet nämlich wie folgt: „Die 
Bestimmungen des gegenwärtigen Vertrages finden auf solche Per¬ 
sonen, die sich irgend eines politischen Verbrechens oder Vergehens 
schuldig gemacht haben, keine Anwendung“, während im Art. IV 
des deutsch-schweizer Vertrages bestimmt wird: „Die Auslieferung 
soll nicht stattfinden, wenn die strafbare Handlung einen politischen 
Charakter an sich trägt.“ 

Auf Grundlage dieser tatsächlich veschiedenen Textierung der 
bez. Auslieferungsverträge verfocht Prof. Frank die Ansicht, daß auch 
dann, wenn ein Auslieferungsvertrag abgeschlossen ist, die darin vor¬ 
genommene Aufzählung der auslieferungsmäßigen d. h. eine Aus¬ 
lieferungspflicht begründenden Delikte nur die Bedeutung habe, daß 
die Auslieferungspflicht auf diese beschränkt sei; außerdem 
aber haben die Regierungen das Recht über einen Auslieferungs¬ 
vertrag hinaus auszuliefern d. h. auch wegen eines solchen Deliktes, 
das in dem Auslieferungsvertrag gar nicht als ein auslieferungsmäßiges 
bezeichnet ist. Zweifel könnten in dieser Beziehung nur bezüglich der 
politischen Verbrecher bestehen. 

Die Meinung Franks traf aber auf vielseitigen Widerspruch. 

Insbesondere erklärten Dr.Neumeyer und Prof. Dr.Freuden¬ 
thal unter lebhafter Zustimmung der Versammlung, daß sie die Aus- 


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Beiträge zum Auslieferungsrecht und Auslieferungsverfahren. 


157 


lieferung in den von Frank erwähnten Fällen für unzulässig halten. 
Schließlich wurde beschlossen zu erklären, daß die Versammlung ein 
Auslieferungsgesetz für das Deutsche Reich für dringend wünschens¬ 
wert erachtet. 

Wir reassumieren daher: 

Ein Ausländer, welcher im Auslande ein Verbrechen begangen 
und nach Österreich geflüchtet ist, kann wegen eines Verbrechens, 
wegen dessen unser Staat zur Auslieferung des Verfolgten im Sinne 
des Auslieferungsvertrages nicht verpflichet ist (insbesondere wegen 
politischer Delikte) weder ausgeliefert noch auch im Inlande verfolgt 
werden. Nur im Verhältnis zur Schweiz gilt die obenerwähnte im 
Schlußprotokoll des Auslieferungsvertrages vom 10. März 1896 ent¬ 
haltene Ausnahme. 

Wenn der nach Österreich Geflüchtete inzwischen die österr. 
Staatsbürgerschaft erlangt hat, darf er dem Auslande nie ausge¬ 
liefert werden. 

Es darf aber wegen Verbrechen, wegen welcher die Auslieferung 
vertragsmäßig nicht stattfindet, auch im Inlande nicht verfolgt werden. 

ad 2. Die Auslieferung wird verweigert. Es kann dies erfolgen: 

a) wegen politischer Delikte; 

b) wegen einer mit einem politischen Delikt zusammenhängenden 
strafbaren Handlung, wie dies die meisten Verträge bestimmen; 

c) nach dem Grundsätze; „praetor non curat minima“ wegen ge¬ 
ringfügiger Delikte. 1 ) 

In letzterer Beziehung wird in den Staatsverträgen entweder die 
Pficht der Auslieferung auf Verbrechen beschränkt (so in den 
meisten Auslieferungsverträgen) oder auf strafbare Handlungen, die 
mit „schweren“ Strafen bedroht sind, oder es wird verlangt, daß die 
strafbare Handlung, wegen welcher die Auslieferung verlangt wird, 
nach den Strafgesetzen des die Auslieferung verlangenden und des 
um die Auslieferung ersuchten Staates mit einer bestimmten höheren 
Freiheitsstrafe bedroht sei, z. B. mindestens mit einer einjährigen 
Gefängnisstrafe, wobei die einzelnen strafbaren Handlungen respekt. 
Kategorien derselben, welche somit als Auslieferungsdelikte zu gelten 
haben, aufgezählt werden (sogenannte Enumerationsmethode). 

In den Fällen a und b findet nach allgemein anerkannten Grund¬ 
sätzen auch im Inlande eine Strafverfolgung nicht statt 

ad c). In Fällen, in denen die Auslieferung gemäß der Bestim¬ 
mungen des Auslieferungsvertrages wegen Geringfügigkeit der ange- 


1) Vgl. Art. 3 des Schweizer Auslief.-Gesetzes vom 22. Jänner 1892. 


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VIII. Rosenblatt 


drohten Strafe nicht zulässig ist (wie z. B. nach der Konvention mit 
Kußland, weil die nach einem der maßgebenden Strafgesetze oder 
nach beiden angedrobte Strafe eine einjährige Freiheitsstrafe nicht 
übersteigt), könnte die Frage aufgeworfen werden, ob nicht gemäß 
des dem österr. Strafgesetzbuch zugrunde liegenden Weltrechtsprinzips 
(§ 40) dennoch die Verfolgung des Ausländers im Inlande einzu¬ 
treten hätte. 

Die Frage ist aber zu verneinen, denn nach § 40 St.G.B. ist 
gegen den ausländischen Verbrecher nur dann nach Vorschrift des 
österr. Strafgesetzes vorzugehen, wenn der auswärtige Staat die Über- 
nehmung des Beschuldigten verweigert. Dies kann auf diejenigen 
Fälle, wo die Auslieferung nach den Bestimmungen der bezüglichen 
Staatsverträge nicht stattfindet, wie bereits oben ansgeführt wurde, 
nicht per Analogie ausgedehnt werden. Sonst könnte auch wegen 
politischer Delikte, wegen welcher die Auslieferung ausgeschlossen 
ist, die Verfolgung im Inlande eintreten, was aber kein Vertrag oder 
Gesetz zuläßt 

Bezüglich der von der Auslieferung ausgeschlossenen Delikte ist 
daher dem Ausländer, der sich nach Österreich flüchtet, volles Asyl¬ 
recht gewährt. 

Dies folgt auch aus der Vorschrift des § 41 St.G.B., nach welcher 
die Bestimmmungen der Auslieferungsverträge, insofeme solche be¬ 
stehen, an die Stelle der Vorschriften der §§ 39 und 40 St.G.B. 
treten, was eben nur dahin verstanden werden kann, daß in denjenigen 
Fällen, in denen die Auslieferung nicht gewährt wird, auch die Ver¬ 
folgung der Ausländer im Inlande nicht statthaft ist Es beweist 
dies aber auch, daß das vom Obersten Gerichtshöfe in der oben an¬ 
geführten Entscheidung vom 23. Februar 1903 Nr. 2824 gebrauchte 
Argument, „daß sonst der nicht ausgelieferte Täter straflos bliebe, 
was dem allgemeinen Grundsätze, daß jedes Verbrechen bestraft und 
gesühnt werden muß, widersprechen würde“ — sehr stark anfechtbar 
ist, da in allen von der Auslieferung ausgeschlossenen Fällen, wor¬ 
unter nicht nur politische sondern auch gemeine Verbrechen gehören 
können, der Verbrecher eben trotz des angeblichen im Gesetze nirgends 
ausgesprochenen allgemeinen Grundsatzes, daß „jedes Verbrechen be¬ 
straft und gesühnt werden müsse“ straflos bleibt. 

ad 3. Wir kommen nun zu der letzten Gruppe der hierher gehören¬ 
den Fälle d. i. zu denjenigen, in welchen die dem ausländischen 
Staate angebotene Auslieferung nicht angenommen wird. 

Es liegt diesbezüglich folgende in mehrfacher Beziehung inter¬ 
essante zu Folge Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes 


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erflossene Entscheidung des k. k. Kassationshofes vom 30. April 1907 
ZI. 5823 (Nr. 3341 der Sammlung) vor: 

Das Landesgericht in Troppau erkannte mit Urteil vom 31. Okt. 
1906 die preußischen Staatsangehörigen Ferdinand B. und Alfred T. 
des am 3. Oktober 1906 im Gebiete des Deutschen Reiches begangenen, 
im § 242 des deutschen Reichsstrafgesetzes bezeichneten Vergehens 
des Diebstahls schuldig und verhängte über sie gemäß § 16 des ge¬ 
nannten Gesetzes eine der einfachen Kerkerstrafe äquiparierende Ge¬ 
fängnisstrafe in der Dauer von je fünf Tagen. 

Der k. k. Kassationshof erkannte, daß durch das angeführte 
Urteil, insofeme es von der Anwendung des österreichischen Straf¬ 
gesetzes absehend, den dem Ferdinand B. und Alfred T. zur Last 
fallenden Diebstahl lediglich als Vergehen des Diebstahles nach § 242 
des deutschen Reichsstrafgesetzes und die über die Angeklagten ver¬ 
hängte Freiheitsstrafe als Gefängnisstrafe gemäß § 16 desselben Ge. 
setzes bezeichnet, wurde das Gesetz im § 40 St.G.B. verletzt. 

Die Gründe der Kassationsentscbeidung lauten: 

Die Anklageschrift hatte auf das in den §§ 171 und 174 II b 
St.G.B. bezeichnete, nach § 40 des österreichischen Strafgesetzes und 
§§ 242 und 16 des deutschen Reichsstrafgesetzes strafbare Verbrechen 
des Diebstahles gelautet. Die Bezeichnung der Straftat im Urteils¬ 
tenor nach dem deutschen Reichsstrafgesetze geht über die Vorschrift 
des § 40 St.G.B., wonach in dem Falle, wenn nach dem Strafgesetze 
des Ortes, wo die Tat begangen wurde, die Behandlung gelinder aus¬ 
fiele, der Täter nach diesem gelinderen Gesetze zu „behandeln“ ist, 
hinaus und verstößt gegen den allgemeinen Rechtsgrundsatz, daß im 
Inlande nur inländisches Gesetz gilt und daher auch nur dieses un¬ 
mittelbar anzuwenden ist. Der Gerichtshof hätte, wenn er auch in 
dem vorliegenden Falle das deutsche Strafrecht zutreffend als das ge¬ 
lindere erkannte, dennoch seinen Urteilsspruch nach dem österreichi¬ 
schen Rechte erlassen sollen. Dem kann nicht entgegengehalten 
werden, daß durch die Vorschrift des § 40 St.G.B. das ausländische 
Recht für den daselbst vorgesehenen Ausnahmsfall zum inländischen 
erhoben werde. Der Richter hat in einem solchen Falle zwar die 
ausländischen Strafbestimmungen zu berücksichtigen, allein doch nur 
nach österreichischem Rechte zu erkennen. Der Gerichtshof hatte 
daher in seinem Urteile nicht bloß die deutschen, sondern vor allem 
die österreichischen Strafbestimmungen über Diebstahl anzuwenden. 

Während die Strafbarkeit einer im Inlande begangenen Tat so¬ 
zusagen einfach bedingt ist, daß sie nämlich unter den Tatbestand 
einer inländischen Strafbestimmung subsumiert werden kann, ist die 


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VIII. Rosenblatt 


Strafbarkeit einer von einem Ausländer begangenen Tat (die Fälle 
des § 38 St.G.B. ausgenommen) doppelt bedingt: 1. dadurch; daß 
die Tat am Begebungsorte irgendwie kriminell (nicht bloß disziplinär) 
strafbar ist; 2. dadurch, daß sie unter eine inländische Verbrechens¬ 
strafbestimmung fällt Nicht Bedingung der Strafbarkeit, son¬ 
dern nur Bedingung des Einschreitens des österreichischen 
Gerichtes, Prozeßvoraussetzung ist, daß der ausländische 
Staat auf die ihm angebotene Auslieferung des Täters 
verzichtet 1 ). Das österreichische Gericht, das eine von einem Aus¬ 
länder im Auslande begangene Tat abzuurteilen hat, hat demnach 
diese sowohl unter dem Gesichtspunkte des ausländischen wie unter 
dem Gesichtspunkte des österreichischen Rechtes zu würdigen und 
beide Arten der Würdigung müssen auch in dem Urteile zum Aus¬ 
drucke kommen. 

Nun erscheint es unmöglich, daß in der Sentenz, im Urteils¬ 
spruche selbst, beide Beurteilungsweisen nebeneinander stehen, denn 
im Spruche kann doch nur ein Recht seinen Ausdruck finden. Wenn 
nun die Frage entsteht, nach welchem von beiden Rechten der Urteils¬ 
spruch zu fassen ist, so kann die Antwort wohl nicht zweifelhaft 
sein: nach dem österreichischen Rechte. Denn die beiden Arten der 
Würdigung sind einander nicht gleichwertig. Die Beurteilung der 
Tat nach dem österreichischen Rechte ist für das österreichische Ge¬ 
richt das Primäre. Von diesem hat es auszugehen. Die Beurteilung 
nach dem ausländischen Rechte hat sich in die Beurteilung nach 
dem österreichischen Rechte einzufügen. 

Kommt daher das Gericht zum Schlüsse, daß die Tat nach der 
lex loci überhaupt nicht oder nach dem österreichischen Rechte nicht 
als Verbrechen strafbar wäre, und findet es, demgemäß mit einem 
Freispruch vorzugehen, so hat es den Freispruch stets dahin zu for¬ 
mulieren, daß der Angeklagte von der Anklage, das Verbrechen nach 
§ .... des österreichischen Strafgesetzes begangen zu haben, freige¬ 
sprochen werde. Ist ein Erfordernis der Strafbarkeit der Tat nach 
inländischem Strafgesetze nicht gegeben, so versteht sich dies ohnehin 
von selbst. Die österreichische Freispruchsformel hat aber auch dann 
Anwendung zu finden, wenn der Grund des Freispruches darin liegt, 
daß die Tat nach dem ausländischem Rechte nicht gestraft werden 
könnte. Dies ist vor allem für den Fall klar, daß das ausländische 
Recht eine Strafbestimmung, die überhaupt in Betracht käme, gar 

1) Diese Frage ist zumindest bestritten. Die Bedingung des § 40 St.G. ist 
eine materielle Klagsvoraussetzung und daher eine Bestimmung des materiellen 
Strafrechts. Vgl. Lammasch in den Juristischen Blättern ex 1883 S. 110. 


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nicht enthält; hier wäre eine Formulierung nach dem ausländischen 
Strafgesetze — das gar nicht existiert — unmöglich. Gleiches hat 
aber auch für die Fälle zu gelten, in denen nach ausländischem Straf¬ 
gesetze ein Strafausscbließungs- oder Strafaufhebungs- Grund vor¬ 
liegt, den das österreichische Recht nicht kennt (etwa Ehrennotwehr 
oder bei Jugendlichen mangelndes Unterscheidungsvermögen). Das 
Gericht hat die Nichtstrafbarkeit der Tat nach ausländischem Straf¬ 
gesetze nur in den Urteilsgründen auseinanderzusetzen und den Frei¬ 
spruch dahin zu erläutern, daß der Angeklagte, trotzdem sich seine 
Tat nach österreichischem Rechte als Verbrechen darstellt, nicht ver¬ 
urteilt werden könne, weil das österreichische Recht für die von Aus¬ 
ländern im Auslande begangenen Taten die Strafbarkeit nach der lex 
loci als Bedingung der Strafbarkeit nach österreichischem Rechte auf¬ 
stellt. Ebenso hat das Gericht, wenn es die Tat sowohl nach dem 
ausländischen wie auch nach dem inländischen Strafgesetze (und zwar 
nach letzterem als Verbrechen) als strafbar erkennt und darum mit 
einem Strafurteile vorzugehen findet, dieses immer nach dem öster¬ 
reichischen Strafgesetze zu formulieren. Auch hier versteht sich dies 
in dem Falle, daß das österreichische Strafgesetz milder ist, von selbst. 
Aber auch, wenn das Strafgesetz des Tatortes milder und der Täter 
daher gemäß § 40 St.G.B. nach diesem gelinderen Gesetze zu be¬ 
handeln ist, hat das Gericht sein Urteil dahin zu schöpfen, der Täter 
sei schuldig des Verbrechens nach §.. . . des österreichischen Straf¬ 
gesetzes. Denn die erste Voraussetzung, daß der Täter vom öster¬ 
reichischen Gerichte verurteilt werden kann, ist ja die, daß seine Tat, 
an den Normen des österreichischen Rechtes gemessen, sich als Ver¬ 
brechen darstellt. Das österreichische Strafurteil hat diese österreichische 
Anschauung — nicht umsonst bezeichnet § 40 St.G.B. den ausländischen 
Täter als „Verbrecher“ — zum Ausdrucke zu bringen. 

Die mildere Behandlung wird erst bei dem Ausspruche über die 
Strafe wirksam. Wie die Kriminalisierung der Tat durch das aus¬ 
ländische Recht, vom Standpunkte des österreichischen Rechtes aus 
betrachtet, als Bedingung der Strafbarkeit erscheint, so hat das Be¬ 
stehen einer milderen ausländischen Strafdrohung für das öster¬ 
reichische Recht die Bedeutung eines Milderungsumstandes, und zwar 
eines solchen, der unter Umständen eine ganz besondere außerordent¬ 
liche Strafmilderung zur Folge hat. Das Gericht hat jedoch nicht 
unmittelbar den milderen ausländischen Strafsatz anzuwenden, sondern 
es hat auch bei Ausmessung der Strafe von den inländischen Straf¬ 
bestimmungen auszugehen und nur insofern auf die ausländischen 
Strafdrohungen Bedacht zu nehmen, als es keine höhere Strafe aus- 

Archiv für Kriminalanthropologie. 84. Bd. 11 


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sprechen darf, als das ansländische Recht kennt; das Gericht hat auch 
Rechtsfolgen, die nach österreichischem Rechte mit der Strafe ver¬ 
bunden wären, die aber das ausländische Recht überhaupt nicht oder 
nicht für diese Tat kennt, auszuschließen. Dagegen hat es immer 
seinem Urteile die Verweisung anzuhängen. So kann es kommen, 
daß ein österreichisches Gericht jemand eines Verbrechens schuldig 
erkennt, und trotzdem nur eine Geldstrafe oder einen Verweis über 
ihn verhängt Im vorliegenden Falle hätte das Landesgericht Troppau 
die beiden Angeklagten des Verbrechens des Diebstahls nach §§171 
und 174 Ilb St.G.B. schuldig erkennen und sie zu fünf Tagen ein¬ 
fachen Kerker verurteilen sollen. Ferner hätte es aussprechen müssen, 
daß mit der Tat keine Rechtsfolgen verbunden seien. In den Urteils¬ 
gründen wäre zu sagen gewesen, das Gericht habe statt des im § 178 
St.G.B. angedrohten schweren Kerkers nur einfachen Kerker verhängt, 
weil es gemäß § 40 St.G.B. die beiden Angeklagten nach dem milderen 
deutschen Strafgesetze (§ 242 St.G.B.) behandeln mußte und daher 
nur die der dort angedrohten Gefängnisstrafe gleich kommende Kerker¬ 
strafe verhängen konnte. Im Hinblicke auf § 32 R.StG.B. mußte es 
auch den Entfall der Rechtsfolgen aussprechen.“ 

Die angeführte Kassationsentscheidung 1 ) ist aber nicht erschöpfend 
und die Behauptung, daß das Bestehen einer milderen ausländischen 
Strafdrohung für das österr. Recht nur die Bedeutung eines Milderungs¬ 
umstandes habe (das unter Umständen eine ganz besondere außer¬ 
ordentliche Strafmilderung zur Folge hat) jedenfalls nicht genau, denn 
im Sinne der Vorschrift des § 40 SfcG.B. wird oft eine Strafänderung 
eintreten müssen und zwar eine sehr weit gehende. Wenn es sich 
z. B. um das Verbrechen des gemeinen Mordes handeln würde, 
welches nach österr. Strafgesetz mit der Todesstrafe, nach russischem 
Strafgesetz aber nur mit einer schweren Freiheitsstrafe bedroht ist, 
wäre die Verhängung der Todesstrafe in Österreich nicht zulässig und 
müßte diese von Gesetzwegen in eine Kerkerstrafe geändert werden. 

Ja es könnten oft Schwierigkeiten und Zweifel entstehen, die 
schwer zu lösen wären und nur beweisen, daß das Weltrechts¬ 
prinzip unseres Strafgesetzes trotz des Lobes, welches ihm mitunter 
in der Literatur gespendet worden ist, verfehlt und reformbedürftig ist. 

Wir sehen es am deutlichsten in dem mit obigem Kassations¬ 
urteil entschiedenen Fall. Die deutschen Behörden hielten deu Fall 
für zu geringfügig um die Auslieferung ihrer Staatsangehörigen wegen 
Vergehens des Diebstahls zu verlangen und verweigerten deren An- 

1) Vgl. die Bemerk, zu dieser E. von Dr. M. Sternberg in der Zeitschr. 
liir intern. Pr. u. Öff. Recht, XVIII S. 568. 


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Beitrage zum Auslieferungsreeht und Auslieferungsverfahren. 163 

nähme, weil sie offenbar froh waren die Diebe losgeworden zu sein. 
Und nun wurde bei uns der große Apparat der Strafverfolgung mit 
staatsanwaltlicher Anklageschrift, Verhandlung vor einem Erkenntnis¬ 
senat, Nichtigkeitsbeschwerde und Verhandlung vor dem Kassations¬ 
hof usw. in Bewegung gesetzt, um zwei fremde Diebe zu einer fünf¬ 
tägigen Freiheitsstrafe zu verurteilen. 

Würde es nicht vollständig hinreichend gewesen sein und den¬ 
selben Zweck erreicht haben, wenn man die Diebe einfach im Ver¬ 
waltungswege (polizeilich) aus Österreich ausgewiesen hätte? 

VII. Betreffend das Verhältnis des Heimatstaates zu 
dem ihm vom fremden Staate ausgelieferten Verbrecher 
ist zu erwähnen, daß dieser nach Inhalt der meisten Verträge wegen 
Verbrechen, wegen welcher die Auslieferung nicht verlangt, oder ver¬ 
langt aber nicht ausdrücklich bewilligt worden ist, nicht verfolgt 
werden darf, es wäre denn, daß er gutwillig zur Verfolgung wegen 
derselben seine Zustimmung erteilt (welche aber nur in besonderen 
Fällen die Auslieferungsbewilligung des ausliefernden Staates supplieren 
kann) oder wenn er nach endgültiger Erledigung des Straffalles, welcher 
Gegenstand der Auslieferung war, es unterläßt, in einer bestimmten 
Frist (gewöhnlich binnen drei Monaten) das Land zu verlassen, trotz¬ 
dem ihm dies möglich war. 

So bestimmt insbesondere der oftmal erwähnte Vertrag mit Ru߬ 
land im Art. IV, daß der Ausgelieferte wegen keiner anderen der 
Auslieferung vorangegangenen Gesetzesübertretung verfolgt noch be¬ 
straft werden kann, es wäre denn, daß eine solche Person nach er¬ 
folgter Abstrafung oder endgültiger Freisprechung wegen jener straf¬ 
baren Handlung, wegen welcher ihre Auslieferung erfolgte, unter¬ 
lassen hätte, das Land vor Ablauf einer dreimonatigen Frist zu ver¬ 
lassen, oder daß dieselbe in der Folge dahin zurückgekehrt wäre. 

Andere Verträge lassen überhaupt die Verfolgung wegen anderer 
Delikte, welche vor der Auslieferung begangen worden sind und nicht 
Gegenstand der Auslieferung waren, nicht zu (so Art. VI des Ver¬ 
trages mit Griechenland), oder verlangen zur Verfolgung wegen einer 
anderen strafbaren Handlung, wenn sie im Sinne des Vertrages über¬ 
haupt ein Auslieferungsdelikt bildet, die Zustimmung der Re¬ 
gierung, welche die Auslieferung bewilligt hat (so Art. X des Ver¬ 
trages mit Rumänien). 

Der k. k. Oberste Gerichtshof hat in dieser Frage mit Entschei¬ 
dung vom 14. Juni 1907 ZI. 3811 (Nr. 3369 Samml.) zu Recht erkannt, 
daß die vom beschuldigten von Rumänien ausgelieferten Verbrecher 
zu seiner Verfolgung im Inlande erteilte Zustimmung nur dann die 

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VIII. Bosenblatt 


Erklärung (Einwilligung) der ausliefernden Regierung zur Verfolgung 
suppliert, wenn in der Auslieferungsbewilligung der fremden Regierung 
eine der dem Beschuldigten zur Last gelegte Straftaten unberücksichtigt 
gelassen worden ist und unter der Voraussetzung, daß sie ein Extra¬ 
ditionsdelikt überhaupt bildet. Es kann also selbst die Zustimmung 
des Ausgelieferten zu seiner Verfolgung wegen anderer Verbrechen 
eine ausdrückliche Verweigerung der Auslieferung nicht beseitigen, 
ebenso wie sie nicht rechtswirksam ist, wenn es sich um ein Ver¬ 
brechen handelt, welches kein Extraditionsdelikt bildet. 1 ) 

In einer Entscheidung vom 8. Mai 1897 ZI. 3659 (Nr. 2095 
Samml.) hat der k. k. Kassationshof mit Bezug auf den Auslieferungs¬ 
vertrag mit England zn Recht erkannt, daß der nach Österreich Aus¬ 
gelieferte wegen strafbarer Handlungen (Tatbestände) rücksichtlich, 
welcher die Auslieferung vom auswärtigen Staate nicht zugestanden 
worden ist, nicht verfolgt werden darf, und daher ein Schuldspruch 
wegen einer solchen Handlung nach § 281 ZI. 9 lit. a resp. § 344 
ZI. 10 lit. b St.P.O. nichtig sei. In den Motiven wird ausgeführt: 

Das Strafgesetz bestimmt im § 41 mit klaren Worten, daß, wenn 
über die gegenseitige Auslieferung von Verbrechern mit auswärtigen 
Staaten besondere Verträge bestehen, in Gemäßheit derselben vorzu¬ 
geben ist. Hiedurch anerkennt das Strafgesetz den Bestand der Ans¬ 
lieferungsverträge als rechtserzeugenden, bezw. rechtsändernden Faktor, 
durchbricht gleichzeitig den allgemeinen Grundsatz des § 37 StG.B. 
und macht dem Richter zur Pflicht, sich an die bestehenden Aus¬ 
lieferungsverträge zu halten. Da somit die letzteren kraft des Ge¬ 
setzes an die Stelle der Bestimmung der §§ 36—40 St.G.B. zu treten 
haben, so sind sie auch sowohl vom öffentlichen Ankläger, als vom 
Gerichte amtswegig wahrzunehmen, und es involviert deren Außer¬ 
achtlassung eine Verletzung des Gesetzes. Jede Verletzung eines 
Auslieferungsvertrages kann sohin in bestimmten Fällen auch für den 
Ausgelieferten, wiewohl letzterer nur Objekt desselben ist, insoferne 
wirksam werden, als sie zugleich eine Verletzung des gültigen Ge¬ 
setzes in sich faßt. Durfte der Richter nach § 41 St.G.B. mit einer 
Verurteilung nicht vorgehen, so bietet der diesem Paragraphen zu¬ 
widerlaufende Schuldspruch dem Ausgelieferten allerdings Grund zur 
Beschwerde, da ja dieser mit einer Gesetzesverletzung einhergehende 
Bruch des Auslieferungsvertrages das Interesse des Ausgelieferten 
aufliegend empfindlich tangiert.“ 

Nur im Verhältnis zu Deutschland ist die strafgerichtliche Verfolgung 

1) Vgl. Meltzenberg in der Zeitschrift für intern. Pr. und Öff. Recht, 
XVIII S. 442. 


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Beiträge zum Auslieferungsrecht und Auslieferungsverfahren. 


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des Ausgelieferten nur dann auf das Auslieferungsdelikt beschränkt, 
wenn die Auslieferungsbewilligung in dieser Hinsicht einen ausdrück¬ 
lichen Vorbehalt enthält (E. 1. Februar 1907, Z. 20368 Sg. Nr. 3300). 

Zu bemerken ist schließlich, daß die Auslieferung auch an Be¬ 
dingungen geknüpft werden kann, welche dann das Heimatsland gegen¬ 
über dem ausgelieferten eigenen Untertan befolgen muß z. B. die Be¬ 
dingung, daß er nicht vor ein Ausnahmsgericht gestellt werden darf. 
Diese Bedingung wurde z. B. bei einem unlängst nach Rußland Aus¬ 
gelieferten, wo bekanntlich Ausnahmegerichte (Militärgerichte) funk¬ 
tionieren, vom k. k. Justizministerium gestellt, und die Einhaltung 
dieser Bedingung mit allem Nachdruck verlangt. 

Im Vertrage mit der Schweiz vom 10. März 1906 heißt es aus¬ 
drücklich im Art. VI, daß der auf Grund des Vertrages Ausgelieferte 
im Staate, der die Auslieferung begehrt hat, nicht vor ein Ausnahme¬ 
gericht gestellt werden darf, und im Schlußprotokoll dieses Aus¬ 
lieferungsvertrages sub ZI. 2 findet sich eine noch weiter gehende 
allgemeine Bedingung, wornach die im Grunde dieses Vertrages aus¬ 
gelieferten Personen in öffentlicher Verhandlung beurteilt werden 
müssen, insoweit nicht aus Gründen der Sittlichkeit oder der öffent¬ 
lichen Ordnung die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden muß. 

Ebenso enthält der Vertrag mit der Schweiz die Beschränkung, 
daß wenn das Strafgesetz des um die Auslieferung ersuchenden 
Staates für die strafbare Handlung, welche Gegenstand der Auslieferung 
war, eine körperliche Strafe androht, diese Strafe gegebenen Falls 
gegen den Ausgelieferten in eine Freiheitsstrafe oder Geldstrafe um¬ 
zuwandeln ist, somit nicht vollzogen werden darf, was aber nach ZI. 3 
des Schlußprotokolles für die Todesstrafe nicht gilt, diese daher durch 
die Bestimmung des Art. V nicht ausgeschlossen ist. 

Dagegen heißt es im Schlußprotokoll des Vertrages mit Rumänien 
vom 27. Juni 1901 unter ZI. 2, daß wenn die Auslieferung einer 
Person aus Rumänien wegen eines mit der Todesstrafe bedrohten 
Verbrechens begehrt wird, bei dem es nicht ausgeschlossen ist, daß 
deshalb an dem Ausgelieferten die Todesstrafe vollzogen werden 
könnte, so steht es in dem freien Ermessen der rumänischen Regierung 
die Auslieferung abzulehnen. 

Daraus folgt, daß die rumänische Regierung gegebenen Falls 
die Auslieferung an die Bedingung knüpfen kann, daß gegen den 
Auszuliefemden die Todesstrafe nicht vollzogen werden darf und dürfte 
in diesem Falle die Verhängung der Todesstrafe in Österreich aus¬ 
geschlossen sein. 


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Vill. Rosenblatt 


Einen interessanten Beitrag zur Lehre vom Verhältnis des Hei¬ 
matsstaates zn seinem eigenen von einem fremden Staate aasgelieferten 
Verbrecher, liefert folgender vor dem Appellationsgerichtshofe in Bor¬ 
deaux am 3. Februar 1905 verhandelte Fall: (siehe Revue de Droit 
international privö et de droit pönal intern. 1905 S. 704). 

Am 11. Dezember 1903 wurde der alte Rezidivist Jabonille vom 
Strafgericht in Bergerac wegen des Vergehens des Betruges zu acht 
Monaten Arreststrafe in contumacia verurteilt Kurz darauf wurde in 
Erfahrung gebracht, daß sich Jabonille nach Spanien geflüchtet hatte, 
worauf auch das Auslieferungsverfahren eingeleitet wurde. 

Die spanischen Behörden machten aber kurzen Prozeß. Noch 
ehe die Regierung selbst das Auslieferungsverfahren zu untersuchen 
vermochte, wurde Jabonille aus dem Lande verwiesen und der fran¬ 
zösischen Grenzpolizei übergeben. 

Gegen dieses Vorgehen erhob Jabonille Protest Er wandte sich mit 
einer Eingabe an den Justizminister und appellierte an dessen Rechts¬ 
gefühl. Der Versuch blieb nicht ohne Erfolg, denn kurz darauf erteilte 
der Justizminister dem Oberstaatsanwälte in Bordeaux den Auftrag, 
die Enthaftung Jabonilles vor dem dortigen Appellgerichte anzustreben. 

Dem Anträge des Justizministeriums wurde Folge geleistet, Jabo¬ 
nille auf freien Fuß gesetzt und ihm eine 14 tägige Frist zum Ver¬ 
lassen des Landes oder zur freiwilligen Antretung seiner Verhaftung 
eingeräumt. 

VIII. Muß gegen den eventuell Auszuliefernden die 
Haft verhängt werden? Nach § 39 St.G. ist der Ausländer, der 
im Auslande ein Verbrechen begangen hat und nach Österreich geflüchtet 
ist, bei seiner Betretung im Inlande immer in Verhaft zu nehmen. 

Der Grund dieser strengen Bestimmung war offenbar der, daß 
der fremde Verbrecher, der sein Heimatsland verlassen hat, sich auf 
der Flucht befindet, also stets fluchtverdächtig ist. 

Diese aus dem St.G. vom Jahre 1803 § 33 rezipierte Bestim¬ 
mung wurde schon durch das Hofdekret von 1808 gemildert, in 
welchem es heißt, daß der Fremde entweder zu verhaften oder doch 
auf eine die Gefahr der Entweichung ausschließende Art zu beobachten 
sei. Die Vorschrift des § 39 St.G. erscheint aber geändert durch die 
Bestimmung des § 59 St.P.O., welcher nur verlangt, daß gegen die 
Entweichung des Beschuldigten die nötige Vorkehrung zu treffen sei. 

Die Haft ist somit nach dem Gesetze nicht obligatorisch und es 
dürfte heutzutage keinem begründeten Zweifel unterliegen, daß die 
Bestimmung der Strafprozeßordnung über die Enthaftung des Be¬ 
schuldigten gegen Bürgschaft (Kaution) auch auf den Fall der Ver- 


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Beiträge zum Auslieferungsrecht und Auslicferungsverfahrcn. 


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haftung eines Ausländers zum Zwecke eventueller Auslieferung oder 
Aburteilung im Inlande (§ 40 St.G.) Anwendung zu finden habe. 

Treffend bemerkt auch Lammasch (S. 657), daß es sonderbar 
wäre, wenn ein Staat die Freiheit einer Person im Interesse der 
Rechtspflege eines fremden Staates weitergehenden Beschränkungen 
unterwerfen würde, als im Interesse seiner eigenen. 

Von diesem Gesichtspunkte ausgehend, bat auch das k. k. Justiz¬ 
ministerium mit Erlaß vom 2t. Jänner 1901 ZI. 1722 den Staats¬ 
anwaltschaften empfohlen, in Auslieferungsfällen nicht blindlings mit 
dem Anträge auf Haftverhängung vorzugehen, sondern in jedem ein¬ 
zelnen Falle genau zu erwägen, ob eine so einschneidende Maßregel 
genügend begründet sei J ). 

Die einzelnen Auslieferungsverträge enthalten aber darüber be¬ 
sondere Bestimmungen. 

Insbesondere ordnen die meisten Auslieferungsverträge die obli¬ 
gatorische Verhaftung des eventuell Auszuliefernden über Verlangen der 
fremden Regierung an, und zwar soll die vorläufige provisorische Ver¬ 
haftung schon über telegraphische, oder briefliche Verständigung seitens 
der ausländischen Behörde, daß ein Haftbefehl vorliegt, verfügt werden. 

Ob nun diese Bestimmungen der Auslieferungsverträge, welche 
mit der Vorschrift des § 59 St.P.O. nicht übereinstimmen, rechts¬ 
verbindlich sind oder nicht, ist fraglich. 

Lammasch (S. 652) erklärt sie für nicht zu Recht bestehend, 
weil diese Verträge mangels Genehmigung von seiten des Reichsrates 
keine Gesetzeskraft erlangt haben und daher umsoweniger die Norm 
des § 59 St.P.O. derogieren können, als diese auf dem Gesetze zum 
Schutze der persönlichen Freiheit vom 27. Oktober 1862 beruht, 
welches durch Art. 8 des Staatsgrundgesetzes vom 21. Dezember 
1867 Nr. 142 R.G.B. zu einem Bestandteil der Österreich. Staats¬ 
verfassung erklärt worden ist und somit nicht einmal durch ein im 
gewöhnlichen parlamentarischen Wege, sondern nur durch ein mit 
Zweidrittel-Majorität zustande gekommenes Gesetz aufgehoben oder 
abgeändert werden können. 

Der Kassationshof geht in der bereits oben besprochenen Ent¬ 
scheidung vom 8. Mai 1897 Nr. 2095 der Sammlung von der Ansicht 
aus, daß durch die Bestimmung des § 41 StG., wonach dann, wenn 
über die gegenseitige Auslieferung von Verbrechern mit auswärtigen 
Staaten besondere Verträge bestehen, in Gemäßheit derselben vor¬ 
zugehen sei, diesen Auslieferungsverträgen im voraus Gesetzeskraft 

1) Vgl. auch Miiicka: „Obsolete Strafgesetze“ in der österr. Richterzeitung 
1907 Nr. 7 und 8. 


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VIII. R 08 ENBLATT 


verliehen wird, und daher deren Bestimmungen von unseren Gerichten 
von Amts wegen zu berücksichtigen sind, und auch Lammasch sagt 
(S. 807) „da nach § 41 des österr. St.G. die Auslieferungsverträge 
an Stelle der Normen der §§ 39 ff. StG. treten und somit Gesetzeskraft 
haben, so sind zunächst Staatsanwaltschaft und Gerichte verpflichtet, 
diese gesetzlichen Normen wie alle anderen von Amts wegen wahr¬ 
zunehmen.“ 

Fraglich wäre daher, ob durch die erwähnte Vorschrift des § 41 
St.G. nur den materiellrechtlichen Bestimmungen der Auslieferungs¬ 
verträge Gesetzeskraft verliehen wurde, oder auch den prozessualen. 

Die allgemein lautende Bestimmung des § 41 St.G. würde für 
die letztere Ansicht sprechen und glauben wir daher, daß da, wo die 
nach der StPO, von 1873 abgeschlossenen Auslieferungsverträge die 
Verhaftung des Auszuliefernden über Verlangen des auswärtigen 
Staates anordnen, die Verhaftung als obligatorisch zu betrachten und 
daher zu vollziehen sei. 

Einen Schutz gegen die auf Antrag des fremden Staates verfügte 
Haft geben aber diejenigen Bestimmungen der Auslieferungsverträge, 
nach welchen die Enthaftung des provisorisch Angehaltenen zu verfügen 
ist, wenn das formelle Auslieferungsbegehren nicht in einer bestimmten 
Frist unter Vorlage der erforderlichen Dokumente gestellt wird. 

Die Frist beträgt bald 20 Tage, bald einen Monat und läuft vom 
Tage der vollzogenen provisorischen Verhaftung. 

In der Praxis wird diese Beschränkung der Haft nicht beachtet, 
ja es wird die Haft mit folgender Begründung verlängert: es wird 
behauptet, daß doch nach § 40 St.G. die subsidiäre Strafverfolgung 
des fremden Verbrechers im Inlande einzutreten hat und daher dessen 
Verhaftung nach den Bestimmungen unserer Strafprozeßordnung zu¬ 
lässig resp. geboten sei. 

Diese Argumentation wäre aber nur in den Fällen zutreffend, 
wo unsere Gerichte von Anfang an auf Grund des § 39 St.G. ein- 
schreiten und auf Grund der §§ 175 und 180 St.P.O. die Haft ver¬ 
hängen. Ist aber die Verhaftung auf Grund des Begehrens einer 
ausländischen Behörde mit Rücksicht auf einen avisierten Aus¬ 
lieferungsantrag erfolgt, so können die Bestimmungen der §§ 39 
und 40 St.G. nicht mehr platzgreifen, sondern es treten diejenigen 
der Auslieferungsverträge in Wirkung. Die Voraussetzung des § 40 
d. i. die Verweigerung seitens der ausländischen Behörde der An¬ 
nahme des Auszuliefernden liegt nicht vor; umgekehrt durch das Ver¬ 
langen der Verhaftung desselben ist der entgegengesetzte Wille des 
Auslieferungsbegehrens manifestiert; es muß daher gemäß den Be- 


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Beiträge zum Auslieferungsrecht und Auslieferungsverfahren. 169 

Stimmungen des Auslieferungsvertrages vorgegangen werden und 
somit ist im Falle der Nichteinhaltung der Frist zur Begründung der 
provisorischen Verhaftung sofort vom Untersuchungsrichter die Frei¬ 
lassung des vorläufig Verhafteten zu verfügen, ohne erst die Zu¬ 
stimmung des Oberlandesgerichtes oder gar des Justizministers ab¬ 
zuwarten. Selbstverständlich bleibt der ausländischen Behörde das 
Recht gewahrt, nachträglich das Versäumte einzuholen und sollten 
dann unsere Gerichte das Auslieferungsbegehren für begründet er¬ 
achten, so werden sie nach der Vorschrift des § 59 St.P.O. vorzugehen 
haben, d. h. die Haft wird nicht mehr obligatorisch, sondern nur 
fakultativ zu verhängen sein, falls nach Ermessen unserer Gerichte 
andere Vorkehrungen gegen die Entweichung des Beschuldigten sich 
nicht als hinreichend sicher darstellen würden. 

In diesem Sinne ist auch unserer Ansicht nach die Bestimmung 
des Art. XVIII des österreichisch-russischen Auslieferungsvertrages 
vom 15. Oktober 1874 zu verstehen, welcher sagt, daß durch diesen 
Vertrag und innerhalb der Bestimmungen desselben die in den beiden 
Staaten bestehenden den weiteren Geschäftsgang bei der 
Auslieferung regelnden Gesetze wechselseitig anerkannt werden. 
Wir resümieren daher wie folgt: 

Im Sinne des § 59 St.P.O. ist die Haft des auszuliefernden 
fremden Verbrechers nicht obligatorisch. Er kann nach den ent¬ 
sprechenden Bestimmungen der §§ 191, 195 St.P.O. auf freiem Fuße 
belassen oder gegen Bürgschaft enthaftet werden. Wo jedoch nach 
den Bestimmungen des bezüglichen Auslieferungsvertrages die Haft 
auf Begehren einer Behörde des fremden Staates kategorisch ange¬ 
ordnet wird, dort muß die Bestimmung des § 59 St.P.O. zurück¬ 
weichen und es gelten die Vorschriften des Auslieferungsvertrages. 
Hält nun aber der fremde Staat die im Auslieferungsvertrage fest¬ 
gesetzte Frist zur Begründung der Haft und Vorlage der erforderlichen 
Nachweise nicht ein, so hat die Freilassung des Verhafteten sofort zu 
erfolgen. 

Für das weitere Verfahren tritt wieder die Bestimmung des § 59 
St.P.O. in Kraft. 

IX. Die Frage, ob der Justizminister an den im Sinne des § 59 
St-P.O. gefaßten Beschluß im Falle, wenn dieser auf Ablehnung des 
Auslieferungsbegehrens lautet, gebunden ist oder trotz desselben die 
Auslieferung bewilligen darf, war seit jeher strittig. 

Lammasch (1. c. S. 644ff) konstatiert, daß nach dem etwas un¬ 
deutlich gefaßten Texte des § 59 die Stellung des Justizministers in 
Auslieferungsangelegenheiten keine völlig klare ist und meint, daß aus 


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VIII. Rosenblatt 


der Bestimmung daß das Oberlandesgericht seinen Ansliefernngsbeschlnß 
jederzeit vorläufig dem Justizministerium zur Genehmigung vorlegen 
müsse, zu folgen scheine, daß zwar die Genehmigung dieses Beschlusses 
durch das Justizministerium eine Bedingung seiner Ausführbarkeit sei, 
daß aber das Justizministerium doch nicht selbständig etwa entgegen 
dem Beschlüsse des Oberlandesgericbtes eine Auslieferung gewähren 
könnte. Es könnte somit das Justizministerium einem Gerichtsbeschlüsse 
auf Auslieferung des Beschuldigten die Ausführung verweigern, es 
könnte aber nicht eine Auslieferung entgegen einem Gerichtsbeschlüsse 
gewähren. Es macht aber Lammasch dem Justizministerium die 
Konzession, daß wenn der Antrag der Ratskammer auf Gewährung 
der Auslieferung lautet, das Justizministerium über den Beschluß des 
Oberlandesgerichtes auf Verweigerung der Auslieferung hinweggehen 
und den Antrag der Ratskammer bestätigen könne. Dies sei die 
äußerste Grenze, bis zu welcher das Justizministerium angesichts des 
§ 59 StP.O. gehen könne, es dürfe aber keinesfalls auch gegen einen 
mit dem Anträge der Ratskammer übereinstimmenden Beschluß 
des Oberlandesgerichtes auf Ablehnung des Auslieferungsbegehrens 
die Auslieferung bewilligen. 

Die Entstehungsgeschichte des, wie Lammasch richtig sagt, 
unklaren § 59 StP.O. gibt uns keinen Aufschluß über die auf¬ 
geworfene Frage. 

Die Vorschrift des $ 59 stammt eigentlich noch aus dem Justiz¬ 
hofdekrete vom 1.0. Dezember 1808 Nr. 874 J.G.S. Von hier wurde 
sie in die St.P.O. vom J. 1850 im § 68 übernommen und ist sodann 
in die St.P.0. vom J. 1853 und sodann auch in das geltende Gesetz 
ohne wesentliche Änderungen übergegangen (vgl. Würth Erläuter. zur 
StP.O. vom J. 1850 S. 166 und Mayers Handbuch I. S. 429 St.) 
Aus den Erläuterungen Würths, des Urhebers der StP.O. vom 
Jahre 1850, würde aber folgen, daß nur der Beschluß der ersten In¬ 
stanz auf Auslieferung dem Oberlandesgerichte vorzulegen sei, 
welches denselben entweder bestätigen oder aufheben kann; im 
Falle der Bestätigung des Beschlusses oder richtiger des An¬ 
trages der Ratskammer auf Auslieferung hat das Oberlandesgericht 
diesen seinen die Auslieferung bewilligenden Beschluß dem Justiz¬ 
ministerium zur Genehmigung vorzulegen, welchem allein die 
Prüfung und Entscheidung zusteht, ob die Auslieferung an den requi 
rierenden Staat mit Rücksicht auf die bestehenden Verträge und auf 
die obwaltenden internationalen Verhältnisse stattfinde. 

Im Falle der Ablehnung der Auslieferung würde also der Be¬ 
schluß des Oberlandesgerichtes endgültig sein und das Justizministe- 


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Beiträge zum Auslicferungsrccht und Auslieferuugsverfahren. 


171 


rium wäre nicht befugt, entgegen dem Beschlüsse des Oberlandes¬ 
gerichtes die Auslieferung zu bewilligen. 

Dies scheint nns ancb das Richtige zn sein und zwar nicht nur 
für den Fall, wo sich die Ratskammer gegen die Anslieferung aus¬ 
gesprochen hat, sondern auch für die Fälle, wo die Ratskammer sich 
für die Auslieferung ausgesprochen hätte, denn die Ratskammer hat 
nach § 59 St.P.O. eigentlich gar keinen selbständigen Beschlnß zn 
fassen, sondern nur bei dem Gerichtshöfe zweiter Instanz den Antrag 
auf Auslieferung zn stellen, falls die im $ 59 angeführten Voraus¬ 
setzungen zutreffen, und nur das Oberlandesgericbt hat seinen Beschluß 
dem Justizminister zur Genehmigung vorzulegen, woraus mit Recht 
im Zusammenhang mit dem ersten Satz des § 59 gefolgert werden 
darf, daß nur der Beschluß auf Bewilligung der Auslieferung zur 
Genehmigung vorzulegen sei, nicht aber der Beschluß auf Ablehnung. 

Diese Ansicht vertritt auch der Reichsratsabgeordnete Dr. Ptas' 
in einem in der „Zeit“ vom 16. Juli 1908 veröffentlichten Artikel, in 
welchem er davon ansgeht, daß im Sinne des § 59 St.P.O. die Frage 
der Auslieferung von Verbrechern als eine Rechtsfrage zu betrachten 
sei und deren Entscheidung daher den Gerichten und nicht dem 
Justizministerium als einer Verwaltungsbehörde überlassen ist 

Jedenfalls ist die Frage im Gesetze nicht klar entschieden und 
wäre eine legislative Entscheidung derselben erwünscht 

Im Falle legislativer Regelung der Frage wäre es aber wohl am 
entsprechendsten, die Entscheidung über jedes Auslieferungsbegehren 
in letzter Instanz nicht dem Justizministerium, sondern dem ober¬ 
sten Gerichtshöfe zu übertragen, denn da es sich um An¬ 
wendung gesetzlicher Bestimmungen handelt, wobei politische Momente 
keine Rolle spielen sollten, so wäre die Übertragung der Entscheidung 
an den Obersten Gerichtshof eine Gewähr dafür, daß nur gesetzliche 
Erwägungen für die Entscheidung maßgebend wären. 

Der auf Grund des Antrages der Ratskammer nach § 59 St.P.0 
zu erlassende Beschluß des Oberlandesgerichtes wäre sowohl dem Be¬ 
schuldigten, dessen Auslieferung begehrt wird, wie auch der Staats¬ 
anwaltschaft zuzustellen und beiden Parteien sollte das Rechtsmittel 
der Beschwerde an den Obersten Gerichtshof zustehen, dessen Ent¬ 
scheidung dann für das Justizministerium resp. die Justizverwaltung 
bindend wäre. 

Es wäre dies auch für das Justizministerium vom Vorteil, da 
dieses durch die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes gegen alle 
möglichen Einwendungen und diplomatischen Erörterungen ge¬ 
deckt wäre. 


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172 


VIII. Rosesblatt 


ad X. Kann die vom Justizministerium bereits be¬ 
schlossene Auslieferung vor deren Ausführung wieder 
rückgängig gemacht werden; mit anderen Worten: gibt 
es eine Wiederaufnahme des Auslieferungsverfahrens? 

Es können nach bewilligter Auslieferung: a) entweder Tatsachen 
bekannt werden, welche, wenn sie vor der Erledigung des Aus¬ 
lieferungsbegehrens bekannt gewesen wären, eine andere Entscheidung 
herbeigeführt hätten oder auch: b) Tatsachen sich ereignen, welche 
eine Sistierung der beschlossenen Auslieferung eventuell einen Wider¬ 
ruf derselben begründen können. Der erstere Fall (a) kann sowohl 
zugunsten wie zuungunsten des Beschuldigten eintreten. 

Es waren z. B. die dem ursprünglichen Auslieferungsbegehren 
zugrunde liegenden Beweise unzulänglich und werden nun nach 
bereits erfolgter Ablehnung des Begehrens von der die Auslieferung 
verlangenden auswärtigen Regierung ergänzt, oder umgekehrt: der 
Beschuldigte ist erst nach bewilligter Auslieferung imstande Beweise 
seines Alibi vorzubringen oder den Nachweis zu liefern, daß er zur 
Zeit der Tat unzurechnungsfähig war, daß es sich um ein Delikt 
handelt, wegen dessen die Auslieferung nicht statthaft ist, daß die 
strafbare Handlung verjährt sei und dgl. mehr. Der Fall b würde 
vorliegen, wenn der Beschuldigte nach bewilligter Auslieferung in 
eine Geisteskrankheit verfallen würde. 

Die erwähnten Fälle sind weder im Gesetze noch in den Aus¬ 
lieferungsverträgen vorhergesehen wie überhaupt vom Wiederaufnahme¬ 
verfahren keine Erwähnung geschieht. 

Lammasch (S. 728) erwähnt den Fall, wenn das requirierte 
Individuum sich dem gegen dasselbe eingeleiteten Verfahren, bevor 
noch eine Entscheidung erfolgt war, entzogen hatte und dann später 
neuerdings in dem Gebiete des um seine Auslieferung ersuchten 
Staates betreten wird und bemerkt ganz richtig, daß in diesem Falle 
eine Erneuerung des Antrages um Auslieferung nicht notwendig sei, 
sondern es wird nur das Verfahren auf Grund des früheren Ansuchens 
fortgesetzt. 

In diesem Falle findet eigentlich kein Wiederaufnahmeverfahren 
statt, sondern ähnlich wie in den Fällen des § 363 St.P.O. eine form¬ 
lose Fortsetzung des früheren Verfahrens. Von den Fällen der eigent¬ 
lichen Wiederaufnahme erwähnt Lammasch nur den, wenn nach ab¬ 
schlägiger Erledigung des Auslieferungsautrages der verfolgende Staat 
Umstände dartut, welche geeignet sind das der Bewilligung der Aus¬ 
lieferung entgegenstehende Bedenken zu beheben, und entscheidet 
richtig, daß in diesem Falle eine Wiederaufnahme des Auslieferungs- 


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Beiträge zum Auslieferungsrecht und Auslieferungsverfahren. 


178 


Verfahrens statthaft sei, jedoch ohne vorläufige Verhaftung auf Grund 
eines direkten Ansuchens des ausländischen Gerichtes, da durch die 
ergangene Entscheidung des Justizministers, daß die Auslieferung nicht 
stattfinde, die Gerichte gebunden sind. Die anderen oben dargestellten 
Fälle werden von Lammasch nicht berührt. 

In der Praxis wird die Zulässigkeit des Wiederaufnahmeverfahrens 
zugunsten des Auszuliefemden, sowie der Änderung des bereits ge¬ 
faßten und vom Justizministerium bestätigten Beschlusses der Aus¬ 
lieferung zufolge neu vorgekommener und nachträglich erhobener 
Tatsachen zugegeben und ebenso auch die Sistierung des Vollzuges 
der Auslieferung zufolge der Einleitung des Wiederaufnahmeverfahrens 
als statthaft erklärt 

Es liegt uns diesbezüglich folgender Fall vor. 

Vom Oberlandesgericht X. wurde der Beschluß auf Auslieferung 
des A. gefaßt und dem Justizministerium zur Bestätigung vorgelegt. 
Nachdem das Justizministerium den Auslieferungsbeschluß bestätigt 
hatte, wurden die Behörden des die Auslieferung begehrenden Staates 
hievon verständigt und die nötigen Schritte zum Vollzug der Aus¬ 
lieferung angeordnet. 

Inzwischen erlitt der Auszuliefernde im Gefängnis Tobsucbtsan- 
fälle und es ergaben sich Bedenken, ob er nicht an einer Geisteskrank¬ 
heit leide und transportunfähig sei. 

Sein Geisteszustand wurde durch 2 Gerichtspsychiater geprüft, 
welche ihr Gutachten dahin abgaben, daß sich bei ihm allem Anscheine 
nach eine Geisteskrankheit entwickelt habe und es daher geboten sei 
mit dem Vollzüge der Auslieferung inne zu halten, weil solche In¬ 
dividuen während des Transportes Selbstmordversuche verüben können, 
welchen die strengste Beaufsichtigung vorzubeugen nicht in der Lage 
sei. Es wäre daher eine weitere Beobachtung des A. vor endgültigem 
Gutachten erforderlich. 

Die Batskammer entschied sich trotzdem für die Auslieferung 
weil sie es als nicht erwiesen erachtete, daß der Auszuliefernde wirk¬ 
lich geisteskrank sei, die Feststellung seines Geisteszustandes daher 
Sache der russischen Gerichte sei. 

Inzwischen überreichte aber der Verteidiger des A. eine Eingabe, 
in welcher er eine Reihe von Umständen und Beweisen zum Nach¬ 
weise der Tatsache vorbrachte, daß die dem A. zur Last gelegte 
Handlung, welche in dem Auslieferungsbeschluß als ein nicht poli¬ 
tisches Verbrechen qualifiziert worden ist, sich in Wirklichkeit als 
politisches resp. relativ politisches Delikt darstelle und deshalb die 
Auslieferung nicht zulässig sei. In dieser Eingabe wurde auch an- 


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174 


VIII. Rosenblatt 


geführt, daß gegen den Auszuliefernden in Rußland bereits ein Todes¬ 
urteil gefällt worden sei, daher dort sein Geisteszustand gar nicht mehr 
geprüft, sondern das Urteil sofort vollstreckt werden würde. 

Das Oberlandesgericbt hat nun von der Erwägung geleitet, daß 
in dieser Auslieferungs-Angelegenheit bereits nach Bewilligung der 
Auslieferung und Verständigung der russischen Behörden gewichtige 
Bedenken aufgetaucht sind, ob die dem A. zur Last gelegte Tat 
wegen welcher er ausgeliefert werden , soll, nicht doch als ein Teil¬ 
akt einer Aufruhrbewegung anzusehen sei, die zur kritischen Zeit die 
politischen Gegner der russischen Regierung erfaßt hatte, wie auch, 
daß es das Recht und die Pflicht des Oberlandesgericbt sei, mit dem 
ihm zu Gebote stehenden gesetzlichen Mitteln in jedem Stadium 
des Auslieferungsverfahrens durch provisorische Maßnahmen 
zu verhindern, daß eine Auslieferung entgegen den Voraussetzungen 
des Auslieferungsvertrages zustande kommt, dem Landesgerichte den 
Auftrag erteilt mit der Auslieferung des A. inne zu halten und fest¬ 
zustellen, ob sich die ihm zur Last gelegte Tat nicht als ein relativ 
politisches Delikt darstelle und zu diesem Zwecke weitere Erhebungen 
zu pflegen, unter anderem auch eine Abschrift des gegen ihn angeb¬ 
lich bereits erflossenen Urteiles zu verlangen, da aus den Motiven 
dieses Urteiles der Charakter der Tat am besten festgestellt werden 
könnte. 

Nach Durchführung dieser nachträglichen Erhebungen, nach Ein¬ 
vernahme von Zeugen usw. beschloß das Oberlandesgericht in ana¬ 
loger Anwendung der Bestimmungen über die Wiederaufnahme des 
Strafverfahrens den früheren Beschluß auf Auslieferung des A. zurück¬ 
zuziehen und das Auslieferungsbegebren abzulehnen und zwar aus 
folgenden Gründen: 

Trotzdem das angeblich wider A. durch die russischen Gerichte 
gefällte Todesurteil nicht zugekommen ist, so glaubt das Oberlandes¬ 
gericht dennoch, daß die nachträglichen in dieser Auslieferungs- 
Angelegenheit durchgeführten Erhebungen die Feststel¬ 
lungen, auf Grund welcher die Auslieferung bewilligt 
wurde, derart erschüttert und fraglich gemacht haben, 
daß für einen Revisionsbeschluß ein mehr als zureichen¬ 
des Material vorhanden ist. 

Aus den Aussagen der nachträglich vernommenen vollständig 
glaubwürdigen Zeugen ist nämlicb zu entnehmen, daß die revolutionäre 
Partei in Russisch-Polen zu politischen Zwecken Attentate auf Regierungs¬ 
organe vollführe, daß auch das fragliche Attentat auf die Landwächter 
im Aufträge der revolutionären Partei verübt worden ist, welche um 


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Beiträge zum Auslieferungsrecht und Auslieferungsverfahren. 


175 


den lästigen Cbansseerevisionen ein Ende zu machen und die Sicher- 
beitsorgane zn zwingen, ihre Tätigkeit in dieser Richtung anfzngeben, 
ihren Mitgliedern den Auftrag erteilt habe, sich solchen Revisionen 
mit den Waffen in der Hand zn widersetzen, daß das in Rede stehende 
Attentat daher als ein im Aufträge der Partei verübte Tat betrachtet 
werden muß, daß die russischen Gerichte selbst Attentate, 
welche von Mitgliedern der revolutionären Partei gegen 
Sicherheitsorgane verübt werden, als politische Verbrechen 
qualifiziert nnd nnter diejenigen Gesetzesvorschriften subsumiert, 
welche die politische Revolution zum Gegenstände haben, daß schließlich 
auch die Befreiung des A. aus dem Gefängnisse in W. durch die Mit¬ 
glieder der revolutionären Partei bei welcher Gelegenheit nur poli¬ 
tische Gefangene befreit wurden, für den politischen Charakter des 
dem A. zur Last gelegten Deliktes spricht. 

In Anbetracht dieser neuen Tatsachen, welche falls sie bei der 
Fassung des Auslieferungs-Beschlusses bekannt gewesen wären, je¬ 
denfalls einen Beschluß auf Nichtauslieferung hervorgerufen hätten, 
ohne sogar dem Umstand zn berücksichtigen, daß nachdem der Zeuge 
X. seine Aussage gegen A. zurückgezogen hat, eigentlich gar keine 
Beweise für die Schuld des letzteren vorliegen, glaubt das Oberlandes¬ 
gericht, daß es ein Gebot der Gerechtigkeit sei, die bereits bewilligte 
Auslieferung des A. rückgängig zu machen, widrigenfalls seine Aus¬ 
lieferung als ein gegen die ausdrücklichen Vorschriften des Aus¬ 
lieferungs-Vertrages erfolgter Akt betrachtet werden müßte. 

Es wird schließlich vom Oberlandesgerichte noch hervorgehoben, 
daß die bereits bewilligte Auslieferung des A. gegenwärtig auch aus 
dem Grunde unstatthaft wäre, weil er laut gerichtsärztlichem Gut¬ 
achten an neurasthenischen Wahnsinn leidet, demnach geisteskrank ist, 
wider ihn daher keinerlei strafprozessualen Schritte, also auch nicht 
die Extradition unternommen werden könnte. 

Das Justizministerium hat obigen Beschluß des k. k. 
Oberlandesgerichtes zur Kenntnis genommen und damit 
wurde die Sache endgültig erledigt d. i. es wurde im Wege der 
Wiederaufnahme des Verfahrens der frühere Auslieferungsbeschluß 
abgeändert und widerrufen. 

Daß also ein Wiederaufnahmeverfahren nach Analogie der Be¬ 
stimmungen der §§ 353 u. ff. der St.P.O. zulässig sei, daß man in dem¬ 
selben nachträglich den Beweis erbringen könne, daß die gesetzlichen 
resp. vertragsmäßigen Bedingungen der Auslieferung nicht vorliegen, so¬ 
wie daß der Auslieferuugsbeschluß auf falschen Voraussetzungen beruhe, 
und daß sohin der Auslieferungsbeschluß rückgängig gemacht werden 


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VIII. Rosenblatt 


kann, trotzdem bereits die Behörden des die Auslieferung begehren¬ 
den Staates vor der früher erfolgten Bewilligung der Auslieferung ver¬ 
ständigt worden sind, ist vom k. k. Justizministerium anerkannt worden. 

Im Auslieferungsvertrage mit Griechenland vom 21. Dezember 
1904 finden wir im Art 13 eine eigentümliche Bestimmung, aus welcher 
die Zulässigkeit der Wiederaufnahme des Äuslieferungsverfahrens 
offenbar resultiert. 

Es wird nämlich daselbst bestimmt, daß wenn der gesuchte und 
unter den Bedingungen dieses Auslieferungsvertrages in Haft ge¬ 
nommene Verbrecher innerhalb dreier Monate nach seiner Haftnahme 
nicht übergeben und weggeführt wurde, so ist er in Freiheit zu setzen, 
und es kann aus dem gleichen Grunde seine Auslieferung 
nicht mehr begehrt wer4en. 

Daraus folgt a contrario, daß in anderen Fällen somit auch 
wenn das erste Ausliefemngsbegehren abgelehnt worden wäre, die 
Auslieferung aus dem gleichen Grunde d. i. wegen desselben Ver¬ 
brechens nochmals begehrt werden kann, selbstverständlich, wenn die 
früheren Mängel behoben und die Bedenken, welche der Bewilligung 
der Auslieferung entgegenstanden, durch nachträglich vorgebrachte 
Beweise zerstreut worden sind. 

Wenn wir nun die oben besprochenen Fragen und Erörterungen: 
überblicken, so gelangen wir zu folgenden Ergebnissen: 

De lege lata: Die österr. Gerichte sind ermächtigt, selbständig 
d. i. unabhängig von den Behauptungen des um die Auslieferung an 
suchenden Staates, festzustellen, ob sämtliche Voraussetzungen der Aus¬ 
lieferung vorliegen und kein gesetzliches oder vertragsmäßiges Hinder¬ 
nis derselben im Wege steht. 

Im Verhältnis zu denjenigen Staaten, mit welchen Auslieferungs¬ 
verträge geschlossen worden sind, findet die Auslieferung nur wegen 
der in den Auslieferungs- Verträgen aufgezählten strafbaren Hand- ' 
lungen statt. 

Wegen politischer und mit denselben in Verbindung stehender 
Delikte erfolgt keine Auslieferung. 

Wo eine Auslieferung wegen eines bestimmten von einem Aus¬ 
länder begangenen Deliktes unzulässig ist, ist de lege lata auch eine 
Verfolgung im Inlande wegen dieser Handlung unzulässig. Nur wenn 
ein Ausländer, welcher im Auslande ein gemeines, der Auslieferung 
unterliegendes Delikt begangen hat und nur deshalb nicht ausgeliefert 
wird, weil er inzwischen österreichischer Staatsbürger geworden ist, 
kann die Verfolgung im Inlande stattfinden. 

Eine Geisteskrankheit des Auszuliefernden hindert die Auslieferung. 


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Beiträge zum Auslieferungsrecht und Auslieferungsverfahren. 


177 


Bezüglich des Verfahrens in Auslieferungssachen hat die Vor¬ 
schrift des § 59 StP.O. zur allgemeinen Richtschnur zu gelten. Die 
Verhaftung des Auszuliefernden ist gemäß derselben nicht obligatorisch, 
insoferne Auslieferungsverträge nicht anders bestimmen. 

Der Beschluß des Oberlandesgerichtes, mit welchem die Auslieferung 
abgelehnt wird, ist endgültig. Nur der die Auslieferung bewilligende 
Beschluß bedarf der Genehmigung seitens des Justizministeriums. 

Eine Wiederaufnahme des Auslieferungsverfahrens ist sowohl zu¬ 
gunsten wie zuungunsten des Auszuliefernden zulässig. 

De lege ferenda: 

Bei der Bekämpfung der Verbrecher insbesondere des internatio¬ 
nalen Verbrechertums spielen die Auslieferungsgesetze eine nicht zu 
unterschätzende Rolle. Gute Auslieferungsgesetze können den Kampf 
gegen die Verbrecher fördern. Schlechte erschweren ihn, hindern die 
Bestrafung der flüchtigen und gewähren vielen Verbrechern Straflosigkeit 
ohne triftigen Grund. Einige statistische Daten dürften dies bekräftigen. 

Es wurden insbesondere: 


Ausgeliefert von Österreich: 


im 

Jahre 

1900 

: Personen 

160; 

abgelehnte Auslief.-Begehren: 

15 

7 ? 

77 

190t 

77 


185; 

7 ? 

77 

77 

19 

7 ? 

77 

1902 

77 


140; 

77 

77 

77 

13 

77 

77 

1903 

?7 


249; 

77 

77 

77 

19 

77 

77 

1904 

77 


201; 

77 

7 » 

77 

14 

77 

7 ? 

1905 

77 


129; 

77 

77 

77 

08 



zusammen: 


1064 




88 

Dagegen wurden an 

Österreich ausgeliefert: 



im 

Jahre 

1900: 

Personen 

104; 

abgelehnte Auslief.-Begehren: 

9 

77 

77 

1901 

77 


101; 

7 ? 

77 

77 

8 

77 

7 ? 

1902 

7 ? 


192; 

?7 

77 

’? 

8 

7 ? 

’7 

1903 

7 ? 


216; 

77 

77 

7 ? 

7 

77 

77 

1904 

77 


199; 

77 

77 

77 

18 

7 ? 

77 

1905 

7 ? 


210; 

’7 

77 

77 

11 


zusammen: 1022 6 t 


Die Daten der Jahre 1906 bis 1908 sind bis nun nicht ver¬ 
öffentlicht worden. 

Es sind somit in den 6 Jahren von 1900 bis 1905 61 (einund¬ 
sechzig) von Österreich verfolgte gemeine Verbrecher von den um die 
Auslieferung angesuchten Staaten nicht ausgeliefert worden und 
blieben daher straflos. Ebenso wurden aus Österreich 88 verfolgte 
Personen nicht ausgeliefert; man kann also annehmen, daß zu¬ 
sammen 150 wegen gemeiner Verbrechen verfolgte Individuen der 
Strafjustiz zufolge nicht ausreichender Bestimmungen der Aus¬ 
lieferungsverträge entzogen worden sind. 

Archiv für Eriminaianthropologie. 34. Bd. 12 


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178 


VIII. Rosenblatt 


Beim Bestände entsprechender Auslieferungsverträge und bei 
ihrer richtigen Anwendung resp. beim Bestände guter Auslieferungs¬ 
gesetze dürften eigentlich Ablehnungen von Auslieferungsbegehren 
nicht Vorkommen, keinesfalls aber in einem so ungünstigen Prozen¬ 
tualverhältnis wie oben angegeben. 

Die Erlassung eines Auslieferungsgesetzes erweist sich daher als 
sehr wünschenswert und würde es sich empfehlen, gelegentlich der 
im Zuge befindlichen Reform des Strafgesetzes auch ein Auslieferungs¬ 
gesetz zu schaffen. 

Die Grundsätze des jetzt geltenden Auslieferungsrechtes müßten 
aber einer gründlichen Revision unterzogen werden, denn es läßt 
sich nicht bestreiten, daß die (oben dargestellten) einzelnen Bestim¬ 
mungen der Auslieferungsverträge ein gewisses Mißtrauen gegen die 
Strafrechtspflege des die Auslieferung verlangenden Staates bekunden 
und die Verfolgung flüchtiger Verbrecher erschweren. Sie greifen 
auch in die Rechtssphäre des requirierenden Staates weit hinein- 
wenn z. B. eine nach den Gesetzen des requirierten Staates eingetretene 
Verjährung die Auslieferung ausschließt, trotzdem die strafbare 
Handlung nach den Gesetzen des requirierenden Staates noch nicht 
verjährt ist, was eigentlich ganz ungerechtfertigt ist. 

Auch das Asylrecht an sich geht oft zu weit, d. i. der Kreis der 
Delikte, wegen welcher keine Auslieferung erfolgen soll, ist zu groß. 
Weshalb sollen z. B. gemeine Verbrecher, wenn die für das von ihnen 
begangene Verbrechen angedrohte Strafe ein Jahr Kerker nicht über¬ 
steigt, nicht ausgeliefert werden? 

Das Asylrecht, welches eigentlich in unseren Zeiten ein Ana¬ 
chronismus ist, soll nur für politische Delikte aufrecht erhalten bleiben, 
wobei aber der Begriff des politischen Deliktes genau — und nicht 
zu extensiv — zu umschreiben wäre'). Sonst aber soll das Asylrecht 
möglichst beschränkt werden, um die internationale Verfolgbarkeit 
der Verbrecher und damit auch die Bekämpfung des Verbrechens 
nicht zu erschweren. Bei gemeinen Verbrechen wäre nur bei wirk¬ 
lich geringfügigen Delikten, wo der Grundsatz „praetor non curat 
minima“ seine Berechtigung hat, die Auslieferung auszuschließen. 
Wurden doch schon im alten Rom unter Tiberius laute Klagen 
gegen den Mißbrauch des Asylrechtes, durch welches den Ver¬ 
brechern ganz ungewöhnlicher Vorschub geleistet wurde, erhoben 
und dagegen Vorkehrungen getroffen: 

1) Vergl. Artikel 10 Absatz 2 des Schweizer Auslieferungsgesetzes vom 
22. Januar 1892. 


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Beiträge zum Auslieferungsrecht und Auslieferungsverfahren. 179 

„Crebrescebat enim Graecas per urbes — sagt Tacitus (An- 
nales III 61) licentia atque inpunitas asyla statuendi; conplebantur 
templa pessimis servitiorum; eodem subsidio obaerati adversum credi- 
tores suspectique capitalium criminum receptabantur, nec ullum satis 
validum imperium erat coercendis seditionibus populi, flagitia homi- 
num nt caerimonias deum protegentis“. 

Um diesem Mißbrauch zu steuern, wurde den Tempeln, welche 
als Asyle dienten, aufgetragen, die Erztafeln als Dokument, womit 
sie das Recht ihres Asyles beweisen können, am Tempel anzuschlagen 
„sacrandam ad memoriam neu specie religionis im ambitionem de- 
laberentur“ (damit sie nicht die Befugnisse ihres Asylreechts über 
das ihnen zugestandene Recht ausdebnen könnten — also zur Abwehr 
von mißbräuchlicher Ausdehnung des Asylrechtes). 

Das zu erlassende Auslieferungsgesetz*) müßte bezüglich des 
materiellen Rechtes die allgemeinen Grundsätze des Auslieferungs¬ 
rechtes im Verhältnis zum internationalen Strafrecht, die Voraus¬ 
setzungen der Auslieferung und die Grenzen der Auslieferungspflicht 
resp. des Auslieferungsrechtes des Staates, die Verfolgbarkeit gemeiner 
Verbrechen im Inlande in Fällen, wo die Auslieferung unstatthaft 
oder untunlich ist usw., festsetzen. 

Das Verfahren in Auslieferungssachen müßte vereinfacht werden 1 2 ), 
jedenfalls aber wäre im Gesetze zu bestimmen, daß die Prüfung und 
Entscheidung über Auslieferungsbegehren den Gerichten zugewiesen 
werde, insbesondere in letzter Instanz dem Obersten Gerichtshöfe. 

1) Auslieferungsgesetze besitzen insbesondere Belgien, Großbritannien, die 
Niederlande, die Vereinigten Staaten von Nordamerika, die Schweiz u. a. m. Im 
deutschen Reichstag wurde im Jahre 1892 die Erlassung eines Reichsauslieferungs¬ 
gesetzes von Prof. Bar und Genossen beantragt, jedoch abgelehnt. Den Beschluß 
der deutschen Landesvers. der I.K.V. vom 8. September 1906 haben wir oben mit¬ 
geteilt. Für die Erlassung eines Auslieferungsgesetzes für das Deutsche Recht tritt 
neuerlich auch Dr. Cohn in der Einleitung zur Darstellung der Auslieferungs¬ 
verträge des Deutschen Reiches sehr lebhaft ein und bemerkt mit Recht, daß das 
Auslieferungsgesetz als feststehendes Programm den Staaten, welche solche Ver¬ 
träge abzuschließen wünschen, das Maximum der für sie erreichbaren Zugeständ¬ 
nisse zeigt und so den Vertragsschluß erleichtert. Das Auslieferungsgesetz gibt 
ferner dem Flüchtling Gewißheit darüber, wegen welcher Delikte er ein Asyl 
finden soll. Erst das Bestehen eines Auslieferungsgesetzes mit seinen festen 
Rechtsgrundsätzen ermöglicht es endlich, die Entscheidung in Auslieferungssachen 
den Gerichten zu übertragen, eine Regelung, welche trotz der unleugbaren staats¬ 
politischen Bedeutung des Auslieferungswesens mit Rücksicht auf die Vorteile 
einer festen, sicheren und gleichmäßigen Praxis durchaus wünschenswert ist. 

2) Vgl. auch Glos: Die Verfolgung flüchtiger Verbrecher in dieser Zeit¬ 
schrift 31. Bd. S. 167. 

12 * 


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Kleinere Mitteilung. 


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Von Hans Groß. 
(Mit 1 Abbildung.) 


Das Verfolgen von Faßsparen. Eine ebenso wichtige als schwierige 
Aufgabe bei Aufnahme des Tatbestandes eines Verbrechens besteht in der 
Verfolgung von etwa aufgefundenen Fußspuren, da diese selten vollständig 

ausgedrückt und in zusammenhängender Reihen¬ 
folge wahrzunehmen sind. In der Regel finden 
sich nur kleine Teile einer Spur, bei welchen 
immer vom neuen nachgewiesen werden muß, 
daß sie wirklich von einem menschlichen Fuße 
herrühren und nicht bloß sonstwie entstandene 
Terrainunebenheiten sind, und ist man auch 
sicher, daß man einen Spurenrest gefunden hat, 
so ist der nächste erst wieder in größerer Ent¬ 
fernung zu entdecken. Die größte Schwierigkeit 
besteht also darin, daß man die Richtung findet, 
in welchen weiter zu suchen ist, d. h. in welcher 
% der zu Suchende gegangen ist. — 

Auch hier können wir bei einigem Auf¬ 
merken im gewöhnlichen Leben Belehrung finden. 
Beobachten wir einmal irgend einen Weg, einen 
v Steig, welcher nicht absichtlich angelegt, sondern 
von den Leuten über eine Grasfläche oder ähn¬ 
liches Terrain ausgetreten worden ist. Wir 
nehmen wahr, daß solche Wege fast niemals in 
gerader Linie, sondern geschlängelt verlaufen, 
und daß sie in der Regel in Bögen ausgetreten 
sind, die dann und wann zusammenlaufen, eine 
Weile vereint bleiben und sich wieder trennen. 
Nehmen wir an, Leute kommen von a, so bleiben 
i alle eine Weile auf demselben Steig; schon bei b 
schwenken aber einige nach rechts, einige nach 
links ab; bei c treffen sie wieder zusammen, trennen 
sich bei d, bleiben auf verschiedenen Linien bis e etc. 
Wir sehen also, daß die Leute — wie man 
sich bei jedem derartigen Fußsteig überzeugen kann — selten geradeaus, 
sondern im Bogen, einmal rechts und einmal links ausweichen. Ob nun 
ein Teil der Menschen nach rechts, ein Teil nach links von der geraden 


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Kleinere Mitteilung. 


181 


Linie abweicht, oder ob derselbe Mensch einmal so und einmal anders geht, 
wird schwer festzustellen zu sein, wahrscheinlicher ist das erstere, da es 
sich doch um eine Gewohnheit handelt, und von einer solchen läßt einer 
nicht leicht ab. Daß diese Wegteilungen bloß durch das Ausweichen zweier, 
einander Begegnenden entstehen, ist unwahrscheinlich, da sie in der Regel 
viel weiter von einander entfernt sind, als dies zum Ausweichen nötig ist, 
und da mitunter doch dieselbe Strecke ziemlich weit vereint bleibt. — 
Was wir für unsere Arbeit hierbei lernen können, besteht darin, daß 
wir beim Verfolgen von Fußspuren fast immer fehl gehen, wenn wir in 
gerader Linie fortsuchen; wir haben dieses eigentümliche „Bogenmachen“ 
in Erinnerung zu behalten und demgemäß rechts und links vom geraden 
Wege ebenfalls zu suchen. — 


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Zeitschriften scliau. 


Archiyes d’Anthropologie criminelle. Fevrier 1909. 

Paul Gaedeken: Gontribution statistique ä la röaction de l’organiame 
sous l’influence physico-chimique des agents mötöorologiques. 

E. Martin: Etudes sur la submersion. 

Beim Tod durch Ertrinken kommt es zu folgenden Veränderungen: 

1. Von seiten der Lunge entsteht ein alveolärer Shok mit perakutem 
Emphysem, konsekutivem Ödem, welche beiden die Zirkulation in den 
Lungen aufheben. 

2. Es tritt eine akute Erweiterung des rechten Herzens mit einer Tri- 
kuspidalinsuffizienz auf, welche wieder eine starke Blutfüllung des 
Venensystemes (besonders der Ven. cava superior und inferior) zur 
Folge hat. 

3. Dies bedingt wieder eine plötzliche Blutüberfüllung der Leber, welche 
als Sicherheitsventil für die Zirkulation der Cava inferior dient, indem 
sie bei ihrer Erweiterung große Mengen von Blut in sich aufnimmt 
Dieses Rückströmen des venösen Blutes in die Lebet erzeugt trauma¬ 
tische Läsionen in diesem Organe: Hämorrhagien und Dislokationen 
der Zellbalken. 

4. Flüssige Beschaffenheit des Blutes, welche durch das Fehlen des Fibri¬ 
nogens bedingt ist. Dieser Umstand wieder ist nicht verursacht durch 
die Verdünnung des Blutes mit Wasser, sondern ist wahrscheinlich die 
Folge der Leber-Läsionen. 

Söverin Ivard: Nouvelle möthode pour obtenir la formule chiffröe du 
portrait parlö. 

Die rasche Dechiffrierung der telegraphisch übertragenen „portraits 
parlös“ leidet gegenwärtig wesentlich unter der Umständlichkeit die dadurch 
gegeben ist, daß solche Depeschen noch keinen internationalen Charakter 
tragen und zu lange und umständlich sind. Verfasser schlägt daher fußend 
auf den Angaben von Reiß und Paul Oll et eine neue Art der Ziffern¬ 
verwendung für solche Zwecke vor. Das Prinzip ist das folgende: Jedes 
„portrait parlö“ besteht aus einer Anzahl von Angaben über die Eigen¬ 
schaften bestimmter Körperteile. Bei der vorgeschlagenen Methode 
nun wird die Eigenschaft durch eine zweizifferige Zahl ausgedrückt, welche 
von 10—99 geht; der Körperteil, auf welchen sich die Angaben beziehen, 
wird gleichfalls durch eine zweizifferige Zahl ausgedrückt: 10, 11, 12 usw. 
Diese Ziffern verweisen auf die Zahl der Tabellen, welche die genauere 
Beschreibung der Eigenschaften des betreffenden Körperteiles in Worten 


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Zeitschriftenschau. 


183 


und den entsprechenden Ziffern enthalten. Die auf die Tabellenziffer sich 
beziehende Zahl ist durch das Vorsetzen eines Gedankenstriches gekenn¬ 
zeichnet. So bezeichnet z. B. in: 1120405592 11 die Tabelle Nr. 11, 
während die folgende Zahl die Eigenschaft des in Tabelle 11 beschriebenen 
Körperteiles genau wiedergibt. Verfasser verspricht sich von diesem Vor¬ 
gehen eine bedeutende Vereinfachung der Methode, vor allem durch den 
internationalen Charakter der als Chiffern verwendeten Zahlen. 

Alexis Bertrand: Le Mouvement psychologique. 

H. Pfeiffer, Graz. 


Archives d’Anthropologie criminelle. 1909. März. 

G. Tarde: Interpsychologie infantile. 

P. Gaedeken: Contribution statistique ä la röaction de l'organisme sous 
l’influence physico-chimique des agents mötöorologiques. 
Außerordentlich gründliche, auf breiter statistischer Basis ruhende Arbeit 
über den Einfluß der meteorologischen Faktoren auf die Reaktionsfähigkeit 
des menschlichen Organismus, namentlich in Hinsicht auf Selbstmord, De¬ 
likte etc. Zu kurzem Referate leider ungeeignet. 

Louis Baumann: Ceux qu’on n’a pas exdcutds. 

Der Verfasser bespricht in diesem Aufsatze das Leben der auf die 
Salutinseln Deportierten und meint zum Schluß, wenn man schon die Todes.- 
strafe abschaffen und durch die Deportation ersetzen will, so muß jeden¬ 
falls vorher diese selbst in ihrer Durchführung beträchtlich geändert werden. 

L. Tranchant: Deux cas d'amputation des phalangines de l'index et du 
mddius. 

Bericht über zwei am selben Tage ganz unabhängig voneinander er¬ 
folgte Fälle von Verstümmelung des Zeige- und Mittelfingers bei Rekruten. 
Der erste Fall betraf eine komplette Abtragung der beiden Finger der linken 
Hand mittels eines Gartenmessers. Aus dem Charakter der Verletzung 
(mehrfache Schnittwunden) konnten zunächst die Angaben des Verstümmelten, 
es handle sich um einen durch einen einzigen Schnitt verursachten Unfall 
zurückgewiesen und er zu dem Geständnis der Selbstverstümmelung gebracht 
werden. In dem zweiten Falle handelt es sich gleichfalls um eine Ab¬ 
tragung des Zeige- und Mittelfingers, diesmal der rechten Hand, wo die 
absichtliche Beibringung nicht nachweisbar war. H. Peiffer, Graz. 


Archiv für die gesamte Psychologie. 13. Bd. 4. Heft. 

0. Schnitze: Beitrag zur Psychologie des Zeitbewußtseins. 

Zusammenfassung. 

I. Wenn man je zwei akustische, taktile oder optische Reize der Vp. im 
Experiment isoliert nacheinander bietet, so ist der Eindruck derselben 
je nach der Geschwindigkeit der Sukzession mehr oder weniger deut¬ 
lich verschieden. Es lassen sich so einige Typen von Reizpaaren ab¬ 
grenzen (die S. 280 in einer schematischen Übersicht zusammengestellt 
sind), die man wiedererkennen kann und die jeweils in einer mehr oder 
weniger scharf umschriebenen Zone von Geschwindigkeiten auftreten. 


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Zeitechrif tenschau. 


2. Bei den Trillererscbeinnngen (die einem wie ein „trr“ Vorkommen) ist 
die Strecke zwischen den beiden Schlägen nicht leer, sondern erfüllt; 
das ganze Gebilde erscheint zeitlich nicht eigentlich ausgedehnt, sondern 
„psychisch präsent.“ Die Höhepunkte des Gebildes zu zählen macht 
Schwierigkeiten. — Triller treten z. B. bei akustischen Reizen zwischen 
den Geschwindigkeiten reiner Verschmelzung und etwa 60—100 o am 
reinsten auf. 

3. Die Kollektionserscheinungen sind durch eine unmittelbare Zusammen¬ 
gehörigkeit der Schläge ausgezeichnet, wobei diese deutlich voneinan¬ 
der getrennt sind. Das Merkmal der Zusammengehörigkeit der Schläge 
zu einer Gruppe ist an die Schläge selbst gebunden; es ist nicht ab¬ 
strakt, wie die Intensität, sondern ein unmittelbar Vorgefundenes Plus. 
Es bleibt dahingestellt, ob dieses Plus als Wirkungsakzent oder als Be¬ 
wußtheit aufzufassen ist. — Die Kollektionserscheinungen treten bei den 
akustischen Schlägen am reinsten rund zwischen 100 o und 350 bis 400 o 
auf. Unreine Fälle finden sich bis zu 550 und 600 o. Optisch ist der 
Eindruck unmittelbarer Zusammengehörigkeit sehr schwach entwickelt. 

4. Die Erscheinungen der subjektiven Einheitlichkeit sind gleichfalls durch 
ein unmittelbar (als ein besonderes Plus, nicht bloß abstrakt) nachweis¬ 
bares Merkmal der Zusammengehörigkeit der Schläge charakterisiert. 
Dieses Merkmal ist an das Vorhandensein von Organempfindungen ge¬ 
bunden: Schläge und Organempfindungen bilden eine unmittelbare 
Einheit. Diese Einheitlichkeit kann willkürlich herbeigeführt werden 
oder spontan auftreten. Letzteres geschieht am ehesten bei Geschwindig¬ 
keiten von 440 bis 880 o. Die gefundenen Zahlen schwanken je¬ 
doch je nach Vp. und Versuchsinstruktion stark. 

5. Der Typus der vollen Selbständigkeit unterscheidet sich von den eben 
genannten dadurch, daß die Schläge für den unmittelbaren Eindruck 
nichts miteinander zu tun haben. Dieser Typ findet sich im allge¬ 
meinen bei den größten Zeitabständen. 

6. Die Erscheinungen der subjektiven Einheitlichkeit und die Kollektions¬ 
erscheinungen haben für die Analyse des Rhythmus die größte Bedeutung. 

7. Gelegentlich treten im Verlauf der zeitlichen Gebilde eigentümliche sinn¬ 
liche und gedankliche Begleiterlebnisse von großer Mannigfaltigkeit auf. 

8. Die Abgrenzung eines Aufmerksamkeitsschrittes ist sehr schwierig und 
gelingt nicht allen Vp. Wo er abgrenzbar ist, scheint er etwa rund 
400 bis 900 o zu betragen; jedenfalls ist seine Dauer von den be¬ 
sonderen Versuchsbedingungen abhängig. 

9. Das Wort Bewußtseinsumfang ist vieldeutig. Wenn man sich streng 
an das Bewußterlebte und an den Sprachgebrauch hält, heißt es: Dauer 
eines Bewußtseinsinhaltes bis zu seinem vollen Verschwinden äus dem 
Bewußtsein. Seine maximale Größe bestimmt man am besten durch 
das Aufhören der scheinsinnlichen Nachdauer. Die Beobachtungen 
sind hierbei sehr schwierig. Vermutlich dürfte der Bewußtseinsumfang 
akustischer Schläge mittlerer Intensität rund 300 bis höchstens 500 o 
nicht überschreiten. 

10. Die zeitliche Ausdehnung ist ein Merkmal der Erlebnisse und seelischen 
Gebilde; es läßt sich nicht auf räumliche, intensive oder qualitative 
Merkmale reduzieren. 


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11. Es gibt zeitliche Gebilde, die keinen Erscheinungscharakter besitzen, 
deren Ausdehnung aber bestimmt und für den seelischen Haushalt von 
Wirksamkeit sein kann, z. B.. die Pause. 

A. Kirschmann: Über die Erkennbarkeit geometrischer Figuren und 
Schriftzeichen im indirekten Sehen. H. Pfeiffer, Graz. 


Zeitschrift für angewandte Psychologie und psychologische 
Sammelforschung. 2. Bd. Heft 5 und 6. 

J. P laß mann: Astronomisches und Terrestrisches zur Lehre von der Tiefen¬ 
wahrnehmung. 

W. Stern: Die Entwicklung der Raumwahrnehmung in der ersten Kindheit. 

Die Deutung optischer Eindrücke im dreidimensionalen Sinne kommt 
zwar nur auf Grund von Assoziationen zwischen den optischen und den 
taktil-motorischen Eindrücken zustande, aber diese Assoziation wird außer¬ 
ordentlich schneller perfekt und leistungsfähig, so daß die optischen „Tiefen¬ 
zeichen“ relativ früh in der Entwicklung des Kindes wirksam werden. 

0. Lipmann: Methodologische Beiträge zur Aussageforschung. 

Zu kurzem Referate leider ungeeignet. 

J. H. Schultz: Psychoanalyse. 

Die dankenswerte Arbeit gibt eine, auf umfassende Literaturkenntnis 
sich stützende Darstellung der Breuer-Freudschen Lehren, ihrer historischen 
Entwicklung und ihrer Aufnahme bei den Fachgenossen. 

W. Stern: Über verlagerte Raumformen. 

Alle diejenigen Merkmale eines optischen Raumgebildes, die seine Lage¬ 
beziehung zu der wahmehmenden Person ausdrücken, — seine „egozen¬ 
trischen Raummerkmale“ oben, unten, rechts, links, nah und fern — ge¬ 
hören nicht zu den angeborenen Anschauungsbestandteilen der optischen 
Raumwahrnehmung selbst, sondern entstehen erst durch assoziative Zuord¬ 
nung der optischen Eindrücke zu bestimmten Eigenbewegungen des Wahr¬ 
nehmenden und zu den damit verbundenen kinästhetischen Empfindungen. 
Das Verhalten der Kinder zu verlagerten Raumformen variiert individuell 
beträchtlich. Die Neigung zum Hervorbringen, die Fähigkeit im Erkennen 
von Verlagerungen usw. ist bei manchen Kindern ausgeprägt und lange an¬ 
haltend, bei anderen kaum bemerkbar. Die Variationen beruhen zunächst 
auf äußeren und inneren Umständen. 

H. Stadelmann: Die Beziehung der Ermüdung zur Psychose. 

Der Vorgang der Ermüdung hat zwei Stadien, das der gesteigerten 
und das der herabgesetzten Reizbarkeit. Dem eisten Stadium kommt ge¬ 
steigerte Dissoziation und gesteigerte Assoziation zu, sowie eine intensivere 
Gefühlsbildung. Bei dem zweiten Stadium ist mangelhafte Assoziation und 
Gefühlsbildung festzustellen. Die subjektiven Werte entsprechen den Ge¬ 
fühlen in den jeweiligen Zuständen. Bei Übergang des einen Zustandes in 
den anderen zeigt sich der Umsturzwert. Entsprechend diesen Gefühlen 
ist das Handeln dort impulsiv, hier lässig. Nach individuell verschieden 
langer Zeit tritt die Erholung nach der Ermüdung ein. Denkt man sich 
diesen Vorgang bei der Ermüdung stark vergrößert, dann haben wir psy¬ 
chotische Symptome vor uns. Bei genauer psychologischer Analyse der 


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psychotischen Symptome lassen sicii diese alle in den Erscheinungen bei 
dem Vorgänge der Ermüdung wieder erkennen. Dies erstreckt sich nicht 
nur auf die geistigen Symptome allein, sondern auch auf die körperlichen 
Ermüdungssymptome, die wir in vergrößertem Maße bei der Psychose wieder¬ 
finden. Es finden somit die psychotischen Symptome entsprechende Vor¬ 
gänge in der Norm. H. Pfeiffer, Graz. 

Zeitschrift für Medizinalbeamte. 22. Jahrg. Nr. 3. 1909. 

H. Traumann: Über die Bekämpfung der Diphtherie. 

F. Wolter: Zur Frage der Entstehungsursachen des Unterleibstyphus in 
Berlin. 

Rust: Kreisarzt und Kreistierarzt. 

0. Rapmund: Erwiderung auf den vorstehenden Artikel sowie auf einen 
in Nr. 3 der Berliner tierärztlichen Wochenschrift enthaltenen Artikel 
von Prof. Dr. Schmaltz. 

0. Rapmund: Das Ergebnis der Beratungen der verstärkten Budget¬ 
kommission und des preußischen Abgeordnetenhauses über die Be¬ 
soldungsordnung. H. Pfeiffer, Graz. 

Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin. Dritte Folge. 
37. Band: 2. Heft. 1909. 

A. Le sser: Verletzungen in der Umgebung des Kehlkopfeinganges durch 
Selbsterhängen. 

Interessante kasuistische Beiträge. Die ernte der Beobachtungen stellt 
sicher, daß beim Selbstmord durch Erhängen und zwar selbst dann, wenn 
er in stehender Position ausgeführt worden ist, eine zum Teile blutunter¬ 
laufene Wunde in der Umgebung des Kehlkopfeinganges entstehen kann. 
Sie zeigt ferner eine Dislokation eines Teiles der Kehldeckelschleimhaut, 
deren Entstehen allein und ausschließlich auf die Suspension zurückzuführen 
sein dürfte. Ob die bei dem beobachteten Falle bestehende auffällige Asym¬ 
metrie des Kehlkopfgerüstes die Entstehung dieses Phänomens begünstigt 
hat, läßt Verfasser offen. Bei dem zweiten Falle handelt es sich um einen 
zweifellosen Selbstmord in stehender Stellung. Eis bestand auch hier eine 
akute entzündliche Schwellung des Rachens und der Plicae aryepiglotticae. 
Eine Kontinuitätstrennung der obersten Schichten des Ligamentum aryepi- 
glotticum dextrum hat zwar hier nicht stattgefunden, aber es war zu einer 
Blutung von nicht ganz unbeträchtlicher Größe in der Mukosa gekommen. 
Vielleicht hat man sich das Zustandekommen so zu erklären, daß man an¬ 
nimmt, durch die Intumeszenz sei der betreffende Teil des Bandes während 
der Konstriktion in die Lage gekommen, gegen das Kehlkopflumen hin 
auszuweichen und so sich der totalen Gefäßkompression zu entziehen. 

C. Jacobj: Beitrag zur Beurteilung der Filix- und VeronalVergiftung. 

Gutachten über einen Fall, in dem ein gewisser R. 5 g Extractum 
Filicis maris und später 10 g Veronal zu sich genommen und verschieden 
war. Es warf sich die Frage auf, welchem der beiden Gifte der tödliche 
Ausgang zugeschrieben werden mußte. Auf Grund chemischer Untersuchungen 
und eines eingehenden Literaturstudiums wird die Antwort dahingehend ge¬ 
geben, daß R. durch die Aufnahme der 10 g Veronal verschieden sei. 


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Hobohm: Der Wert der Magendarmprobe mit besonderer Berücksichtigung 
der Verwendbarkeit von Röntgenogrammen. 

Leitsätze: 

1. Eine gleichmäßige Aufblähung des Magens und wenigstens des an¬ 
grenzenden Teiles des Dünndarmes kann in allen forensischen Fällen 
sowohl bei frischen wie bei faulen Leichen als Beweis für Gelebthaben 
angesehen werden. In den überaus seltenen Fällen, in denen es in¬ 
trauterin zu einer über den Pylorus hinausgehenden Luftfüllung des 
Intestinaltraktus gekommen ist, werden die Geburtsvorgänge stets be¬ 
kannt sein. Allerdings wird eine so intensive Luftaufnahme in der 
Regel nur dann nachzuweisen sein, wenn das Leben nicht sofort nach 
der Geburt seinen Abschluß gefunden hat; eine sehr wichtige Aus¬ 
nahme von dieser Einschränkung machen aber diejenigen Fälle, in 
denen infolge Behinderung der Lungenrespiration unverhältnismäßig 
viel Luft in den Magen gelangt ist 

2. Ist der Magen allein durch Luft aufgetrieben, so hat man an die Mög¬ 
lichkeit intrauteriner oder künstlichsr Luftfüllung zu denken. Kann 
man beides mit einiger Sicherheit ausschließen, so wird auch dieser Be¬ 
fund mit großer Sicherheit zur Unterstützung der Lungenprobe heran¬ 
gezogen werden können. 

3. Findet man nur einzelne Luftblasen im Magen, keine Aufblähung und 
keine Schwimmfähigkeit, so wird man am besten Abstand nehmen, 
hierauf einen Beweis des Lebens zu gründen. 

4. Fäulnisgase erkennt man daran, daß sie nicht kontinuierlich das Lumen 
ausfüllen. Mit einiger Wahrscheinlichkeit wird man zuweilen eine 
gleichmäßige Luftauftreibung des Magens und Darmes selbst dann noch 
als von der atmosphärischen Luft herstammend erkennen, wenn sich 
schon in der Wandung Fäulnisblasen gebildet haben. Im übrigen 
muß man bei faulen Leichen sich in der Bewertung gasförmigen In¬ 
halts nach der Gesamtfäulnisgasbildung im Körper richten, die sich 
am deutlichsten durch Röntgendurchleuchtung feststellen läßt. 

5. Negativer Befund hat eine sehr geringe Beweiskraft und wird gegen 
das Ergebnis der Lungenprobe mit irgendwelcher Sicherheit nicht ver¬ 
wendet werden können. 

6. Ganz ohne Bedeutung ist sowohl ein positiver wie ein negativer Be¬ 
fund in keinem Fall, da die Konstanz der Befunde eine sehr große ist. 

Wada: Über die Unterscheidung der Menschen- und Tierknochen. 

Leitsätze: 

1. Der Unterschied zwischen Menschen- und Tierknochen besteht haupt¬ 
sächlich darin, daß die durchschnittliche Zahl der Haversschen Kanäle 
des Menschenknochens viel geringer, ihre Weite dagegen auffallend 
größer ist als beim Tierknochen, so daß die Unterscheidung selbst 
vom Affenknochen nicht unmöglich ist. 

2. Die Knochen des neugeborenen Kindes sind betreffs der Zahl und 
Weite der Haversschen Kanäle nicht gleich denjenigen des Er¬ 
wachsenen. Sie sind vielmehr den Affenknochen ähnlich. Die Unter- 


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Scheidung ist aber nicht schwer, weil bei den Knochen des Neuge¬ 
borenen die Grenzen zwischen den Hävers sehen und interstitiellen 
Knochenlamellen ganz verwischt und die konzentrischen Anordnungen 
der Knochenlücken um die Haversschen Kanäle noch weniger aus¬ 
geprägt sind, während bei den Knochen des Affen die Haversschen 
Lamellen scharf begrenzt und ihre Knochenlücken deutlich konzentrisch 
angeordnet sind. 

3. Wenn ein verbrannter Knochen untersucht werden muß, so ist es 
zweckmäßig, daß man Gelatine-Einbettungspräparate herstellt und sie 
im auffallenden Licht mikroskopiert. 

4. Ist der Knochen dabei unvollständig verbrannt und tiefschwarz, so 
verbrenne man ihn aufs neue in einem Porzellantiegel, bis er dunkel¬ 
grau erscheint und bette ihn in Gelatine ein. 

5. Beim ganz weiß kalzinierten Knochen färbe man die Gelatine -Ein- 
bettungspräparate mit alkoholischer Methylenblau- oder Gentianaviolett- 
Lösung und schleife ein wenig, bis der Farbstoff an der Knochen- 
fiäche kaum sichtbar wird. 

Albert Hellwig: Sympathiekuren. 

Zu kurzem Referate nicht geeignet. H. Peiffer, Graz. 


Yierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin. Dritte Folge. 
37. Band. 2 . Supplement-Heft. 1909. 

Verhandlungen der IV. Tagung der Deutschen Gesellschaft für gerichtl. Medizin 
in Cöln. 21.—22. September 1908. 

I. Wissenschaftliche Sitzung. 

Nach Eröffnung der ersten wissenschaftlichen Sitzung hält der Vorsitzende 
Ungar-Bonn eine beherzigenswerte Ansprache, welche die akademische 
Stellung der gerichtlichen Medizin im Deutschen Reiche zum Gegenstände 
hat. Er fordert darin wie alle übrigen Anwesenden mit allem Nachdrucke, 
es möge entsprechend der wissenschaftlichen und sozialen Bedeutung dieser 
Disziplin ihr an den deutschen Hochschulen die Stellung eingeräumt werden, 
welche sie in den übrigen Kulturstaaten schon längst einnimmt. Sie möge 
als eine den anderm Fächern gleichwertige Spezialwissenschaft durch ge¬ 
eignete wissenschaftliche Institute und durch Aufnahme ihrer Vertreter in 
die Medizinalkollegien, sowie in die Professorenkollegien der Universitäten als 
ordentliche Professoren auch vom Staate gestützt werden. 

Puppe: Die kriminalistische Bedeutung der Rekonstruktion zertrümmerter 
Schädel vor der Hauptverhandlung. 

An der Hand praktisch wichtiger Fälle stellt hier der Vortragende 
neuerlich die Forderung auf, daß in einem fraglichen Falle von Schädel¬ 
zertrümmerung nicht nur der verletzte Schädel knochen asserviert werde, 
sondern daß er auch alsbald einer sachgemäßen Rekonstruktion unterzogen 
werde. Er bezeichnet die Unterlassung der Erfüllung dieser Forderung als 
einen Kunstfehler. In der Diskussion finden seine Ausführungen im all¬ 
gemeinen volle Zustimmung. 


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Molitoris: Erfahrungen zur Frage des biologischen Blutnachweises. 

Verfasser berichtet über Versuche, an Stelle von Serum oder ge¬ 
schlagenem Blute eingetrocknete, durch längere Zeit hindurch aufbewahrte 
Blutprobeo zur Immunisierung der Kaninchen bei der Gewinnung präzi- 
pitierender Seren zu verwenden. Er tritt für die subkutane Einverleibungs¬ 
art von Lösungen aus diesen trockenen Blutrückständen und für ihre vor¬ 
herige fraktionierte Sterilisierung bei 56—58 # C ein. Die Konservierung 
der Seren geschieht in der Menge von 1,0 ccm in sterilem Zustande ohne 
jeden weiteren desinfizierenden Zusatz, vor Licht geschützt. Wie in der 
Diskussion mit vollem Recht bemerkt wurde, stellt dieses Verfahren keines¬ 
wegs eine neue Technik dar. Es wurde vielmehr schon vor Jahren von 
Uhlenhuth für seltenere Blutsorten angewendet. (Referent arbeitet selbst 
seit 1903 bei selteneren Blutsorten gleichfalls mit den Lösungen getrock¬ 
neter Rückstände. Er injiziert dieses Material intraperitoneal). 

Weidanz: Zur Technik und Methodik der biologischen Eiweißdifferen¬ 
zierung. 

Verfasser bespricht hier zunächst die Stellung, welche Uhlenhuth 
und er selbst gegen die Einführung der Komplementbindungsmethode in 
die forensische Praxis eingenommen haben. Seine Ausführungen gipfeln 
in dem Schluß, daß bei einem negativen Ausfall der Präzipitinreaktion auf 
Grund eines positiven Ausfalls der Neißer-Sachsschen Methode ein Urteil 
in der Praxis vor Gericht nicht abgegeben werden dürfe. Wohl aber sei sie 
für den Laboratoriumsversuch, wo man a priori reine Eiweißlösungen be¬ 
sitzt, vorzüglich zu verwerten. Endlich bespricht er noch einzelne technische 
Neuerungen zur bequemeren Ausführung der Komplementbindungsmethode 

Leers: Zum spektroskopischen Nachweis kleinster Blutspuren. 

Um auch noch kleinste Hämochromogenmengen durch das Spektroskop 
nachweisen und sie namentlich von Verunreinigungen abscheiden und kon¬ 
zentrieren zu können, empfiehlt Leers folgendes Vorgehen für die Unter¬ 
suchung kleinster, verunreinigter Blutspuren: 

1. Nach Zerzupfen des Objektes sorgfältige Extraktion der Spur in einer 
kleinen Menge bis zu 33 Proz. Kalilauge unter Zusatz von absolutem 
Alkohol im Brutschränke. 

2. Nach dem Erkalten des Extraktes Zusatz von 2—3 Tropfen Pyridin 
und eines Tropfens frischen Schwefelammoniums. Umschütteln. 

3. Spektroskopieren der mit allem Hämochromogen beladenen kleinen 
und klaren Pyridinmenge. 

II. Wissenschaftliche Sitzung. 

Leers: Zur quantitativen Blutbestimmung. 

Verfasser schlägt für den quantitativen Blutnachweis den von Sahli 
verbesserten Goversehen Apparat vor. Die Standardlösung ist eine salz¬ 
saure Hämatinverbindung und entspricht in ihrer Farbennüance einer 100- 
fachen Verdünnung von normalem Blut, welches durch Zusatz der 10 fachen 
Menge von 1/10 normal Salzsäure zu einer abgemessenen Blutmenge 
(0,02 ccm gleich 20 emm) in salzsaures Hämatin umgewandelt ist. Dieselbe 
Umwandlung wird an dem zu untersuchenden Blutextrakt vorgenommen, 
indem 0,02 ccm davon mit der kleinen Kapillarpipette aufgesaugt und zu 


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Zeitschriftensehau. 


der lOfachen Menge der verdünnten Salzsäure hinzngefügt werden. Eis 
entsteht eine mehr-minder dunkel gefärbte Hämatinlösung, die mit gewöhn¬ 
lichem Wasser bis zur Farbengleichheit mit der Testlösung verdünnt wird. 
Das graduierte Röhrchen zeigt dann direkt den Hämoglobingehalt in Pro¬ 
zenten der Norm (Normalblut zu 100 Proz. angenommen) an. Die quan¬ 
titative Bestimmung gestaltet sich dann folgendermaßen: Ein Teil der Ex¬ 
traktionsflüssigkeit wird mit 10 Teilen der Normalsalzsäure und Wasser 
bis zur Farbengleichheit mit der Testlösung verdünnt Die Verdünnungs¬ 
zahl entspricht dem Normal-Hämoglobingehalt der Testlösung. Durch Gleichung 
läßt sich dann die Zahl der ccm berechnen, auf welche die ganze Extrak¬ 
tionsflüssigkeit verdünnt werden müßte, um in der Farbe der Testlösung zu 
gleichen. Diese Verdünnungszahl entspricht dem Hämoglobingebalt der ge¬ 
samten Auslaugeflüssigkeit, aus welchem sich leicht die gesamte Blutmenge 
berechnen läßt. Die mit dieser Methode gewonnenen Resultate sollen vor¬ 
zügliche sein. 

Ungar: Der heutige Stand der Lehre von der Magendarmprobe. 

Die Ausführungen des Redners können in folgende Leitsätze zusammen¬ 
gefaßt werden: 

1. Dadurch, daß die Luftfüllung des Magendarmtraktes durch die inspi¬ 
ratorische Erweiterung des Brustkorbes vermittelt wird, bildet die Magen¬ 
darmprobe in letzter Linie eine Art Atemprobe. (Die Luftfüllung er¬ 
folgt also nicht durch verschluckte Luft. Diese findet sich vielmehr 
in Form kleiner Bläschen im Magenschleim eingebettet). 

2. Der Magendarmtrakt kann völlig luftleer sein, obwohl die Lungen luft¬ 
haltig sind. 

3. Es besteht die Möglichkeit, daß Magen und Darm dadurch ihren Luft¬ 
gehalt wieder verlieren, daß die Luft seitens der Schleimhaut resorbiert 
wird. Man könne also dem Bres lauschen Satz, daß eine luftleere 
Beschaffenheit des Magendarmkanals mit großer Wahrscheinlichkeit gegen 
extrauterines Leben spricht, nicht zustimmen. 

4. Eis kann anch der Magendarmtrakt lufthaltig sein, während die Lunge 
luftleer gefunden wird. So beständen also verschiedene Möglichkeiten, 
daß durch die Magendarmprobe der Beweis des Gelebthabens erbracht 
werden kann, während die Lungenprobe ein negatives Ergebnis hatte. 

5. An der Tatsache, daß Magen und Darm durch Fäulnis gashaltig und 
schwimmfähig werden, ist nicht zu zweifeln. Eine gleichmäßige un¬ 
unterbrochene zusammenhängende Gasfüllung des Magens und der an¬ 
grenzenden Dünndarmpartien berechtigt aber zu der Annahme, daß der 
Magendarmtrakt nicht durch Fäulnis allein aufgetrieben sei. 

6. Selbst wenn nicht nur der Darm, sondern auch der Magen luftleer ist, 
wird man noch nicht ohne weiteres annehmen dürfen, daß das Kind 
gleich oder unmittelbar nach der Geburt gestorben sei. 

7. Bei einer Luftfüllung des ganzen oder fast des ganzen Dünndarmes 
ist ein stundenlanges Leben wahrscheinlicher, als ein Leben von wenig 
Minuten. 

8. Der Magendarmprobe ist eine besondere Bedeutung für die gerichts¬ 
ärztliche Praxis beizulegen und sie vermag dort noch wichtige Auf¬ 
schlüsse zu geben, wo die anderen Lebensproben im Stiche lassen. 


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Fritsch: Die Berechtigung und die Methode der Unterbrechung der 
Schwangerschaft. 

Ohne Lehrsätze aufstellen zu wollen betont der Redner, daß die ärzt¬ 
liche Unterbrechung der Schwangerschaft unter verschiedenen, von ihm näher 
ausgefiihrten Bedingungen eine vollberechtigte Operation ist. 

Ko ekel: Der mikroskopische Bau der Vogelfedern und seine Bedeutung 
für die Kriminalistik. 

An der Hand eines reichen Untersuchungsmateriales kommt der Redner 
zu dem begründeten Schlüsse, daß man im Einzelfalle aus Federchen, die 
irgend wo gefunden werden, unter günstigen Verhältnissen ohne weiteres 
ableiten könne, von welcher Vogelart sie herrühren. Häufiger wird man 
wohl zu entscheiden imstande sein, von welcher von zwei in Frage kommen¬ 
den Vogelarten die Federn stammen. Daß naturgemäß die Untersuchung 
von Federn auf ihre Herkunft oft mit einem non liquet abschließen wird, 
bedarf im Hinblicke auf das über die mikroskopischen Befunde Mitgeteilte 
keiner weiteren Begründung. 

Lochte: Zur Identifikation daktyloskopischer Bilder. 

Ziemke: Über die Entstehung der Carotisintima-Rupturen und ihre diagno¬ 
stische Bedeutung für den Tod durch Strangulation. 

Leitsätze: 

1. Die Intimarupturen der Carotiden können eine gewisse Bedeutung für 
die Diagnose der Strangulationsart gewinnen, wenn sie ohne andere 
eindeutige Befunde an der äußeren Halshaut und an den inneren Hals¬ 
teilen, oder wenn sie als einzige anatomische Veränderungen gefunden 
werden. Da sie beim Erdrosseln und Erwürgen bisher nur ganz ver¬ 
einzelt beobachtet worden sind, so spricht ihr Vorkommen zunächst 
immer mit Wahrscheinlichkeit dafür, daß von den drei verschiedenen 
Arten der Strangulation der Tod durch Erhängen in Betracht kommt 
Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, daß sie beim Erhängen wohl 
kaum ohne gleichzeitig vorhandene Strangmarke zu finden sein werden, 
weil sie durch dünne, tief in die Halshaut einschneidende oder mit 
scharfen Rändern versehene Strangwerkzeuge hervorgerufen werden. 
Ihr isoliertes Vorkommen ohne äußeren Halsbefund dürfte daher wohl 
eher für Strangulation durch Erwürgen, als durch Erhängen sprechen, 
wenn die Strangrinne nicht etwa durch vorgeschrittene Fäulnis oder 
dadurch zum Verschwinden gebracht wurde, daß das Strangwerkzeug 
unmittelbar nach der Strangulation wieder entfernt worden ist, so daß 
es zur Ausbildung einer deutlichen Strangrinne gar nicht kommen konnte. 

2. Intimarupturen, welche dicht unter der Gabelung der Carotis communis 
oder sogar über ihr liegen, machen eine Strangulation durch Erhängen 
wahrscheinlicher, als eine solche durch Erdrosseln oder Erwürgen. 
Eine tiefere Lage der Rupturen am Gefäßrohr der Carotis communis 
spricht nicht gegen Erhängen. 

3. Mehrfache Querrisse der Carotidenintima, welche nicht in einer Ebene, 
sondern untereinander gelegen sind, kommen auch beim Erhängen vor. 
Nicht immer sind atheromatöse Veränderungen der Gefäßwand die 
notwendige Voraussetzung für ihre Entstehung, wenn diese auch un- 


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leugbar eine Prädisposition für die Zerreißung der Gefäßhäute schaffen 
können. Andererseits brauchen beim Erwürgen trotz der Mehrzahl der 
Finger, welche unter Umständen einen Druck auf das Gefäßrohr aus¬ 
üben, mehrfahe Intimarupturen der Carotis nicht vorhanden zu sein. 

4. Während beim Erhängen und Erdrosseln bisher nur Intimarupturen 
von querer Richtung beobachtet worden sind, kommen beim Erwürgen 
auch solche von anderer Richtung z. B. längsgestellte vor. Intimarup¬ 
turen von anderer als annähernd horizontaler Richtung lassen also eine 
Strangulation durch Erhängen oder Erdrosseln mit ziemlicher Bestimmt¬ 
heit ausschließen und machen Tod durch Erwürgen höchst wahr¬ 
scheinlich. 

5. Glatte Beschaffenheit und regelmäßige lineare Form der Rupturränder 
spricht mehr für Erhängen, breite unregelmäßig gezackte Risse mit 
unterminierten, blutunterlaufenen und aufgerollten Rändern mehr für 
eine der beiden anderen Strangulationsarten. 

6. Doppelseitige Intimarupturen der Carotiden kommen bei Erhängten 
und bei Erdrosselten häufiger vor, als bei Erwürgten. Ein solcher Be¬ 
fund macht also a priori Erhängen eventuell Erdrosseln wahrschein¬ 
licher als Erwürgen. 

7. Beim Erhängen sind Blutextravasate in die Gefäßscheiden, namentlich 
solche von größerer Ausdehnung so selten, daß sie für die Diagnose 
unberücksichtigt bleiben können. Beim Erdrosseln und Erwürgen sind 
die Intimarupturen der Carotiden regelmäßig von meist ausgedehnteren 
Blutergüssen in die Gefäßwand oder in ihre nächste Umgebung begleitet. 
Das Vorhandensein größerer Blutextravasate in der Nähe der Intima¬ 
risse spricht also gegen Erhängen und für Erdrosseln oder Erwürgen. 

8. Beim Fehlen eines äußeren örtlichen oder überhaupt jedes charakteri¬ 
stischen Befundes können die Intimarisse der Carotiden in Kombination 
mit Blutaustritten in die Gefäßscheiden allein zu der Annahme berech¬ 
tigen, daß ein Mensch durch Erwürgen gestorben ist. 

9. Intimarupturen der Carotiden können auch durch Strangulation von 
Leichen entstehen. Hier begegnet ihre Erzeugung aber größeren 
Schwierigkeiten, als beim Lebenden. Findet man sie, so erscheint ihre 
vitale Entstehung daher zunächst wahrscheinlicher, wobei aber selbst¬ 
verständlich alle übrigen Faktoren, welche für oder gegen ein Strangu¬ 
lieren während des Lebens sprechen, auf das sorgfältigste in Betracht 
zu ziehen sind. Blutansammlungen zwischen Intima und Media der 
Carotiden, namentlich wenn sie die Intima in größerem Umkreis unter¬ 
miniert haben und umschriebene Ansammlungen von geronnenem Blut 
in den Gefäßwänden und Gefäßscheiden am Orte der Einrisse dar¬ 
stellen, sind ein absolut sicheres Zeichen für die Entstehung der Rup¬ 
turen während des Lebens, sofern eine Entstehung der Blutaustritte 
durch Hypostase auszuschließen ist 

10. Werden Intimarupturen der Carotiden bei Strangulierten angetroffen, 
so läßt sich aus ihrem Vorhandensein schließen, daß ein sehr dünner 
Strick oder ein Strangwerkzeug mit scharfen Kanten zur Strangulation 
benutzt und der Hals mit ihm sehr fest zugeschnürt worden ist. 

11. War aus irgend welchen Gründen die Stelle am Halse nicht mehr zu 
erkennen, wo das Strangwerkzeug eingewirkt hatte, so läßt sich seine 


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Zeitschriftenschau. 


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Lage noch annähernd aus der Lage der Intimarisse am Gefäßrohr der 
Carotis bestimmen, wobei zu berücksichtigen ist, daß die Risse am 
leichtesten dann entstehen, wenn das Strangwerkzeug zwischen Kehl¬ 
kopf und Zungenbein angelegt wnrde. 

12. Auch eine magere und wenig muskulöse Beschaffenheit des Halses 
und die Zerrung, welche durch Bewegungen des Körpers im Todes¬ 
kampf herrorgerufen wird, beim Erhängen ferner ein schweres Körper¬ 
gewicht kann das Zustandekommen der Intimarupturen begünstigen. 

13. Ihre Entstehung verdanken die Intimarupturen in der Hauptsache dem 
unmittelbaren Druck, welcher durch das Strangwerkzeug oder die würgen¬ 
den Finger auf das Gefäßrohr der Carotis direkt ausgeübt wird. Da¬ 
neben spielt vielleicht eine gewisse Zerrung des Gefäßrohres insoferne 
noch eine Rolle, als durch den Gefäßverschluß an der Teilungsstelle 
der Carotis communis, der wohl in allen Fällen eintritt, wo Intimarup¬ 
turen angetroffen werden, dem aus dem Herzen in die Carotis ge¬ 
worfenen Blute der Weg versperrt wird und so durch den plötzlichen 
und starken Anprall des Blutes die Gefäßwände momentan einem er¬ 
heblichen Seitendruck ausgesetzt werden, der unter Umständen so stark 
sein kann, daß der Elastizitäts-Koeffizient der Gefäßhäute überschritten 
und die durch die direkte Quetschung schon ohnehin verdünnte und 
zur Ruptur vorbereitete Intima zum Einreißen gebracht wird. 

III. Wissenschaftliche Sitzung. 

Leppmann: Über den Einfluß der Hysterie auf die Erwerbsfähigkeit vom 
Standpunkte der Invalidenversicherung. 

Die interessanten, durch reiche kasuistische Belege besonders wertvollen 
Ausführungen des Vortragenden sind leider zu einem kurzen Referate un¬ 
geeignet. ' 

Pollitz: Stellung und Aufgabe des .Strafanstaltsarztes. 

Förster: Forensische Erfahrungen bei Dementia praecox. 

Vortr. hat das Material der Bonner Prov.-Heilanstalt innerhalb der 
letzten 10 Jahre berücksichtigt. Die Delikte der mit dem Strafgesetz in 
Konflikt geratenen Individuen sind äußerst mannigfaltige. Besonderes In¬ 
teresse beanspruchen Mord- und Sittlichkeitsverbrechen, die drei- bezw. vier¬ 
mal vertreten sind. Zu den Zusammenstößen mit dem Strafgesetz führten 
in der Regel: bereits eingetretene Demenz und Urteilslosigkeit, ethische 
Entartung, Impulsivität und schließlich (imperatorische) Halluzinationen, so¬ 
wie Wahnvorstellungen. Nicht selten ist der Alkohol mit im Spiele. Be¬ 
sonders besprochen werden eigentümliche Dämmerzustände bei Dementia 
praecox, die forensisch wichtig sind. Vortr. ist mit Wilmanns der Mei¬ 
nung, daß bei akuten Haftpsychosen die Diagnose Dementia praecox zu 
häufig gestellt wird; vielfach handelt es sich dabei um degenerative Zu¬ 
stände. Drei Unfallgutachten führten weiterhin zu Erörterungen über den 
Zusammenhang zwischen Kopfverletzung und Dementia praecox. Förster 
betont zum Schlüsse die große forensische Bedeutung der Dementia praecox. 
Der Sachkundige, welcher den Zustand früh genug erkennt, vermag oft 
großes Unheil zu verhüten. 


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Zeitschriftenschau. 


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Plempel: Zur Frage des Geisteszustandes der heimlich Gebärenden. 

An der Hand von 6 Eigenbeobachtungen zieht der Vortragende am 
Schlüsse seiner Ausfahrungen die nachstehenden Folgerungen: „Wenn in 
der letzten Zeit der sogenannte Ehrennotstand als ursächliches Moment der 
Kindestötung in den Hintergrund gestellt werden soll, so möchte ich auf 
Grund der geschilderten Beobachtungen mich nachdrücklich für seine Exi¬ 
stenz und sein Wirken aussprechen. Wie ja wohl auch die Betrachtung 
dieser Fälle ergibt, daß in der Tat „die erschütternden und schwächenden 
EinflQsse beim Geburtsvorgange derart verwirrend wirken, daß die Furcht 
vor Not und Schande mit abnormer Kraft ausgestattet wird und die nor¬ 
malen Instinkte auf Beschfltzung des Neugeborenen überwältigt.“ 

H. Pfeiffer, Graz. 


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Die Feuerbestattung vom gerichtsärztlichen Standpunkt. 

Von 

Dr. Ernst Stark, Unterarzt im 5. Badischen Feldartillerie-Regiment Nr. 76. 

(Aas der Unterrichts-Anstalt für Staatsarzneikunde der Königlichen 

Universität Berlin.) 


Wenn im folgenden ein Beitrag zu der vielbehandelten Frage der 
Feuerbestattung gebracht wird, so geschieht es nicht, um etwa ihre 
so hochgerühmten hygienischen Vorzüge zu beleuchten oder ihre volks¬ 
wirtschaftliche Seite zu betrachten. Auch soll hier nicht ästhetischen 
Gefühlsschwärmereien eines Giacchi Raum gegeben sein, der in der 
Akademie von Florenz ausbricht in die Worte: „Welch traurige Ge¬ 
fühle bemächtigen sich unser bei dem Gedanken, daß das göttliche 
Gehirn eines Dante die Lieblingsspeise eines kleinen Erdwurms bilden 
konnte, und daß der Phosphor eines Streichholzes ein Leichenteilchen 
von Lord Byron enthalten kann.“ 

Vielmehr sei hier die Aufgabe gestellt, in möglichst sachlicher 
Weise die Feuerbestattung vom gerichtsärztlichen Standpunktzu 
besprechen. 

Eine Behandlung dieses Themas scheint um so mehr am Platz, 
weil einmal die Frage der Leichenverbrennung immer noch viel er¬ 
örtert und viel umstritten ist, andererseits eben die gerichtsärztliche 
Seite bis jetzt nur wenig beleuchtet wurde. Und dies aus wohlbegreif¬ 
lichen Gründen. Weitaus die Mehrzahl aller Abhandlungen über 
Bestattungswesen hat ja nur die Propaganda der Leichenverbrennung 
im Auge und daher keinerlei Interesse, die gerichtlichen Bedenken 
gegen die Feuerbestattung besonders hervorzukehren. Es sind des¬ 
halb die forensischen Einwände fast durchweg nur kurz erwähnt und 
scheinbar mit Leichtigkeit abgetan, während gerade ihre Widerlegung 
besonderen Schwierigkeiten begegnet. 

Aktuell wurde, meines Wissens zum ersten Mal, die gerichtliche 
Frage der Feuerbestattung bei einem Fall in München im Jahre 1904, 
wo das Gericht bei Verdacht auf Giftmord Leichenasche als einzig 
vorhandenes Untersuchungsobjekt zur Verfügung hatte. Dieser prak- 

Archiv für Kriminalanthropologie. 34. Bd. 14 


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IX. Ernst Stark 


tische Fall hat wohl dem Fortschreiten der Feuerbestattung mehr 
Schaden zugefügt als viele der gegnerischen Schriften und mit Recht 
die Aufmerksamkeit weiter Kreise auf die neue Bestattungsart gezogen. 
Gleichzeitig hat der Fall die für Gerichtsärzte und -Chemiker wichtige 
Folge gehabt, daß von sachkundiger Seite Untersuchungen über den 
Nachweis von Giften in der Leichenasche vorgenommen wurden. 
Eben dieser Fall, im Verein mit den dadurch hervorgerufenen Arbeiten, 
scheint mir ein Grund mehr für den Gerichtsarzt, die Feuerbestattung 
seiner Kritik zu unterziehen. Gerade er soll sich über diese Fragen 
orientieren und ein festes Urteil bilden, da er jederzeit in die Lage 
kommen kann, sein Sachverständigen-Gutachten über die Feuerbestattung 
abzugeben. 

Vor der Behandlung des eigentlichen Themas müssen daher fol¬ 
gende allgemeine Fragen besprochen werden: 

Welches Interesse hat die gerichtliche Medizin an 
der Leichenbestattung überhaupt? und 

In welchen Fällen können nachträgliche Leichen¬ 
untersuchungen für gerichtliche Zwecke erwünscht sein? 

Daran schließt sich eine Beantwortung der Frage: 

Welche Bedeutung für die Rechtsprechung haben die 
Erd-und die Feuerbestattung, ins besondere welcheSicher- 
beiten bieten sie ihr? 

Zum Schluß folgt ein Vergleich der beiden Bestattungsarten hin¬ 
sichtlich ihrer Garantien für Staatsordnung, Rechtspflege und allge¬ 
meine Sicherheit. 

Kurz vorausgeschickt sei, daß unter „Feuerbestattung“ nur die 
moderne Leichenverbrennung verstanden ist, die vorwiegend Öfen mit 
S iemens schem Gasfeuerungssystem benützt, wobei durch eine Tem¬ 
peratur von ca. 1000° C eine völlige Veraschung erzielt wird. 

Es sei nnn die erste Frage besprochen: 

„Welches Interesse hat die gerichtliche Medizin an 
der Leichenbestattung überhaupt?“ 

Während der Arzt als Beschützer und Förderer der Volksgesund¬ 
heit mit der Leichenbestattung vornehmlich eine schnelle, vollständige 
und gefahrfreie Beseitigung der Toten anstrebt, liegt für den Arzt 
als Gehilfen der Gerichtsbarkeit das Interesse an der Bestattungsweise 
vielmehr darin, den Leichnam so zu erhalten, daß dieser möglichst 
lange und möglichst sicher Ermittlungen zu gerichtlichen Zwecken ge¬ 
stattet. Es kreuzen sich also gewissermaßen die beiderseitigen Wünsche 
und Bedürfnisse, und dies kommt offenbar auch zum Ausdruck bei 
den beiden Bestattungsarten, dem Erdgrab und der Einäscherung. 


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Die Feuerbestattung vom gerichtsärztlichen Standpunkt. 197 

Wie für den Hygieniker das Ideal der Leichenbestattung sozu¬ 
sagen eine sofortige Zerlegung des toten Organismus in unschädliche 
Elemente wäre, so für den Gerichtsarzt eine gute Konservierungs¬ 
methode. Dieser, der Helfer der Gerechtigkeit, erblickt seine Aufgabe 
darin, durch möglichst zuverlässige Gutachten als Sachverständiger 
den Behörden Material in die Hand zu geben, durch das ihnen eine 
Beweisführung bei Anklagen, die Ermittlung von Verbrechen u. dergl. 
erleichtert wird. Und eben um auch nach dem Tode von Personen 
als Gutachter in erfolgreiche Wirksamkeit treten zu können, ist der 
Arzt des Forums darauf bedacht, daß die Leichen in einer für spätere 
Untersuchungen günstigen Weise bestattet werden. Der Vertreter der 
öffentlichen Gesundheitspflege dagegen hat die berufliche Pflicht, die 
durch Leichen drohenden Gefahren zu beseitigen, und geht daher 
darauf aus, Verwesungsprodukte und Infektionsmaterial der Leichen 
so schnell und gründlich als möglich zu vernichten. Doch hier soll 
nur der Standpunkt des Gerichtsarztes zu der Leichenbestattung 
besprochen werden; es ist somit zu erörtern: 

„In welchen Fällen können nachträgliche Leichen- 
untersuchungen für gerichtliche Zwecke erwünscht 
sein?“ 

Bei der zurzeit üblichen Art der Leichenschau ist es nicht zu 
verwundern, wenn oft nach erfolgter Bestattung noch eine Leichen¬ 
untersuchung gefordert wird, und so sehen sich die Gerichtsbehörden 
ab und zu veranlaßt, von dem ihnen zukommenden Recht der Ex- 
humation Gebrauch zu machen. Mannigfach sind die Gründe, die 
dem Juristen solch nachträgliche Ermittlungen an Leichen erwünscht 
erscheinen lassen. Die Abhandlungen über Feuerbestattung erwähnen 
allerdings, wenn von „juristischen“ oder „kriminalistischen“ Bedenken 
gegen deren Einführuog die Rede ist, nur die Möglichkeit durch Aus¬ 
grabungsbefunde einen Mord, gemeinhin Giftmord nachzuweisen. 
Ebenso werden aber auch Exhumationen nötig, um eine fahrlässige 
Tötung zu ermitteln oder Unterscheidungsmerkmale zu liefern zwischen 
Mord und Selbstmord, zwischen Verbrechen und Unglücks¬ 
fall. Selbst zivilrechtliche Streitfragen können Leichenaus¬ 
grabungen erheischen. Bei Unfallversicherten wird nicht so selten 
nachträglich die Obduktion der ausgegrabenen Leiche angeordnet, um 
in dem Prozeß um die Versicherungsprämie zu entscheiden, ob der 
Tod aus natürlicher Ursache oder infolge eines Unfalles eingetreten ist. 
Einen solchen Fall erzählte mir Herr Geheimrat Straßmann aus seiner 
eigenen Praxis. Einen weiteren Grund für Exhumationen fand ich 
nirgends weiter angeführt, — und doch halte ich ihn nicht für so 

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IX. Ernst Stark 


unwesentlich, wenngleich mir kein Fall aus der Praxis bekannt wurde—, 
ich meine den nachträglichen Beweis eines Selbstmordes, den je¬ 
mand begehen kann, um seinen Hinterbliebenen Vermögensvorteile zu 
verschaffen, z. B. durch Versicherungssummen, die nur bei natürlichem 
Tod zu bezahlen sind. 

Wie ferner verschiedentlich mit Recht hervorgehoben wird, be¬ 
steht der Hauptwert nachträglicher Leichenuntersuchungen weniger 
darin, einen Schuldigen zur verdienten Bestrafung zu bringen, als 
vielmehr dem ungerecht Verdächtigten das Beweismaterial seiner Un¬ 
schuld zu verschaffen. Es ist ja auch der glückliche Grundsatz unserer 
Rechtsprechung, lieber einen Schuldigen mangels genügender Beweise 
unbestraft zu lassen, als einen Unschuldigen zu verdammen. Und 
wie leicht kommen falsche Verdächtigungen vor! Es werde z. B. 
ein Arzt eines Kunstfehlers bei der Behandlung eines verstorbenen 
Patienten beschuldigt; kann er dann nicht mehr durch das entlastende 
Zeugnis der nachträglichen Obduktion seine Unschuld erweisen, so 
ist es, selbst nach erfolgender gerichtlicher Freisprechung, doch .leicht 
um seinen Ruf geschehen. Oder ein anderes Beispiel: Ein Todesfall 
durch Genuß verdorbener Nahrungsmittel bringe jemanden in den 
Verdacht, Gift gegeben zu haben. Auch hier kann unter Umständen 
nur eine nachträgliche Leichenuntersuchung die Entscheidung zwischen 
Schuld und Unschuld treffen. 

Auf Einzelheiten, wie Feststellung einer freiwillig erduldeten 
Tötung oder ähnliche seltene Fälle will ich mich nicht weiter ein¬ 
lassen, dagegen noch erwähnen, daß es von forensischem Interesse 
sein kann, die Identität eines Gestorbenen zu erweisen, sein 
Alter zu erfahren oder über besondere körperliche Zustände 
Aufschluß zu erhalten, so über eine Schwangerschaft, überstandenen 
Abort, normale Geburt oder solche infolge von Abtreibung, über noch 
bestehende Jungfernschaft u. a. m. Als juristisches Beweismaterial 
kann ferner der Fund von Fremdkörpern dienen: z. B. falsche 
oder plombierte Zähne, Geschosse, Nadeln u. dergl., Reste von Nah¬ 
rungsmitteln, und was bei weitem das Wichtigste ist, in der Leiche 
vorhandene Gifte. 

Das wertvollste Ergebnis nun, das man von nachträglichen Unter¬ 
suchungen ausgegrabener Leichen erwartet, ist die Ermittlung der 
Todesursachen. Diese unterscheiden sich nach ihrer Wirkungs¬ 
weise in äußere und innere. Eigentlich möchte man glauben, daß 
bei der zurzeit allgemein durchgeführten Leichenschau die äußern 
Todesursachen nicht verborgen bleiben könnten, auch dort nicht, 
wo die Besichtigung der Toten von Laien ausgeübt wird. Doch ist 


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Die Feuerbestattung vom gerichtsärztlichen Standpunkt. 


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dem keineswegs so. Ist es schon denkbar, daß der wenig erfahrene 
Laie einmal eine tödliche Kopfschußwunde unter starkem Haarwuchs 
übersieht, so können doch noch viel eher solche Todesursachen 
unbemerkt bleiben, auch dem untersuchenden Arzt, die bei äußerer 
Einwirkung nur innere Verletzungen hervorgerufen haben. Dies 
könnte z. B. der Fall sein bei Schlag auf den bedeckten Kopf mit 
Sprung der Schädelkapsel, Überfahren, Tritt vor den Bauch mit Zer¬ 
reißung von Eingeweiden; kurz, überhaupt bei Einwirkung stumpfer 
Gewalt. Bei derartigen Traumen finden sich ja häufig die schwersten 
inneren Zerstörungen, obwohl äußerlich keine Spur einer Verletzung 
besteht. 

Daß endlich bei ausschließlich innerlich wirkender 
Todesursache ein Übersehen oder Irrtum dem Leichenschauer bei 
der bisherigen Art der Ausübung dieses Geschäftes leicht mitunterlaufen 
konnte, ist ohne weiteres zuzugeben, auch durch manche Ausgrabungen 
tatsächlich erwiesen. 

Meine Annahmen von Gründen gerichtlicher Leichenausgrabungen 
fanden ihre Bestätigung in einer Zusammenstellung von 25 Exhu- 
mationen, die ich aus denAkten der Königlich Württembergischen 
Ministerien nachträglich, nach Beendigung meiner Arbeit, durch 
persönliche Mitteilung des Herrn Oberstaatsanwaltes v. Hecker- 
Stuttgart, erfuhr. Diese forensischen Exhumationen waren nämlich 
angestellt worden teils zur Beseitigung von Verdächtigungen, teils zur 
Entscheidung von Mord und Selbstmord (teils wegen ungenauer ärzt¬ 
licher Bescheinigung, also wohl zur genaueren Feststellung der Todes¬ 
ursache). Leider war aus dieser Statistik nicht zu ersehen, über 
welche Zeitdauer die 25 Fälle sich erstreckten, auch nicht, mit welchem 
Erfolg für gerichtliche Zwecke sie begleitet waren. 

Als tatsächliche Belege für die angeführten Möglichkeiten, unter 
welchen Umständen Exhumierungen erwünscht sein können, sollen 
noch folgende, besonders lehrreiche Fälle dienen: 

In einem von Riedel (19) berichteten Fall sollte die Exhumation 
Anhaltspunkte geben, ob bei einer Ertrunkenen Mord oder Selbstmord 
Vorgelegen habe. Der Schwager der Verstorbenen stand nämlich in 
dem Verdacht, die von ihm Geschwängerte umgebracht zu haben 
Die Obduktion der nach l 3 /-* Jahren ausgegrabenen Leiche ergab nun 
einen noch jungfräuliche Uterus; mit Sicherheit konnte also das 
Gutachten über nicht bestehende Sch wangerschaft abgegeben werden 
und damit war das verdächtigende Motiv hinfällig: der Angeklagte, 
der schon gefesselt der Ausgrabung beigewohnt hatte, wurde darauf¬ 
hin freigesprochen. 


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IX. Ebjtst Stark 


Einen ganz ähnlichen Fall berichtet Schmidtmann (16), wo 
eine weibliche Leiche nach 9 Monaten in der Abtrittsgrube völlig 
verwest aufgefunden wurde. Die Untersuchung fand den Uterus 
jungfräulich, wodurch der angezweifelte gute Ruf des angeblichen 
Schwängerers und mutmaßlichen Mörders wieder hergestellt war. 

Ein Gegenstück hierzu ist folgender ebenfalls von Schmidt¬ 
mann (16) berichteter Fall: „In der total verwesten Leiche einer 
Magd, die ungefähr 10 Monate vorher erdrosselt und in einer Scheune 
unter Heu verborgen worden war, wurde im Becken eine schmierige 
unförmliche Masse gefunden, in die das Skelett eines Kindes einge¬ 
schlossen war.“ 

Ein weiterer Fall von Leichenaushebung zur Entscheidung von 
Mord und Selbstmord ist durch v. Bergmann und Skreczka(18) 
berichtet: „Ein Feldwebel war verdächtigt, seine Geliebte ermordet 
zu haben; diese war erhängt aufgefunden, trotz des unvollkommenen 
ärztlichen Totenscheines aber begraben worden. Nach 3 Monaten 
wurde gerichtlich die Exhumation angeordnet zur Feststellung 
äußerer Verletzungen. Recht bezeichnend für die außerordent¬ 
liche Schwierigkeit der pathologisch-anatomischen Diagnostik an ver¬ 
wesenden Leichen sind die 3 verschiedenen Gutachten, die über die 
Hautveränderungen am Hals und andern Stellen abgegeben wurden. 
Das Superarbitrium kommt zu dem Schluß, daß die Hautveränderungen 
„mit größter Wahrscheinlichkeit“ als Verwesungserscheinungen, nicht 
aber als Beweis eines der Lebenden zugefügten Gewaltaktes anzu¬ 
sehen sind. (Die Verurteilung soll trotzdem erfolgt sein.) Weitere 
Beispiele von Ausgrabungen teilt Schmidtmann(l6) aus Caspers 
Praxis mit, wobei besondere „körperliche Zustände“ nachzu¬ 
weisen waren: so konnte nach 6, in einem andern Fall nach 12 Wochen 
die intakte Beschaffenheit des Hymen festgestellt werden, wodurch die 
Anschuldigung auf dem Tode vorausgegangene Notzucht und dieser 
gefolgte tödliche Krankheit hinfällig wurde. 

Auch in dem alt-ehrwürdigen Handbuch Orfilas (20) zum Ge¬ 
brauche bei gerichtlichen Ausgrabungen finden sich Beispiele, die zum 
Teil noch jetzt geeignet sind, Anwendung und Wert der Exhumation 
zu zeigen. Schon damals wurden durch Leichenausgrabungen Ver¬ 
giftungen ermittelt, Verletzungen festgestellt, Kindesmorde nachgewiesen, 
nachträglich noch Geschlecht, Alter, Größe usw. bestimmt. Auch vom 
Funde von Fremdkörpern spricht Orfila; so fand er in einer Kindes¬ 
leiche mehrere Nadeln vor. Unter nachgewiesenen gröberen patho¬ 
logischen Veränderungen erwähnt er eine Ruptura uteri (bei künstlichem 
Abort durch mechanische Mittel), ferner mehrmals eine Fractura cranii. 


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Die Feuerbestattung vom gerichtsärztlichen Standpunkt. 


201 


Es ist zu bedauern, daß in neuerer Zeit keine Zusammenstellung 
über forensische Exhumationen der Öffentlichkeit übergeben worden ist. 

Die eigentliche Hauptfrage ist nunmehr: 

„Welche Bedeutung für die Rechtsprechung haben 
die Erd- und die Feuerbestattung, insbesondere welche 
Sicherheiten bieten sie ihr?“ 

Hinsichtlich ihrer forensischen Bedeutung zeigen die beiden Be¬ 
stattungsarten, in der Erde oder durch das Feuer, fundamentale Unter¬ 
schiede, wenigstens so lange sie nach dem bisherigen Modus ausgeübt 
werden. Die Beerdigung schafft zwar den Leichnam fort, überläßt 
ihn dann aber sich selber, beziehungsweise seiner Umgebung, ohne 
noch weiter auf ihn einzuwirken. Dadurch erhält die Erdbestattung 
eine Zeitlang und bis zu einem gewissen Grade Körperform und 
organische Substanzen der begrabenen Leiche. Die Feuerbestattung 
hingegen vernichtet den Leichnam sozusagen in einem Augenblick: 
es tritt an die Stelle des Körpers die Asche, die nur noch die un¬ 
organischen Stoffe des Organismus enthält. Die „Leichenperson“ ist 
dadurch völlig verloren gegangen und übergeführt in ein für alle 
gleichartiges chemisches Gemenge. Eine Mittelstellung müßte das 
Begraben im Tachyphag einnehmen, wenn derselbe tatsächlich, wie 
seine Name verspricht, die Leiche besonders „schnell verzehrte“. Doch 
ist dies nach den gemachten Erfahrungen keineswegs der Fall; so 
gab Obermedizinalrat Dr. Scheurlen sein Gutachten im Württem- 
bergischen Medizinalkollegium dahin ab, daß „ein nennenswerter Unter¬ 
schied in der Leichenzersetzung — qualitativ und quantitativ — bei 
Beerdigung im Tachyphag oder Holzsarg nicht vorhanden“ sei. Aus 
seinen mir persönlich mitgeteilten Erfahrungen über diesbezügliche 
Exhumationen ziehe ich den Schluß, daß der anatomisch-patholo¬ 
gischen Untersuchung vermehrte Sicherheit, dem chemischen Nach¬ 
weis jedoch größere Schwierigkeit sich bietet bei Ausgrabungen von 
im Tachyphag bestatteten Leichen als bei solchen im Holzsarg. Der 
Leichnam selbst fand sich nämlich besser erhalten (etwas mumifiziert 
und in Adipocire übergegangen) im Tachyphag; die abgeschiedene 
Flüssigkeit war dagegen aus dem durchlässigen „Hartgußgips“ hin¬ 
durchgesickert. 

Werden nun nach erfolgter Bestattung vom Gerichte ärztliche 
Untersuchungen der Leichen angeordnet, so besteht bei der gewöhn¬ 
lich üblichen Art des Erdbegräbnis die Möglichkeit der Exhumation 
mit anschließender Obduktion, während bei der Leichenverbrennung 
die Nachforschungen auf ein Häuflein Asche beschränkt sind. Das 
gerichtsärztliche Gebiet erscheint demnach geschmälert um die seit- 


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IX. Ernst Stark 


herige Möglichkeit Leichen aaszagraben und daran anatomisch-patho¬ 
logische und zum Teil auch chemische Untersuchungen anzustellen. 

Zur richtigen Beurteilung und Würdigung der gerichtsärztlichen 
Bedeutung der Bestattungsart sind einerseits die Aussichten und Er¬ 
folge der Exhumationen in Betracht zu ziehen, andererseits der Wert der 
Leichenasche für forensisch-chemische Untersuchungen abzuschätzen, 

Die erwähnten anatomisch-pathologischen und chemisch-physio¬ 
logischen Untersuchungen ausgegrabener Leichen sind naturgemäß 
zeitlich beschränkt: von der Zeit hängt der Grad der Verwesung und 
damit die Ausführbarkeit der Leichenuntersuchung ab, außerdem von 
der Beschaffenheit des Grabes, von Feuchtigkeit, Luftzutritt u. a. m., 
ja selbst von der Art der begrabenen Leiche. 

Diese Faktoren lassen sich natürlich auch nicht annähernd in 
ihrer Wirkung zur Leichenfäulnis bestimmen. Da aber alle diese 
Einflüsse Hand in Hand gehen, fällt damit überhaupt eine genauere 
Bestimmung für die Dauer der Untersuchungsmöglichkeit weg. Es 
herrscht eben nirgends Einheit darin, und Angaben wie: „die voll¬ 
ständige Verwesung dauert 6, 10 und mehr Jahre“ haben keinen 
praktischen Wert. Allerdings richtet sich danach der Turnus der 
Gräber, aber Gerichtsbehörden werden sich auf solche unbestimmte 
Zeitangaben nicht verlassen und etwa davon eine Leichenausgrabung 
abhängig machen. Ferner ist es erst recht nicht möglich, genaue 
Zahlen für die Verwesungsdauer der verschiedenen Organe mensch¬ 
licher Leichen anzugeben oder über die Erhaltung organischer Stoffe 
in der begrabenen Leiche (z. B. Gifte, Nahrungsmittel) etwas Bestimmtes 
auszusagen. 

Trotz dieser geringen Aussicht auf Gelingen wurden von ver¬ 
schiedenen Seiten Versuche gemacht, zahlenmäßige Zeitangaben zu 
gewinnen für die Verwesungsdauer des menschlichen Körpers und 
seiner Organe. So hat schon Burdach in seiner „Physiologie als 
Erfahrungswissenschaft“ diesbezügliche Mitteilungen gemacht, auch 
Orfila (20), der Vater der Gerichtsmedizin Frankreichs, gab sich viel 
mit Studien über die Fäulnisvorgänge ab; ferner gab Casper einige 
Daten über die Verwesungsdauer einzelner Organe, die sich jedoch 
ebenfalls — naturgemäß! — in zu weiten Grenzen bewegen, um prak¬ 
tisch verwertbar zu sein. In etwas neuerer Zeit machte Zil ln er (17) 
folgende Beobachtungen über den Gang der Verwesung: 

1) Wanderung der wässerigen Körperbestandteile (Blutimbibition 
und Transsudation) — 1. Woche bis 1. Monat. 

2) Hinfälligkeit der Oberhautgebilde, dann des Coriums, dadurch 
Ausblutung — erste 2 Monate. 


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Die Feuerbestattung vom gerichtsärztlichen Standpunkt. 


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3) Zerfall der Muskel- und Drüsen-Parenchyme und der orga¬ 
nischen Grundlage der Knochen bis zum endlichen alleinigen Zurück¬ 
bleiben des anorganischen Knochengerüstes, des faserigen und elastischen 
Gewebes; mechanische Entfernung der Zerfallprodukte — 3.—12. Monat. 

4) Wanderung der Neutralfette (Fettimbibition und Transsudation) 
— 4.—6. Monat. 

5) Zersetzung der Neutralfette, mechanische Entfernung der 
flüssigen Spaltprodukte (Glyzerin und Ölsäure), Kristallisation und 
teilweise Verseifung der höheren Fettseifen im Panniculus. Umwand¬ 
lung des Restes des Blutfarbstoffes in kristallisierte Pigmente (be¬ 
sonders in der Umgebung der Gefäße) — 4. — 12. Monat und darüber.“ 

Nochmals sei also betont, daß die erfolgreiche Nachuntersuchung 
ausgegrabener Leichen, dieser offenbare Vorzug des Erdgrabes gegen¬ 
über der Verbrennung, immer zeitlich beschränkt bleibt. So ver¬ 
schwinden leichte Veränderungen an Organen schon durch die be¬ 
ginnende Fäulnis (vergl. Zillners 1. Zeitraum). Trotzdem, wie 
Schmidtmann(16) mit Recht hervorhebt, die Fäulnis in der Erde 
erheblich langsamer fortschreitet als an der Luft, treten die Ver¬ 
änderungen verhältnismäßig frühzeitig auf, wenigstens nach den Er¬ 
gebnissen Zillners. Symptome wie Farbenveränderung (bei Ent¬ 
zündung, Hautquetschung), Schwellung (bei Ödem, Trauma), Blutaustritt 
(Magen-, Gehirnblutung) u. a. m. sind nur kurze Zeit nachzuweisen. 
Außerdem bringen die Leichenveränderungen durch Fäulnis die Gefahr 
diagnostischer Irrtümer mit sich, so besonders bei vermuteten Ver¬ 
giftungen: die sogenannte „Magenerweichung“ kann eine Gastritis 
toxica Vortäuschen, das nicht mehr deutliche Bild von einfachen oder 
krebsigen Magengeschwüren zur Annahme von Atzwirkung verführen; 
„Mazeration“ oder Zernagung durch Insekten gleicht dem Aussehen 
von Verbrennungen. Bekannt ist der Fall Harbaum, wo die von 
Ameisen zernagte Haut des Gesichtes und Halses einer Kindsleiche 
zur Annahme einer Schwefelsäurevergiftung führte und die Verur¬ 
teilung das verdächtigten Vaters zur Folge hatte. 

Daß frühzeitige Leichenausgrabung noch Erfolg hat bei Fahndung 
nach pathologischen Veränderungen innerer Organe, zeigten zwei 
von Schmidtmann (16) berichtete Fälle, wo es gelang, „im Darm 
der 4 Wochen nach der Beerdigung exhumierten Leiche Typhusge¬ 
schwüre nachzuweisen; der behandelnde Arzt hatte hier bei seiner 
Vernehmung geschwankt zwischen Perikarditis, Volvulus und Incar- 
ceration, Oesophagus-Strikturen und Folgen von Mißhandlungen des 
Lehrers (!). Bei einem angeblich nach einem Fußtritt gegen den Bauch 
verstorbenem Menschen fand Casper an der nach 4 Wochen aus- 


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IX. Ernst Stark 


gegrabenen Leiche eine sehr große Blutung im rechten Seitenventrikel, 
kolossalen Milztumor und Nephritis, und war so imstande, den ent¬ 
standenen Verdacht zu entkräften“. 

Je gröber Veränderungen oder Verletzungen von Weichteilen sind, 
desto länger werden sie sich nachweisen lassen, selbst Monate lang 
in günstigen Fällen (Weich teilwunden durch Schnitt, Schuß usw., 
Zerreißungen und Lageveränderungen innerer Organe u. a. m.j. Als 
besonders haltbar hat sich der Uterus erwiesen, was ja auch aus den 
angeführten Exhumationen erhellte. 

Geradezu unbegrenzt lange werden sich dagegen an Knochen 
(einschl. der Zähne) Veränderungen nachweisen lassen, sowohl trau¬ 
matische als durch Krankheit entstandene. Als Beweis dafür möge 
ein Bericht Schmidtmanns ( 16 ) dienen, wonach 6000 Schädel, die 
sich in der Krypta des Klosters St. Florian fanden und aus einer 
Schlacht zu Ende der Völkerwanderung herrühren, so wohlerhalten 
sind, daß aus ihren Verletzungen genaue Vorstellungen über die da¬ 
mals gebrauchten Waffen sich bilden lassen. Denselben Beweis für 
die Haltbarkeit der Knochen erbringen die Sammlungen von Museen. 
Trotz dieser Widerstandsfähigkeit gegen Verwesung können bei 
Leichenausgrabungen gefundene Knochen diagnostische Schwierig¬ 
keiten bieten insofern, als z. B. ein Bruch nicht immer erkennen läßt, 
ob er beim Lebenden zustande gekommen ist oder erst an der Leiche. 
Die bei einer Fraktur auftretende Neubildung von Knochensubstanz 
fehlt teils schon am Normalen (wie am Schädel), teils bei gewissen 
Allgemeinerkrankungen. Unter Umständen genügende Auskunft können 
die Knochen bei Altersbestimmung liefern, auch geben sie Anhalts¬ 
punkte zur Feststellung von Persönlichkeit 

Sehr wichtigen Aufschluß gewähren Knochenveränderungen über 
Allgemeinerkrankungen (Tuberkulose, Syphilis u. s. w.). Außerdem 
halten sich Gifte in ihnen besonders lange, wie der Abschnitt über 
den Giftnachweis zeigen wird. Ferner ermöglichen gerade die Knochen 
noch am ehesten zuverlässige Ermittelungen bei dem besonders leicht 
faulenden Fötus, so die Erhebung des Alters und damit eine etwaige 
Unterscheidung zwischen Abtreibung und Kindstötung. 

Zu den am längsten sich erhaltenden Organen gehören noch 
Haare und Nägel, die unter anderm die Identität von Leichen er¬ 
kennen lassen, wobei allerdings zu berücksichtigen ist daß Haare 
unter dem Einfluß der Bodenbestandteile ihre Farbe ändern können. 

Doch all diese Punkte treten weit in den Hintergrund gegenüber 
der so überaus wichtigen Frage: Lassen sich auch Vergiftungen 
an Leichen nach ihrer Erdbestattung nachweisen? Denn ohne weiteres 


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wird jedermann zugeben, daß gerade die Vergiftungen unter allen 
Todesursachen die größte Wahrscheinlichkeit haben, bei der Leichen¬ 
schau unentdeckt zu bleiben. Daher soll, des praktischen Interesses 
und Bedürfnisses wegen, auf diese Todesart und ihren Nachweis an 
ausgegrabenen Leichen besonders eingegangen werden. 

Obwohl auch bei den Vergiftungen ein anatomisch-pathologischer 
Nachweis von großer Bedeutung wäre, so wird ein solcher doch 
gewöhnlich in Wegfall kommen, sofern es sich nicht um ganz 
frühzeitige Leichenausgrabungen handelt. Die pathologischen Ver¬ 
änderungen, die bei diesen Todesfällen im menschlichen Organismus 
stattfinden, verwaschen sich zu schnell; es handelt sich eben meist 
um feine, teilweise nur mikroskopisch nachweisbare Dinge. Die Haupt¬ 
untersuchung wird auf den chemischen und den physiologischen 
Nachweis von Giftstoffen beschränkt bleiben. Es wird also auf die 
Widerstandsfähigkeit der Gifte gegen Fäulnis einerseits, andererseits 
darauf ankommen, ob zur Zeit des Todes diese Stoffe noch im Körper 
sich befanden. Denn es ist sehr wohl denkbar, daß der Organismus 
die eingeführten Stoffe schon wieder von sich gegeben hat, ehe deren 
Wirkungen den Tod herbeigeführt hatten. Nicht nur „denkbar“ ist 
dies, sondern häufig äußerst wahrscheinlich, da der Organismus sich 
gegen aufgenommene schädliche Stoffe durch deren schleunige Be¬ 
seitigung durch Erbrechen, Diarrhöen, reichliche Urinausscheidung 
usw. zu schützen sucht. Sind nun wirklich noch Giftstoffe in einer 
Leiche bei ihrer Bestattung vorhanden, so bieten sie ihrer Natur nach 
verschiedene Nachweismöglichkeiten: organische Substanzen werden 
sich weniger leicht und kürzere Zeit, unorganische eher mit Sicher¬ 
heit und fast unbeschränkt lange nachweisen lassen. Eine Schwierig¬ 
keit wird mehr oder weniger beiden Gruppen anhaften, nämlich die 
festzustellen, ob das betreffende Gift schon bei Lebzeiten beigebracht 
oder erst nachträglich im Leichnam entstanden, aus der Umgebung 
eingedrungen oder absichtlich erst dem Toten einverleibt worden ist 

Den organischen Giftstoffen kommt große forensische Be¬ 
deutung zu; so ergibt eine Statistik, die Casimir Pörier und Gam- 
betta im Jahre 1S80 für Frankreich aufstellen ließen, daß unter 617 
Vergiftungen innerhalb 10 Jahren 105 auf organische Gifte zurück¬ 
zuführen waren (Cristoforis (13)). 

Koppels Zusammenstellung der in der Weltliteratur von 1880 
bis 1889 beschriebenen Vergiftungen ergibt, daß unter 2297 Fällen 
über 900 Mal Alkaloide angewandt waren, was die besondere Häufig¬ 
keit gerade dieser organischen Giftmittel zeigt (Kobert 25). Unter den 
Alkaloiden sind es nun vornehmlich Morphium, Opium, Atropin, 


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IX. Ernst Stark 


Cocain und Strychnin, die für gerichtlich - chemische Unter¬ 
suchungen in Betracht kommen. So waren in der eben erwähnten 
Statistik Koppels Morphium 184, Opium 148, Atropin 131, Cocain 
114, Strychnin 116 mal als Giftmittel verwandt. 

Da nun nach Straßmann (15), Wachholz bei Schmidt¬ 
mann (16) u. a. der Sektionsbefund bei Alkaloidvergiftungen im all¬ 
gemeinen ein negativer ist, so beschränkt sich der Nachweis dieser 
Intoxikationen bei Leichenausgrabungen vollkommen auf die chemische 
und physiologische Untersuchung. 

Seit Seimis Entdeckung der alkaloidähnlichen Ptomaine schien 
der chemische wie physiologische Nachweis von Pflanzengiften nicht 
mehr völlig einwandfrei und eindeutig geführt werden zu können. 
Heutzutage sind aber die gefürchteten Verwechslungen sicher zu um¬ 
gehen; besonders durch die Untersuchungen von Brieger, Dragen- 
dorff (24), Kratter u. a. sind die Pflanzenalkaloide ihrer wahren 
Natur nach genau gekennzeichnet und durch exakte Methoden von 
den Kadaveralkaloiden unterscheidbar geworden. Nach Kratter 
(28) fand sich in Kadaverextrakten nicht ein Körper, der in allen 
seinen Eigenschaften sich ganz gleich verhielte wie ein Pflanzenalka¬ 
loid. Die Ähnlichkeit der beiden Alkaloidarten beruhe vornehmlich 
auf den physiologischen Wirkungen, und aus den Sei mischen Ent¬ 
deckungen folge nur „das mit Notwendigkeit, daß in Hinkunft dem 
Tierexperimente in der gerichtlichen Toxikologie nicht mehr die ent¬ 
scheidende, sondern nur eine bestätigende Bedeutung zukomme“. Auch 
Straßmann (15) ist der Ansicht, daß man mit Bestimmtheit ein Al¬ 
kaloid als solches ansprechen kann, wenn die sämtlichen chemischen 
und physiologischen Reaktionen sich positiv zeigen. „Denn wir 
kennen kein Ptomain, welches in allen seinen Eigenschaften etwa 
mit dem Strychnin oder Atropin übereinstimmt“ 

Mit Sicherheit Alkaloidgifte in verwesenden Leichen nachzu¬ 
weisen, scheint also nach dem heutigen Stand der chemischen Analyse 
und des physiologischen Experimentes durchaus möglich; wie lange 
solche Nachweise an begrabenen Leichen gelingen, soll bei den ein¬ 
zelnen Giften besprochen werden. 

Morphium und Opium sind ziemlich widerstandsfähig gegen 
Fäulnisprozesse; so hat Goppelsroeder (5) noch nach 18 Monaten 
Morphium in begrabenen Eingeweiden auffinden können. Auch Opium 
habe sich noch nach mehreren Monaten in verfaulten Körperteilen 
vorgefunden. Panzer wies Morphin nach 6 Monaten nach, andere 
noch später (Schmidtmann (16)). Proelß (38) hat Morphin sogar 


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nach 260 Tagen nachgewiesen, Nagelvort nach 50 Tagen, Auten- 
rieth selbst nach 15 Monaten (Kobert (25)). 

Über die Nachweisdauer von Atropin finden sich bei Ipsen (33) 
mehrere Angaben: Er selbst konnte nach 12 Jahren Atropin in Blut, 
Harn und Bier auffinden, Kratter und Paltauf in Eingeweiden 
bez. im Speisebrei nach 6 Monaten. Ludwig und Mauthner fanden 
mit Sicherheit Atropin in Menschenleichen nach 1 Jahr, Ipsen selbst 
nach drei Jahren, wodurch eine Verurteilung ermöglicht wurde. Da¬ 
gegen gelang Proelß (38) schon nach 167 Tagen der Nachweis bei 
seinen Versuchen nicht mehr, was auf eine immerhin geringere Be¬ 
ständigkeit des Atropins hinweist. Auch sind Verwechslungen des 
Atropin mit andern Körpern offenbar nicht ganz ausgeschlossen: so 
glaubte Ipsen bei einer nach 2*/2 Jahren ausgegrabenen Leiche 
Atropin nachgewiesen zu haben, da die chemische und physiologische 
Untersuchung positiv ausfiel. Der gefundene Giftstoff stellte sich je¬ 
doch als Oleum Hyoscyami heraus, das äußerlich als Medikament 
angewandt worden war. Die Gefahr eines derartigen Irrtums ist 
übrigens weniger der späten Untersuchung als solcher zuzuschreiben als 
vielmehr dem Umstande, daß die beiden Alkaloide isomere Körper 
von ähnlichen chemischen und physiologischen Eigenschaften sind. 
Der Nachweis des Hyoscyamin verfügt, wie Ipsens Fall zeigte, 
ebenfalls über große Feinheit, da selbst medizinale Dosen nach langer 
Zeit zu finden waren. 

Nur wenig lange scheint dagegen Cocain der chemischen Er¬ 
mittlung zugängig zu sein; so konnte bei Proelß (38) Versuchen der 
Nachweis nicht einmal nach 14 Tagen erbracht werden. 

Die hohe Beständigkeit und Widerstandskraft des Strychnins 
gegen Fäulnisvorgänge hat Ipsen durch 14 Versuche (31) dargelegt, 
indem er in den verschiedenartigsten faulen Flüssigkeits- und Organ- 
Gemischen, selbst bei künstlich gesteigerter Fäulnis, mit Sicherheit 
das Vorhandensein dieses Alkaloides nach weisen konnte, und zwar 
gelang ihm der Nachweis nach V 2 —2 Jahren. Die chemische und 
physiologische Reaktion fiel selbst positiv aus bei der Untersuchung 
eines mit Urin verunreinigten Hemdes, das von einer mit Strychnin 
vergifteten Person herrührte und 1 Jahr lang allen äußeren Ein¬ 
wirkungen ausgesetzt war. Aus seinen Versuchen sowie aus ander¬ 
weitigen Exhumationsberichten glaubt Ipsen folgende Schlüsse ziehen 
zu können: 

„1. Das Strychnin ist selbst bei jahrelanger Verwesung in den 
Kadavern nachweisbar, wenn alle Verluste ausgeschlossen waren. Die 
Wahrscheinlichkeit, unser Gift selbst nach sehr langer Zeit in Leichen- 


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resten noch auffinden zu können, wird daher bedeutend größer sein, 
wenn die Leiche in undurchlässigem Boden (Lehm) oder in einem 
vollkommen dichten und schwer zerstörbaren Sarge ruhte. 

2. Das wiederholte Nichtauffinden von Strychnin in zweifellosen 
Vergiftungsfällen erklärt sich durch das experimentell festgestellte all¬ 
mähliche Auswandern des Strychnins mit den diffundierenden Körper¬ 
säften aus dem Kadaver. In welcher Zeit dieser Prozeß bis zum 
vollständigen Verschwinden des Giftes fortschreitet, konnte bisher noch 
nicht sichergestellt werden. Unzweifelhaft sind die hierzu erforder¬ 
lichen Zeiten sehr verschieden nach wechselnden äußeren und innern 
Bedingungen, wie Ort und Art der Bestattung, Beschaffenheit des 
Leichnams und Gang der Verwesung. 

3. Im Falle von Exhumierung wegen Vergiftung wird in Zu¬ 
kunft bei der Auswahl der für die chemische Untersuchung bestimmten 
Objekte nicht, wie üblich, das I-eicheninnere, die Organe, allein zn 
berücksichtigen sein, sondern vor allem das, was die Leiche von außen 
umgibt, und von dem Fäulnistranssudate durchtränkt worden ist, 
namentlich die Kleider und die im Sarge außerhalb der Leiche an¬ 
gesammelten Stoffe.“ 

Auch andere Forscher, wie Dragendorff, Cloetta, Erd¬ 
mann, Usler, Riecker u. a. m. bestätigen, daß Strychnin zu den 
am meisten widerstandsfähigen Alkaloiden gehört. Ferner will z. B. 
Macadam Strychnin aus Überbleibseln vergifteter Tiere noch nach 
3 Jahren nachgewiesen haben. 

Außerordentlich lange nach dem Tode, nämlich noch nach 
6 Jahren, wurde Strychnin chemisch wie physiologisch nachgewiesen 
bei einer Leiche, die in Lehm gebettet und in Fettwachs umgewandelt 
war (Kratter (29)). 

Der Nachweis des Strychnin in damit vergifteten Leichen ist aber 
nicht nur lange, sondern auch sicher zu erbringen. Befürchtungen 
von Verwechslungen mit Kadaveralkaloiden oder gar mit Bakterien¬ 
toxinen sind jetzt kaum mehr berechtigt Allerdings fanden Giotta 
Lombroso, Cortez, Brugnatelli und Zenoni ein wie Strychnin wirken¬ 
des Ptomain. Allein bei keinem Ptomain werden sämtliche physio¬ 
logischen Wirkungen und chemischen Reaktionen und Abscheidungs¬ 
weisen mit denen des Strychnins zusammenfallen (nach Dragen- 
dorf (24)). 

So gaben die in der Literatur erwähnten Leichenstrychnine ent 
weder keinen Tetanus, oder sie teilten nicht alle chemischen Reaktionen 
des Strychnin, wie z. B. ein Ptomain, das tetanische Wirkung be¬ 
sessen haben soll (Dragendorff (24)). 


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Auch eine Verwechslung des Strychnin mit Anilin ist bei der 
Durchführung zahlreicher Gruppenreaktionen zu vermeiden (im übrigen 
gehören tödliche Anilinvergiftungen zu außerordentlichen Seltenheiten). 
Andere Schwierigkeiten, z. B. die Unterscheidung des Methyl- und 
Äthyl-Strychnins von ihrer Muttersubstanz, werden in forensischer Be¬ 
ziehung erst recht nicht in Frage kommen, wären außerdem durch 
Fehlen der physiologischen Reaktion zu erkennen. Kurz, man kann 
behaupten, daß in dieser Hinsicht der chemische Nachweis des Strych¬ 
nin völlig einwandfrei zu führen ist. Andererseits geht aber aus den 
Arbeiten Ipsens hervor, daß auch Bakterientoxine nicht imstande sind, 
Strychnin vorzutäuschen; er fand, „daß das Strychnin selbst bei Gegen¬ 
wart eines in seinen biologischen Eigenschaften ziemlich gleich bez. ähn¬ 
lich wirkenden Bakteriengiftes, des Tetanotoxins, so rein abgeschieden 
werden kann, um sämtliche Einzelreaktionen damit vorzunehmen.“ 

Was für Tetanus gilt, glaubt Ipsen auch auf die Stoffwechsel¬ 
produkte aller übrigen Bakterien übertragen zu dürfen und kommt 
zu dem Schluß, daß Strychnin aus faulen Leichen trotz der gleich¬ 
zeitig vorhandenen und häufig ähnlich wirkenden Kadaveralkaloide 
noch sicher nachgewiesen werden kann. 

Bezüglich der Feinheit des Strychninnachweises sei erwähnt, daß 
nach Dragendorff (24) 0,000001 g Strychnin noch chemisch zu er¬ 
mitteln sind. Beim physiologischen Versuch tritt schon mit 0,00006 g 
die gewünschte Reaktion ein. 

Der Strychninnachweis verspricht demnach in mancher Beziehung 
Aussicht auf Erfolg, selbst wenn die Untersuchung an spät ausge¬ 
grabenen Leichen vorgenommen wird. Allerdings wird Strychnin 
sehr leicht ausgelaugt, kann daher in der Leiche selbst fehlen und 
nur in der nähern Umgebung sich vorfinden. Schließlich besteht bei 
gut durchlässiger Graberde die Gefahr, daß das Strychnin durch die 
Bodenwässer völlig ausgewaschen und so einem spätem Auffinden 
entzogen wird. Da aber de Dominicis (37) Strychnin in den 
Knochen nachweisen konnte und gleichzeitig über eine mikrochemische 
Methode mit einer Empfindlichkeit bis auf 1:1000 000 verfügt, ver¬ 
spricht der Strychninnachweis noch zu einer ganz späten Zeit sicheres 
Gelingen. So sagt auch Kratter (27), „daß der Strychninnachweis 
heute zu den bestgesicherten Aufgaben der forensen Chemie gerechnet 
werden darf“. Und dies ist sehr wichtig, da (nach Pflanz) weder 
der äußere Leichenbefund noch die Obduktion etwas Charakteristisches 
ergeben. 

Die Entscheidung, ob Strychnin intra vitam oder post mortem 
einverleibt wurde, glaubt Pflanz aus dem chemischen Befund treffen 


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IX. Ernst Stark 


zu können nach Analogie der Untersuchungen Straßmanns und 
Kirsteins „über Diffusion von Giften an der Leiche“. 

Über die Dauer der Auffindbark eit verschiedener anderer Alka¬ 
loide macht Wachholz (1. c. 16) folgende Angaben: 

„Pellacani ist es gelungen, Eserin, Atropin, Daturin und Pilo¬ 
karpin noch nach 7, Veratrin, Santonin, Kodein, Pikrotoxin und Ku¬ 
rarm noch nach 4 Monaten nachzuweisen.“ 

Proelß(38) fand Colchicin nach 258 Tagen, Veratrin nach 266 
Tagen, Kodein nach 254 Tagen, Strychnin und Brucin nach 250 Tagen, 
Pikrotoxin nach 169, Opiumalkaloide nach 165, Morphin nach 260 Tagen. 

Kobert (25), der ebenfalls P r o elß zitiert, sagt darüber: „Während 
ich diese Angaben, soweit sie sich auf Alkaloide beziehen, gelten 
lassen will, möchte ich hinsichtlich der Glykoside (Digitalin) darauf 
hinweisen, daß sie durch sehr verschiedene Arten von Mikroben zer¬ 
legt werden und daher in Leichen vermutlich meist rasch verschwinden 
dürften. So fand K. Pruriewitsch, daß z. B. die Schimmelpilze 
durch ein von ihnen produziertes Enzym Glykoside zerlegen.“ 
Dem sei entgegengehalten, daß Pro elß den Nachweis des Glykosides 
Digitalin immerhin noch nach 169 Tagen erbringen konnte. 

Auf Grund der angeführten Urteile über den Nachweis organischer 
Gifte, die von altbewährten Gerichtschemikem und andern namhaften 
Forschern abgegeben sind, auf Grund auch der exakten Daten, die 
sich ebenso aus Versuchen wie bei Exhumationen ergaben, scheint 
es möglich, Vergiftungen mit organischen Stoffen selbst bei ver¬ 
hältnismäßig später Leichenausgrabung mit für forensische Zwecke 
genügender Sicherheit zu ermitteln. Bei den jetzigen Kenntnissen der 
Ptomatine dürfte eine Verwechslung mit den Alkaloiden nicht mehr 
zu befürchten sein, wenngleich Baumert (23) noch im Jahre 1904 
ausspricht, der Gerichtschemiker werde sich beim Fund eines Pflanzen¬ 
giftes vor einer verhängnisvollen Täuschung stets sichern durch den 
gutachtlichen Satz: „Die Möglichkeit sei nach Lage der Sache nicht 
ausgeschlossen, daß das fragliche Gift ein Ptomain sein könne“. Da¬ 
gegen gibt auch Baumert in seinem Lehrbuch vom Jahr 1907 (22) 
zu: „Nach allen bis jetzt vorliegenden Erfahrungen ist unter den 
Leichenzersetzungsprodukten noch kein Stoff aufgefunden worden (mit 
Ausnahme vielleicht des Muskarins), der in seinen äußeren Eigen¬ 
schaften und in seinem gesamten physikalischen, chemischen und 
physiologischen Verhalten mit einem Pflanzenalkaloid vollständig 
übereinstimmt.“ 

Baumert (22) legt großen Wert auf den Fund von Pflanzen¬ 
resten im Mageninhalt usw. Zweifellos würde gegebenen Falles die 


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Die Feuerbestattung vom gerichtsärztlichen Standpunkt 


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Entscheidung, ob ein Pflanzengift oder Ptomain vorliegt, wesentlich 
erleichtert. So führt Baumert (22) als Beispiel das Auffinden von 
Besten der Schierlingspflanze neben einer coniinähnlichen Substanz an; 
damit wäre allerdings die Diagnose ziemlich gesichert. Doch sind 
wohl auch ohne solch eine „botanische Ausbeute 11 die Chemiker im¬ 
stande, ein bestimmtes Gutachten über gefundene Pflanzengifte abzugeben. 

Baumert (22) sagt fernerhin: „Wie die Dinge in Wirklichkeit 
liegen, bleibt im Hinblick auf die stets vorhandene Gefahr einer 
Täuschung durch Ptomaine manche Untersuchung auf Pflanzengifte 
unentschieden, insofern, als der Gutachter, falls nicht wirklich jeder 
Zweifel ausgeschlossen ist, sich für das Vorhandensein eines be¬ 
stimmten Pflanzengiftes nur mit großer Vorsicht und entsprechendem 
Vorbehalt erklären kann u . Ich möchte mich dagegen eher Robert 
anschließen und auf die gemeinschaftliche Arbeit und das überein¬ 
stimmende Ergebnis von Chemiker, Pharmakologen und Mediziner 
das Hauptgewicht legen. Robert sagt darüber: „Nur wo der Che¬ 
miker und der Pharmakologe zu derselben Diagnose kommen und 
diese auch mit den in vita beobachteten Symptomen übereinstimmt 
da ist die Sicherheit vorhanden, daß der Verstorbene wirklich durch 
dieses Gift ums Leben gekommen ist“. 

Neben den Alkaloiden verdienen|die Cyanvergiftungen be¬ 
sonderes forensisches Interesse, teils wegen der ihnen zukommenden 
Eigenschaft, bei der Leichenschau unentdeckt zu bleiben, teils wegen 
ihrer Häufigkeit. Über das Vorkommen dieser Vergiftungen geben 
verschiedene Statistiken bei Robert (25) Aufschluß: Die amtliche 
preußische berichtet von 38 Fällen für das Jahr 1908. Unter 432 Ver¬ 
giftungen in Berlin von 1876 bis 1878 waren 40 mit Blausäure¬ 
verbindungen, also fast 10 Proz. Casper erwähnt unter 206 Ver¬ 
giftungen 28 durch Cyankalium bedingte. Die Cyanverbindungen 
sind demnach unter den Vergiftungen zahlreich vertreten, was auf 
die leichte Beschaffung des Giftes zurückzuführen ist; so findet sich 
Cyankalium in technischen Gewerben, Blausäure in offiziellen Prä¬ 
paraten, in den bittern Mandeln usw. 

Der frische Sektionsbefund bei Cyanvergiftungen mag zu einer 
Diagnose beitragen können, bei einer späteren Leichenausgrabung sind 
jedoch keine diagnostisch verwertbaren Symptome mehr zu erwarten. 
Höchstens mag der spezifische Geruch sich noch einige Zeit in der 
Schädelhöhle bemerkbar machen, sofern er nicht vom Fäulnisgeruch 
überdeckt wird. 

Bezüglich des chemischen Nachweises der Cyanverbindungen 
hält Robert (25) die Wahrscheinlichkeit, Cyan quantitativ in Leichen 

Archiv für Kriminalanthropologie. 84. Bd. 15 


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IX. Ernst Stark 


wiederzufinden, für null; aber auch der qualitative Nachweis habe 
a priori wenig Aussicht auf Erfolg. Die Blausäure könne sich mit 
den Eiweißstoffen direkt oder mit dem disponiblen Schwefel verbinden, 
ferner mit Kohlehydraten sich kondensieren, schließlich auch durch 
Fäulnis oder sonstige Einflüsse sich in ameisensaures Ammoniak um 
wandeln. Übrigens erwähnt Ko bert (25) das Gelingen des Cyan¬ 
nachweises nach 8, 15, 22, 28, 100, 120, 180 Tagen (Jollymann, 
[Chem. Ztg. 1905, p. 350] fand nach 6 Monaten Cyan in Magen¬ 
inhalt). 

Kuhlmey(35), der eine besondere Abhandlung über Cyan¬ 
vergiftungen veröffentlichte, meint: „Wie lange nach dem Tode der 
Nachweis der Blausäure in der Leiche noch gelingt, darüber bestimmte 
Zeit anzugeben, ist ein vergebliches Bemühen.“ 

Bei Exhumationen gelang Braune der Nachweis nach 3 Wochen 
Herapath nach 2 Monaten. Außerdem erwähnt Kuhlmey (35) 
noch Versuche anderer, so den Nachweis des Cyan durch Benard 
nach 14 Tagen in der Lunge, nach 15 Tagen im Darm, durch, 
Sokulof nach 22 Tagen, durch Dragendorff nach 4 Wochen 
und durch Zillner nach 4 Monaten. 

„Ludwig hält es sogar für denkbar, daß sich die Blausäure 
respektive das Cyankalium 1 Jahr, selbst noch länger in einem 
Kadaver erhält. Wenn nun auch die näheren Umstände, welche eine 
so lange Nachweisbarkeit des Giftes ermöglichen, nicht bekannt sind, 
so ist es doch nicht zu bezweifeln, daß die Blausäure als chemisch nach¬ 
weisbarer Körper sich unvermutet lange in der Leiche erhalten kann.“ 

Keine so günstige Prognose für die Nachweisbarkeit stellt 
Baumert (22), der glaubt, daß die Ermittlung der Blausäure wegen 
ihrer leichten Zersetzlichkeit in bereits faulenden Organen meist nicht 
mehr möglich sein werde. Etwas besser stehe es mit dem Cyan¬ 
kalium, das nach Maisei bis zu 4 Wochen nachweisbar sei. 

Die Angaben über die Nachweisbarkeit der Cyanverbindungen 
zeigen demnach wenig Übereinstimmung; immerhin darf wohl der 
Schluß gezogen werden, daß diese Gifte bei nicht zu späten Aus¬ 
grabungen noch zu ermitteln sind, und praktisch folgt daraus, daß 
der Sachverständige bei vermuteter Cyanvergiftung dem Gericht die 
Exhumierung anzuraten hat. 

Erwähnt sei noch, daß diesen Vergiftungen eine eigentliche Er¬ 
krankung nicht vorausgeht; meist tritt, bei größerer Dosis, der Tod 
sofort oder wenigstens sehr schnell ein, daher die häufigen Fehl¬ 
diagnosen „Schlagfluß“, „Lungenschlag“, „Herzlähmung“, wegen derer 
schon Casper den Ärzten seine berechtigten Vorwürfe machte. 


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Die Feuerbestattung vom gerichtsärztlichen Standpunkt. 


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Natürlich ist es hier nicht möglich, alle organischen Giftstoffe 
zu besprechen, die etwa in forensischer Beziehung in Frage kommen 
können. Für die Mehrzahl wird das vorher Gesagte ebenfalls zu 
treffen: der chemische Nachweis stößt, mehr oder weniger bald 
nach Beerdigung der vergifteten Leiche, auf verschieden große 
Schwierigkeit und Unsicherheit; mitunter ist allerdings die Dauer der 
sichern Nachweisbarkeit eine auffallend lange. 

Die anatomische Untersuchung wird bei etwas fortgeschrittener 
Leichenfäulnis unmöglich, zumal die Veränderungen der vergifteten 
Organe nur leichte sind, abgesehen von nachher zu erwähnenden Ver¬ 
giftungen durch organische Säuren. Physiologische u. a. Methoden 
sind bei den Zersetzungsprozessen sehr unsicher und höchstens zur 
Bestätigung der andern Befunde heranzuziehen. Gar keine Aussicht 
auf ein für gerichtliche Zwecke genügendes Ergebnis bieten die Nach¬ 
forschungen nach Fäulnisgiften: sie entstehen ja auch bei der Leichen¬ 
fäulnis, wie könnte man also einen diesbezüglichen Befund für eine 
Wurst-, Fleisch-, Fisch-, Käse- o. ä. Vergiftung deuten? Auch die 
bakteriologische Untersuchung kommt selbstverständlich in Wegfall. 
Höchstens könnten noch bestimmte Nahrungsmittel überhaupt er¬ 
mittelt werden, was aber für das Gericht nicht mehr als ein leiser 
Fingerzeig bedeutete. 

Zum Abschluß des Kapitels über organische Gifte seien noch 
erwähnt: Oxalsäure, Karbol und Lysol. 

So charakteristisch nun auch der anatomische Befund bei 
baldiger Obduktion nach diesen Vergiftungen sein mag, so ist er doch 
bei späten Exhumationen von weit geringerer Bedeutung und Zu¬ 
verlässigkeit. Am längsten schiene eine Perforation des Magendarm¬ 
kanals diagnostisch zu verwerten; doch ist es zweifelhaft, ob diese 
von einer solchen durch Selbstverdauung der Magenwand deutlich 
genug zu unterscheiden wäre. Die Erkennung vitaler Perforationen 
wäre nach Schmidtmann (16) allerdings leicht, da diese klein und 
scharfrandig seien. Bei Ätzvergiftungen kommen aber namentlich 
auch postmortale Perforationen vor. Die Ätzung an sich wird nicht 
lange deutlich erkennbar bleiben. Wiederum ist also das Gericht vor¬ 
nehmlich auf den chemischen Sachverständigen angewiesen, wenn¬ 
gleich nach Kobert(25) diese Gifte zu denen „mit grob anatomischer 
Wirkung“ zu rechnen sind. 

Über das Auffinden der Oxalsäure teilt Kobert (25) mit, daß 
sie sich in faulen Fleischmassen 9 Monate hielt (nach Vitali). Ob 
sie aber immer ähnlich beständig ist, erscheint sehr zweifelhaft, da 
Oxalate durch Mikroben zerlegt werden. Sonst wäre der Nachweis 

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IX. Ernst Stark 


schon einfach zu erbringen durch die Niederschläge von oxalsaurem 
Kalk auf der Magenschleimhaut, in den Nieren usw. Nach Baumert (22) 
genügt übrigens der qualitative Nachweis an sich nicht, da die Oxal¬ 
säure zu den in der Natur sehr verbreiteten Pflanzensäuren gehört; 
es muß noch die quantitative Bestimmung ausgeführt werden. Da¬ 
mit schwindet die Aussicht einer für gerichtliche Zwecke genügenden 
Ermittlung wohl ziemlich bald nach der Beerdigung der vergifteten 
Leiche. 

Für Karbol und Lysol ergibt eine Statistik Englands, daß im 
Jahre 1897 unter 328 Selbstmorden 176 durch Karbolsäure und unter 
648 zufälligen Vergiftungen 43 durch Karbolsäure sich befanden 
(Kobert (25)). Und wie beliebt z. Z. das Lysol zu Selbstmordzwecken 
ist, ist allgemein bekannt. Trotz der außerordentlichen Häufigkeit 
dieser Vergiftungen geben sie doch nur selten Anlaß zu Exhu¬ 
mierungen, da der Leichenschauer gewöhnlich durch Geruch oder 
Verätzungen vorher auf die richtige Spur geleitet wird. 

Über die Haltbarkeit des Karbols und Lysols liegen genauere 
Angaben nicht vor. Bei Lesser (34) sind Karbolsäurevergiftungen 
erwähnt, wo die Analyse 27—54 Tage nach dem Tode gelang. In 
Leichen sollen nach Dragendorff (24) die Fäulnisprodukte dem 
Nachweise des Phenols sehr hinderlich sein. Wie lange überhaupt 
Aussicht auf chemische Ermittlung besteht, bespricht auch Dragen¬ 
dorff nicht; sie scheint für die Phenole ebenso ungünstig wie für 
die organischen Säuren zu liegen. — 

Auch nach unorganischen Giftstoffen kann bei gericht¬ 
lichen Leichenausgrabungen gefahndet werden; in Betracht kommen 
dabei die giftigen Verbindungen der Metalle, die Mineralsäuren 
und ganz besonders die Metalloide Phosphor und Arsen. 

Ohne weiteres wird man sich sagen, daß bei dieser Gruppe von 
Giftstoffen die Aussicht auf einen Nachweis selbst in Leichen, die 
schon lange beerdigt sind, eine viel günstigere sein muß als bei den 
organischen Stoffen. Vor allem ist hier weniger jene Gefahr zu be¬ 
fürchten wie bei den Alkaloiden, daß die Verwesungsprodukte der 
Leiche selbst zu Täuschungen Veranlassung geben; eine Umsetzung 
der Leichensubstanzen in den unorganischen Giften ähnliche Ver¬ 
bindungen gibt es nicht. Dagegen bleibt eine andere Schwierigkeit 
bestehen und tritt sehr in den Vordergrund, nämlich die Entscheidung, 
ob etwa Vorgefundene Giftstoffe nicht dem Körper als Medikamente 
u. dgl. eingeführt wurden oder ob sie nicht überhaupt physiologische 
Bestandteile des Körpers sind. Ersteres ist z. B. zu erwägen bei 
Arsen und Quecksilber, auch Phosphor; letzteres ebenfalls und zwar 


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Die Feuerbestattung vom gerichtsärztlichen Standpunkt. 


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vorwiegend bei Phosphor, der sich in bestatteten Leichen wohl nie 
mehr frei nachweisen läßt, bekanntlich aber normalerweise im mensch¬ 
lichen Körper vorkommt, z. B. als phosphorsaurer Kalk im Knochen. 
Der normale Kupfergehalt der Leber ist wohl zu gering, um prak¬ 
tisch in Betracht zu kommen; dagegen können Blei, Arsen u. a. an¬ 
organische Giftstoffe infolge beruflicher, chronischer Intoxikation in 
einem Körper sich vorfinden und so unter Umständen verbrecherische 
Vergiftung vortäuschen. Kurz nach dem Tod würde es in solchen 
Fällen dem Untersucher ohne Schwierigkeit gelingen, eine sichere 
Entscheidung zu fällen; anatomische Veränderungen, die noch er¬ 
kennbar, würden ihm den Weg zeigen, auf dem das Gift in den 
Körper gedrungen ist, eine gleichmäßige Diffusion in alle Leichen¬ 
teile, wie sie bei Verwesung eintritt, wäre noch nicht vorhanden. — 

Auch bei den anorganischen Giften soll nur der Nachweis 
einiger besonders wichtigen besprochen werden. 

Bleivergiftungen sind am häufigsten im Gewerbe, doch kommen 
solche gelegentlich auch sonst vor, so z. B. infolge Verwechslung von 
Medikamenten (Bleizucker etc.), bei Gebrauch bleihaltiger Geschirre 
zum Kochen u. a. m. Bekannt ist ein Fall von Vergiftung bei An¬ 
wendung einer Schminke, die Blei enthielt. Was den chemischen 
Nachweis des Bleis betrifft, so hängt er von vielen Faktoren, ja so 
recht eigentlich von der Gunst des Schicksals ab. Tritt Luft hinzu, 
so wird Blei selbst von schwachen organischen Säuren, z. B. Essig¬ 
säure, gelöst, kann also vom Regenwasser vollständig weggeschwemmt 
werden. Bildet sich dagegen Bleisulfat, so haben jfwir es mit einem 
unlöslichen Bleisalz zu tun und können es nun unter günstigen Um¬ 
ständen unbeschränkt lange nachweisen. Nach Baumert (23) ent¬ 
stehen übrigens bei den Bleivergiftungen meist schwer lösliche Salze: 
Bleikarbonat, -chlorid und -sulfat. Es versteht sich wohl von selbst, 
daß es unmöglich ist, alle Eventualitäten zu diskutieren, was mit einem 
derartigen Giftstoffe in verwesenden Leichen geschehen kann. Wir 
wollten nur, gleich beim Beginn unserer Besprechung der anorgani¬ 
schen Gifte, hervorheben, daß man auch bei diesen nicht immer auf 
eine chemische Ermittlung rechnen kann in der Annahme: die un¬ 
organischen Stoffe zersetzen sich nicht! Bei den völlig unberechen¬ 
baren Fäulnisvorgängen läßt es sich eben gar nicht absehen, welche 
Verbindungen z. B. ein Metall eingehen wird, ob lösliche oder un¬ 
lösliche. Übrigens ist mit der Löslichkeit eines derartigen Giftes noch 
nicht jede Aussicht auf Nachweis entschwunden, es kann ja beispiels¬ 
weise eine Leiche auf undurchlässiger Bodenschicht ruhen. Diese 
Punkte, die erst bei fortgeschrittener Leichenverwesung in Betracht 


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216 


IX. Erkst Stark 


kommen, gelten auch für die im folgenden erwähnten unorganischen 
Giftstoffe. 

Gerade für Kupfer trifft das eben Gesagte zu, denn das be¬ 
kannte Kupfervitriol ist in Wasser löslich, ebenso essigsaures Kupfer. 
Ist ein unlösliches Salz gebildet, so muß sein Nachweis unbeschränkt 
lange sich führen lassen, vorausgesetzt, daß es nicht mechanisch durch 
Wegschwemmen entfernt wird. 

In forenser Beziehung noch wichtiger als die beiden eben ge¬ 
nannten Metalle ist das Quecksilber mit seinen giftigen Ver¬ 
bindungen. Leider sehen wir uns hinsichtlich seines Nachweises auf 
ähnliche theoretische Mutmaßungen beschränkt, wie bei den Blei- und 
Kupferverbindungen: es sind uns auch hierfür weder Exhumationen 
noch Versuche zur Auffindung dieser Gifte bekannt geworden. Nur 
Dragendorff spricht sich darüber aus und meint, daß bei der 
Quecksilbervergiftung selbst in länger beerdigten Leichen das Gift 
sich noch erwarten lasse. Man müsse sich übrigens vor Irrtümern 
in acht nehmen, da HgCh häufig zur Leichendesinfektion (bei 
Diphtheritis etc.) Verwendung finde. Selbstredend gilt dasselbe für 
den therapeutischen Gebrauch der Hg-Präparate. Da bei derartigen 
Vergiftungen die Sicherheit des chemischen Nachweises je nach den 
äußern Umständen sich richten wird, so ist, sofern noch möglich, die 
anatomische Leichenuntersuchung als wichtiges Hilfsmittel heranzu¬ 
ziehen. Es kann z. B. das betreffende Gift aus Magen und Darm 
schon völlig verschwunden sein, in den sogenannten zweiten Wegen 
finden sich nur noch seine Spuren, die, wenn auch die Qualität, so 
jedenfalls nicht die Quantität und den Weg der Einführung des Gift¬ 
stoffes erkennen lassen. Die anatomisch-pathologischen Ermittlungen 
ergeben dann vielleicht, daß eine Gastroenteritis Vorgelegen hat oder 
andere Befunde, wodurch dann die Annahme einer Vergiftung an 
Wahrscheinlichkeit gewinnt. Und gerade die Mercurialintoxikationen 
bieten einen charakteristischen anatomischen Befund, der den allen¬ 
falls ungenügenden chemischen Beweis ergänzen kann. So finden 
sich bei Sublimatvergiftung in den oberen Verdauungswegen die be¬ 
kannten Verätzungen und Verschorfungen, und, was wohl nur kurze 
Zeit nach dem Tode sich nachweisen läßt, der crupöse (diphtherie- 
ähnliche) graue Belag der Magen- und Darmschleimhäute. 

Die übrigen Metalle geben so selten zu tödlichen Vergiftungen 
Anlaß, daß ihr Nachweis in ausgegrabenen Leichen praktisch gar 
nicht in Betracht kommt. Im allgemeinen gilt auch für sie, daß sie 
unbegrenzt lange durch chemische Analyse sich ermitteln lassen, wenn 
sie nicht gerade in leicht lösliche Salze übergeführt und völlig aus- 


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Die Feuerbestattung vom gerichtsärztlichen Standpunkt. 


217 


gewaschen sind. Es können dabei übrigens schwierige, ja nicht lös¬ 
bare Differentialdiagnosen Vorkommen, z. B. ob Vorgefundenes Kali 
auf Vergiftung mit chlorsaurem Kali oder auf den natürlichen Ge¬ 
halt der Muskeln an Kalisalzen zurückzuführen ist. Die anatomischen 
Veränderungen, die diese übrigen Metalle hervorufen, sind nicht geeignet, 
längere Zeit nach dem Tod genaue Schlüsse ziehen zu lassen; so 
geben Vergiftungen mit Kali chloricum, mit Barytsalzen u. a. keine 
spezifischen Sektionsbefunde. 

Wenn im folgenden vom Nachweis der Mineralsäuren an aus¬ 
gegrabenen Leichen gesprochen wird, so möchte man sich fast 
wundem in der Annahme: Säurevergiftungen können überhaupt nicht 
unentdeckt bleiben bei der zurzeit allgemein eingeführten Leichen¬ 
schau, wozu also die müßige Frage nach deren Nachweismöglichkeit? 

Allein trotz ihren ätzenden Wirkungen können Säurevergiftungen 
einer äußeren Leichenbesichtigung entgehen, wie aus zwei bei Schmidt¬ 
mann (16) mitgeteilten Leichenbefunden hervorgeht: So schildert der 
127. Fall seines Handbuches einen Frachtabtreibungsversuch mittels 
Schwefelsäure, an dem Mutter nebst Fracht zugrunde gingen. Die 
Mutter hatte ein Fläschchen rohe Schwefelsäure, vermischt mit Brennöl 
ausgetrunken. „Äußerlich fand man nichts an der Leiche Auffallendes, 
auch nicht an der Zunge." Wir erwähnen ferner den Fall 128 des¬ 
selben Buches: Ein Mädchen hatte zwei Eßlöffel Schwefelsäure ge¬ 
trunken, starb nach fünf Tagen; „die Zunge war vollkommen normal, 
war aber offenbar es in den Tagen der Krankheit erst wieder ge¬ 
worden.“ 

Gelegentlich ereignen sich Säurevergiftungen auch aus Versehen, 
z. B. Verwechslung einer Medizin mit einer Flasche Salzsäure; doch 
können derartige Fälle für uns kaum in Betracht kommen, da dann 
die Umgebung des Getöteten wenig Interesse an Verheimlichung des 
wahren Sachverhalts haben wird. Es müßten denn die betreffenden 
Personen (Eltern, Krankenpfleger o. dgl.) den Unglücksfall aus Furcht 
vor Bestrafung wegen Fahrlässigkeit verdunkeln wollen. 

Sollte nun einmal zur Ermittlung einer Säurevergiftung eine 
Leichenausgrabung stattfinden, so ließe sich, falls nicht zu viel Zeit 
verstrichen ist, zu dem charakteristischen anatomischen Befund leicht 
eine chemische Analyse ergänzend beifügen. Solange der Magen¬ 
inhalt noch vorhanden ist, können natürlich Schwefel-, Salz-, Salpeter- 
u. a. -säuren mit einiger Aussicht aufgesucht werden. Auch bei 
Diffusion der Säuren kann ihre Auffindung noch möglich sein, teils 
direkt, teils in entstandenen Salzen, sowohl in den Leichenteilen selbst 
als in deren Umgebung. 


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IX. Ernst Stark 


Ähnliches trifft für die alkalischen Langen zu. 

Die Phosphor Vergiftungen bieten einen recht charakteristischen 
Sektionsbefund, doch bedarf er, wie mehr oder weniger alle Ver¬ 
giftungen, zur absoluten Sicherstellung der Diagnose noch der chemi¬ 
schen Analyse. Die anatomisch - pathologischen Veränderungen sind 
nun so ausgesprochen, daß sie auch bei etwas späten Leichen- 
ausgrabungen noch mit einiger Sicherheit zu erheben sind. Dagegen 
scheint der chemische Nachweis bei dieser Vergiftung weniger langes 
Gelingen zu versprechen als der anatomische, da mitunter bei Ob¬ 
duktionen die unmittelbar nach dem Tode stattfanden, die chemische 
Analyse schon versagte. So erinnere ich mich, wie im Sommer 1907 
Geheimrat Orth aus einem Sektionsbefund mit absoluter Sicherheit 
auf Phosphorvergiftung schließen zu dürfen glaubte, während die so¬ 
gleich angeschloBsene chemische Untersuchung nicht mehr imstande 
war, Phosphor aufzufinden. Auch unter den 17 von Lesser(34) 
berichteten Phospborvergiftungen war 9mal das Ergebnis völlig 
negativ, obwohl die Untersuchung z. T. nur wenige Tage nach dem 
Tode angestellt wurde. 

In einigen andern Fällen fand sich allerdings noch phosphorige 
Säure; deren Auffinden hat jedoch keine absolute Beweiskraft für 
eine stattgehabte Phosphorvergiftung, da ihre Salze aus den Phos¬ 
phaten, also normalen Bestandteilen des menschlichen Körpers, durch 
reduzierende Fäulnisvorgänge entstanden sein können. Auch zu thera¬ 
peutischen Zwecken könnten die Phosphite eingeführt worden sein. 
Dagegen gelang es nach Lesser(34) in einem Fall, noch nach 
88 Tagen Phosphor in Substanz trotz sehr weit vorgeschrittener 
Leichenfäulnis nachzuweisen, in 2 andern Fällen nach 8 bez. 3 Tagen. 
Le88er schließt nun aus seinen Untersuchungsergebnissen, „daß bei 
längeren Intervallen zwischen Einführung des Giftes und Beginn der 
Analyse der negative Ausfall dieser nicht so sehr durch postmortale 
Oxydation der Noxe, als durch den Giftgehalt der Teile bezw. den 
Mangel eines solchen im Moment des Ablebens bedingt wird.“ Auf¬ 
fallend lang konnte (nach Robert (25)) Bosnjakowic den Nachweis 
freien Phosphors erbringen, nämlich nach 15 V 2 Monaten in vier Or¬ 
ganen einer Leiche.-Daß sich schließlich ganze Phosphorstücke 

länger halten werden, als fein verteiltes Ph - pulver, braucht wohl 
kaum erwähnt zu werden. 

Noch weit günstiger steht es mit dem chemischen Nachweis in 
exhumierten Kadavern für das Arsen, das Lieblingsgift der Mörder 
und früher auch der Selbstmörder; dagegen bietet der anatomisch¬ 
pathologische Nachweis einer Arsenvergiftung geringere Chancen. 


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Die Feuerbestattung vom gerichtsärztlichen Standpunkt. 


219 


Die außerordentliche Bedeutung der Arsenvergiftung liegt für uns 
nicht nur in ihrem häufigen Vorkommen, — eine Statistik gibt weiter 
unten darüber Aufschluß —, sondern vornehmlich in dem Umstand, 
daß diese Vergiftung sehr leicht gewöhnliche Krankheiten vorspiegeln 
kann, z. B. Magendarmkatarrh, Cholera, und so selbst den behandeln¬ 
den Arzt täuscht und eventuell zur Ausstellung eines diesbezüglichen 
Leichenscheines bewegt. Wie oft Arsenvergiftungen unerkannt bleiben, 
beweisen die zahlreichen Exhumationen, die als Todesursache Arsen 
und seine Präparate noch nachträglich ergaben. Lesser (34) erwähnt 
unter 48 Arsenvergiftungen 9 Fälle, wo der Nachweis erst bei der 
Leichenausgrabung erfolgte, teils nach verschiedenen Monaten, einmal 
sogar noch nach über 10 Jahren. Auch in Caspers Handbuch 
findet sich eine Reihe derartiger Exhumationsergebnisse zusammen¬ 
gestellt, der folgende Fälle entnommen sind: 


Fall: 

Zeit nach Beerdig. 

Ergebnis: 

172. 

11 J. 

nur in den Haaren 

179. 

1 J. 4 M. 

+ (arseniksaures Kupfer) 

180. 

3 J. 

± 

181. 

8 J. 

+ 


Wir haben noch hinzuzufügen: 

ad 179. Fall: Eine vorhergehende Obduktion hatte nur die 
Diagnose „Darmkatarrh“ ergeben, trotzdem sie von den behandelnden 
Ärzten ausgeführt worden war. Dies beweist, daß auch eine Ob¬ 
duktion ohne genaue chemische Untersuchung nicht unbedingt vor 
Irrtümern in Annahme der Todesursache schützt. 

ad 180. Fall: Es fand sich As in der Leiche, aber gleichzeitig 
auch in der umgebenden Erde, ein Umstand, auf den wir noch nach¬ 
her zu sprechen kommen. Der Tod war aus anderer Ursache ein¬ 
getreten. 

ad 181. Fall: Die Untersuchung ergab mit Wahrscheinlich¬ 
keit As, quantitativ jedoch nicht ausreichend. 

Über die große Zahl von verborgen gebliebenen Arsenvergiftungen 
berichtet die „Enzyklopädie der Hygiene“ (9) (Abschn. Leichenver¬ 
brennung) p. 21: „Eine neuerdings angestellte Enquete in Preußen 
ergab, daß dort z. B. jährlich im Durchschnitt allein etwa 10 post¬ 
hume Leichenuntersuchungen aus Anlaß von Ermordungen durch 
Arsenikvergiftungen ausgeführt werden, welche selbst bei obligatori¬ 
scher ärztlicher Leichenschau nicht festzustellen gewesen wären.“ In 
wieweit dabei die nachträglichen Ermittlungen von Arsen erfolgreich 
waren, ist leider nicht mitgeteilt. 


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IX. Ernst Stark 


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Um ein anschauliches Bild zu geben von den Schwierigkeiten, 
die dem Gerichtsarzt bei Abgabe des Urteils „Arsenvergiftung“ be¬ 
gegnen, sei ein interessanter und charakteristischer Fall wiedergegeben, 
den Dittrich (26) veröffentlicht hat in einer Abhandlung „Über die 
die Grenzen der forensischen Verwertbarkeit des] chemischen Arsen¬ 
nachweises bei Exhumierungen.“ Der Tatbestand ist kurz folgender: 
Der Knecht Joseph W., der mit seinem Schwager Albert K. und 
dessen Ehefrau zusammenlebte, wurde eines Morgens tot in seinem 
Lager aufgefunden. Am Abend vorher hatte er mit der übrigen 
Familie gemeinsam aus einer Schüssel gegessen, dabei war nur auf¬ 
gefallen, „daß Joseph W. .wie nach einer schweren Arbeit stark ge¬ 
rötet war und schwitzte.“ Da Verdacht entstand, Joseph W. sei von 
seinem Schwager Albert K. vergiftet worden, fand drei Tage darauf 
die gerichtliche Sektion statt. Es ergab sich „ ein hochgradiger akuter 
Magendarmkatarrh mit Wulstung, Lockerung und Ekchymosierung 
der Schleimhaut des Magens und des Zwölffingerdarms, mäßige 
Lockerung der Schleimhaut der übrigen Darmabschnitte“. Die che¬ 
mische Untersuchung wies nun „deutliche Spuren von Arsenik in 
dem spärlichen Mageninhalt“ nach. „Hervortretender war der Befund 
von Arsenik in Stücken des Magens, im Dünndarm, Dickdarm, in der 
Leber, Milz, in den Nieren und im Blaseninhalt“ Die zwei Gerichts¬ 
ärzte gaben auf Grund ihres Sektionsergebnisses und dieser chemischen 
Befunde ihr Gutachten dahin ab, „daß Joseph W. an Vergiftung durch 
Arsenik gestorben sei“. Dies gab weiterhin die Veranlassung, die 
Leichen von vier andern Familienangehörigen auszugraben, welche 
vor ca. 5 Jahren, im Verlauf von 1 Vs Jahren, ebenfalls plötzlich ge¬ 
storben waren. Als Todesursache war vom Leichenschauer, dem 
Gemeindevorsteher, „Schlaganfall“ in all diesen Fällen angenommen 
worden. Die an die Exhumation sich anschließende chemische Unter¬ 
suchung ergab, daß in allen vier Leichenüberresten bezw. Kleidern 
Arsen nachzuweisen war. Die Graberde zeigte sich frei von As, so 
daß die Gerichtsärzte sich dahin aussprachen, aus dem chemischen 
Befunde gehe unzweifelhaft hervor, daß das Gift nicht aus der Um¬ 
gebung in die Leichen gelangt sei. Aus verschiedenen Gründen 
hielten die Ärzte es für unwahrscheinlich, daß die Kleider die Quelle 
des As waren, vielmehr sei dasselbe dem Verstorbenen während des 
Lebens beigebracht worden. Krankhafte Veränderungen ließen sich 
wegen zu weit fortgeschrittener Verwesung nicht mehr erkennen. Die 
Gerichtsärzte kamen nach ihren Ausführungen zum Schluß, daß die 
vier Mitglieder der W.schen Familie ebenfalls durch Arsenvergiftung 
zugrunde gegangen seien. Es wurde nun ein Fakultätsgutacbten ver- 


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Die Feuerbestattung vom gerichtsärztlichen Standpunkt. 


221 


langt, das etwa ff. ausführte: „Es sei anzunehmen, daß Joseph W. 
einer akuten Arsenvergiftung erlegen sei; daß für die vier andern 
Familienglieder eine solche nicht nachzuweisen sei, da anatomisch- 
pathologische Befunde fehlen, ein Übergang von Arsen aus Kleidungs¬ 
stücken usw. nicht bestimmt auszuschließen sei.“ Daraufhin wurde 
Albert K. von den Geschworenen einstimmig schuldig erkannt und 
zum Tode verurteilt. Kurze Zeit darnach wurde bekannt, daß 
Joseph W. ein .Arsenikesser gewesen war, ein Wiederaufnahmever¬ 
fahren wurde eingeleitet und ein neues Fakultätsgutachten verlangt. 
Dieses erklärte eine Feststellung nach dem anatomischen Befunde, 
ob Joseph W. Arsenikesser war oder nicht, für unmöglich; eine 
akute Arsenvergiftung liege vor, es sei aber nicht ausgeschlossen, 
daß ein Arsenikesser „durch eine für ihn ungewöhnliche große Gabe 
des Giftes, oder wenn er längere Zeit mit dem Arsenikessen ausgesetzt 
hat, auch durch eine solche Dosis, an welche er sich früher bereits 
gewöhnt hatte, akut vergiftet werden kann“. Bei der zweiten Ver¬ 
handlung wurde nun Albert K. von dem ihm zur Last gelegten Ver¬ 
brechen einstimmig freigesprochen. 

Im vorliegenden Falle sind so ziemlich alle Punkte gestreift, die 
es dem Gerichtsarzt erschweren, sein Gutachten über eine ausgegrabene 
Leiche für Arsenikvergiftung abzugeben. Da ist es der mangelnde 
anatomische Befund, entweder weil derselbe überhaupt nichts Spezi¬ 
fisches bietet, oder weil die Verwesung eine solche Untersuchung von 
vornherein ausschließt; ferner die Differentialdiagnose einer etwa be¬ 
richteten Erkrankung vor dem Tod; dann die folgenschwere Ent¬ 
scheidung, ob das Arsenik als Medikament genommen oder in bös¬ 
williger Absicht gereicht, die Frage, ob die Menge hinreichend war, 
um den Tod herbeizuführen, und endlich, ob das ermittelte Gift nicht 
gar aus der Umgebung stammt. Trotz all dieser Einwürfe ist doch 
nicht zu verkennen, daß der Nachweis des Arsen verhältnismäßig am 
ehesten gelingt, denn gerade hierfür gibt es ganz außerordentlich 
empfindliche Methoden: So will Bertrand mittels der Berthelotschen 
Bombe noch ^2000 mg As sicher, V5000 mg mit Wahrscheinlichkeit 
nachweisen, Lockemann dagegen mit dem Marshschen Apparat 
deutlich bis zu t /i 0 mmg (= ‘/i 0000000 g) As. An Feinheit lassen 
also die zurzeit bekannten Verfahren nichts zu wünschen übrig. 

Bezüglich der Dauer, As bei Leicbenausgrabungen nachzuweisen 
finden sich bei Weimann die Angaben, daß As in Leichenresten 
noch nach 10 Jahren (Bley), ja selbst nach 22 Jahren (Seidel) auf¬ 
gefunden wurde. Kratter erwähnt vier Exhumationen, wo der 
Nachweis noch nach 1 1 / 2 —3V2 Jahren erbracht wurde. Er spricht 


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IX. Ernst Stark 


sich demgemäß dahin ans, daß „die Möglichkeit desT Nachweises 
ffiulnisbeständiger Gifte fast unbegrenzt sei, d. h. wenigstens für 
Mineralgifte sicher so lange bestehe, als überhaupt noch Leichenreste 
auffindbar seien“. Er betont ebenda, daß es neben etwaiger Aus¬ 
wanderung auch eine Einwanderung von Giften in die Leichen gebe, 
glaubt aber, daß diese mögliche Quelle eines verhängnisvollen Rechts¬ 
irrtums vom sachkundigen Untersucher unschwer aufzudecken und 
auszuschalten sei. 

Die wichtigsten Giftstoffe sind nun durchgesprochen, deren Nach¬ 
weis bei „forensischen Exhumationen“ von Bedeutung sein kann. 
Leider war es mir nicht möglich, eine Statistik zu bekommen darüber, 
welche Vergiftungen hauptsächlich zu Leichenausgrabungen Veran¬ 
lassung gegeben haben: Eine diesbezügliche Eingabe an das Egl. 
Preuß. Justizministerium „um Überlassung der Statistik von Ex- 
humationsergebnissen“ war abschlägig beschieden worden. Ich muß 
mich daher beschränken auf eine Statistik der Häufigkeit von Ver¬ 
giftungen aus Tardieu (21): p. 162. „Statistique de l’empoisonne- 
ment criminel en France de 1851—63.“ 


Gesamt-Summe: 617 Fälle von Vergiftungen. 

190 Fälle mit tödUchem Ausgang, 

285 „ die Krankheiten zur Folge hatten, 

152 „ ohne weitere Folgen. 

Es waren angewandt: 


As . . . 

Ph . . . , 

CuS0 4 . . 

h 2 so 4 . . . 

Canthariden . 
Opium nur 
Hg nur . . 


232 mal 
170 „ 


■ ' i> 

30 „ 



P. 160 gibt Tardieu ff. Statistik Tailors wieder: 


547 Todesfälle durch Vergiftungen. 
Durch Opium. 


77 

77 

77 

77 

V 


As . . 
H 2 S0 4 . 

Hg . . 
CNH . . 

Nux vomica 


in 197 Fällen 
185 
32 
15 
4 
3 


Ob die Sammlung von kriminellen Vergiftungen, die Eratter (29) 
im kleinen aufgestellt hat, sich auch auf allgemeine, größere Ver¬ 
hältnisse übertragen läßt, ist nicht zu entscheiden. Eratter hat 
unter 100 Fällen (1901—1905) 37 Exhumationsuntersuchungen gehabt, 
also mehr als J /3. I. g. verteilten sich die Vergiftungen folgendermaßen: 


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Die Feuerbestattung vom gerichtsärztlichen Standpunkt 


223 


As.40 mal 

ft. 7 „ 

Strychnin.8 „ 

Opium, Morphium. 3 

Pb. 2 „ 


23 Untersuchungen blieben ergebnislos, in den 17 übrigen waren 
organische, wie anorganische Gifte gleichbäufig angewandte 

Es wurde der Versuch gemacht, einen Überblick zu gewähren 
darüber, welche Aussicht auf Erfolg gerichtsärztliche Ermittlungen 
an Leichen nach deren Ausgrabung versprechen. Jetzt soll die 
forensische Bedeutung der andern Bestattungsart, der Leichenver¬ 
brennung, erörtert werden mit Beantwortung der Frage: Kann das 
Gericht nach einer Verbrennung überhaupt noch Untersuchungen an¬ 
stellen lassen an den Leichenüberresten, worauf beziehen sich dieselben 
und was ist von ihnen zu erwarten? Oder kurz: „Welche Sicher¬ 
heit bietet die Feuerbestattung der Rechtsprechung?“ 

Wie ohne weiteres klar, beschränkt sich bei der Feuerbestattung 
das gerichtsärztliche Gebiet ausschließlich auf chemische Ermitt¬ 
lungen. Jegliche anatomische Untersuchung wird hinfällig und 
damit tritt der Arzt zurück, um dem Chemiker seinen Platz ein¬ 
zuräumen. Er selbst wird sein Gutachten lediglich auf Grund von 
Angaben des Chemikers aufbauen, nach diesen dann z. B. sein Urteil 
darüber abgeben, ob eine berichtete Erkrankung des Verstorbenen 
durch Vergiftung mit der in der Asche aufgefundenen Substanz er¬ 
klärt werden kann. Da gerichtliche Nachforschungen an der ver¬ 
brannten Leiche sich auf Vergiftungen beschränken, so ist zu unter¬ 
suchen: Welche Gifte lassen sich in der Leichenasche 
nachweisen? 

Für die eine Gruppe von Giften, die organischen, fällt mit 
der Leichenverbrennung jede Nachweismöglichkeit fort. Es gibt eben 
keine organischen Stoffe, die eine solch hohe Temperatur (ca. 1000° C) 
ertrügen, wie sie im Verbrennungsofen herrscht; die Leichenverbrennung 
erstrebt es ja gerade, die organischen Stoffe zu vernichten, zu zerlegen. 

Anders steht es mit den anorganischen Giftkörpern, unter 
denen wir Cu, Pb, Hg, Ph und As sowie einige Säuren besonders 
häufig bei Vergiftungen aller Art gefunden haben. Anorganische 
Säuren (abgesehen von Säureverbindungen des Arsen!) werden sich 
in der Leichenasche nicht nachweisen lassen, sie kommen aber auch 
weniger in Betracht, da es doch zu einer großen Ausnahme zu rechnen 
ist, wenn eine Vergiftung mit einem solchen Atzstoff der Leichen¬ 
schau unbemerkt bleibt. 


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IX. Ernst Stark 


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Dagegen müßte Kupfer sicher nachzuweisen sein, da es bei 
der Temperatur von 1000° kaum zu schmelzen anfängt. 

Nicht beständig bei diesen hohen Temperaturgraden sind Blei 
und Quecksilber. Blei beginnt bei Weißglut langsam zu ver¬ 
dampfen, bei Luftzutritt verbrennt es zu Bleioxyd. Letzteres wäre 
also der Fall im Verbrennungsofen und somit Blei als gelbes, amor¬ 
phes PbO-Pulver aufzufinden, sofern nicht mechanische Entfernung 
z. B. durch den starken Luftzug, eintritt. 

Da Quecksilber schon bei ca 350° zu sieden anfängt, so ver¬ 
flüchtigt es sich natürlich völlig bei der Verbrennung im Leichenofen 
und gibt, wie auch die später angeführten Versuche zeigten, nicht 
die geringste Hoffnung auf Nachweis in der Leichenasche. 

Daß Phosphor nicht mehr anfzufinden ist, liegtauf der Hand; 
ebenso selbstverständlich schien dies vielen für Arsen der Fall zu 
zu sein, da es sich schon bei 450° verflüchtigt ohne zu schmelzen, 
Acidum arsenicosum AS 2 O 3 sogar schon bei 220°. So machten selbst 
eifrige Anhänger der Feuerbestattung freimütig das Eingeständnis, die 
Möglichkeit, Arsenvergiftungen nachträglich bei ihrem Bestattungs¬ 
verfahren nachzuweisen, sei gänzlich ausgeschlossen. Auch wissen¬ 
schaftliche Forscher wie Goppelsroeder (5), Christoforis (13), 
Baumert (23) u. a. nahmen früher durchweg an, der As-Nachweis 
komme für Leichenasche in Wegfall. Erst nachträglich fand ich 
folgende Ansicht Sendral’s (14) (vom Jahre 1890), die nicht weiter be¬ 
kannt geworden ist: p. 31. „avec la crömation, il est impossible ou 
plutöt il n’est pas prouvö suffisamment qu’on puisse le (sc. Arsenik) 
trouver dans les cendres. Dans ces derniöres annöes, M. Cadet, avec 
le eoncours de M. Wurtz, a entrepris une sörie d’expöriences en vue 
de constater la prösence de traces d’araönic dans les cendres d’animaux 
empoisonnös au moyen de d’acide arsönieux; de ces expöriences faites 
k la Pharmacie centrale, il semble rösulter pour ces chimistes que le 
poison peut trös bien se retrouver; raais ces expöriences ont besoin 
de contröle.“ 

In Deutschland scheint nichts von derartigen Untersuchungen 
bekannt gewesen zu sein, bis zum Jahre 1904, wo es den Münchner 
Chemikern Mai und Hurt gelang, in einwandsfreien Versuchen den 
Nachweis von Arsen in Leichenasche zu erbringen: zweifellos ein 
wichtiges Ergebnis für die gerichtsärztliche Bedeutung der Feuer¬ 
bestattung und eine große Ermutigung für die „Krematisten“. Gerade 
der Arsennachweis in Leichenresten nach vollzogener Bestattung ist 
ja besonders wertvoll, wie vorher erläutert wurde. 

Die Veranlassung zu den Arbeiten von Mai und Hurt gab der 


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Die Feuerbestattung vom gerichtsärztlichen Standpunkt. 


225 


eingangs erwähnte Fall iB raunst ei n-München, wo dem „Labo¬ 
ratorium für angewandte Chemie der k. Universität München“ Leichen¬ 
asche vom Gericht zur Untersuchung auf Gifte übergeben wurde. 
Die genannten Chemiker hielten einen Nachweis von Alkaloiden, 
Phosphor usw. von vornherein für aussichtslos, „beschränkten daher 
ihre Versuche auf die Beobachtung des Verhaltens von Arsen, Cyan¬ 
wasserstoff und Quecksilber bei der Verbrennung von damit ver¬ 
gifteten Tieren.“ Die im Kadaverkrematorium des Münchener kgl. 
hygienischen Institutes ausgeführten Einäscherungen fanden unter 
annähernd gleichen Bedingungen statt, wie sie die Feuerbestattung 
für menschliche Leichen bietet. Die höchste Temperatur des Ofens 
wurde auf 1120° angegeben, übertraf also noch diejenige des Siemens- 
schen Krematorienofens. 

Folgende Versuche wurden zum Arsen-Nachweis angestellt 

1. Ein 19,5 kg schwerer Hund wurde im Laufe von 7 Tagen 
mit 2,72 g AS 2 O 3 vergiftet. In dem verbrannten Kadaver wurden 
nach Marsh durch Bildung kräftiger Arsenspiegel beträchtliche Mengen 
des Giftes aufgefunden. (Die Heizkohle war als arsenfrei befunden 
worden). 

2. Ein 2,85 kg schweres Kaninchen wurde mit 0,05 g AS2O3 
getötet; Aschenrückstand 124 g. 

“3. Ein 2,5 kg schweres Kaninchen mit 0,1 g AS 2 O 3 ; Aschenrest: 
105 [g. 

In den Verbrennungsrückständen beider Kaninchen fand sich As 
mittels Marsh und zwar deutlich fast ausschließlich in der Knochen¬ 
asche. In den Weichteilrückständen waren höchstens Spuren von As 
zu erkennen. Die Tiere waren kurz nach der Vergiftung verendet. 
„Das |Arsen scheint also auch bei akut verlaufenden Vergiftungen 
sehr rasch in die Knochen zu wandern und dort in eine Form oder 
Bindung überzugehen, die sich ganz oder teilweise der Verflüchtigung 
bei hohen Temperaturen entzieht, während der in den Weich teilen 
verbleibende Teil der Reduktion und Verflüchtigung anheimfällt.“ 

Demnach wäre jein forensisch-chemischer Nachweis des Arsen 
auch bei feuerbestatteten Leichen möglich und müßte hauptsächlich 
auf die Knochenasche sich beziehen. Leider würde es nicht möglich 
sein, die betreffende Form nachzuweisen, in der das Arsen in den 
Körper gelangt ist; so könnten dann gefährliche Irrtümer entstehen, 
indem vielleicht beim Vorfinden von Arsen eine kriminelle Vergiftung 
mit demselben angenommen würde, während in Wirklichkeit das Arsen 
mit dem Beruf des Verstorbenen in (Zusammenhang stand (z. B. ge¬ 
brauchen die Gerber viel Arsen in Gestalt des Auripigment). Ver- 


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IX. ÜKN8T St AKK 


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mutlich sind aber die io der Asche zu findenden Arsenverbi ndungen 
immer dieselben, unabhängig von der Art des in den Organismus ein¬ 
gedrungenen Arsens. 

Beim Versuch quantitativer Ermittlung des Arsen stieben die ge¬ 
nannten Autoren auf erhebliche technische Schwierigkeiten. Ein ge¬ 
nauer quantitativer Nachweis kann natürlich nie gelingen, da nur 
der Teil der arsenigen Säure in der Asche zu finden ist, der beim 
Verbrennen der Leiche zu Arsensäure sich oxydieren konnte, um so 
mit dem in den Knochen vorhandenen Ca und Mg glühbeständige 
Arsenate zu bilden. Diese werden dann bei der hohen Temperatur 
wahrscheinlich noch in Salze der Pyroarsensäure umgewandelt (z. B. 
Ca3 (As 04)j == Ca* As 2 O7 4- CaO). Tritt aber die Oxydation des 
As 2 O 3 nicht schon vor 220 ü ein, mangels genügender Sauerstoffzufuhr, 
so wäre dieser Teil der arsenigen Säure durch seine sofortige Ver¬ 
flüchtigung dem Aschennachweis für immer entzogen. 

Bezüglich der Versuche könnte man den Einwand machen, daß 
die — im einzelnen Fall klein erscheinende — Quantität des vorhan¬ 
denen As auf den Menschen berechnet eine sehr große wäre. Nach 
Tardieu (21) wurde aber das Arsenik bei den meisten Ver¬ 
giftungen in Mengen von 5, 10, 15 g auf einmal gegeben. Rechnet 
man die zu den Versuchen genommenen Mengen arseniger Säure auf 
den Menschen um, also auf ca. 70 kg Körpergewicht, so erhält man 
9,764 g, bez. 1,228 und 2,8 g. Allein schon ziemlich kleinere Gaben 
können beim Menschen tödlich wirken; ob solche dann auch noch 
nachzuweisen wären, bleibt dahingestellt. 

Die von Mai und Hurt angestellten Versuche zum Nachweis 
von Cyanwasserstoff und Quecksilber hatten ein negatives 
Resultat, ebenso ein Vorversuch zur Feststellung, ob sich nicht etwa 
durch Verbrennen aus dem Organismus Cyanverbindungen entwickeln. 
Weder eine Vergiftung mit Kaliumcyanid noch eine solche mit wässe¬ 
riger Cyanwasserstoffsäure ließ sich in der Asche der verbrannten Ver¬ 
suchstiere nachweisen. 

Die Versuche zum Quecksilber-Nachweis waren einmal mit Queck¬ 
silberchlorid, das andere Mal mit Quecksilberoxycyamid angestellt 
worden; in den Verbrennungsrückständen der vergifteten Tiere war 
nichts von Hg zu entdecken. 

Immerhin wäre es denkbar, daß auch noch andere Gifte sich in 
der Asche finden ließen, die nach theoretischen Überlegungen als ein¬ 
fache Körper zwar nicht glühbeständig erscheinen, es aber in irgend 
welchen Verbindungen werden könnten. Auch beim Arsen mußte der 
Theoretiker eine Möglichkeit des Nachweises verneinen, und doch 


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Die Feuerbestattung vom gerichtsärztlichen Standpunkt. 


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zeigte es die Praxis anders. 'Diesbezügliche weitere Untersuchungen 
von Fachmännern wären daher wünschenswert. 

Über die Möglichkeit Gasvergiftungen nachzuweisen, ist kein 
Wort zu verlieren: diese Aussicht ist bei der Feuerbestattung noch 
weniger vorhanden als beim Erdbegräbnis. 

Dagegen war es nicht ganz richtig, wenn im Vorhergehenden 
der Giftnachweis „als die einzig mögliche Nachforschung bei der 
Leichenverbrennung“ bezeichnet wurde. Denn auch andere Fremd¬ 
körper, die in forensischer Beziehung möglicherweise in Betracht 
kommen, können glühbeständig und also in der Asche auffindbar sein, 
so u. a. künstliche Zähne. Ich erwähnte diese etwas gesucht er¬ 
scheinende Möglichkeit nicht, wäre nicht tatsächlich ein derartiger 
Fall 1 ) schon vorgekommen: Ein Besitzer einer Zementfabrik in Amerika 
hatte seinen Bruder ermordet und dessen Leiche in einem Zement¬ 
ofen verbrannt, um so jede Nachforschung unmöglich zu machen. 
Und doch sollte der Brudermord an den Tag kommen, nämlich durch 
den Fund eines künstlichen Zahnes in der Asche, der vom Zahnarzt 
als dem Ermordeten gehörig erkannt wurde. 

Also, es sind nicht die Gifte allein, auf die das Gericht in der 
Leichenasche fahnden lassen kann. 

Hinreichend sind wohl die Fragen erörtert, welche Untersuchungen 
an Leichenüberresten und mit welchen Aussichten die beiden Bestat¬ 
tungsarten für gerichtliche Zwecke noch erlauben. Es sei jetzt der 
Versuch eines Vergleiches von Erdbegräbnis und Feuerbe¬ 
stattung hinsichtlich ihrer Garantien für gerichtsärztliche Nach¬ 
forschungen gemacht. 

Nach all dem Gesagten liegt ohne weiteres auf der Hand, daß 
die Feuerbestattung weit hinter der Erdbestattung zurücksteht in dem, 
was sie an Untersuchungsmaterial dem Gerichtsarzt, bez. dem Ge¬ 
richtschemiker hinterläßt. Nicht nur macht die Feuerbestattung jede 
Feststellung auf Grund anatomischer Ermittelungen völlig unmöglich, 
sondern sie beschränkt auch den chemischen Nachweis insofern, als 
sich hierbei organische Gifte der nachträglichen Analyse durch Ver¬ 
flüchtigung entzogen haben. Doch ist dieser Nachteil nicht ein der 
Feuerbestattung allein anhaftender, sondern, wie wir sahen, auch bei 
der Beerdigung vorhanden, freilich in geringerem Maße. Was nun 
die Feststellung von Vergiftungen mit organischen Stoffen anlangt, 
so muß der gerichtliche Sachverständige zugeben, daß hierin der am 

1) Erfahren durch die liebenswürdige Mitteilung des Herrn Oberstaatsanwalts 
von H ecker - Stuttgart. Beleg eines Autors war leider nicht mehr zu er¬ 
mitteln. 

Archiv für Kriminalanthropologie. 34. Bd. 16 


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IX. Ernst Stark 


wenigsten bedeutende Unterschied zwischen Feuer- und Erdbestattung 
besteht. Die Erdbestattung mag dabei allerdings das voraus haben, 
daß sie bestimmter angeben kann, ob ein gefundenes Gift wirklich in 
den Körper bei Lebzeiten gebracht wurde. Doch scheint gerade bei 
der wichtigen Arsenvergiftung auch die Feuerbestattung die Möglich¬ 
keit eines Beweises dadurch nicht ganz auszuschließen, daß Arsen, 
das dem Lebenden eingegeben wurde, sich hauptsächlich in der 
Knochenasche vorfinden muß. Ja, man kann nach den berichteten 
Versuchen wohl annehmen, daß nicht in den Kreislauf aufgenommenes 
Arsen bei der hohen Ofentemperatur sich ohne Rückstand verflüchtigt; 
denn nur As-Verbindungen mit den Knochensalzen (Caj A 82 O7, 
Mg 2 AS 2 Ot) scheinen feuerbeständig zu sein. Es kann also ermittelt 
werden, ob ein As-Gift die sogenannten zweiten Wege passiert bat, 
was bei dem Erdbegräbnis durch anatomische Feststellungen geschieht. 

Den Hauptvorzug des Erdgrabes erblicke ich darin, daß es den 
chemischen Befund durch anatomisch-pathologische Ergebnisse zu er¬ 
klären und zu berichtigen vermag, vorausgesetzt, daß die Ausgrabung 
nicht zu spät, d. h. bei zu weit vorgeschrittener Verwesung, vorge¬ 
nommen wird. Dieses Hand in Hand Arbeiten von Arzt und Chemiker 
bei der Exhumation weicht bei der Aschenuntersuchung der Tätigkeit 
des letzteren allein. Physiologische u. a. Nachweise sind zu unsicher, 
um einen nennenswerten Vorrang der Erdbestattung zu bedeuten. 
Höchstens könnte man noch die Möglichkeit mikroskopischer Unter¬ 
suchung erwähnen, die beispielsweise giftige Pflanzenteile erkennen 
lassen. 

Sind somit die „forensischen Garantien" nach einer Feuerbestat¬ 
tung im allgemeinen viel geringer, so können die wenigen gebotenen 
doch so ausgenützt werden, daß ein praktischer Wert daraus erzielt 
wird. Und da, zum Glück für die Feuerbestattung, gerade der Arsen¬ 
nachweis in der Asche noch gelingt, halte ich den Vorschlag, die 
Asche möglichst rein und unverfälscht in ihrer Gesamtheit zu ge¬ 
winnen und aufzubewahren, für äußerst wichtig. Ich kann der An¬ 
schauung Baumerts (23) nicht beipflichten, der sich in der „Flamme“ 

folgendermaßen äußerte: „-auch auf die UnVerbrennlichkeit 

mineralischer Gifte wird sich kein Fachmann zugunsten der Feuer¬ 
bestattung berufen.“ (Baumert hielt damals (1904) noch den Arsen¬ 
nachweis in der Asche für unmöglich, sonst hätte er wohl anders 
geurteilt.) Im Gegenteil ist in der Auffindung des As ein Faktor 
gefunden, der die „gerichtsärztlichen Bedenken“ vermindert, zumal 
da von diesem Giftstoffe besondere Gefahr in krimineller Hinsicht 
besteht. Daher wäre es wünschenswert und möglich, die Feuerbe- 


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Die Feuerbestattung vom gerichtsärztlichen Standpunkt. 


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stattung im Punkte des Arseünachweises der Erdbestattung überlegen 
zu gestalten. Es wäre dies dadurch zu erreichen, daß man eine völlig 
einwandfreie Asche erzeugt: also die Leiche ganz allein verbrennt 
oder höchstens mit einer Asbesthülle umgibt. Särge, Blumen, Kleider 
u. a. sollten nicht mit eingeäschert werden, vor allem aber nicht 
Metallsärge, was bis jetzt immer noch geschieht. Auch müßte dafür 
Sorge getragen sein, daß das Feuermaterial sowie das Ofeninnere frei 
von Arsen sind. Verlangt man dann noch behördlichen Verschluß 
der Aschenkapsel, so würde gegebenen Falles, eine positiv ausfallende 
Untersuchung auf Arsen dem Gerichte zuverlässigeres Material über¬ 
geben als es bei einer Ausgrabung aus den vorerwähnten Gründen 
möglich ist. Ob As als Medikament o. dergl. eingeführt wurde, läßt 
sich natürlich mit Sicherheit auch hier wie beim Erdgrab nicht unter¬ 
scheiden: doch erlaubte der quantitative Befund zum wenigsten Mut¬ 
maßungen. Inwieweit allerdings die quantitative Ermittelung noch 
gelingen kann, muß weiteren Forschungen überlassen bleiben. 

Ein Schlußvergleich der Erd- und der Feuerbestattung ergibt, daß 
bei der seitherigen Ausübung dieser Bestattungsarten die Beerdigung 
dem Gerichtswesen recht wesenliche Hilfsmittel für „posthume“ Unter¬ 
suchungen bietet, die bei der Leichenverbrennung großen Teils un¬ 
möglich werden. Die Feuerbestattung steht durch den Verlust ana¬ 
tomisch-pathologischer Untersuchungen in ihren „forensischen Garantien“ 
hinter der Beerdigung bedeutend zurück, ebenso auch durch die im 
ganzen doch wesentlich geringere Aussicht der chemischen Unter¬ 
suchungen. Ist es auch leider nicht möglich gewesen, eine Statistik 
über Exbumationsergebnisse aufzustellen, so erscheint doch nach den 
vorausgegangenen Beispielen und theoretischen Erwägungen die Unter¬ 
suchung ausgegrabener Leichen als wichtige und mitunter erfolgreiche 
Unterstützung der Rechtspflege. Während dabei die physiologischen 
Ergebnisse weniger zuverlässig sind, verspricht die Vereinigung der 
anatomisch-pathologischen und der chemischen Befunde vor allem 
Erfolg, — ein spezieller Vorzug der Leichenbeerdigung vor der Ver¬ 
brennung! Immerhin ist zuzugeben, daß dieser „Vorzug“ nur ein 
relativer ist wegen der zeitlichen Beschränkung der anatomisch- 
pathologischen Untersuchung. — Im übrigen haben schon manche 
verhängnisvolle Fehldiagnosen auf ärztlichem wie chemischem Gebiete 
die gesteigerten Schwierigkeiten bei der Untersuchung exhumierter 
Leichen dargetan. 

Der offenbare und nicht unwesentliche Nachteil der Feuerbe¬ 
stattung gegenüber der Beerdigung könnte jedoch durch andere der 
Rechtspflege gebotene Garantien ausgeglichen, ja man kann ruhig 

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IX. Ernst Stark 


sagen, überkompensiert werden. Als Entschädigung der Gerichtsbarkeit 
für den Wegfall der Exbumationen müßten gesetzlich ähnliche Ma߬ 
nahmen wie folgende Vorschläge getroffen werden: 

1 . Leichenschau durch Medizinalbeamte; 

2 . Bericht des behandelnden Arztes über vermutliche Todesursache 
sowie Äußerung, daß ein Verbrechen gegen das Leben des Gestorbenen 
nahezu sicher auszuschließen sei; 

3. Im Falle von plötzlichem Tod, nicht völlig aufgeklärter Todes¬ 
ursache, bei jedem Selbstmord sowie beim geringsten Verdacht auf 
Verbrechen irgend welcher Art: vollständige gerichtliche Sektion, ev. 
auch chemische Untersuchung; 

4. Aufbewahrung jeder Leiche im Leichenhause während einigen 
(z. B. 8) Tagen vor der Einäscherung; 

5. a) Verbrennung zu reiner Asche; 

b) Aufbewahrung der Gesamtasche; 

6 . Wunsch des Verstorbenen, verbrannt zu werden; bez. bei Un¬ 
mündigen jedesmalige Sektion! 

Genaue Feststellung der Persönlichkeit u. ä. wird als selbstver¬ 
ständlich vorausgesetzt. 

Strenge Vorschriften müssen für die Feuerbestattung im Interesse 
der allgemeinen Sicherheit zweifellos getroffen werden; doch ist es 
andererseits auch nicht richtig, derartig harte Bedingungen zu stellen, 
daß eine allgemeinere Verbreitung dieser Bestattungsweise im Keime 
erstickt wird dadurch z. B., daß ihren Anhängern übertriebene Opfer 
in ästhetischer, pekuniärer u. a. Hinsicht zugemutet werden. Ist auch 
der heutige Standpunkt der öffentlichen Gesundheitspflege offenbar 
nicht mehr ein solcher, der die Einführung der Feuerbestattung all¬ 
gemein verlangt, so kann man immerhin die Freiheit des einzelnen 
in der Bestattungsfrage soweit berücksichtigen, als dadurch der 
Staatsordnung keine Gefahr droht; und hier handelt es sich doch 
um die Freiheit der letzten Willensbestimmung! 

Für übertrieben halten wir Forderungen, wie sie Kerschen- 
steiner (3) in einem Gutachten aufstellte: „1. Abgabe einer aus¬ 
führlichen Krankengeschichte von seiten des behandelnden Arztes; 
Revision durch den die Leichenpolizei überwachenden öffentlichen 
Arzt und im Falle der Nichtbeanstandung Hinterlegung derselben bei 
Gericht. 

2 . Vornahme einer vollständigen Sektion von seiten eines wohl¬ 
unterrichteten, hierzu in Pflicht genommenen pathologischen Ana¬ 
tomen; Aufnahme eines genauen Sektionsprotokolls, und im Falle kein 
Bedenken besteht, Hinterlegung desselben bei Gericht. 


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Die Feuerbestattung vom gerichtsärztlicben Standpunkt. 


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3. Fortlaufende Numerierung der Aschenüberbleibsel, Entnahme 
einer Probe und Hinterlegung derselben zum gerichtlichen Akt mit 
der gleichlaufenden Nummer.“ 

Damit würde natürlich die Feuerbestattung weiteren Kreisen gänz¬ 
lich unmöglich gemacht. Man muß schon sehr mißtrauisch veranlagt 
sein, um „eine vollständige Sektion“ jedesmal zu fordern, dazu noch 
von einem „wohlunterrichteten Anatomen!“ Kerschensteiner’s (3) 
Punkte 1 und 3 finden sich teilweise auch in den von mir auf¬ 
gestellten Postulaten. Sie begründe ich einmal allgemein damit, daß 
die Vertreter des Rechtes und Beschützer der öffentlichen Sicher¬ 
heit eine Entschädigung erhalten müssen dafür, was ihnen die Feuer¬ 
bestattung durch völlige Vernichtung der Leichen zu nehmen droht. 

Im besondern möchte ich durch meine 1. Bedingung „Leichenschau 
durch Medizinalbeamte“ den seitherigen Mißstand heben, daß zum 
Teil einfache Laien die Todesursache festzustellen haben. 

Durch meine 2. Forderung wird Fehldiagnosen nach Möglichkeit 
vorgebeugt und ein Verborgenbleiben von Verbrechen gegen das Leben 
nahezu ganz ausgeschlossen. Die Eventualität, daß der behandelnde 
Arzt etwas verheimlichen möchte (z. B. einen von ihm begangenen 
Kunstfehler), fällt dadurch ziemlich weg, daß noch ein weiterer, dazu 
beamteter Arzt bei Ausstellung der Papiere in Tätigkeit tritt. 

Um ferner die häufigen Verlegenheitsdiagnosen „Schlagfluß“ u. ä. 
nicht verhängnisvoll werden zu lassen, glaubte ich Bedingung 3 an 
die Zulassung zur Verbrennung knüpfen zu müssen. Wie notwendig 
auch bei scheinbar sicher feststehendem Selbstmord eine Obduktion 
ist, zeigte vor kurzem der Mordprozeß der ßürgermeisterstochter Grete 
Beier aus Brand: Infolge der Diagnose Selbstmord durch Schuß in 
den Mund war die Feuerbestattung des mit Cyankalium vergifteten, 
nachträglich noch erschossenen Bräutigams zugelassen worden. Auch 
Beispiele, wo trotz ärztlicher Leichenschau Exhumationen nötig wurden 
zur Untersuchung von Selbstmord und Mord, sind eingangs erwähnt. 

4. Stellte ich zur Erwägung, ob mit der Verbrennung der Leichen 
nicht etwas länger als seither gewartet werden sollte. Dafür spräche, 
daß gerichtsärztliche Nachforschungen kurze Zeit nach dem Tode 
verhältnismäßig günstige Aussichten bieten, andererseits aber in diesem 
etwas längeren Zwischenraum Verdachtsgründe sich verdichten könnten,, 
und dadurch das Publikum eher Gelegenheit hätte, noch zeitig gegen 
die Bestattung Einspruch zu erheben. Denselben Gedanken, nämlich 
daß ein Verdacht auf Verbrechen nicht unmittelbar nach dem Todesfälle 
laut ausgesprochen wird, fand ich schon von Tardieu (21) erwähnt: 
„ ... ä moins que le mödecin lui-meme ne constate et ne rövöle les 


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XI. Ernst Stark 


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indices accusateurs, il est rare que la pensäe qui a travers^ l’esprit 
des amis ou des proctaes qui entourent la victime ä ses derniers mo- 
ments, se fasse jour et se traduise immödiatement en un recours ä la 
justice. Ce n’est que plus tard, lorsque la röflexion, le rapprocbement 
de certaines circonstances inattendues ou suspectes, l’impossibilitä de 
s’expliquer par une cause naturelle un coup si imprövu, ont fortifiö 
les doutes et grandi les soup^ons, qu’une accusation se formule et 
qu’une dönonciation provoque les poursuites judiciaires. Ces r6v61ations 
tardives ont, au point de vue de la mödecine 16gale, cette consöquence 
importante ä noter, d’ajouter une difficultö de plus aux expertises 
döjä si dölicates en matiöre d’erapoisonnement.“ Ausführbar wäre 
dieser Vorschlag, die Leichen kurze Zeit, beispielsweise 8—14 Tage, 
aufzubewahren. Ob aber ein nennenswerter Vorteil damit erzielt 
würde bezüglich der Entdeckung von Verbrechen, das entzieht sich 
der Beurteilung, da die verhältnismäßig geringe Zahl von Exbu- 
mationen, die aufzufinden waren, nicht zu einem Allgemeinscblusse 
ausreichen, wie viel Zeit nach dem Tode in der Regel gerichtsärzt¬ 
liche Nachforschungen stattfanden. Die Zeiträume, innerhalb welcher 
Ausgrabungen vorgenommen wurden, schwanken in weiten Grenzen 
und fanden teils schon wenige Tage nach dem Tode, teils aber erst 
nach vielen Jahren statt. 

Die Notwendigkeit der 5. Forderung ergibt sich ohne weiteres 
aus den voraufgehenden Erörterungen über die Untersuchungen der 
Leichenasche. Selbstverständlich müßte eine behördliche Aufsicht 
über die Leichenasche eingeführt werden, damit diese nicht entfernt 
oder vertauscht werden kann. Bei den heutigen Bestimmungen würde 
eine stille Beseitigung der Asche dem interessierten Teil sehr leicht 
fallen, während bei der Erdbestattung das Fortschaffen der Leichen¬ 
reste den Täter meist gefährden würde. Die „Aufbewahrung der 
Asche“ müßte behördlich so geregelt werden, daß die Aschenume 
nicht ohne Erlaubnis an andere Orte gebracht werden dürfe, und bei 
einem Wegz,ug der amtliche Urnenverschluß am neuen Orte kontrolliert 
werden müßte. 

Auch sollte die Asche selbst als etwas „Heiliges“ betrachtet 
werden und denselben gesetzlichen Schutz genießen wie andere 
Leichenreste. 

Erwähnt sei kurz ein ministerieller Erlaß (cf. V. J. S. f. g. M. 1900. 
3. F. XIX. Bd. p. 404), der für den Transport der Leichenasche Er¬ 
leichterungen gewährte, daher von den Krematisten freudig aufge¬ 
nommen wurde, aber nicht ganz unbedenklich ist. Zu billigen ist 
selbstverständlich die Vereinfachung des Transportes der Asche gegen- 


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Die Feuerbestattung vom gerichtsärztiichen Standpunkt. 


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über der Beförderung von Leichen; doch sollte auch das Verschicken 
von Asche nicht so ohne weiteres, d. h. ohne Paß, erlaubt sein. Ins¬ 
besondere müßten internationale Abkommen über die Behand¬ 
lung der Leichenasche — wie über die Feuerbestattung im allge¬ 
meinen — getroffen werden. 

Die Wichtigkeit der 6. Forderung zeigte ebenfalls der schon 
erwähnte Mordprozeß Beier. Um eine Fälschung der letztwilligen 
Verfügung betr. Feuerbestattung unmöglich zu machen, müßte die 
Namensunterschrift behördlich beglaubigt sein. Bekanntlich hatte die 
Grete Beier ein derartiges Schriftstück mit Erfolg selbst anzufertigen ver¬ 
standen,indem sie die Handschrift ihres Bräutigams täuschend nachmachte. 

Man wende nun gegen die gemachten Vorschläge nicht ein, daß 
sie unausführbar wären, daß ihre Kosten nicht bestritten werden 
könnten. Denn, was die fakultative Feuerbestattung anlangl, so 
müßten ja die Kosten von ihren Anhängern bezahlt werden, ausgehend 
von der Notwendigkeit einer Ausgleichung: was die Krematisten auf 
der einen Seite dem juristischen Gebiet entziehen, müssen sie durch 
eine Entschädigung andererseits auszugleichen suchen. Ist die Feuer¬ 
bestattung aber nicht mehr „Liebhaberei“ einzelner, sondern würde 
sie etwa gar staatlich eingeführte Bestattungsart, nun, so würden sich 
die nötigen Geldmittel ebenso auftreiben lassen wie für die Durch¬ 
führung der Pockenimpfung oder anderer hygienischer Maßregeln in 
großem Umfang. Die entstehenden Ausgaben wären ebensogut ein 
Tribut für Erhaltung der Volksgesundheit wie für die allgemeine 
Sicherheit im Staate. Gleich den Polizeiorganen sollte der Staat auch 
Medizinalbeamte in hinreichender Zahl zur Verfügung haben. Reich¬ 
lich würden sich diese Aufwendungen des Staates bezahlt machen; 
die Verbrechen wider das Leben würden abnehmen, da der Täter 
nicht mehr auf Unentdecktbleiben eines Mordes usw. rechnen kann, 
wie bei der seitherigen Leichenschau; die zu erwartende Obduktion 
würde sicherlich in manchen Fällen „prophylaktisch“ gegen kriminelle 
Unternehmungen wirken. Nicht zu unterschätzen wäre sodann die 
zu erwartende Besserung der Mortalitäts- und auch der Morbiditäts¬ 
statistik: entstehende Seuchen kämen beizeiten zur Kenntnis des Staates 
und ermöglichten frühes Einschreiten. Irgendwelche Schädigung 
könnte durch die obligate ärztliche Leichenschau und selbst durch 
die häufigen Obduktionen nicht entstehen; auch das Pietätsgefühl 
der Angehörigen würde sich, ohne abzustumpfen und zu verrohen, 
bald mit dem Gedanken an die Sektion abfinden, wenn einmal die 
Notwendigkeit dieser staatlichen Vorschrift in das Volksbewußtsein 
übergegangen wäre. 


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IX. Ernst Stark 


Diese Betrachtungen führen zn dem Ergebnis, daß unter ent¬ 
sprechenden Vorausetzungen, gegen die Feuerbestattung vom 
gerichtsärztlichen Standpunkt kein Einspruch erhoben werden kann, 
daß eine obligate Leichenuntersuchung durch Ärzte an Stelle der seit¬ 
herigen Leichenschau durch Laien etwaige forensische Bedenken zu 
beseitigen vermag, und schließlich die Aufbewahrung der Leichenasche 
unter behördlicher Aufsicht als nicht ganz unwichtig für spätere 
chemische Untersuchungen zu verlangen ist. 

Zum Schluß sei übrigens erwähnt, daß gerichtliche Leichen¬ 
ausgrabungen nicht sehr häufig ausgeführt wurden: So berichtet 
Pauly (10), daß in Preußen auf 600000 Leichen eine gerichtliche 
Exhumation fällt, in England sogar erst auf 1000 000 Leichen. 
Francke (6) gibt für Wien an, daß bei 670 000 Leichenbeerdigungen 
in 25 Jahren nur zwei Ausgrabungen und mit für das Gericht nega¬ 
tivem Erfolg angestellt wurden. 

Die Seltenheit wie auch die unbefriedigenden Ergebnisse der Ex- 
humationen bestätigt ferner ein Ausspruch Tanchinis, des Mailänder 
Gerichtsarztes: „Während 26jähriger Tätigkeit habe ich Tausende 
von Kriminalprozessen unter meinen Augen sich abspielen gesehen. 
Oft wurde die Gerichtsmedizin herbeigezogen; 10 Fälle nur hatten die 
Ausgrabung zu Folge. In vieren wurde das Verbrechen entdeckt; 
diese vier Fälle lassen sich noch auf einen reduzieren, da derselbe 
Mann seine vier Opfer auf einem Platz, nämlich seinem eigenen Hof, 
verscharrt hatte.“ 

Eine fakultative Feuerbestattung müßte daher überall gestattet 
sein, wo für die öffentliche Sicherheit in genügendem Maß gesorgt 
ist, z. B. durch ähnliche Bedingungen wie meine Vorschläge. Die 
Allgemein-Einführung der obligaten Feuerbestattung hat sich noch 
nach andern Faktoren zu richten, von gerichtsärztlicher Seite wäre 
bei Durchführung obiger Vorschläge nichts gegen sie einzuwenden. 

Noch sei ein logischer Fehler erwähnt, den Gegner der Feuer¬ 
bestattung so häufig sich bei Aufzählung der „juristischen Bedenken“ 
zuschulden kommen lassen. Sie werfen nämlich der Leichen¬ 
verbrennung nicht nur vor, daß sie Schuldige ihrer Bestrafung ent¬ 
ziehe und Unschuldige der Mittel eines Entlastungsbeweises beraube, 
sondern sie sehen eine weitere Gefahr darin, daß diese Bestattungsart 
zum Gebrauch von Giftmitteln gewissermaßen ermutige, die Zahl der 
Giftmorde damit vermehre. Obwohl diese Behauptung weniger den 
Arzt als den Juristen angeht, erlaube ich mir doch hier folgende Er¬ 
widerung: Woher weiß denn beispielsweise ein Mörder, daß sein Opfer 
eingeäschert wird? Oder steht es 'gar in seiner Macht, eine Ver- 


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Die Feuerbestattung vom gerichtsarztlichen Standpunkt. 235 

brennuug der Leiche zu veranlassen? Das letztere träfe wohl nur 
unter Nahverwandten zu, aber auch hiergegen ist vorgebeugt, da die 
Feuerbestattung (nach Vorschlag 6) nur zulässig sein soll auf Grund 
schriftlicher Verfügung des Verstorbenen oder, bei Kindern und andern 
nicht der Selbstbestimmung fähigen Personen nach vorausgegangener 
Sektion. Eine Kenntnis dieser Willensbestimmung aber wäre (bei der 
fakultativen Feuerbestattung) nur denkbar, wenn engere Beziehungen 
bestehen (z. B. von Dienstboten zur Herrschaft). Bei vorgeschriebener 
ärztlicher Leichenuntersuchung müßte im Gegenteil die Feuerbestattung, 
wie oben erwähnt, eher beschränkend auf die Zahl der Giftmorde 
einwirken. 

Fast einstimmig wird die Feuerbestattung für Krieg und Epi¬ 
demien empfohlen. Die Verhältnisse des Krieges erlauben natürlich 
nicht eine Durchführung der hier vorgeschlagenen Maßregeln; sie 
sind hier auch nicht notwendig. Dagegen müßten bei Epidemien die 
Bestimmungen der Leichenverbrennung nach Möglichkeit innege¬ 
halten werden, um nicht bei der allgemeinen Lockerung der Ordnung 
und Sittlichkeit dem Verbrechertum weitern Vorschub zu leisten. 

Unter gewöhnlichen Lebensverhältnissen scheint mir jedoch kein 
Grund vorhanden zu der Befürchtung eines Matteucci, der meinte: 
„An dem Tage, wo die Leichenverbrennung eine vollendete Tatsache 
ist, muß die strenge Statue der Gerechtigkeit mit Grund sich mit 
einem Trauerschleier umhüllen.“ Vielmehr, glaube ich, kann man, 
begeistert von der idealen Auffassung eines Occioni, anstatt des 
alten „Nos habebit humus“ setzen: 

„Vermibus erepti puro consumimur igni: 

Indocte vetitum mens renovata petit.“ 


Quellen-Angabe. 


A) Literatur der Feuerbestattung. 

1) Wegmann-Ercolani: Über Leichenverbrennung als rationellste Be¬ 
stattungsart. Zürich 1874. 

2) Küchenmeister: Über Leichenverbrennung. Erlangen 1874. 

8) Kerschensteiner: Gutachten über die Einführung der fakultativen 
Feuerbestattung. Deutsche Vierteljahrsschr. für öffentl. Gesundheitspflege. XI. 1879. 

4) Breitung: Über neuere Leichenanstalten. Berlin 1886. 

5) Goppelsroeder: Über Feuerbestattung. Mühlhausen i. E. 1890. 

6) K. Francke: Die Feuerbestattung. Münchener medizinische Wochen¬ 
schrift 1899. p. 118. 


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IX. Ernst Stark 


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7) Sander: Welche Vorteile, welche Nachteile bietet die Feuerbestattung? 
Welche Bedeutung hat sie im hygienischen Sinne? *V.J.S. f. g. M. 1900. 3. F. 
XX. Bd. 

8) Wernich in Weyls Handbuch der Hygiene. II. 2. Abt. Leichenwesen, 
einschließlich Feuerbestattung. 

9) Encyklopädie der Hygiene (Pfeiffer - Proskauer-Oppenheimer): 
Leipzig 1905. Leichenverbrennung p. 14—22. 

10) Pauly: Die Feuerbestattung. Leipzig 1904. 

11) Rühs: Einrichtung von Krematorien. Kritische Besprechung der Leichen¬ 
verbrennung mit Berücksichtigung der Gründe für und wider dieselbe. V.J.S. 
f. g. M. 1907. 3. F. XXXIV. Bd. 

12) Pr. de Pietra Santa und M. de Nansouty: La Crömation. Paris 1881. 

13) Mal. de Cristoforis: Cr&nation moderne. Milan 1890. 

14) S e n d r a 1: Ütude critique sur laCrSmation. (Bibliotheque deCriminologie), 
Lyon 1890. 


B) Gerichtliche Medizin und Chemie. 

15) Straßmann: Lehrbuch der gerichtlichen Medizin. Stuttgart 1895. 

16) Schmidtmann: Handbuch der gerichtlichen Medizin. Berlin 1907. 
(9. Aufl. des Casper-Liraanschen Handbuches.) 

17) Z i 11 n e r: Studien über Verwesungsvorgänge. V.J.S. f. g. M. 1885. N. F. 
XLII. Bd. 

IS) v. Bergmann-Skrzeczka: Superarbitrium derK. wissenschaftl. Depu¬ 
tation für das Medizinalwesen, betreffend Mord oder Selbstmord. V.J.S. f. g. M. 
1892. 3. F. IV. Bd. 

19) Riedel: Zur Kasuistik der Spätexhumierung menschlicher Leichen. 
Münchener medizinische Wochenschrift. 1899. p. 767. 

20) Orfila et Lesueur: Traitö des exhumations juridiques. 

21) Tardieu: Ütude medico-lögale et chiinique sur Tempoisonnement 

22) Baumert: Lehrbuch der gerichtlichen Chemie. Braunschweig 1907. 

23) Baumert: Über den gerichtlich-chemischen Nachweis von Giften in 
Leichen. Vortrag im Verein für Feuerbestattung in Halle. In Nr. 289 der Zeit¬ 
schrift „Flamme“ (1. IV. 1904). 

24) Dragendorff: Die gerichtlich-chemische Ermittlung von Giften. Göt¬ 
tingen 1895. 

25) Kobert: Lehrbuch der Intoxikationen. Stuttgait 1902 und 1906. 

26) Dittrich: Über die Grenzen der forensischen Verwertbarkeit des che¬ 
mischen Arsennachweises bei Exhumierungen. V.J.S. f. g. M. 1894. 3. F. 8. p. 212. 

27) Kratter: Erfahrungen über einige wichtige Gifte und deren Nachweis. 
Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik. XHL, XIV. u. XVI. Bd. 

28) Kratter: Über die Bedeutung der Ptomaine für die gerichtliche Medizin. 
V.J.S. f. g. M. 1890. N. F. L1II. Bd. p. 227—234. 

29) Kratter: Über Giftwanderung in Leichen und die Möglichkeit des Gift¬ 
nachweises bei später Enterdigung. V.J.S. f. g. M. 1907. Supplementheft 3. F. 
XXXIII. Bd. p. 119. 

30) I p s e n; Über das Verhalten des Strychnins im Organismus. V.J.S. f. g. M. 
1892. 3. F. IV. Bd. p. 15. 

31) Ipsen: Untersuchungen über die Bedingungen des Strychninnachweises 
bei vorgeschrittener Fäulnis. V.J.S. f. g. M. 1894. 3. F. VII. B. p. 1. 


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Die Feuerbestattung vom gerichtsärztlichen Standpunkt. 


237 


32) Ipsen: Zur Differentialdiagnose von Pflanzenalkaloiden und Bakterien¬ 
giften. V.JS. f. g. M. 1895. 3. F. X. Bd. p. 1. 

33) Ipsen: Über den Nachweis von Atropin. V.J.S. f. g. M. 1906. 3. F. 
XXXI. Bd. p. 308. 

34) Lesser: Über die Verteilung einiger Gifte im menschlichen Körper. 
VJ.S. f. g.M. 1898. 3. F. XIV. u. XV. Bd. 

35) Kuhlmey: Die Blausäure- und Cyankaliumvergiftung in gerichtlich¬ 
medizinscher Beziehung. V.J.S. f. g. M. 1898. 3. F. XV. Bd. p. 76. 

36) Pflanz: Gerichtsärztliche Beurteilung der Strychnin Vergiftung. Friedreichs 
Blätter für gerichtliche Medizin. 1904 u. 1905. 55. und 56. Jahrg. 

37) deDominicis: Nachweis des Strychnins in den Knochen. V.J.S. f. g.M. 
1904. 3. F. XXVIII. Bd. 

38) Proeiss: Über die Widerstandsfähigkeit von Alkaloiden, Glykosiden 
und Bitterstoffen bei Fäulnisprozessen. Apotheker-Zeitung. 1901. Nr. 56. p. 492. 

39) W ei mann: Über die akute Arsenikvergiftung vom gerichtsärztlichen 
Standpunkt, ibid. 56. Jahrg. 

40) Mai, C.: Nachweis von Arsen in der Asche feuerbestatteter Leichen. 
Zeitschrift für analytische Chemie (Fresenius). Bd. 43. 1904. 

41) C. Mai u. H. Hurt: Der forensisch-chemische Nachweis von Giften in 

den Rückständen verbrannter Leichen. Zeitschrift für angewandte Chemie, 
lieft 43. 1904. 

* bedeutet: Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin und öffentliches Sanitätswesen. 


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X. 


Zur Frage der Feuerbestattung vom gerichtlichen 

Standpunkte, 

Von 

Hans Gross. 


Ich habe die in mehrfacher Beziehung wertvolle Arbeit des Herrn 
Unterarztes E. Stark gebracht, obwohl nach meiner Ansicht die Feuer 
bestattung vom gerichtlichen Standpunkte aus als unzulässig bezeich¬ 
net werden muß. Die Gründe für diese Auffassung und die für die 
gegenteilige sind so oft und so eingehend erörtert worden, daß ich mich 
lediglich auf die zusammenfassenden Darstellungen des Herrn Stark 
beziehen will. — 

Selbstverständlich gibt Herr Stark zu, daß aus der aufbewabrten 
Asche eines unter etwa 1000° 0 verbrannten Menschen anatomisch 
absolut nichts, chemisch aber einzig nur eine etwa vorgenommene Ver¬ 
giftung mit Arsen nachgewiesen werden könnte. Ich zweifle aber 
daß der Nachweis: „in der Asche ist Arsen enthalten“ — irgend 
welchen gerichtlichen Wert haben und etwa die Verurteilung eines 
Verdächtigten herbeiführen könnte. Freilich wird verlangt, daß ein 
zu verbrennender Leichnam ohne Bekleidung, ohne Sarg, ohne Blumen 
U8W. den Flammen übergeben wird, daß das Brennmaterial, die Aus¬ 
kleidung des Schachtes usw. verläßlich ohne eine Spur von Arsen 
befunden wurde, daß die Asche behördlich versiegelt und verwahrt 
wird usw. — aber abgesehen davon, daß z. B. kaum immer für den 
absoluten Arsenmangel der verwendeten Steinkohle und der Schacht¬ 
auskleidung garantiert werden könnte, so würde sich kein Richter mit 
dem Nachweise zufrieden stellen, daß in der Asche überhaupt 
Arsen vorhanden war; wenn auch der Körper nackt verbrannt wurde, 
so kann er durch eine Pomade, ein Haarfärbemittel, eine Salbe, eine 
Zahnplombierung, ein falsches Gebiß usw. Arsen mitgebracht haben, 
es wird dann allerdings die Asche Arsen enthalten, aber vergiftet mußte 
der Mensch nicht worden sein. Und wenn es im Volke bekannt wird, 
daß allein Arsen in der Asche nachweisbar ist, so wird man eben dem 
allerdings bequemen und verläßlichen Arsen als Vergiftungsmittel ent- 


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Zur Frage der Feuerbestattung vom gerichtlichen Standpunkte. 239 


sagen und wird andere in der Asche nicht nachweisbare Gifte, nament¬ 
lich heimische Giftpflanzen verwenden. Wir müssen trotz aller 
Einwendung zu der Überzeugung gelangen: ist ein Mensch verbrannt 
— nach Siemens oder sonstwie gründlich — so ist jede Möglichkeit, 
eine an ihm begangene strafbare Handlung nachzuweisen, vollständig 
ausgeschlossen. — 

Man wendet ein, es müßte jeder Verbrennung selbstverständlich 
eine verläßliche Totenbeschau und Obduktion vorausgehen. Vor allem 
würde eine Obduktion allein nicht genügen, sondern es müßte auch 
jedesmal eine umständliche chemische Untersuchung des Verdau¬ 
ungstraktes, der Leber, Nieren, Plattenknochen und des Blutes sowie 
aller Sekretionen vorgenommen werden. Wir wissen auch, daß obdu¬ 
zierte Leichen exhumiert und nochmals obduziert werden mußten — 
es müßte also die Obduktion besonders sorgfältig und von ersten 
Fachmännern vorgenommen werden, um Sicherheit zu bieten — kurz 
Sektion und chemische Untersuchung würden eine oft unerschwing¬ 
liche Menge von Kosten verursachen und außerdem jedesmal den 
Eindruck machen, als ob ein vorliegender Mord recht wahrschein¬ 
lich wäre. 

Endlich wäre auch die amtliche Versiegelung, Verwahrung und 
Registrierung der verschiedenen Aschenurnen viel zu umständlich, un¬ 
sicher und pietätlos. — 

Erwägen wir also, daß eine flüchtige Obduktion nahezu zweck¬ 
los, eine genaue und mit chemischer Untersuchung verbundene Sektion 
za umständlich, zeitraubend und teuer wäre und daß eine Unter¬ 
suchung der Asche allein ausnahmslos für gerichtliche Zwecke wert¬ 
los ist, so müssen wir zur Erkenntnis der großen Gefahren ge¬ 
langen, die eine weitere Verbreitung der Leichenverbrennung mit sich 
brächte. 

Wir haben hierbei mit psychologischen Vorgängen zu rechnen, 
da wir aus den Geständnissen von spät entdeckten Mördern zur Genüge 
wissen, wie sie Jahre und Jahre von der Furcht gepeinigt wurden, 
es könnte zur Exhumierung ihres Opfers kommen; wir können daher 
auch annehmen — diesfällige Geständnisse liegen allerdings kaum 
vor —, daß dieselbe Furcht vor der Exhumierung manchen Mord 
nicht geschehen ließ. Hat aber einer bloß 48 Stunden zu zittern 
und weiß er, daß alle Gefahr vorbei ist, wenn sich der Deckel des 
Verbrennungsofens geschlossen hat — nun dann wagt er es gewiß 
leichter, den Mord zu begehen. — 

Wenn sich also der Kriminalist nachdrücklich gegen die Ver¬ 
breitung der Leichenverbrennung aussprechen muß, so leugnet er aber 


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X. Hans Gross 


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nicht ihre sanitären und ästhetischen Vorteile. Wer je das grausige 
Werk der Verwesung beobachten mußte, der wird der reinen und 
raschen Tätigkeit der Flammen den Vorzug geben; freilich ist die 
Zersetzung des Körpers im Feuer auch scheußlich genug, aber sie 
vollzieht sich viel rascher und man sieht sie nicht, der Vorgang in 
der Erde ist im Ofen eben vielfach beschleunigt. Wir kommen so 
unwillkürlich zu der Frage, ob es zwischen Erd- und Feuerbestattung 
nicht ein Mittelding gibt, welches den Forderungen der Sanität und 
Ästhetik ebenso Rechnung trüge, wie jenen der Sicherheit vom krimi¬ 
nellen Standpunkte aus. Dieser Mittelweg zwischen Begraben und 
Verbrennen wäre eine Art von Mumifizierung durch Hitze, und Ver¬ 
wahren der so getrockneten Körper in einer Art von Kolumbarien. 

Wir könnten uns denken, daß man einen oder mehrere Körper 
dem Einflüsse von darüber streichender, heißer, trockener Luft aus¬ 
setzt, die am Ausgange durch eine Flamme geführt wird, so daß 
Geruch und etwa mitkommende Schädlichkeiten von dieser verzehrt 
werden. Die Erzeugung der nötigen austrocknenden Wärme würde selbst¬ 
verständlich unvergleichlich weniger Brennmaterial erfordern, als das 
heutige Verbrennen der Leichen und Kalzinieren der Knochen; wir 
können es ohnehin kaum verantworten, solche Unmengen von Brenn¬ 
material für jede Leiche zu vertilgen, da dieses doch nur in beschränkter 
Menge auf der Erde existiert. 

Natürlich wäre nicht viel gewonnen, wenn man nun die ge¬ 
trockneten Körper in der Erde bestatten wollte; sie würden wieder 
Feuchtigkeit anziehen und dann doch verfaulen. Man müßte sich 
die Errichtung von etwa 4 Meter breiten, in der Mitte abgteilten, also 
beiderseits zugänglichen Mauern denken, die aus undurchlässigem 
Zement hergestellt sind und, wie aufrecht gestellte Bienenwaben, aus 
lauter Fächern bestehen; in jedes Fach wird ein getrockneter Körper 
eingeschoben und vorne die Öffnung mit einer eingekitteten Steinplatte 
verschlossen, die Namen etc. enthalten kann. 

Entsteht später der Verdacht, daß an einem so Bestatteten ein 
Verbrechen verübt wurde, so ist der Leichnam ungleich leichter und 
durch ungleich längere Zeit zu beschaffen, als wenn er begraben 
wurde, und die meisten Verletzungen und Vergiftungen wären noch 
sicher nachzuweisen: namentlich Knochenverletzungen und mineralische 
Vergiftungen. Aber auch Verletzungen der Weichteile müßten sich 
noch nach vielen Jahren nachweisen lassen, wenn sich hierfür eine 
besondere Präparationstechnik entwickelt. Aber, wenn man heute die 
Hände von ägyptischen Mumien soweit rekonstruiert, daß man 
deutliche Papillarabdrücke machen kann, und wenn man aus der 


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Zur Frage der Feuerbestattung vom gerichtlichen Standpunkte. 241 

Leiche des Königs Amenbotep festzustellen vermochte, daß er etwa 
1300 v. Ohr. an Arteriosklerose gestorben ist, dann wird man auch 
aus getrockneten Mumien vieles konstatieren können. Freilich werden 
diese bedeutender Hitze ausgesetzt worden sein, dafür sind aber jene 
fast3'/2 Jahrtausendealt. Ich glaube, daß das vorgeschlagene Trocknen 
der Leichen („Dörren“ werden es die Gegner nennen) vom krimi¬ 
nalistischen Standpunkte aus mehr sichere Ergebnisse verbürgen würde, 
als die heutige Erdbestattung; jedenfalls auch auf viel längere Zeit¬ 
räume hinaus. 


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XI. 

Krankheit oder Laster? 


Von 

Dr. Fleischer in Düsseldorf. 

Unser heutiges Zeitungswesen bringt es mit sich, daß der Neugier 
und dem Sinnenkitzel der Menge zu Liebe über sittliche Verfehlungen 
mehr als gut ist, berichtet wird. Was früher als ganz absonderlich 
und fast unglaublich oft sehr alten Leuten nur entfernt oder überhaupt 
nicht bekannt war, das kann heute jedes Kind in den angesehensten 
Tagesblättern lesen. Zwar sucht die Presse durch Umschreibung oder 
Gebrauch von Fremdwörtern die kindliche Ahnungslosigkeit zu er¬ 
halten, aber durch aufgeklärtere Freunde erfährt das Kind doch die 
Bedeutung der geheimnisvollen Worte, auf die seine Aufmerksamkeit 
durch fettgedruckte ellenlange Berichte und die Erregung der Er¬ 
wachsenen darüber gelenkt ist. 

Es fehlt nicht an Leuten, welche den sogenannten „Perversen“ 
(z. deutsch: „Verkehrten“) das Wort reden, sie als unschuldige Opfer 
unserer ungenügenden Kenntnisse über geschlechtliche Dinge hinstellen 
möchten, als Leute, welche unter dem unwiderstehlichen Zwange eines 
verkehrt entwickelten Naturtriebes handeln. Es gibt eine ganze Anzahl 
von Menschen, auch Arzte und Rechtslehrer, welche für Verfehlungen 
dieser Art völlige Straffreiheit erwirken möchten, da man die verkehrte 
Anlage eines Menschen als solche nicht bestrafen dürfe. 

Demgegenüber ist zu bemerken, daß das Gesetz nicht die Anlage 
bestraft, sondern ihre Betätigung. Ob es sich wirklich um angeborene 
Anlage oder um erworbene Lasterhaftigkeit handelt, ist außerdem noch 
sehr fraglich, und eine Erörterung dieser Frage dürfte angesichts der 
Aufmerksamkeit, welche ihr die Öffentlichkeit heute entgegenbringt, 
angesichts der geplanten Umänderung des Strafgesetzbuches, einmal 
angebracht sein. 


Anmerkung des Herausgebers. Persönlich bin ich zwar für Be¬ 
seitigung der §§ 175 D. St.6. und 129 Öst. St.G., glaube aber doch, dieser gegen¬ 
teiligen Ansicht ebenfalls Raum geben zu sollen. 


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Krankheit oder Laster? 


243 


In den Verteidigungsschriften einflußreicher Gelehrter und milde 
urteilender mitfühlender Menschen erscheinen die geschlechtlich Ver¬ 
kehrten als höchst bemitleidenswerte Wesen, welche, durch die ewigen 
Kämpfe gegen ihre unseligen Triebe nahezu aufgerieben, von Ver¬ 
zweiflung erfüllt sind, zum Teil dicht vor dem Selbstmorde stehen 
und durch die heutige Gesetzgebung der höchsten Freuden des 
Daseins beraubt sind. Mag es auch einzelne solche Unglückliche 
geben, man muß sich davor hüten, deren Schicksale zu ver¬ 
allgemeinern. 

Wirkliche geschlechtliche Verkehrtheit in körperlicher Hinsicht 
ist etwas ungeheuer Seltenes, ich meine z. B. Menschen, welche, im 
übrigen Männer, mit weiblichen Brüsten oder Geschlechtsteilen aus¬ 
gestattet sind, oder, sonst als Weiber ausgebildet, männliche Zeugungs¬ 
werkzeuge besitzen. 

Erfreulich ist solches Spiel der Natur für die Betroffenen ja 
gerade nicht, aber nicht einmal die Zwitter, welche gleichzeitig männ¬ 
liche und weibliche, und dann meist verkümmerte Zeugungswerkzeuge 
besitzen, fühlen sich immer totunglücklich. Noch weniger ist das 
der Fall, wenn die Abweichungen von der Regel geringer sind, wenn 
z. B. Weiber mit ansehnlichem Bartwuchs oder tiefer männlicher 
Stimme ausgestattet sind oder Männern diese Eigenschaften fehlen. 
Es soll nicht geleugnet werden, daß Manche unter solchen Ab¬ 
weichungen von der Regel schwer leiden und sich unglücklich fühlen, 
häufiger sieht man aber solche Leute als glückliche Väter und Mütter. 
Derartige kleine körperliche Abweichungen bedingen also keineswegs 
im Widerspruch mit dem sonstigen Körperbau stehendes Gescblechts- 
empfinden, dergestalt, daß die Frau mit einem stattlichen Schnurrbart 
sich nur oder besonders zu Weibern hingezogen fühlt, der bartlose 
Mann zu Männern fleischliche Liebe empfindet. 

Wie nun solche körperliche Verbildungen Vorkommen, so soll es 
auch mit den seelischen Anlagen sich verhalten. In einem männlichen 
Körper soll gelegentlich die Seele und das Empfindungsleben eines 
Weibes wohnen, ein Weib geschlechtliche Neigungen und Gelüste 
haben wie ein Mann. Das erscheint auch ganz glaublich, daß der¬ 
artige Keimverirrungen in den feinsten Nervenzellen ebenso statthaben 
wie in den gröberen Körperzellen, es wäre wunderbar, wenn es sich 
anders verhielte. 

Während aber die kleinen körperlichen Abweichungen verhältnis¬ 
mäßig selten Einfluß haben auf das Geschlechtsempfinden, soll das 
bei seelischen Abweichungen die Regel sein, auch sollen seelische 
Abweichungen viel, viel häufiger sein als körperliche. Als Beweis 

Archiv für Kriminalanthropologie. 34. Bd. 17 


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244 


XI. Fleischer 


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wird seitens der Anhänger dieser Lehre das Ergebnis einer Umfrage 
angeführt, welche der auf diesem Gebiete sehr rührige Arzt Dr. 
Magnus Hirschfeld in Berlin und Vororten an Arbeiter und Studenten 
erlassen hat. Viele Tausend Arbeiter und Studenten waren gefragt 
worden, ob sie sich vorwiegend von Weibern geschlechtlich angezogen 
fühlten oder auch von Männern oder ob sie sich ausschließlich von 
Männern angezogen fühlten. Die Antworten sollten ohne Namens¬ 
nennung eingesandt werden, und Tausende von Antworten liefen auch 
ein, ungefähr mit dem Ergebnis, daß kaum die Hälfte ausschließlich 
auf Frauen gerichtete Triebe zu besitzen vorgab. Die andere Hälfte 
wollte doppeltes Geschlechtsgefühl haben, ein sehr ansehnlicher 
Hundertsatz der Gefragten von der Frau ganz kalt gelassen werden 
und ausschließlich Neigung zum Manne empfinden, und zwar war 
das Ergebnis bei Arbeitern und Studenten fast gleich. Daß ein 
solches Vorgehen in einer so zarten Gefühlssache keine hohe Beweis¬ 
kraft besitzt, dürfte ohne weiteres einleuchten. Wie viel Ulk mag 
getrieben sein und wie viel Mißverständnisse mögen unterlaufen sein 
bei Beantwortung der heiklen Fragen? 

Es ist in Wirklichkeit nicht einzusehen, warum die seelische 
verkehrte Keimanlage so viel häufiger sein soll wie die körperliche, 
und warum sie so viel auffälliger das Geschlechtsempfinden be¬ 
einflussen soll. Gewiß spielen bei dem ganzen Geschlechtsleben neben 
dem körperlichen Gefühl und Befinden, neben dem Blutdruck bez. 
sonstigen äußeren Beizen, unter welchen die Geschlechtswerkzeuge 
und Geschlechtsnerven gerade stehen, das Gedankenleben, die Ein¬ 
bildung eine große Bolle. Gewiß gibt es Männer, welche nur dann 
imstande sind, mit einem Weibe geschlechtlich zu verkehren, wenn 
es bestimmte Eigenschaften besitzt, mögen sie geistiger oder körper¬ 
licher Art sein. Den einen reizt der Duft der unberührten Keuschheit, 
zartes Schamgefühl, angstvolles Widerstreben gegen den verbotenen 
Genuß, der andere empfindet diese Tugend als Kälte, er bedarf zu 
seinem eigenen Genüsse feurigen Ungestüms, schamlosen Verlangens, 
sinnlicher Tollheit auf der andern Seite, was wieder den ersten 
abschrecken oder anekeln würde, ein Dritter fühlt sich angezogen 
nur von einem üppigen Körper oder von dunklen Glutaugen, während 
den vierten nur die Schlankheit bezaubert oder die kalte Grausamkeit 
eines stahlgrauen Auges in ihren Bann zwingt. Derartige Beize gibt 
es unzählige, auch solche, welche an der Grenze des Krankhaften 
stehen. Feinfühlende Leute stößt das schönste Weib ab, wenn es 
geschminkt, aufgedonnert oder geschmacklos angeputzt ist, andere 
Männer gibt es, welche das gerade lieben, ja, die sich gewissermaßen 


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Krankheit oder Laster? 


245 


nur in Kleidungsstücke verlieben von gewisser Farbe, von besonderem 
Schnitt, in Stiefeln von bestimmter Form. Wer die anbat, ist ihnen 
gleichgültig, daß sie getragen werden, reizt ihren Geschlechtstrieb. 
Man weiß in der Tat nicht, wo da gesundes Empfinden aufhört und 
krankhaftes beginnt. Das Gefühl, der Glaube, die Einbildung, daß 
das betreffende Wesen bestimmte Eigenschaften besitzt, genügt oft 
— zu Zeiten, wo die Eigenschaften vielleicht nicht einmal wahrgenomraen 
werden können —, um einen geschlechtlichen Reiz auszulösen, der 
ohne dieses Gefühl fehlen würde. Fast alle Sinnesorgane, Geruch, 
Gehör, Gesicht, vermögen da Einfluß zu üben. Andere werden von 
den körperlichen oder geistigen Eigenschaften der Frauen gar nicht 
berührt, sie erliegen dem Zauber gewisser Stellungen, Handlungen, 
Geschehnisse und Vorstellungen. Ein Wesen, welches unter gewöhn¬ 
lichen Verhältnissen ihnen völlig gleichgültig sein würde, mag in irgend 
einer absonderlichen Lage, bei einem Zusammenwirken besonderer 
Umstände, in einer gewissen Stimmung, ihnen gefährlich werden. 

Man darf den Einfluß der seelischen Eindrücke, der Vorstellungs¬ 
kraft, der Einbildung, ja nicht unterschätzen, aber auch nicht über¬ 
schätzen. Das körperliche Befinden spielt eine ebenso große Rolle. 
Dinge, die man heute in der Nüchternheit verabscheut, werden morgen 
unter dem Einflüsse des Rausches, des Katers, des Hungers, der 
Sattheit unbedenklich getan. Jemand, der heute geschlechtlich fast 
teilnahmlos ist, wird einige Tage später nach dem Genüsse gewisser 
Speisen, in Augenblicken körperlicher Schwäche, ganz zügellos. 
Langer Schlaf, körperliche Ruhe machen lüstern, harte Arbeit drängt 
geschlechtliche Reize zurück. Im Grunde ist das Geschlechtsleben 
eins der vielen Wunder, welche wir nie ganz begreifen werden, und 
es ist schwer, durch Gesetze da ordnend einzugreifen. 

Trotzdem muß das aber geschehen, will man nicht auf jede 
Sittlichkeit verzichten. Die verschiedenen Völker haben je nach ihrer 
Veranlagung Gesetze geschaffen, welche einer Zügellosigkeit in 
geschlechtlicher Beziehung steuern sollen. Es sind nicht etwa die 
Pfaffen, welche uns diese Gesetze beschert haben, sondern sie sind 
aus dem Bedürfnis des Volkes heraus geboren. Jedes Volk hat da 
seine eigene Anschauung. Dinge, welche vielleicht ein Neger für 
natürlich und erlaubt hält, findet der Germane unehrenhaft und un¬ 
natürlich. Solche anerzogenen Anschauungen beeinflussen unser 
Geschlechtsempfinden auch, so sehr das auch bestritten wird von den 
vielen Weltverbesserern, welche den Geschlechtstrieb als unwider¬ 
stehlichen oder von der Erziehung ganz unabhängigen Naturtrieb 
hinstellen möchten. 

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XI. Fleischer 


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Der Geschlechtstrieb ist nicht unwiderstehlich. Die gegenteilige 
Ansicht ist ein Irrtum. Selbst der rücksichtsloseste, sinnlichste, ver¬ 
tierteste Lastmörder kann sich beherrschen, wenn die Polizei kommt. 

Es gibt — und gab zu allen Zeiten — Tausende und Millionen 
von Menschen, welche ihren Geschlechtstrieb ganz zu unterdrücken 
wissen, welche, durch die Verhältnisse gezwungen, auf seine Be¬ 
friedigung verzichten müssen. Manche davon mögen sich deshalb 
unglücklich fühlen, vielfach sind es aber auch ganz glückliche 
Menschen. Diese Leute sind in einer ähnlichen Lage wie die verkehrt 
Veranlagten und müssen ihre erzwungene Untätigkeit ertragen. 
Weshalb man mit den sogenannten Perversen mehr Mitgefühl haben 
muß wie mit anderen unfreiwillig zur Enthaltsamkeit Gezwungenen, 
ist nicht einzusehen. — 

„Ja! Aber wenn diese anderen die ihnen gezogenen Schranken 
durchbrechen, dann werden sie wenigstens nicht bestraft!“ — Das 
stimmt nicht. Wenn diese zu geschlechtlicher Untätigkeit Verurteilten 
sich auf eine Weise dem ersehnten Genüsse hingeben, welche den 
Anschauungen unserer Volkseigenheit unnatürlich und ekelhaft 
erscheint, so werden sie auch bestraft, — und nicht zu knapp! 
Eltern, Vormünder, Anstaltsleiter, welche sich mit ihren Schutz¬ 
befohlenen vergehen, Menschen, welche mit Tieren Unzucht treiben, 
welche ihre Opfer in willenlosen Zustand versetzen oder gar töten, 
weil gerade die Todesangst ihres Opfers ihre Sinneslust reizt, Leichen¬ 
schänder, alle, welche durch Drohung oder Gewalt geschlechtlichen 
Verkehr erzwingen, alle diese Sittenbrecher werden bestraft. Auch 
wer sich mit Kindern vergeht, verfällt der Strafe, selbst wenn die 
Kinder schon geschlechtsreif sind und sich selbst angeboten haben. 

Warum soll der Strafrichter nun allein vor dem geschlechtlich 
Verkehrten Halt machen? Fällt es diesem schwerer wie dem Lust¬ 
mörder, dem gewissenlosen Vormund, dem Liebhaber eben entwickelter 
Minderjähriger, dem Leichenschänder, seine Triebe zu bekämpfen? 
Oder ist er weniger schädlich? 

Freilich, er bringt seine Opfer nicht leiblich um. Das tun die 
Vorgenannten zum Teil auch nicht. Dafür vernichtet er sie aber in 
sittlicher Beziehung. Ehe er einen findet, der sich ihm hingibt, wie 
oft mag er mit seinen Anträgen das sittliche Empfinden anderer 
verletzt haben und in wie viel anderen vorher ahnungslosen Menschen 
mag er den Keim zu kommenden unsittlichen Handlungen erweckt 
haben! — „Wenn man so denkt, dann muß jeder Verführer bestraft 
werden, auch wenn er geschlechtlich naturgemäß vorging.“ — 


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Krankheit oder Laster? 


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Das ist denn doch etwas anderes. Man will ja nicht jeden 
außerehelichen Geschlechtsverkehr bestrafen, sondern nur den, welcher 
den bei uns herrschenden Anschauungen unnatürlich und widerlich 
erscheint. Dieser Beigeschmack fehlt dem Verkehr zwischen Mann 
und Weib, mag er auch vereinzelt Formen annebmen, die an sich 
dem einen oder anderen widerlich sein können. Der geschlechtlich 
naturgemäß Empfindende wird bei seinem Vergehen wider die Sitte 
auch nicht bedrückt durch das Gefühl, etwas zu tun, was allgemein 
als widernatürlich angesehen wird. Dieses Gefühl quält aber gerade 
den widernatürlich Veranlagten, er weiß es, daß sein Begehren sich 
mit den sittlichen Anschauungen seines Volkes und Landes nicht 
verträgt, und das muß notwendig seine Triebe hemmen, er weiß, daß 
er mit seinen Wünschen, noch mehr mit deren Ausführung, sich in 
den Augen seiner Standesgenossen verächtlich macht; das muß seine 
geschlechtliche Lust lähmen, wie überhaupt das Schamgefühl, mag 
es anerzogen oder angeboren sein, der beste Schutz gegen Unsittlich¬ 
keit ist. Ein verkehrt Veranlagter, welcher sich über alle diese 
Schranken hinwegsetzt, steht sittlich auf einer niedrigeren Stufe als 
ein naturgemäß Empfindender, welcher gelegentlich entgleist, denn er 
hat mehr Schamgefühl über Bord werfen müssen wie der andere. 
Selbstverständlich gibt es auch unter den naturgemäß Empfindenden 
tief, zuweilen entsetzlich tief stehende Menschen, wir brauchen da 
durchaus noch nicht bis zum Zuhälter hinabzusteigen. Diese Wüstlinge 
richten genau so viel sittlichen Schaden an wie der geschlechtlich 
Verkehrte, der sich Genossen sucht. Eine empfindliche Strafe wäre 
ihnen wohl zu gönnen, es ist nur unmöglich, eine gesetzliche Hand¬ 
habe zu finden, um sie von dem gelegentlich Entgleisten zu trennen. 
Häufig wenden derartige Wüstlinge, wenn sie alles ausgekostet haben, 
in immer wilderer Gier nach neuen Sinnesreizen, sich noch verbotenen 
Genüssen zu, und dann sind sie zu fassen. 

Man wendet nun wohl ein, daß geschlechtlich Verkehrte ja 
niemandem Schaden zufügen, wenn sie in verschwiegener Stille in 
gegenseitigem Einverständnis handeln, an dem Gleichgearteten ist 
ja nichts zu verderben. Auf der Suche nach Gleichgesinnten wirken 
sie schon sittlich zersetzend, weil sie nicht immer an Gleichgesinnte 
geraten, und der widernatürliche Verkehr wird leider nicht auf 
die verkehrt Veranlagten beschränkt. Mit Geld kann man viel 
erreichen und böses Beispiel wirkt ansteckend. Gar manches wirkt 
ansteckend, von dem man es nicht für möglich halten sollte, z. B. 
die Selbstmorde. Diejenigen, welche geschlechtlich sich von den 
einseitig verkehrt Veranlagten, den sogenannten Urningen, anstecken 


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XI. Fleischer 


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lassen, sind aber durchaus nicht immer einseitig Veranlagte, sondern 
oft Leute, welche sehr wohl imstande sind oder waren, naturgemäßen 
Geschlechtsverkehr zu pflegen. Die Geschichte lehrt uns, daß ganze 
Völker der schlimmsten Unzucht verfallen sind und daß dann gerade 
der geschlechtliche Verkehr unter Männern in erschreckender Weise 
zugenommen hat. Das sollte uns doch stutzig machen. Immer war 
es die Zeit des Verfalls der Völker, in der solche Erscheinungen 
auftraten, wenn die Genußsucht und Sinnlichkeit alle edlen Eigen¬ 
schaften überwuchert hatten. Die Römer der Kaiserzeit betrieben die 
Knabenliebe förmlich als Sport, als etwas, das zum guten Ton gehörte. 
Es will doch wohl im Ernste keiner behaupten, daß das samt und 
sonders Unglückliche gewesen seien, welche nicht anders gekonnt 
hätten; sie hatten Frauen und hatten auch Kinder. Auch die heutigen 
Verkehrten sind weniger unglücklich über ihre Triebe, als darüber, 
daß deren Befriedigung bestraft wird. Sie sind häufig nicht 
Menschen, welche zu anderer geschlechtlicher Tätigkeit unfähig sind, 
sondern die übersättigt sind, da sie die Liebe zum Weibe bis zum 
Uberdrusse gekostet haben, sie haben oft Frauen und Kinder. Man 
werfe nur einen Blick in die Gerichtsverhandlungen. Der Menge der 
lasterhaften Leute gegenüber sind die wirklichen Urninge gering an Zahl. 

Man male sich nur aus, wohin es führt, wenn man den geschlecht¬ 
lichen Verkehr unter Männern freigibt. Da von diesem Verkehr 
kostspielige Folgen in Gestalt von Nachkommen nicht zu befürchten 
sind, so würde er ungeahnte Ausdehnung annehmen, denn, was nicht 
verboten ist, wird bekanntlich als erlaubt angesehen. Das wird nicht 
gleich geschehen, dazu sind die alten herrschenden Anschauungen noch 
zu mächtig, mit der Zeit würde sich die noch vorhandene Scheu aber 
verlieren und schließlich würden bei uns dieselben Zustände herrschen 
wie im alten Rom. Vor allem aber würden die Geschlechtskrankheiten eine 
ungeheure Verbreitung annehmen, die Ehelosigkeit, die Zahl der unglück¬ 
lichen Ehen, würde zunehmen und die Nerven- und Körperkraft unserer 
Männer infolge der vermehrten Gelegenheit zu Ausschweifungen ab. 

Um die Straffreiheit des geschlechtlichen Verkehrs zwischen 
Mann und Mann zu erwirken, weist man darauf hin, daß der Verkehr 
zwischen Weib und Weib straffrei ist; was dem einen aber recht sei, 
sei dem anderen billig. Nun sind die Gesetze aber von Männern 
gemacht, und denen waren die Weiber bisher noch stets ein Rätsel. 
Deshalb haben sie sich eines allzu einschneidenden Eingriffs in den 
Geschlechtsbereich des Weibes enthalten. Daß auch unter Frauen 
gleichgeschlechtliche Liebe vorkommt, ist erwiesen, nur bat man noch 
nirgendwo gesehen, daß sie derart widerliche Formen annähme wie 


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Krankheit oder Laster? 


249 


beim Manne, oder derart in der Öffentlichkeit von sieb reden machte. 
An sich hat das Weib ein zarteres Schamgefühl oder wenigstens mehr 
furchtsame Zurückhaltung als der Mann, so lange es nicht gefallen 
ist. Nicht die Männer, die Mütter sind die besten Be¬ 
wahrer von Sitte und Zucht. Es bedarf größerer Überredungs¬ 
und Verführungskunst, um ein Weib vom rechten Wege abzuleiten, 
als wenn man einen Mann zu außerehelichem Geschlechtsverkehr 
verführen will. Ausnahmen gibt es selbstverständlich auf beiden 
Seiten. Das gefallene Weib wird auch im allgemeinen von seinen 
Mitschwestern mehr geächtet wie der unsittliche Mann von seinen 
Standesgenossen. Ferner ist das Weib viel öfter als der Mann 
körperlich verhindert (monatliche Reinigung, Schwangerschaft, Wochen¬ 
bett, früheres Aufhören der Geschlechtstätigkeit), geschlechtliche Lust 
zu erwecken oder zu betätigen. Aus allen diesen Gründen wird der 
geschlechtliche Verkehr unter Weibern sich schwerer verbreiten als 
unter Männern. Wir hören auch aus den sittenlosesten Zeiten der 
Geschichte von einem Geschlechtsleben der Weiber unter sich 
verhältnismäßig nur wenig; wo wir davon hören, berührt es uns 
nicht so unangenehm. Deshalb hat man geglaubt, dem überschweng¬ 
licher gearteten Gefühlsleben der Frauen mehr Spielraum lassen zu 
müssen. Es berührt uns doch durchaus nicht unangenehm, wenn 
zwei Frauen sich bei geringfügigem Anlaß umarmen und küssen, 
wenn sie ihre Einder in manchmal sehr weitgehender Weise liebkosen, 
während uns das bei Männern ekelhaft vorkommt. Das Geschlechts¬ 
leben ist das ureigenste Gebiet des Rätsels Weib. Darin beim Weibe 
einzugreifen, darf uns nur die äußerste Notwendigkeit bestimmen, 
und die liegt nicht vor. Man hört auch nie, daß das Volk ein Ein¬ 
schreiten der Gesetzgebung gegen die verkehrt veranlagten Weiber 
verlangt, während das gesunde Volksbewußtsein den Verkehr unter 
Männern bestraft wissen will, wenigstens bei den Völkern nordischer 
Rasse. Das Volk will die sittlichen Anschauungen, welche sich in 
Jahrtausenden bei ihm gebildet und bewährt haben, geschützt wissen; 
das kann man mit aller Spitzfindigkeit und allem Aufwand von 
Wissenschaftlichkeit nicht abstreiten. 

Es ist doch besser, daß unter den verhältnismäßig wenigen 
wirklichen Urningen, die sich zu einem enthaltsamen Leben nicht 
zwingen können, einmal einer bestraft wird, obwohl wir Mitleid mit 
ihm haben, als wenn man aus falsch verstandenem Mitleid die vielen 
lasterhaften Übertreter unserer Anschauungen vom natürlichen Ge¬ 
schlechtsverkehr nun auf die Menge losläßt. Besser, es verdirbt ein 
Glied denn das ganze Volk. 


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250 


XI. Fleischer 


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Unsere Gesetze sind dazu da, das Volk gesund zu erhalten, 
seinen Anschauungen gerecht zu werden; sie sollen der Allgemein¬ 
heit dienen, nicht einzelnen Sonderlingen, und sie müssen deshalb 
das bekämpfen, was nach der Ansicht der Mehrheit unserem Volke 
schädlich ist Wie andere Völker und vereinzelte Menschen darüber 
denken, darauf kann unsere Gesetzgebung keine Rücksicht nehmen. 
Härten hat jedes Gesetz im Gefolge. 

Die geschlechtlich Verkehrten müssen eben Enthaltsamkeit üben, 
wenn sie unter uns leben wollen; das Verlangen ist nicht zu grausam. 
Von ihnen können wir, falls sie sonst geistig gesund sind — und 
das wollen sie ja sein —, Enthaltsamkeit ebenso gut verlangen, wie 
wir das von unseren unverheirateten Schwestern und Töchtern, von 
unseren katholischen Geistlichen, Ordensbrüdern und Ordensschwestern 
tun. Die verkehrte Anlage ist nicht derartig mächtig, daß ihre Be¬ 
tätigung nicht durch den Willen unterdrückt werden könnte. Urninge 
aber, die ihre Triebe beim besten Willen nicht zähmen können, 
welche unter unwiderstehlichem Zwange handeln, die sind als 
Kranke, als geistig Minderwertige zu beurteilen, und die läßt ja auch 
unsere heutige Gesetzgebung unbehelligt. Nötigenfalls müssen sie 
durch Absperrung in Anstalten unschädlich für die Allgemeinheit 
gemacht werden. Bei solchen Kranken wird sich in fast allen Fällen 
der Nachweis des Krankhaften erbringen lassen, da der Arzt bei so aus¬ 
geprägter Aufhebung der Willenskraft auch sonst Störungen im Nerven¬ 
bau finden wird, welche für die Krankhaftigkeit beweisend sind. 

Von der Strafe getroffen werden also nicht die, welche sich nicht 
zügeln können, sondern diejenigen, welche sich nicht zügeln 
wollen. Den einseitig verkehrt Veranlagten darunter oder den geistig 
mangelhaft Entwickelten mag man mildernde Umstände zubilligen, 
ganz schuldlos sind sie nicht. 

Geistig und körperlich gut entwickelte Menschen, welche nach¬ 
weislich imstande sind oder waren, ihre Geschlechtslust in natur¬ 
gemäßer Weise zu befriedigen, haben doch wahrhaftig nicht nötig, 
auch noch andere Freuden aufzusuchen aus zügelloser Gier nach 
immer neuen Genüssen oder gar für Geld sich hinzugeben. Mit diesen 
braucht man kein Mitleid zu haben, sie sind lasterhaft ohne einen 
Schein von Entschuldigung, und das dürfte die große Mehrzahl sein. 

Eine völlige Aufhebung der Strafbestimmungen, welche den ge¬ 
schlechtlichen Verkehr unter Männern treffen, ist für die Mehrheit 
unseres Volkes nicht wünschenswert; sie bringt unserem Volke 
keinen Segen, sondern namenloses Unglück; über eine Milderung ließe 
sich allenfalls reden. 


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XII. 


Eine kriminalistisch-chemische Untersuchung von Klebstoff. 

Von 

Dr. Hans Schöfer. 


Ich glaube, die Darstellung einer Untersuchung bringen zu sollen, 
obwohl sie aus den neunziger Jahren stammt; sie zeigt aber, daß der 
Sachverständige dem Untersuchungsrichter mitunter auch in Fällen 
helfen kann, welche verzweifelt aussehen und das Verlangen von Hilfe 
zu Anfang als völlig aussichtslos erscheinen lassen. — 

Eine gerichtliche Zentralbehörde W mit besonderem Indorsat- 
Erlasse die Untersuchung mehrerer Corpora delicti in der bei dem 
k.k. Gerichte in X gegen den Aufseher Y des Fabriksunter¬ 
nehmens in Z anhängigen Strafsache angeordnet. 

Aufseher Y ist beschuldigt, mehrere an Mitbedienstete angelangte 
Briefsendungen, die er in der Eigenschaft als Postbevollmächtigter aus 
dem Postfache der Fabrik im Laufe der Monate Oktober bis Dezember 
v. J. übernommen hatte, gewaltsam eröffnet und deren Inhalt ganz oder 
teilweise sich angeeignet zu haben. 

„Einige von den gewaltsam eröffneten Kuverts gelangten zu 
Gerichtshanden und ist an deren Bückenfläche ganz genau das Ver¬ 
fahren, welches der Täter beobachtet hat, um das Geld herauszunehmen 
und die Übernehmer resp. Adressaten zu täuschen, ersichtlich.“ 

„Nach Aussage der hierüber einvemommenen Post-Sachverstän¬ 
digen hat der Täter wahrscheinlich mit einem Taschenmesser einen 
Teil der Verschlußklappen aufgerissen und dann wieder mit Gummi, 
zugeklebt. Da nun dieses Gummi von ungewöhnlicher, viele fette 
Bestandteile enthaltender Gattung ist, in der Wohnung des Beschul¬ 
digten aber gelegentlich der Vornahme der Durchsuchung derselben 
ein Fläschchen mit Gummi gefunden wurde, so erscheint es von großer 
Wichtigkeit, festzustellen, ob und inwiefern letzteres Gummi und jenes 
womit die Briefe zugeklebt wurden, von gleicher Beschaffenheit seien.“ 
Das k. k. Gericht in X stellt daher die Bitte, „durch zwei Sach¬ 
verständige die beigeschlossenen Kuverts und das im Fläschchen ent¬ 
haltene Gummi chemisch untersuchen zu lassen.“ 


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252 


XII. SCHÖFER 


Die Sachverständigen hätten sodann ein motiviertes Gutachten 
abzugeben: 

1. ob zwischen dem im Fläschchen enthaltenen und jenem Gummi, 
womit die gewaltsam eröffneten Briefe zugeklebt wurden, rücksicht¬ 
lich der Bestandteile eine Übereinstimmung zu konstatieren sei, 

2. welche Zeit erforderlich war, damit das auf dem Kuvert 
befindliche Gummi, womit die aufgeschnittenen Stellen zugeklebt 
erscheinen, mit Rücksicht auf die hierzu verwendete Quantität und 
chemische Zusammensetzung des Klebestoffes ganz oder wenigstens 
bis zu einem gewissen Grade trocknen konnte, welcher die Wahr¬ 
nehmung der vielleicht erst kurz zuvor ausgeführten Spolierung nicht 
leicht möglich machte. 

„Der verdächtige Aufseher hat nämlich die meisten Briefe kurze 
Zeit nach Ankunft von der Post an die Bevollmächtigten der Ab¬ 
teilung übergeben. Manche Briefe mochte er vielleicht nur V 2 Stunde 
oder noch kürzer im Besitze gehabt haben.“ 

„Trotzdem haben nur 2 Adressaten wahrgenommen, daß das 
Gummi, womit die Verschlußklappen zugeklebt worden sind, noch 
nicht ganz trocken war.“ 

Schließlich wird gebeten, daß die Sachverständigen die Unter¬ 
suchung derart vornehmen mögen, „daß hierdurch das äußere Aus¬ 
sehen der Kuverts möglichst wenig verändert werde.“ 

Als Corpora delicti langten im Laboratorium der Untersuchungs¬ 
stelle ein versiegeltes Fläschchen und eine Anzahl eröffneter Brief¬ 
kuverts an. Das Fläschchen, welches augenscheinlich zur Aufbe¬ 
wahrung einer Klebemasse für Papier und dergl. gedient hatte, 
enthielt keine Spur von Flüssigkeit mehr, war aber auf dem Boden 
mit einer glänzenden, lackartigen Substanz überzogen. Diese Substanz 
hat auch den im Fläschchen steckenden, ausgespreizten Pinsel über¬ 
und durchzogen und förmlich verglast; ein ganzer Wulst dieser Masse 
hat sich aber im Halse und an der Mündung des Fläschchens 
abgelagert, ein zwar nicht reichliches aber immerhin sehr beachtens¬ 
wertes Untersuchungsmaterial. 

Mit Rücksicht auf den vorliegenden Fall mußte es sich zunächst 
darum handeln, die Eigenschaften dieses Materials möglichst genau 
zu ergründen, um es naturwissenschaftlich mit Sicherheit klassifizieren 
zu können und dabei schärfstens etwaigen Eigentümlichkeiten nach- 
zuspüren, wodurch gerade diese Masse gegenüber anderen aus¬ 
gezeichnet und charakterisiert erscheinen konnte. 

Das hierbei erzielte Ergebnis mußte sodann zu einem rationellen 
Untersuchungsplane verwertet werden, nach welchem es vielleicht 


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Eine kriminalistisch-chemische Untersuchung von Klebstoff. 


253 


möglich wäre, zur Beantwortung der überaus schwierigen und sub¬ 
tilen oben zitierten Frage einige wichtige und positive Beiträge 
zu liefern. 

Die dem Fläschcbenhalse auf- und angelagerte Masse stellte 
sich dem bloßen Ansehen als eine glasartig glänzende, feste, durch, 
sichtige mit feinen Rissen durchsetzte, schwach grünlich gefärbte und 
sonst gleichmäßige Substanz dar, an welcher weiteres bei dem Ver¬ 
suche, kleine Partikelchen davon loszulösen, eine bedeutende Sprödig¬ 
keit neben geringer Härte auffiel. Im Zusammenhalte mit den 
sonstigen Attributen, mit denen das Fläschchen, wie oben bemerkt, 
ausgestattet war, konnte die Masse aus Leim, Dextrin, Gummi- und 
anderen Harzen oder aus dem Gemisch einiger oder aller dieser 
Substanzen bestehen. Die Art ihrer Verteilung nnd Ablagerung 
macht es für unzweifelhaft, daß sie durch Austrocknung einer Lösung 
oder Quellung jener Stoffe zustande gekommen war. 

Das Fläschchen trägt die gedruckte Bezeichnung „Colle blanche 
liquide“. Wiewohl die Erfahrung lehrt, daß man es mit derartigen 
Aufschriften auf käuflichen Präparaten von dieser Sorte nicht gerade 
sehr genau zu nehmen braucht, überdies fremdländische Ausdrücke 
wie hier die Bezeichnung Colle verschiedenes besagen können und 
aus diesem Grunde gern gewählt werden, um den Fabrikanten keine 
Verlegenheiten zu bereiten, so schien es dennoch geboten, den Aus¬ 
druck nach seiner ursprünglichen Bedeutung, nämlich als Leim auf¬ 
zufassen und daraufhin die erste Untersuchung vorzunehmen und 
zwar aus folgenden Gründen: 

Das Klebemittel, dessen sich die k. k. Postverwaltung für Brief¬ 
kuverts und andere zu verklebende Briefsorten bedient, besteht, wie 
die einschlägigen Untersuchungen an einem mit dankenswerter Bereit¬ 
willigkeit und Schnelligkeit zur Verfügung gestellten Materiale ergeben 
haben, in der Tat aus Leim. 

Die sonstigen käuflichen Briefkuverts sind, wie mehrere Unter¬ 
suchungen an solchen Erzeugnissen von verschiedener Herkunft 
erwiesen, mit einer Masse verklebt, welche im wesentlichen aus 
Gummi arabicum mit einem variablen Zusatze von Dextrin bereitet 
wird. Der Leim als stickstoffhaltige, den Eiweißkörpem nahestehende 
Substanz liefert ganz andere Reaktionen als die Gummiharze und 
Dextrine, welche der Klasse der Kohlehydrate angehören. 

Da nun alle in dieser Angelegenheit vorgelegten Briefkuverts 
durch Privatindustrie erzeugt, also nach den Ergebnissen zahlreicher 
Untersuchungen durch Gummiharze oder durch Dextrin oder ein 
Gemisch beider dieser Stoffe verklebt sind, so mußte zunächst die 


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XII. SCHÖFER 


Entscheidung, ob das in der Wohnung des Angeklagten Vorgefundene 
Fläschchen eine Leimlösung enthalten habe, für den weiteren Verfolg 
der Untersuchung von größter Wichtigkeit erscheinen. 

Die an dem Fläschchen Vorgefundene Masse wurde nunmehr einer 
genauen chemischen Prüfung unterzogen. Sie löste sich in kaltem 
Wasser nicht leicht, bei längerem Digerieren zerging sie darin zu 
einer schleimigen Flüssigkeit, die Lösung wurde durch Wärme be¬ 
schleunigt, und die Flüssigkeit zeigte sehr schwache alkalische 
Reaktion. In Alkohol und Äther blieb die Masse so gut wie unlöslich, 
Zusatz von Alkohol zu der wässerigen Lösung erzeugte eine weiße 
Ausscheidung, welche auch nach längerem Stehen keine Flocken 
absetzte. Die Lösung in Wasser erfuhr durch die empfindlichsten 
Reagentien auf stickstoffhaltige Substanzen wie Jodkalium — Queck¬ 
silberjodid, Jod-Jodkalium, Phosphorwolframsäure und Phosphor¬ 
molybdänsäure keine deutliche Veränderung. Die Masse enthielt 
demnach keinen Leim. 

Mit Fehlingscher Lösung gekocht ergab sie eine sehr geringe 
Ausscheidung von Kupferoxydul, jedoch keine Biuretreaktion. War 
sie zuvor längere Zeit mit etwas Salzsäure gekocht worden, so lieferte 
sie hinterher mit Fehlingscher Lösung eine weit beträchtlichere Aus¬ 
scheidung von Kupferoxydul. 

Diese Wahrnehmungen sprachen dafür, daß die Masse zum größten 
Teile aus Gummiharz bestehe. Aus der Tatsache, daß sie an und 
für sich, ohne früher durch Mineralsäure gespalten und zum Teil in 
Zucker übergeführt worden zu sein, die Zuckerreaktion allerdings 
nur in minimalen Spuren ergab, blieb noch die Annahme eines 
Zusatzes von Dextrin, welches in käuflicher Ware stets mit Zucker 
vermengt ist, möglich. 

Diese Annahme wurde jedoch durch die Erfahrung hinfällig, 
welche lehrt, daß auch reines Gummiharz, wenn es längere Zeit in 
Lösung steht oder aus Lösungen wieder eintrocknet, die Zucker¬ 
reaktionen gibt. 

Für den vorliegenden Fall sind diese letzteren Untersuchungs¬ 
ergebnisse insofern interessant, als die in dem vorgelegten Fläschchen 
befindliche Klebemasse nach den soeben beschriebenen Richtungen 
dieselben Reaktionen liefert, wie die Klebemasse, welche bei der 
Herstellung von käuflichen Briefkuverts in Privatfabriken ver¬ 
wendet wird. 

Nach den bisherigen Untersuchungen konnte sonach zwischen 
der in dem vorgelegten Fläschchen befindlichen und der in der 


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Eine kriminalistisch-chemische Untersuchung von Klebstoff. 


255 


Privatindustrie bei Erzeugung von Briefkuverts verwendeten Klebe¬ 
masse kein Unterschied gefunden werden. 

Man mußte sieb nunmehr die Frage vorlegen, ob vielleicht der 
Beweis erbracht werden könne, daß der Fläscbcheninhalt, welcher, 
wie bemerkt, seiner Hauptmasse nach aus Gummiharz besteht, einen 
quantitativ bestimmbaren Zusatz von Dextrin enthalte und ob daraus 
eine ersprießliche vergleichende Beurteilung im vorliegenden Fall 
erhofft werden dürfe. 

Diese Frage konnte mit Rücksicht auf die geringen Mengen zu 
Gebote stehenden Untersuchungs- und Versuchsmaterials sofort ver¬ 
neint werden. Zusatz von Dextrin zu Gummiharzen läßt sich, soweit 
die bisherigen Kenntnisse reichen, vielleicht unter Umständen. quanti¬ 
tativ ermitteln, wenn das Untersuchungsmaterial in fester Form 
vorliegt und in beliebigen Mengen zu Gebote steht. Es könnte sich 
im wesentlichen dabei nur um eine polariskopische Untersuchung 
handeln. Die verschiedenen Dextrine drehen den polarisierten Licht¬ 
strahl sehr stark nach rechts, die Gummiharze bald nach rechts, bald 
nach links, jedoch ist ihr Drehungsvermögen im ganzen gegenüber 
dem der Dextrine ein geringes. 

Man könnte also nur in dem Falle, als eine Gummilösung eine 
auffallend starke Rechtsdrehung des polarisierten Lichtstrahles ergäbe, 
qualitativ auf einen Zusatz von Dextrin schließen, die quantitative 
Bestimmung eines solchen Zusatzes dürfte jedoch mit den heutigen 
wissenschaftlichen Hilfsmitteln kaum möglich sein, jedenfalls aber 
müßte, wie bereits bemerkt, ein unbegrenztes Versuchsmaterial zur 
Verfügung stehen. 

Nun wolle man dagegen bedenken, daß im vorliegenden Falle 
die Frage erhoben werde, ob die äußerst geringe, zwischen der 
Faltenlage eines Briefkuverts befindliche Klebemasse in dieser Rich¬ 
tung quantitativ gegenüber anderen Klebestoffen differenziert werden 
könne. 

Von dieser Art der Beweisführung mußte daher im vorliegenden 
Falle, um nicht das geringe zu Gebote gestellte Untersuchungsmaterial 
unnötig zu versplittern, gänzlich abgesehen werden. 

Es blieb nur noch übrig, aus dem Aschengehalte des vorgelegten 
Klebestoffes Anhaltspunkte für die Beurteilung der Sache zu gewinnen. 
Demgemäß wurden Teile der in dem Fläschchen befindlichen Klebe¬ 
masse verascht, es zeigte sich, daß der Aschengehalt ein reichlicher 
war. Die nähere Untersuchung ergab, daß diese Asche zum kleineren 
Teil in Wasser löslich war, daß die wässerige Lösung derselben 
deutlich alkalische Reaktion besaß und daß der in Wasser unlösliche 


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XII. SOHÖFER 


Teil der Asche durch verdünnte Salzsäure unter Kohlensäure¬ 
entwicklung nahezu vollständig in Lösung ging, in welcher Kalk und 
Magnesia nachgewiesen werden konnten. 

Genau dieselben Ergebnisse wurden erhalten bei der Veraschung 
verschiedener käuflicher Sorten von Gummi arabicum. Die in den 
Gummiharzen enthaltene Verbindung der Arabinsäure mit Alkalien 
und alkalischen Erden liefern beim Veraschen die betreffenden kohlen¬ 
sauren Salze, und es war also auch in dieser Hinsicht weder qualitativ 
und noch weniger quantitativ eine Auskunft in der vorgelegten Frage 
mit Rücksicht auf das minimale Vergleichungs- und Untersuchungs¬ 
material zu erwarten. 

Hingegen hatte sich bei der Ermittlung der Eigenschaften der 
Klebemasse des Fläschchens gegenüber verschiedenen Gummisorten 
doch ein sehr wichtiger Unterschied herausgestellt. 

Bei der Beschreibung des Fläschcheninhalts wurde oben bereits 
seine grünliche Farbe hervorgehoben. Gewöhnliche käufliche Gummi¬ 
sorten besitzen diese Farbe nicht, sie ist daher als der eingesendeten 
Probe eigentümlich anzusehen und es blieb zu erforschen, welchem 
Stoff die Masse diese Färbung verdankt 

In dieser Hinsicht konnte durch wiederholte Versuche mit Sicher¬ 
heit festgestellt werden, daß die Masse in dem eingesendeten Fläschchen 
neben Eisen auch ganz deutliche Mengen von Kupfer enthalte, 
während in verschiedenen marktgängigen Gummiproben dieses Metall 
auch nicht in Spuren nachgewiesen werden konnte. Man wird nicht 
fehlgehen, wenn man annimmt, daß das arabische Gummi in einem 
Kupfergefäß gekocht worden sei. 

Mit dieser Entdeckung schien der besagte Fläschcheninhalt 
geradezu charakterisiert, und damit war ein Fingerzeig gegeben, nach 
welcher Richtung die Untersuchungen an den eingesendeten Brief¬ 
kuverts unternommen werden mußten, um vielleicht einen positiven 
Aufschluß auf die gestellten Fragen zu ermöglichen, der in anderer 
Weise, wie die bisherigen Ausführungen eingehend gezeigt haben, 
unmöglich zu erbringen gewesen wäre. Vor Erledigung dieser Vor¬ 
fragen konnte an die Untersuchung der eingesendeten Kuverts 
nicht geschritten werden, da einerseits das darin enthaltene Unter¬ 
suchungsmaterial nur in minimaler Menge vorhanden war und anderer¬ 
seits in der Zuschrift die Bitte gestellt war, bei der Untersuchung 
das äußere Aussehen der Kuverts möglichst wenig zu verändern. 

Für die vergleichende Untersuchung der auf einem eingesendeten 
Kuvert befindlichen verschiedenen Klebemasse wurde das mit der 
Adresse: A. B. (R 1902) ausgewählt. 


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Eine kriminalistisch-chemische Untersuchung von Klebstoff. 


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An seiner Innenseite erschien an einem Lappen eine grüngefärbte 
Überkleisterung, welche von dem Klebeüberzug der übrigen Kuvert¬ 
verschlußklappen ganz auffallend abstach. Diese Stellen, an welchen 
allem Anscheine nach später auf den ursprünglichen Klebestoff des 
Kuvertverschlusses ein anderer aufgetragen worden war, wurde für 
die Durchführung der nachfolgend beschriebenen Untersuchung aus¬ 
geschnitten. 

Ein Teil davon wurde mit einigen Tropfen destillierten Wassers 
ausgekocht. Das filtrierte Dekokt gab mit Fehlingscher Lösung 
eine minimale, jedoch deutliche Reduktion von Kupferoxydul. 

Ein anderer Teil wurde verascht, der Aschegehalt war ein sehr 
reichlicher. Die verhältnismäßig doch sehr geringe Menge des Klebe¬ 
mittels, welche auf dem schmalen Streifchen des Kuvertabschnittes 
aufgetragen war, konnte diese Aschenmenge unmöglich liefern, der 
Hauptanteil mußte sonach aus dem Papiere des Kuverts stammen. 
Bekanntlich werden der Papiermasse, um ihr mehr Körper zu geben, 
reichlich Mineralbestandteile zugesetzt, unter denen insbesondere 
Tonerde und Bary um Verbindungen eine Rolle spielen. 

Für den vorliegenden Fall konnte es nach den bisherigen Er¬ 
örterungen weder von Wichtigkeit, noch von Interesse sein, sämtliche 
Mineralbestandteile des Papieres festzustellen, aus welchen das zur 
Untersuchung gewählte Kuvert bestand. 

Die ganze Aufmerksamkeit mußte der Frage zugewendet werden, 
ob unter den Mineralbestandteilen Kupfer nachgewiesen werden 
könne. Die Asche des genannten Kuvertstreifchens wurde also mit 
einigen Tropfen verdünnter Salpetersäure ausgezogen und der filtrierte 
Auszug mit Ammon versetzt. Hierdurch entstand eine Fällung von 
Tonerde, welche in der Papiermasse enthalten gewesen war und die 
Überstehende Flüssigkeit nahm einen nur für sehr geübte Augen erkenn¬ 
baren blauen Farbenton an, der auf Spuren von Kupfer hindeutete. 

Um diese minimale, vielleicht zweifelhafte Reaktion durch eine 
andere von noch größerer Schärfe zu unterstützen und zu bestätigen, 
wurde die Flüssigkeit filtriert, mit einem Tropfen verdünnter Salz¬ 
säure angesäuert, zur Trockene verdampft, der Rückstand zur 
Entfernung der Ammonsalze geglüht, mit einigen Tropfen reiner 
verdünnter Salpetersäure aufgenommen, auf dem Wasserbade zur 
vollständigen Trockene verdampft, und zuletzt in einigen Tropfen 
destillierten Wassers gelöst. 

Diese Lösung gab mit einer verdünnten Lösung von gelbem 
Blutlaugensalz die eigentümlich rotbraune, für Kupfer charakteristische 
Fällung von Ferrocyankupfer. 


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XIL SCHÖFER 


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Damit war mit Sicherheit erwiesen, daß in der Asche des allem 
Anscheine nach späterhin mit einem Klebemittel neu bestrichenen 
Teiles des Kuvertverschlusses Kupfer enthalten sei, dieselbe Substanz, 
welche auch in der Asche der in dem vorgelegten Fläschchen be¬ 
findlichen Klebemasse als eine ganz eigentümliche Beimengung auf¬ 
gefunden wurde. 

Es blieb nun weiter zu untersuchen übrig, ob nicht etwa das 
ursprüngliche Klebematerial des Kuvertverschlusses oder aber das 
Papier des Kuverts selbst Kupfer enthalte. Namentlich mußte man 
in dieser Beziehung die Möglichkeit vor Augen halten, daß durch 
Zusetzung von mineralischen Bestandteilen, welche in der Papier¬ 
fabrikation üblich sind, auch Spuren von Kupfer in die Papiermasse 
des untersuchten Kuverts hineingebracht worden sein konnten. 

Die Doppelfrage, ob die ursprüngliche Klebemasse des Kuvert¬ 
verschlusses oder aber das Papier des Kuverts selbst Kupfer enthalte, 
ließ sich möglicherweise durch einen einzigen Versuch entscheiden. 
Man brauchte nur andere Teile der Verschlußstelle des Kuverts zu 
veraschen, an denen von einer nachträglichen Auftragung eines Klebe¬ 
mittels absolut nichts wahrzunehmen war; dann kamen das dem 
Kuvert ursprünglich aufgestrichene Klebematerial und das Papier des 
Kuverts selbst gleichzeitig in Untersuchung. Ergab dies ein Resultat, 
so war die Beweisführung geschlossen. 

Dieser Überlegung entsprechend wurde aus dem Verschluß des 
Kuverts, dort wo es unzweifelhaft seine ursprüngliche und unver¬ 
änderte Beschaffenheit zeigte, ein ungefähr gleich großes Stück, als 
es zu dem früheren Versuche gedient hatte, ausgeschnitten und ver¬ 
ascht. Der Aschegehalt erwies sich abermals als sehr reichlich. 
Die Asche wurde in minutiöser Weise der gleichen Behandlung 
unterzogen wie früher, die Reaktionen fielen jedoch durchweg 
negativ aus. 

Danach kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die nach¬ 
träglich auf jener Stelle des Kuverts, welche auch die Spuren einer 
stattgehabten ungewöhnlichen Eröffnung aufweist, aufgestrichene 
Klebemasse vom Klebemittel verschieden ist, mit welchem die anderen 
Stellen des Verschlusses zusammengeklebt sind, und daß gerade 
derjenige Körper, aus welchem eine solche Verschieden¬ 
heit dieser beiden Klebemittel erschlossen werden kann, 
auch in dem Inhalt des vorgelegten Fläschchens nach¬ 
gewiesen worden war. 

Die in dieser Angelegenheit gestellten Fragen erheischten noch 
weitere Untersuchungen. 


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Eine kriminalistisch-chemische Untersuchung von Klebstoff 250 

Die Natur und chemische Beschaffenheit des in dem eingesendeten 
Fläschchen enthaltenen Klebemittels war, wie dies gezeigt worden ist, 
als Gummi arabicum festgestellt worden. Es fragt sich mithin, in 
welcher Zeit ein Aufstrich einer solchen Lösung auf Papier soweit 
eintrocknen kann, daß man nicht mehr zu unterscheiden vermag, ob 
das Klebemittel schon vor längerer Zeit oder erst kürzlich zum Zweck 
der Verklebung aufgetragen wurde. 

Allgemeine Angaben lassen sich hierüber nicht machen, der 
Zeitraum innerhalb dessen ein Aufstrich einer Lösung von Gummi 
arabicum auf einem Papier eintrocknen kann, so daß man nicht mehr 
zu unterscheiden imstande ist, ob dieser Aufstrich erst vor kurzer 
Zeit stattgefunden hat oder ein bereits von längerer Zeit her bestehen¬ 
der eingetrockneter Aufstrich zum Zwecke der Verklebung vor kurzem 
eingefügt wurde, hängt von vielerlei Umständen ab; erstlich von der 
Konzentration bezw. dem Wassergehalte der Lösung, von der Wärme 
und dem Feuchtigkeitsgrade der Luft, fernerhin von der Qualität, 
insbesondere von der Porosität des Papiers, auf welches die Masse 
aufgetragen wurde und endlich von der Dicke der Schicht, in welcher 
das Klebemittel verwendet wurde. 

Von allen diesen Verhältnissen können für den vorliegenden 
Fall hauptsächlich zweierlei Umstände in Betracht gezogen werden, 
der erste betrifft die Konzentration. Man darf annehmen, daß Klebe¬ 
lösungen, so wie man sich diese für den Gebrauch in eigener 
Bereitung zurecht stellt, auch käuflich in der höchst möglichen 
Konzentration abgegeben werden. Das in dem Fläschchen vorgelegte 
Klebemittel dürfte sonach eine gesättigte Lösung von Gummi arabicum 
dargestellt haben. 

Der zweite Umstand bezieht sich auf die Beschleunigung bezw. 
Verzögerung der Austrocknung von konzentrierten Gummilösungen 
je nach der herrschenden Temperatur der Luft und insbesondere nach 
der Zuhilfenahme künstlicher Erwärmung. 

Nach diesen beiden Richtungen angestellte Versuche ergaben, 
daß eine konzentrierte Gummilösung mittels eines Pinsels in gewöhn¬ 
licher Art auf Papier aufgetragen ohne Zuhilfenahme künstlicher 
Erwärmung in 20—30 Minuten vollständig eintrocknet, ohne daß man 
zu unterscheiden imstande ist, ob das Klebemittel kürzere oder 
längere Zeit vorher aufgestrichen wurde. Bei Zuhilfenahme von 
Erwärmung kann die Eintrocknung in 2—3 Minuten vollendet sein. 

Es schien nach diesen Ergebnissen der Untersuchung und mit 
Rücksicht auf die am Schlüsse der Zuschrift des k. k. Gerichts 
in X. ausgesprochene Bitte nicht weiter nötig, auch die anderen 

Archiv für Krirainalanthropologio. 34. Bd. 18 


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XII. SCHÖFER 


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Kuverts in derselben Weise zn untersuchen und es konnte nun¬ 
mehr auf die gestellten Fragen nachstehendes 

Gutachten 

abgegeben werden. 

1. Zwischen dem im Fläschchen enthaltenen und jenem Gummi, 
womit die gewaltsam eröffneten Kuverts zugeklebt wurden, ist rück¬ 
sichtlich der Bestandteile eine Übereinstimmung zu kon¬ 
statieren. Beide Gummisorten enthalten nämlich Kupfer, während 
in dem Klebemittel der anderen Versohlußstellen desselben Kuverts 
dieser Stoff nicht enthalten ist. 

2. Die Frage nach der Zeit, welche erforderlich war, damit das 
auf dem Kuvert befindliche Gummi, womit die aufgeschnittenen 
Stellen zugeklebt erscheinen, ganz oder wenigstens bis zu einem 
solchen Grade eintrocknen konnte, welcher die Wahrnehmung der 
vielleicht erst kurz zuvor ausgeführten Spolierung nicht leicht möglich 
machte, läßt sich mit Rücksicht auf die obigen Erörterungen dabin 
beantworten, daß je nach verschiedenen Umständen zur vollständigen 
Eintrocknung einer konzentrierten Gummilösung, welche auf Papier 
in der Weise auf gestrichen wird, wie dies an Briefkuverts gewöhnlich 
geschieht, ein Zeitraum von 20—30 Minuten ausreichend erscheint. 


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XIII. 


Beiträge zum Kapitel über sexuale Verirrungen. 

Von 

Staatsanwalt Dr. E. Ehmer in Graz. 


Wiewohl ab und zu Anzeigen einlaufen, in denen behauptet 
wird, die erwachsene Anzeigerin sei das Opfer eines gewaltsamen 
Angriffes auf ihre Geschlechtsehre gewesen, so führt die Untersuchung 
doch in den seltensten Fällen zur Erhebung einer Anklage ob des 
vollbrachten Verbrechens der Notzucht (nach § 125 öst. St.G.). Vorsicht 
ist in solchen Fällen immer am Platze, ja geradezu geboten, denn die 
Anzeigen sind zumeist nichts anderes als ein mit Hintansetzung der 
Gefahr, ob falscher gerichtlicher Aussage und Verleumdung belangt 
zu werden, angewendetes Mittel um Eltern oder dem Ehegatten einen 
Fehltritt zu verbergen und vorzuspiegeln, der Anzeigerin sei etwas 
ab- bezw. aufgezwungen worden, was sie tatsächlich mit freier Gunst 
gewährte. 1 ) 

Weiteres ist aber bei derlei Untersuchungen auch darauf Bedacht 
zu nehmen, daß im Sprachgebrauche des Volkes der Ausdruck „Not¬ 
zucht“ einen weiteren Umfang hat, als der gesetzliche Begriff und 
dort vielfach auch zur Bezeichnung eines Vorganges dient, der mit 
schamhaftem Sträuben gegen eine im Grunde genommen nicht 
unliebsame Umarmung beginnt und einer nicht unfreiwilligen Hin¬ 
gabe endet. 

Eingehende Erhebung über die Beziehungen beider Teile vor 
und nach der Tat werden in den meisten Fällen genügende Auf¬ 
klärung geben, um einen Mißgriff zu vermeiden und auch bei Anzeige 
wegen eines Notzuchtsversuches den Täter dann vor einer Anklage 
zu bewahren, wenn er tatsächliche Anhaltspunkte zur Annahme hatte, 
daß das angebliche Opfer des Attentates seinen wenn auch stürmischen 
Werbungen nicht abhold gewesen sei. 

Beischlafshandlungen an Taubstummen, ja auch an Kretinen sind 
nicht so selten, als man glauben sollte. Die Heftigkeit des Gescblechts- 

1) Vergl. H. Groß, Hdb. f. Ü.R., 5. Aufl. Bd. I p. 28. 

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XIII. R. Ehmer 


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triebes, mitunter auch die Erwägung, daß die Mißbrauchte über die 
Tat und den Täter keine Auskunft geben kann und letzterer derart 
vor den zivilrechtlichen Folgen der Befriedigung seiner Lust bewahrt 
bleibt, lassen über die Körpergebrechen des Opfers hinwegseheD, 
besonders wenn Alkoholgenuß das ohnehin gering entwickelte ästhe¬ 
tische Empfinden betäubt bat und die Kretinen, die dem Geschlechts- 
genusse zumeist nicht abgeneigt sind, mit freundlichem Grinsen alles 
über sich ergehen lassen. 

Auch die Behauptung, im Schlafe überfallen, somit im Zustande 
der Wehr- und Bewußtlosigkeit mißbraucht worden zu sein, taucht 
immer wieder einmal auf, findet aber, wenn Beginn des Geschlechts¬ 
aktes während des Schlafes und Erwachen erst während des Bei¬ 
schlafes behauptet wird, bei den Sachverständigen keinen Glauben 
und wird wohl mit Recht in die Kategorie der obenerwähnten 
Deckungsmanöver verwiesen. 

1. Irrtum in der Person. 

Ein Irrtum in der Person des Mannes, der ihr naht, ist aber 
bei dem im Schlafe befangenem Weibe nicht ausgeschlossen, wie 
folgender Straffall zeigt, der hier mitgeteilt wird, wenn schon er 
außerhalb des Rahmens der Erörterungen liegt. 

Der Holzknecht A kam nach mehrwöchentlicher Abwesenheit im 
Holzschlage zu Tal, traf mit seiner Liebe, der Magd Kathel zusammen, 
besprach mit ihr, sie nachts zu besuchen, mußte aber dringender 
Geschäfte wegen, ohne sie hiervon verständigen zu können, wieder 
in seinen Schlag zurückkehren. 

Der Holzknecht B, der schon lange ein Auge auf die Kathel 
geworfen hatte, um sie aber nicht zu werben wagte, weil A ihm an 
Kräften überlegen war, erfuhr hiervon, machte sich die Gelegenheit 
zu nutze, schlich zu nachtschlafender Zeit zur Kathel in den Stall, 
beantwortete ihre Frage, Hansel, bists du, wahrheitsgemäß, weil er 
auch diesen Taufnamen führte, — aber vorsichtshalber im Flüstertöne 
mit ja, und vergnügte sich, den Flüsterton beibehaltend, mit der Kathel, 
die er vor Eintritt der Dämmerung wieder verließ. 

Der Holzknecht war wenig erfreut, als er nach einigen Wochen 
von der Kathel, die er bishin nicht wieder gesehen hatte, mit der 
Nachricht überrascht wurde, daß sie von ihm in guter Hoffnung sei, 
— er entzweite sich mit ihr und zog in eine andere Gegend, wurde 
aber dann, als Kathel eines Knaben genaß, vom Vormunde desselben 
auf Anerkennung der Vaterschaft belangt. Er leugnete, die Kathel 
schwor als Zeugin, daß A ihr in der kritischen Zeit besonders in der 


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Beiträge zum Kapitel über sexuale Verirrungen. 


26 » 


fraglichen Nacht beigewohnt habe, in der nach der Entwicklung des 
Kindes und da sie seither nicht mehr menstruiert hat, wohl zweifellos 
die Zeugung des Kindes vor sich ging. A wurde dem Klagebegehren 
gemäß verurteilt; dies ging ihm doch über die Hutschnur, er raffte 
sich aus seiner Gleichgültigkeit auf, zeigte die glückliche Mutter ob 
falscher Aussage vor Gericht an und bewies, daß er ihr in der be¬ 
sprochenen Nacht nicht beigewohnt haben könne, da er so zeitig 
schon wieder im Holzschlage war, daß er zur Nachtzeit unmöglich 
noch im Dorfe gewesen sein konnte. — Die Kathel kam dadurch in 
eine üble Lage, eine Anklage und Verurteilung ob Betruges durch 
falsche Aussage schien gewiß. Da regte sich in B, der der Ent¬ 
wicklung der Dinge bishin ruhig zugesehen hatte, doch das Gewissen 
und er erlöste die Bedrängte durch das Zugeständnis, daß er die Bolle 
des A gespielt habe. 


2 . Zum Kapitel der Schändung. 

Am Abende des 1. Juni... schickte Frau X ihre im 10. Lebens¬ 
jahre stehende Tochter Fanny zum Kleinkrämer H. (32 Jahre alt, 
in M. in Ungarn geboren, kath., verehelicht, unbescholten), um einen 
Einkauf zu besorgen. 

Die Kleine kam bald darauf in großer Erregung zurück und 
erklärte weinend ihrer Mutter: zu dem Manne gehe ich nicht mehr, 
der hat mir den ganzen Mund ausgeschleckt. Nachdem das Mädchen r 
das starken Brechreiz zeigte, sich etwas beruhigt hatte, schilderte e& 
den Vorfall in seinen Einzelheiten seiner Mutter, die hierauf die An¬ 
zeige erstattete. 

Als Zeugin vernommen gab das als sittlich und wahrhaft ge¬ 
schilderte Mädchen, wie schon früher, ihrer Mutter an: 

Ich wurde am 1. Juni abends zu H. geschickt, um Bohnen ein¬ 
zukaufen. H. gab mir die Bohnen, — er stand hinter der Budel (Ge¬ 
schäftstisch), ich vor derselben. Bevor er mir auf das Geld herausgab, 
griff er mit beiden Händen über die Budel, hielt mich an den 
Schultern fest und schleckte mit seiner Zunge mein Gesicht ab, so 
daß ich ganz feucht wurde, dann fuhr er mir mit der Zunge auch 
in den Mund; obwohl ich meinen Mund geschlossen hielt, zwängte 
er seine Zunge zwischen meinen Lippen durch. Ich wehrte mich, 
so gut ich konnte, doch hielt er mich fest. — Dann griff er mir 
auch zwischen meine Füße, er hob jedoch dabei die Röcke nicht in 
die Höhe, sondern drückte sie an meinen Leib. 

Der Beschuldigte bestreitet das Abschlecken des Gesichtes, gibt 
aber zu, das Mädchen geküßt und ihr ein sogen. „Zungenbussel“ 


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XIII. R. Ehmer 


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gegeben zu haben, wobei seine Zunge die des Mädchens berührt 
habe; auch gestand er, mit der Hand zum Bauch des Kindes ge¬ 
griffen zu haben. Dies alles will er im Zustande leichter Anheiterung 
und nur aus Übermut getan haben, ohne geschlechtlich erregt gewesen 
zu sein und nicht in der Absicht, seinen Geschlechtstrieb zu befriedigen. 
Da aber nach der Sachlage und im Hinblicke auf die über die Be¬ 
deutung des Zungenkusses erstattete Äußerung der Gerichtsärzte nicht 
daran zu zweifeln war, daß ein grober geschlechtlicher Mißbrauch 
des Mädchens vorlag, dessen Leib von H. widerrechtlich zur Be¬ 
friedigung seiner Lüste in Anspruch genommen worden ist, wurde 
gegen ihn Anklage ob des Verbrechens der Schändung nach § 128 
österr. St.G. erhoben, er dieser Tat auch schuldig gesprochen und 
zu 4 Monaten schweren durch einen Fasttag und 1 hartes Lager 
monatlich ergänzten und verschärften Kerker verurteilt. 

Die Urteilsgründe nehmen den erzählten Sachverhalt als erwiesen 
an und beziehen sich auf das gerichtsärztliche Gutachten, aus dem 
folgendes hervorgehoben werden möge. 

Die Erfahrung und wissenschaftliche Beobachtung lehrt, daß 
allzuheiße Küsse kaum einer Leidenschaft entbehren; werden Kinder 
von fremden Leuten, besonders an ungewöhnlichen Körperstellen 
oder gar in widernatürlicher Weise geküßt, so bildet sicher eine 
sexuelle Betätigung den Beweggrund dazu. Solche Küsse sind selbst 
bei Kindern nicht ohne Wirkung. Schon bei Säuglingen regt sich 
die Natur, und Kinder, die man doch nur als unbewußte Wesen 
ansehen kann, verstehen es schon, wie Katzen zu schmeicheln und 
sich durch Küsse in eine wollüstige Stimmung zu versetzen. 

Man kann nicht genug darüber staunen, wie früh durch Küsse 
der sexuelle Trieb geweckt wird. 

Küßt ein Mann ein fremdes Kind gewaltsam und in exzessiver 
Weise, dann kann die treibende Sinnenlust wohl nicht geleugnet 
werden; kommt überdies die Zunge dabei in Tätigkeit, zumal durch 
Eindrängen in den Mund des mißbrauchten Opfers, so ist die be¬ 
absichtigte Befriedigung der Lust wohl nicht mehr zweifelhaft, da 
bekanntlich der Kontakt der Zungen außerordentlich erregend wirkt. 

Selbstredend ist unter Befriedigung nicht die ejakulatorische 
Stillung des Geschlechtstriebes zu verstehen, — schon die gewollte 
Anfachung der Wollust fällt unter obigen Begriff. 

3. Unzucht mit Tieren — Bestialität (§ 129a österr. St.G.). 

Die nicht zahlreichen Fälle dieses Deliktes, die in Mittelsteiermark 
zur Kenntnis der Behörden kommen, etwa 5—6 jährlich, zeigen so 


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Beiträge zum Kapitel über sexuale Verirrungen. 


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ziemlich alle denselben Typus. Halbwüchsige Jungen, die von ihren 
Kameraden, hauptsächlich aber älteren Knechten sexuell aufgeklärt 
worden sind, aber nicht den Mut oder die Gelegenheit finden, sich 
dem anderen Geschlechte zu nähern, unterliegen dem immer stärker 
auftretenden, durch aufreizende Erzählungen anderer oder die eigene 
ausschweifende Phantasie aufgestacbeiten Geschlechtstriebe und machen 
sich fast immer an eine „Kalbin“ (1—2jähriges weibliches Kind) 
heran, der sie sich mit Hilfe eines Melkstuhles a posteriori nähern. 
Ganz ausnahmsweise werden junge Stuten mißbraucht 

Abweichungen von dieser Regel kamen mir in meiner langjährigen 
Praxis nur zweimal vor. 

In einem Falle, der deutlich sadistischen Einschlag zeigt, benützte 
•der Täter eine Henne, nachdem er sie auch an Körperstellen, an 
denen die Federn seinem Beginnen nicht hinderlich waren, zum Teile 
gerupft und deren Kloake er aufgeschnitten hat. Er leugnete zwar, 
doch waren, wie die Blutuntersuchung nachwies, seine Kleider und 
seine Unterwäsche in der Nähe der Geschlechtsteile mit Hühnerblut 
befleckt; ferner fanden sich an diesen Partien Partikelchen von 
Hühnerfedern; diesen Beweisen gegenüber schritt er zu einem Ge¬ 
ständnisse. 

Der zweite Fall entbehrt nicht einer gewissen Komik. Ein älterer 
verwitweter Bauer, der sich mit seiner ihm sonst in allem zu Diensten 
stehenden Wirtschafterin entzweit hatte, wurde von dieser dabei er¬ 
tappt, wie er sich mit einer jüngeren Sau vergnügte. Die Wirt¬ 
schafterin, deren sittliche Empörung mit etwas Eifersucht gemischt 
gewesen zu sein scheint, zeigte ihn an, — er gestand seine Schandtat 
offen zu und brachte zu seiner Entschuldigung vor: „Die Sau sei ihm 
immer nachgegangen und habe ihn so gewiß angeschaut, so daß er 
nicht anders konnte, als ihr den Willen zu tun“. 

Tatsächlich dürfte aber medizinischer Volksaberglaube der sonst 
schier unbegreiflichen Tat zugrunde gelegen sein. Gewisse Krank¬ 
heiten der Geschlechtsorgane sollen bekanntlich nach diesem Aber¬ 
glauben durch geschlechtliche Vereinigung mit einer reinen Jungfrau 
geheilt werden können; da dem Bauer eine solche unzugänglich war, 
machte er sich an seine bishin noch nicht belegte Sau heran. Näheres 
war aber darüber aus dem Manne nicht herauszubringen. 

4. Blutschande. 

Fälle von Blutschande ereignen sich zu meist auf dem Lande und da 
wieder vornehmlich an der Sprachgrenze. Als Täter erscheinen ge¬ 
wöhnlich verwitwete Keuschler, die zu keiner zweiten Ehe schritten, 


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XIII. E. Ehmer 


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mit heranwacbsenden Töchtern zusammen leben und wirtschaften 
und den Weg in deren Schlafkammer finden. Ihre Schandtat kommt 
fast regelmäßig dann ans Tageslicht, wenn sich Nachkommenschaft 
einstellt und der Vormund im Vereine mit dem Gerichte nach dem 
außerehelichen Vater forscht. 

£in entgegengesetzter Fall legt Zeugnis davon ab, daß Mutterliebe 
auch das Schamgefühl besiegen kann. 

Eine ältere Witwe hauste mit ihrem irrsinnigen Sohne allein in 
der Einsamkeit, in die sie sich zurückgezogen hatte, da der Kranke 
sich in der Irrenanstalt unglücklich fühlte und unter Menschen nicht 
zu halten war. Da ihrer Meinung nach seine Erregungszustände 
infolge geschlechtlicher Abstinenz an Dauer und Intensität Zunahmen, 
gab sie sich ihm hin. Die Sache wurde erst ruchbar, als der Irre 
in einem Tobsuchtsanfalle seine Mutter erschlagen hatte. 

5. Verführung zur Unzucht (§ 132). 

Eine bejahrte Ehefrau merkte, daß die Neigung ihres bedeutend 
jüngeren Gatten zu ihr im Schwinden sei; um ihren Einfluß auf ihn 
nicht zu verlieren, ihn von Seitensprüngen abzubalten und zu ver¬ 
hindern, daß er anderweitig auf Kosten des sonst dem Haushalte 
zufließenden Einkommens Ersatz suche, wußte sie arme Leute zu 
überreden, ihr ihr 13 jähriges, aber über sein Alter hinaus entwickeltes 
Mädchen zur Verrichtung leichterer Dienste gegen billiges Entgelt zu 
überlassen. 

Dieses Kind verdarb sie in den Grund hinein, untergrub dessen 
Moral und führte es ihrem Gatten zu, wodurch sie fürs erste aller¬ 
dings ihre Absicht erreichte, dann aber sich ob Kuppelei und Mit¬ 
schuld an dem Verbrechen der Notzucht, und ihrem Gatten ob des 
letzteren Verbrechens wohlverdiente schwere Strafe zuzog. Und doch 
ist mit diesem Falle der Gipfel der Verworfenheit eines Weibes nicht 
erreicht, wie folgender Fall zeigt: 

Die 44jährige Wäscherin Marie F. lebte mit ihren drei außer¬ 
ehelichen Kindern, darunter dem 17jährigen Franz, der 13jährigen 
Johanna und einem 7jährigen Knaben zusammen im gemeinsamen 
Haushalte mit dem Vater dieser Kinder, dem 54jährigen Georg H.; 
sie bewohnten ein Zimmer, das allen als Schlafgemach diente und 
eine Küche, die Marie F. auch zur Ausübung ihres Gewerbes be¬ 
nutzte. Sie besorgte auch für den 30jährigen Fleischergehilfen Johann 
W. die Wäsche, kam infolgedessen mit ihm öfters zusammen und 
fand solchen Gefallen an ihm, daß sie trachtete, mit ihm in nähere 


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Beiträge zum Kapitel über sexuale Verirrungen. 


267 


Beziehungen zu treten. Die Ausführung ihres Wunsches, mit ihm 
einen gemeinsamen Haushalt zu führen, scheiterte am Widerstande 
ihrer Kinder und ihres bisherigen Zuhälters, der auch auf ihren Vor¬ 
schlag nicht einging, ihr allwöchentlich einmal geschlechtlichen Ver¬ 
kehr mit W. zu gestatten. 

Nun bediente sie sich ihrer 13jährigen Tochter, um den W. ins 
Haus zu bringen, hoffend, daß auf diese Weise auch sie mit ihm in 
intimen Verkehr treten könnte; sie schilderte dem frühreifen und 
trotz seiner Unmündigkeit stark entwickelten Mädchen die Wonnen 
fleischlichen Umganges, machte es hierdurch lüstern und wußte in 
ihm eine Neigung zu W. zu entfachen, dem sie wieder unter Ver¬ 
schweigen des Alters ihrer Tochter von deren glühender Sehnsucht 
nach ihm erzählte und es so zustande brachte, daß W., der anfänglich 
dem Mädchen wenig Beachtung schenkte, sich nun um dieses zu be¬ 
kümmern begann. Sie lud ihn wiederholt in ihre Wohnung ein und 
holte ihn selbst aus Gasthäusern ab. So geschah es auch am 26. De¬ 
zember ... 11 Uhr nachts. W. war ziemlich angeheitert, wurde von 
der Marie F. in die Wohnung gebracht, sie führte ihn direkt zu ihrer 
Tochter, die bereits zu Bette lag, half ihm sich halb entkleiden, wor¬ 
auf er sich vor den Augen der Mutter ins Bett der Tochter legte. 
Marie F. verlöschte die Lampe und verließ das Zimmer. W. brachte, 
während die Eltern des Mädchens in der Küche arbeiteten, die ganze 
Nacht im Bette der Tochter zu und vollzog mit ihr, die bishin noch 
mit einem Manne nicht verkehrt hatte, den Beischlaf. Dies wieder¬ 
holte sich am 31. Dezember, wo sich W. wieder vor den Augen der 
Mutter entkleidete und ins Bett der Tochter legte. 

Nachher erfuhr W. zufällig, daß die junge F. noch unmündig 
sei und die Schule besuche, — er wollte deshalb sofort den Verkehr 
mit ihr abbrechen, Marie F. sen. zerstreute aber seine Bedenken, wies 
auf die Entwicklung ihrer Tochter hin, erzählte, was natürlich erlogen 
war, daß ein Arzt für das Mädchen den Geschlechtsverkehr für not¬ 
wendig erklärt habe, da es sonst krank würde usw., so daß sich W. 
zur Fortsetzung des Verhältnisses entschloß, an dem nun auch das 
Opfer mütterlicher Liederlichkeit und Männertollheit Gefallen fand. 
Gelegentlich suchte Marie F. sen. den Platz ihrer Tochter einzunehmen, 
bevor sie aber ihr Ziel erreichte, sprach sich die Sache herum. Die 
schamlose Mutter wurde samt W. gefänglich eingezogen, letzterer zu 
3 Jahren, M. F. ob Kuppelei und Beihilfe zum Verbrechen der 
Notzucht an einer Unmündigen zu 5 Jahren schweren Kerkers ver¬ 
urteilt. — 


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Xill. R. Eiimer 


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6. „Notzucht“ an einem Manne. 

Karl Z., der passive Held des zu schildernden Straffalles, war 
1879 in einem slowenischen Dorfe geboren, verlor bald seine Eltern, 
war infolgedessen schon in der Kindheit auf sich selbst gestellt, genoß 
nur spärlichen Schulunterricht und brachte sich als Knecht schlecht 
und recht fort. 

Seit 1905 diente er in S. einem Weiler in Mittelsteiermark nahe 
der Sprachgrenze gegen Süden zu, wird von seinen Dienstgebern als 
redlicher und fleißiger Arbeiter geschildert, doch hatte er wenig Um¬ 
gang mit seinesgleichen; des Deutschen wenig mächtig, Mitglied eines 
katholischen Jünglingsvereines, etwas einfältigen Charakters, doch 
körperlich wohlgebildet, ging er dem anderen Geschlechte soviel als 
möglich aus dem Wege und war deshalb bald die Zielscheibe des 
Spottes der jungen Leute und der Nachbarschaft. Da er den 
Lockungen loser Mädchen kein Gehör schenkte, wurde gegen ihn ein 
Streich geplant, der zur Ausführung kam, als im Weiler ein wandernder 
Schleifer mit seiner 19jährigen Zuhälterin sich auf einige Tage niederge¬ 
lassen hatte, die die ihr zugedachte Rolle ohne vieles Sträuben übernahm. 

Die gutmütige Bereitwilligkeit des Z., überall zu Diensten zu 
stehen, wo man deren bedurfte, erleichterte die Ausführung. Er 
wurde von den Söhnen des Nachbars T. eines Abends eingeladen, 
sich im Pferdestalle mit seiner Klarinette einzufinden, um ihnen etwas 
vorzuspielen. Er leistete willig Folge, fand aber zu seinem Mißbehagen 
im Stalle außer den Nachbarssöhnen, Rudolf T. (30 Jahre alt) und 
Franz K. (22 Jahre) und dem Schleifer Franz B. auch noch die 23jäh¬ 
rige Josefa T., die 18 jährige Aloisia T. und die 19jährige Philomena 
K., die Zuhälterin des Schleifers. — Seine Versuche, sich zurück¬ 
zuziehen, waren vergeblich, so blieb er denn und spielte den Leuten 
etwas vor. Das Weitere spielte sich nach seinen Angaben folgender¬ 
maßen ab: 

„Rudolf T. redete der Schleiferin vor, daß ich mir viel Geld 
verdient und erspart habe und deshalb zu heiraten wäre; die Schlei¬ 
ferin rückte dann zu mir herzu und sagte, daß sie mich möchte. 
Ich aber ging von ihr weg und sagte, daß ich kein Frauenzimmer 
möchte; ich bin nämlich beim Jünglingsvereine. Ich wollte dann 
zur Tür hinaus, Josefa T. vertrat mir aber den Weg und hielt mich 
fest, dann rief sie die anderen alle herbei. Es kamen sodann alle im 
Stalle Anwesenden herzu, auch der Schleifer und die Schleiferin. 
Während mich einige festhielten, zog mir Josefa T. die Stiefel, die 
Hose, den Rock, das „Leibi“ und schließlich auch das Hemd aus, so 
daß ich ganz nackt dastand. Ich wehrte mich, schrie und weinte, 


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Beiträge zum Kapitel über sexuale Verirrungen. 


269 


— es half alles nichts, — ich wurde überwältigt, ich fiel dabei auf 
den Boden nieder, dann hoben mich die Leute auf. 

Die Schleiferin legte sich unterdessen auf ein Strohlager auf 
dem Boden und schob die Röcke bis über die Mitte hinauf, so daß 
ihr Unterleib ganz entblößt war. Dann sagte sie „jetzt bringt ihn her.“ 

„Josefa T. riß unterdessen an meinem Gliede herum, bis es steif 
wurde; dann legten sie mich auf die Schleiferin, spreizten meine 
Arme auseinander, knieten sich auf mich und hielten meine Füße 
fest, so daß ich mich nicht rühren konnte. Dann „leitete“ Josefa T. 
mein Glied in die Scheide der Schleiferin. Sie umschlang mich mit 
den Armen und mit einem Beine; die anderen drückten heftig auf 
mein Gesäß, während die Schleiferin sich wiegend bewegte. Es er¬ 
folgte nach einiger Zeit ein Samenerguß, worauf die Schleiferin sagte: 
„jetzt hab ichs schon drinnen, — weglassen, es hat mir wohl getan, 
es ist lustig gewesen“ — dann wurde ich erst freigelassen; man gab 
mir meine Kleider, zog mich an und warf mich aus dem Stalle, wobei 
mir Rudolf T. erklärte, ich dürfe nichts aussagen, sonst würde ich ge-, 
schlagen, — es sei nichts daran, der Pfarrer tue mit der Köchin ebenso.“ 

Die Beteiligten leugneten zuerst alles ab und gaben nur im 
Laufe der Voruntersuchung Einzelheiten zu; Rudolf T., daß er dem 
Z. den Rock über den Kopf gezogen, Josefa und Aloisia T. ihm das 
Hemd rückwärts aus der Hose gerissen und den Hosenbund ge¬ 
lockert zu haben, Franz K. will nur das „Hosentürl“ des Z. geöffnet 
haben, wobei der Schleifer zugestandenermaßen insofern behilflich 
war, als er den Z. währenddessen an den Füßen festhielt. Der 
Schleifer gestand auch zu, daß Franz K. und Rudolf T. den Z. zur 
Philomena K., die auf einem Strohlager auf dem Boden lag, hin¬ 
getragen, und daß Aloisia T. dem Z. zugeredet habe, bei der Philo¬ 
mena zu schlafen, was dieser unter dem Hinweis auf seine Zugehörig¬ 
keit zum Jünglingsvereine und mit dem Bedeuten, er möge kein 
Frauenzimmer, abgelehnt habe. 

Die Behauptungen des Opfers dieses Unzuchtaktes wurden aber 
wesentlich unterstützt durch die Angaben des 13jährigen August K. 
und der 9jährigen Pauline W., Ziehkinder der Besitzer des Gehöftes, 
die beim Erscheinen des Z. im Stalle anwesend waren und von den 
Leuten bezeichnenderweise während der häßlichen Szene dort belassen 
worden sind. Ersterer bestätigt insbesondere, daß Z. von Rudolf und 
Aloisia T. und Heinrich K. festgehalten und von Josefa T. ausge¬ 
zogen, sohin von den 3 Geschwistern T. und Heinrich K. zu der 
entblößt auf dem Lager liegenden Schleiferin hingezerrt wurde. 
Pauline W. bestätigt außerdem, daß die Genannten den Z. auf die 


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XIII. R. Ehmkr 


Schleiferin daraufgelegt und ihn dort längere Zeit festgehalten haben, 
während er sich vergeblich wehrte und wiederholt ausrief: „ich will nicht“. 

Das österreichische Strafgesetz bestraft nur den an einer Frauens¬ 
person wider deren Willen gewaltsam vollführten Beischlaf als Ver¬ 
brechen, es konnte die Tat von dem Gesichtspunkte der Unzucht 
aus nur als Übertretung des § 516 St.G. behandelt werden, dies aber 
mit Grund, da der Vorgang sich mit Rücksicht auf die Anwesenheit 
von Kindern als eine gröbliche und öffentliches Ärgernis verursachende 
Verletzung der Sittlichkeit und Schamhaftigkeit darstellt. 

Außerdem konnte die „Gewaltanwendung“ gegen Z. entweder 
vom Gesichtspunkte der Erpressung (§ 98a) oder dem der Freiheits¬ 
beschränkung (§ 93 St.G.) aus der Ahndung zugeführt werden. 

Nun straft § 98 a St.G. allerdings den ob Verbrechens der öffent¬ 
lichen Gewalttätigkeit mit Kerker von 6 Monaten bis zu einem Jahre, 
bei erschwerenden Umständen, insbesondere wenn durch die zugefügte 
Gewalt der Mißhandelte durch längere Zeit in einen qualvollen Zu¬ 
stand versetzt worden ist, mit schwerem Kerker von 1—5 Jahren, 
der einer Person wirklich Gewalt antut, um sie zu einer Leistung, 
Duldung oder Unterlassung zu zwingen. Das Wesen der Erpressung 
liegt aber nicht schon in der Verletzung der persönlichen Freiheit, 
sondern in der mittels dieser Verletzung angestrebten Schädigung 
eines dem Verletzten zustehenden konkreten Rechtes, dem eine privat¬ 
rechtliche Bedeutung zukommt. 

Ein konkretes Recht, jemandem seine Neigung zu schenken usw. 
besteht als solches nicht, es ist ein Ausfluß persönlicher Freiheit, — 
und war es daher angemessen, die Tat der Bestimmung des § 93 
St.G. zu unterstellen, die den trifft, der jemanden eigenmächig ver¬ 
schlossen hält oder auf was immer für eine Art an dem Gebrauche 
seiner persönlichen Freiheit hindert. Die Anwendung dieser Gesetzes¬ 
stelle entspricht auch den Maximen der Praxis, die gewaltsame Ent¬ 
blößung und Betastung einer nicht im § 128 St.G. genannten Frauens¬ 
person als unbefugte Einschränkung persönlicher Freiheit straft und 
auf einen durch Freiheitsentziehung qualifizierten Notzuchtsversuch 
(§ 125), wenn dieser als solcher wegen freiwilligen Rücktritt des Täters 
von der Vollbringung der Tat nicht bestraft werden kann, die Be¬ 
stimmung des § 93 St.G. anwendet. — 

Sämtliche Angeklagten wurden auch nach dieser Gesetzesstelle 
in Konkurrenz mit § 516 St.G. schuldig gesprochen und zu schweren 
Kerkerstrafen zwischen 4 und 6 Monaten verurteilt. 

Wenn dieser Fall auch kein Unikum darstellt, so dürfte Ähnliches 
doch sicher selten genug Vorkommen. — 


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XIV. 

Orientalische Strafrechtsstudien. 

Von 

Dr. Ladislaus v. Thöt, Advokat, 

Mitglied der kön. spanischen und griechischen Akademien, und des Rats der „SocietA 
Internazionale degP Intellettuali a Roma“, Honorar-Präsident der „Alliance Scientifique 
Universelle de Paris“, Honorar-Professor der Universität von La Plata, Mitglied des 
„Instituto da Ordern dos Advogados de Brezil u , etc. 


i. 

Die Reform des russischen Strafrechts im XVII. Jahrhundert.') 

1. Einleitung. 

I. Die erste Periode der Geschichte des russischen Strafrechts 
umfaßt die ersten Erinnerungen an das Staatsleben, vorerst die Ver¬ 
träge der Großfürsten Oleg (911) und Micislaw Dawidovicz mit 
den Griechen, welche auch einige Strafbestimmungen enthalten. 

Solche finden wir im Olegschen Vertrage hinsichtlich des 
Totschlags, des Diebstahls und der Realinjurien. 

Die Tötung bestrafte man mit dem Tode; der nächste Verwandte 
des Getöteten rächte ihn und, wenn der Verbrecher durch Flucht sich 
davor gerettet hatte, so nahm man ihm sein Vermögen, der Frau des 

1) Quellen: KoToinuxuHi): „0 Pocciu bt> i^apcTBOBame AaencTH Maxau- 
•JOBuua u , 1884. — „Airrbi MoCKOBCKaro rocy^apCTBa“, 1890—1901. — B'feaneB'b: 
„Aen^iu no iiCTopiu pyccKaro 3anoHo4aTe.ibCTBa tt . Mockbo, 1888. — B.ta^nMipcKia- 
By.j.aHOB'b: „ 063 opi> ucTopin PyccKnro npaßa“, 1900. — Derselbe: „XpiiaroMaTiH 
no ncTopia pyccnaro npaea“, 1887—1899. — ^eöo.i bc k i u : „rpa3KAatjcnafl flfiec- 
uonocoÖHOCTb no PyccnoMy npaßy 40 KOHi^axrn“, 1903. — ^amTum»: „CTarbu no 
ncTopin pyccnaro npaßa u , 1896. — 3arocKnm>: „Hayna HCTopin pyccKaro npaBa“, 
1891. — via h re: „,4p eBHoe pyccKoe yro.ioBHoe cy4onpon3B u , 1884. — •leoHTbeß'b 
„KoHcneKTb no ncTopin PyccKaro upaßa“, 1903. — IIoö^aohoci^cbi» : „HcTopuno- 
jopLuuqecKie aKTbi nepexo^nou 3 iioxh XVII—XVIII., 1887. — PoraaeBH: 
„KoHCneKTb no ncTopin pyccnaro npaBa“, 1900. — Ca mokbsicoB it: „H 3 <M'fc 40 Banifl 
no ucTopiu pyccnaro npaßa“. Mocnea, 1896. — Derselbe: „UcTopin pyccnaro 
npaßa tt , 1878. — B. K. <I>. „KoHCnenTb no ncTopin pyccnaro npaßa tt , 1904. — Xut- 
poßo: „ 3 anoH 04 aTe.ibHbie naM/iTHUKii XVI u. XVII CToa^Tin“. Mocnßa, 1905. — 
Auüerdem findet man sehr wertvolle Angaben im ausgezeichneten Werke von Pusto- 
roslew: „Pyccnoe yroaoBiioe upaßa“, lOpbeB'b, 1908. 


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XIV. Ladislaus v. Tiiot 


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Totschlägers jedoch ließ man soviel, als das Gesetz vorschrieb; heute 
würden wir sagen: das Existenzminimum. 

Wenn der Verbrecher kein Vermögen hatte, und wenn er ent¬ 
flohen war, so hielt man die Frau gefangen. — 

Wer heimlich stahl, sollte nm das Dreifache gestraft werden. 

Eine schwere Geldstrafe legte man auf den, welcher eine Real¬ 
injurie beging; außerdem befahl man ihm noch, die Kleider herzu¬ 
geben, wenn er nichts anderes hat, um sie zu bezahlen; zudem mußte 
er schwören, daß er nicht bezahlen könne, und daß er niemanden 
habe, der ihm in dieser Not ausbelfe. 

Der Vertrag von Dawidowicz erwähnt die einzelnen Glieder, 
die beschädigt werden können, und waren für jede Verletzung (Auge, 
Hand, Fuß, Gelenke der Glieder, Zahn) besondere Strafen vorge¬ 
schrieben. 

Der Vertrag machte einen Unterschied, ob Blut aus der Wunde 
floß, oder bloß ein Wundenmal sich zeigte; man berücksichtigte aber 
nicht, ob eine Person höheren oder niederen Standes verletzt worden 
war. Eine Ausnahme hiervon macht die einem Geistlichen zugefügte 
Wunde, denn für eine solche wurde doppelt gezahlt. 

Der auf der Tat ergriffene Dieb mußte „auf der Gnade des 
Großfürsten stehen“, d. h. man konnte mit ihm machen, was man 
wollte. 

Der Mann, welcher bei seiner Frau einen fremden Ehebrecher 
antraf, konnte eine große Geldstrafe erheben, nämlich zehn Marken. 

II. Wladimir der Große hat ein kleines Strafgesetz erlassen, 
in welchem er den größten Teil der Bestrafung der Verbrechen den 
kirchlichen Behörden überließ. Das Grundprinzip dieses Gesetzes 
war die Wiedervergeltung (talio). Die für den Raub und den Dieb¬ 
stahl bestimmten Strafen waren sehr mild, da nur Geldstrafen am 
gedroht waren. 

III. Die erste und wichtigste Quelle des alten russischen Rechts 
war: die Pyccnaia Ilpau^a des Großfürsten Jaroslaw des Großen (1019 
bis 1054). Sie war ursprünglich das Stadtrecht von Nowgorod und 
wurde erst später ein ProvinzialrechU) 

Die Pyccnaia Ilpat^a enthielt ein systematisches Strafgesetzbuch. 
Ihr Grundgedanke war die Komposition. So sehen wir, daß das 
Gesetz auf die meisten Verbrechen erst eine Geldstrafe bestimmt 

1) Dieses Gesetzbuch war durch Tatyscew in der Handschrift der „New- 
gorodschen Jahrbücher“ im Jahre 1783 entdeckt worden. Es war — zum ersten 
Mal — durch Schlötzer in Petersburg abgedruckt worden. Weitere Ausgaben 
sind von Kieschtenin, Karamsin etc. 


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Orientalische Strafrechtsstudien. 


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hatte. Nach dieser Prawda wurde eine Geldstrafe für die Tötung 
oder eine einfache oder doppelte Wire bezahlt, wenn sich niemand 
fand, der Blutrache übernehmen durfte. 

Wer Gewalt mit Gewalt abwehrte, auch wenn er tötete, wurde 
nicht mit dem Tode bestraft; aber wer tötete, ohne angegriffen zu 
sein, beging eine Tötung. 

Auch die Gemeinde bezahlte eine Geldstrafe für eine in ihrem 
Bezirke verübte Tötung. Es hieß das Gesetz dzika wire und konnte 
die Strafe auch in Baten bezahlt werden, um sie der Gemeinde zu 
erleichtern. Es bezahlte diese Strafe entweder die Gemeinde allein, 
oder mit dem Verbrecher zusammen, wenn dieser nach Begehung 
der Tötung sich wirklich am Orte befand und aus Armut die Kopf¬ 
strafe nicht bezahlen konnte. Gleichwohl mußte derjenige, welcher 
eine Geldstrafe bezahlen wollte, beweisen, daß er nicht absichtlich die 
Tötung ausgeführt habe, im Streit oder in der Trunkenheit. Die 
Gemeinde sollte, wenn sie wußte, daß der Verbrecher nicht bei 
Sinnen sei, ihn vom Verbrechen abhalten, und wenn sie dies nicht 
tat, so bezahlte sie mit ihm zusammen die Geldstrafe. Diese Rechts¬ 
wohltat hatte der Brandstifter von Scheunen und der Mörder nicht; 
dem ersten nahm man das Vermögen, und wenn man daraus den 
Schadenersatz geleistet hatte, so gab man das übrige dem fürstlichen 
Schatz, der Verbrecher selbst aber wurde zur Leibeigenschaft ver¬ 
urteilt; der zweite wurde mit Frau und Kindern dem Großfürsten als 
Leibeigener übergeben. 

Jemandem an dem Barte zu zupfen, wurde mit zwölf Marken 
gestraft, besonders dann, wenn sich eine Spur am Körper zeigte, und 
man Zeugen dafür hatte. 

Das Gesetz verordnete, daß man einen auf der Tat ergriffenen 
Dieb, welcher sich nicht verteidigt, bei einer Strafe von zwölf Marken, 
nicht töten dürfe, sondern ihn binden und an den fürstlichen Hof 
einbringen solle. Wenn ein freigeborener Mensch einen Diebstahl 
beging, so wurde er dem Großfürsten zur Bestrafung eingeliefert; ein 
Zakup, welcher einen Diebstahl verübte, trat in den Stand der 
Sklaven über und für einen Sklaven sollte sein Herr entweder be¬ 
zahlen, oder ihn demjenigen ausliefern, den er bestohlen hat, jedoch 
nur ihn selbst, nicht mit Frau und Kindern, außer wenn sie auch an 
dem Vergehen teilgenommen hatten. 

Die Gemeinde haftete für den Dieb und mußte den Diebstahl 
ersetzen, wenn der Bestohlene die Spuren des Diebes bis in das Dorf 
verfolgte, ausgenommen, wenn die Spuren an einen öden Ort oder in ein 
Wirtshaus führten, dann war die Gemeinde von dem Schadenersätze frei. 


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XIV. Ladislaus v. Thöt 


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Wer einen geflüchteten Sklaven, der sich gleichsam selbst auf 
diese Weise dem Herrn gestohlen hatte, festnahm, erhielt den fünften 
Teil seines Wertes znr Belohnung. 

Die Dpan^a PyccKaia zählt auf, wie viel für jede Sache gezahlt 
werden sollte. Insbesondere erwähnt das Gesetz: Hornvieh, Kleinvieh, 
Getreide, und bestimmt besondere Strafen für dieses alles im Belauf 
von */2 bis 12 Marken; ebenso viel befiehlt es auch dem Großfürsten 
als Strafe zu bezahlen. Hiervon war eine Ausnahme in betreff des 
Diebes, welcher Pferde und besonders fürstliche Pferde stahl: ein 
solcher kam dafür in die Leibeigenschaft des Großfürsten. 

Zu den Schäden zählte die IlpaB^a PyccKaia teils das Heu, Holz, 
Herden, teils erwähnt sie noch die Haustiere und wilden Tiere, welche 
zur Jagd oder zur Wirtschaft tauglich sind, teils erwähnt sie die 
Werkzeuge zur Fischerei, zum Vogelfang und Ackerbau, und befiehlt 
eine Strafe wegen ihrer Beschädigung, dem Großfürsten und dem 
Beschädigten zu zahlen. Eine besonders hohe Geldstrafe verordnet 
sie für die Tötung oder Verwundung eines Pferdes, wie auch für 
den Fang eines Bibers. Die Gemeinde zahlte auch eine Strafe gerade 
wie für die Tötung usw., wenn es sich zeigte, daß eines ihrer Mit¬ 
glieder den Schaden zugefügt hatte. 

IV. Der Sohn Jaroslaws, Isiaslaw, hat auch einige strafrecht¬ 
liche Bestimmungen erlassen. 

Weitere Hauptquellen des alten russischen Rechts waren: das 
rigaische Gesetz (1228), die strafrechtliche Verordnung des Gro߬ 
fürsten Wassili j 11.(1389—1424), die „y.i 03 Kenie aaKOHOBi“ Ivans III., 
die Strafgesetze von Ivan dem „Schrecklichen“ (1534—1584). 

V. Dies war der Zustand der russischen Strafgesetzgebung bis 
zur Regierung des Zaren Alexitsch Michailowitsch (1645 bis 
1676), der im dritten Jahr seiner Regierung (1647) eine neue Gesetz¬ 
gebung unter dem Titel „coßopHa B.iociem>a“ erlassen hat 

Dieses Gesetz enthielt sehr viele strafrechtliche Bestimmungen. 
Die Hauptbestimmungen beziehen sich auf die Gotteslästerung, 
Kirchenstörung, die Majestätsbeleidigung, die Unordnungen, die 
Fälschung, den Straßenraub, den Diebstahl und den Totschlag. 

a) Gotteslästerung und Kirchenstörung. 

Wer Gott und seinen Sohn oder dessen Mutter, oder das Kreuz, 
oder „die heiligen Lieblinge Gottes“ lästerte, sollte durch alle Mittel 
aufs schärfste untersucht, und wenn er für schuldig erklärt worden 
ist, am Leben gestraft und verbrannt werden. 


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Orientalische Strafrechtsstadien. 


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Wenn ein „unordentlicher“ Mensch zur Zeit, in welcher die Messe 
gesungen wird, in die Kirche kam, und verhinderte, daß die Messe 
vollführt werden könnte, so sollte er in Gewahrsam genommen, die 
Sache untersucht und „ohne alle Gnade“ am Leben gestraft werden. 

Sollte jemand während der Messe oder eines anderen Kirchen¬ 
gesanges in die Kirche kommen und dem Patriarchen, Metropoliten, 
Erzbischöfe, Bischöfe, Archimandriten, Prioren oder einem anderen 
Geistlichen eine Unanständigkeit sagen, wodurch der Kirchengesang 
gestört wurde, so sollte ein solcher „unartiger Mensch“ davor öffent¬ 
lich auf dem Markte mit der Knute geschlagen werden. 

Wenn jemand in die Kirche kam und einen andern erschlug 
oder ermordete, so sollte er am Leben gestraft werden. 

Verwundete er ihn nur und schlug ihn nicht tot, so sollte er 
öffentlich auf dem Markte „ohne Barmherzigkeit“ mit der Knute ge¬ 
straft und auf einen Monat ins Gefängnis geworfen werden. Ferner 
sollte er gehalten sein, dem Verwundeten für seine Wunden ein 
doppeltes Sühnegeld zu bezahlen. 

Wenn ein solcher „unartiger Mensch“ jemanden in der Kirche 
schlug, aber nicht verwundete, so sollte er dafür mit taTorra ge¬ 
züchtigt werden und dem Beleidigten das gewöhnliche Sühnegeld 
bezahlen. 

Wenn aber einer in der Kirche jemanden mit Worten schimpfte, 
und nicht schlug, so sollte er auf einen Monat ins Gefängnis gesetzt 
werden und dem Beleidigten die gesetzlichen Sühnegelder erlegen, 
„damit andere sich daran spiegeln, und keine Unordnung in der 
Kirche anfangen mögen“ *). 

ln der Kirche, und wenn die Kirchengesänge gesungen werden, 
„soll niemand den Zar oder einen großen Herrn wegen einer Privat¬ 
angelegenheit treten und bitten, damit dadurch der Kirchengesang in 
der Kirche nicht gestört werde“ 2 ). 

Sollte aber jemand der Furcht Gottes vergessen, und den Zaren 
oder den Patriarchen, oder auch einen anderen Prälaten in der Kirche 
während des Gottesdienstes in einer Privatsache ansprechen, so sollte 
ein solcher Mensch, solange als es der Zar befiehlt, ins Gefängnis 
gelegt werden 3 ). 


ß) Die Majestätsbeleidigung. 

Erst der Zar Alexitsch Michailowitsch unterschied die Majestäts¬ 
beleidigungen von den gewöhnlichen Verbrechen und setzte besondere 


1) Art. 7, Kap. I. 2) Art. 8. 3) Art. 9. 

Archiv für Kriminalanthropologie. 84. Bd. 19 


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Strafen darauf. Das Recht bezeichnete im allgemeinen die Majestäts¬ 
beleidigung durch r V&‘H> (Tat) und durch C.iobo (Wort), ersteres, 
wenn man dem Monarchen nach dem Leben strebte, ihn in dem 
Hofe des Herrschers erschlug oder verwundete, letzteres, wenn man 
ihn mit Worten schmähte usw. 

Wenn jemand gegen das Leben und die Gesundheit des Zaren 
schlimme Anschläge gemacht hatte und solches von einem anderen 
angezeigt, auch bei der Untersuchung wirklich befunden war, daß er 
gegen den Zar böses im Sinne gehabt, so sollte er nach Untersuchung 
der Sache am Leben gestraft werden 1 ). 

Wenn jemand bei der Regierung des Zaren des Moskowitischen 
Reichs sich bemächtigen, und selbst dessen Herr werden wollte, und 
zu diesem Zweck Truppen warb, oder auch, wenn jemand sich mit 
den Feinden des Zaren zusammentat, einen verbotenen Umgang mit 
ihnen fortsetzte, und ihnen mit Rat und Tat an die Hand ging, 
damit die Feinde des Zaren dadurch in den Stand gesetzt werden 
möchten, sich des Moskowitischen Reiches zu bemächtigen, oder diesem 
Schaden zu tun, er aber darüber durch jemanden verständigt und der 
Verrat wirklich bei der Untersuchung dargetan wurde, so sollte der 
Verräter am Leben gestraft werden 2 ). 

Wenn jemand eine Stadt verräterischerweise dem Feinde des 
Zaren übergab, oder auch fremde Truppen aus anderen Ländern 
verräterischerweise in die Stadt des Zaren einließ, sollte er ebenso 
am Leben gestraft werden 3 ). 

Wenn jemand mit Vorsatz oder aus Verräterei eine Stadt oder 
ein Haus anzündete, und darüber entweder gleich auf frischer Tat 
oder auch nachher ergriffen und sein Verbrechen klar erwiesen wurde, 
so sollte er ohne alle Barmherzigkeit verbrannt werden 4 ). Die Lehn- 
und Erbgüter, wie auch die übrigen Güter des Verräters sollten zu¬ 
gunsten des Herrschers konfisziert werden 5 ). Wenn auch Weiber 
und Kinder des Verräters um den Verrat gewußt hatten, sollten sie 
gleichfalls am Leben gestraft werden 6 ). 

Wenn aber eine Frau um ihres Mannes, oder die Kinder um 
ihres Vaters Verräterei nichts gewußt, so sollen sie weder am Leben, 
noch am Leibe gestraft, sondern ihnen vielmehr aus den konfiszierten 
Lehn- und Erbgütern ein Gewisses zu ihrem Unterhalt, nach der 
Gnade des Zaren, zurückgegeben werden 7 ). 

Sollte auch ein Verräter Kinder haben, welche vorher schon, ehe 
er noch untreu geworden, in ihren besonderen Häusern gelebt, und 

1) Art. 1, Kap. II. 2) Art. 2. 3) Art. 3. 

4) Art. 4. 5) Art. 5. 6) Art. 6. 7) Art. 7. 


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Orientalische Strafrechtsstudien. 


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von der Verräterei keine Kenntnis gehabt, auch ihre Habe und Erb¬ 
güter für sich besonders besessen hatten, so sollten ihnen selbige nicht 
genommen werden ! ). 

Wenn ein solcher Verräter in dem Moskowitischen Reiche noch 
einen Vater, Mutter, leibliche oder Stiefbrüder, Vettern oder andere 
Verwandte am Leben hatte, mit welchen er zusammen und bei un¬ 
geteilten Gütern gelebt hat, so sollte man mit allen Mitteln aufs 
schärfste untersuchen, ob sein Vater, Mutter oder Verwandte um 
solche Verräterei gewußt haben. Findet sich dann, daß sie davon 
gewußt haben, so sollen auch diese am Leben gestraft und ihre 
Lehn- und Erbgüter und andere Habe konfisziert werden 2 ). Findet 
sich aber bei der Untersuchung, daß sie von der Verräterei keine 
Kenntnis gehabt hatten, so sollten sie weder am Leben gestraft, noch 
auch ihrer Lehn-, Erb- und anderer Güter beraubt werden 3 ). 

Wenn ein Verräter, nachdem er sich in einem anderen Reiche 
aufgehalten, in das Moskowitische zurückkam, und vom Zar Ver¬ 
zeihung seines Verbrechens erhielt, so mußte er sich neue Lehngüter 
zu verdienen suchen, und stand es zwar im Belieben des Zaren, 
was er ihm von seinen Erbgütern wieder zuwenden will, die vorigen 
Lehngüter aber sollten ihm nicht wiedergegeben werden 4 ). 

Wenn jemand einen andern wegen eines großen Verbrechens 
gegen den Zaren angeklagt hatte, hierüber aber keine Zeugen stellen 
oder es ihm sonst beweisen konnte, also kein Mittel vorhanden war, 
um hinter die Sache zu kommen, so sollte nach Befinden verfahren 
werden, wie es der Zar befahl 5 ). 

Wofern aber Knechte oder Bauern ihre Herren einer gegen das 
Leben des Zaren angestellten oder sonst vorhebenden Verräterei an¬ 
klagten und keinen Beweis aufbringen konnten, so sollte solcher 
Anklage nicht geglaubt werden. Vielmehr sollte man sie scharf mit 
der Knute strafen, und denen, deren Diener oder Bauern sie sind, 
ausliefern, ja auch in anderen geringeren Sachen sollte dergleichen 
Anklägern kein Glaube beigemessen werden 6 ). 

Wenn jemand einen Verräter unterwegs einholt und erschlägt, 
oder gefangen zum Zaren bringt, so soll der Verräter — so sagt das 
Gesetz — am Leben gestraft werden; derjenige aber, der ihn einge¬ 
bracht, oder erschlagen hat, soll aus dessen Gütern ein Geschenk 
erhalten '•). 

Wenn jemand im Moskowitischen Reiche unter einigen Leuten 
ein Murren, oder von einer Verschwörung, oder einem schlimmen 

1) Art. 8. 2) Art 9. 3) Art. 10. 4) Art. 11. 5) Art. 12. 

6) Art. 13. 7) Art. 15. 

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XIV. Ladislaus v. Thöt 


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Anschlag gegen den Zar hörte, so sollte er es dem Zar oder dessen 
Bojaren und nächsten Bediensteten, und in den Städten den Woje- 
woden melden 4 ). 

Wenn aber jemand ein solches Murren, von einer Verschwörung 
oder einem andern schlimmen Anschlag gegen den Zar unter einigen 
Leuten hörte, und es nicht meldete, sollte am Leben gestraft werden 2 ). 

y) Unordnungen. 

Wenn jemand in Gegenwart des Zaren oder an dessen Hof einen 
andern mit Worten beschimpfte, und der Beleidigte deshalb klagte, 
so sollte der Verbrecher für die Verletzung der dem zarischen Hofe 
gebührenden Ehrfurcht zwei Wochen lang im Gefängnis sitzen und 
obendrein dem Beleidigten die gewöhnlichen Schimpfgelder bezahlen 3 ). 

Wenn jemand im zarischen Hofe einen andern angriff und mit 
der Hand schlug, so sollte man ihn auf der Stelle in Haft nehmen, 
und ohne ihn daraus zu entlassen, die Sache untersuchen. Wenn 
sie dann also befunden wurde, so sollte man den Täter wegen der 
Verletzung der Ehre des zarischen Hofes einen Monat lang ins Ge¬ 
fängnis setzen und anhalten, dem Geschlagenen die gesetzlichen 
Schimpfgelder zu bezahlen. Hätte er ihn aber bis aufs Blut geschlagen, 
so sollte er ihm die Schimpfgelder doppelt zahlen, und für die Be¬ 
leidigung der dem zarischen Hofe schuldigen Ehrfurcht sechs Wochen 
lang im Gefängnis sitzen 4 ). 

Wenn jemand in Gegenwart des Zaren auf einen andern den 
Säbel oder ein anderes Gewehr zog und ihn gleich niedermachte, 
oder auch so verwundete, daß er daran sterben mußte,'-so sollte der 
Mörder dafür am Leben gestraft und aus seinen Gütern des Ermordeten 
Schulden bezahlt werden. Wenn aber der Verwundete auch davon 
nicht gleich starb, so sollte dennoch der Täter mit Todesstrafe belegt 
werden 5 ). 

Wer in Gegenwart des Zaren eine Waffe gegen jemand zog, 
dem sollte die Hand abgehauen werden, wenngleich er auch niemandem 
getötet oder verwundet hatte 6 ) 

Wenn jemand im zarischen Hofe und nicht in Gegenwart des 
Zaren die Waffe gegen einen andern zog, ihn aber nicht verwundete, 
so ist er mit Gefängnis von drei Monaten zu strafen. Verwundete 
er ihn aber, so sollte er dem Verwundeten die Schimpfgelder nach 
seinem Gehalt doppelt bezahlen. Sodann sollte man Kaution 
von ihm nehmen, daß er aus demselben Orte, wo die Tat 

1) Art. 18. 2) Art 19. 3) Art. 1, Kap. III. 4) Art. 2. 

5) Art. 3. 6) Art. 4. 


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Orientalische Strafrechtsstudien. 


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geschah, ohne Erlaubnis nicht wegreisen wolle, bis der 
Verwundete entweder geheilt ist, oder stirbt. Wird er ge¬ 
heilt, so sollte dem Täter die Hand abgebauen werden; starb er 
aber von der Wunde, so sollte der Mörder mit dem Tode gestraft 
werden ■). 

Wenn jemand im Hofe des Zaren etwas stahl, und solches er¬ 
wiesen wurde, so sollte er beim ersten Mal mit der Knute gestraft 
werden. Beim zweiten Mal sollte er außer der Knute noch mit Ge¬ 
fängnis von sechs Monaten gestraft werden. Wurde derselbe Dieb 
noch zum dritten Mal beim Diebstahl ertappt, so wurde ihm dafür 
die Hand abgehauen 2 ). 

d) Die Fälschung. 

Wenn jemand auf betrügerische Weise einen Brief, als ob diesen 
der Zar geschrieben hätte, oder wer in einem echten Briefe des 
Zaren, oder auch in anderen Kanzleischriften eigenmächtig ohne des 
Zaren Befehl und ohne den Entschluß seiner Bojaren etwas änderte, 
oder die Handschrift der Räte, Kanzleibediensteten und Schreiber 
nachahmte, so sollte er nach Untersuchung am Leben gestraft werden 3 ). 

Ebenso wird gestraft, wer das Siegel des Zaren verfälscht hat 4 ). 

Wenn ein Münzmeister kupferne, zinnerne oder stählerne Münzen 
machte, oder das Silber mit Kupfer, Zinn oder Blei vermischte und 
dadurch dem Schatz des Zaren Schaden geschah, so sollte er am 
Leben gestraft und ihm der Hals zugegossen werden 5 ). 

Wenn ein Gold- oder Silberschmied Silber oder Gold verarbeitete, 
und solches mit Kupfer, Zinn oder Blei vermischte, so sollte er mit 
der Knute gestraft werden und dem Eigentümer den Schaden, welchen 
er ihm durch Verfälschung dieser Metalle verursachte, wieder er¬ 
setzen 6 ). 

e) Straßenraub und Diebstahl. 

Straßenraub, Mord und Einbruch in dem Moskowitischen Bezirk 
und in den übrigen Städten, Posaden und Distrikten gehören vor die 
Mörderkanzlei 7 ). 

Heimlicher Diebstahl und Totschlag in Moskwa gehörten nicht 
vor die Mörderkanzlei, sondern vor das Landesgericht 8 ). 

War ein Dieb eines Diebstahls überführt, so sollte man ihn 
foltern, ob er nicht auch Mordtaten und andern Diebstahl mehr be- 

1) Art. 5. 2) Art. 9. 

3) Art. 1, Kap, IV. 4) Art. 2. 5) Art 1, Kap. V 0) Art. 2. 

7) Art. 1, Kap. XXL S) Art. 2. 


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gangen habe. Gestand er nun auf der Folter nichts mehreres, so 
sollte er für den ersten Diebstahl mit der Knute gestraft, ihm das 
linke Ohr abgeschnitten, aus seinem Vermögen seines Klägers Forde¬ 
rung bezahlt und er auf zwei Jahre ins Gefängnis gesetzt werden, 
wo er alle Arbeit, welche ihm der Zar befahl, in Fesseln zu ver¬ 
richten hat. Wenn er sich nun losgesessen hatte, so sollte er in eine 
Stadt in der Ukraina geschickt, und zu einem Dienste, wozu er 
tüchtig sein möchte, gebraucht, ihm auch eine Schrift unter des Diaken 
Hand gegeben werden, „daß er vor seine Schelmerei seine Jahre im 
Gefängnis ausgehalten hat, und nun freigelassen war“ ')• 

War er aber zum zweiten Mal auf dem Diebstahl ertappt, so 
sollte er gleichfalls gefoltert werden, ob er keinen Diebstahl mehr 
begangen, oder auch jemanden ermordet habe. Bekannte er nun 
nichts dergleichen mehr, so sollte man ihn nochmals mit der Knute 
strafen, ihm das rechte Ohr abschneiden, und auf vier Jahre Ge¬ 
fängnis verurteilen 2 ). 

Gaudiebe sollten ebenso wie andere Diebe für den ersten Dieb¬ 
stahl gestraft werden 3 ). 

Wenn aber ein Dieb eingebracht, und dreier, vier oder mehr 
Diebstähle überführt wurde, so sollte er, wenngleich er auch keinen 
Mord begangen, am Leben gestraft und seine Güter seinen Anklägern 
zur Bezahlung ihres Schadens gegeben werden 4 ). 

Wenn er aber auch nur bei dem ersten Diebstahl einen Mord 
begangen hat, so sollte er am Leben gestraft werden 5 ). 

Die Straßenräuber sollten im allgemeinen mit dem Tode gestraft 
werden. Wenn einige Personen einen solchen Dieb irgendwo sahen 
und sich seiner nicht bemächtigten, da sie es doch wohl tun konnten, 
und solches bewiesen wurde, so sollten sie jeder 50 Kopeken zur 
Strafe geben 6 ). 

Kirchendiebe sollten „ohne alle Gnade“ am Leben gestraft und 
ihre Güter zur Ersetzung des der Kirche verursachten Schadens ver¬ 
wendet werden'). 

Wenn ein Straßenräuber eingebracht wurde, so sollte er gefoltert 
werden. Blieb er nun bei der Folter dabei, daß dies sein erster 
Straßenraub sei, er auch sonst keinen Mord begangen habe, so sollte 
ihm das rechte Ohr abgeschnitten, seine Güter den Klägern für ihren 
Schaden gegeben, und er drei Jahre im Gefängnis zu sitzen, und 
inzwischen in Fesseln allerlei Fronarbeit zu tun, verurteilt werdeD. 
Nach diesem Zeitraum sollte er in eine der Städte der Ukraina, wohin 

1) Art. 9. 2) Art. 10. 3) Art. 11. 

4) Art. 12. 5) Art. 13. 6) Art. 15. 7) Art. 14. 


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Orientalische Strafrechtsstudien. 


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der Zar befahl, geschickt, daselbst zu einem Dienste, wozu er sich 
schickt, gebraucht, und ihm unter des Diaken Hand eine Schrift ge¬ 
geben werden, daß er für sein Verbrechen seine Jahre im Gefängnis 
ausgehalten habe und nun freigelassen sei!). 

Wurde er nun zum zweiten Mal auf Straßenraub ergriffen, sollte 
er gleichfalls gefoltert werden, ob er sonst nicht mehr verbrochen. 
Wenn er nun auch gleich nichts mehr einbekannte, so sollte er den¬ 
noch am Leben gestraft und seine Güter seinen Anklägern zur Be¬ 
zahlung angegeben werden l) 2 ). 

Wenn jemand Straßenräuber bei sich verhehlte und nicht zu den 
Wojwoden, Kanzleibedienten oder Gerichtsvogten brachte, so sollte er 
zehn Rubel zur Strafe, andern zur Warnung, an den Zar erlegen 3 ). 

Wenn einige Straßenräuber auf frischer Tat oder in ihren Quar¬ 
tieren gefangen wurden, und sich auf der Folter vieler Straßenraub¬ 
taten, Morde und Mordbrennereien für schuldig erklärten, ihre Mittäter 
aber noch nicht eingebracht wurden, so sollten sie ein halbes Jahr 
im Gefängnis gehalten werden. Wurden nun ihre Mittäter während 
dieser Zeit nicht gefunden, so sollten sie hernach ohne weiteren 
Verzug am Leben gestraft werden. „Denn länger — so sagt das 
Gesetz — als ein halbes Jahr soll man diese Schelmen nicht im 
Gefängnis lassen, damit sie während der so langen Zeit nicht Ge¬ 
legenheit finden, durchzugehen, und in solcher Absicht Unschuldige 
fälschlich angeben“ 4 ). 

Die Güter der Straßenräuber und Mörder sollten eingeschätzt und 
den Klägern zur Bezahlung angegeben werden 5 ). 

l) Totschlag und Körperverletzung. 

Wenn ein Sohn oder eine Tochter ihren Vater oder Mutter tot¬ 
schlug, so sollten sie dafür am Leben gestraft werden 6 ). 

Wenn ein Sohn oder eine Tochter mit anderer Beihilfe Vater¬ 
oder Muttermord beging, so sollten auch diejenigen, welche ihnen 
geholfen, „ohne alle Gnade“ am Leben gestraft werden 7 ). 

Wenn ein Vater oder eine Mutter ihren Sohn oder ihre Tochter 
totschlug, so sollten sie dafür ein Jahr im Gefängnis sitzen, und 
nach dessen Verlauf in die Kirche kommen und ihre Sünde öffentlich, 
daß es jedermann hörte, bekennen; aber am Leben sollen sie nicht 
gestraft werden 8 ). 

Wenn ein Sohn oder eine Tochter das Christentum vergessen, 
und ihren Vater oder Mutter grob anfuhren, oder gar mit der Hand 

1) Art. 16. 2) Art. 17. 3) Art. 20. 4) Art. 21. 5) Art. 22. 

6) Art. 1, Kap. XXII. 7) Art. 2. 8) Art. 3. 


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XIV. Ladislaus v. Thöt 


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schlugen, und ihre Eltern darüber klagten, so sollten sie mit der 
Knute geschlagen werden 1 ). 

Wenn ein Sohn oder eine Tochter ihrem Vater oder Mutter ihr 
Gut mit Gewalt abnabmen, und mit Hintansetzung der schuldigen 
Ehrfurcht sie von sich jagten und einiger Verbrechen beschuldigen 
wollten, oder wenn ein Kind seine Eltern in ihrem Alter nicht er¬ 
nährte, und ihnen das Nötige nicht darreichte, und die Eltern deshalb 
klagten, so sollte das Kind ohne Barmherzigkeit mit der Knute ge¬ 
schlagen werden 2 ). 

Wenn ein Kind seine Eltern gerichtlich belangte, so sollte es nicht 
gehört, sondern mit der Knute gestraft und seinen Eltern abgeliefert 
werden 3 ). 

Wenn jemand einen Bruder oder eine Schwester totschlug, oder 
durch einen andern totschlagen ließ, so sollte, wenn die Sache er¬ 
wiesen wurde, der Täter und sein Anstifter am Leben gestraft werden 4 ). 

Wenn ein Knecht seinen Herrn totschlagen wollte und in solcher 
Absicht eine Waffe gegen ihn zog, so sollte ihm die Hand abgehauen 
werden 5 ). Tötete er ihn aber, so sollte er selbst ohne alle Barmherzig¬ 
keit sterben 6 ). 

Wenn jemand einen andern an seinem Leibe schändete, eine 
Hand, Fuß, Nasen, Ohren oder Lippen abschnitt, oder ein Auge aus¬ 
stieß, und die Sache erwiesen wurde, so sollte ihm ebendasselbe 
widerfahren, was er dem andern getan, und aus seinen Erbgütern 
und Habe sollte für jedes verstümmelte Glied des Leibes 50 Rubel 
genommen und dem Beleidigten gegeben werden 7 ). 

Wenn ein solcher Schänder einen andern ins Haus lockte oder 
mit Gewalt hineinzog, und mit Prügeln, Knute oder Batoggen schlug, 
und die Sache gerichtlich erwiesen wurde, so sollte er mit der Knute 
auf dem Markte geschlagen, auf einen Monat ins Gefängnis gesetzt, 
und angebalten werden, dem Geschlagenen die für Schimpf und 
Lähmung bestimmten Gelder doppelt zu bezahlen 8 ). 

Tat aber solches der Knecht eines Herrn, so sollte er auf der 
Folter befragt werden, wer ihm solches befohlen habe. Sagte er nun, 
daß er es auf seines Herrn oder eines andern Befehl getan, so sollten 
beide, der Anstifter und der Täter, auf dem Markte mit der Knute 
geschlagen, und auf einen Monat ins Gefängnis geworfen werden. 
Der Herr aber, oder wer es ihm sonst befahl, sollte dem Geschlagenen 
seinen Schimpf doppelt bezahlen. Falls aber der Knecht anerkannte, 


1) Art. 4. 2) Art. 5. 3) Art 6. 4) Art. 7. 5) Art. 8. 

6) Art. {». 7) Art. 10. 8) Art. 11. 


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daß er es von sich getan, ohne dazu angestiftet zu sein, so sollte er 
nach ausgestandener Folter am Leben gestraft werden i ). 

Wenn jemand Verwirrung unter den Leuten anrichtete und gegen 
verschiedene Personen allerhand frevelhafte Beschuldigungen anbrachte, 
so sollte er am Leben gestraft werden 2 ). 

Wenn ein Weib ihren Mann tötete oder mit Gift vergab, so sollte 
es ohne alle Gnade lebendig in die Erde gegraben werden, und wenn 
auch gleich des Ermordeten Kinder oder nahe Verwandte ihre Be¬ 
strafung nicht begehrten, so sollte man ihr dennoch keine Gnade 
widerfahren lassen, sondern sie solange in der Erde halten, bis sie 
stirbt 3 ). 

Wenn ein Weib, so zum Tode verurteilt ist, schwanger war, 
so sollte sie nicht eher, als nachdem sie geboren bat, hingerichtet, bis 
dahin aber im Gefängnis oder unter scharfer Wache gehalten werden, 
damit sie nicht die Flucht ergreife 4 ). 

Wenn jemand in eines andern Haus kam, um der Hausfrau 
etwas Übles zuzufügen, oder sie entführen wollte, ihre Bediensteten 
aber sie dagegen nicht schützten, sondern vielmehr dem, der also in 
das Haus kam, Hilfe leisteten, und die Sache hernach erwiesen wurde, 
so sollte sowohl derjenige, der in das Haus kam, als auch die Diener, 
so ihm geholfen, am Leben gestraft werden 5 ). 

Wenn jemand Ruhmes wegen oder betrunken, oder auch absichtlich 
auf einem Pferde auf eines andern Frau ansprengte, sie niederwarf, 
und trat, und sie so beschimpfte und lähmte, oder auch, falls sie 
schwanger war, verursachte, daß die Frucht von ihr abging, so sollte 
er, wenn anders die Frau am Leben blieb, ohne Barmherzigkeit mit 
der Knute gestraft und drei Monate lang ins Gefängnis geworfen, 
auch angehalten werden, der Frau ihren Schimpf und Lähmung 
doppelt zu bezahlen ö ). 

War es aber nicht mit Vorsatz geschehen, sondern das Pferd 
hätte sich vor etwas gescheut, den Zaum zerrissen und sich nicht 
halten lassen, so sollte es nicht für einen Totschlag gehalten werden, 
dem Täter auch deswegen keine Strafe widerfahren 7 ). 

Wenn jemand auf eines andern Anstiften einen Totschlag beging, 
so sollte der Täter sowohl als der Anstifter am Leben gestraft werden 8 ). 

Wenn ein Mohammedaner einen Russen mit Gewalt, durch Be¬ 
trug oder auf andere Weise zu seinem Glauben brachte und beschnitt, 
so sollte der Mohammedaner ohne alle Gnade verbrannt werden 9 ). 

1) Art. 12. 2) Art. 18. 3) Art. 14. 4) Art. 15. 5) Art. 16. 

6) Art. 17. 7) Art. 18. 8) Art. 19. 9) Art. 24. 


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Wenn ein Mann oder ein Weib Weiber oder Mädchen ver¬ 
kuppelte, so sollten sie mit der Knute aufs schärfste gestraft werden l )- 

Wenn ein Weib in Hurerei lebte, und ein Hurenkind bekam, 
dieses aber selbst ermordete, oder durch jemanden anders erwürgen 
ließ, so sollte sie und der auf ihren Befehl das Kind erwürgte, ohne 
alle Gnade und Barmherzigkeit am Leben gestraft werden 2 ). 

II. 

Das serbische Strafrecht. 

1. Die Literatur. 

Die serbische Strafrechtsliteratur gelangte erst in den letzten 
Zeiten zu einer größeren Entwickelung. Das auch heute geltende 
und nach dem Muster des preußischen Strafgesetzbuches vom Jahre 
1851 hergestellte und im Jahre 1860 verlautbarte Strafgesetz pro¬ 
duzierte in den ersten Jahrzehnten seines Bestehens nur wenige Lite¬ 
ratur. Das Gesetz wurde zuerst durch das aus acht Heften be¬ 
stehende Werk: Die Interpretation des Strafgesetzes des serbischen 
Fürstentums, von Zenitsch (Belgrad, 1865—1866) erklärt. Später, 
in den siebziger Jahren wurde maßgebend die von Eadowanowitscb 
verfaßte serbische Übersetzung des Bernerschen Lehrbuchs. Im Laufe 
der späteren Zeiten waren schon mehrere selbständige Werke er¬ 
schienen. Solche sind von Wesnitsch: 

1. „Der zweite kriminal-anthropologische Kongreß“; 

2. „Die Untreue“; 

3. „Aberglaube und Verbrechen“; 

4. „Der vierte Kongreß der internationalen kriminalistischen 
Vereinigung“. 

Weiter von Milkowitscb: 

„Weiße Sklaven“, kriminalsoziologische Studie und 

„Der gefahrlose Versuch“. 

Außerdem ist noch der ausgezeichnete Kommentar von Petro- 
witsch zu erwähnen. Dieses Werk ist aber unvollendet; es be¬ 
handelt die ersten 15 Paragraphen des serbischen Strafgesetzbuches 
auf mehr als 300 Seiten. Endlich erwähnen wir, daß das Lisztsche- 
Lehrbuch auch in serbischer Übersetzung (von Wesnitsch, Mar¬ 
kowitsch und Regneritsch) erschienen ist. 

Alle diese erwähnten Werke haben die Ansprüche der theoretischen 
und praktischen serbischen Juristen nicht befriedigt, da sie einerseits 
nur Kommentare (Zenitsch, Petkowitsch) waren, anderseits 

1) Art. 25. 2) Art. 26. 


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die ganze Materie nicht erschöpften; die übersetzten Werke aber 
(Berner, Bar) bezogen sich auf fremde Rechtsmaterien; endlich 
behandelten die anderen Werke (Monographien) nur einzelne Detail* 
fragen. 

Unter solchen Umständen hatte in der Tat A wakumowitsch, 
ehemaliger Rechtsprofessor und der größte serbische Kriminalist, ein 
brennendes Bedürfnis befriedigt, als er sein monumentales Werk 
unter dem Titel: „Theorie des Strafrechts“ in zehn Heften er¬ 
scheinen ließ. 

Dieses vorzügliche Werk behandelt auf mehr als 1600 Seiten 
die folgenden Materien: „Die Lehre der Zurechnungsfähigkeit“, „Die 
Selbstverteidigung“, „Die Bestandteile der strafbaren Handlung“, „Der 
Versuch". „Die Teilnahme“, „Die Verbrechenskonkurrenz“, „Das 
fortgesetzte Verbrechen“, „Der Rückfall“, endlich die Geschichte, die 
internationalen Verhältnisse des Strafrechts und die verschiedenen 
Geltungen des Strafgesetzes. 

Es wäre sehr schwer, von diesem klassischen Werke ein ganz 
getreues Bild zu geben; es scheint uns, daß der ausgezeichnete Ver¬ 
fasser ein Anhänger der klassischen Schule ist; er formuliert aber 
deren Dogmen überall selbständig. Er berücksichtigt auch einzelne 
ältere Schriftsteller, wie Oppenhoff, Berner, Feuerbach, Luden, Köstlin, 
Ortolan, Hölie, Rossi usw. 

2. Geschichtlicher Rückblick. 

Von der älteren serbischen Strafgesetzgebung haben wir nur ein 
Monument: das berühmteste Gesetzbuch des Zaren Duschan. 
Dieses Gesetz, welches man aus der Zeit von 1349—1354 datiert, 
verdient die Aufmerksamkeit der fremden Kriminalisten im hohen 
Maße. Es ist ein treuer Spiegel der älteren serbischen Rechtsauf¬ 
fassung und enthält sehr viele und interessante Bestimmungen. 

Das Gesetz bedroht zuerst die Geschworenen, welche einen Ver¬ 
brecher ungerecht freigesprochen hatten. Die Strafe war eine schwere 
Geldstrafe und der Ehrenverlust; außerdem darf keiner mit einem 
solchen Geschworenen in Verwandtschaft treten. 

Der Hochverrat wurde vom § 134 des Gesetzes mit Enthauptung 
gestraft. 

Die Mißhandlung, verübt an einem Menschen, resp. Gewalt gegen 
richterliche Behörden wurde an Adligen mit Vermögenskonfiskation, 
an Bauern mit Zwangsansiedelung und Brandmarkung gestraft. 

Mit dem Tode wurde gestraft, wer zu Kriegszeiten eine Kirche 
zerstört oder verbrannt hatte. 


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XIX. Ladislaus v. Thöt 


Das Gesetz strafte die Erpressung sehr streng, insbesondere, wenn 
eine solche^durch Edle an ihren Lehensmännern verübt worden war. 
Sie sind iu solchen Fällen auch mit Vermögenskonfiskation gestraft 
worden. 

Wer seinen Vater, seine Mutter, seinen Bruder, seine Schwester 
oder sein Kind ermordet hatte, wurde auf dem Scheiterhaufen verbrannt. 

Wer aber einen Bischof, einen Priester oder einen Mönch er¬ 
mordete, wurde totgeschlagen oder aufgehängt. 

Das Gesetz strafte den Edlen, der einen Bürger geschlagen bat, 
mit einer Geldbuße. Wenn ein Bürger einen Edelmann ermordete, 
wurden ihm beide Hände abgehauen und außerdem wurde er mit 
einer Geldbuße gestraft. 

Der aus Unvorsichtigkeit verübte Totschlag wurde mit Geldbuße 
gestraft. 

Dem Diebe stach man beide Augen aus, und der Oberherr des 
Dorfes, in dessen Besitz der Dieb wohnte, wurde gefesselt zum Zar 
getragen, der ihm eine Geldbuße auferlegte und ihn auch unter Um¬ 
ständen wie einen Dieb gestraft hat; der Käuber wurde mit dem 
Kopfe nach abwärts aufgehängt; der Einbruch wurde mit Abhauen 
der Hand gestraft 

Wer ein Haus oder eine Gemeinde angegriffen hat, ist mit dem 
Schwert totgestochen worden; wer aber das Dach des Hauses eines 
anderen mit Steinen eingeworfen hatte, bezahlte dafür 100 Perpers. 

Ein falscher Vertrag wurde konfisziert und vernichtet Der Ver¬ 
fasser eines falschen Geschenkbriefes aber wurde wie ein Bäuber 
gestraft. 

Hinsichtlich der Ebrenbeleidigung machte man einen Unterschied 
zwischen der Person des Beleidigers und des Beleidigten; wenn ein 
Aristokrat einen Edlen beschimpfte oder verhöhnte, mußte er 100 
Perpers bezahlen; wenn aber ein Edler einen Aristokrat beleidigte, 
mußte er dieselbe Summe bezahlen, erhielt aber außerdem noch fünf¬ 
undzwanzig Stockschläge. 

Ebenso ist die Ehrenverletzung gestraft worden, wenn sie zwischen 
Aristokraten, oder Edlen, oder Bürgern verübt worden ist; dagegen 
wurden dem beide Hände abgehauen, der den Bart eines Edlen oder 
eines Bürgers ausgerissen hat. 

Das Gesetz strafte die Körperverletzung mit einer Geldbuße. 

Wer einen andern angegriffen hatte, wurde wegen Straßenraubes 
mit Vermögenskonfiskation gestraft. 

Wer berauscht eine Körperverletzung begangen hatte, verlor seine 
halbe Hand und ein Auge. 


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Endlich strafte das Gesetz die Feldbeschädigungen mit Geld¬ 
bußen. — 

Diese Gesetzgebung war bis zur Herrschaft der Türken in 
Geltung. — 

Das erste serbische Strafgesetz datiert aus 1850, welches 1860 
durch das heutzutage noch geltende Strafgesetzbuch ersetzt wurde, 
welches einige Nachgesetze erhielt. 

III. 

Die arabische und die türkische Rechtswissenschaft 
im allgemeinen. 

Das religiöse Rechtssystem der Araber und der Türken beruht 
auf verschiedenen Quellen. Diese Quellen sind gemeinschaftlich und 
besonders. 

Die gemeinschaftlichen Quellen des arabischen und des türkischen 
Rechts sind der Qorän und die Tradition. 

Der Qorän, El-Qorän, oder Alqorän, will das „Lesen“, das 
„ausgezeichnetste Buch“ ausdrücken. Man nennt den Qorän auch 
„Buch Gottes“, „teuerstes Buch“, „aus dem Himmel gekommenes 
Buch“, „Unterschied zwischen Erlaubtem und Verbotenem“, „Wort 
Gottes“, „Das Band“, „Das geweihte Wort“, „Das höchste Gesetz¬ 
buch“ usw. Er enthält „die Geschichte der Vergangenheit, die Ge¬ 
setze der Gegenwart und die Warnungen der Zukunft“. 

Der Qorän enthält alle Lehren Mohammeds, und nicht nur reli¬ 
giöse Dogmen und moralische Befehle, sondern er ist ein allgemeines 
Gesetzbuch, welches alle Verhältnisse des öffentlichen und privaten 
Lebens reguliert. 

Der Qorän ist „eine göttliche Offenbarung“, der „treue Geist“ 1 ) 
hat ihn aus dem Himmel gebracht, um die Wahrheit der dem Qorän 
vorausgegangenen Schriften zu bekräftigen 2 ). 

Der Rechtgläubige, der den Qorän lesen oder auch nur berühren 
will, muß sich vorher waschen. Der Ungläubige aber, der dasselbe 
tut (d. h. den Qorän lesen oder berühren will), soll mit dem Tode 
gestraft werden. Dieses Buch ist „ewig und wird im siebenten 
Himmel, vor Gottes Throne von den Engeln bewacht“. 

Die heutige Verfassung des Qoräns ist zum größten Teile von 
Abu-Bekr 3 ). 

1) Der Archengel Gabriel. 

2) Die Sura von „Die Dichter“, V. 192 und 193. 

3) G. Sale: Historical et critical observations on the Moohammedenism“. 
London, lt>38. 


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Die 144 Suren oder Kapitel des Qoräns sind ohne alle Ord¬ 
nung oder Zusammenhang vereinigt worden. Die ersten Kapitel be¬ 
stehen aus mehr als zweihundert Versen, während die letzten nur 
vier oder fünf Verse haben. Im allgemeinen ist der Qorän ein un- 
zusammenbängendes und verwirrtes Buch: Ein wahres Chaos, in 
welchem man die Verhältnisse der Propheten, der Juden und anderer 
Völker, Parabeln, allgemeine Befehle, Visionen usw., endlich eine 
Sammlung von allen Religionen und Glauben findet. 

Man kann im Qorän zwei Elemente unterscheiden: das dogma¬ 
tische: was man zu glauben hat, und das präzeptivische: was man 
üben muß. — 

Die andere gemeinschaftliche Quelle des arabischen und des 
türkischen Rechts ist die Tradition. Diese ist die Sammlung: 
1. der Aussprüche und Taten Mohammeds, 2. der Beschlüsse der 
lmäme, d. h. der vier ersten Nachfolger Mohammeds, 3. der Beschlüsse 
und Entscheidungen, welche in ähnlichen Fällen von den Kalifen 
aus dem ersten Jahrhundert der Hedschra ausgegangen sind. 

Die Araber und die Türken, welche die Tradition annehmen, 
sind Sunniten. Sie haben vier Hauptsekten: die Hanefiten, Scha- 
fiiten, Malekiten und Hanbaliten. Alle diese Sekten haben ihre 
eigene Gottes- und Rechtslehre, welche die besondere Quelle 
ihres Rechtssystems bildet. 

Die Araber von Marokko und Algier sind Malekiten, die von 
Egypten Schafiiten, die Türken sind Hanefiten, die Araber von 
Arabien sind Hanbaliten. 

Der Stifter der Hanefiten war Abu Hanifa, der im Jahre 81 
d. Hedschra (d. h. im Jahre 700) in Basra geboren ist. Er war 
Richter der Vorstadt von Bagdad. Als er sich weigerte, diese Stelle 
anzunehmen, wollte ihn der Kalif (Monsur) durch Stockschläge 
zwingen und als dies nichts half, ließ ihn der Kalif in den Kerker 
sperren. Er ist im Jahre 795 gestorben. Seine theologische und 
juristische Lehre enthält das Werk: „Führer in den Zweigen 
des Gesetzes“ von Burrhan Eddin Ali. Im X. Jahrhundert hat 
Ibrahim Ibn Mohammed sein wohlbekanntes Werk: „Zusammen¬ 
fluß der Meere“ geschrieben, welches das ganze System der Lehren 
von Abu Hanifa umfaßt. 

Der Stifter der schafiitischen Sekten war Esch-Schafei, der 
im Jahre 204 der Hedschra (820) gestorben ist. Er hinterließ ein 
ausführliches Werk der Gesetzgelehrsamkeit, welche Muwatta ge¬ 
nannt wird. 


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Orientalische Strafrechtsstudien. 


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Ibn Mälik, der Stifter der malekitischen Sekte, war im Jahre 
95 (713) geboren und hinterließ auch ein Werk unter dem Titel: 
„Muwatta“. 

Ahmed Ibn Hanbal endlich wurde im Jahre 241 (855) ge¬ 
boren. Er ist der Verfasser eines Mosnid, einer Sammlung von 
Überlieferungen, vollständiger als alle vorhergehenden; wie die 
arabischen Schriftsteller sagen, soll er eine Million von Überlieferungen 
auswendig gewußt haben. 

Die erwähnten Werke dieser vier Stifter dienten den späteren 
Rechtsgelehrten zum Muster. So entwickelte sich bei den 
Arabern eine schafiitische, eine malekitische und eine 
hanbalitische, bei den Türken aber eine hanefitische 
Rechtsliteratur. Die Araber kennen mehrere Zweige der Rechts¬ 
und Gesetzeskunde, welche aber mit den Distinktionen der euro¬ 
päischen Rechtswissenschaft nicht stimmt. 

Die Araber betrachten das Familienrecht und die Staatswissen¬ 
schaft als Zweige der praktischen Philosophie. Hierher gehören: 

1. Die Gesetzgebungskunst Sie handelt von den zu einem 
Gesetzgeber erforderlichen Eigenschaften; sie lehrt das Bedürfnis der 
Menschen, durch Gesetze geleitet zu werden, kennen, und wie diese 
Gesetze nach den Erfordernissen der Zeit, des Ortes und der Umstände 
geformt werden müssen. Da die meisten Gesetzgeber Propheten 
waren, so wird auch hierin von den Erfordernissen und Kennzeichen 
des Prophetentums gehandelt'). 

2. Das Familienrecht handelt von den Verhältnissen, welche 
zwischen dem Manne, seinem Weibe, Kindern und Hausgenossen be¬ 
stehen. Es wacht über die Beobachtung der gegenseitigen Rechte, 
und hat das häusliche Glück zum Zwecke. 

Die „GesetzWissenschaft“ umfaßt die Rechtswissenschaft und die 
Theologie. 

Die Teile der Gesetzwissenschaft sind: 

1. Die Überiieferungskunde. 

Man wird durch diese mit den Reden und Handlungen des 
Propheten bekannt. Ihr Zweck ist die zeitliche und ewige Glück¬ 
seligkeit. Sie teilt sich in zwei Teile: 

a) Die Überlieferungserzählung, die bloß von dem Zu¬ 
sammenhang der Überlieferungen bandelt und den Grad ihrer Glaub¬ 
würdigkeit in Rücksicht auf ihre Quellen und Stützen untersucht 

1) Hadschikhalfe, Bd. I, Einl. 


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ß) Die Überlieferung8grundlebre, welche den Sinn der 
überlieferten Worte nach den Regeln der Sprachgesetze untersucht 
und mit dem Zustande des Propheten zusammenhält. 

Die Gesetzes- und Rechtsgrundlehre ist die Wissenschaft, 
welche die Religionsgebote und Gesetze aus den vollständigen und 
unumstößlichen Beweisen ableitet Ihr Gegenstand sind die Grund¬ 
festen der Gesetzes- und Rechtswissenschaft, insoweit daraus Gebote 
und Pflichten abgeleitet werden können. 

Die Zweige der Rechtslehre sind: 

a) Die Lehre von den gesetzmäßigen Erbteilen, welche von 
der Größe der Erbteile und ihrer Verteilung handelt; 

ß) Die gerichtliche Urkundenlehre ist die praktische 
Kunst, gerichtliche Protokolle mit den dabei notwendigen Förmlich¬ 
keiten anzufertigen; 

y) Die Lehre von den richterlichen Urteilen und gesetz¬ 
lichen Befehlen. 

<J) Die Fetwakunde ist die historische und gesetzliche Kenntnis 
der in streitigen Fällen von verschiedenen Muftis erlassenen und als 
Richtschnur angenommenen Fetwas; 

e) Die Lehre von den Zufällen und den daraus entstehenden 
Schaden; 

Z) Die Lehre von den gesetzmäßigen Strafen; 

r>) Die Lehre von Kaufverträgen. 


IV. 

Die arabische Rechtsliteratur. 

Die Araber haben eine sehr große und wertvolle Rechtsliteratur. 
Die Werke dieser Rechtsliteratur sind entweder Kommentare oder 
Sammlungen der gerichtlichen Entscheidungen, oder aber das ganze 
Gebiet der Rechtswissenschaft umfassende Werke. 

In den Folgenden werden wir einige bessere und klassische 
arabische Rechtswerke, nach dem wohlbekannten Werke des Hadschi 
Khalfas, aufzählen; die meisten der übersetzten Titel klingen so, 
wie die deutschen Werke des 17. und 18. Jahrhunderts. — 

Abu Nizär Hasan Ben Säfi: Richter von den Prinzipien 
des Rechts. 

Mohammed Ben Ibrahim Ibn Ebenus Haschik: Eroberer 
der Rechtswissenschaft. 

Nejm-ed-dln Abu’lfedhail Bekburs: Dasselbe. 

Abu’lkasim Ben Abd-el mir Burzuli: Dasselbe. 


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Abu Isch’ak Ibrahim Ben Mohhammed Schiräzi: Die 
Bäder der Prinzipien des Rechts. 

Motzaffer-ed-din Ahmed Ben Ali Ben Thal’eb Bagh- 
' dädi: Zusammenfluß zweier Meere und zweier Flüsse der Rechts¬ 
wissenschaft. 

Ahmed Ben Mohammed Ben Abi Bekr: Syllogos der 
Antworten von Rechtsgelehrten. 

Abd-el-Rahmän Bokhäri: Vorzüglichkeiten der Gesetze und 
des Islam. 

Ibn Teimija: Verbessertes Buch von der Rechtswissenschaft. 

Fakhr-ed-din Mohammed Ben Omär Räzi: Summe der 
Prinzipien der Rechtswissenschaft. 

Borhän-ed-din Ali Ben Abi Bekr Merghinäni: Samm¬ 
lung der Antworten von Rechtsgelehrten. 

Alä-ed-din Ali Ben Ahmed Jemäli: Auserwählte Teile der 
Antworten von Rechtsgelehrten. 

Abu Schoja: Kompendium der Rechtswissenschaft. 

Abu Bekr Mohammed Ben Ahmed: Die spezielle Rechts¬ 
wissenschaft. 

Scherif Ahmed Ben Yahye von YSmen: Schwellendes 
Meer der Rechtswissenschaft. 

Fakr-el-aimmet Bedi’Ibn Mansür: Umfließendes Meer 
der Rechtswissenschaft. 

Abu’lmehasfn Abd-el-wähid Ben Ismail Ruyäni: Das 
Meer der Sekte der Rechtswissenschaft. 

Ein unbekannter Verfasser: Gefährliches Meer der Rechtswissen¬ 
schaft. 

Abu’lhasi Ali Ben Abi Bekr Maryhinäni: Kompendium 
des Neulings der Rechtswissenschaft. 

Abu’lbarakät Abd-el-rahmän Ben Mohammed Anbäri: 
Der Anfang der Richtung der Rechtswissenschaft. 

Abu Bekr Ben Säbik: Der Anfang der Rechtswissenschaft. 

Abu’lmeäli Abd-el-melek Ben Ali Joweini Nisalucri: 
Nachweis der Prinzipien der Rechtswissenschaft. 

Häfitz-ed-din Mohammed Ben Mohammed Ben Sche- 
häb-Kerderi: Juristische Entscheidungen von Bezzazi. 

Abu’lleith Nasr Ben Mohammed Samarkandi: Garten 
der geistlichen Mystiker. 

Abd-el-rahman: Garten der Rechtswissenschaft. 

Hojjet-elisläm Abu Hamid Mohammed Ben Moham¬ 
med Ghazäli: System der Rechtswissenschaft. 

Archiv für Kriminalanthropologie. 34. Bd. 20 


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XIV. Ladislaus v. Thöt 


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Ein unbekannter Verfasser: System der Rechtswissenschaft. 

Pfr Mohammed Ben Musa Bursewi: Wegweiser für Richter. 

Mahmud Kunewi: Schatzkammer juristischer Antworten. 

Abu Isch’ak Ibrahim Ben Ali Schiräzi: System der 
Rechtswissenschaft. 

V. 

Ein altarabisches Rechtsbuch. 

Das südarabische Königreich der Himar'iten, welches eine Zeit¬ 
lang unter der Regierung christlicher Könige stand, batte ein sehr 
interessantes Gesetzbuch, welches aber erst in griechischer Übersetzung 
zu uns kam *)• 

Der Verfasser dieses Gesetzbuchs war: der heilige Gregentius, 
der es im Grunde der heiligen Schrift verfaßte. 

Das Gesetzbuch ist in seinem größten Teile ein Strafgesetzbuch, 
welches unser Interesse in hohem Maße verdient. 

Das erste Kapitel handelt vom Totschlag, von der Hurerei 
und der Knabenschänderei (liegt cpövov xai /xoixelag xai ag- 
oevoxohiag). 

Geschieht ein Mord, so muß man den Täter also gleich so schnell 
als möglich vor die höhere Behörde bringen, welche ihn mit dem 
Tode bestraft. 

Sollte einer bei Sodomiterei ertappt werden, so muß ein solcher 
dem Statthalter überliefert werden, damit dieser ihn nach dem Gesetze 
behandle; „denn es ist billig, daß solche Leute getötet werden, damit 
sie nicht, indem sie leben bleiben, mit dem Schandflecke der Sünde, 
welche sie vollbracht, andere reine und unbefleckte Gemüter der 
Menschen anstecken, und sich und uns den Zorn Gottes durch ihre 
Sünden zuziehen“ 1 2 ). 

Das zweite Kapitel spricht von der Zauberei, vom falschen 
Zeugnisse und vom Diebstahl (liegt yovxeLag xai xpevdo/uag- 
rvgiag xai xheipiag). 

Sollte jemand bei Zauberei, oder Giftmischerei, oder Beschwörung 
betreten werden, so muß er dem Gerichtshöfe übergeben werden, 
damit dergleichen Übeltäter dem Feuer überliefert werden. 


1) Herausgegeben von Hammer-Purgstoll unter dem Titel: „Nouoß-faia 
t ov Ayiov P^rjyEvriov cbs ix ngooconov tov evoeßiorarov BaXiais (r&v^O/ue^irwv) 
AßQa/uiov“. Wien, 1850. 

2) . . . . „Slxaiov yäg iaxi dnoxxElvsod'ai xov£ xoiotixovs , iva urj £c5vxe£ xai 
aLaouari xrj£ auaqxla£ avxcov, iv* ovros äv eXtmo , uidvcuöi xai äklas duiavrovs 
yv%ä£ xai a&ojove &vd'Qc6no)v J xai xrjv ögyrjv xov Qeov irp^juäs xaxeveyxwoiv . a 


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Orientalische Strafrechtsstudien. 


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Wer ein falsches .Zeugnis ablegt, dem soll die Zungenspitze ab¬ 
geschnitten werden. 

Die Diebe und ihre Helfershelfer sollen beim ersten Mal fünfzig 
Streiche erhalten und es soll ihnen mit glühendem Eisenstempel ein 
Zeichen auf die Stirn gedrückt werden; dann aber soll man sie, ihres 
Gewandes beraubt, entlassen mit der Mahnung: „Gib Acht auf dich, 
Bruder, und stiehl nicht, auf daß du nicht wieder ertappt, einer noch 
größeren Strafe verfallest“ x ). Wird der Schuldige in der Folge bei 
dem nämlichen Verbrechen betreten 1 2 ), so soll man ihn zum Statthalter 
führen; dort sind ihm die Sehnen am linken Fuße zu durchschneiden, 
auf daß er, da ihm das Bein zum Gehen lahm gemacht worden, 
nicht mehr stehlen kann, wenn er es auch wollte. Hierauf möge er 
in das Armenhaus des Königreichs abgeführt werden, wo ihm für 
die Zukunft die tägliche Nahrung verabreicht werden soll. — 

Das dritte Kapitel enthält die Bestimmungen über die Hurerei 
(Ilegi TtOQvelag). 

Jeder Mann und jedes Weib soll das liederliche Huren vermeiden. 
Ein jeder Mann soll sein Weib haben, und ein jedes Weib soll hin¬ 
wieder ihren Mann haben. Man hat hierbei durchaus nicht den Grund 
zur Entschuldigung, den viele anführen: „Ich bin arm und kann kein 
Weib haben“. Darauf aber antworten wir — sagt der Gesetzgeber — 
„Willst du dich nicht in gesetzlicher Ehe verbinden, so zwingen wir 
dich ja nicht dazu“ 3 ). Im allgemeinen, jeder, welcher in Hurerei 
betroffen wird, sei es ein Mann oder ein Weib, soll hundert Schläge 
oder Peitschenhiebe empfangen, auch soll ihm das linke Ohr abge¬ 
schnitten, sein Vermögen eingezogen, er aber freigelassen werden. 

Ebendasselbe hat auch ein Weib, das nicht verheiratet ist, wenn 
es ergriffen wird, zu erdulden. — 

Sollte ein Mann ergriffen werden, welcher kein Weib hat, mit 
einem Weibe, welches keinen Mann besitzt, und sie wollten sich 
hierauf gesetzlich verbinden, dann soll von jenen, welche sie ergriffen 
haben, ein Priester herbeigeholt werden, und man möge sie nach 
geschehener Vermählung entlassen, ohne ihnen ein Leid zuzufügen. 
Wollten sie sich aber nicht ehelich verbinden, dann sollten sie nach 
erfolgter Strafe entlassen werden. 

Das vierte Kapitel handelt vom Ehebruch (Ilegl noixelag)^ 


1 ) d&el<p£, oeavraj, xai /urjxin xleyrjs, iva itrj xgatrj&eis ini uti- 
iÄetiOf] r lucogiq* 

2) Die früher vorgenommene Brandmarkung macht ihn kenntlich. 

3) Ov ßovlf] vouijuco yäucp ngodouilfjoai, ovd' Ar xai rfpels ßid&ouev.“ 

20 * 


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Wer bei einem verehelichten Weibe betroffen wird, dem wird 
jenes Glied seines Leibes abgeschnitten, mit welchem er die Sünde 
begeht; ingleichen wird die linke Brust des Weibes abgescbnitten, 
„dafür, daß sie den Mann, der ihr zugehört, verlassen, und mit dem 
Teufel in Gemeinschaft getreten ist; denn es ist besser, so spricht 
der Herr, daß eines deiner Glieder verloren gehe hiernieden, als daß 
dein ganzer Körper jenseits in der Hölle ins Feuer gestoßen werde“ ')• 

Ein jeglicher, der da ein Weib besitzt auf rechtliche Weise und 
sie verläßt, und mit einer anderen hurt, dem wird das ahgeschnitten, 
womit er die Sünde vollführt. 

Sollte es sich aber treffen, daß seine Lebensgefährtin sagte: „Ich 
kümmere mich nicht um die Sünde meines Mannes, und wenn er 
mich auch zehntausendmal binterginge, ich will ihn nicht bestraft 
wissen“, — dann soll ein solcher zweihundert Peitschenhiebe be¬ 
kommen, sein linkes Ohr soll ihm abgeschnitten werden, wenn ihr 
Mann ihr hierauf noch beiwohnen will. Sollten sie sich in der Folge 
abermals bei derselben Tat „betreten lassen, so haben sie die erste 
Strafe zu überstehen, ihr soll die Brust und ihm das Glied abge¬ 
schnitten werden. 

Sollte das Weib bei der nämlichen Tat noch einmal betroffen 
werden, dann soll sie gepeitscht und aus der Stadt verwiesen werden; 
desgleichen soll ein jeder Mann, der festgenommen und abgestraft 
worden ist, wenn er bei demselben Verbrechen nochmals betroffen 
wird, aus der Stadt verwiesen werden. — 

Das fünfte Kapitel handelt von den Reichen, welche 
nach armen Mädchen Verlangen tragen (UsqI nXovoiüv im- 
■d-v[xovvTü)v nevofiivac)- 

Wenn ein Reicher sich in ein armes Mädchen verliebt, und seine 
Eltern nicht einwilligen wollen, dann vereinigt sie das Gesetz und es 
haben die Eltern ihrem Sohne die Aussteuer ungeschmälert einzu¬ 
händigen, so lautet der königliche Befehl. 

Dasselbe ist auch bei einem reichen Mädchen zu befolgen, welches 
sich in einen armen Jüngling verliebt — 

Das sechste Kapitel handelt von den freien Männern, 
welche sich mit Sklavinnen vergehen (ITegl iXev&egGiv etc 
dovXeiav 7teQi7tucTOviQv). 

Ein freier Mann, welcher unverheiratet ist und bei Schändung 


1 ) . . . . ,, &v&’ a>v xare/.tne rdv ävSoa TÖr iSiov xai ifiiyrj rtä —aTava. Xvu- 
(prufi yäo, qrrjoiv ö KvoioS, iva iv tcüv ftai.mv aov AnoXrjrat ivd'cr, xai // 7 ) 8 ).ov rd 
atoua aov %[i ßißaod'rj ixel&ev iv yeivvrj 7ivq[. u 


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Orientalische Strafrechtsstudien. 


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einer ihm nicht angehörigen Sklavin ertappt wird, werde ein Sklave 
der Herrin oder des Herrn der Magd. 

Dasselbe werde auch mit einer freien Frau in Vollzug gebracht, 
sollte sie sich „töricht“ genug mit einem Sklaven einlassen, „denn 
wer die Glieder Christi zu Gliedern einer Hure gemacht hat, der 
verdient auch, daß er in die Sklaverei eines Menschen verfalle, auf 
daß er es einsehe, welch ein großes Übel die Sünde ist, und daß es 
besser sei, sich gesetzlich zu verehelichen, als ungesetzlich“. Deshalb 
befiehlt das Gesetz, daß „ein jeder seine eigene und nur eine Frau 
habe, und daß er die verfluchte Hurerei fliehe, durch welche über 
die Menschensöhne der Zorn Gottes aus dem Himmel hereinbricht. Wer 
aber dieses Gebot Übertritt, hat gehört, welche Strafe ihn erwartet.“ 

Das siebente Kapitel handelt davon, daß die Eltern ihre 
Kinder im Alter von zehn bis zu zwölf Jahren verehe¬ 
lichen sollen (liegt rov Zevyvelv xä xixva oi yovelg 7tgdg ydfxov 
äitö txcHv öixa rj dcböexa). 

Alle Eltern sollen ihre Kinder in dem Alter von zehn bis zwölf 
Jahren ehelich verbinden, ausgenommen, wenn sie schwach sind. 
Der Übertreter dieses Gesetzes hat, wenn er sehr reich ist, sechs 
Pfund Geldes an den Vorgesetzten seines Bezirks zu bezahlen; ist es 
aber einer aus dem Mittelstände, dann soll er drei, ist er ein Ge¬ 
ringerer, so soll er die Hälfte, ist er endlich noch geringer als dieser, 
so soll er ein Pfund bezahlen, der nach ihm soll sechsunddreißig 
Geldstücke, der nach ihm achtzehn, der nach ihm neun, der nach 
ihm zwei und ein Dritteil, der nach ihm eines und ein Hundertteil, 
der nach ihm die Hälfte zahlen, und keinem soll dafür eine Frist 
gegeben werden, sondern sie haben augenblicklich die festgesetzte 
Zahlung zu leisten. Das Vermögen desjenigen, der sich hierbei eine. 
Zögerung zuschulden kommen läßt, soll konfisziert und er auf könig¬ 
lichen Befehl aus der Stadt verwiesen werden. Jeder, der diese 
Bestimmung Übertritt, wird nach seinem Vermögensstande bestraft. 
Das Bußgeld fällt aber dem Bezirksvorsteher und den unter ihm 
stehenden Soldaten zu. — 

Derjenige, welcher seinen Nächsten bei einer schändlichen und 
gesetzwidrigen Handlung antrifft und ihn dem Vorsteher des Bezirks 
nicht anzeigt, bekommt, wenn er reich ist, öffentlich zweiundsiebzig 
Streiche, ist er arm, so wird er mit vier Geldstücken bestraft, ist er 
noch ärmer, mit dreien, ist er noch dürftiger als dieser, mit zweien, 
ist er ganz arm, mit einem. — 

Das achte Kapitel bandelt von den Kupplern (Tlegi iao - 

XQC 07 ZCi)v). 


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Einem jeden, der Kuppelei treibt, oder für schändliche Ver¬ 
mischung mit Knaben und Eunuchen den Mittelsmann abgibt, sei es 
nun Mann oder Weib, wird die halbe Zunge ausgeschnitten. 

Die, welche ihre Wohnungen zu Aufenthaltsorten der Hurer 
machen, und solche Übeltäter aufnehmen und verbergen, sollen ein¬ 
gezogen, durch den Gemeindevorsteher ihres ganzen Vermögens ver¬ 
lustig gemacht, aus der Stadt verwiesen werden. Es wird ihnen auch 
eine eigenhändige Schrift abgefordert, in der sie versprechen, bei 
Todesstrafe, in ihrem ganzen Leben nicht wieder in das Land kommen 
zu wollen. 

Das neunte Kapitel handelt von jenen, die den Frauens¬ 
personen auflauern (liegt ödovoxaTotivxwv yvvaixäg). 

Jene, die den Frauenspersonen auf lauern und sich mit ihnen 
gewaltsam einlassen, sollen als Räuber und Feinde Gottes, wenn sie 
durch das Weib eidlich überwiesen werden, gegen hundert Streiche 
erhalten, und nachdem man ihnen beide Ohren abgeschnitten, mögen 
sie entlassen werden. 

Sollten sie jedoch hierauf abermals auf derselben Tat betreten 
werden, dann sollen sie gegen zweihundert Streiche empfangen, und 
nach konfiszierter Habe verwiesen werden. 

Jene, die auf dem Marktplatze oder auf offener Straße herum¬ 
wandeln und ihre Hände unverschämt nach freien Weibern, der 
Hurerei und schändlicher Lust wegen, ausstrecken, sollen, wenn man 
sie ergreift und das Weib sie anklagt, siebzig Streiche erhalten, mitten 
auf dem Platze, wo das Volk ist; nach konfiszierter Habe sollen sie 
mit einem Verweise entlassen werden. 

Sollte einer auf derselben Tat wieder betroffen werden, dann 
wird ihm die Hand abgehauen „als einem höchst Unverschämten“. 

Kein von Gott geschaffener Mensch kann sich in irgend einer 
Sache selbst Recht verschaffen, bevor er durch Anfrage, wie das 
Gesetz befehle, nicht eine gesetzliche Entscheidung erhalten hat. Wer 
aber solches wagt, und irgend einen schlägt oder tritt, oder peitscht, 
oder mit einem Stabe schlägt, oder geißelt, sei er im Recht oder 
Unrecht, ohne Ermächtigung des Gesetzes, sei es auf dem Markte 
oder auf dem Wege, oder zu Hause — ausgenommen jene, welche 
sich mit dem Unterricht in den Künsten und Wissenschaften be¬ 
schäftigen, oder der Herr gegen seinen Diener, der Vater gegen seinen 
Sohn oder seine Tochter, und wenn er dieses aus gerechter Veran¬ 
lassung getan hat, und nicht wie manche Jähzornige, die, während 
sie einen Menschen bestrafen wollen, ihn erschlagen — sie sollen sechs¬ 
unddreißig Geißelhiebe erhalten und wird ihnen eine Zehe von den 


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Füßen abgehauen, sie sollen aber nach konfiszierter Habe freigelassen 
werden. 

Das zehnte Kapitel handelt von den Ehemännern, welche 
ihre Weiber schlagen (liegt xov (.iti xvnxelv dvdgag xag i'diag 
ywaiKag). 

Wer seine Ehefrau schlägt, erhält, wenn er ein Reicher ist, sechs¬ 
unddreißig Streiche und, nachdem ihm ein Verweis gegeben worden 
ist, wird er entlassen. Ist er aber ein Armer, dann wird er an seinem 
Vermögen gestraft. 

Sollte einer in der Folge sich dasselbe zuschulden kommen lassen 
und betreten werden, dann wird er eingezogen, und sein Vermögen 
wenn es ein geringes ist, von dem Bezirksvorsteher unter die Soldaten, 
die ihm folgen, verteilt; ist aber sein Vermögen beträchtlich, so wird 
es in den königlichen Schatz gebracht, und der Schuldige aus der 
Stadt verwiesen. 

Das elfte Kapitel handelt von den Trunkenbolden und von 
jenen, die ihren Tieren schwere Lasten aufladen (liegt 
f.te&v6vTbtv y.al x(öv (pogxovvxütv za y.xrjvf] atixtöv cpögxta ßagea). 

Wenn jemand übermäßig betrunken auf dem Markte mit un¬ 
sicherem Schritte umhergeht und von Mauer zu Mauer taumelt, so 
muß er ergriffen und eingesperrt werden bis zum andern Morgen, 
und hat er seinen Rausch ausgeschlafen, dann wird er hinausgeführt 
und erhält sechzig Streiche, nachher wird er mit einem Verweise 
entlassen. 

Diejenigen, welche ihren Lasttieren allzuschwere Lasten auflegen, 
sollen überwacht werden. Sie sollen festgenommen werden und gegen 
secbsunddreiBig Streiche erhalten, und nachdem man ihnen einen 
Verweis gegeben, entlassen werden. 

Das dreizehnte Kapitel 1 ) handelt von den Raufbolden 
(liegt fiayoiievföv). 

Wenn einige auf öffentlichen Plätzen in einer Rauferei betroffen 
werden, so sollen beide Teile, jeder mit vierzig Hieben bestraft werden. 

Wenn aber der eine Teil, der geschlagen wird, dem Gesetze 
gehorsam, seine Hand nicht aufhebt, so ist dieser Teil als unschuldig 
zu entlassen, während der Angreifer, wer es auch immer sei, achtzig 
Hiebe erhält, auf zwei Monate in das Arbeitshaus zu Zwangsarbeit 
gesperrt, dann aber entlassen werden soll. — 

Diejenigen, welche einander schmähen und beschimpfen, sollen 
festgenommen und mit vierundzwanzig Peitschenhieben gestraft, dann 
aber entlassen werden. — 

1) Das elfte Kapitel handelt vom Verkaufen an einem Festtage oder Sonntage. 


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Wenn einer den andern mit Reden schmäht, der Beschimpfte 
aber aas Furcht vor dem Gesetze schweigt, und sich bei der Behörde 
beklagt, so soll der Schmäher achtunddreißig Peitschenhiebe erhalten, 
seine Habe eingezogen und er entlassen werden. — 

Solche, die beim Spiele betroffen werden, sollen gegen zwanzig 
Streiche erhalten und mit einem Verweise entlassen werden. 

VI. 

Die türkischen Rechtsgelehrten 1 ). 

Die türkische Rechtsliteratur hat einen anderen Charakterzug als 
die arabische, da diese auch viele spezielle Abhandlungen enthält. 

Die ersten Rechtsgelehrten der Türkei haben ihre Werke arabisch 
geschrieben. Erst in unserem XV. Jahrhundert finden wir Rechts¬ 
gelehrte, welche in türkischer Sprache schreiben. Solche waren, unter 
der Regierung des Mohammed I.: 

Ssarudsche Pascha, Jakub von Karaman. Er war der 
Verfasser verschiedener juristischer Kommentare und schrieb auch 
geschätzte Randglossen zum Hidäja. 

Die Rechtswissenschaft zählte unter Murads II. Regierung 
mehrere ausgezeichnete Gelehrte, wiewohl noch nicht so viele und so 
bedeutende als unter der folgenden Regierung Mohammed II. Solche 
waren: Molla Jekän, Schukrullah, Hamsa. Als Verfasser von 
Kommentaren über berühmte juristische Werke zeichneten sich aus: 
der Molla Seid Ali, der auch ein juristisches Grundwerk schrieb; 
weiter: Mewlana Elias, Mewlana Ibn Minas, Mewlana Kasi, Mewlana 
Ali Kodschissäri, Mewlana Mohammed, Mewlana Fethullah und 
Mewlana Hosameddin. Jusuf Bali Efendi hinterließ einen Kommentar 
zum Hidäja. 

Die Rechtsgelehrten, welche unter der Regierung des Moham¬ 
med II. lebten und schrieben, waren: Molla Kurani, der der 
Lehrer des Sultans war; Molla Chosrew, ein geborener Grieche, 
dessen zwei Werke, die „Stirnenhaare“ und die „Perlen“, die 
Grundfesten der türkischen Rechtswissenschaft sind. Weiter: Chod- 
schasade, der Randglossen zum Mokthasar Kuduris schrieb; 
Chatibsade, Alaeddin Arabi, Ibn Magnesia, Kastellani, 
Chiali, Fenari, Hadschi Baba, Sinanpascha, Mussa- 
nifek usw. 


1) S. das berühmteste Werk von Taschköpritzade „von den Rechts 
gelehrten“. 


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Unter Sei im I. finden wir auch viele und vorzügliche Rechts¬ 
gelehrte; solche waren: Ssarigiirf, der über das islamitische Recht 
das Werk „Murtesa“ schrieb; Nigisari, Jusuf Dschnneid. 
Dieser verfaßte Randglossen zum juristischen Werk „Ssadresch- 
scheriat“, Lntfi Sinenpascha usw. 

Unter der Regierung Sulejmans I. lebten: der Mufti Kemal- 
paschasade, Ischak Tschelebi, Ghazali. Weiter Molla Ibra¬ 
him von Haleb, der Übersetzer des im ganzen türkischen Reiche 
noch heute benutzten islamitischen Gesetzbuches „Der Zusammenfluß 
zweier Meere“; Dselalsade, Nichandschi, Ebulfasl, Baki, Turi, Fet- 
ballah, Aarif, Ramasansade. Der berühmteste war Tascbköprisade, 
der im Werk von „Schaikakun naamaijet“ die Biographien 
von 519 Rechtsgelehrten schrieb. Endlich: Hafiz Adschem, 
Bingeli, Chaireddin usw. 

Die Rechtsgelehrten der Zeit Murads III. waren: Takieddin, 
Gharaseddin, Bojalii Mohammedpascha, Fasil Efendi, 
Balisade, Abulkadir und Molla Ilusein, Fortsetzer der Bio¬ 
graphien Taschköprizades. Weiter: Nischandschi, Ssari¬ 
giirf, der Randglossen zum Hidäja schrieb; Auf, Mahmud Khalfa, 
der über die Klassen der hanefitischen Rechtsgelehrten schrieb; 
Penwif Efendi, der Randglossen zum Hidäja verfaßte; ebenso: 
Abulasis Efendi und Sinan. 

Unter der Regierung Mustafas sind zu nennen: Altiparmak, 
Risai Alitschelebi, der zehn große Fetwa-Sammlungen in einem 
Auszug brachte. Weiter: Menaw, welcher eine Anzahl juristischer 
Werke hinterließ; Karadscha Ahmed, Molla Kafi, Molla Mo¬ 
hammed Tabibsade. 

Die berühmteren Rechtsgelehrten der Zeit von Ibrahim I. waren: 
Memekfade, Imamfade, Meukufadschi Kara Abdulla, 
Ssanifade, Kudsifade usw. 

Im achtzehnten Jahrhundert finden wir eine große Menge von 
Rechtsgelehrten, welche insbesondere Sammlungen von richterlichen 
Entscheidungen herausgeben. So z. B. der Mufti Abdursahim, 
welcher gegen zehntausend Fetwa unter dem Titel: „Netidschetol- 
Fetawi“ („Das Resultat der Fetwa“) gesammelt hat. Weiter: 
Diirisade Esseid Mohammed Aarif Efendi, der achtzehn¬ 
hundert Fetwa sammelte. Die Sammlung des Mufti Ali hat fünf¬ 
tausendvierhundert Fetwa; die des Mufti Mohammed Anpora 
(„Fetawii Ankarewi“), Atallah Mohammed Efendi, des 
Fikhi Mohammed Efendi („Fetawii Atallah Mohammed Efendi“), 


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des Oberetlandrichters Wassaf Abdullab Efendi, waren ebenfalls 
bekannt. 

Weitere hervorragende Rechtsgelehrten waren: Baldirsade, 
Hadschisade Mustafa Efendi, dessen Werk unter dem Titel: 
„ Busaatol-hukham fiss-ssik“, d. h. „Die Lehre von der Auf¬ 
setzung von Urkunden“ erschien. — Las isade, der Verfasser zweier 
Werke dieser Gattung: „Melischal-hukkam fi muinil kufat“ 
d. h. „Zuflucht der Obrigkeiten als Hilfe der Richter“, und Subde- 
tess-Ssukuk“, d. h. „Auswahl gerichtlicher Aufsätze“. — Außerdem 
sind zu nennen: Mustafa Kodosi, Abdursahman Ben Scheich 
Mohammed Ben Suletman. Dieser letztere schrieb ein Werk 
unter dem Titel: Medschmaol- enhar fi scherhi multaka el,- 
ebhur“, d. i. „Der Sammelplatz der Flüsse in der Erläuterung des 
Zusammenflusses der Meere“, das ein weitläufiger Kommentar des 
Multeka ist. 


VII. 

Zwei türkische Strafgesetze. 

Die türkischen Herrscher sahen mit der Zeit ein, daß die Be¬ 
stimmungen des Qoräns und der darauf beruhenden religiösen Rechts¬ 
wissenschaft den Bedürfnissen des Staatslebens nicht mehr entsprechen 
können. So erließen sie verschiedene Gesetze unter der Bezeichnung: 
„Chatti scherif“, welche die Bestimmungen des religiösen Rechts 
verändert oder ergänzt haben. 

Die zwei berühmtesten Gesetzgeber der Türken waren: Mo¬ 
hammed der Eroberer und Suleiman I. Beide hatten auch 
ein Strafgesetzbuch publiziert, welches hier auch besprochen wer¬ 
den soll. 

Das „Kanunnäme Sultans Mohammed des Eroberers“ 
ist eigentlich ein dreifaches Gesetzbuch, welches 1. von der Rang¬ 
ordnung der Großen und Stützen des Reiches, 2. von den Reichs¬ 
gebräuchen und Zeremonien, und 3. von den Geldstrafen der Ver¬ 
brecher und von den Einkünften der Ämter bandelt 

Die wichtigsten Strafbestimmungen dieses Gesetzbuches sind: 

Das Gesetzbuch erhebt den Brudermord — bei der Thronfolge — 
zum Reichsgesetze. Es sagt: „Die meisten Gesetzgelebrten haben es 
für erlaubt erklärt, daß, wer immer von meinen erlauchten Kindern 
und Enkeln zur Herrschaft gelangt, zur Sicherheit der Ruhe der 
Welt seine Brüder hinrichten lasse; sie sollen danach handeln.“ So 
sprach der türkische Gesetzgeber! 


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Das Gesetz bestimmte auch das Bußgeld für Totschlag; es 
waren 3000 Aspern; im Fall, als ein Auge ausgeschlagen worden 
war, ist das Bußgeld 1500 Aspern und für eine Kopfwunde 
50 Aspern. 

Die übrigen Bestimmungen dieses Gesetzes sind Polizeigesetze. 

Eine größere Reform enthielt das Suleimansche Gesetzbuch. 
Dieser Sultan verwendete darin eine besondere Sorgfalt auf die Straf¬ 
gesetze, die in fünf Hauptstücken die Grundlage des Strafrechts des 
alten türkischen Reiches bildet. 

Das erste Hauptstück bestraft die Hurerei nach Maßgabe des 
Vermögens, mit einer Geldstrafe von 1000 Aspern für die Reichen, 
von 30 Aspern aber für die Armen. 

Die Entführer von Knaben und Mädchen büßen dafür mit dem 
Verluste ihrer Mannheit 

Wer der Frau oder Tochter eines andern aufpaßt, um sie zu 
schrecken und sie küßt, erhält scharfen Verweis und zahlt einen 
Asper für jedes Wort und für jeden Kuß; wer desgleichen 
mit Sklavinnen tut, kommt um die Hälfte leichter davon, indem er 
nur für zwei Küsse oder zwei Worte einen Asper zahlt. 

Der Anklage der Verführung soll ohne Zeugen nicht Glaube 
beigemessen werden; beschwört der Beklagte das Gegenteil, so erhält 
das Weib, oder das Mädchen noch richterlichen Verweis und zahlt 
einen Asper. 

Der Vater, der die Sklavin seines Sohnes beschläft, unterliegt 
keiner Geldstrafe. 

Wer sich mit Tieren vergeht, erhält scharfen Verweis und zahlt 
einen Asper für jeden Betretungsfall. — 

Das zweite Hauptstück bemißt die Strafen für Schimpfworte 
und Schläge. 

Wenn zwei miteinander im Ernste balgen — sagt das Gesetz —, 
so daß der eine den Kragen des andern zerreißt, erhalten beide einen 
Verweis und zahlen beide Strafe. Wenn sie einander Bart und Haare 
ausraufen, werden beide mit Verweis, der Reiche außerdem mit 20. 
und der Arme mit 10 Aspern bestraft. 

Wer dem andern auf dem Wege auf paßt, oder gar in seinem 
Hause angreift, wenn sie sich dann gegenseitig beim Barte reißen 
oder sonst tüchtig schlagen, so wird beiden das Vergehen verwiesen; 
aber nur der angreifende Teil zahlt die Geldstrafe. 

Wer einem andern beim Barte reißt, oder ihm eine Ohrfeige 
gibt, zahlt nebst dem erhaltenen Verweise 20 Aspern, wenn er ver¬ 
mögend ist, und 10, wenn er arm ist. 


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Wer dem andern den Kopf blntig schlägt, zahlt 10 Aspern; ist 
die Wunde von der Art, daß ein Knochen herausgenommen werden 
muß, so zahlt derjenige, welcher dem andern auf diese Weise den 
Kopf gespalten, 100 Aspern, wenn er bei Vermögen, 50, wenn er 
aus dem Mittelstände und 30, wenn er arm ist. 

Für einen Totschlag, wenn nicht das Wiedervergeltungsrecht 
ausgeübt wird, zahlt der Mörder 400 Aspern, wenn er einer von den 
Reichen, 100, wenn er ein Armer, und 20, wenn er vom Mittel¬ 
stände ist. 

Wer verwundet wurde, und keine Zeugen angibt, soll nicht an¬ 
gehört werden, es sei denn, daß der Beklagte sonst solcher Streiche 
verdächtig ist, oder mit dem Verwundeten in offener Feindschaft 
gestanden habe, worüber dem Richter die Erkenntnis zukommt 

Wird in einem Viertel der Stadt oder in einem Dorfe ein Er¬ 
schlagener gefunden, so muß genaue Untersuchung angestellt, der 
Mörder ausfindig gemacht und nach Gebühr bestraft werden. Wird 
aber bloß ein Leichnam gefunden, ohne Spuren eines gewaltsamen 
Todes, so darf niemand beunruhigt werden. 

Wer den andern mit Pfeil oder Messer verwundet, zahlt nach 
erhaltenem Verweise 200 Aspern Strafgeld, wenn er reich, 50, wenn 
er arm, und 100, wenn er vom Mittelstände ist. 

Wer dem andern auf dem Wege aufpaßt, und mit Pfeilen nach 
ihm schießt, wird mit pfeildurchstocbenem Ohre, so daß der Pfeil 
darin steckt, öffentlich herumgeführt. 

Wer wider einen andern auf dem Wege lauernd den Säbel oder 
das Messer zieht, zahlt schon bloß dafür 50 Aspern, wenn er ver¬ 
mögend, und 10, wenn er arm ist. 

Zahn für Zahn und Auge für Auge! Wenn aber das Vergeltungs¬ 
recht nicht ausgeübt wird, zahlt der Reiche, welcher einem andern 
ein Auge oder einen Zahn ausschlägt, 200, der Mittlere 100, der Arme 
50, 40, 30 Aspern. 

Für Sklaven zahlen ihre Herren die Hälfte dieser festgesetzten 
Strafen. Knaben, die sich balgen und schlagen, zahlen keine Strafe. 

Wenn Weiber einander schlagen oder bei den Haaren reißen, 
gibt ihnen der Richter, wenn sie nicht unter die Verschleierten, d. h. 
unter die Frauen von Stand gehören, einen Verweis, und legt ihnen 
für je zwei Streiche einen Asper auf. Sind es aber Frauen von 
Stand, so läßt er es bei Drohungen und einer Strafe von 20 Aspern 
bewenden. — 

Das dritte Hauptstück enthält die Strafen des Weintrinkens, 
des Diebstahls, des Straßenraubes und der Plünderung. 


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Wer Wein trinkt, unterliegt der Strafe des Richters, und zahlt 
für jeden Trunk einen Asper. Der Türke, der Wein preßt, oder 
verkauft, wird vom Richter mit einem Verweise und mit einem Asper 
Strafe belegt, je für zweimaligen Betretungsfall. 

Wer Gänse, Hühner und Enten stiehlt, wird vom Richter mit 
Verweis und einem Asper Strafe belegt für die Handlung des Dieb¬ 
stahls, ohne dessen Wert, der besonders in Anschlag gebracht wird. 

Dem, der ein Pferd, einen Maulesel, Esel oder Büffel stiehlt, 
wird die Hand abgehauen, oder er zahlt 200 Aspern, wenn er sie 
behalten will. 

Dem, der heimlich aus dem Hause oder aus der Scheune des 
andern Korn stiehlt, wird die Hand abgehauen; er kann sich aber, 
wenn er reich ist, mit 40, wenn er bei mittlerem Vermögen ist, mit 
20, und wenn er arm ist, mit 10 Aspern loskaufen. 

Der Diebstahl von Kleidungsstücken, oder von einem Turban, 
Messer, Vortuch usw. wird mit einem richterlichen Verweise und 
einem Asper bestraft. — 

Nächste Verwandte, die sich untereinander im Hause bestehlen, 
kommen mit einem Verweise davon. 

Wer im Zorne dem andern den Turban vom Kopfe reißt, 
empfängt einen Verweis und gibt einen Asper. 

Diebe, welche Sklaven stehlen, Kaufläden erbrechen oder schon 
einige Mal auf kleineren Diebstählen ertappt worden sind, werden 
gehangen. 

Für den Ersatz eines in der Nähe eines Dorfes begangenen Raubes 
haften seine Einwohner insgesamt. 

Sind die Diebe Lehensträger, so werden sie zwar verhaftet, aber 
vor ihrer Bestrafung muß an die hohe Pforte Bericht erstattet werden. 

Falschen Zeugen, Verfälschern und Falschmünzern wird die Hand 
abgehauen. 

Zweimalige Unterlassung des täglich fünfmal gesetzmäßigen Ge¬ 
betes und Fastenbruch wird mit einem Asper bestraft 

Verleumder und Ohrenbläser sollen zum Ersätze des von ihnen 
durch Anschwärzung verursachten Schadens verhalten werden. — 

VIII. 

Das türkische Gerichtswesen. 

Der höchste Richter des Reiches ist der Mufti. 

Seine unmittelbaren Unterbeamten sind: 1. der „Scheichul 
Islam Kiajasi“, d. h. der Stellvertreter des Mufti in allen politi- 


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sehen und ökonomischen Geschäften; 2. der „Telchissdschi“ d. h. 
der Vortragmeister, des Mufti Geschäftsmann an der Pforte; 3. der 
„Mektubdschi“, d. h. dessen Kanzler; 4. der „Fetwa Emini“, 
d. h. der Direktor der Kanzlei, in welcher die Fetwa ausgefertigt 
werden. 

Die übrigen höheren Richter sind: die „Ssadri“, d. h. die 
Oberstlandricbter der einzelnen Provinzen. Jeder von ihnen hat sechs 
Beamte unter sich, welche die Geschäfte .seines Wirkungskreises 
schlichten: 1. der „Tefkeredschi", d. h. der Bittschriftmeister; 
2. der „Rufmamedschi“, d. h. der Tagebuchführer; 3. der„Mat- 
labdschi“, d. h. der Rollenführer der Richterstellen; 4. der „Tat- 
bikdschi“, d. h. der Bewahrer der Siegel aller Richter, um deren 
Echtheit zu erhärten; 5. der „Kiaja“, d. h. der Stellvertreter, der 
mit dem Rechnungswesen beauftragt ist. 

Der Richter von Konstantinopel (der „Istainbul Kadisi“) ist 
auch ein Richter des ersten Ranges. Unter ihm stehen: 1. der „Un 
Kapan Naibi“, d. h. sein Stellvertreter bei den Mehlmagazinen; 
2. der „Jagh Kapan Naibi“ d. h. der Stellvertreter für die 
Magazine für Öl und Butter; 3. der „Ajak Naibi“, d. h. der Stell¬ 
vertreter für Gewicht, Maß und Marktpreis. 

Hierher gehören auch die Molla der beiden heiligen Städte, der 
Molla von Mekka und der Molla von Medina. 

Unter den hohen Richtern stehen die Kadi. 

IX. 

Das armenische Strafrecht. 

Die in der asiatischen Türkei wohnenden Armenier sind der 
Herrschaft des dort geltenden mohammedanischen Rechtssystems nicht 
unterworfen, sondern sie haben eine besondere Gesetzgebung 1 ). 

Als ihre Grundlage können wir das alte und das neue Testament 
und im allgemeinen die heiligen Schriften der Kirchenväter bezeichnen. 
Jedoch finden wir darin auch die Spuren der älteren armenischen 
Gesetze. 

Das armenische Rechtssystem bietet uns auch das Strafrecht. 

Die strafrechtlichen Bestimmungen der armenischen Gesetzgebung 
beziehen sich insbesondere auf den Diebstahl, Mord, Körperverletzung 
und Ehebruch. 


1) Diese Gesetzsammlung war in Konstantinopel (1S6S) in armenischer 
Sprache und in einer türkischen Übersetzung herausgegeben. 


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Orientalische Strafrechtsstudien. 


305 


Wenn ein Ungläubiger ein Stück Vieh von einem Landmann 
stiehlt, so wird er mit dem Verluste seines Gesichts und 
einer Hand bestraft, ins Ausland verbannt und seine Familie nebst 
seinem Vermögen der Krone übergeben. 

Macht sich ein Christ dieses Verbrechens schuldig, so wird ihm 
die gestohlene Sache abgenommen, sein Vermögen konfisziert, seine 
Familie aber freigelassen. 

Wenn ein Ungläubiger einen Christen vorsätzlich erschlägt, so 
muß er hingerichtet werden; war der Mord nicht prämeditiert, so 
wird ihm der rechte Arm abgehauen und er zahlt eine Entschädigung. 
Übrigens kann für den Mord eines „guten Menschen“ keine Ent¬ 
schädigung festgestellt werden, „denn er ist das Geschöpf und das 
Ebenbild Gottes“. 

Wenn ein Christ einen Ungläubigen vorsätzlich erschlägt, so 
zahlte 122 Goldstücke; geschah es unvorsätzlich, 61 Goldstücke, von 
welcher Summe der dritte Teil den Verwandten des Erschlagenen 
zufällt. 

Wenn aber ein Christ einen andern Christen erschlägt, so hat er 
eine Entschädigung zum Vorteil der Anverwandten des Ermordeten 
zu zahlen und wird außerdem mit einer seinem Stande angemessenen 
Geldbuße belegt. 

Zwar sollte ein Mörder nach dem Gesetze selbst wieder mit dem 
Tode bestraft werden, aber haut man ihm einen Arm ab, so hat er 
noch Zeit zur Reue. 

Ist ein Mörder nicht imstande, eine Entschädigung zu zahlen, 
so wird er nebst seiner ganzen Familie zum Vorteil der Anverwandten 
des Erschlagenen verkauft. 

Für einen nicht prämeditierten Mord erfolgt nur die Hälfte der 
gewöhnlichen Entschädigung zum Vorteil der Verwandten, außerdem 
zahlt der Mörder eine Geldstrafe, Leibesstrafe aber bekommt er nicht. 

Wer aus eigenem Antriebe zur Ausführung eines Diebstahls 
schreitet und dabei erschlagen wird, der ist für sich selbst verant¬ 
wortlich. 

Ein Kopfgeld kann von Ungläubigen, nicht aber von Christen 
eingetrieben werden. 

Wer seine Frau wegen Ehebruch tötet, hat es vor Gericht zu 
verantworten, „denn wegen Ehebruch befiehlt Gott, sich zu scheiden,, 
aber nicht einen Mord zu begehen“. 

Wenn aber eine Frau ihren Mann durch Gift oder auf irgend 
eine andere Art tötet, so hat sie in diesem und im künftigen Leben 
dafür zu büßen. 


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306 


XIV. Ladislaus v. Thöt 


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Wer das Haus eines andern vorsätzlich anzündet und dabei be¬ 
troffen wird, der wird ebenfalls verbrannt. Wird er von dieser Strafe 
verschont, so haut man ihm eine Hand ab und er zahlt die Hälfte 
des durch den Brand verursachten Schadens. Erläßt man ihm auch 
das Abbauen der Hand, so muß er den ganzen Schaden ersetzen. 

Wenn Vieh bei dieser Gelegenheit umkommt, so hat er das Vier¬ 
fache, für Getreide und Heu das Doppelte zu ersetzen, desgleichen 
auch für Kleidungsstücke und andere Sachen, jedoch muß dabei das 
Vermögen des Angeklagten berücksichtigt werden. 

Wenn ein Weltlicher oder Geistlicher einen Toten bestiehlt und 
im Betretungsfalle seine Tat nicht eingesteht, so ist er mit dem Tode 
zu bestrafen. 

Gesteht er aber sein Verbrechen, so wird er nicht der Todesstrafe 
unterworfen, sondern nur von der Kirche ausgeschlossen und zu einer 
lebenslänglichen Kirchenbuße verurteilt. 

Wenn jemand durch ein falsches Zeugnis unschuldig mit dem 
Tode bestraft wird, so muß der Meineidige eine fünfjährige Buße tun 
und ein Jahr Kranke pflegen. 

Wird jemand durch falschen Zeugen nicht zum Tode, sondern 
zu einer Geldstrafe verurteilt und der Meineidige in der Folge ent¬ 
deckt, so muß dieser allen dadurch entstandenen Schaden ersetzen 
und außerdem sich der oben vorgeschriebenen Buße unterwerfen. 


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Zur Verteidigung der Graphologie. 1 ) 

Von 

Frau Magdalena Thumm-Kintzel in Gr.-Lichterfelde. 


Herr Medizinalrat Dr. Näcke hat im „Archiv für Kriminalanthro¬ 
pologie und Kriminalistik“, Band 33 Heft 1 j-i unter dem Titel „Grapho¬ 
logische Randglossen“ eine Reihe von Angriffen gegen die Grapho¬ 
logie veröffentlicht. Da der Herr Verfasser mich persönlich auf forderte, 
event. eine Erwiderung zu schreiben, gibt mir dies eine willkommene 
Gelegenheit zur Antwort. 

Die beiden ersten Punkte des Aufsatzes lassen sich folgender¬ 
maßen zusammenfassen: 

1. „Was ist Charakter, was eine bestimmte Eigenschaft?“ 

2. „Wer kennt den sogen. Charakter eines Nebenmenschen gut 
genug, um ihn mit Sicherheit zeichnen zu können?“ zwei Fragen, die 
von dem Verfasser als unbeantwortbar bezeichnet werden. 

Hierauf sei zunächst gesagt, daß die Fähigkeit, den Charakter 
eines Nebenmenschen zu erkennen, seine Eigenschaften scharf zu 
definieren, dem einen mehr, dem andern weniger gegeben ist, daß 
sie ein Talent ist, etwa wie die Kunst der Diagnostik beim Arzte. 
Der begabte Diagnostiker vermag eine Krankheit zu erkennen, die 
ein weniger begabter nicht sieht. Ebenso vermag ein begabter 
Menschenkenner bestimmte seelische Eigentümlichkeiten zu sehen und 
in Begriffe zu kleiden, wo einem nicht in dieser Richtung Veranlagten 
alles in Nebel zerrinnt Welch gewaltige Arbeit im Erkennen und 
Definieren von menschlichen Eigenschaften schon geleistet wurde, 
dafür haben wir in der Sprache ein unauslöschliches Dokument. 
Welch scharfe Beobachtungsgabe, welch schlagende Begriffsbildung 
gehörte dazu, um z. B. Worte zu formen wie „hochmütig“, „nieder¬ 
geschlagen“, „eigennützig“ 4 „zugeknöpft“, „wankelmütig“, „versteckt“ 
und zahlreiche andere. Aus der Lebendigkeit der Anschauung heraus 

1) Dieser Titel stammt von Unterzeichnetem. Frau Thumm-Kintzel hatte 
ihm die folgende Arbeit mit der Bitte übersandt, ihre Veröffentlichung in diesem 
Archiv bei Herrn Prof. H. Groß zu befürworten, was geschehen ist 

Dr. P. Näcke. 

Archiv für Kriminalanthropologie. 34. Bd. 21 


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308 


XV. Thumm-Kintzel 


wurde hier ein Wort geprägt, das in sich selbst bereits das Bild der 
jeweiligen Eigenschaft uns deutlich vor Augen führt Und was 
unsere Vorväter zu leisten imstande waren, sollte das uns so völlig 
versagt sein, die wir die Früchte ihrer Arbeit in der Sprache in 
Händen haben, die wir soviel reicher ausgestattet sind als jene, die mit 
stammelnden Worten dem Gesehenen, Gefühlten erst Form geben 
mußten? 

Gewiß, sie hatten auch wieder viel vor uns voraus. Der moderne 
Mensch ist im Gegensatz zu seinen einfacheren Vorfahren ein höchst 
kompliziertes Geschöpf, das — oft herausgerissen aus der ihm ange¬ 
messenen Sphäre — die Eigenschaften seines Charakters nicht in 
angeborener Richtung rein und frei entwickeln kann, sondern dessen 
ererbte Eigenschaften durch tausend Dinge in ihrer Entwicklung ge¬ 
hemmt und ihrer Richtung verschoben werden. So finden wir bei 
ihm nur selten klare Farben, reine Töne, sondern meist Mischfarben 
und Übergangstöne, die schwer, zu analysieren sind. Nur müh¬ 
sam lassen sich da oft in dem wirren bunten Knäuel von Eigen¬ 
schaften (an dem nicht zuletzt auch die unnatürlichen Rassenmisebungen 
schuld sind) einzelne Fäden auseinanderhalten und nach Farbe und 
Form sondern. 

Aber doch gibt es auch heut noch Typen, gibt es „eitle Gecken“, 
„Nörgler und Krakehler“, „Schwächlinge“, „Verschwender“, „Egoisten“, 
„Schwindler“, „Leichtfüße“, „Pedanten“ und im Gegensatz zu ihnen 
einfache, friedliche tüchtige, selbstlos-liebevolle, verläßliche, geniale 
Naturen, gibt es Heißblütige und Kaltherzige, Unbesonnene und Be¬ 
sonnene usw. Wir alle kennen Menschen, die bestimmte Eigenschaften 
in ihrem Charakter zu klarster Entfaltung gebracht haben, ja bei denen 
oft bis ins Kleinste hinein alle andern Eigenschaften sich dem Ge¬ 
samtbilde harmonisch angliedern und einen sogenannten Typus bilden. 

Zu solchen Typen gehört z. B. eine große Anzahl der chronischen 
Verbrecher, wie sie von Staatsanwalt Dr. Erich Wulffen in seinem klassi¬ 
schen Werke „Psychologie des Verbrechers“ (Verlag Langenscheidt, 
Groß-Lichterfelde 1908) so anschaulich geschildert wurden. Zu solchen 
Typen gehören ferner viele Geisteskranke, besonders die Paranoiker. 

Wie die handschriftlichen Zeichen instinktiven Täuschens und 
Betrügens bei Fälschern und Hochstaplern, die Zeichen der Habgier 
und Schwäche bei Dieben, die Zeichen für das Gewalttätige, rück¬ 
sichtslos Brutale bei Einbrechern und Raubmördern sich am leichtesten 
erforschen lassen, so ist die Handschrift des Paranoikers mit Größen¬ 
wahn geradezu klassisch für Eitelkeit, Dünkel, Sichselbstanpreisen 
und naiven Egoismus. Nirgends finden wir solche Auswüchse dieser 


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Zur Verteidigung der Graphologie. 


309 


Zeichen wie gerade bei ihm. Und dasselbe gilt für die handschrift¬ 
lichen Zeichen der Rechthaberei, des Streitens und Querulierens beim 
paranoischen Querulanten und für die Zeichen des Ängstlich - Mi߬ 
trauischen, des zaghaften Zauderns beim paranoischen Verfolgungs¬ 
wahn. Und wie die handschriftlichen Züge der Manie und Melan¬ 
cholie die gegensätzliche Stimmungslage so anschaulich zum Ausdruck 
bringen, das ist wohl den meisten Psychiatern bekannt; auch könnte 
man in ähnlicher Weise die Hysterie, die Epilepsie, den Alkoholismus 
und manch andere Erkrankungsformen der Psyche heranziehen. 

Hier also müssen wir mit unseren handschriftlichen Studien ein- 
setzen, an solch klassischen Fällen muß unser Blick sich bilden und 
schärfen und Sicherheit der Diagnose gewinnen. Haben wir uns an 
solchen Typen das Bild einer handschriftlichen Geste scharf eingeprägt, 
dann werden wir es auch in schattenhafterer Form und in Ver¬ 
schmelzung mit andern Gesten der Handschrift wiederzuerkennen 
vermögen und dürfen uns dann auch an kompliziertere Handschriften 
heranwagen. Auch der erfahrene Arzt verzweifelt nicht an der 
Möglichkeit einer Diagnose, wenn die Fülle von oft gegensätzlichen 
Symptomen fast verwirrend erscheint. Auch für ihn ist es oft un- 
gemein schwer, aus einer Komplikation von Symptomen ein reines 
Bild der Krankheit darzustellen, auch er sucht sich zunächst für 
Studienzwecke klassische Fälle, wagt sich dann aber auch an Kom¬ 
plikationen des Krankheitsbildes heran. Genau so verfährt der ver¬ 
nünftige Graphologe. 

Es ist also wohl schwer, aber keineswegs unmöglich, auch einen 
komplizierten Charakter richtig zu erkennen und seine Eigenschaften 
zu definieren. 

So können wir jetzt zu Punkt 3 in den Ausführungen des Herrn 
Medizinalrat Dr. Näcke übergehen. Er lautet: „Die vieldeutige Wurzel 
der meisten sogen. Eigenschaften sind eine dritte kaum zu über¬ 
windende Schwierigkeit für den Graphologen. Ein Zeichen für eine 
bestimmte Eigenschaft zu finden, ginge daher kaum an, es müßten 
eben mehrere Zeichen sein.“ 

In der Tat ist das Bild vieler Eigenschaften ein höchst viel¬ 
farbiges. So kennen wir z. B. schon heute sechs ganz verschiedene 
handschriftliche Zeichen für allerlei Arten der Eitelkeit: als Spiegel¬ 
eitelkeit, als sich überhebender Dünkel, als höhnische Arroganz, als 
sich anpreisende Eigenliebe, als sich zierende Affektiertheit, — und 
viele andere harren noch der Erforschung. Sie alle haben aber zu¬ 
nächst eine Einheit der Form durch das was sie als eitel stempelt, — 
sind anderseits aber differenziert durch ihre Verbindung mit einer 

21 * 


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310 


XV. Thumm-Kintzkl 


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oder mehreren andern Eigenschaften, die die Form des Zeichens — 
diesen Nebeneigenscbaften entsprechend — variiert. Es sind aber 
gerade diese Verknüpfungen, diese vielfach verschlungenen Wurzeln 
der Eigenschaften ein Kriterium für die Zuverlässigkeit des jeweiligen 
Zeichens insofern, als nur das Zeichen sich passend in das Gesamt¬ 
bild einfügt, das wirklich am richtigen Platze steht, wirklich richtig 
gedeutet wurde. Steht es an verkehrter Stelle, so ruft es sogleich 
wildeste Widersprüche hervor. Wie ich an anderer Stelle sagte: 
„Der Komplex der handschriftlichen Zeichen ist wie ein Mosaikbild, 
wo jedes Steinchen durch Besonderheiten der Form oder Farbe auf 
einen bestimmten Platz angewiesen ist, wenn die Harmonie des Ganzen 
gewahrt bleiben soll. Es läßt sich nur dann sinngemäß in das Ge¬ 
samtbild einfügen, wenn es da steht wo es hingehört (d. h. richtig 
gedeutet wurde), steht es dagegen an verkehrter Stelle, so ruft es 
sogleich Reibungen hervor, es entstehen Widersprüche mit andern 
Zeichen, die einen Irrtum verraten.“ 

Ähnlich vielfarbig wie die Eitelkeit ist die Lüge, für die wir 
sieben ganz verschieden zu deutende handschriftliche Zeichen schon 
heute kennen, ferner die Willensschwäche, die intellektuelle Begabung 
usw. Die verschiedenen Wurzeln einer Eigenschaft sind im Schrift¬ 
bilde also ebenso mannigfaltig, lassen sich hier aber festhalten, messen, 
analysieren, — und das ist der große Vorzug der Graphologie. Es 
sei auch hervorgehoben, daß hier die ersten Schritte die schwersten 
waren. Hatte man nur einige wenige handschriftliche Zeichen richtig 
gedeutet, nur wenige Eigenschaften an den rechten Platz gestellt, so 
lassen sich die nachfolgenden sehr viel leichter um sie herum 
gruppieren. 

Das aber kann ich rücksichtslos unterschreiben, daß — wie Herr 
Medizinalrat Dr. Näcke sagt — jeder Graphologe ständig Änderungen 
an seinem System vornehmen, ständig umlemen und weiterforschen 
müßte. Wir sind gewiß hier nur ganz im Anfänge der Forschung 
und werden — wie auch der Mediziner, vor allem der Psychiater — 
niemals ein Ende erreichen. Doch wollen wir zufrieden sein, wenn 
es uns vorläufig gelingt, in großen Strichen die Menschen voneinander 
zu sondern und das zarte, vielverschlungene Gewebe einer mensch¬ 
lichen Seele wenigstens in seinen Grundlinien darstellen zu können. 
Und das vermögen wir schon heute und dieser bescheidene Anfang 
soll uns zu weiterem Forschen ermutigen. 


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XVI. 


Dunkle Linien in der Schrift und verwandte Erscheinungen. 

Von 

A. Delhougne, Mülhausen im Elsaß. 


Mit 4 Abbildungen. 


„Je klarer der Schriftsachverständige sich die Ent¬ 
stehung der Handschrift im einzelnen vorstellen kann, 
desto besser und leichter wird er die willkürlichen und 
unwillkürlichen Schriftveränderungen und deren Ursachen 
herausfinden, m. a. W. die Handschrift analysieren, phy¬ 
siologisch zergliedern und ihre Merkmale (Schrifteigentüm- 
lichkeiten, Schreibgewohnheiten) nachweisen können. Darin 
liegt das ganze Geheimnis der Handschriftenvergleichung“. 

Dr. jur. Hans Schneickert. 


Dieses Geheimnis ein wenig zu lüften ist der Zweck der folgenden 
Zeilen. — Nachdem ich in Band 32 S. 56 ff. eine erste Darstellung 
über Entstehung dunkler Linien in der Schrift gegeben habe, will 
ich dieses Mal die dunklen Linien und die verwandten Dinge etwas 
eingehender besprechen. Dies erscheint um so angezeigter, als manche 
Leser den Wert und die Wichtigkeit dieser Realerscheinungen nicht 
erkannt haben. Es mag dies darauf zurückzuführen sein, daß für 
die Beobachtung dieser Linien wesentliche optische Schwierig¬ 
keiten vorhanden sind. Denn mit dem gewöhnlichen in den opti¬ 
schen Geschäften vorrätigen Lupen material von enormer Größe 
und Glasdicke, das nicht einmal chromatisch korrigiert ist und ge¬ 
waltige Figurenverzerrungen nach den Rändern aufweist, erblickt 
man nur ausnahmsweise eine besonders starke Linie. Auch die Ver¬ 
größerung reicht meist nicht aus. — Mit dem Mikroskope aber 
sind diese leichten, je nach dem Individuum verschiedenen, oft nur 
gering eingeritzten Linien, zumal im dunkeln oder schwarzen Unter¬ 
gründe so wenig wahrzunehmen, wie etwa die Linienbildungen auf 
einem Damasttischtuche, die durch gleichlaufende Kreuzungen und 
Übereinanderschiebungen der Fäden entstehen; unter dem Mikroskope 
sieht man hier nur Gespinstfasern, dort nur Papierfasern und die¬ 
jenigen, welche nicht zu mikroskopieren gewohnt sind, können sich 
vielleicht eine Vorstellung davon machen, wenn sie hören, daß bei 


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312 


XVI. A. Delhoügne 


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Einstellung des Mikroskopes auf die Oberfläche eines Striches 
mit einer modernen Tinte, die von der nachträglichen Oxydation des 
Eisenoxydulsalzes herrührende schwarze, oft bloß schiefergrauschwarze 
Färbung der Papierfasern sichtbar wird; — bei Einstellung auf den 
Rand derselben Linie aber erblickt man zuweilen die zum Auffärben 
benutzten Farbstoffe: (früher Indigo, später Teerfarbstoffe, wie Phenol¬ 
blau u. dergl.). Das Beste, was man sich für die Beobachtung dieser 
Linien wünschen möchte, wären große Lupen mit starker Vergröße¬ 
rung, chromatisch und aplanatisch korrigiert. — Eine ziemlich gute 
Lupe ist schon die sog. Frauenbofersche Lupe, bestehend aus zwei 
plankonvexen Gläsern, wie sie häufig von Rouleauxstechern, Gra¬ 
veuren und Molettestechern benutzt wird. Sie hat eine Apertur bis 
zu 50 mm, aber gewöhnlich nur 4—6fache Vergrößerung. — Von 
Cylinderlupen, Coddington-, Brewster- und ähnlichen Lupen will ich 
gar nicht sprechen; die Konstruktion der besten von ihnen läuft darauf 
hinaus, daß durch Einschnitte rings herum die Randstrahlen abge¬ 
schnitten werden sollen. — Am brauchbarsten habe ich die St ein- 
heilschen aplanatischen Lupen gefunden, die aus einer ungleich¬ 
bikonvexen Crownglaslinse mit zwei angekitteten Flintglasmenisken 
bestehen. Sie haben ein sehr ebenes farbenreines Gesichtsfeld und 
eine gute Korrektion der Bilder. Ich bediene mich solcher aplana- 
tischen Lupen von Ernst Leitz in Wetzlar, die dort zu 10 M. das 
Stück zu haben sind. — Doch bat 


Nr. 

62 

bei 

8i 

mal. 

Vergrößerung 20 

mm 

Gesichtsfeld 

11 

63 

11 

10 

11 

11 

15 

ii 

» 

17 

64 

17 

12 

11 

11 

12 

ii 

11 

11 

65 

11 

16 

11 

71 

10 

V 

ii 

11 

66 

11 

20 

11 

H 

3,5 

11 

11 

71 

67 

11 

30 

11 

11 

2 

11 

11 

11 

68 

11 

40 

11 

11 

1 

11 

11 


Nach den eigenen Angaben des Fabrikanten „eignen sich die 
starken Aplanate Nr. 64—68 nur für Stative mit Zahn und Trieb.“ 
Da aber manche dieser Linien erst bei 16 maliger Vergrößerung 
sichtbar werden (Nr. 65), so wird man begreifen, daß ein im Mikro¬ 
skopieren und Lupieren wenig oder gar nicht geübter Richter, der 
die Erläuterungen des Sachverständigen nachzuprüfen hat, mit so 
kleinen Gläschen wohl gar nichts sehen wird. 

Eine derartig korrigierte Lupe mit wesentlich größerem Ge¬ 
sichtsfelde (als vorher angegeben) herzustellen, ist der Firma Ernst 
Leitz so wenig möglich als derjenigen von Carl Zeiß in Jena 
Letztere Firma liefert aplanatische Lupen nach Steinheil zu 
18 M. das Stück oder als Einschlaglupe zu 21 M. 


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Dunkle Linien in der Schrift und verwandte Erscheinungen. 


313 


Nr. 9 und 10 haben bei 6 mal. Vergrößerung 36 mm Gesichtsfeld 
>» 10 „ 12 „ „ 1 0 „ „ 15 „ „ 

Außerdem liefert Carl Zeiß in Jena noch anastigmatische 
Lupen mit vierlinsiger Konstruktion, die nach Angabe des Fabri¬ 
kanten „selbst bei starken Vergrößerungen noch in allen Teilen eines 
verhältnismäßig großen Sehfeldes eine gute Abbildung geben und dabei 
einen überraschend großen freien Objektabstand besitzen.“ Sie kosten 
22 M., als Einschlaglupe 25 M., als Doppellupe 42—48 M. Es hat 

Nr. 1005 bei 16facher Vergrößerung 10 mm Gesichtsfeld 

,, 1010 ,, 2 0 „ ,, 8 „ ,, 

„ 101 5 „ 2 7 ,, „ 6 >> n 

Verantlupen mit l 2 /s— 3 '/ 2 facher Vergrößerung, Chevalier- oder 
Brückesche Lupen mit Objektiv und Ocular (ähnlich wie holl. Fern¬ 
rohr), ebenso stereoskopische Lupen (zweiäugig) wie die binokulare 
Handlupe nach Eilhard Schultze scheinen mir wegen der geringen 
Vergrößerung (4 mal) und der größeren Belästigung beim Untersuchen 
wenig geeignet. 

Es liegen also bedeutende optische Schwierigkeiten für die Be¬ 
obachtung dieser Linien und das Absuchen ganzer Schriftstücke vor. 
Ich habe selbst „Sachverständige“ gefunden, die behaupteten, sie 
sehen nichts. Anderseits habe ich in bestimmten Fällen meine eigenen 
Beobachtungen durch den im Mikroskopieren sehr erfahrenen Vorsteher 
des städtischen chemischen Untersuchungsamtes zu Mülhausen i. Eis., 
Herrn Dr. Gronover, verifizieren lassen und gerade dieser Herr war 
es, der mich veranlaßte, an Herrn Prof. Dennstedt vom Hambur- 
gischen Staatslaboratorium zu schreiben. 

Wenn ich nun in meiner ersten Darlegung sagte, daß man die 
meisten der hierhin gehörigen Fälle schon bei Verfolgung des Meyer- 
scben Prinzips über Schriftrinne und überstehenden Band hätte auf¬ 
klären können, so ist es andererseits das Verdienst Soenneckens schon 
im Jahre 1881 auf den Gang und die Beobachtung der Federbein¬ 
linien aufmerksam gemacht zu haben. Freilich geschah dies nicht 
in der Absicht Schriftidentifikationen vorzunehmen, sondern lediglich, 
um die Unmöglichkeit darzutun, mit den heute üblichen spitzen 
Schreibfedern die sog. eckigspitzen deutschen Schriftbuchstaben so 
nachzubilden, wie die Kupferstecher und Lithographen im Verein mit 
den Kalligraphen sie vorschrieben. So weist er in seinem Werke: 
„Das deutsche Schriftwesen und die Notwendigkeit seiner Reform“ 
v. Friedr. Sönnecken, Bonn-Berlin 1881 nach, daß die spitzen sog. 
deutschen Schriftfiguren aus der Benutzung abgestumpfter Federn 
ohne Druckanwendung hervorgegangen sind und erläutert dies 


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314 


XVI. A. Delhocune 


auch an vergrößerten Figuren, um die entstehenden „Trugformen“ 
zu zeigen, die sich wirklich spitz nnr mit breitspitzigen Federn 
schreiben lassen. Man vergleiche auf der Soenneckentafel die „Trug- 
formen“ 1—6 mit 7 und 8. 

Es wird sofort ersichtlich, daß die „geschätzten spitzen elastischen 
Scbreibfedem“ an Stelle der spitzen Formen rundliche verlangen. 
Die dabei zutage tretende Beobachtung der Federbahnen, wie über¬ 
haupt der ganzen Schriftzüge ist aber weder von der Didaktik des 
Schreibens noch von der Schriftvergleichung genügend gewürdigt 
worden. Die maßgebenden Pädagogen beschränkten sich meist darauf, 
ihre Schüler verständnislos die eigenen Schriftfiguren schematisch 
nachmalen zu lassen, was teilweise dahin ausartete, selbst ganze Schul¬ 
inspektionsbezirke nur z. B. in Steilschrift unterrichten zu lassen —, 
eine Formensklaverei, die von der Psychologie und der Physiologie 
des Schreibens keine Ahnung hat und nur an die Pedanterie im 
Reiche des Zopfes erinnert. 

Bei der Schriftvergleichung ist die Beobachtung der Federbein¬ 
linien — wenn nicht ganz, so doch teilweise — wahrscheinlich auch 
schon von früheren Sachverständigen geübt worden. Dafür sprechen 
ihre Angaben über den „Federstrich“ seit Raveneau (1656). — 
Wer sich hierfür weiter interessiert, der lese in A. Bertilion, la 
comparaison des Gcritures et l’identification graphique oder die betr. 
deutsche Übersetzung in Dr. jur. Hans Schneickert, Bedeutung 
der Handschrift im Zivil- und Strafrecht S. 123 nach. — Aus dem 
Kapitel (X) geht hervor, daß die Sachverständigen früherer Zeit ebenso 
wie Adolf Henze ihr Geheimnis sorgfältig gehütet haben; ferner, 
daß auch Bertillon sehr wohl die verschiedenen Einflüsse der Körper- 
Arm-, Hand- und Fingerhaltung („ob der Druck vom Zeigefinger 
oder vom Daumen ausgehe“) gekannt hat. — Jedoch blieb es 
Dr. Georg Meyer Vorbehalten, einen entscheidenden Schritt weiter 
zu gehen. 

Das eben erwähnte Werk Soenneckens ist aber noch in anderer 
Hinsicht wichtig. Bei der Aufzählung der Literatur erwähnt er S. 26 
auch Wolfgang Fuggers „Formular manncherley schöner schrieff- 
ten“ vom Jahre 1553. Darin mahnt Fugger auf Bogen c, Blatt II: 

„Merck auch/ das du die federn zwischen den fingern nit hin 
vnn herweltzest/ oder etwan verwendest/ sonder/ wie du sie 
erstmals fassest vnnd aufsetzest/ also füre sie vnuerruckt fort/ dann 
die federn bringts selbst mit sich / wo der Buchstab dick oder dünn 
sein sol.“ — Geht hieraus nicht schon hervor, daß alle Schreiblehrer 
mit ihren allgemeinen und besonderen Vorschriften die Individua- 


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Dunkle Linien in der Schrift und verwandte Erscheinungen. 


315 


lität der persönlichen Eigenart nicht zu unterdrücken im¬ 
stande waren? 




t£rm unA/otßkvnunen, 




c ifcden . 


SomwnCcJ&m.) 


1 - Zu+i*Ji49ve*u)l£A. jEj*L*clMcit . 


Jt. dm RcUijbuccJt . 



jf. Gz€eicA**uifUf€A 


üwi , t+e/cAn. 

AtcAtc *Uc4t+* i 5&rioA** AouUvifr, 

itoUcJU. / c< m . 



Dieses Wälzen und Wenden des Federhalters und die dadurch 
bedingte Registrierung haben wir aber als unbewußtes individuelles 
Merkmal neben anderen Dingen in den späteren Erläuterungen zu 


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bv Google 


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316 


XVI. A. Delhoüokb 


beachten. Da ich seit Fugger keinen Schriftsteller kenne, der dieses 
Drehen und Wälzen erwähnt — wenn man nicht Berdllons „Druck 
vom Zeigefinger oder dem Daumen" dahin auslegen will —, so er¬ 
scheint es doppelt wichtig, einen so alten Gewährsmann anzuführen 
gegenüber solchen, die eine derartige Manipulation der Feder nicht 
beobachtet haben. Ebenso sind auch die Soenneckenschen Demon¬ 
strationsfiguren für den Sachverständigen sehr lehrreich, wenn auch 
im praktischen Schreibgebrauch die Spitzen abgerundete oder abge¬ 
stumpfte Ecken bei der Vergrößerung zeigen. 

Halten wir nun Bundschau im Handschriftenmaterial, so sehen 
wir nach dem Vorgänge der alten Schreiblehrer des 16. und 17. Jahr¬ 
hunderts und ihren Vorschriften zunächst solche Handschriften, die 
dadurch entstehen, daß nur die leiseste Berührung oder minimale An¬ 
näherung an das Papier den Adhäsionstintentropfen geläufig 
weiterführt, ohne die Spur einer Federspaltung sichtbar zu hinter¬ 
lassen. Dies kann sowohl durch breitspitzige Gänse- und Bohrfedem, 
durch ebensolche Stahlfedern (Bundschriftfedern), durch Kugelspitz- 
und ähnliche Federn, wie auch durch gewöhnliche spitze Federn, 
Stylographs, Glasröhrchen, Holzspähne, ja selbst mit der umgekehrten 
Feder geschehen. Eine so entstandene reine Adhäsionsschrift 
ist übrigens selten. Die meisten Handschriften zeigen Druckspuren 
der Feder (Pressionsschrift) in dunkeln Linien und Färbungen 
verschiedenster Art und das trotz aller didaktischen Schulvorschriften 
älterer und neuerer Zeit Wenn es zwar den Pädagogen gelingt nach 
den notwendigen allgemeinen Schulvorschriften eine Durchschnitts¬ 
figur zu erzielen, so sollte doch das Bestreben darauf gerichtet sein, 
mehr eine individuellschöne als eine schablonenmäßig schöne Schrift 
zu erzielen. (Wer sich für wirklich schönes Schreiben interessiert, den 
verweist ich auf Langenbruck: Die Handschrift, Hamburg, L. Voß, 
1895, S. 3, 97 u. s. f.; ebenso auf Preyer, Solange Pellat u. a.) 

Die einfachste Form dunkler Linien sind die Bandlinien oder 
Grenzlinien, welche durch das Eindringen der auseinandergespreizten 
Federbeine in das Papier und das dadurch bedingte stärkere oder 
schwächere Einfärben der Papierfasern am Bande der Schrifbahn ent¬ 
stehen. — Vor allem ist der Auffassung entgegenzutreten, als ob solche 
Einzeichnungen im wesentlichen vom Tintenmaterial abhängig wären. 
Zwar färben klarfließende Tinten vorzugsweise die Fasern, während 
pappige Tinten, Bußtinten, Tusche und dergl. nur an der Papierober¬ 
fläche haften und verhältnismäßig wenig in die Fasern eindringen. 
Aber derartige Einzeichnungen sind in erster Hinsicht durch das schrei¬ 
bende Individuum, sodann auch durch das Schreibinstrument bedingt. 


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Dunkle Linien in der Schrift und verwandte Erscheinungen. 317 

Die echten Randlinien bieten dem Beobachter schon mancherlei 
Verschiedenheiten dar. So geben sich Individualerscheinungen da¬ 



durch kund, daß bei der einen Handschrift der gleichmäßig starke 
Druck auf die beiden Federbeine bei gewöhnlicher Haltung des 
Federhalters gleichstarke Randlinien hervorruft; bei andern 


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XVI. A. Delhougne 


Handschriften zeigt sich ein stärkerer Druck an der rechten oder 
an der linken Seite; bisweilen zeigt er sich anch für ein und das¬ 
selbe Individuum abwechselnd mit Vorwiegen von Rechts- oder 
Linksdruck, welcher von den unbewußten Innervationsbewegungen 
herkommt. 

Für diese Drehbewegung des Federhalters vergleiche man Fug¬ 
gers Schreibvorschrift von 1553 u. a. 

In dieser Gruppe findet der Sachverständige schon viele gute 
Anhaltspunkte, besonders um wirklich oder angeblich ähnliche Schrift¬ 
züge (z. B. von Geschwistern) voneinander zu scheiden. Denn wenn 
wir es im allgemeinen als nicht zu schwer bezeichnen können, die 
Schriftzüge eines anderen figürlich („lithographisch-ähnlich“) nachzu¬ 
malen, so ist es sehr häufig möglich zu konstatieren, daß der Ano¬ 
nymus oder Fälscher nicht auch eine scheinbar so geringfügige Sache, 
wie die Kantenstellung des Federhalters nach rechts oder links, die 
Hand-, Arm- und Körperstellung bei der verschiedenen Winkelhöhe 
und dergl., d. h. überhaupt die plastische Struktur der Schrift richtig 
erfaßt und wiederzugeben vermag. Vielmehr ganz von der Absicht 
befangen, eine äußerliche figürliche Darstellung der betr. Schrift¬ 
vorlage möglichst getreu zustande zu bringen, zeichnet er unwillkür¬ 
lich die weniger augenfälligen Schreibgewohnheiten seiner eigenen 
Handschrift als sichere Identitätsspuren mit hinein. 

Bei der Beobachtung der Randlinien können aber auch optische 
Täuschungen dadurch entstehen, daß man die Tintenanhäufung am 
Rande, besonders rechts und rechtsunten, häufig als Federbeinlinien 
ansieht. Dies kommt daher, weil durch die Tintenfeuchtigkeit sich 
das Papier ausdehnt und durch minimale ^Hebungen innerhalb der 
Schriftbahn die Farbstoffe am Rande abgelagert werden (cfr. Anilin¬ 
tinten mit metallischem Glanz); gleichzeitig setzt das oft hart geleimte 
Papier an der Grenze von Feuchtigkeit und Trockenheit größeren 
Widerstand entgegen, während bei wenig geleimten oder stark sau¬ 
genden Papieren (Fig. 33) die Flüssigkeit über die direkt berührten 
Linien hinausläuft. Diese letztere Erscheinung kommt besonders bei 
Kunstdruckstrich = matt oder halbglanz (Flaschenetikettpapier und 
gewisse Sorten billiger Ansichtspostkarten) vor, wo bei genauer Beob¬ 
achtung die schönsten Kurvengänge der Federbeinlinien beobachtet 
werden können (Fig. 34). Andererseits werden durch pappige Tinten 
oft in der Nähe des gefärbten Randes liegende Federbeinlinien über¬ 
deckt. Aus übertriebener Vorliebe für eine deutlich abstechende sofort 
schwarze Tinte beraubt sich mancher des besten Sicherheitsmittels 
gegen Fälschungen, während unsere modernen Tinten gerade an den 


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Dunkle Linien in der Schrift und verwandte Erscheinungen. 319 

Rißstellen der Federbeinlinien in die Papierfasern eindringen und un¬ 
sichtbare Eisenoxydulsalze ablagern, deren Spuren selbst nach mecha¬ 
nischem Radieren unter Anwendung gewisser Chemikalien oft noch 
entwickelt werden können. 

Man beachte noch die dem Rande meist folgenden Linien mit 
Strichpunkten in Fig. 71, ferner die überstarken Randlinien bei 38 
und 39; Fig. 39 mit starkem Rechtsdruck. 

Eine wichtige Beobachtung ist auch die, daß die an den Haar¬ 
strichstellen liegenden Ereuzungspunkte der Federbein¬ 
linien eben durch das gewohnheitsmäßige Nachlassen des Druckes 
verschwinden, die Pressionsschrift also streckenweise in reine Adhäsions- 
schrift übergeht, wodurch ihre Randzeichnung ins Unbestimmte ver¬ 
wischt erscheint, bis eine neue Druckwelle wieder eine neubeginnende 
Registrierung veranlaßt. — Wo wir also in Schlaufen und Ecken 
Kurvenübergänge der Federbeinlinien ganz oder teilweise eingezeichnet 
finden, auch wo nahestehende Linienteile durch Adhäsion des Tinten¬ 
tropfens und zusammengeflossene Tinte überragt werden (Schlaufen- 
und Eckenverlauf) (Fig. 58), dürfen wir diese Dinge als individuelle 
Zeichen auch in der Schriftanalyse der näheren Beachtnng würdigen. 

Damit kommen wir zu den schwierigsten Erscheinungen dieser 
Art, den eigentlichen dunkeln Linien, den Transversal¬ 
linien. 

Sie entstehen, indem bei relativ niedriger Haltung des Feder¬ 
halters innerhalb der durch den Adhäsionstropfen weitergeführten 
Bahn die Federbeinlinien in die Papieroberfläche Gravuren, Ritzen 
oder auch geradezu Risse einzeichnen. Nach der in Bd. 32 S. 60/61 
vorgenopamenen Einteilung zerfallen die hierhin gehörigen Linien in 
zentripetale und zentrifugale Linien. 

A. Zentripetale Linien zeigen sich nur bei Abstrichen und 
gruppieren sich in 

1. Stellungstransversalen und 

2. Torsionstransversalen. ’ 

Erstere hängen nur vom Projektionswinkel des Federhalters zur 
Papieroberfläche ab und entstehen, sobald dieser Winkel so klein wird, 
daß der Adhäsionstropfen eine andere, größere Bahn beschreibt als 
die Federbeine. — Stellungstransversalen haben daher die 
regelmäßige Federstellung, d. h. mit gleichmäßigem Druck auf beide 
Federbeine, gleichviel ob die Richtung des Federhalters von unten, 
rechtsseitwärts oder auch in allen sonst möglichen Richtungen der 
Schriftrose liegt. Man beachte die Figuren 1—5, wobei der längere 
Pfeil jedesmal die Richtung des Federhalters angibt. Auch wird 
inan bei derartigen Scbreibversucben nicht immer an der sog. Innen- 


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seite, d. b. der schreibenden Hand zugerichtet gerissene Bandlinien 
finden; es kommen mitunter auch ganz glatt verlaufende Schein¬ 
linien vor. 

Sehr ähnlich und leicht mit den vorstehenden zu verwechseln 
sind die Torsionstransversalen mit Kantenstellung der Feder 
nach rechts (Fig. 6, 7, 39) oder nach links (Fig. 8—10). Ent¬ 
sprechend den bei den Bandlinien gemachten Erläuterungen zeichnen 
sie hiernach rechts oder links stärkere Federbeinlinien in die durch 
den Adhäsionstropfen verbreiterte Schriftbähn. Naturgemäß wiegt 
die Drehung nach rechts bei den meisten Individuen vor und die 
Torsionen nach links sind selten. Doch findet man Transversal- 
scbreiber, bei denen man die Bekonstruktion der Zeichen nicht zuwege 
bringt, ohne (wie Fugger klagte) mit dem Federhalter zu drehen 
und zu wälzen. So zeigt der Schreiber der Fig. 42—60, welche den 
Unterschriften einer Person entnommen sind, meistens Bechtsdrehung; 
in den Schlußparaffen aber Linksdrehung, was man an den ent¬ 
sprechend gestellten Möndchen, welche den ungefähren Durchschnitt 
der Feder angeben sollen, ablesen wolle. Zur Bemerkung diene noch, 
daß diese Schlußparaffe relativ viel Ähnlichkeit mit derjenigen in 
Fig. 21 hat; aber die Schreiberin dieser letzten schrieb die in Fig. 16 
bis 21 dargestellten zentrifugalen Spreiztransversalen, von denen 
gleich nachher die Bede sein wird. 

Hier, wie überhaupt bei diesen Beobachtungen gilt die Begel, 
daß der Sachverständige sich in der Analyse mehr von dem Ergebnis 
der praktischen Schreibversuche wie von den theoretischen Erläu¬ 
terungen führen lassen soll. 

B. Zentrifugale Transversalen entstehen durch Spreizen 
der Federbeine nach aufwärts, also mit aufwärtsgleitendem oder 
gespanntem Druck; auch bei i^nen sind Torsionen (entgegen meiner 
ersten Beobachtung) möglich; wir unterscheiden deshalb (wie bei A): 

1. Stellungszentrifugale Linien. 

2. Torsionszentrifugale Linien. 

Man vergleiche zum Unterschiede die Figuren 13—20, 23 u. 26 
mit 24 und 25. Sie unterscheiden sich im wesentlichen durch die 
an gewissen Stellen (ev. auch an anderen Buchstaben) hervortretende 
Begistrierung von Rechts- oder Linksdruck infolge der Kantenstellung 
rai} gleichzeitiger Spreizstellung der Feder. Je nach dem Neigungs¬ 
winkel und dem Schreibmaterial (starksaugendes oder feuchtes Papier) 
können sie eine oder zwei Schriftrinnen zeigen. — Als gemeinsames 
Merkmal kann man beobachten, daß infolge von Automatismus zahl- 


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Dunkle Linien in der Schrift und verwandte Erscheinungen. 


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reiche Transversalanschläge auch in zentripetaler Richtung in ihrem 
Gefolge erscheinen können (man vergl. die Fig. 13, 14, 19, 20; auch 



23—25). Es wird ersichtlich sein, daß sich bei diesen Bewegungs¬ 
erscheinungen ganz andere Individualrekonstruktionen vor dem Auge 
des Sachverständigen ergeben wie unter A. 


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Zu den zentrifugalen Bewegungserscheinuugen gehören 
auch die mehr oder weniger starken Gabelspitzen („Kuhhömchen“) 
an den oberen Teilen mancher Schriftfiguren (Fig. 26—28, 40, 70), 
welche dadurch entstehen, daß bei einer gewissen schon vorhan¬ 
denen oder dort erst eintretenden Spreizstellung der Federbeine 
ein kleiner Stoß nach aufwärts und wieder abwärts geführt wurde, 
ohne den Tintenverlauf zwischen den Spitzen zu bewerkstelligen. 
Dies wird begünstigt, wenn der Tintentropfen eine andere Adhäsion 
von der Feder zum Papier leichter findet, also bei relativ geringem 
Projektionswinkel des Federhalters an der entgegengesetzten Seite. 
Daß hierbei wieder mancherlei Variationen eintreten können, daß 
gleichzeitig auch Transversalbildungen entstehen können, ist klar 
(Fig. 26); ebenso daß dies wieder eine große Ausbeute an Individual¬ 
erscheinungen bietet. — Optische Täuschungen können auch 
hier wieder Vorkommen, wie Fig. 30 dartut. Das betreffende Wort 
hieß „quatre“; es ist klar, daß die äußerliche Ähnlichkeit mit einer 
echten Gabelspitze leicht den Irrtum hervorrufen konnte, daß die 
Schreiberin dieselbe Person sei, welche auf einem zwischen Text und 
Datum freien Zwischenraum einen Zusatz gemacht hatte, in welchem 
mehrere echte Gabelspitzen registriert waren. Das r der ersten Person 
in der nebengestellten Form hat zu seiner Herstellung zwei zentri¬ 
fugale Einzelbewegungen nötig gehabt, die zufällig so nahe 
nebeneinander zu stehen kamen, daß man sie bei flüchtiger Be¬ 
obachtung für eine Gabelung halten könnte; der betr. Fälscher schrieb 
echte Gabelspitzen. — Man sieht hier wiederum, wie wichtig solche 
Bewegungsrekonstruktionen werden können, wenn man von ihnen auf 
das betreffende Individuum schließen soll. Da helfen keine mecha¬ 
nischen Vergleiche mehr. 

Noch interessanter als die gewöhnlichen Gabelspitzen, die sich 
bei i, u und dergl. besonders bemerkbar machen, sind diejenigen mit 
ausgesprochener Kantenstellung nach rechts, wie bei Fig. 40. Die 
Kimme liegt dabei mehr rechts, während bei Fig. 70 neben ganz 
anderen Erscheinungen mehr Linksdruck (wenn auch nicht in so 
starkem Maße wie bei Fig. 40 nach rechts) abzulesen ist 

C. Unechte Transversalen können entstehen, wenn durch 
zufällig anwesenden Schmutz in der Tinte scheinbare Adhäsions¬ 
bahnen weitergeführt werden, innerhalb deren die Federspitzen 
registrieren. Auch von Säure angefressene „ausgeschriebene“ 
Federn können unechte Linien dieser Art hervorrufen. Durch die 
Säure mancher Tinten wird nämlich die meist nur äußerlich ge¬ 
härtete Rinde der Feder weggeätzt und wir haben dann statt der 
federnden Spitzen nur Weichstahl. 


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Dunkle Linien in der Schrift und verwandte Erscheinungen. 323 

Machen wir also bei der Schriftanalyse die Beobachtung, daß 
die Federbeine nicht mehr zusammmengeklappten, sondern wie zwei 
auseinanderstehende Zirkelbeine weitergeführt worden sind, so dürfen 
wir je nach Umständen vermuten, daß mit einer verrosteten, nie ab¬ 
gewischten Feder geschrieben wurde. So fand ich einst in einem 
Gefängnisregister, in dem die Ablieferung gewisser Gegenstände beim 
Eintritt und deren Wiederempfang beim Austritt durch Namensunter¬ 
schrift der Häftlinge bescheinigt war, ganze Seiten mit solch ver¬ 
blüffenden Erscheinungen. Es war klar und meine Erkundigungen 
haben es bestätigt, daß der Gefängniswärter nur selten eine neue 
Feder einsteckte und die einmal in Gebrauch genommene ruhig bin- 
rosten ließ. Solche Linien innerhalb der Schriftbahn sind also 
unechte Transversalen, weil sie mit dem schreibenden 
Individuum selbst nichts zu tun haben. Man kann sie auch zu den 
künstlichen Linien (D) rechnen, jedoch nur, wenn anzunehmen ist, 
daß sie mit Bewußtsein oder Absicht hervorgerufen worden sind. 

Andere unechte Transversallinien sind solche, die durch 
zufälliges Nebeneinandertreten von gepreßtem Auf? und 
Abstrich entstehen. Ein solches Beispiel haben wir in Fig. 22. 
Beim Abstrich kam das linke Federbein genau in die Bahn des 
rechten Federbeins beim Aufstrich; man beachte auch den Einschnitt 
oben am Köpfchen, der hier eine ganz andere Ursache hat, als die 
ähnlichen Einschnitte bei den Soenneckenschen Figuren 2, 3, 4 und t> 
oder den Gabelspitzen Fig. 26—28, 70 u. a. 

D. Als künstliche Linien dieser Art bezeichne ich solche 
die nur vom Schreibmaterial abhängig sind und bei denen man in 
gewissem Sinne auch dessen absichtliche Benutzung voraussetzen 
kann. — Ich erwähne da zuerst Zentrallinien. 

Zentrallinien. Sie entstehen beim gewöhnlichen Schreiben, 
'wenn man statt der zweispitzigen eine dreispitzige Feder nimmt, 
welche wie gewöhnliche zweispitzige drei Spitzen in der einen 
Schreibspitze vereinigt. (Man denke nicht an Rundschriftfedern!) 
Die erste Feder dieser Art, die ich kennen lernte, war John Mitchells 
extra fine 063; ähnlich sind die sog. Notenfedem Nr. 521 und 523 
von Brause & Co. in Iserlohn (Westfalen), die letzte Nr. als Über¬ 
schlagfeder, um größern Vorrat an Tinte zu führen; doch sind 
Brauses Federn nicht so spitz. Bei regelmäßigem Schreiben zeichnet 
das Mittelbein zwischen den beiden Randlinien eine Zentrallinie ein 
(Fig. 31), die ich deshalb so benenne, weil sie bei regelmäßiger 
Federhaltung von rechts und links gleich weit entfernt bleibt. Auf 
glattem satinierten Papier zeichnen sich nun fortlaufende Linien ein; 

Archiv für Kriminalanthropologie. 84. Bd. 22 


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auf leicht gekörntem rauhen Papier entstehen aber Strich- oder Punkt¬ 
reihen (Fig. 41), die, wie ich nachweisen könnte, schon ganz erfahrenen 
Leuten unverständlich blieben, die auch den bei Fig. 42, 43, 59 ein¬ 
gezeichneten (dort wohl nervösen Einflüssen zuzuschreiben!) sehr 
ähnlich sein können. — Dabei ist es nun Aufgabe des Sach¬ 
verständigen unter Beobachtung aller in Betracht kommenden Umstände 
die richtige Diagnose zu stellen; denn der Fall wird nicht ausbleiben, 
in welchem die Fälscher sich darin versuchen werden, die individuell 
vorhandenen Transversalen durch ähnliche Linien künstlich zu er¬ 
setzen; doch hege ich wohl die Hoffnung, daß auch solche Fälle 
zum Schaden der Fälscher genügend aufgeklärt werden können. 

Eine weitere interessante Schreibübung, die man zwar vorab als 
Spielerei bezeichnen kann, weil ich eine direkte praktische Verwertung 
zu eventuellen Fälschungszwecken heute noch nicht voraussehe, ist 
das Schreiben von Doppeltransversalen (Fig. 32). — Sie ent¬ 
stehen, ähnlich wie die einfachen, durch Drehen bei tiefgehaltenem 
Federhalter, indem sich zwei Federbeine der dreispitzigen Feder 
in die vom Adhäsionstropfen gefärbte Tintenbahn eingravieren. 

Zu den künstlichen Linien dieser Art kann man auch die durch 
Schreiben auf Kunstdruckstrichpapier matt oder halbglanz 
rechnen, weil manchmal der Verlauf der Tinte sichtbar wird, also 
kein ganz unfreiwilliges Registrieren entsteht. Die Oberfläche des 
Papiers wird bekanntlich durch die Federbeine abgehobelt, sodaß sich 
bei vorsichtigem Ablöschen die Federfurchen glänzender abheben, 
während rechts und links sowie dazwischen dunklere Färbungen er¬ 
folgen. (Siehe Fig. 34.) Sodann rechne ich hierzu noch das Schreiben 
mit Stylograph8. Preyer sagt zwar in seiner Psychologie des 
Schreibens (S. 21), daß die besonders in England üblichen Glas- 
röhrcben, die mit ihrem kapillaren Ende ohne Druck leicht über 
das Papier gleiten, keine Haar- und Grundstriche liefern; S. 172 sagt' 
er ferner, daß „niemand mit dem Glasröhrchen oder dem stylo- 
graphischen Stifte (Kapillarröhrchen mit Nadel) Grund- und 
Haarstriche richtig verschieden machen kann.“ Trotzdem ist man 
imstande, bei Tiefstellung (niedrigem Projektionswinkel des Stylographs) 
auch bei rundschriftartiger Haltung dunkle Linien in die Schriftbahn 
einzuzeichnen. Bei dieser Haltung zeichnet nämlich das kapillare 
Metallröhrchen in die von der federnden Nadel und dem Adhäsions¬ 
tropfen beschriebene Bahn mittelst des Randes scheinbare Federbein¬ 
spuren ein, die den Nichtwissenden in helle Verzweiflung bringen 
können. So ist Fig, 68 mit Stylograph (niedrig!) geschrieben, Fig. 67 
aber mit gewöhnlicher Feder. — Für die Analyse der Schriftbilder 


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Dunkle Linien in der Schrift und verwandte Erscheinungen. 325 

ist es wichtig zu beachten, daß die Feder hin und wieder auch 
umgekehrt gehalten wird, also wie ein einspitziges Schreib¬ 



instrument wirkt, um z. B. nach dem mechanischen Radieren wenig 
Tinte ins Papier einlaufen zu lassen; es können also gegebenenfalls 
auch Versuche zur Feststellung nach dieser Art in Betracht kommen. — 

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(Von den drei h in Fig. 69 besonders das mittlere.) Endlich ist be¬ 
sonders für anonyme Schreiben die Umbildung derartiger 
Erscheinungen aus Kurrentschrift (Spitzfederschrift) 
z. ß. in Rundfederschrift zu beachten, wobei trotz der 
Schwierigkeiten evidente Individualspuren nachweisbar sein können. — 
(Vergl. Fig. 29, sie war nicht anonym.) 

Besondere Aufmerksamkeit in der Beobachtung ist bei sämt¬ 
lichen Transversalbildungen auch dem Papiermaterial zuzuwenden. 
So ergeben sich auf gerauhtem (nicht satiniertem) Papier statt fort¬ 
laufender Linien Linienreihen (Fig. 41), ähnlich den telegraphischen 
Schriftzeichen, die bei geripptem, tiefgerillten Papier, solchem mit 
Leinen oder Drahtgeflechtpressung wieder entsprechend anders aus- 
fallen können. (Fig. 35 ohne dunkle Linien). Natürlich kommen 
infolge nervöser Einflüsse solche Erscheinungen auch auf satiniertem 
Papier vor. (Fig. 42, 43, 59.) 

Ferner ist für Fälscbungsnachweise zu beachten, daß nicht jedes 
Überfahren eines nassen Striches deutlich die Fließrichtung ablenkt. 
Dies bängt auch von der Intensität und dem Feuchtigkeitsgrade des 
I. und II. Striches ab. So kann man beobachten, daß durch Über¬ 
fahren noch feuchter Linien in kreuzender Richtung die Adhäsions¬ 
tropfen seitwärts auf die angeweichte Bahn des I. Striches ausfließt 
und auch, daß bei Überfahren in der gleichen Richtung oft nur 
Spuren an den Papierrippen Zurückbleiben. Diese Strichlein können 
somit Realbeweise von Übermalen und also in gewissen Fällen 
Fälschungszeichen sein. 

Ein ganz besonderer Wert für die Analyse und den Identitäts¬ 
nachweis kommt auch den meist oberflächlich oder gar nicht be¬ 
achteten Federspaltungen ohne Tintenverlauf zu. Sie ent¬ 
stehen wohl meist bei ausgehender Tinte, können aber auch von 
angerosteten Federn, durch Nichtbeachtung im Dämmerlichte, auch 
durch allzu intensive Beschäftigung mit dem Inhalte des Ge¬ 
schriebenen entstehen. Grade das Letzte gibt ihnen einen psycholo¬ 
gischen Wert, weil wir dann annehmen können, daß keine Scbrift- 
verstellung vorliegt. Aber nicht bloß das gewohnheitsmäßige Ent¬ 
stehen bei gewissen Erregungszuständen ist es, was ^ ihren hohen 
individuellen Wert ausmacht, sondern die Tatsache, daß uns dadurch 
oft die evidenteste Demonstration der Analyse der 
Schriftstruktur für das Auge der Richter (ohne Gläser) ermöglicht 
wird. — Nimmt man bei ihnen noch passende Gläser zu Hilfe, so 
kommen so drastische Fälle vor, daß z. B. bei Linksdruck (auf die 
linke Federkante) das rechte Federbein für das bloße Auge gar nicht 


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Dunkle Linien in der Schrift und verwandte Erscheinungen. 


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sichtbar registriert bat, während bei Benutzung des Glases die feine 
Randlinie sofort wabrgenommen wird. Kann es ein besseres Mittel 
geben um ein hartnäckiges Nichtsehen (-wollen) zum Aufgeben zu 
bringen? — Mit vollem Recht glaubeich daher auch diese unsicht¬ 
bar registrierten Linien zu den dunkeln Linien zählen zu 
dürfen, weil ihre Existenz „in Dunkel gehüllt“ ist 

Auch der in meinem ersten Aufsatz erwähnten Übergänge 
aus Matt- in Vollfärbung und umgekehrt ist hier Erwähnung zu 
tun. Ich sagte dort, daß man bei Verfolgung der Federbahnen 
solche Übergänge auch ohne beginnende Federspaltung oft strich- 
scbarf wahrnehmen könne, ohne eine wesentliche Verbreiterung der 
Schriftbahn zu beobachten. Ähnliche Beobachtungen habe ich in¬ 
zwischen auch bei Rundschrift gemacht. Fig. 37 gibt ein Beispiel 
wieder, wo nur die durch die weiterlaufende Kurve ab- und zu¬ 
nehmende Breitenveränderung wabrzunehmen ist. — Diesen Matt- 
und Vollfärbungen kann aber mitunter ein relativ hoher individueller 
Wert beigemessen werden, wenn das Auftreten dieser Erscheinung 
rhythmisch an derselben Stelle erfolgt. — Dies war bei der 
betr. Schreiberin von Fig. 37 bei jedem S der Fall, das ich auf der 
sehr charakteristischen Postkarte fand. 

Ein anderes rhythmisches Beispiel bieten Fig. 61 —66, von denen 
Fig. 62 die natürliche und Fig. 61 'die entstellte Handschrift eines 
Qolzspalters wiedergibt, der behauptete, nicht schreiben zu können 
und der sich bei der letzten Figur von einem Herrn die Hand führen 
ließ, welcher selbst auf mehreren Textseiten keine einzige Matt¬ 
färbung aufwies. Andere Vergleichsstücke lagen bei der Unter¬ 
suchung nicht vor, und, daß ich mit meiner Behauptung, er sei der 
Schreiber der ersten Unterschrift, recht hatte, zeigte sich sowohl bei 
der Vorlage von Standesamtsurkunden im Verhandlungstermin wie 
auch durch seine völlig unglaubwürdigen Aussagen, z. B. daß er die 
Geburtsurkunden seiner Kinder im Standesamtsregister nicht unter¬ 
schrieben habe. (Nebenbei interessant mag es sein, daß sein Sqhn 
die nervöse Registrierung von Matt- und Vollfärbungen in erhöhtem 
Maße aufwies. — Vererbung unbewußter Schrifteigentümlichkeiten.) — 
Hier war es die rhythmische Übereinstimmung der Mattfärbung zu 
Anfang des B (Fig - 63, 64) und am Aufstrich des 2. t (Fig. 65, 66), 
wenn auch figürliche Veränderungen Vorlagen, die mich wesentlich 
(nicht allein) zu meinem Urteile bestimmten. 

Aber nicht bloß die Rhythmik bei den Matt- und Vollfärbungen 
verdient eine besondere Beachtung, sondern auch die Rhythmik 
der Transversallinien. 


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So konnte ich konstatieren, daß manche Personen nnr bei be¬ 
sondere! Überlegen, eine z. B. nnr im Datum Transversalen schrieb. — 
Bei den Fig. 42—60 war mir in einer Untersuchung die Tatsache 
interessant, daß der Schreiber, welcher eine Unterschrift abgeleugnet 
hatte, den Flammenstrich des J niemals (Fig. 50, 51) den des B 
aber immer mit einer Transversale (oben oder unten) schrieb. 
(Fig. 42, 43, 52, 54, 60.) Ferner hatte er die Gewohnheit entweder 
bloß beim s des Vornamens „Joseph“* und nicht im s des 
Familiennamens eine Transversallinie zu schreiben. Ließ er dagegen 
den Vornamen fort, so fand sich die Transversale regelmäßig im s 
des Familiennamens u. s. f. — Soll man nach einem hier nicht zu 
wiederholenden figürlichen Vergleich mit entsprechender Begründung 
der betr. Veränderungserscheinungen annehmen, daß eine Gegenpartei 
in freier Komposition der Schriftformen so wichtige Re¬ 
gistrierungen, zu deren Feststellung große optische Schwierig¬ 
keiten vorhanden sind, bloß zufällig hineingeschrieben haben 
soll? — An so exakte Zufälle wird man nicht recht glauben, man 
wird vielmehr annehmen müssen, daß tiefer gelegene seelische Ein¬ 
flüsse unbewußt die rhythmisch-automatische Auslösung gewisser 
Muskel-Innervationen veranlassen. — Je mehr man in der Tat diesen 
unbewußten Registrierungen aufmerksam folgt, um so klarer wird 
auch die Bedeutung der seltsam'en Erscheinungen und desto sicherer 
kann man die Prinzipien darauf anwenden, welche man überhaupt 
der Rhythmik menschlicher Individualerscheinungen beimißt. — Mit 
Bezug hierauf gibt Dr. Erwin Axel eine interessante Anregung in 
seiner „Graphologischen Prinzipienlehre“ (Grapholog. Monats¬ 
hefte 1904 S. 21). Er spricht dort von dem gleichen proportionalen 
Größenverhältnisse der Kurz-, Mittel- und Langbuchstaben bei 
Schriften ein- und derselben Person und sagt: „Sie (die Proportionen) 
weisen uns unmittelbar nicht auf die Triebkräfte, sondern auf einen 
individuellen Rhythmus hin, der auch in sonstigen Körper- 
fuqktionen wahrgenommen wird und weit mehr als die Intensitäten 
organisch gebunden scheint“. — S. 22 ibidem: „Wie sehr auch 
bekanntlich der Druck (bei Versuchen mit der Kräpelinschen Schrift¬ 
wage) von Augenhlick zu Augenblick wechselt und gar für ver¬ 
schiedene Schriftstücke zumal sensibler Personen die allerverscbieden- 
sten Durchschnittswerte annimmt, in der Art der gegen das Papier 
gerichteten Bewegung ist gleichwohl und zwar hinsichtlich ihrer un¬ 
bewußten Vibrationen ein individueller Rhythmus anzu* 
treffen, der allem Anschein nach nur wenig variiert.“ — Sodann: 
„Die Graphologie (wir sagen die gerichtliche Schriftvergleichung) 


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Dunkle Linien in der Schrift und verwandte Erscheinungen. 


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sollte sich gewöhnen auf die Analyse der Proportionseigen- 
tümlichkeiten das Hauptgewicht zu legen.“ 

Eine ähnliche Äußerung über rhythmisch-automatische Aus¬ 
lösungen des Nerven- und Muskelapparates gibt J. Depoin, Präsident 
der graphologischen Gesellschaft in Paris, in einem Vortrage über 
„Les obstacles au libre jeu des forces psychiques dans l’Gcriture“ 
(La Graphologie, Mars 1908 Nr. 3 p. 993), wo er sagt, daß im Augenblicke 
des Schreibens ein unbestimmtes Allgemeinwollen unter Zu- 
rückdrängung des sekundären Willens nach bekannten Mustern zu 
schreiben, dem schreibenden Gliede eine Art Zwangsidee auf er¬ 
legt und den Nerven- und Muskelapparat so rhythmisch-auto¬ 
matisch schreiben läßt, wie der Jahrmarktschreier zur Belustigung 
der Jugend mittelst seiner Drähte die Puppen des Kasperltheaters be¬ 
wegt. — Er spricht dann noch von der Notwendigkeit, daß die 
Leitungsdrähte (Nerven), welche diesen Automatismus bedingen, in 
gutem Zustande sein müssen u. s. f. — Wenn wir also das „Gesetz 
rhythmisch-automatischer Proportionen oder tiefergefaßt 
des individuellen Rhythmus“ bei den der Willkürlichkeit ent¬ 
zogenen dem bloßen Auge nur selten wahrnehmbaren und dem 
Schreiber noch seltener zum Bewußtsein kommenden Erschei¬ 
nungen in dunklen Linien, in Matt- und Vollfärbungen und der¬ 
gleichen Tatsachen, zumal bei äußerlich variablen Formen anwenden, 
so ist hiermit auch der wissenschaftliche Beleg für den hohen Wert 
von Identitätsnachweisen auf Grund der Beobachtung: 
rhythmischer Erscheinungen erbracht. 

Zur Vervollständigung der hierhin gehörigen Erscheinungen 
der innern Schriftstruktur gehört auch eine kurze Erwähnung 
der Schrift mit Blei-, Färb- und Kopierstiften u. dergl. — 
Es ist sofort begreiflich, daß sie ein so hochempfindliches Regi¬ 
strierungsmittel wie die spitze (d. h. nicht allzustumpfe) Feder mit 
moderner Tiute nicht darstellen können, weil viele Einzeichnungen, 
welche durch die Feinheit des Muskelgefühls und Muskeldrucks so¬ 
wie die Federspaltung mit den zwei (ev. drei) federnden Spitzen be¬ 
dingt sind, verloren gehen. 

Man beachte, daß die deutsche Postscheckordnung vom 
6. Nov. 1908 mit Ausführungsbestimmungen in anerkennenswerter 
Weise dreimal die Ausfüllung „mit Tinte“ (oder „nur mit Tinte“) 
verlangt und von der Prüfung der Echtheit der Unterschriften 
spricht. — Auch sonst werden Postanweisungen, Einschreib- und 
Wertsendungen mit Aufschriften durch Stift zurückgewiesen, während 
Eintragungen durch Druck oder die Schreibmaschine zugelassen 


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330 


XVI. A. Delhoügne 


sind. — Der Unfug des Unterzeichnens mit Kopierstiften, welcher 
sogar schon bei Bankhäusern vorkommt, sollte Überall zurückgewiesen 
werden. 

Nun hat Busse (Bohn u. Busse, Fall Rothe, Geisterhandschriften 
und Drohbriefe in d. Graphol. Monatsh. 1902 S. 18) den Versuch 
gemacht, Unterschiede von Bleistift strichen mit der rechten und 
linken Hand an Abschrägungen nach rechts und links am Anfänge 
und Ende der Striche festzustellen. — Aber Dr. Georg Meyer hat 
bereits [in Graph. Monatsh. 1904 S. 30, wo auch Beobachtungen über 
rechts- und linkshändige 1 ) Tintenscbrift niedergelegt sind] dieses Zeichen 
als nicht sehr verläßlich erkannt und dies auch begründet — Sonst 
liegen noch vor die Beobachtungen von Prof. Dennstedt und Voigt¬ 
länder in ihrem Nachweis v. Schriftfälschungen, Blut, Sperma u. s. f. — 
Braunschweig bei Friedr. Vieweg u. Sohn 1906 S. 72, wo sie von 
den in der gebrannten Graphitmasse enthaltenen, harten scharfkantigen 
Tonpartikelchen sprechen, welche zur Härtung der Masse dienen und 
beim Schreiben die starkglänzendeu, perlschnurartigen parallelen 
Rillen hervomifen. Dies ist besonders wichtig bei Vermutung von 
Bleipausen, (cfr. ebenda S. 112.) 

Weiche Bleistifte, Bunt-, Fett- und Kopierstifte lassen meist nur 
an den Unebenheiten des Papiers mikroskopische Anhäufungen er¬ 
kennen, die wie bei Kreideschrift auf nichtglatte rauhe Flächen an 
der einen Seite stärker, an der andern aber mehr im Verlauf auf- 
getragen erscheinen. Dies kann bisweilen zur Aufklärung dienen, 
indem die Seite der schroffem Anhäufung die Richtung des Striches 
zur verlaufenden angibt. (Man beachte Schneewehen auf Sturzäckern 
und dergl. Der Vergleich mit Feilenstrich, wo Schrägschnitt ist, 
wäre falsch.) 

Andere Erscheinungen wie dunklere Linien und dergl. kommen 
hier bloß zufällig durch Kantenstellung, Abbrechen oder zufällige 
Materialvetschiedenheiten vor. — Bei Untersuchung von überein¬ 
anderliegenden Bleistiftstrichen behufs Feststellung der früher oder 
später geschriebenen Schriftzüge macht man am besten systematisch 
geordnete Versuche mit verschiedenen ßleistiftnummera und benutzt 
zur vergleichenden Beobachtung das Mikroskop, ähnlich wie bei ent¬ 
sprechenden Fällen für Tinten- oder beiderlei Schrift. — Man beachte 
noch das Schreiben mit Blei- und andern Stiften auf gekörnter Unter¬ 
lage, oder Tuchpressung, wie auch Blei- und Lackmuspapierpausen 

1) Für linkshändige Schrift vergl. noch: Archiv für gerichtliche Schrift¬ 
untersuchungen u. v. G. von Dr. G. Meyer u. Dr. H. Schneickert Heft I S. 60. — 
Leipzig bei Joh. Ambros. Barth 1907. 


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Dunkle Linien in der Schrift und verwandte Erscheinungen. 331 

in sog. Durchschreibebüchern. — Mit der Pinselschrift der Chinesen 
liegt es wohl ähnlich, wie mit unserer Bleistiftschrift, obwohl es auch 
hier nicht ausgeschlossen erscheint, daß man wie bei der Malerei die 
»ureigene Pinselführung des Meisters“ wiederfinden kann. 

Inwieweit nach diesen Darlegungen die moderne Behandlung 
der Schriftexpertise, die von mechanischer Vergleichung lithographischer 
Figuren nach Längen- und Breitenausdehnung weit abweicht, deren 
nutzbare Ergebnisse aber nicht außer Acht läßt, die auch die ernst- - 
zunehmenden Lehren der Graphologie bezüglich gewisser Ver 
änderungserscheinungen in Betracht ziehen muß (ohne auf die spe¬ 
kulativen Ideen derselben zu achten), den Anforderungen der 
Kriminalistik bezüglich der Verwertung der Realien 
— hier zunächst mit Rücksicht auf die innere Schriftstruktur, ge¬ 
gebenenfalls aber auch unter Zuhilfenahme der chemischen und photo¬ 
chemischen Untersuchung — gerecht zu werden vermag, inwieweit 
ihr Weg ein naturwissenschaftlicher ist, inwieweit auch eine 
gewisse Individualrekonstruktion aus den figürlichen Ähn¬ 
lichkeiten und Verschiedenheiten und den ähnlichen oder verschiedenen 
Tatsachen der Bewegungstendenzen in rhythmischer Sta¬ 
bilität möglich erscheint, das muß ich dem Urteil sachverständiger 
Kritiker überlassen. — In jedem Falle ist zu hoffen, daß die Beob¬ 
achtungen der dunkeln Linien und der verwandten Erscheinungen 
noch manche wissenswerte Tatsache zutage fördern wird. 


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XVII. 

Zur forensischen Würdigung der Bissverletzungen. 

Von 

Gerichtsarzt Dr. Marx und Medizinalrat Dr. Pfleger in Berlin. 

(Mit 4 Abbildungen). 

Anf dem großen Übungsplätze der Berliner Garnison, dem Tempel¬ 
hofer Felde, wurde am 7. Januar 1908 die Leiche der 40 Jahre alten 
Antonie G. aufgefunden. Die Leiche lag auf dem Bücken, beide 
Brüste waren von Kleidern entblößt, im Munde der Getöteten stak ein 
schmutziges Tuch, so zwar, daß die Unterlippe über den zahnlosen 
Unterkiefer vollkommen in den Mund hineingelegt war. Das Tuch 
war etwa S cm tief in den Mund eingeführt, die Zungenspitze war 
dadurch nach oben und etwas seitlich nach hinten geschlagen. Die 
Schuhe waren der Getöteten ausgezogen und standen neben der Leiche. 
Geld wurde bei der Getöteten nicht vorgefunden. 

Die Leiche selbst wies folgende wesentliche Veränderungen auf: 
An der linken Halsseite sah man in Kehlkopfhöhe seitlich vor dem 
Kopfnickermuskel eine 12 mm lange, schwach bogenförmige, ober¬ 
flächliche, blaßrote Hauteintrocknung in genau senkrechter Stellung, 
von 1mm Breite; die Konkavität des Bogens sah nach der Mittellinie 
des Halses. Darüber waren noch drei weitere, ähnliche Hautvertrock¬ 
nungen, in schräger Linie bis zum Kinn angeordnet 

Die rechte kleine Schamlippe zeigte oben einen fast unmittelbar 
neben dem Kitzler beginnenden unregelmäßig gestalteten Substanz¬ 
verlust, der in seinem Grunde mit frischem Blut belegt war und beim 
Auseinanderhalten seiner Ränder eine Breite von 3 cm aufwies. 
Samenfäden fanden sich in der Scheide nicht. 

Um zunächst die Ergebnisse der inneren Besichtigung vorweg 
zu nehmen, so zeigten sich die freien Lungenränder gebläht, sämt¬ 
liche Herzhöhlen waren reichlich mit dunklem, flüssigen Blut gefüllt, 
der rechterseits vom Brustbein zum Kehlkopf ziehende Muskel zeigte 
mehrere Blutaustritte, unter der Keblkopfschleimhaut sah man unter¬ 
halb der Stimmbänder zwei Stecknadel kopfgroße Blutaustritte, beide 
obere Schildknorpelhörner waren nahe ihrem Ursprung quer ge¬ 
brochen und an den Bruchrändern mit frischem Blut belegt. 


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Zur forensischen Würdigung der Bißverletzungen. 


333 


Es konnte demnach keinem Zweifel unterliegen, daß der Tod 
der Antonie G. durch Erwürgen erfolgt war, und es war ebensowenig 
zweifelhaft, daß geschlechtliche Motive die Tötung veranlaßt hatten. 

Diese Annahme wurde zur absoluten Gewißheit durch den außer¬ 
ordentlich merkwürdigen Befund an den Brüsten der Getöteten. Die 
Verletzungen, welche sich hier vorfanden, werden am besten durch 
die beigefügten Photographien (Fig. 1 und 2) illustriert. Wir geben 
indessen auch die Beschreibung dieser Verletzungen in dem Wortlaut 
wieder, den wir in das Obduktionsprotokoll diktiert haben. 

„Nach innen von der rechten Brustwarze sieht man an¬ 
nähernd in einer Kreislinie von 4 cm Durchmesser angeordnet 
teils hellrote, teils mehr braunrote oberflächliche Bauteintrock¬ 
nungen. Diese Kreislinie zeigt deutlich, voneinander ge¬ 
schieden, einen oberen und einen unteren Abschnitt, die in 
der Höhe der Brustwarze durch einen etwa l cm großen 
freien Zwischenraum voneinander geschieden sind. 

Während sich die Eintrocknungen der unteren Kreishälfte 
fast ununterbrochen aneinanderschließen, zeigen sich zwischen 
den Eintrocknungen der oberen Kreishälfte Zwischenräume in 
unregelmäßiger Anordnung. 

Die linke Brustwarze zeigt an ihrer Unterseite eine frische 
Blutbetrocknung, nach deren Entfernung man am Ansatz der 
Warze und in der Warze selbst mehrere quergestellte, unregel¬ 
mäßig gestaltete, mit etwas unglatten Rändern versehene, bis 
zu V» cm lange oberflächliche Substanz Verluste sieht. 

Die Oberseite der Warze zeigt ähnlich gestaltete, etwa 
I mm tiefe quergestellte Substanzverluste, die denjenigen an 
der Unterseite der Warze fast zu entsprechen scheinen. 

Von dem oberen Ansatz der Brustwarze laufen senkrecht 
nach oben 6 parallele, bis zu* 6 cm lange, kaum 1 cm breite, 
ganz oberflächliche braunrote Hauteintrocknungen.“ 

Wir waren keinen Augenblick im Zweifel darüber, daß es sich 
hier um nichts anderes handeln konnte als um Verletzungen, die 
durch ein menschliches Gebiß hervorgerufen waren, und bei der 
merkwürdigen Anordnung der Bißspuren mußten wir uns sagen, daß 
sie noch am ehesten zur Entdeckung des Täters führen konnten. 
Wir lösten daher die Brüste der Leiche ab und konservierten sie in 
natürlichen Farben und natürlicher Spannung. 

Es wurde uns nun wehige Tage nach der Tat, die nach dem 
Ergebnis der Ermittelungen zweifellos am Abend des 6. Januar ge¬ 
schehen sein mußte, ein Mann vorgeführt, der der Tat aus hier nicht 


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XVII. Marx und Pfleger 


näher zu erörternden Gründen verdächtig erschien. Auf unsere Ver¬ 
anlassung setzte sich der Vertreter der Staatsanwaltschaft mit dem 
Direktor des zahnärztlichen Instituts der hiesigen Universität, Professor 
Williger, in Verbindung. Dieser nahm von dem Gebiß des Mannes 
einen Gipsabdruck, die danach gefertigten Gipsabgüsse wurden von 
uns gemeinsam nnt Professor Williger mit den Bißspuren an den von 
uns asservierten und konservierten Brüsten verglichen. Das Gebiß 
des Verdächtigten war kräftig entwickelt, wies starke, breite Zähne 



Fig. 1. Rechte Brust. 


auf, es fehlte der linke obere Eckzahn; vom ersten oberen linken 
Backzahn war nur ein Wurzelstumpf vorhanden. Für die Vergleichung 
war die Spur an der rechten Brust der Getöteten am vorteilhaftesten 
zu verwenden, weil hier das ganze Gebiß fast vollkommen zum 
plastischen Abdruck gekommen war. Vor allem waren hier die Zahn¬ 
bögen auf das beste angedeutet. Es erwies sich nun sehr bald, daß 
dieser Mann als Täter nicht in Frage kommen konnte: die Zahnbögen 
in der Bißspur wiesen eine erheblich stärkere Krümmung auf als die 
Zahnbögen des uns vorgeführten Mannes; der in Betracht kommende 


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Zur forensischen Würdigung der Bißverletzungen. 


335 


Schneidezalm aus dem Oberkiefer des Verdächtigten war mehr als 
1 mm breiter als der entsprechende Schneidezahnabdruck in der Bi߬ 
verletzung. Endlich war in der Bißspur eine Schürfung vorhanden, 
der in dem Gebiß des Verdächtigen eine Lücke entsprach. 

Wir gaben darauf in Gemeinschaft mit Professor Williger unser 
Gutachten dahin ab, daß die an den Büsten der Getöteten Vorge¬ 
fundenen Bißspuren unmöglich von dem Gebiß des verdächtigen 
Mannes hervorgerufen sein konnten. 



Fig. 2. Linke Brust. 

Es war in diesem Falle noch ein anderer Umstand nicht ohne 
Interesse. An dem Bock des Verdächtigten ließ sich an der Vorder¬ 
seite Menschenblut nachweisen. Über die Herkunft dieser Flecken 
konnte der Mann keine rechte Auskunft geben. Es meldete sich dann 
die Gattin eines Malers, dem der Verdächtigte Modell gestanden hatte, 
und zwar zu dem Bilde eines Wilddiebes. Der Verdächtigte hatte 
dabei den Körper eines Rehes über den Schultern getragen, bei dieser 
Gelegenheit hatte ihn einer der Hufe des Rehes an der Wange verletzt. 
Blutstropfen aus dieser Verletzung hatten die Flecken auf der vorderen 
Seite des Rockes verursacht. 


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XVII. Marx und Pfleger 


Einige Tage, nachdem der zuerst Verdächtigte aus der Haft ent¬ 
lassen war, wurde uns ein zweiter Mann vorgefübrt, von dessen 
Gebiß wiederum durch Professor Williger ein Gipsabdruck hergestellt 
wurde. Dieses Gebiß zeigte eine ganze Reihe von nicht alltäglichen 
Besonderheiten. Im Oberkiefer fehlte links und rechts der erste 
Mahlzahn. Der zweite rechte Schneidezahn stand gaumenwärts 
zurück, der linke Eckzahn lippenwärts vor. Unten fehlten rechts der 
erste und zweite Mahlzahn, links der erste Mahlzahn. Vom zweiten 
linken Mahlzahn standen nur noch die Wurzeln. Professor Williger 
wies darauf hin, daß der Biß dieses Mannes gewisse Eigenarten habe, 
er benutzte beim Beißen und Kauen mehr als gewöhnlich die Schneide¬ 
zähne, infolgedessen waren die Schneidezähne breit abgeschliffen und 
besonders die Kanten der oberen Schneidezähne sehr scharf ausgeprägt. 
Die beigegebenen Figuren 3 und 4 zeigen Photographien der Gips¬ 
abgüsse des Ober- und Unterkiefers. 

Wir versuchten dann wiederum in Gemeinschaft mit Professor 
Williger durch Vergleichung der Gipsabgüsse mit den Bißwunden an 
den Brüsten die Identitätsfrage zu entscheiden und konstatierten als 
das Ergebnis dieses Versuchs folgendes: 

1. Bißwunden an der rechten Brust: 

Die Bögen der Bißverletzungen, oberer wie unterer, ließen 
sich mit den Bögen des Gebisses des Z. (des zweiten Be¬ 
schuldigten) vollkommen zur Deckung bringen. — 

Die Entfernung von der linken äußersten bis zur rechten 
äußersten Verletzung stimmt überein mit der Entfernung der 
in Betracht kommenden Zähne des Unterkiefers voneinander, 
nämlich von der Spitze des ersten linken Prämolarzahnes bis 
zur Kante des rechten Eckzahns, dessen Eindruck, der Stellung 
des Zahnes korrespondierend, etwas aus der Bißreihe herausfällt. 

Ferner entspricht bei richtigem Aufeinanderpassen die 
breite Schürfung in der oberen Bißreihe, nach Breite und 
Lage, der Schneide des linken äußeren Schneidezahnes, der 
durch das Vorspringen des linken Eckzahns besonders wirk¬ 
sam tätig sein konnte. Daneben liegen zwei punktförmige 
Schürfungen, deren Abstände den Spitzenabständen des in 
Betracht kommenden Eckzahnes entsprechen. Unterhalb der 
Warze befindet sich dann noch eine Schürfung, die vom 
zweiten Prämolarzahn gesetzt sein muß, und die von den 
letztgenannten Schürfungen dieselbe Entfernung aufweist, die 
zwischen dem letztgenannten und dem linken oberen Eckzahn 
besteht. 


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Zur forensischen Würdigung der Bißverletzungen. 


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Nach rechts hin ist in der Bißreihe ein freier Zwischen¬ 
raum" deutlich, der sich zwangslos durch das Zurückstehen 
des rechten äußeren Schneidezahnes ergibt. 

2. Bißwunden an der linken Brust: 

Die Bißwunden sind hier durch die Gebißteile vom linken 
Eckzahn bis zum rechten mittleren Schneidezahn des Ober¬ 
kiefers bewirkt. Die 
Entfernungen von 
Bißwunden und Zäh¬ 
nen stimmen jeweils 
überein. Insbeson¬ 
dere besteht die Über¬ 
einstimmung zwi¬ 
schen ider scharf be¬ 
grenzten Schürfung 
und der Schneiden¬ 
breite des oberen 
linken (mittleren) 

Schneidezahns. 

Nach alledem 
gaben wir unser Gut¬ 
achten dahin ab: 

Es sprichtnichts 
gegen die Annahme, 
daß die Bißwunden 
an den Brüsten der 
G. von dem Gebiß 
des Z. herrühren. 

Die vergleichende 
Untersuchung hat 
vielmehr eine weit¬ 
gehende Überein¬ 
stimmung Zwischen Fig. 3 u. 4. Gipsabdrücke des Gebisses des Täters, 
den Bißwunden an 

den Brüsten der G. und dem mit besonderen Eigentümlichkeiten 
behafteten Gebiß des Beschuldigten ergeben.“ 

Die Messungen wurden mit dem Zirkel vorgenommen. An der 
oberen Bißwunde an der rechten Brust war der Zahnbogen zweimal 
ausgeprägt, weil der Täter hier zunächst zugebissen hatte und dann 
mit den Zähnen nach unten geglitten war. In beide Spurenbögen 
paßte der Gipsabguß des Oberkiefers genau hinein. Infolge des 



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XVII. Marx und Pfleger 


Gleitens der Zähne hatte sich die Breite eines Schneidezahnes voll¬ 
kommen ausgeprägt Nach Lage der Spur konnte hier nur der zweite 
linke obere Schneidezahn in Betracht kommen, und Spur und Kanten¬ 
breite des Zahnes zeigten genau die gleichen Maße. 

Wir konnten nach alledem natürlich oder, besser gesagt, trotzalledem, 
uns nur dahin aussprechen, daß nichts der Annahme entgegenstehe, daß 
die Bißwunden an den Brüsten der Getöteten von dem Gebiß dieses 
zweiten uns vorgeführten Mannes herrttbrten. Es war ja immerhin denk¬ 
bar, daß noch ein zweites ähnliches Gebiß irgendwo auf der Welt existierte. 
Nach Ansicht des Professors Williger waren aber die Besonderheiten 
dieses Gebisses so auffallende und auch seltene, daß etwa nur ein 
Wunder zwei ebenso beschaffene Gebisse in dem Umkreis der als Täter 
in Betracht kommenden Personen nebeneinander hätte schaffen können. 

Es war klar, daß das Ergebnis unserer Untersuchung ein außer¬ 
ordentlich schwerwiegendes Belastungsmoment gegen den Verdächtigten 
abgeben mußte. Aber darüber hinaus lag noch eine Fülle ander¬ 
weitigen Belastungsmaterials vor. Der Verdächtigte, ein gefürchteter 
und berüchtigter Zuhälter, war kurz vor der Tat in der Nähe des 
Tatorts unter verdächtigen Umständen gesehen worden. Er war 
Epileptiker. Kurz vor der Tat hatte-er einer Zeugin gegenüber ge¬ 
droht, er würde „eine Notzucht machen“. Der Versuch, sein Alibi 
zu erweisen, konnte als mißlungen gelten. In den Kreisen der Dirnen 
und Zuhälter war er als „Beißer“ bekannt Man wußte, daß er beim 
Geschlechtsakt sich gern in die Brüste seiner Partnerin festbiß, daß 
er gelegentlich auch in die Geschlechtsteile selbst hineinbiß. Ob die 
Verletzung an der Schamlippe mit den Zähnen oder mit den Fingern 
gemacht war, ließ sich nicht entscheiden, jedenfalls war die ganze 
Tat nach ihrem brutalen Charakter gerade einem Epileptiker von der 
Verkommenheit des Verdächtigten durchaus zuzutrauen. 

Der Angeklagte leugnete die Tat bis zuletzt. Er wurde wegen 
Notzucht mit Todeserfolg zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt und trat 
seine Strafe alsbald an. 

Die ganze Tat, mehr aber noch das Milieu, aus dem die Tat 
gewissermaßen herausgewachsen war, war in kriminalistischer, mehr 
noch in kriminalanthropologischer Beziehung von außerordentlichem 
Interesse. Das Bild, welches die Schwurgerichtsverhandlung von dem 
Treiben der Zuhälter und Dirnen entwarf, war geradezu grotesk und 
erschütternd zugleich. Es würde sich wohl lohnen, bei anderer Ge¬ 
legenheit dieses Bild auszumalen. Hier, wo es nur darauf ankam, 
zu zeigen, wie Bißspuren an einer Ermordeten zur Entdeckung des 
Täters beitrugen, ist nicht der Baum zu weiterer Darstellung. 


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Kleinere Mitteilungen. 


Von Prof. Dr. P. Näcke. 

1 . 

Seltsamer Selbstmordversuch. Dr. East gibt im Journal of Mental 
Science, 1909, S. 324 folgenden merkwürdigen Fall kund. Ein Häuer, 55 Jahre 
alt, füllte sich den Mund mit Schießpulver und brannte es an, um den 
Kopf zu zersprengen. Es mißlang und er ward in die Irrenanstalt gebracht, 
wo er 36 Stunden nach seiner Aufnahme verstarb. Seine Lippen waren 
bei der Aufnahme dick geschwollen und verschorft, die geschwollene Zunge 
füllte fast den ganzen Mund aus, der geschwollene weiche Gaumen verdeckte 
fast ganz den Racheneingang, die Mundschleimhaut war verschorft, mit 
blutigen Stellen. Eis bestand starker Speichelfluß, der aus dem Munde floß, 
die Atmung war behindert, es zeigte sich Husten mit Auswurf von blutigem 
Schleime aus der tracheotomierten Wunde. Patient war erregt, unruhig, 
zeigte aber, daß er die gesprochenen Worte verstand. Er schlief wenig. 
Es waren Anzeichen einer Lungenentzündung da. Patient wurde immer 
schwächer und starb. Bei der Sektion zeigte sich die Mundschleimhaut 
in weitem Umfange ulzeriert, zugleich mit zahlreichen grauen Flecken auf 
Zunge, weichem Gaumen und Rachen. Die Schleimhaut der Epiglottis und 
Umgegend war sehr geschwollen, weshalb man eben die Tracheotomie ge¬ 
macht hatte. Die Lungen waren luftleer, im Zustande der roten Hepa¬ 
tisation, die inneren Organe überhaupt blutüberfüllt und das Blut halb¬ 
flüssig und dunkel, wie bei Vergiftungen. — Das Anfüllen des Mundes 
mit Pulver ist bekanntlich viel seltner, als mit Dynamit. Noch seltner, 
daß der Versuch mißlingt, wie oben, obgleich der Tod doch nach 36 
Stunden infolge von Lungenentzündung erfolgte. Hier wie bei ähnlichen 
Fällen handelt es sich meist um Bergleute oder Steinbrecher. Der Tod 
ist fast ein sicherer. Vor einigen Jahren ereignete sich in Deutschland — wo 
ist mir nicht mehr erinnerlich — der merkwürdige Fall, daß man in einem 
Walde abgerissene Glieder gefunden hatte und weit entfernt davon zer¬ 
sprengte Knochenteile mit weitverspritzter Gehirnmasse. Es fragte sich, ob 
Mord oder Selbstmord. Man fand endlich eine zerrissene Dynamithülse 
mit aufgedrucktem Namen der Fabrik. Damit war der Selbstmord so gut 
wie sicher gestellt. 


2 . 

Resultate der Besserungsanstalten. Vor mir liegt folgende 
Notiz aus dem „Dresdener Anzeiger“ vom 29. Juli 1909: 

„Erziehungsergebnisse in der Besserungsanstalt Bräunsdorf. In einem 
Vortrage über Bilder aus Bräunsdorf und der Fürsorgeerziehung gab der 

Archiv für Kriminalanthropologie. 34. Bd. 23 


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Kleinere Mitteilungen. 


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Bräunsdorfer Anstaltsgeistliche, Herr Pastor Guderlev, folgende sehr be¬ 
merkenswerte Zahlen bekannt: Unter den wegen Verwahrlosung nach 
Bräunsdorf gebrachten Knaben waren 35 Proz. Söhne von Trinkern. 66 Proz. 
aller Bräunsdorfer Zöglinge haben sich später im Leben gut bewährt und 
sind als gebessert zu betrachten; von den übrigen sind 10 Proz. psycho¬ 
pathisch minderwertig und nur 20 Proz. sind rückfällig geworden, aber nicht 
so schlecht wie früher. Je früher ein sittlich gefährdetes Kind nach 
Bräunsdorf kommt, um bo größer seien die Besserungserfolge.“ 

Das klingt ja sehr einladend, scheint mir aber doch entschieden 
optimistisch gefärbt zu sein. Die meisten Autoren sind ja wohl jetzt der 
Ansicht, daß diese Besserungsanstalten mehr Brutanstalten für 
künftige Verbrecher sind, was nicht schwer einzusehen ist. Die 
Kinder entstammen meist dem traurigsten Milieu, sind sehr oft, viel¬ 
leicht sogar meist Nachkommen von Säufern, Verbrechern oder Minder¬ 
wertigen aller Art ohne richtige Zucht aufgewachsen, zum großen Teile 
mit bösen, ungezähmten Trieben behaftet. Sie werden nun in Besserungs¬ 
anstalten gesperrt, wo gleiche Elemente Zusammenkommen. Glaubt man 
wirklich, daß hier viel Erfreuliches zu erzielen sein wird? Wer noch nicht 
ganz verdorben ist, wird es hier nur zu leicht und die äußere, strenge 
Zucht der Anstalt verdeckt meist nur den Morast. Obige Resultate der 
Anstalt in Bräunsdorf (bei Freiberg in Sachsen) sind daher wohl mit einem 
Fragezeichen zu versehen. Man muß erst 10, 20 Jahre warten, ehe man 
halbwegs von Resultaten sprechen kann. Über Psychopathen kann nur 
ein Arzt, speziell der Psychiater urteilen. Wenn bloße Verwahrlosung vor¬ 
liegt, mag die Anstalt gut sein. Leider ist dies gewiß nur selten der Fall. 
Wenn die amerikanischen Reformatories im allgemeinen bessere Resultate 
erzielen als unsere Anstalten, so mag das Material ein anderes sein, vor 
allem aber die ganze Erziehung. Übrigens werden ihre vortrefflichen Re¬ 
sultate in Amerika selbst zum Teil angezweifelt. Mit den Besserungs¬ 
anstalten mag es sich bei uns wie mit den Heimen für gefallene Mädchen 
verhalten, die in theologischer Beleuchtung wunderbare Erfolge haben, in 
praxi aber das aufgewendete Geld kaum verlohnen. Für die meist schon 
verdorbenen Kinder, wie sie in die Anstalten in der Regel kommen, 
wäre die Erziehung in einer braven Familie das Beste, die freilich schwer 
zu finden ist. Sonst werden die Erziehungsresultate in den 
Besserungsanstalten hauptsächlich von der Art des Mate¬ 
rials abhängen, viel weniger von der Erziehung, so mächtig 
ist in diesen Fällen oft das angeborene Element. Und ob bloße Ver¬ 
wahrlosung vorliegt — die allerdings günstigste Bedingung für eine er¬ 
folgreiche Behandlung — das kann eigentlich nur der Arzt entscheiden 
und dann auch bloß nach genauer, besondere psychiatrischer Untersuchung 
und eingehender Erhebung der Anamnese. 


3. 

Unempfindlichkeit durch Suggestion oder Ekstase. Ich 
habe schon früher einmal geschrieben, daß es merkwürdig ist, wie die 
weniger entwickelten Völker oft große Schmerzen ertragen können, aber 
auch höher gebildete, wie die Chinesen. Im ersteren Falle könnte man wohl 
annehmen, daß die Psyche im allgemeinen weniger entwickelt ist, also auch 


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Kleinere Mitteilungen. 


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weniger fühlt. Die Suggestion durch Nachahmung, Tradition, weil es z. B. 
als unehrenhaft gilt, Schmerz zu äußern, dürfte seltner der Grund dafür 
sein. Merkwürdig ist das große Ertragen von Schmerz bei den Chinesen, 
wo kaum von Suggestion die Rede und die Rasse im ganzen ziemlich 
feig ist. Die Verbrecher lassen sich ruhig hinschlachten, obgleich die besser 
Situierten ihren Henkern durch ihre Verwandten Geld geben lassen, um 
Opiuradosen vorher zu erhalten und dadurch quasi hinüberzuschlummern. 
Ja Mattignon, der die Chinesen genau kennt, wollte sie deshalb geradezu 
alle als hysterisch bezeichnen, was sicher viel zu weit gegangen ist. Die 
Unempfindlichkeit vieler Verbrecher, die Lombroso fälschlicherweise als so 
charakteristisch hinstellt, beruht offenbar auch meist auf geringer Empfind¬ 
lichkeit dem Schmerze gegenüber, wie ja unsre untern Stände oft genug dies 
zeigen, was also nicht etwa als starker Wille angeführt werden kann. Be¬ 
kannt ist ferner, daß die Hexen im Mittelalter oft die furchtbarsten Martern 
ohne Murren aushielten. Teils liegt dann auch die obige Erklärung nahe, 
zumal sie sich meist aus den unteren Schichten rekrutierten, teils mag 
vielleicht hin und wieder durch Einreiben einer anästhesierenden „Hexensalbe“ 
die Empfindlichkeit abgestumpft sein. Manche waren ferner sicher hysterisch 
und so analgetisch. Auch spielt die Suggestion wohl in gewissen Fällen mit, 
obgleich Stoll l 2 ) sie gewiß viel zu weit ausdehnt. Schon Graf Spee in 
seiner Contio criminalis (Stoll S. 425) will nicht an die von den Hexen¬ 
richtern behauptete Anästhesie und Analgesie glauben, was freilich wieder 
über das Ziel hinausschießt. Gewöhnlich ging es so zu, daß die Hexen 
anfangs Schmerz empfanden, bald aber dagegen sich abgestumpft zeigten. 
Reizung der Nerven erzeugt erst Schmerz, Überreizung dann Lähmung und Be¬ 
wußtlosigkeit, also Gefühllosigkeit. Das zeigt sich auch gut beim Knuten 
(Stoll, S. 428). Hier verfallen die Geknuteten oft in Bewußtlosigkeit, da¬ 
mit in Schmerzlosigkeit und ebenso wird es wohl auch bei dem Zuschauer 
gewesen sein, der dann geknutet wurde und das Bewußtsein verlor (Stoll, 
S. 428). Hier brauchen wir kaum Suggestion anzunehmen, die aber in 
andern Fällen vielleicht vorlag. Dagegen liegt letztere Erklärungsweise 
nahe bei den ekstatischen und so unempfindlich gewordenen Menschen, 
z. B. den Konvulsionärinnen (Stoll, S. 496). Hier entsteht die Empfind¬ 
lichkeit nicht durch Überreizung, sondern durch oft — aber nicht immer — 
suggestiv erzeugtes Konzentrieren der Gedanken auf einen kleinen Kreis, 
wodurch die andern Nerven wie gelähmt erscheinen. Man darf also die 
Rolle der Suggestion bei der Anästhesie nicht zu hoch bewerten! 


4. 

Trinken von Blut zum Wahrsagen. Blut ist bekanntlich ein 
besonderer Saft, der zu allerlei abergläubischen Praktiken und Ingredienzen 
in alter und neuer Zeit gebraucht wurde und noch wird. Eine der merkwürdig¬ 
sten geheimen Eigenschaften desselben beruht aber im Wahrsagen nach 
dem Genuß rohen Blutes. Stoll -’) berichtet, daß in Argos im Tempel 

1) Stoll: Suggestion und Hypnotismus in der Völkerpsychologie. Leipzig, 
Veit, 1904. 

2) Stoll: Suggestion und Hypnotismus in der Völkerpsychologie. Leipzig, 
Veit, 1904, p. 305. 

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des Apollo Deiradiotes die wahrsagende Frau durch Trinken von Lamm- 
blut in Ekstase geriet. Im Tempel der Ge Eurysternos in Achaia wurde 
dagegen Blut als Keuschheitsordal bei der Wahl einer Priesterin an¬ 
gewandt. Hier liegt also ein andrer Zweck vor. Was für eine angeb¬ 
liche Macht mag aber wohl dem Blut innegewohnt haben, um solche 
Taten zu vollbringen;'' Ich glaube, das Gemeinsame' liegt hier, wie auch 
vielleicht bei Anwendung desselben in andern abergläubischen Praktiken, 
im Glauben an die animistisebe Belebung des Blutes. Hier war 
allein die Seele oder wenigstens ein Teil derselben, die dann das angeblicheWunder 
verrichtete. Die Ekstase kam wohl so zustande, daß die Priesterin in dem 
(»tauben an diese Wunderkraft sich berauschend, — wahrscheinlich aber 
noch unter Mithilfe verschiedener anderer Umstände — in Verzückung 
geriet und dann „in Zungen sprach“, d. h. in abgerissenen Worten, die 
von dritter Seite gedeutet wurden. Beim Ordal wurde die Blutseele quasi 
zum Richter, wie eine Gottheit angerufen und der tiefe Glaube daran ließ 
meist die Wahrheit sagen. Diese animistische Seite des Blutes sehen wir 
auch bei manchen Naturvölkern, die teils das Blut des Feindes trinken, 
teils gewisse Organe desselben verzehren, um die Seele des Getöteten in 
sich aufzunehmen und so noch stärker, tapferer etc. zu werden. 


5 . 

Über Echopathie. Unter diesem Namen versteht Stoll ’) die 
Eigenschaft meist Nervöser, daß sie nicht bloß Schmerzen anderer an ihren 
eigenen Gliedern durch Autosuggestion empfinden, „sondern daß auch ent¬ 
sprechende objektiv wahrnehmbare Veränderungen an ihrem Körper auf- 
treten und zwar wiederum hauptsächlich im Bereiche des Gefäßsystems“. 
Er bringt nun einen prägnanten Fall, wo die Betreffende eine Frau antraf, 
die über heftigen Schmerz in der Achsel klagte; sie bedauerte dieselbe und 
bald darnach empfand sie gleichen Schmerz an gleicher Stelle. Dieselbe 
Person bekam auch Warzen an der Hand, sobald eine damit behaftete 
Hand sie nur berührte! Der Pfarrer soll gesagt haben, sie sei völlig ge¬ 
sund gewesen. Ich glaube es nicht. Wenn die Tatsachen wirklich wahr 
sind — ich müßte sie erst gesehen oder durch einen Arzt attestiert haben — 
so handelt es sich wohl nur um eine Hysterische. Sonst kenne ich augen¬ 
blicklich keinen hierhergehörigen Fall. Etwas anders steht es mit der „ein¬ 
gebildeten Schwangerschaft“, die wohl hauptsächlich bei hysterischen 
Frauen vorkommt, aber bisweilen auch bei anscheinend gesunden 
Männern. So kenne ich einen sehr kräftigen jüngeren Pfarrer, der 
allerdings durch Überarbeitung nervös ward, welcher bei der Schwan¬ 
gerschaft seiner Frau jedesmal Heißhunger, Übelkeit etc., kurz die 
inolimena der Schwängern aufweist. Dieses durch Autosuggestion auf dem 
Wege des Mitleids. Mit den sog. Stigmatisationen steht es wohl ähnlich. 
Die meisten Stigmatisierten waren Hysterische, andere einfache Betrüger. 
Ob wirklich durch ekstatische Versenkung in die Leiden Christi die Blut¬ 
stellen Christi auf autosuggestivem Wege entstehen können, wird von vielen, 
und wohl mit Recht, bezweifelt. Immerhin wäre es nicht ganz unmöglich. 

1) Stoll: Suggestion und Hypnotismus in der Völkerpsychologie. Leipzig. 
Veit, 1904, p. 525. 


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Auffallend ist nur, und das spricht sehr gegen die Möglichkeit, der Um¬ 
stand, daß aus neuer Zeit bei scharfer ärztlicher Untersuchung etc. solche 
Fälle nie wieder vorkamen und schwerlich wieder kommen werden. Blut¬ 
schwitzen, aber nicht an den Stellen von Christi Malen, könnte wohl ein¬ 
mal Vorkommen, doch schwerlich durch Autosuggestion. Es soll dies öfter 
bei Geisteskranken zu beobachten sein. Ich habe das nur ein einziges 
mal gesehen und zwar bei einem schweren Katatoniker, auf dessen Stirn 
und Gesicht bei zwei Gelegenheiten richtige Blutstropfen aus den Haut¬ 
poren drangen. Dies dauerte einige Tage. Man wird also bei allen Ge¬ 
schichten über Eehopathie sehr skeptisch sein und nur genauen ärztlichen 
Untersuchungen trauen müssen. Wenn sicherlich auch besonders das 
Gefäßsystem durch Auto- und Heterosuggestion unter Umständen zu be¬ 
einflussen ist, so darf man doch nicht zu viel verlangen und wenn es z. B. 
gelungen sein soll die Menstruation durch Suggestion hier und da zu regeln, 
so glaube ich kaum, daß es durch Autosuggestion möglich ist. 


6 . 

Konjekturalethnologie, — anthropologie, überhaupt Kon- 
jekturalwissenschaft. Stoll *) zählt zu der „Konjekturalethnologie“ 
unter anderm auch die Frage nach dem „Ursprung der Familie“. Er hält 
die berühmte „Hordenehe“ (Hetärismus), die Blutsverwandtenehe etc. nicht 
nur für ganz unbewiesen, sondern für sehr unwahrscheinlich. Er scheint 
überhaupt die „Konjekturalethnologie“ für sehr überflüssig zu halten. Was 
nun den Hetärismus anbetrifft, so finde ich diese Hypothese durchaus nicht 
widerlegt, wie ich andernorts 2 ) zeigte. Mag man auch das Menschengeschlecht 
von einem oder, was wahrscheinlicher ist, von mehreren Paaren abstammen, und 
an verschiedenen Orten entstehen lassen, so kommt man, glaube ich, absolut 
nicht um den Hetärismus herum, d. h. also um einen Zustand, wo anfäng¬ 
lich hauptsächlich Blutsverwandte geschlechtlich promiscue verkehrten. Erst 
später kann sich daraus eine Zeit- und noch später eine Art Dauer-Ehe 
ergeben haben. Einen andern Modus kann ich mir gar nicht vorstellen. 
Aber lassen wir diese These, die natürlich nie stricte bewiesen werden 
kann. Es fragt sich, ob es erlaubt ist, in irgend einer Wissenschaft 
noch über die wirklich gegebenen wissenschaftlichen Daten konjektureil 
hinauszugehen, um sich ein Ganzes, eine Entwickelung und eventuell ein 
Weltbild zu konstruieren. Ich glaube es sicher und halte es sogar für 
nötig, daß der Forscher auch über das Gegebene hinausgehe, 
nach dem warum, woher und weshalb frage, aber freilich nie 
das Erdachte als Wirklichkeit hinstelle. Diese Hypostasierung er¬ 
fordert allein schon das Kausalitätsgefühl und kann unter Umständen sogar 
heuristischen Wert erlangen. Ich bedaure bloß die Gelehrten, die z. B. bloß 
darnach fragen, was sie im Mikroskope sehen und für das Transzendentale, 
auch in der Entwickelung, kein Verständnis haben. 


1) Stoll: Suggestion und Hypnotismus in der Völkerpsychologie. Leipzig, 
Veit, 1904, p. 5SO. 

2> Nücke: Die Uranfänge der menschlichen Gesellschaft. Die Umschau, 
1907, 17. Aug. 


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i. 

Heilung der Warzen durch Suggestion. Darüber berichtet 
ausführlich Dr. Stoll 1 ), soweit es die verschiedenartigen abergläubischen 
Praktiken anbetrifft. Auf Seite 547 schreibt er nun abschließend: „Auf 
jeden Fall aber beweist die suggestive Zugänglichkeit eines anscheinend so 
sehr der Peripherie angehörigen Leidens, wie die Warzen, aufs neue den 
intensiven Einfluß, welchen die normale Psyche auf die Vorgänge der 
vegetativen Lebens- und Körpergewebe ausübt.“ Das bestreite ich bis 
auf wissenschaftlichen Gegenbeweis durchaus und kein Chirurg wird 
dies gewiß zugeben. Es handelt sich in allen solchen Fällen von Ver¬ 
sprechungen usw., um reine Koinzidenzen, und Stoll selbst sagt, wie 
häufig diese und andere Vornahmen nicht von Erfolg begleitet sind und 
wie oft gerade das Volk das post hoc ergo propter hoc verwechselt. Jeder, 
der Warzen an den Händen hatte, weiß, daß sie von selbst vergehen. 
Eine Einwirkung der Auto- nnd Heterosuggestion auf das Gefäßsystem ist 
bis zu einem gewissen Grade zuzugeben und sicher gelingt es manchen 
— ich selbst sah einmal solches — stark blutende Wunden durch „Ver¬ 
sprechen“, d. h. also auf autosuggestivem Wege zu stillen. Bei den Warzen 
würde aber eine momentane Blutunterbrechung nichts nützen, nur eine 
länger andauernde Anämie; diese ist jedoch kaum autosuggestiv zu erzeugen 
und anders wäre ein Verschwinden nicht gut denkbar. Es ist bedauerlich, 
daß ein so klarer Kopf, wie Stoll, der außerdem Mediziner ist, solchen 
Aberglauben noch unterstützt. Das einzige Mittel der Vertilgung ist allein 
die Entfernung durch Abbinden, Ätzen, Ausschneiden. Die Ätiologie der 
Warzen ist ganz unklar, doch scheint sie auf irgend einer Infektion zu be¬ 
ruhen, wie allein schon das Ergriffensein einander berührender Stellen der 
Finger an der Innenseite zu beweisen scheint, und das Übertragen durch 
Berührung von einer Person zur anderen. 

8 . 

Echte und falsche Epilepsie. Man weiß, daß es verschiedene 
Zustände gibt, die der Epilepsie gleichen, und daß manchmal sogar der be¬ 
obachtete Anfall nicht ohne weiteres die Diagnose sichert, geschweige denn, 
wenn es sich um berichtete Fälle, namentlich aus der Völkerkunde handelt. 
Stoll-) berichtet, daß zu den Schamanen speziell sehr erregbare, nervöse 
Personen gewählt werden, die „zu epiieptiformen Anfällen geneigt sind oder 
es durch psychische Dressur werden, denn es ist keineswegs gesagt, daß 
es sich dabei stets um mehr oder weniger psychopathisch veranlagte Indi¬ 
viduen handle“. Nun, wenn diese an sich schon „sehr erregbar nervös“ 
sind, so nenne ich sie bereits psychopathisch, erst recht, wenn ja Ekstasen 
und gar epileptoide Anfälle auftreten, wie das ja auch in den verschiedenen 
Konvulsionsepidemien zu beobachten war, namentlich bei Kindern. Das alles 
sind also keine nervengesunde Personen. Bei Erwachsenen dürfte es 
sich sogar meist um Hysterische, latente oder offenkundige Epileptiker 
handeln, bei denen die Ekstase usw. Anlaß zu einem Anfall gibt. W'ie 

!) Stoll: Suggestion und Hypnotismus in der Völkerpsychologie. Leipzig, 
Veit, 1904, p. 543 ss. 

2i Stoll: Suggestion und Hypnotismus in der Völkerpsychologie. Leipzig, 
Veit. 19 o 4 , p. 21. 


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soll man nun einen wirklichen epileptischen Anfall von einem bloßen 
epileptoiden unterscheiden? Man müßte genau die Person und zwar längere 
Zeit hindurch beobachten, was bei geschichtlichen Personen natürlich nicht 
angeht, und von etwaigen Vergiftungserscheinungen absehen, die leicht eine 
Verzückung Vortäuschen. Mohammed wird von den Psychiatern — im 
Gegensatz zu Stoll — meist als Epileptiker angesehen, ebenso scheint 
Pauli Bekehrung ein epileptischer Anfall mit Halluzinationen gewesen zu 
sein. Von den Ekstatischen überhaupt geraten bloß sehr wenige in 
einen epilepsieartigen Anfall, trotz gleicher nervöser Erregung. Das spricht 
doch sehr dafür, daß Ekstatische mit Anfällen wirklich epileptische, resp. 
hysterische Anfälle hatten und nicht bloß epileptoide, besonders wenn sie 
sich öftere wiederholten. 


9. 

Aufhören von Verbrechen durch suggestiv erzeugte Ideale. 
Stoll') beschreibt sehr schön das Milieu, in dem der erste Kreuzzug zustande 
kam. Es heißt dann dort: ..Die allgemeine Gärung nahm alle Geister derart 
in Anspruch, daß selbst der in jenen Zeiten der politischen und öffentlichen 
Unsicherheit so häufige Diebstahl, Straßenraub und Mordbrennerei ohne 
irgend welches Dazutun der Obrigkeit aufhörte. “ Selbst „Diebe und Räuber 
kamen aus ihren Schlupfwinkeln herbei, um ihre Gewalttaten zu beichten 
und zu deren Sühne das Kreuz zu empfangen . . Leider sagt uns Stoll 
nicht, wo es geschah und in welchem Umfange. Ich kenne keinen ähn¬ 
lichen Fall, und selbst die Zeit des größten Enthusiasmus für eine große 
Idee, wie z. B. die der französischen Revolution, der Freiheitskriege, der 
Reformation usw. hat nicht vermocht, die Verbrechen zu verhindern, Ob 
überhaupt Gewohnheitsverbrecher imstande sind wirkliche Ideale so tief zu 
empfinden, daß sie von weiteren Verbrechen ablassen, ist mir mehr als 
fraglich. Viele werden solche Zeiten sogar als gute Gelegenheiten ausnützen. 
Daß dies auch damals sicher nicht andere war, zeigt der Bericht Stolls 
(S. 359), wonach bereits in der Armee Peters des Einsiedlers der Janhagel 
sich sehr ^unbequem breit machte, und in den Rhein- und Moselgegenden 
eine Schar Kreuzfahrer ihr begegnete, die wahre Straßenräuber waren. 
Und später (S. 362) wird berichtet, daß in die Schar des ersten Kinder¬ 
kreuzzuges sich Diebe einschlichen, die die armen Pilger beraubten. Die 
obige Notiz von einem Aufhören der Verbrechen dürfte jedenfalls auf 
keinen Fall der Wirklichkeit entsprechen, selbst wenn ja einige Verbrecher 
von der neuen Idee so begeistert gewesen sein sollten, daß sie von weiteren 
Untaten abstanden oder latente Verbrecher sich ruhig verhielten. Niemand 
hat davon etwas verspürt, daß IS70, wo doch eine nationale Begeisterung 
durch das ganze deutsche Volk ging, die Verbrechen oder nur gewisse 
Arten derselben zessiert hätten; wahrscheinlich haben sie überhaupt nicht 
einmal an Zahl abgenomraen. 

10 . 

Über die „Hörigkeit“. Das Wort ist wohl zuerst von dem be¬ 
kannten Psychiater v. Krafft-Ebing in dem Sinne aufgestellt worden, um das 
abnorm suggestive Abhängigsein des Einen vom Andern zu bezeichnen. In 

1) Stoll: Suggestion und Hypnotismus in der Völkerpsychologie. Leipzig. 
Veit, 1904, p. 3f>s 


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leichtem Grade ist es physiologisch und schon das Verhältnis von Lehrer 
und Schüler könnte oft vielleicht so bezeichnet werden. Doch meint man 
damit offenbar nur die sinnlose Abhängigkeit, die dann zu den abscheu¬ 
lichsten und gefährlichsten Handlungen führen kann. Das wohl sicher 
nur bei psychopathisch Passiven und ein Auswuchs ist hier die erotische 
Ekstase, die wir S. 347 berühren werden. In dem großen Werke von St oll über 
Suggestion und Hypnotismus in der Völkerpsychologie (Leipzig, Veit, 1009) 
finden sich mehrfache Beispiele hierfür, zum Beweise, daß dieser patho¬ 
logische Zustand eine gewisse Rolle spielt, die noch größer wird, wenn 
man auch den Masochismus hinzurechnen will. Das in der Geschichte so 
unheilvoll klingende: „oü est la femme“ ist nur ein anderer Ausdruck für 
die Hörigkeit, die das Band der Liebe, der Sympathie zwischen Mann und 
Frau oder Mann und Mann voraussetzt. So stand z. B. der König Don 
Juan II. von Castilien (1406—54) so unter der Hörigkeit seines „Con- 
destable“ Alvaro de Luna“, daß er sich sogar von ihm vorschreiben ließ, 
wann er seiner Frau oder einer Geliebten beiwohnen sollte oder nicht 
(Stoll, 1. c., S. 391)! Ganz ähnlich — auch in puncto amoris, handelt 
Ludwig IX. gegenüber seiner willensstarken Mutter Bianca von Castilien 
(Stoll, S. 393). Fast immer ist der passive Teil pathologisch weich, oft nervös, 
der andere herrisch, despotisch. Am gräßlichsten zeigt sich die Hörigkeit 
in den sadistisch-masochistischen Handlungen. Nicht immer, aber wohl 
meist, hat die Hörigkeit eine sexuelle Basis und das Verhältnis wird dann 
auch leicht sexuell ausgenutzt. Eine besondere Art der Hörigkeit ist die 
sogenannte „Faszination u , wobei als Hauptsuggestivmittel der Blick die 
unheilvolle Rolle spielt (Prozeß Czinski!). Bei nicht wenigen Verbrechen ist 
die Triebfeder in letzter Instanz in einem Hörigkeitsverhältnisse zu suchen, 
daher ist letzteres forensisch sehr wichtig, und wenn ein solches festgestellt wird, 
hat auch der Psychiater mifzureden, da der passive Teil wohl stets mehr 
oder weniger abnorm ist. Mildere Fälle von Hörigkeit sieht man nicht 
allzuselten bei Eheleuten. So kenne ich z. B. eine junge Frau, die ihre 
Eltern fast völlig vergißt, wenn ihr Mann gegenwärtig ist; sie hängt förm¬ 
lich an seinen Lippen und folgt sklavisch seinen Befehlen. Hier ist Liebe 
und Furcht die Ursache, oft ist es nur das Eine oder Andere. Noch weniger 
ausgeprägt sind die Fälle, wo z. B. für die Ehefrau der Mann die höchste 
Autorität darstellt, und was er sagt und tut, ist recht; die Kritik schweigt 
hier ganz. Ich kenne auch solche Fälle. Die Hörigkeit verlangt fast stets 
einen starken, energischen und einen schwachen, passiven Teil. Ein gut 
Teil masochistischen Empfindens ist dabei gewiß mitwirkend. Auch bei 
Freundschaftsbündnissen sieht man öfter milde Formen von Hörig¬ 
keit. So kenne ich z. B. zwei junge Damen von zirka 20 Jahren. Die 
Eine, sehr energisch, selbstwillig, ist merkwürdigerweise ganz unter dem 
Banne der andern, gehorcht ihr auf das Wort usw. Bei homosexuellen 
Verhältnissen ist dies fast noch häufiger der Fall. Endlich kann es auch 
zwischen Eltern und Kindern, unter Geschwistern und zwischen Lehrer und 
Schüler (Bourgets disciple!) zu einem Hörigkeitsverhältnisse kommen, das 
bis zur pathologischen Grenze gedeihen kann und auf Liebe, Ehrfurcht, 
Autorität, Furcht usw. beruht, oder auf einzelnen dieser Eigenschaften. 


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11 . 

Schwängerung in erotischer Ekstase. Stoll 1 ) macht die 
wichtige Bemerkung, daß es Frauen gäbe, „und ihre Zahl ist vielleicht 
nicht klein“, die durch bloßes Anstreifen mit dem Geliebten, durch 
Händedruck oder Kuß in eine Art von Somnolenz geraten, in eine erotische 
Ekstase, die der Hypnose sehr ähnlich sieht, mit völliger Abulie, in welcher 
sie leicht verführt werden können. „Es ist wahrscheinlich, daß mancher 
von einer unehelichen Konzeption gefolgte Sündenfall in solchen Momenten 
stattgefunden hat“ und dabei können es normale, willenskräftige, 
„wenn auch stark reagierende Naturen“ und ethisch vollwertige sein. Dieser 
Modus, der als der Gipfelpunkt der sogenannten Hörigkeit zu bezeichnen 
wäre, ist also sozial sehr wichtig und den Verführer trifft dann weniger 
Schuld, wenn sich die Frau hingibt, hier freilich auf gewisser pathologischer 
Basis, denn bei absolut gesunden Nerven dürfte Ähnliches kaum passieren, 
außer vielleicht bei langem Brautstande. Solche Fälle können also in den 
besten Familien Vorkommen und bei moralischem Hochstande. Ein ausge¬ 
zeichnetes Beispiel hierfür sehen wir in Anna Karenina, wohl Tolstois 
größtes Werk und ein Seelengemälde von unvergänglicher Schönheit und 
Tragik. Noch akuter sind die Fälle von sogen, „coups de foudre“ von 
Fdrd, wo eine Frau plötzlich einen Fremden sieht, sich sterblich in ihn 
verliebt, ohne, wie im vorigen Falle, ihn näher zu kennen, und 
auch sofort verführt werden könnte. Das ist dann wohl erst recht patho¬ 
logisch. Eine Reihe von Tragödien im Einzel- und im Eheleben hat diese 
erotische Ekstase zum Hintergrund. Es sind dann die „unbegreiflichen“ 
Fälle, die freilich für den Psychologen klar genug sind und die vor allem 
der Jurist kennen muß. Auch in den unteren Schichten mag Ähnliches 
Vorkommen, obgleich gewiß seltener, da der Vorgung schon sehr verfeinerte 
Nerven voraussetzt, die hier gewöhnlich fehlen. Doch kenne ich einen 
solchen Fall bei einem sehr sittlichen Mädchen des Volkes, die am Ende 
ihres etwa 2 jährigen Brautstandes doch ihren erotischen Gefühlen einmal 
zum Opfer fiel. Gefragt, wie sie das nur habe tun können, und ob sie nicht 
etwa verführt worden sei, verneinte sie es und meinte, sie wüßte selbst 
nicht, wie es gekommen sei: „es war ein großes, unaussprechliches gegen¬ 
seitiges Verlangen.“ Es war also eine erotische Ekstase eingetreten, mit 
Wegfall aller sonstigen Hemmungen. 


12 . 

Beiträge zum „Zungenkusse“. Über diese ekelhafte und sexuell 
höchst erregende Art des Kusses habe ich früher schon in diesem Archive 
ziemlich Ausführliches gebracht. Nun lese ich bei Stoll 2 ), daß bei den 
Königsberger „Muckern“ unter dem edlen Pastor Ebel ein Zeremoniell, 
der „Seraphinenkuß“, eine große Rolle spielt, „eine der niedersten Bordell¬ 
praxis entlehnte ars osculandi, die darin bestand, daß sich die Gläubigen 
verschiedenen Geschlechts mit den Zungenspitzen berührten“. Die Erregung 

1) Stoll: Suggestion und Hypnotismus in der Völkerpsychologie. Leipzig, 
Veit, 1904, p. 516. 

2) Stoll: Suggestion und Hypnotismus in der Völkerpsychologie. Leipzig, 
Veit, 1904 p. 505. 


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ist so stark, daß dagegen die zweite Praktik der Mucker, um sieb zi läutern 
und der Heiligkeit entgegenzuführen, nämlich daß in ihren Versammlungen 
Frauen versteckte Reize entblößten, um durch deren häufigen Anblick die 
Männer so sich abhärten zu lassen, daß sie nicht mehr sinnlich erregt 
würden, welche Methode S t o 11 als noch schlimmer als die erste bezeichnet, 
mir noch harmloser erscheint. Jedenfalls verdient Ebel durchaus das 
Epitheton eines „geistlichen Schweinigels“, das ihm Stoll gibt. Er scheint 
es in der Tat usque ad finem amoris haben kommen zu lassen, wie gewiß 
auch in diesem Muckerkreise der Geschlechtsakt oft genug das beabsichtigte 
oder unbeabsichtigte Ziel der Gläubigen gewesen sein mag. Offener trieb 
es allerdings noeh ein anderer wollüstiger Schwärmer, Henry James Prince, 
der (Stoll, 1. c., S. 509) in offener Versammlung seiner Gläubigen ein 
schönes Mädchen deflorierte, als eine gottesdienstliche Handlung! Er hatte 
also seine Gemeinde in eine noch größere Hörigkeit gebracht als der 
famose Ebel! 

13. 

Die Päderastie als Kult- oder Ritualhaudlung. Wie alles 
eigentlich für den Kultus mißbraucht wurde, so geschah es auch mit den 
sexuellen Dingen, wie die alte und neue Zeit hinreichend zeigt. In vielen 
Kulten, besonders aber in den Mysterien, Festen aller Art, ward die Un¬ 
zucht geduldet, ja sogar gefordert. So ist es nicht zu verwundern, daß 
es auch, wenngleich selten genug, mit der Päderastie geschah. Man fand 
im Altertum Spuren davon iu alten Inschriften von Thera'). Einen 
weiteren Beleg bietet der berüchtigte Prozeß gegen die Templer. Es heißt 
dort in dem Geständnisse des Templers Jehan de Cassanhas (Stoll 1 2 ), wo 
der Aufnahmeritus des Näheren beschrieben wird: „Dann überreichte ihm 
der erwähnte Präzeptor einen Leibgurt und erlaubte ihm, wenn sich der 
Stachel des Fleisches bemerklich machte, sich mit den Brüdern fleischlich 
zu vermischen.“ Damit ist gesagt, daß es ihm nur erlaubt sei, daß es 
also nicht gefordert ward, wie die Feinde der Templer sagten. Stoll 
hat nun dafür, glaube ich, eine etwas gesuchte Erklärung. Er hält das 
bloß für einen „Ausfluß des eigentümlichen, inversen Symbolismus, mit dem 
die Phantasie der damaligen Zeit den vermeintlichen Teufelskult ausstattete.“ 
Dieser sollte in allem den christlichen Kult nachahmen, aber verkehrt, so 
z. B. statt des Bruderkusses den Afterkuß, statt des Keuschheitsgelübdes die 
Päderastie usw. Die Aufnahmezeremonie bei den Templern riecht allerdings 
sehr nach Teufelskult. Bei der nahen und langen Berührung mit dem Oriente 
liegt es aber vielleicht näher, anzunehmen, daß die Päderastie absichtlich 
eingeführt ward, da bei andern Teufelskulten dies Moment fehlt. Die reichen 
Templer hatten gewiß in der letzten Zeit dieser sexuellen Aberration gefrönt. 


14. 

Der Afterkuß. Man weiß, daß im Hexenglauben der Teufels- 
sabbath und das Küssen des Afters des Teufels durch die Hexen eine 

1) Näcke: Über Homosexualität in Albanien. Jahrbuch für sexuelle Zwischen¬ 
stufen etc. IX. 190$. 

2) Stoll: Suggestion und Hypnotismus in der Völkerpsychologie. Leipzig, 
Veit, 1904, p :-tS2, HS3. 


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große Rolle spielte, was Stoll auf einen „inversen Symbolismus“ zurück- 
führen will, wo also statt des christlichen Bruderkusses der teuflische After¬ 
kuß als Gegenstück auftritt. Und so sehen wir denselben auch bei den 
Aufnahmezeremonien der Templer figurieren (Stoll ')• Ähnliches findet sich 
aber auch in andern Kulten hie und da, wo vom Teufel nicht die Rede ist. 
Eine andere Erklärung scheint mir dann hier, aber vielleicht auch dort, näher 
zu liegen. Man wollte damit offenbar die größte Demut, Hingabe an das höhere 
Wesen bezeugen, die auch vor dem Ekelhaftesten nicht zurückscheut, es sogar 
als hohe Gnade ansieht. Ähnliche Machinationen kommen ja auch in der 
Bordellpraxis und im sadistisch - masochistischen Verkehre vor. Mancher 
pervers Veranlagte (renifleur) könnte dadurch sogar auch neue sexuelle 
Lust gewinnen auf dem Wege des Geruchs! Interessant ist eine Notiz 
Stolls (S. 304), wonach Origines das Orakel der Pythia einem bösen 
Geist zuschreibt, welcher der Priesterin, wenn sie über der kastalischen Höhle 
sitzt, in den After fährt und sie so anregt! Das war so recht der zelotische 
Geist, der in allem Heidnischen nur Teufelswerk sah Es sollen aus einem 
Felsspalt jener kastalischen Höhle Dämpfe aufgestiegen sein, welche nach 
Stoll (S. 302) die Ekstase der Pythia auslösten, und zwar wirkten sie, wie 
er meint, suggestiv. Wieso suggestiv? Weil es so wirken sollte, wie die 
Reute, also auch die Pythia meinten? Man müßte zunächst an gewisse 
betäubende Dämpfe denken, z. B. von Schwefel oder Kohlensäure, aber 
nach der Aufdeckung von Delphi durch die französischen Archäologen, 
wobei auch, soviel ich weiß, jene kastalische Höhle gefunden ward, ist von 
Dämpfen usw. nicht die Rede. Vielleicht war es aber im Altertume so, 
da die Quellen usw. bisweilen ihre Natur umändern oder mit der Zeit ver- 
siechen. Jedenfalls bietet gerade das Pythiaorakel der interessanten Probleme 
genug dar. 

15 . 

Handlangerdienste der Kirche bei Verschlechterung der 
Rasse. In der Politischen Anthropologischen Revue 1900, S. 23(1, ist 
folgendes zu lesen: „. . . dem Grauenvollen zu steuern, das in der Preis¬ 
gabe gesunder Weiber an hitzige Syphilitiker und Deliranten liegt. Der¬ 
gleichen stempelt Staat, Gesellschaft und Kirche zu Verbrechern, wie ich 
es denn in Niederschlesien erlebt habe, daß die Kirche die Ehe eines 
Idioten mit einem gesunden Weibe segnete und sogar dafür gesorgt hatte, 
daß am Altäre eine Nebenperson erschienen war, die für den zum Sprechen 
unfähigen Bräutigam das „Ja“ zu sagen hatte.“ Eheverbote gibt es da¬ 
gegen bei uns kaum, soweit nicht Entmündigung vorliegt, und sie 
würden, wie ich früher darlegte, auch wenig nützen, da dann doch 
außereheliche Kinder gezeugt würden, was noch schlimmer wäre. 
In solchen eklatanten Fällen, wie oben, sollten aber Kirche und Staat, 
wenn sie auch nicht die Macht haben, die Ehe zu verbieten, sie 
wenigstens durch Vorstellung der damit verknüpften Gefahren zu hindern 
suchen. Die Idioten kommen bei außerehelicher Schwängerung kaum in 
Frage. Solche Heiraten geschehen nur aus selbstsüchtigen Zwecken der An¬ 
gehörigen, oder auch, um die Idioten zu versorgen, wie ich einen Fall 

1 1 Stoll: Suggestion und Hypnotismus in der Völkerpsychologie. Leipzig, 
Veit, 1U04, p >2. 


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kenne. Beides ist natürlich höchst verwerflich. Daß aber auch der gesunde 
Teil der Eheleute ein trauriges Opfer der Ehe wird, ist klar, da von einer 
„inneren Gemeinschaft“ nicht mehr die Rede ist. Ich fürchte jedoch, daß 
es kaum je gelingen wird, das Verantwortlichkeitsgefühl der Menge so zu 
heben, daß sie bei Eheschließung an die Qualität der Nachkommenschaft 
denkt. Dazu ist sie viel zu egoistisch und der Egoismus wird nie auszu¬ 
rotten sein. Und selbst, wenn es gelingen sollte, einige wenige zu be¬ 
kehren, so macht das nicht viel aus. Es bleibt also, meine ich, in solchen 
krassen Fällen nichts weiter übrig, als die obligatorische Kastration 
durch Vasektomie einzuführen. Freilich auch ein Zukunftstraum, aber doch 
ein realisierbarer. Solange das nicht möglich ist, bleibt nichts anderes 
übrig, als solche Idioten, Geisteskranke usw., die in Familien leben, obli¬ 
gatorisch entmündigen zu lassen, um so wenigstens einigermaßen einen 
Riegel vorzuschieben. 

16 . 

Penis-Fraktur als Racheakt. Frakturendes männlichen Gliedes 
sind an sich abnorm selten. Anders scheint es nach einem interessanten 
Berichte von Dr. Lipa Bey 1 ) im Orient, wo eine große libido zu großen 
Exzessen führt und die Erektion durch allerhand innere und äußere Mittel 
befördert wird. Verfasser sagt bez. der libido der Araber in Ägypten im 
allgemeinen: „Das heiße Klima, die geistige Untätigkeit, die Üppigkeit in 
der Nahrung, das Faulenzen der Araber und die Vielweiberei in den musel¬ 
männischen Ländern — alle diese Umstände zusammen erhöhen den 
sexuellen Trieb und Sinn des Orientalen dermaßen, daß schließlich sein 
ganzer Geist nur von dem einen Gedanken beseelt wird, seine geschlecht¬ 
liche Lust soviel wie möglich häufig und gründlich zu befriedigen . . .“ 
Daher die Menge von Aphrodisiaca und besonders erhöht das Haschisch- 
Rauchen, die libido und die Erregbarkeit des Gliedes, was nach ihm die 
große Unzahl der Haschisch-Raucher erklärt. Verf. teilt zunächst zwei 
beobachtete Fälle mit. Interessanter fast ist aber der dritte über den er 
mit folgenden Worten berichtet: 

„Ein dritter mir bekannter Fall von Penis-Fraktur war vor nicht langer 
Zeit in Kairo, ein Racheakt eines jungen türkischen Fräuleins auf Anraten 
ihres eigenen Vaters und Bruders, dem ein gewesener arabischer Polizei¬ 
offizier, ein bekannter, belästigender Don Juan, zum Opfer fiel. Er hatte 
die sonderbare Manie, Liebesbriefe in die geschlossenen Coupes der türkischen 
und arabischen Damen zu werfen, die er beschwor, in seine Garconniere 
zu kommen, um ihnen vertrauliche und sehr wichtige Mitteilungen zu 
machen. Sonderbarerweise gelang ihm dieser Trick in den meisten Fällen, 
da es sich um verheiratete Damen handelte, deren Sucht, „etwas zu er¬ 
leben“, mit dem Besuche in einer Garconniere befriedigt war. Anders war 
es mit diesem keuschen, türkischen Fräulein, die den Brief ihrem Bruder 
übergab, der im Einverständnisse seines Vaters dem Mädchen riet, den 
jungen Don Juan in das Palais zu einer bestimmten Stunde einzuladen 
und im gegebenen Momente ihm seine männliche „Carriere“ zu brechen. 
Die zarte Hand dieser reinen Jungfrau vollbrachte die Justiz, „um ihn für 
andere unschädlich zu machen“, wie sich ihr greiser Vater ausdrtickte und 

1) Arztl. Rundschau, Nr. 30, 1900: Die Penis-Frakturen bei den Arabern. 


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Kleinere Mitteilungen. 


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um sein Mütchen auf unerlaubte Schäferstunden zu kühlen, wie sich das 
Fräulein bei ihrer Einvernahme für ihre Tat entschuldigte. Die Affäre 
dürfte in diesen Tagen ihr gerichtliches Nachspiel finden, sobald der ver¬ 
unglückte Held aus der Spitalsbehandlung entlassen wird. Die Täterin 
wird bloß zu einem Schadenersätze in Geld verurteilt, das durch ihres 
Vaters großen Reichtum keine geringe Summe ausmachen dürfte, wozu 
auch der erschwerende Umstand nach der orientalischen Auffassung sich 
hinzugesellt, daß ein von einer zarten Frauenhand gebrochener Penis fast 
unbezahlbar ist, da er nicht wie ein gebrochenes Herz leicht ausheilt/ 4 

Die kolossale Geilheit der Orientalen ist ja nichts Neues und sicher 
hat ihr die Polygamie Vorschub geleistet. Nicht weniger aber auch das 
Gebot Mohammeds, der den Beischlaf gleichsam als religiösen Kult hin¬ 
stellte, den die Frauen zu fordern haben. Übrigens ist bez. Ägyptens, 
woher der obige Bericht stammt, noch zu erwähnen, daß Araber, resp. 
Türken nur als Fellachen etc. im Delta, in Unterägypten wohnen, kaum 
mehr südwärts. Die große Masse von Fellachen sind eben Nachkommen 
der alten Ägypter, aber auch mohammedanisch. Ob sie bezüglich der libido 
auch so leistungsfähig sind, wie ihre arabischen Brüder, weiß ich nicht, 
doch leisteten bereits die alten Ägypter in Venere ganz Erkleckliches, man 
denke z. B. nur an die Orgien in Bubastis, und so wird es wohl auch 
jetzt noch sein. Aufgefallen ist mir der kolossale Kinderreichtum derselben. 
An unserm mitgeteilten Falle ist aber noch interessant, mit welcher Selbst¬ 
verständlichkeit die keusche, türkische Dame den Brief des Seladons ihrem 
Bruder übergibt und auf dessen und ihres Vaters Rat den Verliebten usque 
ad portas gelangen läßt, um ihm dann in der entscheidenden Sekunde sein 
Glied zu brechen. Für unsere Anschauungen ein etwas sehr ungewöhn¬ 
liches und kurzes Verfahren. Ein solches scheint aber in dem dortigen 
Lande der Verliebten nichts Seltenes zu sein, wie die orientalische Auf¬ 
fassung vom gebrochenen Penis durch zarte Frauenhand beweist. Mir ist 
ein solcher Racheakt aus Europa nicht bekannt und deshalb eben schien 
mir jene Mitteilung erwähnenswert. 

17 . 

Die Entwickelungsfähigkeit der Neger. In diesem Archiv, 
Bd. 33, S. 179 habe ich nicht nur die Verschiedenartigkeit der Neger 
überhaupt betont, sondern auch ihre geistige Inferiorität im allgemeinen. 
Zu diesen Bemerkungen hatte mich ein gedankenreicher Aufsatz der Frau 
Augusta Moreira aus Rio de Janeiro im Globus inspiriert. Ich konnte ihr 
nicht in allem beitreten und führte dies weiter aus. Auf diese Mitteilung 
hin hat mir nun Frau Moreira kurz darauf erwidert und sucht ihren Stand¬ 
punkt ausführlicher zu begünden. Da es sich hier um eine wichtige psycho¬ 
logische Frage, insbesondere auch für uns, die wir nun Kolonien haben, 
handelt, so glaube ich, die Hauptstellen aus dem bedeutenden Briefe dieser 
Dame hier wiederholen zu dürfen, in der Annahme, daß auch dieser da¬ 
mit ein Dienst geleistet wird, wenn ihre jedenfalls aus langjähriger Er¬ 
fahrung und scharfer Beobachtung gewonnenen Eindrücke hiermit bekannt 
werden! ') 

1) Ich habe am Stil und an den Ausdrücken nichts geändert und nur die 
neuere Orthographie beobachtet. Die Dame schreibt im ganzen ein flottes Deutsch. 


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Kleinere Mitteilungen. 


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„. . . Sie meinen, daß die Neger es niemals bis zur Höhe der Euro¬ 
päer bringen. Ich glaube, daß dies aucli so sein wird, weil zu erwarten 
ist, daß die Europäer in ihrem Progreß nicht stehen bleiben werden, auf 
die Neger wartend .... Daß der Fortschritt nicht nur von der Rasse 
abhängt, beweist die Tatsache, daß 2 Völker derselben Rasse, eines von 
ihnen fortschreitet und das andere nicht, oder eines auf eine Weise und 
das andere auf ganz andere Weise progressiert. So z. B. der Engländer, 
obgleich theoretisch germanisch schritt fort und erlangte einen sehr ver¬ 
schiedenen Grad der Zivilisation als der Deutsche, Däne, Holländer, Flam- 
menge oder Schwede. Außerdem müssen wir noch mit einer Reihe von 
oft sehr unvermuteten Umständen rechnen, welche ein Volk schnell empor¬ 
heben. So z. B. gab der Krieg mit Transvaal, welcher England verpflichtete, 
große Einkäufe von Tieren und Wolle in Argentinien zu machen, dieser 
großen südamerikanischen Republik einen großen ökonomischen und kon¬ 
sekutiven Impuls nnd diente zur Ausnützung der öffentlichen Instruktion 
und zum Wohle des Volkes. . . . Ich glaube also viel mehr an den 
Wert des Volksfaktors als an den Rassenfaktor selbst, weil die Völker 
schon so sehr gemischt sind, daß es nicht möglich ist, sie als eine ver¬ 
schiedene Gruppe anzusehen. Die Frage der möglichen Gehirnentwicklung 
der Neger kann in Afrika nicht so gut studiert werden wie hier in Bra¬ 
silien. Hier hat man niemals das Aufhalten dieser Entwickelung im 1-1. 
Lebensjahre beobachtet. Wir haben hier schwarze Advokaten, Ärzte, Inge¬ 
nieure, Lehrer etc., welche dieses Alter passierend in der Schule bleibend, 
die Schwierigkeiten des Studiums auf Seite der Weißen besiegten ünd in 
der Gesellschaft gute Stellungen erreichten, trotz der unzähligen Schwierig¬ 
keiten, welche sie auf ihrem Wege betreffs des Vorurteils der Farbe be¬ 
gegneten. Dieses Prinzip des Aufenthaltes der mentalen Entwickelung im 
14. Jahre ist nur eine Legende, welche sich von Buch zu Buch verbreitet 
hat, ohne ein gründliches Examen. Eis gibt solche Fälle bei Negern wie 
bei Weißen und hat Juliano ') gefunden, daß dies sehr oft nur Fälle 
leichter Form der dementia praecox sind, namentlich hervorgerufen durch 
die übermäßige Anreizung der Gehirnfunktionen, um die Schwierigkeit des 
überladenen Programmes der Schule zu besiegen. Ich will noch bemerken, 
daß die Fehler der Neger in gleicher Lage mit denen der Weißen schwerer 
wiegen, also mehr auffallen. Deshalb ist unter ersteren eine größere Ge¬ 
hirnanstrengung erforderlich als bei letzteren. — ... Es gibt keine Fälle 
von Zivilisation, welche sich ohne fremde Influenz entwickelten . . . Sie 
erwähnen nur noch von den amerikanischen Negeruniversitäten. Erstens 
sind diese nicht so alt wie der Weißen und nicht so gut ausgestattet. 
Zweitens haben diejenigen der Weißen, trotz guter Ausstattung keine 
außergewöhnliche Arbeit geliefert im Verhältnis zur Nummer ihrer Ar¬ 
beiter und der Vollkommenheit ihrer Installationen. Hat z. B. die anglo- 
amerikanische Bevölkerung von Canada schon einen außerordentlichen Ge¬ 
lehrten von Wert hervorgebrachtV Diese Rasse degeneriert in der Kälte 
Nord-Amerikas??? Die Konditionen des Milieu sind noch nicht solche, daß 
sie Arbeiten größeren Wertes begünstigen. — Was die Berüchtigung der 

1) Der Ehegatte der Dame, Dr. Jul. Moreira, der ausgezeichnete Direktor 
der großen Irrenanstalt zu Rio de Janeiro und geschätzte Gelehrte. 


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Neger durch ihre libido anbetrifft, so muß dieses noch besser analysiert 
werden. Nach Brasilien sind Neger derselben Völker gekommen, wie in 
Nord-Amerika, aber hier . . . gibt es keine analogen Fälle wie die in 
Nord-Amerika vorkommend erwähnten. Frau Frida Freiin v. Bülow 
schreibt nichts in ihrem Artikel „Das farbige Element in Deutsch-Ostafrika 14 , 
welches uns berechtigt, das Vorurteil von Nord-Amerika betreffs des 
Sexuallebens der Neger zu verallgemeinern. Ich kenne protestantische 
Neger und Pastoren sowie katholische Priester, deren Leben das muster¬ 
hafteste ist. Dieses zeigt wieder den Wert der Bildung der Menschen. Zum 
Gegenteil muß ich noch erwähnen, daß die Geschichte von Nord- und Süd- 
Amerika beweist, daß die weißen Entdecker nicht nur die Denker waren, 
wie Sie mir schreiben. Es gibt noch heute in Nord-Amerika viele un¬ 
zähmbare tribus wegen des libidinösen furor der Entdecker. Und die 
Millionen Gesichter der Mischlinge, sie sind doch gewiß nicht nur das 
Produkt des libidinösen Negers, sondern das des starken libidos der Weißen, 
welche den Schwarzen das Recht absprechen, nur für sich eine Frau zu 
besitzen. Was nun die Mischlinge anbetrifft, so sind die Vorurteile nicht 
weniger in der Wissenschaft verbreitet. Die Frage des Charakters der 
Mulatten hängt von den guten oder schlechten Eigenschaften der Eltern 
ab. Sehr oft gibt es auch trotz des schlechten Charakters des weißen 
Vaters einen musterhaften Sohn mit allen Prinzipien der christlichen Moral. 
Ich zitiere z. B. den bekannten Boeker-Washington. Zwichen ihm und 
seinem weißen Vater ist der Sohn gewiß ohne Hesitation mehr wert. . . . 
Unglücklicherweise laufen diese falschen Propositionen durch die Welt von 
Buch zu Buch. . . . Ich hoffe, daß eines Tages ein Forscher erscheinen 
wird, welcher diese Fragen gerecht und wissenschaftlich untersucht, ohne 
Vorurteils-Ideen. Man wird dann sehen, daß Tiedemann, Quatrefages und 
andere recht hatten, wenn sie der Bildung und nicht der Rasse die jetzige 
Superiorität der Weißen über die Neger zuschrieben. . . .“ 

Man sieht jedenfalls, daß die Neger keinen besseren Advokaten hätten 
annehmen können, als die Briefschreiberin. Trotzdem hat sie mich in 
meinen Ansichten nicht bekehrt. Ich muß vor allem mit den meisten 
neueren Anthropologen dabei bleiben, daß jeder Rasse in der 
Hauptsache ein Maximum der Entwickelungsfähigkeit 
gegeben ist; darüber geht es nicht hinaus, wenn nicht 
günstige Rassenmischung eintritt. Es sind schon eine Reihe 
von Negergehirnen abgebildet und untersucht worden. Schon der 
Laie erkennt auf den ersten Blick, daß die meisten Negergehirne 
äußerlich viel einfacher, gröber gebaut sind, als das der 
Weißen und dem wird wohl auch der mikroskopische Befund, speziell die 
wahrscheinlich verringerte Zahl der Ganglienzellen der grauen Masse ent¬ 
sprechen. Doch liegen hierüber, soviel ich weiß, noch keine Untersuchungen vor. ' ) 
Das Mulattengehirn wird dem der Weißen nahekommen, wie 
auch die geistigen Eigenschaften. Halten wir nun daran fest, daß 
der Durchschnitt der Neger geistig unter dem Niveau der Arier steht. 


1) Der berühmte holländische Anthropolog Kohlbrugge beistreitet dagegen 
ganz entschieden, daß das Gehirn des Negers schlechter ausgestattet sei als das 
des Europäers. 


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so ist damit selbstverständlich nicht gesagt, daß so und so viele Neger 
nicht über den Durchschnitt gehen und in ihrem Berufe so tüchtig sein 
können, wie die Weißen. Dies scheint speziell in Brasilien der Fall zu 
sein, vielleicht noch mehr, als in Nord-Amerika, in dessen Norden sicher viel 
weniger Mulatten sitzen, als dort. Je mehr aber weißes Blut in den 
Negern rollt, um so mehr nähert sich der geistige Habitus dem der Arier. 
Ich möchte auch glauben, daß der Charakter der Mulatten oft sehr zu un¬ 
recht als schlecht hingestellt wird. Das Milieu ist gewiß meist daran 
schuld. Uns fehlen alle statistischen Untersuchungon über die Psyche 
der Mulatten, noch mehr über die der Zambos, d. h. der Mischlinge von 
Negern und Indianern, die wohl geistig unter den Mulatten stehen, während 
die Mestizen, d. h. Mischlinge von Indianern und Weißen über den Mu¬ 
latten noch stehen müßten. Auch hier fehlen statistische Untersuchungen. 
Besser daran sind wir bezüglich der Entwickelung der Negerkinder in den 
Schulen. Wenn die meisten europäischen Lehrer in gemischten Schulen Af¬ 
rikas etc. die Wahrnehmung machen, daß der Neger bis etwa zur Pubertät 
geistig seine weißen Mitschüler überragt, um dann aber fast plötzlich zu- 
rüekzubleiben, so muß das wohl wahr sein, selbst wenn wir darüber z. Z. 
keine vergleichenden Zahlen besitzen. Mag auch wirklich ein Teil der 
Neger einer wirklichen dementia praecox verfallen, was ja auch bei uns in 
den Schulen nicht gar so selten ist, so ist bei den übrigen höchstens von 
einer „physiologischen“ dementia praecox zu reden, wenn man diese bar¬ 
barische Wortzusammenstellung vorzieht, d. h. die Gehirnleistung hat in 
der Pubertätszeit ihr Maximum erreicht und bleibt nun stehen. Bei den 
Negern Brasiliens, die, wie gesagt, wohl alle mehr oder weniger mulattisiert 
sind, tritt dies natürlich nicht oder viel seltner ein, ebenso bei gewissen 
intelligenten und reineren Negerstämmen Afrikas. 

Höhere Anstalten, Universitäten etc. hat es für Neger in den Ver¬ 
einigten Staaten Nordamerikas schon seit ziemlicher Zeit gegeben. Etwas 
wirklich Produktives entstand dort aber nicht, was selbst eine geringere Aus¬ 
stattung der Laboratorien etc. nicht erklärt. Es ist eben im ganzen 
eine nur rezeptive Rasse! Ich weiß nicht, ob es dort Lehrbücher gibt, 
die von Negern geschrieben sind und selbst diese Bücher sind noch kein 
Beweis für Produktivität! Gewiß haben die Anglo-Amerikaner an ihren 
hohen Schulen und bei der Opulenz ihrer Laboratorien wissenschaftlich 
und künstlerisch verhältnismäßig nicht allzuviel geleistet, aber es ist doch 
nicht zu unterschätzen und z. B. in Psychologie, Chirurgie etc. wird dort 
viel und gut gearbeitet. Die Saat ist noch jung, die Mischungsverhältnisse 
sind oft ungünstige etc., was diesen relativ geringen Fortschritt zum Teil 
erklärt. Das Milieu ist selbstverständlich auch mit in Betracht zu ziehen, 
aber überall blickt doch bei näherem Zusehen das Endogene, das Ange¬ 
borene durch, wenn es sich auch nicht in Zahlen fassen läßt. Ob ohne 
günstige Mischung das Negerhirn fortschreiten wird, ist wohl möglich, doch 
gehen sicher solche Veränderungen so langsam vor sich, daß man für 
historische Zeiten fast eine Konstanz annehmen möchte, wenn nicht fremdes, 
höheres Blut einen mächtigen und schnellen Impuls zur Höherentwickelung 
gibt. Auch das Gehirn der Weißen hat sich in historischen Zeiten wohl 
kaum sichtlich weiter entwickelt, wenngleich einzelne Befunde dagegen zu 
sprechen scheinen. Was endlich die größere libido der Neger anbetrifft, 


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so scheint diese festzustehen. Die Kriminalstatistik zeigt, daß fast stets die 
Neger in Nordamerika mehr sexuelle Delikte begehen als die Weißen, ab¬ 
solut und relativ, sicher kein bloßer Zufall. In Brasilien mag es anders 
sein, eben weil mehr Mulatten da sind und mehr Gebildete wahr¬ 
scheinlich, da Bildung wohl immerhin eine gewisse Hemmung verleiht. 
Daß unter den Conquistadores viele Bestien, Psychopathen etc. waren, die 
die Neger für vogelfrei erklärten und ökonomisch und sexuell mißbrauchten, 
ist gewiß wahr. Es war eben meist der Abschaum der Heimat! Das er¬ 
klärt aber nicht die wohl sicher größere libido der Neger in Afrika und 
anderswo, wie sie viele Reisende bezeugen und welche phylogenetisch er¬ 
klärlich ist. Man wird wohl also nach wie vor die Neger als minder¬ 
wertige Rasse betrachten müssen, deren Vermischung mit den Weißen im 
Interesse der Letzteren durchaus zu verhindern ist. 


18. 

Die Art der Fürsorgezöglinge. Es war schon ein großer Schritt 
nach vorwärts, als man die undisziplinierbaren oder verwahrlosten Kinder 
auf Antrag der Eltern oder der Behörden einer geregelten familiären oder 
besser noch in den meisten Fällen wenigstens anstaltlichen Fürsorge übergab 
und man erzielte leidliche Erfolge, trotzdem gerade diese Zöglinge Kandidaten 
für Verbrechen aller Art sind. Woher kommt das? Einfach, weil die Mehr¬ 
zahl davon mehr minder schon Psychopathen sind und nur eine geringe 
Zahl bloß Verwahrloste. Das haben bereits mehrfache Untersuchungen gezeigt. 
Jetzt erst wieder die von Direktor Dr. Kluge in Potsdam '), in dessen 
Anstalt 1908 25 männliche und 12 weibliche Fürsorgezöglinge aufgenommen 
wurden und zwar meist der Beobachtung auf ihren Geisteszustand halber. 
Von den 22 männlichen fder jüngste 9, der älteste 15 Jahre) waren 7 
Debile mit moralischem Defekt, 5 Imbezille mit moralischem Defekt (man 
beachte, daß Kl. mit vollem Rechte das Wort Moral insanity nicht an¬ 
wendet!), 6 Psychopathen und 1 Epileptiker. Unter den 14 weiblichen 
(8—19 Jahre) 6 Debile und moralisch Minderwertige, 1 Infantile, l hyste¬ 
risch Entartete etc. Kurz fast alle durch die Bank waren Psychopathen 
oder mehr minder Entartete. Dann ist es freilich kein Wunder, daß sie 
sich schwer oder gar nicht erziehen ließen und antisozial waren. Sicher 
sind es auch Kandidaten einer späteren Psychose. Und doch waren die 
Resultate in der Anstalt recht gute. Interessant insbesondere ist der Fall 
einer 16jährigen Infantilen, die wegen Ungehorsams, Herumtreibens, Betteins, 
Betrügens, Unsittlichkeit mit 12 Jahren in Fürsorgeerziehung kam. Sie 
zeigte sich hier schwer erziehbar, log, war bösartig, aber intelligent und 
„später gesellte sich als Gipfel aller Inferiorität (? Näcke) eine geradezu 
schrecken erregende „Gefräßigkeit“.“ Sie aß sogar Hühner- und Schweine¬ 
futter heimlich. Sie versuchte die Austaltsschwestern zu vergiften, welche 
sie oft gezüchtigt hatten. Zur Beobachtung kam sie zu Dr. Kluge. Es 
zeigte sich, daß sie körperlich und geistig infantil geblieben war. Unter 
guter Kost und Erziehung reifte sie schnell heran und zeigte sich bald 
fast ganz normal. Trotzdem sie also bei der Tat stark minderwertig ge- 


1) Verwaltungsbericht der Brandenburgischeu Provinzialanstalt für Epilep¬ 
tische etc. zu Potsdam für 1908 etc. 

Archiv für Kriminalanthropoiogie. 34. Bd. 24 


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wesen war, ward sie doch vom Berliner Jagendgerichtshofe zu 1 Jahr Ge¬ 
fängnis verurteilt, aber sie wurde weiter der Anstaltspflege überlassen. Dr. 
Kluge wünscht mit Recht, daß für die geminderte Zurechnungsfähigkeit 
auch eine besondere prinzipielle Berücksichtigung im Strafprozeß und Straf¬ 
vollzug verlangt werde, daß ferner defekte und abnorme Jugendliche früh¬ 
zeitig von Psychiatern untersucht und letztere bei der Erziehung und 
Unterbringung gehört werden sollen. Sehr wichtig für die Besserung ist 
aber insbesondere folgende Bemerkung Kluges: Es kommt darauf an, daß 
die Zöglinge ihren eigenen Zustand mit dem der noch Kränkeren ver¬ 
gleichen und so allmählich sich zu korrigieren lernen. Bloßes Moralisieren 
nützt nichts! „Diese eigene Kritik, diese selbstgewollte Schulung und Dis¬ 
ziplinierung aber ist der Angelpunkt, um den sich alle Bestrebungen, diese 
„Unverbesserlichen“ in die Höhe und auf ruhige Bahnen zu bringen, 
drehen müssen. Und es kann getrost gesagt werden, daß überall, wo diese 
Einsicht von Selbstkorrektur sich hier nicht erreichen ließ . . . ., auch 
jede Hoffnung aufgegeben war, diese Abnormen dem sozialen Leben wieder¬ 
geben zu können“. Diese Letzteren muß man dann einfach in der An¬ 
stalt weiterbehalten. — Ich meine, die Jugendgerichte haben allein schon 
das Gute, daß sie viel mehr als sonst abnorme Jugendliche einer psy¬ 
chiatrischen Untersuchung und Beobachtung, und damit auch einer sachgemäßen 
Unterbringung und Erziehung zuführen und damit das Heer der Verbrecher 
und Geisteskranken vermindern helfen. 


19 . 

Neueres über Linkshändigkeit. Die Linkshändigkeit ist nicht 
bloß physiologisch interessant, sondern auch praktisch im Leben, nicht am 
wenigsten für den Juristen bei Fahndung auf Verbrecher und weil nach 
Lombroso etc. unter Letzteren mehr Linkser sein sollen, als bei den Normalen. 
Nun hat neuerdings Stier an 300 linkshändigen Soldaten sehr interessante 
Untersuchungen angestellt. Stier ') hält die Linkshändigkeit nicht für eine 
anatomische, sondern für eine psychomotorische Eigentümlichkeit. Um sie zu er¬ 
kennen, hält er am besten Versuche mit Peitschenknallen, Kartenmischen, Ein¬ 
fädeln und alle Handhabungen mit dem Messer, besonders das Brotschneiden. 
Nur die Mehrzahl der Linkser — nicht alle! — haben im linken Arme 
größere Kraft und größeren Umfang, ebenso sehr wie alle Rechtser im 
rechten Arme. Die Linkser stammten mindestens zur Hälfte aus Familien, 
wo Linkshändigkeit überhaupt häufig ist, und Männer sind doppelt so oft 
davon betroffen wie Frauen. Wichtig ist, daß auch in der Ge¬ 
schicklichkeit das linke Bein das rechte meist übertrifft, was für 
das funktionelle Überwiegen der rechten Hirnhälfte spricht. So werden 
auch einige Anomalien der Schrift von Linksern erklärt. Häufig ist Stottern. 
Es zeigte sich ferner, daß in der Armee die Linkser weniger brauchbare 
und weniger gute Soldaten sind als die Rechtser, daß sie sehr selten Unter¬ 
offiziere oder Gefreite, mehr als sonst als dienstunbrauchbar entlassen und 
gerichtlich bestraft werden, so daß in einem Festungsgefängnis nicht 4,6 o/ 0 , 
wie in der Truppe, sondern 14% Linkser sich fanden. 

1) Stier: Erkennung und Bedeutung der Linkshändigkeit. Vortrag. Itef. 
im Neurolog. Zentralblatt 1909, p. 613. 


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Soweit Stier. Bei den Linksern überragt also funktionell die rechte 
Hemisphärenhälfte und ist wahrscheinlich auch die schwerere, während es 
sonst die linke ist. Aber weshalb? wird man fragen. Die neueste Hypo¬ 
these ist die, daß es mit der Geburtslage Zusammenhängen soll, und das 
hat Vieles für sich. Andere wollen es mit der anomalen Lage der einen 
Hauptschlagader begründen. Jedenfalls ist der Grund noch nicht sicher 
und vielleicht gibt es deren sogar verschiedene. Hierbei sehe ich von falscher 
Erziehung oder krankhaft bedingter Linkshändigkeit natürlich ab. Das Er¬ 
kennen geschieht auf verschiedene Weise. Man weiß, daß der Rechtser 
beim Anziehen seiner Beinkleider zuerst mit dem rechten Beine in das 
rechte Hosenbein fährt — bei den Frauen ist charakteristischerweise, wie 
H. Ellis anführt, das Umgekehrte der Fall — der Linkser fährt dagegen 
zuerst in das linke Hosenbein. Neulich habe ich bei unserm Dienstmädchen, 
das Linkserin ist, eine merkwürdige Beobachtung gemacht, die ich sonst 
nie erwähnt fand. Wenn es früh die geputzten Stiefel in den An- 
kleideraum bringt, so geschieht es fast stets so, daß rechts der linke und 
links der rechte Stiefel zu stehen kommt. Auch gibt es latente Fälle 
von Linkshändigkeit, die bloß bei gewissen Hantierungen sich kund¬ 
geben. So erzählte mir kürzlich ein Kollege, daß ein früheres Haus¬ 
mädchen von ihm alles mit dem rechten Arme ausführte und nur, wenn 
sie mit scharfen Messern zu tun hatte, den linken gebrauchte. Wir sahen 
oben, wie oft vererblich die Linkshändigkeit ist. Freilich ist dann etwaiges 
Nachahmen nicht auszuschließen! Nach Stiere Beobachtungeu scheinen die 
Linkser nervöser, geistig minderwertiger zu sein als die Rechtser, was so 
manches erklärt. Doch dies ist ein Punkt, der noch spezieller psychiatrischer 
Nachuntersuchung bedarf. 

20 . 

Medianität, Linkshändigkeit und Homosexualität. Wieder¬ 
holt habe ich schon dargelegt, daß sich z. Z. noch nicht sicher sagen läßt, 
ob die Homos nervöser, entarteter sind als die Heteros. Mir und ver¬ 
schiedenen andern schien es nicht der Fall zu sein. Hier könnten nur 
genaue Untersuchungen und zahlenmäßige Belege an großem Material ent¬ 
scheiden. Kürzlich hat nun Stier in Berlin geschrieben, unter den Homos 
seien, sagte man, mehr Linkshänder als sonst, und da nach ihm unter den 
Linksern auch mehr Nervenstörungen herrechen, so würde das für eine 
größere nervöse Anlage der Homos sprechen. Die Frage ist aber eben 
nur die, ob wirklich unter ihnen mehr Linkser sind, was ich vorläufig nicht 
glaube. Auch würde es für ihre größere Nervosität sprechen, wenn wirk¬ 
lich unter ihnen mehr Medien sein sollten, als sonst. So waren nach 
Freimark ') die bekannten Medien Slade, Bastian, Eglington, 
Bernhard, wahrscheinlich auch Home, homosexuell. Ist es schon schwer, 
Sicheres über die Sexualität einer bestimmten Person zu erfahren, so ist 
dies bei den Medien wahrscheinlich noch schwieriger, und da die meisten als 
Betrüger oder sich selbst Betrügende erkannt sind, ihren Aussagen noch 
weniger Vertrauen zu schenken. Daß Medien überhaupt, wenn es nicht 
einfache Betrüger sind, meist Psychopathen und damit oft mit allerlei 


1) Freimark: Okkultismus und Sexualität. Leipzig, 1909, p. 43. 

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sexuellen Abnormitäten behaftet erscheinen, ist wohl a priori anzunehmen, 
wofür schon der Umstand spricht, daß so viele Hysteriker darunter 
sind. Damit ist aber noch lange nicht gesagt, daß auch mehr Homo¬ 
sexuelle darunter sein müßten. 


21 . 

Vom Alpdrücken. Jeder kennt das unangenehme Gefühl des Alp¬ 
drückens, das auf Atembehinderung beruht. Es sind schwere, unangenehme 
Träume, aus denen man erschreckt und oft schweißbedeckt auf wacht. Das 
klassische Vorbild ist das eines auf der Brust liegenden und erdrücken¬ 
den großen, haarigen Tieres, wie Wolf, Bär etc. Man hat diese Träume 
experimentell erzeugt, indem man eine wollene. Decke nahe unter die Nasen¬ 
öffnung brachte. Dadurch trat Atembehinderung ein und der periphere 
Beiz des Kitzelns seitens der wollenen Decke erzeugte die Idee eines großen 
Tieres mit einem Pelze. Häufiger noch ist der Traum, daß man in einen 
Abgrund stürzt oder, wenn man die Treppe hinabeilt, diese plötzlich ab¬ 
bricht, oder das Bett zusammenkracht etc. Der physiologische Vorgang ist 
im ganzen stets derselbe. Das geistige Milieu spielt aber sicher auch eine 
Bolle. Im Mittelalter traten gewiß oft Teufel etc. auf, die sich einem auf die 
Brust warfen. So lese ich bei Frei mark ') folgendes: „Auch die Elben 
und Alpe der deutschen Sagen sind Incubi und Succubi. Den vom Alp 
Befallenen erscheint es zuweilen, als ob ein Mann oder ein Weib sie zum 
Beischlafe auffordere, sie sehen sie ohne weiteres ihr Bett besteigen, um 
irgend einen Streich auszuführen. Sinnliche Träume werden noch heute 
vielfach als Alpminne bezeichnet. 6. So viel ich mich auch speziell mit der 
Traumpsychologie beschäftigt habe, so ist mir bisher in unsern Zeiten ein 
solcher Alptraum nicht bekannt geworden. Natürlich sind sinnliche, also 
Beischlafs-Träume, sehr häufig, aber derart, daß der Koitus erzwungen 
wurde und dabei Suffokationserscheinungen, also der echte Alpdruck, ent¬ 
stehen, davon hörte ich nichts. Wohl konnte einmal einer Frau der er¬ 
träumte Koitus schmerzhaft sein, aber das ist dann immer noch kein 
Alpdrücken. 

22 . 

Das angeblich Ä hnlich-Werden zwischen den Gesichtern 
von Eheleuten und zwischen denen im hypnotischen Rapport 
Stehenden. Ich habe schon einmal darauf hingewiesen, daß die Behaup¬ 
tung, Eheleute würden, in Liebe verbunden, mit der Länge der Zeit im 
Gesichte einander oft merkwürdig ähnlich, wohl zu den Fabeln gehört und 
ich selbst kenne keinen sichern hierher gehörigen Fall. Daß gewisse 
äußerliche Angewohnheiten, tics, gewisser Tonfall in der Stimme etc., der 
Gang, das Sprechen, selbst die Art des Denkens etc. eine gewisse äußer¬ 
liche Ähnlichkeit erlangen können, gebe ich gern zu, und zwar nur auf 
dem Wege der Suggestion und Nachahmung. Daß aber das Gesicht als 
solches mit seinen Weich- und Knochenteilen auch ähnlich werden sollte, 
ist physiologisch unmöglich. Ein langes Gesicht des einen Gatten wird 
sich nicht dem kurzen des andern anbequemen usw. Nun soll aber Ähn¬ 
liches bei in hypnotischem Rapport Stehenden der Fall sein. Ich lese 

1) Freimark : Okkultismus und Sexualität (Leipzig 1909), p. 344. 


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hierbezüglich bei Freimark ’) folgendes: „Du Prel gedenkt in einem 
Aufsatze über Die odische Individualität des Menschen einer 
Somnambulen Kerners, deren weiches und dünnes Haar Rauhigkeit und 
Dicke wie das Kerners erhielt, nachdem sie sich längere Zeit ihr Haar mit 
Kerners Waschwasser gewaschen hatte. Donatos Somnambule Lu eile, 
die er jahrelang in öffentlichen Vorstellungen magnetisierte, wurde ihm 
schließlich so ähnlich, daß man beide für Geschwister hielt. Dem gleichen 
Vorgang begegnet man bei ganz ineinander aufgehenden Eheleuten. Du 
Prel sagt erklärend: „Bei jeder magnetischen Heilung überträgt der Magne¬ 
tiseur seine Lebenskraft, also seine eigentliche Essenz auf den Magnetisierten. “ 
In der Tat können wir uns in Ansehung der obigen durchaus nicht ver¬ 
einzelt dastehenden Vorkommnisse der Ansicht nicht verschließen, die eine 
Übertragung auf einstweilen okkultem Wege annimmt.“ Nun, ich bin ab¬ 
solut nicht der Ansicht Freimarks. Man weiß, der gute Kerner war ein 
Arzt, aber ein Romantiker und Phantast. Daß das weiche und dünne 
Haar seiner Somnambule rauh und dicht ward, wie das seinige, ist wohl 
nur ein Suggestions-, vielleicht Illusionsvorgang, da solches meines Wissens 
bisher nie beobachtet wurde und nur einige Male nach Haarausfall das 
neue anders auftrat, als das vorige. Und daß gar das Wunder durch 
Waschen mit Kerners Waschwasser erfolgt sein sollte, ist doch ein mehr 
als naiver Schluß. Auch die Ähnlichkeit zwischen Donato und der Lucile 
kann nur, wie ich oben ausführte, auf gewissen Äußerlichkeiten beruhen, nie 
und nimmer aber auf die Weichteile und das Gesichtsskelett sich beziehen. 
Wenn Du Prel eine Übertragung der „Lebenskraft“ des Magnetiseurs 
auf den Magnetisierten zur Erklärung jener Tatsachen anführt, so sind das 
eben okkulte Ansichten, die heute wohl schwerlich ein Naturwissenschaftler, 
resp. Arzt, unterschreiben wird. Mit solchen Schlagworten wie „Lebens¬ 
kraft“, „Essenz, Od tt etc. kann man eben nur Laien imponieren. 


23. 

Vergraben von Exkrementen und einiges andere Skato- 
logische. Man weiß, daß im Aberglauben die Exkremente eine nicht 
unwichtige Rolle spielen. Ich erinnere hier an den Gebrauch derselben 
als Ingredienz zu verschiedenen Zauber- und Heilmitteln, ferner an 
den wenig appetitlichen, aber interessanten grumus merdae, den beson¬ 
ders Hellwig kennen lehrte und wozu auch ich an dieser Stelle Beiträge 
lieferte. Es gibt aber noch eine andere, bisher wohl fast unbekannt ge¬ 
bliebene Verwendung des Kotes, auf die ich bei der Lektüre von Frei¬ 
mark 1 2 ) stieß. Nach Livingstone suchen die ostafrikanischen Ondonga den 
ihnen Verhaßten durch gewisse Zauberhandlungen unschädlich zu machen 
und sprechen über einen jenem gehörigen Gegenstand die Verwünschung 
aus. Damit ihnen das nun nicht selbst begegne, „vergräbt jeder sein Eigen¬ 
tum, der über Land geht und befürchtet, daß es zu Zauberzwecken mi߬ 
braucht wird. Auch die Exkremente werden nach der Entleerung aus dem 
gleichen Grunde von ihnen sofort mit Sand bedeckt und verebnet.“ Hier 
geschieht das Verscharren des Kotes also aus Aberglauben. Man wird liier- 


1) Freimark: Okkultismus und Sexualität (Leipzig 1909), p. 51. 

2) Freimark: Okkultismus und Sexualität (Leipzig 1909.*, p. 225. 


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bei an das Verscharren desselben seitens der Katzen erinnert, das angeb¬ 
lich ursprünglich aus hygienischen Gründen geschehen sein soll, was mehr 
als unwahrscheinlich ist. Die Naturvölker und unsere niederen Schichten, 
die im Freien den Kot absetzen, geben sich nie die Mühe, denselben durch 
Verscharren unkenntlich zu machen. Appetitlicher ist es dagegen, wenn 
man von dritter Seite zur Üefäkation auf Aborten aus Gewinnsucht gerade¬ 
zu eingeladen wird. So geschieht es z. B. in China, wo der Dünger rar 
und sehr geschätzt wird. Die findigen Leutchen bauen nun an den Wegen, 
wo Reisende verkehren, Aborte zur Benutzung, um dann den Dünger zu 
verwerten. Ähnliches sah ich auch in einem Tale Tvrols. Es ist ferner 
merkwürdig, daß Kinder, die bekanntlich mit dem Akte des Urinierens und 
mit dem Urine selbst allerlei Allotria treiben, das viel weniger mit dem 
Kote tun. Er erscheint ihnen offenbar zu unappetitlich, da ihr Geruchs¬ 
organ oft sehr entwickelt ist. 

24. 

Onanie aus Aberglauben. Früher schon habe ich kurz darge¬ 
stellt, daß die Motive zu dieser häßlichen Handlung sehr verschieden sein 
können, auch abergläubische. Freimark (I. c. S. 267) bemerkt bezüglich 
Letzterer folgendes: „Will einer sich gegen jeden Zauber fest machen, so 
muß er sich selbst befriedigen und sprechen: So wie ich mir selber zum 
Genuß verhalf, so soll mir das Glück in der Welt umher zukommen und 
niemals soll mir ein Frauenzimmer etwas antun können!“ Die Praktik ge¬ 
schieht also hier weniger zur Gewinnung des Samens, der ja zu so manchen 
Zaubermitteln der Sexualmagie gebraucht, meist aber beim Beischlafe gewonnen 
wird. Um sich Annehmlichkeiten zu verschaffen, bildet der Magyar nach 
Freimark (1. c. S. 273) das sog. „Glücksei“. „Der Mann nimmt ein Ei, 
macht eine Öffnung und läßt das Eiweiß behutsam herausfließen. Dann 
träufelt er ins Ei durch die kleine Öffnung hindurch etwas von seinem 
Sperma, worauf die Öffnung mit Gips oder Wachs verschlossen und das 
Ei unter eine schwarze Bruthenne gelegt wird. Nach 21 Tagen wird das 
Ei steinhart und alles, was man damit berührt, bringt dem Besitzer großen 
Nutzen.“ 


2F). 

Instinkt, Verstand und Nachahmung. Unter diesem Titel 
habe ich an dieser Stelle, Bd. XX, 368, darauf hingewiesen, daß vieles, 
was bei Tieren als reine Verstandesoperation erscheint, sicher nur Instinkt 
ist. Leider geschehen hier immer noch Vermengungen beider Begriffe. 
So las ich bei dem sonst so klaren und verständigen Stoll i ) folgendes: 
„Auch die Murmeltiere werden nicht einfach von einer Kältestarre über¬ 
fallen, sondern bereiten sich längere Zeit durch Herrichtung einer beson¬ 
deren Winterhöhle auf den Winterschlaf vor, es ist also hier auch ein 
psychisches, autosuggestiv wirkendes Moment tätig, die Erweckung der 
Schlafidee im Gehirn der Tiere“. Das klingt sehr rührend, ist aber jeden¬ 
falls falsch! Die Idee, daß es schlafen müsse, liegt ihm sicher fern, wie 
dem Vogel die des Nestbaus. Hier ist es sicher nur reiner, vererbter 

1) Stoll: Suggestion und Hypnotismus in der Völkerpsychologie. Leipzig, 
Veit, 1904, p. 89. 


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Instinkt, welcher tätig ist. Schön allein der Umstand, daß wenn man das Murmel¬ 
tier warm hält, es niemals an den Winterschlaf denkt, spricht gegen eine 
verstandesmäßige Operation. Daß der ganze Vorgang kompliziert ist und eine 
Reihe anscheinend verstandesmäßiger Handlungen in sich schließt, verschlägt 
nichts, und wir wissen, daß Instinkte sehr oft höchst kompliziert sind. 
Vielleicht spielt auch die Nachahmung bei jungen Tieren eine Rolle, doch 
ließe sich diese experimentell ausschließen. Dexler >), wohl z. Z. der 
beste Kenner der Tierpsychologie, sagt mit Recht, daß „die überwiegende 
Menge der tierischen Bewegungen . . . zweifellos nur auf vererbten In¬ 
stinkten, verbunden mit Akkomodationsvorgängen verschiedener Art basieren“. 
Man kennt z. B. das Verscharren des Kotes seitens der Katzen. Darwin 
hat, wenn ich nicht irre, behauptet, es geschähe aus hygienischen Gründen! 
Sicher ist das falsch, aber weshalb diese offenbar verstandesgemäße Hand¬ 
lung eintritt, wissen wir nicht. 


26. 

Die Prostituierte im Irrenhaus. Iwan Bloch macht in seinem 
Aufsatze: Jst die Prostitution ein notwendiges Übel? (die neue Generation, 
1909, S. 224) die Bemerkung, „daß Prostituierte in Irrenanstalten das 
leidenschaftliche Interesse der ehrbaren Insassinnen erregen und stets den 
Mittelpunkt eines Kreises bilden, der sich sehr rasch um sie bildet und sie 
hauptsächlich nach ihren sexuellen Erlebnissen ausfragt“, wie Psychiater 
berichtet hätten. Nun, nach meinen Erfahrungon kann ich dies nicht be¬ 
stätigen. In Großstädten, namentlich Berlin, wo sich viel mehr Dirnen im 
Irrenhause, als auf dem platten Lande, wie z. B. in Hubertusburg befinden, 
mag es ja so sein, wenn auch gewiß selbst da nicht durchgängig. Sonst 
ist es allgemein bekannt, daß in den meisten Landesanstalten Dirnen sehr 
selten sind. Dies kann verschieden interpretiert werden. Entweder sie 
sterben in jüngeren Jahren als andere und daher die geringere Zahl, oder 
sie neigen weniger zu Psychosen, oder aber sie heiraten und ihre frühere 
Vergangenheit ist dann unbekannt. So mag manche weibliche Irre 
unsrer Anstalten früher Dirne oder Kellnerin etc. gewesen sein, was unbe¬ 
kannt blieb. Immerhin sind das auch bei uns gewiß nur wenig Fälle. 
Wo das Dirnentum aber feststand, habe ich nie gehört, daß hier ein 
Kristallisationspunkt der Gesellschaft sich gebildet hätte, auch las ich dies 
noch nie. In Gefängnissen ist es gewiß anders. Ein weiteres interessantes 
Moment ist, daß meist — so auch bei uns und ebenso in Gefängnissen etc. — 
Erkrankungen ehemaliger Dirnen an Dementia paralytica sehr selten sind, 
was Hübner zwar bestreitet, aber er stützt sich auf Berliner Material, welches 
sicher nicht für die Allgemeinheit gilt. Eine Parallelerscheinung ist ja auch 
die so seltene Paralyse bei Männern im Gefängnisse, trotzdem wohl die 
meisten syphilitisch waren. Es scheint, als ob gewisse Entartete weniger 
paralytisch würden und zeigt eben von neuem, daß außer der Lues noch 
für die Entstehung der Krankheit ein anderes Moment wichtig ist, nämlich 
eine bestimmte, uns freilich z. Z. noch unbekannte anatomische und 
meist angeborene Gehirndisposition. 


1) Dexler: Beiträge zur Psychologie der Ilaussäuger. Abd. a. d. Deutsch. 
Tierärztl. Wochenschrift, 1908. 


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27. 

Platonische Prostituierte oder die „demi-vierges“ in 
praxi. Ganz neuerdings hat man in Berlin eine merkwürdige Spezies der 
Prostitution entdeckt. Iwan Bloch schreibt hierüber (Ist die Prostitution 
ein notwendiges CbelV Die neue Generation, 1909, S. 179 und speziell 
1S4): „Es gibt sogar eine Prostitution ohne Geschlechtsverkehr. Neuer¬ 
dings hat sich z. ß. in Berlin ein Gewerbe dieser Art gebildet, dem Mädchen 
von meist jugendlichem Alter obliegen. Sie lauern an den Bahnhöfen 
reichen Provinzialen auf, denen sie sich als Begleiterinnen und Führe¬ 
rinnen durch Berlins Vergnügungen anbieten, lassen sich von diesen frei¬ 
halten und beschenken, indem sie auf ihre geschlechtlichen Instinkte speku¬ 
lieren und geben ihnen dann meist am selben Tage noch den Laufpaß, 
ohne sich jemals auf geschlechtliche Beziehungen einzulassen." Wahr¬ 
scheinlich hat dies Institut schon länger geblüht, aber man ist erst jetzt 
darauf aufmerksam geworden, da es offenbar zum Glück nicht all¬ 
zu häufige Vorkommnisse sind, für die aber wohl jede Großstadt einen 
günstigen Boden abgibt, trotzdem mir aus andern Weltstädten hierüber 
nichts bekannt ist. Man begreift das Raffinierte dieser „platonischen“ 
Prostitution. Diese Mädchen genießen das Leben nach allen Richtungen, 
haben ihre sexuelle Befriedigung, doch ohne sich sexuell einzulassen. 
Es sind also echte „demi-vierges“, nur daß diese von Marcel Prövost ge¬ 
prägte klassische Bezeichnung vorwiegend höhere Stände zu betreffen 
scheint, dort aber mehr niedere. Jene lassen sich mehr durch Abenteuer 
alier Art, durch Lektüre, Theater, Variete, Freundinnen und Freunde 
sexuell erregen, denken dabei aber weniger andere aufzuregen oder gar 
dafür Entgelt zu nehmen. Bei den Berlinern dagegen handelt es sich vor¬ 
wiegend um sexuelle Erregung der Partner und zwar gegen Entgelt, wo¬ 

bei sie nebenher auch sexuell sich befriedigen, aber äußerlich als ehrbare 
Mädchen und physische Jungfrauen gelten können. Vielleicht wirkt im ge¬ 
heimen auch ein sadistischer Zug. Es mag ihnen Freude machen, die 
Begierde des Andern anzufachen und auf ihrer Höhe unbefriedigt zu lassen. 
Es wäre interessant zu erfahren, ob es sich hier auch vorwiegend um 
psychisch minderwertige Personen handelt, wie es nach Müller (Die 
Psyche der Prostituierten. Neurol. Centralbl. 1908, S. 992) bei den ge¬ 
wöhnlichen Dirnen meist der Fall sein soll, was ich allerdings bestreite, 

da ich hier die Verführung, die Not und das Milieu für die Hauptsachen 
halte. Übrigens ist ein gewisser Grad von demi-vierge-Tum oft genug im 
gewöhnlichen Brautstande vorhanden, wo lange allerlei sexuell anregende 
Berührungen geschehen, man sich aber vor dem Letzten scheut. Freilich ge¬ 
schieht dies meist halb- oder gar unterbewußt und ist daher, wenn eine 
gewisse Grenze nicht überschritten wird, kaum zu beanstanden. 


28. 

Eine charakterologisch wichtige Art von Lüge. Im33.Bd. 
dieses Archivs hat uns Nerlich (S. I45ss) den hochinteressanten Fall der 
Grete Beier ausführlich mitgeteilt. Sie hat nach ihm verschiedene erwor¬ 
bene moralisch-ethische Defekte aufgewiesen, sie hat „(S. 172) oberfläch¬ 
liche religiöse Anschauungen, vertritt laxe Auffassungen über das Wesen 
der Gesetze und die Pflichten andern Menschen gegenüber und neigte ziir 


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Lüge und zum Betrug. Diese letztgenannte Neigung ist eine so außer¬ 
ordentlich starke, daß man sich unbedingt die Frage vorlegen muß, ob 
Grete Beier nicht etwa den sog. pathologischen Lügnern zuzurechnen ist. 
Man muß jedoch diese Frage nach reiflicher Überlegung verneinen, weil 
ihr Hang zur Lüge nicht angeboren ist. . . . Zweifellos ist also Gr. B. 
moralisch minderwertig.“ Verf. meint also, daß die B. sehr zu Lüge und 
Betrug neigt. Wenn wir nun ihre Geschichte durchnehmen, so sehen wir 
nicht eine Spur an ihr von Lüge oder Betrug, bis zum Bekanntwerden 
mit ihrem Verführer und Geliebten, den sie sicher bis zuletzt ethisch 
weit überragt. Erst in der Abtreibungsgeschichte gebraucht sie 
wohl die erste Lüge und nun verlangt diese konsequent in 
ihrer Lage und im weiteren Verlaufe weitere Lügen und 
Betrügereien aller Art. Wer A sagt, muß auch B sagen und dies 
gilt auch hier. Solche Fälle sind aber in foro sehr häufig und es fragt 
sich, ob wir es in diesen dann wirklich mit Lügnern zu tun haben. 
Ich verneine es und rechne die Lügen dann den Notlügen 
zu, die sicherlich den gewöhnlichen Lügen moralisch nicht 
gleich stehen. Die Beier war also meiner Meinung nach keine eigent¬ 
liche Lügnerin und keine gewöhnliche Betrügerin. Jeder Verbrecher fast 
lügt so lange, bis die Beweise ihn erdrücken, dann gibt er ,das Lügen 
meist auf, wie auch die B. Deshalb wird der Richter aber nicht glauben, 
der Betreffende sei im gewöhnlichen Leben ein Lügner gewesen. 
Auch die Betrügereien der Gr. Beier sind eigentlich altruistische wie ihre 
Lügen. Der Begründung der „oberflächlichen religiösen Anschauungen“ 
dadurch, daß die an Gott etc. Glaubende später durch Gespräche mit 
ihrem Bräutigam ihren kindlichen Glauben aufgab, kann ich nicht bei¬ 
pflichten. Wenn jemand durch Nachdenken, Sichaussprechen etc. seinen 
alten Glauben aufgibt, so ist er noch lange nicht „oberflächlich“ religiös, in 
vielen Fällen wird er sogar mehr nach Wahrheit gestrebt haben als der 
naiv Glaubende. Kurz man sieht, wie sehr vorsichtig man in der 
Bewertung der moralischen Qualitäten eines Menschen sein, 
wie man jeden Fall von allen Seiten betrachten muß! 

Der obige interessante Gerichtsfall hatte, wie ich höre, in der Dresdener 
psychiatrisch-forensischen Vereinigung Anlaß zu einer höchst anregenden Dis¬ 
kussion gegeben. Es ist sehr schade, daß diese, die verschiedene neue 
Gesichtspunkte etc. ergab, nicht mit abgedruckt worden ist. Es sollte 
übferhaupt jeder Vortrag mit der sich anschließenden Debatte veröffent¬ 
licht werden. Nur so gewinnt man einen weiteren Horizont. Ich hörte 
von sehr kompetenter Stelle, die selbst die ganzen Akten der Beier 
in Händen gehabt hat, daß doch hier wohl ein Fall von verminderter Zu¬ 
rechnungsfähigkeit vorliege. Für mich liegt der schwierige Kern in der 
Psychologie der B. in folgendem. Ich kann es verstehen, daß sie aus 
wahrer Liebe zu M. log, betrog allenfalls noch, daß sie schließlich auch so¬ 
gar ihren Bräutigam nach kurzem Schwanken tötete. Daß sie aber darnach 
bis fast zuletzt absolut ruhig, heiter war — auch wo sie sich am wenig¬ 
sten beobachtet glaubte — und scheinbar nie, außer vor ihrem Ende, Ge¬ 
wissensbisse empfand, das verstehe ich nicht. Freilich war sie die Selbst¬ 
beherrschung selbst, aber daß diese einen so hohen Grad erreichen sollte, 
um alle inneren Gefühle bis zuletzt zu maskieren, will mir nicht recht ein- 


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leuchten. Mir erscheint die Sache so monströs, daß auch ich mich in 
diesem Falle wahrscheinlich für verminderte Zurechnungsfähigkeit aus¬ 
gesprochen haben würde. Bis zum Eintritt der Pubertät ging noch alles 
gut, dann kam die Geschichte mit dem Geliebten. Die Pubertätszeit selbst 
wirkte vielleicht deletär mit ein, die libido war stark entwickelt und die 
Moral konnte so allmählich tiefer sinken. Außerdem war doch wohl wahr¬ 
scheinlich ein einigermaßen vorbereiteter Boden da, weil die Mutter nervös, 
beschränkt und moralisch sehr minderwertig war, der Vater vielleicht auch. 
Grade der Fall Beier ist sehr instruktiv für den großen, hier wahrscheinlich 
sogar Ausschlag gebenden Einfluß des Milieus. 


29. 

Die gemütliche Abstumpfung der Geisteskranken. Wer 
lange mit Irren zu tun hatte, dem fällt es auf, wie bei den Meisten und 
zwar schon sehr bald nach Anfang der Erkrankung die gemütliche 
Seite gelitten hat, eher in der Regel sogar als die intellektuelle. Und da¬ 
bei lasse ich die Idioten, die Stuporösen, schwer Deliranten etc. noch ganz 
beiseite und spreche nur von denen, die noch zugänglich sind, dem Laien 
sogar oft als gesund erscheinen. Wiederholt machte ich darauf aufmerk¬ 
sam, daß Freundschaftsbündnisse und Revolten im Irrenhause große Selten¬ 
heiten sind. Keiner kümmert sich gewöhnlich um den andern. Es ist ihm 
gleichgültig, ob einer aus seiner Stube versetzt wird oder ein neuer Insasse 
eintritt, wenn er nur nicht in seinen Kreisen gestört wird. Dagegen hängt 
er oft zäh wie Katzen am Lokale selbst und ist von einer Versetzung häufig 
sehr unangenehm berührt. Ob sein Stubengenosse wegstirbt, ist ihm meist 
gleich. Ihm hinter der Bahre zu folgen, fällt ihm nicht ein! Auch Un¬ 
glücksfälle anderer berühren ihn kaum. Natürlich gibt es auch hier Aus¬ 
nahmen. Eine hübsche Illustration für das geschilderte Verhalten der 
Meisten gibt uns d’Almado, der nach einem Referat im Neur. Centralbl. 
1909, S. 381 über seine Beobachtungen an Irren während des schrecklichen 
Erdbebens in Messina berichtet. Darnach nahmen unter 105 chronischen 
Irren im Irrenhause zu Catania nur 2 das 40 Sekunden andauernde Erd¬ 
beben wahr; die übrigen blieben alle ganz indifferent. Leider ist aus dem 
Referate nicht zu ersehen 1. welcher Art die Kranken waren, 2. was 
das „wahrnehmen“ bedeutet. Wahrscheinlich soll damit gesagt werden, 
daß die Zwei dadurch affiziert wurden, die übrigen Kranken zwar auch das Erd¬ 
beben „wahrnahmen“, aber nicht darauf reagierten. Es ist klar, daß wenn 
unter den Kranken sehr viele Idioten waren, die Sache nicht besonders auf¬ 
fallen würde. Sonst aber immerhin, da ein so langandauerndes Erdbeben 
die meisten noch leidlich „vernünftigen“ Geisteskranken doch wohl er¬ 
schrecken würde, wenn auch sicher nicht so wie Geistesgesunde. Das¬ 
selbe wird wahrscheinlich auch beim Ausbruche eines Feuers stattfinden, 
obgleich mir hier nähere Daten fehlen. 

30. 

Weiteres zur Graphologie. Zu derselben Zeit, als im 33. Bd. 
’;2 H. mein Aufsatz: Graphologische Randglossen erschien, veröffentlichte 
Frau Thumm-Kintzel in der von ihr mitredigierten, höchst interessanten und 
dem Psychologen und Juristen sehr zu empfehlenden graphologischen Zeit- 


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schrift: „Der Menschenkenner“ (Leipzig, Otto Wigand, jäbriih 12 H., 6 M.) 
einen Artikel in Nr. 10 und 11, l'J09, über die Shakespeare-Bacon-Frage. 
Wer sich für den unsterblichen Dichter wirklich interessiert, muß auch diese 
bedeutsame Arbeit kennen. Ihr ist es gelungen — und ich glaube, sie 
hat vollkommen recht — den Nachweis durch graphologische Schriftvergleichung 
zu führen, daß 1. die 5 mehr oder weniger beglaubigten Shakespeare- 
Unterschriften identisch mit der Handschrift von des Dichters Testament 
sind, das man von einem andern geschrieben glaubte und 2., daß die 
Handschrift Bacons davon toto coelo verschieden ist. Damit ist die berühmte 
Shakespeare-Frage zugunsten des Dichters wohl entschieden. Insoweit 
stimme ich der Verfasserin vollkommen bei, weniger aber bez. der Cha¬ 
rakterdeutungen. Man sehe die Blütenlese der Eigenschaften auf S. 241, 
die sie herausliest, darunter auf S. 239. „Deutliche konkave Schriftlinien“: 
„Brünetter Typus“. In meiner Arbeit skizzierte ich nur die mir unüber¬ 
windlich erscheinenden Schwierigkeiten bez. der graphologischen Deutungen. 
Wenn bisher kein Psycholog eine absulut sichere Definition von Affekt, 
Stimmung, Eigenschaften aller Art etc. geben kann, so wird es sicherlich 
auch Frau Thumm nicht können, ebensowenig wie meine übrigen Bedenken 
beseitigen. Der beste Beweis für das so sehr Subjektive der Graphologie 
oder wie manche es jetzt lieber nennen: Graphonomie, ist, daß fast jeder 
Grapholog sein eigenes System hat und es eventuell ändert. Manche 
Graphologen verschließen sich auch nicht der Wahrheit. So hat Ravens¬ 
burg kürzlich ein Lehrbuch der wissenschaftl. Graphologie herausgegeben, 
wo in Nr. 10 (S. 263) das „Menschenkenner“ besprochen wird. Verf. 
hält es (nach dem Referat) für unwahrscheinlich, „daß konventionelle, abstrakte 
Begriffe, wie Hochmut, Egoismus, Eitelkeit ihre sichtbaren Zeichen in der 
Handschrift“ haben sollen. Damit hat er wohl sicher recht! Wie wir 
sahen, will die Graphologie aber sogar auch auf anthropologisches Gebiet 
übergreifen, also, wie wir oben sahen, z. B. aus der Handschrift den 
„brünetten Typus“ herauslesen, vielleicht auch einmal die Dolichocephalie 
und verschiedenes andere. Wer nun weiß, wie schwer schon der Begriff 
„blond, brünett“ objektiv darzustellen ist, wird solche Übergriffe zurück¬ 
weisen müssen. Damit diskreditiert man nur die Graphologie, die gewiß 
einen wahren Kern hat. Es scheint mir, daß ihr Gebiet mehr auf die Er¬ 
forschung des Einflusses des Gemütes, der Affekte, Stimmungen etc., cet. par., 
gerichtet sein sollte, als auf die der rein abstrakten und konventionellen 
Begriffe, wie z. B. die der Eigenschaften, die z. T. rein in der Luft hängen. 
Man muß nie zuviel verlangen wollen: jede Methode hat ihre Grenzen! 
Ob es selbst solche äußerliche Dinge, wie Rhythmen und Metren des 
Druckes und der Strichlänge in den Handschriften von Dichtern und 
Musikern gibt, wie Frau Thumm-Kintzel (1. c. Nr. 10, S. 257) 
angibt, erscheint mir zweifelhaft. Dichter, Künstler, Gelehrte, Irre haben 
gewiß einige Charakteristika der Handschrift, aber nur sehr vage und in 
concreto nur mit Vorsicht zu gebrauchende. Bez. der Irren habe ich 
schon früher dargelegt, wie vorsichtig wir in der Beurteilung ihrer Hand¬ 
schriften sein müssen. Selbst echte Paranoiker brauchen gegen früher 
absolut nichts Besonderes in ihrer Schrift aufweisen. Endlich will ich noch 
speziell darauf aufmerksam machen, daß die Unterscheidungsmerkmale der 
Graphologen bez. ein und derselben Handschrift, oft so subjektiver Natur 


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sind, daß ein anderer recht gut einmal anderer Meinung sein kann. Sie 
hantieren gern mit relativen Ausdrücken wie: hoch, niedrig, fein, stark etc. 

Übrigens habe ich grade nach Niederschrift dieser Zeilen einen Brief 
eines Kollegen erhalten, der warm für die Graphologie eintritt. Er schreibt 
mir unter anderem, mit Bezug auf meine Arbeit: „. . . Mau weiß jetzt 
längst, daß durchaus nicht irgend eine Eigenschaft ihr ganz bestimmtes 
eigenes Zeichen in der Handschrift hat, sondern daß ein und dasselbe 
Zeichen in verschiedenen Handschriften — und eventuell zu verschiedener 
Zeit auch in ein und derselben Handschrift — in Verbindung mit den 
übrigen Zeichen die allerverscliiedenste Deutung erhält. Grade das, was 
Sie als Hauptunmöglichkeit gegen die Graphologie anführen, ist zu ihrer 
sicheren Grundlage geworden, indem nämlich die „Eigenschaften“ von Gra¬ 
phologen aus ihren Wurzeln entwickelt werden. Die richtige Deutung einer 
Handschrift ist aber — eben weil sie nicht, wie Sie meinen, auf ein¬ 
deutige einzelne Kriterien für bestimmte Eigenschaften sich stützen 
kann — ungeheuer schwierig und ist, nach meiner Überzeugung, überhaupt 
nicht für den nächst besten erlernbar. Aber es gibt graphologische Genies, 
und ich kenne eins (Hans Busse in München), das tatsächlich mit, nach 
meiner Erfahrung, unfehlbarer Sicherheit aus der Handschrift ein außer¬ 
ordentlich detailliertes Charakterbild des Schreibers entwirft . . ., es ist im 
allgemeinen erwünscht und erforderlich, als Material für ein Urteil minde¬ 
stens 20 Zeilen, mit Tinte geschrieben, zu erhalten, wenn irgend möglich 
2—3 solche Schriftproben und zwar ... völlig zwanglose, wie auch sorgfältige, 
nicht eigens für den Graphologen geschrieben; außerdem sind Namens¬ 
unterschrift und einige Kuvertadressen erwünscht. Auch Mitteilung über 
Geschlecht und Alter des Schreibers sind erwünscht.“ 

Der Ehrlichkeit und des Interesses halber teile ich Obiges mit. Das 
Meiste davon war mir wohlbekannt, auch die Meisterschaft Busses. Es ist 
sicher ein Fortschritt, daß es nicht ein bestimmtes Zeichen für eine be¬ 
stimmte Eigenschaft gibt, sondern eventuell mehrere, je nach den „Wurzeln“, 
Motiven. Aber gerade auch hier sehe ich viel Subjektives. Jeder, der 
sich streng prüft, wird sehr oft nicht sicher angeben können, weshalb er 
dieses oder jenes getan hat, d. h. also, das Motiv oder die Motive — meist 
sind es wohl immer mehrere — ist ihm ganz oder teilweis unbekannt ge¬ 
blieben. Und nun will es der Graphologe sicher sagen, bez. einer Reihe 
gleicher oder ähnlicher Handlungen? Immerhin mag es sein, daß manche 
förmlich intuitiv den Charakter durchschauen können, doch läßt sich diese 
Intuition nicht oder kaum lehren und ist noch schwerer zu begreifen. 


3t. 

Einige Bemerkungen zum Aufsatz M. Thumm-Kintzel: „Zur 
Verteidigung der Graphologie“ auf Seite 307. „Audiatur altera pars“ 
heißt es sehr richtig und dies gilt nicht am wenigsten für wissenschaftliche 
Dinge! Daher habe ich der Ehrlichkeit halber eine Verteidigerin der Gra¬ 
phologie, die ich persönlich kenne und hochschätze und deren System mir 
unter den mir bekannten das wissenschaftlichste zu sein scheint, zur Aus¬ 
sprache in dieser Zeitschrift Hm. Prof. Groß bestens empfohlen, zumal ihre 
Ausführungen geistreich und anregend sind. Sie wird es mir aber wohl 


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gestatten hier auf einiges, das sie anführt, kurz zuriiekzukommen, da ich 
anderes in einer kleinen Mitteilung bringen werde. 

Frau Thumm-Kintzel vermeidet anfangs den „Charakter“ und die 
„Eigenschaften“ scharf psychologisch zu definieren, weil sie es ebensowenig 
zu tun vermag, als bisher irgend ein Psycholog oder Ethiker. Sie sagt 
nur später, daß die „Eigenschaften“ nicht eins, sondern mehrere Zeichen 
besäßen, je nach den Wurzeln, denen sie entspringen. Wer abjr sagt ihr, 
daß sie die Wurzeln oder ihre Kombinationen erschöpft hat? Ich führte 
früher schon an, daß selbst der ehrlichste Selbstbeobachter die Motive seines 
Handelns oft nicht oder nur ungenügend kennt, daß ferner dieselbe Eigen¬ 
schaft fortwährend bei ihm in ihren Entstehungsbedingungen schwanken 
kann. Oft ist das Handeln nur Schein. Ich denke hierbei z. B. an den 
häufigen Fall, daß jemand als geizig gilt, weil er sparsam ist. Überall 
sind Übergänge ins Normale und Pathologische nnd das Schlimmste hierbei 
ist, daß diese Grenze rein subjektiv ist! Jener Sparsame kann im Geheimen 
wohltun, für Kunst, Wissenschaft etc. viel Geld ausgeben und doch spar¬ 
sam sein. Wie soll man ihn nennen? Nun wird Frau Thuram sagen, daß 
hier neben dem Grundzeichen des Geizes resp. der Sparsamkeit noch die 
des wohltätigen Sinnes und der Kunstfreude vorhanden sind. Dann wäre 
es ein schwer lösliches Konglomerat von Qualitäten! Man stelle sich vor, 
manche Eigenschaft hätte 10, 20 Wurzeln und wäre mit andern ver¬ 
bunden: wer soll garantieren, daß hier die Eigenschaft, die ja fortwährend 
in ihren Wurzeln wechseln kann, rein herausgeschält sei? Das müßte ein 
Genie ohne Gleichen sein, der solches vermöchte! Deshalb kann ich nicht 
recht daran glauben und müßte im Falle des Zutreffens einer Charakteri¬ 
stik an einen reinen Zufall oder an eine schwer verständliche Intuition 
glauben, die ja manche auch bez. der Physiognomik besitzen sollen, die 
aber, wenn wirklich vorhanden, kaum erlernbar und daher — zum Glücke, 
wie ich in meiner früheren Arbeit darlegte! — auch nur wenig nutzbringend 
sein könnte. 

Wenn Frau Thuram zum Beweise der Definierbarkeit der Eigen¬ 
schaften sich auf die Sprache beruft, so verkenne ich keineswegs deren 
hohen psychologischen Wert. Aber man darf ihn nicht überschätzen und 
der Psycholog von Beruf wird nur sehr bedingt seine Waffen dem 
Sprach-Arsenale entnehmen, wie ja auch alle Sprüchwörter, trotz ihrer Be¬ 
deutung, mehr oder weniger hinken und darin den Bauernregeln 
gleich sind. 

Frau Thumm hebt weiter die charakteristische Handschrift der ver¬ 
schiedenen Geisteskranken hervor und das mag gewiß für manche anhaltende 
und ausgeprägte Fälle gelten. Aber wie viele gibt es, die in allen 
Farben schillern, Übergänge zeigen, die verschiedensten Zustandsformen 
aufweisen und namentlich am Anfänge sicher keine oder kaum charakteristische 
Schriftzüge haben? Ich sah mehr als einen Paralytiker, der, auch außer¬ 
halb der Remission, nicht die sog. paralytische Handschrift aufwies, wenig¬ 
stens längere Zeit hindurch. Wir treffen immer und immer wieder Fälle- 
wo wir nicht sicher sind, ob es sich wirklich um Paralyse handelt 
und wo wir dann als ultima ratio zur Serodiagnostik greifen, 
nicht aber zur Schrift, die eventuell nichts Besonderes zeigt. Oder aber 
wir haben einen paralyseähnlichen Fall, auch bez. der Schrift vor uns, 


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Kleinere Mitteilungen. 


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und doch zeigt die mikroskopische Hirnuntersuchung, daß hier keine 
typische, eigentliche Paralyse vorlag. Ich glaube auch nicht, daß 
in jedem Falle von Größenideen bei Paranoia oder dem. para¬ 
noides sich für Größenvorstellungen charakteristische Zeichen vorfinden 
werden u. s. f. Wie wichtig, auch prognostisch, wäre es, wenn wir sicher 
durch die Schrift erführen, ob es sich um eine einmalige Melancholie resp. 
Manie oder um den 1. Anfall eines manisch-depressiven Irrsinns oder um 
einen solchen der dem. praecox handelte. Hier wird uns die Graphologie 
wohl auch in concreto stets im Stiche lassen! 

Das Unvollkommene der Methodik gibt schließlich Frau Thumm selbst 
zu, indem sie sagt, daß jeder wissenschaftliche Graphologe sein System 
ändert und vervollkommnet. Ich fürchte nur, daß diese aufsteigende Linie 
eine das Ziel nie erreichende sein wird! 

Damit aber Frau Thumm nicht glaubt, daß ich mich Tatsachen 
gegenüber verschließe, werde ich einige Schriftproben an sie und an je¬ 
mand anders zur Beurteilung schicken und werde dann vielleicht später 
einmal die Resultate nebst Corollarien meinerseits hier mitteilen. 

Übrigens wäre es gewiß lehrreich, einen Fragebogen an bekannte 
Fach-Psychologen abzusendeu und ihre Meinung bez. der psychologischen 
Möglichkeit oder Unmöglichkeit einzuholen. Ich glaube bestimmt, die 
meisten wenigstens würden sich meinem Verdikte anschließen. Genau so 
meine ich, wie der Mathematiker die Unmöglichkeit der Quadratur des 
Kreises oder der Physiker die des perpetuum mobile nachweisen kann, 
müßte es dem Psychologen gelingen, die Möglichkeit oder Unmöglichkeit 
der graphologischen Deutekunst (Graphonomie) nachzuweisen. 

32. 

Bedeutende Gedächtnisleistungen. In dem interessanten Ar¬ 
tikel von Dr. Hennig über die „Geisterschriften“ spiritistischer Medien in 
der vorzüglichen graphologischen Zeitschrift „Der Menschenkenner“, 1909, 
S. 244 ss. sind einige bemerkenswerte Fälle großer Gedächtniskraft mitge¬ 
teilt. Verf. stellt zunächst die Verwandtschaft des Traumzustandes mit 
Hysterie dar und sicher dürften die meisten Medien, wenn nicht gemeine 
Schwindlerinnen, Hysterische sein. Verf. sagt dann weiter (S. 248), 
„Alle wunderbaren Schriftzeichen, die ihnen im Wachzustand je zu Gesicht 
gekommen sind, werden im Trancezustand als „Geisterschrift in unbekannter 
Sprache“ reproduziert und es ist dabei zuweilen erstaunlich, mit welcher 
photographischen Treue das Unterbewußtsein die Erinnerung an fremdartige, 
komplizierte Schriftzeichen zu bewahren vermag.“ 

So malte z. B. ein Medium, Helene Smith, die des Arabischen absolut 
unkundig war, ein arabisches Sprüchwort im Trancezustand ziemlich getreu 
nach, als angebliche „Geisterschrift“, wobei sich herausstellte, daß sie vor 
Jahren einmal das Sprüchwort arabisch aufgeschrieben gesehen hatte. 
Man denke, vor Jahren, ohne Kenntnis der schwierigen Schriftzeichen und 
gewiß ohne damalige Absicht, es einmal später zu verwerten! Ein andermal 
kopierte dasselbe Medium ziemlich getreu die Unterschriften zweier Männer, 
die schon längst verstorben waren, deren Handschrift sie irgend einmal ge¬ 
sehen hatte. Sie gab vor, daß ihr Geist in sie gefahren sei und nun das 
diktiert hätte. Gerade aus der nicht absoluten Ähnlichkeit der Schrift- 


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Kleinere Mitteilungen. 


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ziige würde ich entgegen des Yerf.’s Meinung glauben, daß hier ein Beweis 
gegen den Spiritismus vorläge. Denn wenn ein wirklicher Geist die Hand 
regiert, so müßte man doch wohl annehmen, daß er auch seine Handschrift 
genau innehält. Übrigens passierte es demselben Medium doch, daß es die 
Handschrift der Marie Antionette und des Cagliostro ganz falsch im Trance 
wiedergab, was einen gegen einen wirklichen Trancezustand einnehmen 
muß. Sie hatte wahrscheinlich die betreffenden Handschriften gar nicht 
gesehen! Wir sehen jedenfalls, daß unter Umständen gewisse unbedeutende und 
unbeachtete Gesichtseindrüoke jahrelang latent bleiben können, um gelegent¬ 
lich wieder emporzutauchen und das bezieht sich wahrscheinlich nicht bloß 
auf Eindrücke des zentralen, sondern auch des „peripheren“ Sehens, Hörens 
etc. Gerade diese peripheren, also nicht oder nur unklar zum Bewußtsein 
gekommenen spielen z. B. im Traume eine große Bolle, vielleicht auch im 
Alltagsleben und manche barocke, unerwartete Assoziationen mögen sich 
darauf aufbauen. Noch mehr sind sie vielleicht im pathologischen Geistes¬ 
leben und im Fieberdelirium von Bedeutung. Bez. des „peripheren“ 
Hörens erinnere ich mich einer Geschichte, wonach eine ältere und unge¬ 
bildete Frau im Fieberdelirium oder somnambulen Zustande, wenn ich 
nicht irre, lange lateinische oder griechische Sätze vorbrachte. Es ergab 
sich, daß sie vor langen Jahren Pfarrers-Köchin gewesen war und ihren 
Herrn öfters Latein oder Griechisch hatte laut lesen hören, was sich ihr, ohne 
daß sie es beabsichtigte, teilweis von selbst einprägte. So erklärt sich 
einfach manches Wunder von „in fremden Zungen Reden“ u. s. f. 


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Besprechungen. 

1. 

Otto Groß: Über psvchopatische Minderwertigkeiten. Wien und Leipzig, 
Braumüller, 1909. 122 S. 

Bisher wurden die Minderwertigkeiten hauptsächlich klinisch dargestellt, 
besonders vorzüglich durch Koch. Psychologisch sie zu verstehen, gab man sieh 
nur wenig Mühe außer bei Birnbaum und was man hierüber in den gangbaren 
Lehrbüchern findet, ist mit Ausnahme von Wernicke ziemlich oberflächlich. Verf. 
versucht nun diese Lücke auszufüllen und der Versuch ist großartig ausgefallen. 
Seit Wernicke dürfte wohl kaum eine so tief eindringende psychologische 
Studie erschienen sein. Aufgebaut wird das Ganze auf Wernicke’s Sejunktions- 
lehre, Antons Kompensationslehre, die Groß’sche Ideogenität und vor allem 
auf die Freud'scheu Theorien. Es ist unmöglich den reichen Gehalt in 
einem Referate wieder zu geben. Jeder sollte die ausgezeichnete Studie 
lesen, freilich ist dies ein schweres Stück Arbeit und nicht für jeden geschaffen. 
Außerdem geht Verf. wohl zu einseitig für Freud’sche Ideen ins Feuer. 
Daß Ref. bez. einzelner Punkte nicht gleicher Meinung ist, wie Verf., ist bei 
der Weite des Thema’s klar, s. z. B., wenn Verf. Genie oder Desequilibration 
in engen Zusammenhang bringt. Dr. P. Näcke. 

2 . 

Stockis: Recherches sur le Diagnostic Mödico-Legel de la mort par 
submereion. Annales de la Sociötd de m£d. lög. de Belgique 1909. 
In dieser ganz ausgezeichneten und eingehenden, sich auf eigene Tier¬ 
experimente und Erfahrungen gründenden Arbeit, der ein großes Literatur¬ 
verzeichnis angehängt ist, untersucht Verf. genau alles, was mit dem 
Ertrinkungstode zusammenhängt, namentlich, was die Diagnose einer solchen 
bestätigen kann. Der Nachweis des Plankton in der Lungenflüssigkeit kann 
nicht absolut sicher beweisen, ob dasselbe intra oder post mortem hinein¬ 
gelangte. Allein sicher als Reaktion während des Lebens ist nur der Nach¬ 
weis (durch Corvin und Stockis) von „kristallinischem Plankton“ d. h. 
Eindringen von Mineralkristallen mit der Ertrinkungsflüssigkeit in die Herz¬ 
höhlen. Der Nachweis geschieht durch das Polarisations-Mikroskop. Negatives 
Verhalten schließt allerdings nicht sicher diese Todesart aus. 

Dr. P. Näcke. 

3. 

R. Sommer: Klinik für psychische und nervöse Krankheiten. IV. Bd. 1. 4. 
Halle, Marhold, 1909; 3 M. 

Bostroem gibt eine lange Abhandlung über die Benennung optischer 
Eindrücke bei Geistesgesunden und Geisteskranken mit dem wenig er- 


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Besprechungen. 


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mutigenden Resultate, daß die experimentelle Psychologie bei Irren bisher 
noch wenig Brauchbares lieferte. Becker behandelt die Simulation von 
Schwachsinn an der Hand eines Beispiels und zeigt die großen möglichen 
Schwierigkeiten. Dr. P. Näcke. 


4. 

Aronsohn: I. Oswald Alving. Eine pathologische Studie zu Ibsens 
„Gespenstern“. Halle, Marhold, 1909. 39 S. 1 M. 

Verf. will einzelne patholog. Gestalten Ibsens psychiatrisch untersuchen, 
hauptsächlich um den Darstellern eine richtige Direktive zu geben und dieser 
Grund rechtfertigt wohl allein,. glaubt Ref., das Unternehmen. In feiner 
Weise zeigt Verf., daß Oswald Alving an ererbter Paralyse litt und wie 
dezent der Dichter die Krankheit schilderte. Dr. P. Näcke. 


5. 

Wilhelm: Die rechtliche Stellung der (körperlichen) Zwitter, de lege lata 
und de lege ferenda. Halle, Marhold, 1909. 70 S. 1,50 M. 

Hauptsächlich für Juristen von Bedeutung. Eigentliche Zwitter mit 
getrennten Hoden und Eierstöcken gibt es beim Menschen nicht, also solche, 
die beide geschlechtliche Funktionen in einer Person vereinigen. 5 Fälle 
dagegen sind bekannt, wo Hoden- und Ovarialgewebe vereinigt waren. 
Außerdem gibt es solche, bei denen weder Hoden noch Ovarien da sind, 
neutrius generis, die aber, wie Ref. bemerken will, in vivo nie sicher 
zu entdecken sind. Verf. untersucht nun eingehend das Verhältnis des 
Zwitter zum Zivil- und Strafrecht und macht endlich ansprechende Vor¬ 
schläge. Bei erheblichen Mißbildungen der Genitalen sollte das Kind als 
„zwitterhaft“ zunächst angemeldet, ihm aber das Recht eingeräumt werden, 
nach erlangter Großjährigkeit die Wahl zu haben für das männliche 
oder weibliche Geschlecht sich zu entscheiden und zwar nach Beibringung 
eines ärztlichen, sachverständigen Gutachtens. Dr. P. Näcke. 


6 . 

Busch an: Menschenkunde. Ausgewählte Kapitel aus der Naturgeschichte 
des Menschen 8.—10. Tausend: Stuttgart, Strecker. (Ohne Jahres¬ 
angabe) 266 S. 

Verf. will in diesem gut und reich illustrierten Werke eine Anthropologie 
geben, die wissenschaftlich und zugleich populär sein soll, wie es bisher 
eine solche nicht gab. Und jeder wird zugeben müssen, daß er seine Auf¬ 
gabe glänzend löste, mit höchstem pädagogischem Geschicke und in 
schöner Sprache. Er verfügt nicht nur selbst über eigene große Er¬ 
fahrungen, sondern beherrscht auch, wie kaum ein Zweiter, die riesige 
Literatur. Heutzutage ist es nicht zuletzt für den Juristen nötig etwas vom 
physischen Menschen, der mit dem psychischen so eng zusammengehört, 
zu wissen, denn das Recht wurzelt doch in letzter Instanz in der organischen 
Materie. So sei ihm denn dies schöne Buch wärmstens empfohlen. Nach 
einem kurzen Überblick, nach einem solchen über Darwins Lehre, über 
Befruchtung und Vererbung folgen die anthropologischen Untersuchungs¬ 
methoden. Im speziellen wurde dann die äußere Form des Menschen mit 

Archiv für Kriminalanthropologie. 34. Bd. 25 


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Besprechungen. 


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den Wachstumsgesetzen etc., die beiden Geschlechter und endlich die spezielle 
Anthropologie der einzelnen Körperteile, die des Geschlechtslebens, der 
Entstehung der Geschlechter, die Kastration etc. abgehandelt, alles nach 
dem neuesten wissenschaftlichen Standpunkt. Daß bei einem so riesigen 
Materiale der Kritiker in einzelnem nicht immer gleicher Meinung ist wie 
der Verfasser, der sich mit Recht nicht scheut, seine eigene Ansicht zu 
entwickeln, ist selbstverständlich, tut aber dem Ganzen keinen Abtrag. So 
ist z. B., um nur Eines herauszuheben, Verfassers Ansicht über Homosexualität 
sicher keine richtige. Dr. P. Näcke. 

7. 

Havelock Ellis, Mann und Weib. 2. deutsche Aufl., nach der 4. eng¬ 
lischen. Herausgegeben von Kurelia, Würzburg, Kabitzsch 1909. 
556 S. 6 M. 2., Das Geschlechtsgefühl, deutsche Ausgabe. 2. ver¬ 
mehrte und verbesserte Aufl., übersetzt von Kurella, Würzburg, 
Kabitzsch, 1909, 390 S. 4 M. 

Beide Werke, wahre Standard works, sind schon früher an dieser 
Stelle eingehend besprochen worden. Es ist erfreulich, daß sie eine 2. deutsche 
Auflage erleben durften, die sie wohl verdienen. Das 1. größere Werk 
ist z. T. ziemlich verändert, neues zugefügt, anderes weggelassen worden, 
und der Herausgeber hat selbst Noten angehängt. Trotz neuer Tatsachen 
hat Verf. auch noch keine fundamentalen Merkmale von Mann und Weib 
unterscheiden können und er hütet sich wohl, vom „physiologischen“ Schwach¬ 
sinn der Weiber zu reden, ist vielmehr in der Frauenfrage sehr liberal und 
verlangt statt Diskussion große Versuche anzustellen, zu welchen Be¬ 
rufen sich Männer mehr eignen, als Frauen. Er hält es für unnötig, 
„übereifrig vor einer Versündigung gegen die Natur zu warnen“. Gegen 
manche Punkte könnte man wohl Einwendungen machen. Das Ganze ist jeden¬ 
falls ruhiger und kritischer geschrieben als das bekannte Buch von Lombroso 
über das Weib oder die Broschüre von Moebius über den physiologischen 
Schwachsinn des Weibes. Das 2. Werk, durch neues Material stark ver¬ 
mehrt, ist für die normale und pathologische Sexualität höchst wichtig, nicht 
weniger durch verschiedene Appeudices. Prof. Dr. P. Näcke. 


8 . 

Sommer: Klinik für psychische und nervöse Krankheiten. IV. Bd. 2. H. Halle, 
Marhold, 3 M. 

Becker erzählt zunächst einen interessanten Fall von simuliertem 
Schwachsinn. Er zeigt, wie wichtig in solchen Fällen das wörtliche Steno¬ 
gramm im Protokolle ist. Konsequent läßt sich Schwachsinn zwar simulieren, 
doch decken ihn namentlich psychophysische Reaktionsmethoden bald auf, 
ebenso Fragen nach dem „Lebenswissen“. Knauer macht an der Hand 
einer Geschwulst und eines Abszesses des linken Schläfenlappens scharf¬ 
sinnige Untersuchungen über die Wortstörungen und entwickelt eine 
Theorie zu ihrem Verständnisse. Hier interessiert uns besonders die Notiz, 
daß unser willkürliches Handeln, wie Lesen, Schreiben und Erkennen un¬ 
gewöhnlicher Objekte sehr von der „inneren“ Sprache abhängt. 

Prof. Dr. P. Näcke. 


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Besprechungen. 


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9. 

W. Camerer: Philosophie und Naturwissenschaft. 2. Aufl. Stuttgart, 
Frankh. 158 S. 2 M. 

In überaus klarer und fesselnder Weise schildert Verf., ein Arzt, erst 
die Geschichte der Philosophie, soweit sie für den Naturforscher von Belang 
ist, sodann das Seelenleben im Lichte der heutigen Naturwissenschaft, wobei 
er sich zum Wundt’schen Parallelismus zu entscheiden scheint, endlich entwickelt 
er die Begriffe: Kraft, Stoff, Atom etc. in der neuesten Beleuchtung 
u. z. Z. mit originalen Ideen. Da er so gut wie keine Voraussetzungen 
macht, ist sein kleines Werk jedem gebildeten Laien verständlich und 
bestens zu empfehlen. Prof. Dr. P. Näcke. 


10 . 

Odebrecht: Kleines philosophisches Wörterbuch. Berlin-Schöneberg, „Hilfe“, 
83 S., 1,50 M. 

Auch ohne sich speziell mit Philosophie zu beschäftigen, stößt man 
doch fortwährend auf mehr oder minder der Philosophie entnommene ter- 
mini technici. Es gibt nun hierfür zwar mehrere größere Wörterbücher, die 
aber dem flüchtigen Leser schon zu viel Mühe und Zeitverlust bereiten. 
Da füllt obiges kleine Büchlein eine erhebliche Lücke aus. 

Prof. Dr. P. Näcke. 


11 . 

Becher: Der Darwinismus und die soziale Ethik. Leipzig, Barth, 67 S. 2M. 

Auch eine Gabe zum 100. Geburtstage Darwins. Es ist bewunderungs¬ 
wert, wie hier ein Philosoph tief in die Naturwissenschaften sich versenkt 
und ein überzeugter Sozialethiker neuester Richtung wird, indem er zeigt, 
daß Darwins Lehre nicht, wie oft behauptet wurde, zu rücksichtslosem 
Egoismus führt, sondern das Verantwortlichkeitsgefühl in der Gatten wähl 
im Hinblick auf eine gesunde Nachkommenschaft heben muß. Er zeigt mit 
Recht, daß die natürliche Zuchtwahl allein bitter wenig leistet. Das Ganze 
ist so klar, flüssig und überzeugend geschrieben, daß es ein wahrer Genuß 
ist, es zu lesen. Prof. Dr. P. Näcke. 


12 . 

Joos: De „kuische Priesterschaar“ in de negentiende eeuw. Amsterdam, 
Buys, 1906. 

Sammlung einer langen Liste von unkeuschen resp. kriminellen 
katholischen Priestern, um von neuem das Unsinnige des Zölibats dar¬ 
zulegen. Dr. P. Näcke. 

13 . 

Platen: Het „Hofschandaal“ te Berlijn. s’Gravenhage, Overvoorde. 

Im Anschluß an die letzten Berliner Skandalprozesse bringt Verf. die 
vielen Namen aus hohen und höchsten Kreisen, welche in jüngster Zeit in 
Deutschland speziell mit der Homosexualität in Verbindung gebracht wurden, 
vor, um das Unsinnige des § 175 klarzulegen. Dr. P. Näcke. 


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Besprechungen. 


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14. 

Freimark: Okkultismus und Sexualität. Leipzig, Leipziger Verlag (1909), 
431 S. 

In klarer Sprache und mit großem Geschick hat es Verf. verstanden 
sein schwieriges Thema zu behandeln. Nach einer Einleitung bespricht er 
die Sexualität der Priester, Zauberer und verwandter Charaktere, den Ge¬ 
schlechtskult, die Sexualraystik und -magie, das Hexenwesen, das Inkubat 
und Sukkubat, endlich die sexuell-okkulten Volksgebräuche. Trotzdem 
über die mysthisch-sexuellen Gebräuche schon viel geschrieben ward, ist 
diese geschickte Zusammenstellung nicht überflüssig, da sie manches 
Neue enthält und interessante Gedanken anregt. Nur eine böse Achilles¬ 
ferse hat das Ganze: unter Okkultismus wird hier nicht bloß an ein Her¬ 
einziehen einer höhern Macht in das menschliche Getriebe gedacht, sondern 
das Wort vor allem im medianistischen, spiritistischen Sinne gefaßt und 
die ganze, für die Kulturgeschichte ziemlich überflüssige lange Einleitung gilt 
ihrer Verherrlichung. Nun sind aber die meisten Medien als Betrügerinnen 
oder Selbstbetrogene erkannt. Männer wie Zöllner, Fechner, Crookes waren 
ihre Opfer, von Leuten ä la Lombroso gar nicht zu reden. Wäre Verf. 
Naturwissenschafter, speziell Mediziner, so würde er sicher über den Okkul¬ 
tismus anders denken. Dr. P. Näcke. 

15 . 

Stockis: 1., Quelques recherches de police scientifique. Annales de la Soc. 
de Möd. lög. de Belgique 1908. 

2., La dömonstration ä l’audience de l’identitö de 2 empreintes 
digitales. Ibidem. 

In Nr. 1 bespricht Verf. zuerst die Photographie am Tatorte. Die metrische 
Phot, nach Bertillon ist hier am besten. Die autochrome Wiedergabe ist für 
Wunden wichtig. Unter Umständen ist die ,,Wiederbelebung“ des Gesichts 
Toter nach Minovici nützlich. Die Hautleisten der Handballen sind noch 
wenig studiert und doch sehr wichtig. Verfasser untersucht sie. Der 
Daumenballen hat meist nur parallele Leisten, der Kleinfingerballen zeigt 
noch mehr Varietäten. Wichtig ferner sind die Spuren von Stoffen, 
Strümpfen etc. Man kann das Gewebe, die Faser, die Zeichnung etc. 
erkennen. Durch dünne Kautschukhandschuhe erkennt man noch daktylos¬ 
kopisch die Fingerleisten, auch auf Glas, nicht aber mit Lederhandschuhen. 
Verf. sah noch nie, daß Verbrecher sich der Handschuhe bedienten, um 
keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Um Zahneindrücke z. B. in einem 
Apfel abzuformen, empfiehlt Verf. ein Gemisch von Walrat, hartem Paraffin, 
Talk und Eosin, desgl. für Fußabdrücke und Wunden. Um die Zähne 
abzudrücken, ist Modellierwachs am besten. Fußabdrücke (oft durch die 
Zeugen verwischt) kann man auf einer darübergelegten Glasplatte mit Fett¬ 
stift umzeichnen und damit findet man dann weitere Fußspuren. Bei 
Schriftdokumenten ist die Photographie sehr gut, speziell die mikrographische. 
Scharlachrot bringt sehr gut die Speichelschrift zum Vorschein. 

In Nr. 2 identifizierte Verf. 2 Verbrecher nach den Abdrücken der 
Handballen. Wichtig sind diese, wenn die Finger fehlen oder unvollkom¬ 
men sind. Hier bespricht Verf. alle vorkommenden Schwierigkeiten. Zur 
Demonstrierung vergrößere man die Bilder, aber nur 4—5 mal; oft ist es 


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gut, 2 durchsichtige aufeinander zu legen, um zu sehen, ob sie miteinander 
stimmen, noch besser aber sie mit dem Stereoskop zu betrachten. So läßt 
sich das Ganze auch vor Gericht am besten demonstrieren. 

Dr. P. Näcke. 

16 . 

Abels: Alte und moderne Einbrecher. Aus dem „Bayrischen Kurier“ vom 
30., 31. März und 1. April 1909. Separatabdruck. 

Nach Verf., der die Gaunerwelt und ihre Tricks sehr genau kennt, 
teilen sich die modernen Gauner scharf in „Aristokraten“ und „Plebejer“, 
Erstere sind meist Ausländer und oft hochgebildet. Es gibt Gesellschaften 
von Taschendieben, Hochstaplern und sogar förmliche Einbruchs-Aktien¬ 
gesellschaften mit Statuten, Direktoren, Advokaten, Agenten etc. Es gibt 
jetzt deren 3 und zwar die amerikanisch-englische mit dem Sitz in London, 
die französisch-italienische in Paris und die orientalische in Konstantinopel 
und Kairo. Für uns ist am gefährlichsten die 1. Gruppe, die der „Konti¬ 
nentalbande“. Die Einbrecher sind durchweg Techniker und Ingenieure mit 
elegantem Auftreten. Sie arbeiten rasch und nehmen bloß das Wertvollste. 
Nichts war bisher sicher vor ihnen. Sie schmelzen Löcher in die Tresors mit 
dem elektrischen Strome, mit dem Fouchebrenner, wandten flüssige Sprengstoffe 
au, nicht aber Thermit. Dagegen schützt man sich durch fast nahtlose 
Schränke, Entwickelung von giftigen Gasen beim Einbruch, durch elektrische 
Alarmapparate, durch das sogenannte Bajonettsystem und Sperrvorrichtungen, 
alles Mittel, die zurzeit das Aufbrechen von ganz modernen Panzerschränken 
so gut wie unmöglich machen. _ Dr. P. Näcke. 

17. 

Hans Fuchs: Eros zwischen euch und uns. Berlin, Eckstein. 261 S. 

Wer der irrigen Ansicht ist, daß die Homosexualität sich nicht als 
tragischer Stoff zu Romanen oder Dramen verarbeiten ließe, dem sei das 
obige feinsinnige, gedankenvolle und schön geschriebene Buch bestens zur 
Lektüre empfohlen. Der Leser wird die volle Tragik eines Homosexuellen, 
sein Alleinsein im Leben, seine Sehnsucht nach Freundschaft und Licht 
und seine schweren Konflikte mit der anders gearteten Menschheit, die ihn 
nicht versteht, begreifen. Er wird Mitleid fühlen mit dem Helden und 
allen, die ihm gleich geartet'sind. Er wird sich freuen, daß er nicht zu 
jenen Unglücklichen gehört, er wird sich aber auch über das vorliegende 
Kunstwerk freuen. Dr. P. Näcke. 

18. 

Darwin, seine Bedeutung im Ringen um Weltanschauung und Lebens¬ 
wert. 6 Aufsätze. Berlin, 1909. Verlag der „Hilfe“. 123 S. IM. 

Ein köstliches Buch zum Andenken an den 100. Geburtstag Darwins! 
Bö Ische behandelt: Darwins Vorgänger; Apel: Darwinismus und Philo¬ 
sophie; Wille: Wie die Natur zweckmäßig bildet; E. David: Darwinis¬ 
mus und soziale Entwickelung; Penzig: Darwinismus und Ethik, und 
Fr. Naumann: Religion und Darwinismus. Fast alle sind aus Vorträgen 
an der „Freien Hochschule Berlins“ entstanden und aus allen kann man 
viel lernen, wenn man vielleicht auch im einzelnen hie und da nicht beistimmt. 
Der erste und der letzte Aufsatz erscheinen dem Ref. als die gelungensten und 


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Besprechungen 


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namentlich der Essay von Fr. Naumann ist geradezu klassisch zu nennen 
und sehr gedankenvoll. Dr. P. Näcke. 


19 . 

Ab.els: Hoteldiebe. Feuilleton der Münchener Neuesten Nachrichten 
vom 8. Mai 1909. 

Unter diesem Titel hat Verf. interessante Daten gebracht, die hier 
kurze Erwähnung finden mögen. Hoteldiebe haben an Zahl sehr zuge¬ 
nommen, ebenso die Eisenbahndiebe. Sie „arbeiten“ meist einzeln und be¬ 
sonders im Winter und Hochsommer, wenn alles reist. Sie sind elegant 
gekleidet, sprachgewandt, verkehren nur in ersten Hotels, Luxuszügen etc. 
und sind vielfach feine Gesellschafter. Selten brechen sie in Zimmer ein oder 
betäuben gai ihre Opfer. Nachts geht der Dieb auf Gummischuhen, in 
schwarzem oder grauem Trikot mit schwarzer Maske, öffnet Schloß und 
Riegel und rafft schnell alles Wertvolle zusammen. Selten, wie gesagt, 
finden Chloroformbetäubungen statt, die am Schlafenden schwer 
durchführbar sind. Die meisten derartigen Attentate sind hy¬ 
sterische Erfindungen! Am meisten wird das „Zufallsgeschäft“ ge¬ 
pflogen, wie es namentlich der berüchtigte Manolescu ausführte. Eine besondere 
Sorte der Hoteldiebe sind die Juwelenräuber und die, welche in den Tresors 
der Hotels einbrechen. Die Juwelenbande verfolgt ihr Opfer oft monate¬ 
lang, bis ihr der Coup gelingt. Eine solche gefährliche Bande waren die 
„Rivieradiebe“ Leutner, Hornschuh und Genossen. Noch gefährlicher als die 
Hoteldiebe sind aber die Diebinnen, weil sie erfolgreicher sind. 

Dr. P. Näcke. 


20 . 

Ettinger: Das Verbrecherproblem etc. Bern, 1909. Erster Teil. 218 S. 

Verf. — offenbar ein Jurist und ausgeprägter Sozialist — bespricht 
tiefgründig, in schöner Sprache, bei scharfer Kritik und großer Belesenheit 
die kriminal-biologische Schule bez. des Verbrechens, analysiert sehr fein 
und richtig namentlich die Lehren Lombrosos, die er sämtlich glänzend 
ad absurdum führt und von ihnen nichts, rein gar nichts übrig läßt- Auch 
Ferri wird genau studiert, der aber schon zu des Verf.’s eigener Ansicht? 
daß der Urquell des Verbrechens in der Gesellschaft liege, den Übergang 
bildet, eine Ansicht, die sicher einseitig erscheint. Das Ganze ist glänzend 
geschrieben und jedem angelegentlichst zu empfehlen. 

Dr. P. Näcke. 


21 . 

Dr. H. Brunswig: Explosivstoffe. Mit 45 Fig. i. T. u. 56 Tafeln. 
177 Seiten. Preis geh. 8.— Verlag Johann Ambrosius Barth, 
Leipzig, 1909. 

Die nach physikalisch-chemischen Gesichtspunkten übersichtlich geord¬ 
nete, ungemein klar geschriebene Abhandlung enthält eine umfassende Zu¬ 
sammenstellung der wichtigsten Fachliteratur. Im ganzen genommen, ist 
das ungeheuere, kritisch gesichtete Material entsprechend seiner Wichtigkeit 
mehr oder minder eingehend, aber immer mit aller Sachkenntnis durchge- 
arbeitet. Besondere Sorgfalt legte Verfasser auf den theoretischen Teil, 


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Besprechungen. 


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der ganz hervorragend durchgeführt ist, worunter der allen Anforderungen 
wohl genügende praktisch» Teil immerhin etwas gelitten hat. Eine Inhalts¬ 
übersicht und ein ganz ausgezeichnetes Namen- und Sachregister gestatten 
momentanes Nachschlagen. Als wertvolles Orientierungsmittel 
verdient die gediegene, leider das Geschichtliche nur streifende Publikation 
alle Anerkennung. A. Abels-München. 


22 . 

Dr. E. Kedesdy: Die Sprengstoffe. Darstellung und Untersuchung 
der Sprengstoffe und Schießpulver. Mit 81 Abbildungen im Text. 
283 Seiten. Preis Mk. 4,20. Verlag Dr. Max Jänecke, Han¬ 
nover, 1909. 

Fast aus jeder Zeile der Hauptkapitel: 

Nitrozellulose — Nitroglyzerin — Dynamit 
spricht der auf wissenschaftlicher Höhe stehende, in der Praxis geschulte 
Fachmann, der eine ihm durchaus vertraute Materie mit aller Sachkenntnis, 
Sorgfalt und Liebe bearbeitete. 

Dies kann man von den Abschnitten: 

Schießpulver — Pikrinsäure — Ammonsalpetersprengstoffe — 
Rauchloses Pulver — Knallquecksilber 
im allgemeinen nun leider nicht behaupten. Wenn auch durchschnittlich 
sachgemäß besprochen, weisen doch diese Kapitel Lücken, besonders Un¬ 
deutlichkeiten in Anordnung und Inhalt des Stoffes auf. Sehr knapp z. B. 
sind die Chloratsprengstoffe bedacht; bei den Sprengkapseln S. 224 ist die 
wichtige elektrische Zündung mit 2 Zeilen abgetan. Neben mehreren nicht 
einwandfrei gewählten Zusammenstellungen, Überschriften, — so hätte der 
Titel des Buches wohl richtiger „Explosionsstoffe“ gelautet — wäre das 
mangelhafte Inhaltsverzeichnis zu beanstanden. Das „Laboratorium“ ent¬ 
hält manch wertvollen Wink; die sich ihm anschließenden „Sicherheitsvor- 
schriften und Gesetze“ bilden den Schluß. 

Gegen die Vorzüge der drei genannten Teile fallen die Flüchtigkeiten 
der übrigen weniger in die Wagschale. Ich möchte daher die mit instruk¬ 
tiven Abbildungen, nicht aber mit Literaturangaben versehene, im ganzen 
wertvolle Publikation angelegentlichst empfehlen. 

A. Abels-München. 


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HARVARD UN1VERSITY 



Preisaufgabe 

der Juristischen Gesellschaft in Berlin. 


Die Juristische Gesellschaft hat in der Sitzung vom 19. Mai 1909 
nachstehende Preisaufgabe ausgeschrieben: 

Der strafrechtliche Schutz jugendlicher Personen. 
Auf Grand einer eingehenden rechtsvergleichenden Dar¬ 
stellung sind Vorschläge für die Gesetzgebung zu machen. 

Die Bedingungen sind folgende: 

I. Die Ablieferung der Arbeit, in deutscher Sprache abgefaßt, erfolgt 
bis einschließlich den 1. Juli 1910 bei dem Schriftführer der Juristischen 
Gesellschaft Justizrat Dr. Seligsohn zu Berlin NW, Prinz-Louis- 
Ferdinand-Straße 1. 

Der Name des Verfassers ist in verschlossenem Umschlag beizufügen 
und auf den Umschlag ist das Motto der Arbeit zu setzen. 

II. Zur Ausübung des Amtes als Preisrichter werden fünf Mitglieder 
der Juristischen Gesellschaft, von denen zwei der juristischen Fakultät 
hiesiger Universität angehören müssen, in der Sitzung vom Juni 1910 ge¬ 
wählt. Die Preisrichter beschließen nach Stimmenmehrheit. 

III. Die Verkündigung des Beschlusses der Preisrichter und des Ver¬ 
fassers der gekrönten Preisschrift erfolgt in der Sitzung vom April 1911. 

IV. Der Ehrenpreis für die gekrönte Preisschrift beträgt zwei¬ 
tausend Mark. 

Die Einhändigung des Preises aus der Kasse der Juristischen Gesell¬ 
schaft erfolgt, nachdem der Verfasser ein gedrucktes Exemplar der Arbeit 
bei der Gesellschaft eingereicht hat. Erklärt jedoch der Verfasser vor Rück¬ 
gabe des Manuskriptes, daß er das Verlagsrecht an der Arbeit der Juristischen 
Gesellschaft überlasse, so erfolgt unmittelbar nach Abgabe dieser Erklärung 
die Einhändigung des Preises an denselben. 

Berlin, den 19. Mai 1909. 

Der Vorstand der Juristischen Gesellschaft. 

Dr. 0. Gierke. 


Druck von J. B. Hirschfeld in Leipzig. 


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