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ARCHIV
FÜR
KRIMINAL - ANTHROPOLOGIE
KRIMINALISTIK
MIT EINER ANZAHL VON FACHMÄNNERN
HERAUSGEGEBEN
VON
Prof. ür. HANS GROSS
VIERÜIDDREISSIGSTER BAND.
LEIPZIG
VERLAG VON F. C. W. VOGEL
1909.
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ARCHIV
FÜR
KRIMINAL - ANTHROPOLOGIE
UND
KRIMINALISTIK
MIT EINER ANZAHL VON FACHMÄNNERN
HERAUSGEGEBEN
Prof. Dr. HANS GROSS
YIERTODDREISSIGSTER BAUD.
LEIPZIG
VERLAG VON F. C. W. VOGEL
1909 .
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Inhalt des Yierunddreissigsten Bandes
Erstes und zweites Heft
ausgegeben 27. Juli 1909.
Original-Arbeiten. Seite
L Eine „Heilige“. Von Dr. Method Dolenc. (Mit 1 Abbildung) . I
H. Fälle von Sadismus. Von Staatsanwalt Schildermair . . . . 12
HI. Eifersucht als Triebfeder von Verbrechen. Drei Straffälle mitgeteilt
von Dr. R. Ehmer, Staatsanwalt .16
IV. Die Einwirkung von Volksparken auf die Kriminalität der Jugend.
Von Dr. Ernst Schultze . . . . . ..32
V. Über die gerichtsärztliche Beurteilung perverser Geschlechtstriebe.
Von Dr. med. Heinrich Gräf .•.45
VI. Befangenheit als Verdachfsgrund. Von Privatdozent Dr. jur. et phil.
Hans Reichel . . . **.123
VH. Ein Gedicht in Rotwelsch von Hoffmann v. Fallersleben (Leipzig 1843).
Mitgeteilt von Dr. Jos. B. Holzinger.128
V1H. Beiträge zum Auslieferungsrecht und Auslieferungsverfahren. Von
Prof. Dr. Rosenblatt. 130
Kleinere Mitteilung.
Von Dr. H. Groß:
Das Verfolgen von Fußspuren.180
Zeitschriftenschau. '
Drittes und viertes Heft
ausgegeben 16. September 1909.
Original-Arbeiten.
IX. Die Feuerbestattung vom gerichtsärztlichen Standpunkt. Von Dr.
Ernst Stark.196
X. Zur Frage der Feuerbestattung vom gerichtlichen Standpunkte. Von
Hans Groß .238
XI. Krankheit oder Laster? Von Dr. Fleischer.242
XII. Eine kriminalistisch - chemische Untersuchung von Klebstoff. Von
Dr. Hans Schöfer.251
XHI. Beiträge zum Kapitel über sexuale Verirrungen. Von Staatsanwalt
Dr. R. Ehmer.261
XIV. Orientalische Strafrechtsstudien. Von Dr. Ladislaus v. Thöt . . 271
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IV Inhaltsverzeichnis.
Seite
XV. Zur Verteidigung der Graphologie. Von Frau Magdalena
Thumm-Kintz el.307
XVI. Dunkle Linien in der Schrift und verwandte Erscheinungen. Von
A. Delhougne. (Mit 4 Abbildungen).311
XVII. Zur forensischen Würdigung der Bißverletzungen. Von Gerichtsarzt
Dr. Marx und Medizinalrat Dr. Pfleger. (Mit 4 Abbildungen) . 332
Kleinere Mitteilungen.
Von Prof. Dr. P. Näcke:
1. Seltsamer Selbstmordversuch.339
2. Resultate der Besserungsanstalten.339
3. Unempfindlichkeit durch Suggestion oder Ekstase.340
4. Trinken von Blut zum Wahrsagen.341
5. Über Echopathie.342
6. Konjekturalethnologie, — anthropologie, überhaupt Konjektural-
wissenschaft .343
7. Heilung der Warzen durch Suggestion.344
8. Echte und falsche Epilepsie.344
9. Aufhören von Verbrechen durch suggestiv erzeugte Ideale . 345
10. Über die „Hörigkeit“.345
11. Schwängerung in erotischer Ekstase.347
12. Beiträge zum „Zungenkusse“.347
13. Die Päderastie als Kult- oder Ritualhandlung.34S
14. Der Afterkuß.348
15. Handlangerdienste der Kirche bei Verschlechterung der Rasse 349
16. Penis-Fraktur als Racheakt.350
17. Die Entwickelungsfähigkeit der Neger.351
18. Die Art der Fürsorgezöglinge.355
19. Neueres über Linkshändigkeit.356
20. Medianität, Linkshändigkeit und Homosexualität.357
21. Vom Alpdrücken.358
22. Das angeblich Ähnlich-Werden zwischen den Gesichtern von Ehe¬
leuten und zwischen denen im hypnotischen Rapport Stehenden 358
23. Vergraben von Exkrementen und einiges andere Skatologische 359
24. Onanie aus Aberglauben.360
25. Instinkt, Verstand und Nachahmung .360
26. Die Prostituierte im Irrenhaus.361
27. Platonische Prostituierte oder die „demi-vierges in praxi . . 362
28. Eine charakterologisch wichtige Art von Lüge.362
29. Die gemütliche Abstumpfung der Geisteskranken.364
30. Weiteres zur Graphologie.364
31. Einige Bemerkungen zum Aufsatz M. Thumm-Kintzel: „Zur Ver¬
teidigung der Graphologie“ auf Seite 307 . 366
32. Bedeutende Gedächtnisleistungen.368
Büch erbesprech ungen.
Von Prof. Dr. P. Näcke:
1. Otto Groß: Über psychopatische Minderwertigkeiten . . . 370
2. Stokis: Recherches sur le Diagnostic M6dico-Legal de la mort
par submersion.370
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Inhal tsverzeichnis.
V
Seite
3. R. Sauer: Klinik für psychische und nervöse Krankheiten 370
4. Aronsohn: I. Oswald Aloing. Eine pathologische Studie zu
Ibsens „Gespenstern“.371
5. Wilhelm: Die rechtliche Stellung der (körperlichen) Zwitter,
de lege lata und de lege ferenda.371
6. Buschan: Menschenkunde.371
7. Havelock Eiost: Mann und Weib .372
8. Sommer: Klinik für psychische und nervöse Krankheiten . 372
9. W. Camerer: Philosophie und Naturwissenschaft .... 373
10. Ode brecht: Kleines philosophisches Wörterbuch .... 373
11. Becher: Der Darwinismus und die soziale Ethik .... 373
12. Joos: De „kuische Priesterschaar“ in de ncgentiende eeuw 373
13. Platen: Het „Hofschandaal“ te Berlijn.373
14. Freimark: Okkultismus und Sexualität.374
15. Stockis: 1. Quelques recherches de police scientifique, 2. La
dömonstration ä l’audience de Pidentitö de 2 empreintes digitales 374
16. Abels: Alte und moderne Einbrecher.375
17. Hans Fuchs: Eros zwischen euch und uns.375
18. Darwin: seine Bedeutung im Ringen um Weltanschauung und
Lebenswert.375
19. Abels: Hoteldiebe. Feuilleton der Münchener Neuesten
Nachrichten vom 8. Mai 1909 . 376
20. Eltinger: Das Verbrecherproblem etc.376
Von A. Abels:
21. Dr. H. Brunswig: Explosivstoffe.376
22. Dr. E. Kedesdy: Die Sprengstoffe.377
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1 .
Eine „Heilige“.
Von
Dr. Method Doleno, Graz.
(Mit 1 Abbildung)
ln Länderstrichen mit ausgesprochen frommer, glaubensstarker
Bevölkerung, die fernab von der geräuschvollen Welt ihr Dasein fristet,
wird die Volksseele von Zeit zu Zeit für den Glauben an die Mög¬
lichkeit eines unmittelbaren Verkehres zwischen einem schlichten Erden¬
wesen und dem Himmel besonders empfänglich. Äußere Erscheinungen
sind es, die den Wahn an einen solchen Verkehr bei einem engen
Kreise von Menschen auslösen; dringt aber einmal die Kunde hievon
in die weite Welt, dann steigert sich der Wahn, je weitere Kreise
ihm verfallen, an Umfang und Stärke ins Unermeßliche, ein Ziehen,
Wandern, Pilgern zum „Gottbegnadeten“ hebt an, und — alsbald wird
der Gottbegnadete zum — „Heiligen“!
Im Herbste 1908 verbreitete sich in Innerkrain und den anstoßenden
Gebieten rasch die Neuigkeit, eine „Heilige“ sei im Lande erstanden.
Nicht zum ersten Male seit den letzten 2 Jahrzehnten. Eine „Heilige“,
genannt die „verzückte Lentschka“, wurde vor mehr als 20 Jahren
in der Reifnitzer Gegend (Unterkrain) von ihren Zeitgenossen be¬
wundert und verehrt; doch ist mir ihr endliches Schicksal heute nicht
mehr erinnerlich. Ein anderer Fall war ein alter, würdiger Geistlicher;
er lebte als Exposit von der Welt abgeschieden auf einem steilen
Berge Unterkrains mit einer prächtigen Aussicht und stand Jahre
hindurch im Rufe eines „Heiligen“. In meiner Studentenzeit, die ich
in Unterkrain verbrachte, traf ich wiederholt Leute, die aus Kroatien
kommend Kranke zu dem alten Geistlichen führten oder wenigstens
zu dem Behufe zu ihm zogen, um sich von ihm verschiedene Gebrauchs¬
gegenstände, wie Brot, Papier (besonders grünes für Augenkranke)
weihen zu lassen. Die geweihten Sachen wurden dann eiligst nach
Hause getragen und von den Kranken verwendet. Viele sollen davon
genesen sein . . . Anfangs der 90er Jahre starb er, ohne daß das
Andenken an seine Taten ein nachhaltiges geblieben wäre.
Archiv für Kriminalanthropologie. 34. Bd. 1
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I. Method Dolenc
Diesmal handelt es sich wiederum um eine „Heilige“. Das Pilgern
zu ihr begann Anfangs Oktober 1908; Fremde ans Krain, Görz und
andern angrenzenden Gebieten strömten in hellen Scharen herbei, so daß
sich der Angelegenheit alsbald die Tagespresse von Laibach bemäch¬
tigte und die Behörden zur Steuer des vermeintlichen Unfugs anrief!
Die Sache spielte sich in einer hügeligen, waldreichen, spärlich
besiedelten Gegend ab, in einem Weiler zwischen Loitsch (4. Eisen¬
bahnstation von Laibach gegen Adelsberg zu) und der weltbekannten
Quecksilberbergstadt Idria. Die dortige Bevölkerung, der Nationalität
nach slovenisch, ist ungemein religiös, wie in Innerkrain überhaupt.
Auf Sittlichkeit wird sehr viel gehalten und kaum irgendwo sind
uneheliche Kinder eine solche Seltenheit wie hier. Ich entsinne mich
aus meiner Jugendzeit, was für ein unliebsames Aufsehen, entstand,
als eine Eeuschlerstochter in meinem Heimatsorte — einem Dorfe an
der Grenze zwischen Innerkrain und Görz — eines unehelichen Kindes
genesen war. Man hielt es für eine Schmach des ganzen Dorfes, das
trotz seiner Einwohnerzahl von über 500 Personen seit Jahrzehnten
so etwas nicht erlebt hat. Allerdings gibt es auch Innerkrainerinnen
genug, die zu Falle kommen, wenn sie in die Fremde gegangen und
auf der Suche nach dem Brot im großstädischen Getriebe untergetaucht
sind. Allein nach der Bückkehr ins Heimatsdorf wird ein Mädchen
das Mutter geworden, stets mit scheelen Augen betrachtet. Die Ab¬
neigung gegen die Gefallenen überträgt sich, ganz im Gegensätze zu
den Verhältnissen in anderen Ländern, z. B. Kärnten, Salzburg, selbst
auf ihre Kinder. Ja, vielfach wird diesen schon bei der Taufe —
wohl über Einflußnahme der Geistlichkeit — ein Stigma fürs Leben
aufgedrückt. Man gibt ihnen den Namen jenes Heiligen, der gerade
auf den Geburts- oder Tauftag fällt, mag er noch so unvolkstümlich
und exotisch klingen!
Ich glaube, vorstehende Schilderung dieser Verhältnisse dürfte
nicht unangebracht sein; etwas Einschlägiges finden wir nämlich bei
unserer vermeintlichen Vermittlerin zwischen dem Himmels- und
Erdenreiche. Sie wurde als uneheliches Kind ihrer damals im 33. Jahre
stehenden Mutter Anna I. am 13. Oktober 1867 geboren. Man könnte
wetten, daß sie am Tage der heiligen Theresia — 15. Oktober —
getauft wurde; dies ist nämlich ihr Taufname. Ihre Mutter steht
im 74. Lebensjahre, Theresia selbst im 41., also unzweifelhaft nicht
mehr weit entfernt vom Klimakterium.
Ob der Vater der Theresia I. je krank war, ob in seiner Familie
irgendwelche Geisteskrankheiten aufgetreten sind, ist nicht feststellbar.
Ihre Mutter hat jeden Kontakt mit dem Vater des Kindes verloren;
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Eine „Heilige“.
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sie weiß nicht einmal, ob er noch am Leben ist. Von den Verwandten
der Mutter war niemand krank, sie sind alle von hohem Wüchse und
kräftiger Konstitution. Als Kind hatte Theresia große Entbehrungen
zu erleiden; ihre Mutter mußte als Tagelöhnerin für sich, fürs Kind
und für ihren längst verstorbenen Vater aufkommen. Die Schule be¬
suchte Theresia nur ganz kurze Zeit, erlernte aber bei ihrer guten
Begabung und ihrem großen Fleiße dennoch lesen und schreiben.
Gesund war sie immer. Die Zeit des Eintritts der menses ist nicht
feststellbar, sie kommen noch immer, stets regelmäßig und stark. Bis
zum 19. Jahre diente sie als Magd. Da traf sie ein Unglück; sie
kegelte sich den rechten Ellbogen aus und brach sich die linke
Hand hinter der Faust. Nach ihrer Genesung mußte sie sich als
Näherin durchbringen. Sie arbeitete meist in häuslicher Zurück¬
gezogenheit und war immer recht brav. Seither besserten sich auch
ihre Vermögensverhältnisse. Doch blieb sie stets weltlichen Dingen
abgekehrt, arbeitete fleißig und lebte gottesfürchtig. Ihre Frömmigkeit
war eine so tiefe, daß sie jeden Tag bei jeder Witterung in das nächste,
s /4 Stunden entfernte Dorf zur Frühmesse ging. Irgendwelche sexuelle
Regungen wurden bei ihr nie bemerkt. Sie war auch Mitglied der
Mariengesellschaft.
So verlief Theresiens Leben bis zum 16. August 1908. An diesem
Tage gegen Mittag fiel sie ihrer von der Feldarbeit nach Hause
kommenden Mutter stürmisch um den Hals und rief aus: „Mutter
haben sie schon von einer Verzückten gehört? Sie haben eine im
Hause!“ (Der obenerwähnte Fall von der „verzückten Lentschka“
war seinerzeit weit und breit bekannt.) Am nächstfolgenden Tage
traf die Mutter, von der Arbeit zurückgekehrt, ihre Tochter auf dem
Boden knieend in verzückter Stellung. Sie versuchte sie aufzurütteln
es war nicht möglich, — sie war wie starr. Die Mutter rief sie beim
Namen, holte Nachbarsleute herbei; doch blieben alle Versuche, sie
zu sich zu bringen, erfolglos. Erst nach einer ziemlichen Weile er¬
wachte sie und sagte zur Mutter: „Mutter, glauben sie jetzt daran,,
wo es ihnen Gott offenbart hat?“ — Die erste Zeit darauf kamen
solche Verzückungen einmal, später zwei-, dreimal wöchentlich,
allmählich wiederholten sie sich täglich. Seit Dezember 1908 kehrten,
sie täglich 3mal wieder: zur Zeit des Läutens um 7 Uhr früh,
zu Mittag und wenn die Ave-Maria-Glocke erklang. Vom 15. August 1908
weiter war sie, die überaus fromme, gottesfürchtige Person, überhaupt
in keiner Kirche mehr. Sie selbst hat dies dahin aufgeklärt, daß sie
es nicht mehr nötig habe, zur Messe zu gehen, seit sie von Jesus r
den sie immer liebte, die Wohltat erhalten, daß sie verzückt werde.
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I. Method Dolenc
Denn während der Verzückung nehme sie im Himmel an der heiligen
Messe teil, Jesus selbst spende ihr die heilige Kommunion.
Der Verzückungszustand hielt bis zu t V 2 Stunden an. Nachher
war sie frisch, nähte oder strickte Strümpfe. Sie sprach stets vernünftig,
empfand keine Schmerzen, hatte zwar weniger Appetit, war aber im
allgemeinen lustiger denn je. Die Verzückungen wurden alsbald bei
den Dorfinsassen bekannt, denn Theresia selbst beauftragte ihre Mutter,
die Sache weiter zu erzählen. In der Tat kamen bald Nachbarn,
dann auch ganz fremde Leute in hellen Scharen, seit etwa Dezember 1908
manchmal an Hundert täglich, um die Verzückte zu sehen. Die Dorf¬
insassen waren auch nicht wenig stolz, daß sie eine „Heilige“ im
Dorfe beherbergten. . . . Nach jeder Verzückung erzählte Theresia
mit Predigerstimme den andächtig lauschenden Leuten, sie sei im
Himmel gewesen, habe Gott, Mutter Gottes, Engel, Heilige und ver¬
storbene Bekannte gesehen, gesprochen. Die Menge starrt sie an,
betet, Weiber weinen. . . . Ehe die Leute das Haus der „Heiligen“
verlassen, legen sie ihren Obolus zu Füßen der Verzückten, Mehl oder
Eßwaren, Geld: wie Zeitungen berichteten, wurden ihr selbst Dukaten
geschenkt. —
Am 11. Dezember 1908 schritt nun die Gendarmerie ein und
erstattete wegen aller dieser Vorkommnisse eine Anzeige gegen Theresia
und ihre Mutter; die beiden seien Schwindlerinnen, die die Verzückungs¬
zustände der Theresia arrangieren, um von den gläubigen Leuten
Nutzen zu ziehen. Die Sache sei auch von sanitätspolizeilichem
Standpunkte bedenklich, weil sich in der Stube der Theresia Leute
aus den verschiedensten Orten ansammeln, und dort trotz der schlechten
Luft bis zu 2 Stunden ruhig ausharren; die Gefahr der Verbreitung von
ansteckenden Krankheiten werde hierdurch geradezu heraufbeschworen.
So kam die Sache in die Hände der Behörden. Die Bezirks-
hauptmanrischaft trat die Anzeige an das Bezirksgericht Loitsch ab.
Dieses pflog zunächst Erhebungen in der Richtung des Betrugs (U 308/8).
Man lud die Verzückte vor. Das Zustellorgan berichtete, Theresia I.
könne bei der grimmigen Kälte den Weg nach Loitsch nicht machen;
denn wenn sie im Freien ihren „Zustand“ bekäme, könnte sie erfrieren.
Nun entschloß sich das Gericht, die Verzückte unter Zuziehung eines
Gerichtsarztes kommissionell zu untersuchen. Für das Erscheinen der
Kommission an Ort und Stelle wurde die Zeit so gewählt, daß man
die Verzückte in ihrem Zustande in Augenschein nehmen konnte.
In der Keusche der Theresia I. waren an 50 Leute versammelt.
Alle lobten ihren bisherigen Lebenswandel und gaben ihrer Überzeugung
Ausdruck, daß man es mit einem Wunder Gottes zu tun habe.
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Eine „Heilige“.
&
Die Mittagsstunde nahte. Theresia I. geriet in Verzückung
(1l, 55 ' Vm.). Das diesfällige gerichtliche Augenscheinsprotokoll lautet:
„Theresia I. sitzt vollkommen unbeweglich auf der Bank am
Ofen, angelehnt an eine eigens zu diesem Zwecke hergerichtete Diele^
unter den Füßen hat sie einen Schemel. Die Hände hält sie im
Schoße gefaltet, als ob sie beten würde. Den Kopf hält sie gegen
rechts nach oben hin geneigt, die Augen sind dem Himmel zugekehrt,
wohin sie unverrückt starrt, der Mund geschlossen. Die einzigen
Lebenszeichen sind: Hie und da ein fast unmerkliches Zucken mit
den Wimpern, kräftiges Schlucken, ganz ruhiges Atmen und ziemlich
schnelles Pulsieren der Adern (104 mal in der Minute). Wird die
Augenschleimhaut berührt, zuckt die Verzückte anfangs mit den Augen
gar nicht, gegen Schluß dieses Zustandes drückt sie die Augenlider
zu, doch nicht so viel, daß das ganze Auge verdeckt würde. Bläst
man ihr kräftig ins Gesicht, oder packt man sie bei den Haaren,
zuckt sie ein wenig mit den Augenwimpern. Will man den Kopf
aus seiner Lage nach links drehen, so sträubt sie sich mit allen
Muskeln dagegen; nur unter Anwendung von ziemlicher Kraft glückt
der Versuch, gleich darauf fällt der Kopf in die frühere Lage. Auf
Lichteinfall reagieren die Pupillen regelrecht. Als ihr die Augen
zu einem solchen Versuche zugedeckt werden, drückt sie sie zu. Die
Augen tränen in einem fort, insbesondere gegen Ende der Verzückung;
in diesem Stadium hat sie auch selbst öfters die Augen schnell halb
geschlossen. Das gleiche tritt ein, wenn ihr die Mutter die schwei߬
bedeckte Nase von Zeit zu Zeit mit einem Tuche abtrocknet. Weder
Mund noch Unterkiefer lassen sich öffnen, so krampfhaft hält sie sie
geschlossen. Anfangs der Untersuchung war die Muskulatur der Hand
völlig leblos, gegen Ende blieb die Hand in der Lage, wie man sie
gestellt hatte. Die krampfhaft zusammengedrückten Füße konnte
man nicht auseinandertun. Auf einen leichten Nadelstich in die Hand
zuckt sie fast unmerklich mit dem Daumen und atmete etwas tiefer
auf. Beim Nadelstich in die Lippe hat sie nur einige Male kräftig
geschluckt. Der Gesichtsausdruck ist mehr stumpf. Ruft man sie
an, bekommt man den Eindruck, daß sie vollkommen gut hört; denn sie
rührt die Augenlider und Lippen und macht ungefähr eine Gebärde, als ob
sie sagen wollte: „Laßt mich in Frieden!“ — Gegen Ende der Ver¬
zückung dreht sie den Kopf selbst auf die linke Seite dem Fenster
zu, schließt halb die Augen, öffnet sie wiederum, beginnt sich ein
wenig mit den Händen zu bewegen. Auf einmal atmet sie tief auf,
blickt verwundert um sich herum, benimmt sich überhaupt wie ein
Mensch, der eben aus dem Schlafe erwacht. Zunächst schweigt sie
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I. Method Dolenc
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noch und tut, als ob sie schläfrig wäre, dann, erst nach einer geraumen
Weile, gibt sie auf die gestellten Fragen eine Antwort.“ —
Diese Verzückung hielt von 11, 55 ' Vm. bis l, 15 ' Nm. an. Nach¬
stehend das Bild der Verzückten; es wurde nicht bei der kommissioneilen
Amtshandlung aufgenommen, sondern einige Tage darauf von einem
Amateurphotographen. Er nahm sich damals eine Begleiterschaft von
20 handfesten Burschen mit, um
vor eventuellen Angriffen der
Ortsinsassen geschützt zu sein.
Denn diese behüteten sietreu,
auf daß ihr Fremde kein Leid
antäten oder gar sie nicht ir¬
gendwohin fortbrächten.
Aus der Reihe der in das
Augenscheinsprotokoll aufge¬
nommenen Fragen des Sachver¬
ständigen an die ; „Heilige“ so¬
wie ihre Antworten mögen ei¬
nige besonders markante hier
Platz finden, um zu zeigen, in
welcher Richtung sich ihre
Phantasie besonders rege betä¬
tigt. Im Protokolle wurde be¬
sonders vermerkt, daß Theresia
J. alle Antworten mit hoch er¬
hobener Stimme und mit dem
Pathos eines Predigers gab.
Frage: Was haben Sie gesehen?
Antwort: Den Himmel habe ich gesehen.
F.: Haben Siö Gott gesehen? wie ist er?
A.: Gott ist unermeßlich schön.
F.: Was haben Sie aber noch im Himmel gesehen?
A.: Was soll ich weiter gesehen haben? Es ist genug daran!
F.: Was taten Sie im Himmel?
A.: Auf dem Schoße Gottes lehnte ich und schlief.
F.: Haben Sie Träume gehabt?
A.: Warum Träume? Ich empfand ein süßes Gefühl, weil ich
bei Gott war, und darum war ich ruhig, weil ich bei ihm war.
F.: Haben Sie die Mutter Gottes gesehen?
A.: Auch die Mutter Gottes habe ich früher öfters gesehen,
heute habe ich aber nur auf seinem Schoße geschlafen.
Theresia J. in Verzückung.
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Eine „Heilige'.
7
F.: Wie schaut der Himmel aus?
A.: Ungeheuer schön ist der Himmel. Mein Geist sah ihn. Ihnen
kann ieh es nicht wiedergeben, da es nicht einmal der heilige Panlns
zu tun vermochte. Wem nicht gegeben zu sehen, der kann es auch
nicht vollkommen ermessen. Heute war ich nur auf dem Schoße
Gottes, bis mich der Geist Gottes zurückgerufen hat. Jetzt bin ich
auch mit dem Geiste hier, wo ich früher bloß mit dem Körper war.
F.: Taten Ihnen nicht die Augen weh? Hörten Sie, als man
Sie anrief?
A.: Warum sollten mir die Augen weh getan haben? Eb ist
genug Kraft in ihnen. Ich hörte Sie, als Sie mich gerufen haben,
aber es stand nicht in meiner Kraft, Ihnen Antwort zu geben.
F.: Haben Sie Nadelstiche empfunden?
A.: Ich habe nirgends einen Schmerz verspürt!
F.: Spüren Sie irgend welche Übelkeiten?
A.: Übelkeiten spüre ich keine, ich bin ganz wohl. Hier muß
ich sitzen, damit mir Geist und Kraft wiederkehren, und dann werde
ich auch bei vollen Kräften sein. —
Der Sachverständige stellte noch einige andere Fragen; Theresia
wurde verwirrt und lehnte weitere Fragenbeantwortungen ab, es sei
genug an den bisherigen. Nun — verfiel Theresia neuerdings in
Verzückung. (Die Austragung dauerte von l, 15 ' bis l, 30 ' Nm.) An
den Mienen der Umstehenden war helle Freude zu lesen. Sie liehen
ihrer Überzeugung unverhohlen Ausdruck: „Gott selbst wollte der
Gerichtskommission ein Wunder zeigen, daher berief er ihren Geist
neuerlich zu sich!" Die Weiber brachen in Tränen der Rührung
aus. Man drängte sich hart an die Verzückte heran, gleichsam ent¬
schlossen, sie zu schützen, sollte ihr die Gerichtskommission etwas
antun wollen!
Die zweite — außergewöhnliche — Verzückung dauerte nur eine
halbe Stunde. Als Theresia wieder erwachte, hielt sich die Gerichts¬
kommission absichtlich im Hintergründe der Stube auf, um einstweilen
von ihr nicht gesehen zu werden.
Nun stellten andere Anwesende verschiedene Fragen an sie. Sie
gewann vollständig ihre Fassung und erzählte ihnen mit Gebärden
eines Predigers von ihren Wahrnehmungen im Himmel: Jesus und
Maria haben sie zu sich gerufen, zwischen diesen beiden sei sie ge¬
wesen. Oh! welch’ ein Glück! Sie habe einen weißen Schleier ge¬
habt, ein weißes Kleid als Braut Jesu Christi, wie schon oftmals!
An seiner Brust habe sie gelehnt, er habe ihr einen Ring an den
Finger gesteckt ... Sie habe auoh den heiligen Geist gesehen . . .
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8 I. Method Doeenc
Der Himmel sei unendlich schön, mit schönen, kostbaren, blumen-
durchwirkten Webereien bedeckt, alles strahle von himmlischem Glanze.
Weiße Engelein mit goldenen Kränzen, goldenen Kronen und kost¬
baren Mäntelchen gebe es da . . . Die größte Pracht sei aber Jesus
und Gott, der Vater selbst. Sie habe in seinem Schoße schon oft
geruht Man halte ihn für einen Greis; allein er ist nicht alt, ein
schöner, majestätischer, nicht zu alter Herr sei er und unendlich
freundlich .... Übrigens habe sie auch Bekannte gesehen. Die
(folgt der Name eines jüngst verstorbenen Mädchens) habe sie in
weißem Kleide mit aufgelöstem Haare angetroffen. Ob auch unge-
taufte Kinder im Himmel weilen? Jawohl! Da sei ein Bübchen
daher gelaufen gekommen und habe ihr gesagt, sie solle den Eltern
ausrichten, daß es ihm gut gehe. Da sie das Bübchen nicht gekannt
hätte, nannte es sich selbst beim Namen: es sei das .... sehe Kind,
das vor der Taufe gestorben sei . . . Nur seien solche Kinder mehr
dunkel gefärbt und haben weniger himmlischen Glanz, als die getauften.
Wer sie durch den Himmel führt? Ihr Onkel, der im Alter von
2 Jahren gestorben, nunmehr aber ein großer Mann geworden sei...
So ging es auf die Befragungen ihres Umstandes weiter; häufig
flocht sie mitten in die Antwort bekannte Predigerausrufe ein, z. B.:
„Vertrauet auf Gott! Alles werdet ihr erreichen, wenn ihr auf Gott
vertraut! Es wird euer Nutzen sein, wenn ihr betet!“ u. dgl. m.
Daraufhin ließ sich die Gerichtskommission der Verzückten
wiederum blicken und stellte neuerlich einige Fragen an sie. Einige
wenige davon mögen hier noch Platz finden.
F.: Sind Sie nicht hungrig, da Sie lange über Mittag nichts zu
sich nehmen?
A.: Der Körper ist immer hungrig, der Geist aber nicht. (Sie
lachte dabei.)
F.: Ist es Ihnen nicht unangenehm, wenn so viele Leute um Sie
herumstehen?
A.: Es ist mir nicht zuwider. Ich rief sie nicht; wenn sie aber
kommen, so ist das wohl der Wille Gottes!
F.: Wie fühlen Sie sich vor der Verzückung? Spüren Sie
irgendwie, daß dieser Zustand herankommt?
A.: Freilich spüre ich’s, bevor es kommt. Inwendig spüre ich,
daß mich etwas im Geiste ruft . . . Dann mag ich nichts mehr um
weltliche Dinge, überhaupt um niemanden um mich wissen! Kommt
der Ruf, so ist es mir, als ob ich einschlafen müßte. Der Geist geht
hoch hinauf, die Kraft schwindet. Ich sehe, wenn mir jemand die
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Eine „Heilige".
9
Augen berührt, doch beachte ich eö nicht, weil mein Geist durch die
körperlichen Angen den Himmel schant.
F.: Werden Sie einst in den Himmel kommen?
A: Das hat mir niemand gesagt. Warum? Ich weiß es schon
jetzt, daß es sein wird, weil schon jetzt mein Geist hinaufgeht.
F.: Wie ist Ihr Befinden im allgemeinen?
A.: Mein Körper befindet sich wohler, ist widerstandsfähiger,
ich verspüre ein Gefühl der Freude am ganzen Körper.
F.: Wie sind Sie bei Appetit?
A.: Appetit habe ich, doch brauche ich wenig. Ich habe keine
Zeit hier zu leben.
F.: Sind Sie froh, wenn Ihnen jemand etwas bringt?
A.: Wer wäre nicht froh!
F.: Wie ist Ihre Natur überhaupt?
A.: Ich bin nicht zornig, ich will es auch nicht sein. Seit dem
Großfrauentag (15. August) bin ich noch nicht aus dieser Stube ge¬
gangen, doch vermisse ich die Luft nicht Wenn alle Leute hinaus
gehen, ist Luft genug, noch zu viel. —
Zum Schlüsse brachte der Sachverständige mit Absicht einige
Fragen vor, um sie bezüglich ihrer Reizbarkeit auf die Probe zu
stellen. Sie antwortete mit großer Zungenfertigkeit und blieb keine
Antwort schuldig. —
Die eigentliche Untersuchung der Verzückten in somatischer Be¬
ziehung fiel ziemlich dürftig aus; einesteils versicherten alle, die
Theresia genau kannten, sie sei körperlich stets gesund gewesen,
andemteils empfahl es sich, von einer eingehenden körperlichen Unter¬
suchung Abstand zu nehmen, um nicht bei den anwesenden Verehrern
der Verzückten Erbitterung zu erwecken. Aus dem Befunde wäre
hervorzuheben: Theresia I. ist von mittelgroßer Statur, schlecht ge¬
nährt, von gesunder Gesichtsfarbe; sie weist weder auf dem Schädel,
noch sonstwo sichtbare Merkmale überstandener Krankeiten oder
erlittener Verletzungen auf. Die Schilddrüsen sind vergrößert, am
Halse ist das Pulsieren der Adern sichtbar. Die Venen sind sehr
elastisch.
Über das Verhalten der Verzückten in geistiger Beziehung wurde
durch Befragen von Personen, die seit ihren Verzückungszuständen
wiederholt mit ihr in Berührung gekommen waren, noch folgendes
erhoben: Sobald die Verzückung aufhört, gibt sich Theresia vollkommen
vernünftig und ist stets bereit, auf jede gestellte Frage zu antworten.
Sie kommt dem einfachen Volke gegenüber — und in der Regel
kommt nur solches zu ihr — nie in Verlegenheit. Öfters hat es sich
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I. Method Dolenc
ereignet, daß Bie jemand befragt hat, ob sie seinen Verwandten im
Himmel gesehen hätte. Häufig lautete die Autwort, „bisher noch
nicht!“ Doch schon am nächsten Tage sagte sie, sie habe ihn ge¬
sehen, und trug den Umstehenden auf, dem Fragesteller, wenn er
nicht anwesend war, dies zur Kenntnis zu bringen. —
Der Sachverständige gab auf Grund des gesamten Untersuchungs¬
materials sein Gutachten dahin ab, es handle sich um eine Hysterische.
Ihr Werdegang — Unfall in der Jugend, Berufswandel, eintöniges, von
der Welt abgeschlossenes Leben, ziemlich schlechte Vermögensverhält¬
nisse, den Lebensgenüssen abgekehrtes Naturell — drängte sie zur
Vertiefung ihres religiösen Sinnes. Ihre gute Begabung und lebhafte
Phantasie malten ihr die Freuden des Himmels ans, ein immer hef¬
tigeres Verlangen, die Freuden des Himmels schon auf Erden zu
genießen, stellte sich ein, zeitigte auf dem Wege der Autosuggestion
hysterische Ekstasen, die sich schließlich zu visionär-ekstatischen Ver¬
zückungen steigerten. In der Folge kehren diese durch die tägliohen
kirchlichen Gebräuche — Frühmesse, Mittags- und Abendläuten —
ausgelöst, regelmäßig wieder. Der Inhalt ihrer Halluzinationen ist
demnach vornehmlich religiösen Charakters; doch klingt auch noch
ein anderes Gefühlsmoment leise mit, jenes der — selbstverständlich
ungewollten — Geschleohtslust Die Verzückte verkehrt immer mit
Gott-Vater, der, obwohl ein älterer, doch immer noch ein schöner Mann
ist, sie schläft in seinem Schoße, sie ist die wirkliche Braut Christi,
erhält von ihm ein Brautkleid, einen Brautring, sie begegnet im Himmel
meist Personen männlichen Geschlechtes. Es scheint, als ob sich ihre
Natur durch die leise ans Sinnliche anklingenden Halluzinationen für
die Jungfrauenschaft entschädigen wollte . . .
Alles in allem: Die gerichtliche Kommission gewann die Über¬
zeugung, daß die Verzückte eine kranke, hysterische Person, und keine
Schwindlerin sei, sowie, daß weder sie, noch ihre Mutter ihre zahl¬
reichen Besucher zur Darbringung von Geschenken veranlassen. Das
gerichtliche Verfahren war somit erschöpft, die Anklagebehörde legte
die Anzeige zurück, das Strafverfahren wurde eingestellt —
Nunmehr trat die Aufgabe an die Verwaltungsbehörde heran,
dem weiteren Zuzuge der Bevölkerung zur „Heiligen“, als die sie
insbesondere im heimatlichen Dorfe galt, Einhalt zu gebieten. Die
Bezirkshauptmannschaft entledigte sich dieser Aufgabe mit großem
Geschick. Über ihre Veranlassung wurde anfangs Februar 1. J.
öffentlich verlautbart, Theresia sei geisteskrank, ihre Verzückungen
seien lediglich Folgen der Krankheit. Das gleiche tat die Geistlich¬
keit der nahen Pfarreien von. der Kanzel herab. Das Gemeindeamt
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Eine „Heilige“.
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brachte schließlich eine Tafel an der Kensche der Theresia I. an, die
weitere Besuche der Genannten untersagte. Seit die wahre Ursache
und Natur der Verziickungszustände bekannt geworden, fanden sich
übrigens auch schon Besucher ein, die die Verzückte zum Besten
hielten. Man fragte sie z. B., ob sie im Himmel jemand gesehen
hat, obwohl dieser jemand noch nicht gestorben ist, oder überhaupt
nie gelebt hat. Die Verzückte ging auf die Beantwortung der Frage
ahnungslos ein und kam natürlich in keine geringe Verlegenheit, als
man mit der Wahrheit über die gestellte Falle herausrückte. So kam
es, daß mit der Zeit die Besuche im großen Stile der Verzückten
selbst nicht mehr erwünscht waren, obwohl sie selbstverständlich noch
immer von ihrer göttlichen Mission überzeugt ist Der allgemeine
Glaube an ihre „Heiligkeit“ ward aber durch das geschickte Ein¬
greifen der Behörden vernichtet, nur hie und da erscheint noch
ein verspäteter Besuch bei ihr, einige junge Personen weiblichen Ge¬
schlechtes vermögen an die Krankheit der Verzückten noch immer
nicht zu glauben. —
Der Fall schien mir der Veröffentlichung wert. Eimal, weil er
zeigt, wie kritiklos die gläubige Volksseele Ereignissen gegenübersteht,
die mit überirdischen Dingen in Zusammenhang gebracht werden.
Wenn auch vorliegend kein vorsätzliches Ausbeuten des gläubigen
Volkes in Erscheinung trat, so liegt es doch auf der Hand, wie leicht
dies unter Umständen der Fall sein kann.
Sodann entbehrt der Fall auch nicht eines gewissen Interesses
wegen der Stellungnahme der Behörden zur Verzückten. Der Gefahr
einer Ausbreitung von ansteckenden Krankheiten, die sich dadurch
anließ, daß so viele Leute aus den verschiedensten Gegenden, in einer
ungelüfteten Stube zusammengepfercht, in engste Berührung kamen,
mußte gesteuert werden. Auch war die Besorgnis, es könnte ein
religiöser Wahnsinn epidemisch ausbrechen, nicht von der Hand zu
weisen. Die Wahl der Mittel, um einen weiteren Zuzug zur Verzückten
im großen Stile hintanzubalten, war sehr angemessen. Ein sofortiges,
energisch betriebenes Eingreifen, etwa eine Fortschaffung oder Inter¬
nierung der Verzückten in einer Heilanstalt, hätte höchstwahrscheinlich,
wenn zu nichts ärgerem, so doch zu Auschreitungen der „gläubigen
Gemeinde der Verzückten“ geführt, die von gar bedauerlichen Folgen
für die Opfer begleitet sein könnte.
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II.
Fälle von Sadismus.
Von
Staatsanwalt Sohiedermair in Nürnberg.
Von Sadismus spricht die Kriminal-Psychologie nicht nur dann,
wenn beim Geschlechtsakt in begleitenden grausamen, beleidigenden
oder gewalttätigen Handlungen eine Steigerung der Lust gesucht wird,
sondern auch dann, wenn solche Akte überhaupt die Stelle einer
eigentlichen geschlechtlichen Handlung vertreten; unter letzterem Ge¬
sichtspunkte werden insbesondere auch die „Mädchenstecher“ den
Sadisten zugerechnet. Es mag ein wissenschaftliches Interesse bieten,
eine aktenmäßige Darstellung einiger in den letzten Jahren in Nürnberg
vorgekommenen Fälle der zweiten Art zu erhalten. Es ist zwar in
keinem der Fälle, von denen sicherlich stets eine Anzahl auf dieselbe
Person zurückzuführen ist, möglich gewesen, den Täter mit der Sicher¬
heit zu ermitteln, daß auch seine Persönlichkeit für die Untersuchung
des Sadismus verwertet werden könnte, aber es kann von Wert sein,
wenigstens nach der objektiven Seite erhebliches Tatsachenmaterial
zu erhalten.
Die Fälle gliedern sich in zwei Gruppen. Die erste stammt aus
dem Januar 1903, die zweite aus dem November 1905. Sie sind im
einzelnen:
Erste Gruppe: 1. Am 10. Januar 1903 nachmittags 5 45 Uhr,
als der dreizehnjährige Buchhalterssohn Hermann B. vor einem Laden
am Hauptmarkte stand, ging langsam ein Mann an ihm vorbei, der
dann im Gedränge verschwand. Er hatte unbemerkt dem B. mit
einem spitzen dolchartigen Instrumente oberhalb des linken Knies am
linken Oberschenkel einen Stich, 6 mm lang und 5 cm tief versetzt;
weitere nachteilige Folgen ergaben sich nicht.
2. Am 13. Januar 1903 abends gegen 10 Uhr ging die acht¬
zehnjährige ledige Arbeiterin Sophie E. über die Hallertorbrücke; es
kam ihr ein Mann entgegen und fragte sie, ob er sie nach Hause
begleiten dürfe. Sie wies ihn ab, er ging gleichwohl eine Strecke mit
ihr; als der Mann fort war, sah sie auf ihrer rechten Seite in der
Nähe der Geschlechtsteile Umhängekragen, Schürze und drei Röcke
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Fälle von Sadismus.
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auf eine Länge von etwa 15 cm scharf durchschnitten; eine Verletzung
erlitt sie nicht.
3. Am 15. Januar 1903 vormittags 6 45 Uhr, als die Drechlers-
frau Earoline R. durch die Kobergerstraße ging, kam ein Mann auf
sie zu und sagte, sie solle mit ihm geben. Als sie keine Antwort
gab, sagte er: „Saumensch“, und, als sie dann schrie, machte er an
ihrem Lodenkragen mit einem scharfen Gegenstand einen 3 cm langen
Schnitt und entfloh.
4. Am 15. Januar 1903 mittags 12 Uhr kam in der Königs¬
straße auf den elfjährigen Realschüler Konrad D. ein Mann zu und
fragte ihn nach der Fenitzerstraße. In demselben Augenblicke faßte
er den Knaben am Rockkragen, zog ihn in die Höhe und schnitt ihm
mit einem blitzenden Gegenstand Havelock und Hosenbein mit einem
Schnitt entzwei. Als der Knabe schrie, gab ihm der Mann einen
Stoß auf das linke Bein und lief davon. Eine körperliche Verletzung
erlitt der Knabe nicht.
5. Am 16. Januar 1903, mittags l 45 Uhr, als der achtzehnjährige
Buchhändlerssohn Max P. eben den Zeitungskiosk seines Vaters betrat,
bückte sich ein an der Eingangangstür stehender Mann, als ob er
etwas aufheben wollte; P. spürte in demselben Augenblick einen
leichten Stoß an dem linken Bein oberhalb des Knies. Der Mann
entschuldigte sich und ging fort. Als P., der dann in die Bude ge¬
treten war, sich setzen wollte, verspürte er ein heftiges Brennen am
Bein. Die Untersuchung ergab, daß er 5 cm oberhalb der linken
Kniescheibe eine 1 cm breite und ebenso tiefe, anscheinend von einem
zweischneidigen dolchartigen Messer herrührende Wunde an der be-
zeichneten Stelle des Beines hatte. Die Wunde hatte keine weiteren
nachteiligen Folgen.
6. Am 26. Januar 1903 abends 7 3 /4 Uhr kam in der Keßler¬
straße ein Mann auf die ledige siebzehnjährige Arbeiterin Klara Z.
zu über die Straße herübergesprungen; er fuhr ihr mit einem Gegen¬
stand die linke Seite hinunter, lief dann davon und bestieg die Straßen¬
bahn. Die Besichtigung der Kleider ergab, daß Schürze und Rock
auf eine Länge von 30—40 cm von oben nach unten zerschlitzt waren-
Eine körperliche Verletzung erfolgte nicht.
Von den Tätern wurden nachstehende, der leichteren Vergleichung
wegen hier zusammengefaßte Personalbeschreibungen gegeben:
Fall 1: Etwa 1,65 m groß, etwa 30 Jahre, schwarzer Schnurr¬
bart, schwarzer Anzug, schwarzer Überzieher.
Fall 2: Sehr groß, 28—30 Jahre alt, volles Gesicht, schwarzer,
großer Schnurrbart, schwarzes gewelltes Haar nach Art der polnischen
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14
11 . ScHIEDERMAIR
Juden; schwarzer Überzieher, schwarzer, steifer Hut, schwarzer Hom-
zwicker, gelbe Handschuhe, gelbe Uhrkette, hochdeutsche Sprache.
Fall 3: Mittelgroß, dunkler Bart, hochdeutsche Sprache, sprach
halblaut; dunkler Überzieher, dunkler steifer Hut, helle Handschuhe,
Zwicker oder Brille.
Fall 4: Ziemlich groß und untersetzt, etwa 30 Jahre, schwarzer,
ziemlich langer Vollbart; schwarzer, guter Überzieher, schwarzer steifer
Filzhut, goldner Zwicker.
Fall 5: 1,70—1,75 m groß, 26—30 Jahre alt, bleiches Gesicht,
schwarzer Schnurrbart, hochdeutsche Sprache, Frauenstimme; grauer
fast neuer Havelock, schwarzer, steifer Filzhut.
Fall 6: Ziemlich groß, Schnurrbart; grauer Überzieher, schwarzer,
steifer Hut, Zwicker. —
Zur Würdigung nachstehender Personalbeschreibungen ist noch
nachstehende Beobachtung von Interesse. Am 12. Januar 1903
abends zwischen 7 J /4 und 7’/2 Uhr bemerkte der Ausgeher Karl Sch.»
wie ein Mann in einer Straßenunterführung einen Vollbart anlegte.
Personalbeschreibung: 1,70 m groß, untersetzt, 28—30 Jahre alt»
schwarzer, starker Schnurrbart; schwarzer Überzieher, schwarzer,
steifer Filzhut, dunkle, gestreifte Hose, schwarze Schnürschuhe, Zwicker
mit gelbem Steg.
Zweite Gruppe: 1. In der Nacht vom 5. auf 6. November 05
gegen 11 Uhr gingen das dreizehnjährige Dienstmädchen Frieda N.
und die Tochter ihrer Dienstherrschaft, die vierzehnjährige Eisen¬
dreherstochter Henriette B. von einer gesellschaftlichen Feier nach
Hause. In der Pillenreutherstraße kam ihnen ein Mann nach; der Mann
stieß plötzlich die B. zur Seite und ging auf die N. los. Er hat
hiebei, wie sich bei Untersuchung der N., die sich noch nach Hause
begeben konnte, ergab, ihr in der Höhe der siebenten linken Rippe
einen 2 cm langen Stich beigebracht, der Magen und Leber verletzte
und in einigen Tagen den Tod der N. herbeiführte.
2. In der gleichen Nacht, 'I* Stunde später ging in der gleichen
Stadtgegend die sechzehnjährige Schreinerstochter Lina S., die mit
ihren Eltern eine Wirtschaft besuchte, auf einige Augenblicke vor die
Türe. Da kam ein Mann an sie heran, holte zum Schlage aus, traf
sie an der rechten Seite des Unterleibs und verschwand. Die S. hatte
eine Stichverletzung an der rechten Hand, die sie in der Gegend des
Unterleibs gehalten hatte, und am Unterleib. Die Wunden heilten
regelmäßig.
3. In der gleichen Nacht, wieder '/•» Stunde später ging die
47jährige Malerswitwe Madlon Sch. in derselben Stadtgegend von
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Fälle von Sadismus.
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einer Gesellschaft nach Hause. Ein Mann ging an ihr vorbei, sie
empfand gleichzeitig einen Schlag gegen den Unterleib, der Mann
lief davon. Die Nachschau ergab einen Stich im Unterleibe; er heilte
ohne weitere Folgen.
4. Am 13. Nov. 1905 morgens l 45 Uhr gingen die Arbeiter-^
innen Sophie H. und Marie W. in der Rothenburgerstr. nach Hause.
Erstere befriedigte in einem Seitengäßchen ihrBedfirfnis; plötzlich sprang
ein Mann auf sie zu und brachte ihr in der Leistengegend zwei Stiche
bei; er sprang dann über die Mauer des nahegelegenen Friedhofs.
Die Wunde war lebensgefährlich, heilte aber. (Die beiden beteiligten
Personen sind nicht völlig glaubwürdige Persönlichkeiten.)
5. Am 20. Nov. 1905 abends 6 Uhr, als die fünfzehnjährige
Arbeiterin Marie B. durch die Wölkernstraße ging, ging an ihrer
rechten-Seite ein Mann vorüber, der ihr an die Brust griff. Als sie
die Stelle nachsah, bemerkte sie einen 10 cm langen Schnitt
in der Schürze und in der Bluse; das Korsett zeigte ebenfalls eine Be¬
schädigung; es scheint, daß der Stich an der Planschette, die er traf,
aufgehalten wurde.
Personalbeschreibung: Fallt: Schwarzes Haar, schwarzer,
herabhängender, mittelstarker Schnurrbart, Vollbart.
Fall 2: Ziemlich groß, 40—50 Jahre alt, mager, schwarzer
Schnurrbart, Bartstoppeln im übrigen Gesicht.
Fall 3: Ziemlich groß; Überzieher oder langer Bock.
Fall 4: Schlanker Körperbau, schwarzer steifer Filzhut.
Fall 5: Sehr groß, 1,70—1,75 m, schlank, 60 Jahre alt, grauer
bis zur Mitte der Brust reichender Vollbart; dunkler Havelock mit
Pelerine, dunkler, oben eingedrückter weicher Filzhut, Zwicker oder
Brille. (Entnommen den Akten der Staatsanwaltschaft bei dem Land¬
gerichte Nürnberg G 69/03, C 856/05, 136/06, 338/06.)
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HI.
Eifersucht als Triebfeder von Verbrechen.
Drei Strafiälle
mitgeteilt ron
Dr. B. Ehmer, Staatsanwalt in Graz.
Fall Straffall Kratzer.
Am 5. November 1908 wurde der im Wirtschaftsgebäude des
Krennscbeu Gehöftes in Ungerdorf mit dem Füttern der Pferde be¬
schäftigte Grundbesitzerssohn Martin Krenn durch hellen Feuerschein
von seiner Arbeit aufgeschreckt; er war kurz zuvor von seiner Mutter
Theresia Krenn (44 Jahre alt) aufgeweckt worden, da er eine Fahrt
zu einer entfernten Bahnstation zu besorgen hatte. Seine Mutter batte
sich darauf wieder im Wohnhause zur Buhe legte, wo sie im selben
Gemache mit einer Magd (Marie Hikl) nächtigte. Sonst war im Ge¬
höfte nur noch der 47 jährige Frächter Karl Kratzer anwesend, der
mit Martin Krenn im Pferdestalle das Lager teilte und gleichzeitig
mit ihm aufgewacht war. Der Besitzer war mit den anderen Kindern
auf einer entfernten Hube abwesend, wo er durch mehrere Tage die
Obsternte zu besorgen hatte.
Das Feuer fand in den Futtervorräten reichliche Nahrung und
verbreitete sich so rasch über das strohgedeckte Wirtschaftsgebäude
hin, daß das Vieh kaum gerettet werden konnte; während der Bergungs¬
arbeiten wurde Martin Krenn von einer stürzenden Giebelmauer ge¬
troffen und so schwer verletzt, daß er bald darauf seinen Geist aufgab.
Ein Verdacht, daß es sich um einen Industriebrand handle, war
ausgeschlossen. Das Gehöft war in gutem Bauzustande, die Besitzer
. gut situiert, wohl für die Baulichkeiten aber nicht übermäßig und
seit Jahren für die gleiche Summe, nicht aber für die Erntevorräte
versichert, die zur Zeit, da infolge der Dürre des Jahres allenthalben
Futtermangel herrschte, doppelt wertvoll und schwer zu beschaffen
waren. Irgendwelche Vorbereitungen, etwa Beiseiteschaffen wertvoller
Geräte usw. war nicht nachweisbar.
Auch auf unvorsichtiges Hantieren mit Feuer und Licht seitens
der Hausgenossen konnte der Brand nicht zurückgeführt werden.
Die waren, da man morgens zeitlich zur Arbeit gehen mußte, früh
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Eifersucht als Triebfeder von Verbrechen.
17
am Abend zur Ruhe gegangen. Vor Ausbrach des Brandes hatte die
Besitzerin Theresia Krenn auf dem Wege vom Wohnhause zu dem
am Ende der Wirtschaftsgebäude liegenden Pferdestalle und am Rück¬
wege nichts Verdächtiges wahrgenommen, — das Feuer war auch an
dem der Stallung entgegengesetzten Ende des Wirtschaftsgebäudes aus¬
gebrochen, in dessen Räumlichkeiten seit vielen Stunden zuvor nie¬
mand von den Bewohnern etwas zu tun hatte, — an dem aber auch
kein Weg vorüberführt, so daß auch für die Annahme, der Brand
sei vielleicht durch ein von einem Passanten zufällig weggeworfenes
Zündhölzchen veranlaßt worden, kein Anhaltspunkt vorlag; ebenso¬
wenig boten diese Räumlichkeiten etwa einem ungebetenen Gaste Ge¬
legenheit dort zu nächtigen, — der hätte sich sicher eher in den Heu¬
boden zurückgezogen und bei der herrschenden niederen Temperatur
kaum mit einem Lager in dem offenen Wagenschuppen vorlieb ge¬
nommen.
Es war also die Vermutung, daß der Brand gelegt worden sei,
nicht von der Hand zu weisen. Tatsächlich sprach Theresia Krenn
sofort diesen Verdacht aus und lenkte ihn auf Josefa Kratzer, die
Gattin des Frächters, der im. Gehöft seine Pferde stehen hatte.
Der 47 jährige Karl Kratzer war seit 14 Jahren mit der 43 jäh¬
rigen Josefa geb. Pittner verehelicht und lebte mit ihr nicht aufs beste.
Das zänkische Weib, das ihm sechs Kinder geboren hatte, machte ihm
das Leben sauer, vor Jabren hatte er einen Seitensprung gemacht
und bat eine hierbei erworbene Krankheit auf seine Frau übertragen,
was zur Besserung ihrer Beziehungen nicht beitrug. Die Gatten hatten
früher in einer anderen Gegend gehaust und waren im Sommer 1907
in die Gemeinde Ungerdorf gezogen, wo sie nacheinander bei ver¬
schiedenen Bauern wohnten, aber nirgends dauernd Unterkunft fanden,
da ihnen überall nach wenigen Monaten gekündigt worden war, teils
weil sie mit der Entrichtung des Mietzinses säumig waren, teils weil
sich Josefa Kratzer mit den Vermietern nicht vertrug.
So hatte sie sich z. B. im Herbste 1907 mit ihrer damaligen
Hauswirtin Nigelhell entzweit und dieser wegen Beschimpfungen ge¬
legentlich einer gegenseitigen Zänkerei zu einer Geldstrafe verholfen,
während sie selbst straflos ausging, da ihre Gegnerin zur Verhand¬
lung über die angestrengte Ehrenbeleidigungsklage zu spät gekommen
war. Trotz dieses für sie günstigen Ausganges verfolgte die Kratzer
ihre Gegnerin mit ihrem Hasse und rief ihr wiederholt bei ver¬
schiedenen Begegnungen die Drohung zu: „Warte nur, deine Keusche
wird noch aufgehen“, was die Arglose allerdings dahin deutete, daß
die Kratzer ihr noch einige Prozesse auf den Hals laden wolle und
Archiv für Kriminalanthropolog-ie. 34. Bd. 2
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IQ. R. Ehmer
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die dadurch erwachsenden Kosten ihr geringes Hab und Gut auf¬
zehren werden.
Josefa Kratzer lebte aber nicht nur selbst mit den Leuten in
Streit, sondern fand auch daran Gefallen, ihre Umgebung zu Streitig¬
keiten zu hetzen. So schürte sie eine Feindschaft zwischen der
Theresia Hohl, ihrer späteren Hauswirtin und einer Nachbarin T,
erzählte ersterer von üblen Nachreden der letzteren und äußerte sich,
sie würde sich solches nicht gefallen lassen und der T das Haus
anzünden. Als die Hohl eine solche Zumutung mit Entrüstung ab¬
lehnte, gab die Kratzer dann wohl klein bei, meinte es sei ihr nicht
ernst mit dem Vorschläge gewesen, „aber mit Häuselmist könnte die
Hohl das Haus der T schon verunreinigen, dies wäre auch etwas. u
Seit Mitte August 1908 wohnten die Kratzers bei Tippl, die ihnen
jedoch einen Pferdestall nicht zur Verfügung stellen konnten; Kratzer
brachte daher seine Pferde in dem etwa 25 Minuten entfernten Krenn-
schen Gehöfte unter und wurde dort, soweit er nicht auswärts be¬
schäftigt war, auch tagsüber durch die Wartung seiner Pferde fest¬
gehalten, — die Nächte brachte er anfangs zumeist bei seiner Familie
zu, — als aber die Witterung unfreundlicher wurde und er in seinem
Berufe mehr Beschäftigung fand, blieb er vielfach auf der Krenn-
schen Behausung über Nacht, — teils weil es ihm zu beschwerlich
war, in der Dunkelheit spät nach vollendetem Tagewerke heimzu¬
gehen und frühmorgens zur Wartung seiner Pferde den Weg wieder
zurückzulegen, teils auch weil er den Klagen und Vorwürfen seiner
Ehegattin wegen ihrer tatsächlich ungünstigen wirtschaftlichen Lage
entgehen wollte.
Er kam immer seltener heim, blieb seit Mitte Oktober ganz weg
und schickte nur ab und zu etwas Geld und Lebensmittel seiner
Gattin oder gab solches seinen Kindern, die um es zu holen, zu
ihm kamen.
Ende Oktober, etwa acht Tage vor dem Brande, erschien nun
Josefa Kratzer, die das Fernbleiben ihres Gatten mit wachsendem
Ärger und Mißtrauen in seine eheliche Treue erfüllt hatte, beim Krenn-
schen Gehöfte und machte der Theresia Krenn, die sie, von Eifersucht
geplagt, für die Ursache der Entfremdung ihres Mannes ansah, eine
häßliche Szene, in deren Verlaufe sie dieser vorwarf, daß sie „beim
Hosentürl ihres Mannes stehe“ und ihn ausfüttere.
Theresia Krenn blieb die Antwort nicht schuldig, suchte sie
jedoch vergeblich von der Grundlosigkeit ihrer Eifersucht zu über¬
zeugen und nannte sie schließlich, ärgerlich geworden, eine „bärende
Pritschen“ (bärend, Ausdruck für eine hitzige, läufige Sau, — Prit-
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Eifersucht als Triebfeder von Verbrechen.
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sehen, — weibliche Scham, im übertragenen Sinne leichtfertiges Weibs¬
bild, — Hure). Über diese Beschimpfung geriet Johanna Kratzer
außer sich, verließ scheltend und mit der Äußerung, „außer muß er
aus dem Stall“ den Hof und begab sich zum Nachbargehöfte, wo
sie der Besitzerin Johanna Paier ihre Not klagte und von der Be¬
schimpfung erzählte. Diese sowie Martin Krenn sen., welcher zum
Ende des Auftritts zwischen der Kratzer und seiner Gattin gekommen
war und der Kratzer naebging, versuchten ihr die Haltlosigkeit ihres
Verdachtes nachzuweisen und sie zu beruhigen, Johanna Kratzer
schenkte ihnen aber kein Gehör.
Dieser Auftritt gab auch dem nach dem Brandleger forschen¬
den Gendarm einen Anhaltspunkt, den Verdacht der Täterschaft auf
Johanna Kratzer zu lenken, zumal die Krenns sonst allgemein beliebt
sind und keine Feinde haben.
Zur Rede gestellt, leugnete Johanna Kr. die Tat und behauptete,
während der Brandnacht das Haus nicht verlassen zu haben; — ihr
zehnjähriger Sohn gab, abgesondert vernommen, dem Gendarm aber
an, daß seine Mutter während der Nacht völlig angekleidet das
Zimmer verlassen und ihm frühmorgens verboten habe, etwas davon
zu erwähnen. Wohin sie gegangen und wie lange sie ausgeblieben
sei, konnte der Knabe, der bald nach dem Weggange der Mutter
wieder einschlief, nicht angeben.
Festgenommen, leugnete Johanna Kratzer auch vor dem Bezirks¬
gerichte und trotz Vorhaltes der oben besprochenen Verdachtsmomente,
die erst im Laufe der Erhebungen völlig gesammelt wurden, die Tat,
— als ihr aber angekündigt wurde, daß sie vom Bezirksgerichte K
an das Landes- als Untersuchungsgericht G eingeliefert werde, schritt
sie unvermittelt und aus eigenem Antriebe zum Geständnisse und gab
am 12. November an:
Seit 14 Tagen sorgte mein Mann weder für mich noch für unsere
drei Kinder; ich beschloß daher, ihn in seinem Wohnort bei Frau Krenn
aufzusuchen und ihn zur Rede zu stellen.
Ende Oktober begab ich mich zum Hause des Martin Krenn und
verlangte von seiner Frau Theresia den Futterbogen meiner Hausfrau,
den mein Mann einmal von Hause mitgenommen und nicht wieder
zurückgebracht hat.
Theresia K. begann sofort mich zu beschimpfen, nannte mich
unter anderem eine bärende Pritschen und sagte, ich solle schauen,
daß ich weiter komme.
Ich begab mich hierauf zur Nachbarin vlg. Leopold (Paier), der
ich mein ganzes Leid klagte, sie gab mir aus Mitleid Lebensmittel.
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III. R. Ehmer
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Dann ging ich nach Hause, in der Hoffnung, daß mein Mann
doch noch zu mir zurückkehren werde. Tag für Tag wartete ich
dann auf meinen Mann, aber vergebens, — ich habe die letzten
Nächte nicht mehr geschlafen und war der Verzweiflung nahe. Die
Kränkung, die mir mein Mann und die Krenn antat, fraß sich immer
tiefer. Als er durch volle acht Tage auch noch nicht gekommen ist,
beschloß ich aus Zorn über die mir angetane Beschimpfung und in¬
folge der Eifersucht, weil ich dachte, mein Mann komme deshalb nicht
zu mir und nach Hause zurück, weil er mit der Frau Krenn ein Ver¬
hältnis unterhalte, das Krennsche Anwesen anzuzünden.
Ich ging am 3. November um 3 Uhr früh, — so viel zeigte
meine Weckeruhr, — vom Hause weg und kam in zirka 20 Minuten
beim Krennschen Hause an, — daselbst war im Stalle schon Licht
und hörte ich dort auch sprechen.
Damit nun ja niemanden etwas geschehe und auch die Krenn¬
schen ihr Vieh leicht retten könnten, beschloß ich den Stadl anzu¬
zünden, der in der entgegengesetzten Richtung vom Stall und Wohn¬
gebäude liegt.
Ich entzündete ein Zündhölzchen und steckte das brennende
Zündholz in das Strohdach des Stadels. Ich wartete noch eine
Weile, ob das Feuer ausbräche, bemerkte aber nichts davon und
begab mich nach Hause zurück.
Als ich etwa eine Viertelstunde entfernt war, sah ich das Feuer
aufflammen, — lief heim und legte mich nieder.
Am Morgen erfuhr ich dann, daß das ganze Anwesen abge¬
brannt und der junge Krenn von einer stürzenden Mauer erschlagen
worden sei.
Ich bereue meine Tat aufs tiefste und betone nochmals, daß ich
sie nur ausführte, weil ich auf Frau Krenn eifersüchtig war und
mir dachte, daß mein Mann nach Hause kommen müsse, wenn das
Krennsche Haus abbrenne.
Dieses Geständnis wiederholte sie dann auch vor dem Unter¬
suchungsrichter und bei der Schwurgerichtsverhandlung, allerdings
immer in etwas abgeschwächterer Weise, indem sie einerseits ihre
Notlage und Verzweiflung in immer grelleren Farben schilderte, an¬
dererseits behauptete, vor Eifersucht ganz „schädeldamisch“ gewesen
zu sein, so daß sie nicht mehr wußte, was sie tue.
Bei der Verhandlung erwies sie sich als eine ziemlich schlag¬
fertige und streitsüchtige Person, als rachgieriger Charakter. Die sie
belastenden Momente namentlich die früheren Drohungen mit Brand¬
legung leugnete sie nnd zieh die Zeugen, die ganz unbefangen aus-
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Eifersacht als Triebfeder von Verbrechen.
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sagten und auch nichts von einer Gehässigkeit zeigten, bewußter Lüge.
Dem Ein wände, daß sie knapp vor Ausführung der Tat im Stalle
sprechen hörte und dies nur ihr Gatte (der sich übrigens der Aussage
entschlug) und der verunglückte Martin Erenn gewesen sein könne,
sie also daraus ersehen konnte, daß ihr Mann nicht wie sie vermutet
hat, sich bei der Frau Erenn in deren Schlafstube befunden habe,
begegnete sie mit der Behauptung,, sie habe auf die Stimmen im
Stalle nicht so genau hingehorcht Um die Grundhältigkeit ihrer
Eifersucht zu erweisen, brachte sie bei der Verhandlung auch die
allseits als unwahr bezeichnete Behauptung vor, daß Martin Erenn
(der ältere) Beziehungen zu einer Dirn unterhalte und sich zur Brand¬
zeit mit dieser schon mehrere Tage auf der Hube aufgehalten habe.
— Es konnte dagegen nachgewiesen werden, daß die Dirn stets im
Gehöfte anwesend war und Martin Erenn nur mit zweien seiner Einder
auf der Hube hauste.
Nach dem Eindrücke, den man bei der Hauptverhandlung ge¬
wann, wirkte als Triebfeder zur Tat nicht lediglich Eifersucht, sondern
wie die Angeklagte gleich anfangs zugab, später aber in Abrede stellte,
zum guten Teile auch Eränkung über und Rachsucht wegen der Be¬
schimpfung mit „bärende Pritschen“, während die angebliche Ver¬
zweiflung wegen ihrer Notlage nur als Mittel, um für sich Stimmung
zu machen, vorgeschützt wurde, denn nach dem Ergebnisse der Er¬
hebungen ging es der Angeklagten wirtschaftlich zwar nicht besonders
gut, aber auch nicht so schlecht, wie sie es darzustellen suchte.
Bemerkenswert ist hier die übrigens auch in anderen Straffällen
beobachtete Tatsache, daß aus früheren Äußerungen der Angeklagten
sich die Richtung ergibt, in der sich ihr Zerstörungstrieb dann auch
wirklich geltend machte. Das wiederholte Vornehmen, durch Brand¬
legung Rache zu nehmen, das Lustgefühl, welches mit den betreffen¬
den Vorstellungen verbunden war, ebenso aber auch die Vorstellung
von der Art der Durchführung einer solchen Tat mochten immer
mehr und mehr die Hemmungsvorstellungen zurückgedrängt und
gewissermaßen den Weg gebahnt haben, auf dem die Angeklagte
schließlich bei besonders mächtig gewordenen Affekten zum Ver¬
brechen schrttt.
Darüber, warum Johanna Eratzer gerade bei Ankündigung ihrer
Überstellung an das Landesgericht zum Geständnisse schritt, gab sie
keine Aufklärung. Es ist aber eine Erfahrungstatsache, daß eine un¬
mittelbar bevorstehende tiefgreifende Änderung in der äußeren Lebens¬
lage vielfach Stimmungen hervorruft, die dann den Nährboden für
Selbsteinkehr bilden, das Gewissen wachrufen und zur Erleichterung
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des Gewissensdruckes durch Einbekennen der vollbrachten Übeltat
fahren.
Naturgemäß kommt ein auf diese Weise geborenes Geständnis
der Wahrheit am nächsten; ist dann die Änderung in der Lebenslage
wirklich eingetreten, hat sich der Schuldige mit seiner neuen Lage
vertraut gemacht und sich hineingefunden, so kehrt auch die Lebens¬
lust wieder und es tritt dann immer mehr und mehr das Streben zu¬
tage, das Geständnis abzuschwächen und die Tat zu beschönigen.
Josefa Kratzer wurde mit 11 Stimmen gegpn eine schuldig ge¬
sprochen und über sie unter Anwendung des außerordentlichen Mil¬
derungsrechtes eine neunjährige schwere Kerkerstrafe verhängt.
Fall II. Straffall Odiles.
Ignatz G., 1859 geboren, lernte im Jahre 1892 in Gr. das 10 Jahre
jüngere Dienstmädchen Josefa H. kennen, das schon eine etwas be¬
wegte Vergangenheit hinter sich hatte, — er stieß sich weder daran,
noch an die Existenz eines außerehelichen Kindes seiner neuen Be¬
kanntschaft Die Beziehungen beider wurden zärtlichere, erlitten eine
Unterbrechung, als Josefa H. auf einige Zeit Gr. verließ; nach mehreren
Monaten traf er sie aber wieder zufällig auf der Straße, knüpfte mit
ihr wieder an und ehelichte sie im Jahre 1893. Er brachte in die
Ehe ein Vermögen von etwa 12000 K, das er sich zum Teile als
Milchfübrer erspart hatte, sie — wie er sich später drastisch ausdrückte —
einen Kittel. Die Ehe war eine ungetrübte, er liebte seine Frau, ließ
ihr in keiner Richtung etwas abgehen und schenkte ihr unbedingtes
Vertrauen.
So erfuhr er z. B. etwa */2 Jahr nach seiner Verehelichung von
einer Tante, daß sein Bruder Josef, den er zu seiner Hochzeitsfeier¬
lichkeit eingeladen und bei sich bequartiert hatte, am Morgen nach
der Hochzeitsnacht, als der junge Gatte um 5 Uhr früh das Haus
verlassen mußte, um seinem Geschäfte als Milchführer nachzugehen,
sich soweit vergessen habe, daß er seine Schwägerin im Bette auf¬
suchte und die Rolle des glücklichen Bräutigams übernahm. Er stellte
seine Frau zur Rede, diese leugnete, sich ihrem Schwager hingegeben
zu haben, worauf G. die Sache auf sich beruhen ließ und nur die
Beziehungen zu seinem Bruder abbrach.
Eine vorübergehende Trübung erfuhren die ehelichen Beziehungen
zwischen den Ehegatten, als Ignatz G. im Jahre 1997 erfuhr, daß
sich seine Frau dem Vater ihres außerehelichen Kindes M. wieder
genähert habe, was ihm die Gattin Ms., die sich vorher vergeblich
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Eifersucht als Triebfeder von Verbrechen.
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an Josefa 6. gewendet hatte, mitteilte, um das Wiederaufleben des
früheren Verhältnisses zwischen der 6. und ihrem Gatten zu vereiteln.
Ingnatz G. schrieb dem M. einen groben Brief, forderte ihn auf,
sich lieber um sein Kind als um dessen Mutter zu kümmern, söhnte
sich mit seiner Frau, die ihm die Harmlosigkeit des Verkehrs mit M.
glaubhaft machte, bald wieder aus, ja nahm sie in diesem Jahre noch
in den Mitbesitz eines Hauses im Werte von 40000 K auf, das er
angekauft hatte, schloß mit ihr allgemeine Gütergemeinschaft und
setzte in einem Erbvertrage auch deren Kind zum Erben ein. Seit
1896 waren beide Gatten in einem von Ignatz G. gekauften Kaffee¬
schanke tätig, der sehr gut ging und ihnen weitere Ersparnisse er¬
möglichte.
Das Geschäft führten beide Gatten abwechselnd, so daß immer
einer im Lokale war, der andere inzwischen eine Erholungspause hatte.
So lebte das Ehepaar G. ruhig und in scheinbar glücklicher Ehe
bis in den Sommer 1908 hinein. Ignatz G. nahm es weiter nicht
krumm, daß seine Gattin mit manchen Gästen freundlicher war und
schäkerte, denn „das gehört zum Geschäfte“.
Mitte August 1908 lenkte aber Michael G., ein jüngerer Bruder
des Ignatz G., dessen Aufmerksamkeit darauf, daß Michael S., Schank¬
bursch in einer Wirtschaft, die in dem von den Eheleuten G. bewohnten
Hause betrieben wird, mit Josefa G. öfters zusaramenkomme.
Ignatz G. wurde nun argwöhnisch, ging der Sache nach und
erfuhr unschwer von Leuten, denen der Tratsch Lebensbedürfnis ist,
daß seine Frau öfters in der bezeichnten Wirtschaft vorspreche und
mit S. verliebte Blicke wechsle. Er beobachtete nun die Lebens¬
führung seiner Frau. — Als diese eines Abends Ende September 1908
später nach Hause kam, als es durch ihre Geschäftsgänge geboten
war, machte er ihr eine heftige Szene und mißhandelte sie; zwischen
den Ehegatten trat infolgedessen eine Spannung ein, sie sprachen
nur das Notwendigste miteinander, Ignatz G. verließ das gemeinsame
Schlafgemach und bezog für sich ein kleineres Zimmer. Die Frau
bat ihn um Verzeihung, versprach weinend, den Verkehr mit S. auf¬
zugeben, wurde aber doch mit ihm wieder gesehen.
Am 5. 10. erzählte Michael G. seinem Bruder näheres über den
Verkehr seiner Frau mit S., und von gemeinsamen Wagenfahrten
beider, ferner, daß sie bei verschiedenen Festlichkeiten zusammen¬
gekommen seien, daß S. die G. im Juli öfters in ihrer Sommerwohnung
aufgesucht habe, wo sie sicher waren, von Ignatz G. nicht gestört zu
werden, da dieser, um seiner Frau die Erholung zu gönnen, das Ge¬
schäft allein besorgte und nicht abkommen konnte.
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Aach Aloisia D., eine Nichte des G., die bei ihm bedienstet war,
wnrde redselig. Bishin hatte sie geschwiegen, weil sie besorgte, daß
G. im Falle eines Zerwürfnisses mit seiner Frau das Geschäft auf-
geben würde und sie brotlos werden könnte. Nun das Zerwürfnis
da war, erzählte auch sie, was sie wußte. Sie berichtete von einem
nächtlichen Zusammentreffen der G. mit S. unter der Linde vor der
Wohnung, weiter auch, daß sie vor Zeiten Michael G. in der Woh¬
nung des Ignatz G. mit des letzteren Frau in einer etwas verfäng¬
lichen Situation angetroffen habe.
Ingnatz G. wurde hierdurch tief betroffen. — „Mein Schmerz war
unermeßlich, — nicht genug, daß ich meine Frau aufgeben sollte, die
ich trotz alledem noch immer liebte, — auch mein Geschäft stand
auf dem Spiele, — mein erster Gedanke war: Scheidung.
Als Ignatz G. in niedergedrückter Stimmung am fraglichen Abend
aus dem Geschäfte heimging, traf er im Hofe auf S., warf diesem vor,
daß er auf seine Frau lauere und hatte mit ihm einen heftigen Auf¬
tritt — Heimgekommen traf er seine Frau bereits zu Bette, erklärte
ihr, er sehe ein, daß sie miteinander nicht mehr gut auskommen
könnten, sie möge einige Zeit Buhe geben bis die Eaffeeschänke ohne
Verlust verkauft werden könne, dann würden sie auseinandergehen.
Die Frau begann zu weinen, beteuerte, daß an ihren Beziehungen zu
S. nichts Verfängliches sei, die Leute lögen, fiel ihm um den Hals
und kam schließlich zu ihrem Gatten ins Bett
Am 6. 10. besuchte Ignatz G. seine Schwägerin, die Frau des
Michael G., holte sie aus und erfuhr von ihr, daß vor längerer Zeit
Josefa G. nachts unter dem Fenster des Michael erschienen sei und
ihn herabgerufen habe. Michael G. folgte dem Bufe und blieb längere
Zeit aus.
Ueber das Folgende gibt Ignatz G., dem ich nun das Wort lasse, an:
Als ich von der Schwägerin heimkam, traf ich meine Frau, der
ich kurzerhand mitteilte, daß ich nicht mehr ins Geschäft gehen
werde. Sie war hierüber sichtlich bestürzt, folgte mir in die Wohnung,
wo sie wieder zu weinen anfing und beteuerte, sie werde nicht mehr
mit S. gehen. Ich trug ihr auf, bis 4 Uhr Nm. in den Schank zu
gehen, dann würde ich sie ablösen; ich tat dies und hieß sie, bis
8 Uhr der Buhe zu pflegen, dann mich abzulösen. Wer nicht kam,
war meine Frau; ich schickte mehrmals um sie, vergeblich, sie war
nicht zu Hause. Als ich um 10 Uhr abends heimkam, lag sie im
Bette u. z. im kleinen Zimmer, da sie mir inzwischen das größere
eingeräumt hat. Ich stellte sie wegen ihres Benehmens zur Bede, sie
erklärte weinend, sie wage es nicht, über den Hof zu gehen, da S.
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Eifersucht als Triebfeder von Verbrechen.
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ihrethalben seine Stellung verloren habe; als sie wieder von S. anfing,
wnrde ich zornig und schlug sie, kehrte ins Geschäft zurück und
schickte ihr von da ein von ihr verlangtes Getränk. Als ich um
V 2 I 2 Uhr nachts heimkam, war meine Frau nicht zu Hause. Aloisia D.
erzählte mir, sie habe sich in Seide angezogen, mit Pretiosen ge¬
schmückt und sei in einen Gasthof gegangen, um dort zu übernachten.
Am 7.10. stellte ich meinen Bruder Michael wegen des Umgangs
mit meiner Frau zur Rede, er gestand mir zu, mit ihr durch Jahre
wiederholt u. z. bis Juli 1908 geschlechtlich verkehrt zu haben, —
wie er behauptet, aus Liebe zu mir, weil sie erklärte, wenn sie ihn
nicht haben könne, gehe sie von mir weg. Ich ließ mir dieses Ge¬
ständnis von meinem Bruder schriftlich geben, weil ich es als Beilage
zu einer Scheidungsklage zu verwenden gedachte.
Nach der Unterredung mit meinem Bruder ging ich ernstlich mit
mir zu Rate, in meinem Kopfe wogten die verschiedensten Gedanken
durcheinander: — scheiden lassen konnte ich mich nicht, denn dann
war ich ruiniert, lieb hatte ich das Weib noch bis jetzt und trotzdem
betrog sie mich an allen Ecken, — da reifte in mir der Entschluß,
ihrem und meinem Leben ein Ende zu machen. Ich kaufte mir einen
Revolver und Patronen und verwahrte ihn in meinem Zimmer.
Dreimal legte ich mich in der Zeit von Mittag bis Abend 8 Uhr
zu Bette, um über den fürchterlichen Entschluß noch einmal zu
schlafen, — allein ich fand keinen Schlaf. — Nachmittags schrieb
ich mehrere Briefe an meine Stieftochter, an die Oberin des Klosters,
in dem sie erzogen wird, traf noch letztwillige Anordnungen und
zerriß den Zettel mit dem Geständnisse meines Bruders.
Im Laufe des Tages ließ mich meine Frau fragen, ob sie Beim-
kommen könne und verlangte die Übersendung von Geld, dies ver¬
weigerte ich, ersteres gestattete ich, doch kam sie erst gegen 7 Uhr
abends und legte sich bald zu Bette.
Ich konnte keinen Schlaf finden, ging am 8. 10. um 5 Uhr früh
ins Geschäft und blieb dort tagsüber, — auch die Frau fand sich dort
ein, ging um V*9 Uhr abends wieder heim und legte sich nieder.
Ich blieb bis gegen 12 Uhr nachts, trank in kleinen Portionen
V 4 Liter Slivovitz, um mir Mut zu machen, sperrte das Geschäft,
sprach am Heimwege noch mit einem Wachmann, ging dann zuerst
in mein Zimmer, zündete ein Licht an, nahm den Revolver, den ich
gleich nach dem Ankäufe geladen hatte, samt der Patronenschachtel
an mich, ging mit dem Revolver in der einen, dem Leuchter in der
anderen Hand zum Bette meiner Frau, stellte die Schachtel und den
Leuchter auf. das Nachtkästchen, den Revolver behielt ich in der
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Hand, — meine Frau war erwacht, ich sagte zu ihr: „So, jetzt
brauchst mir keine Schande mehr zu machen und ich brauche mich
nicht mehr zu genieren, jetzt ist Schluß mit uns zwei.“ — Sie er¬
widerte: „Mir ist alles eins“, und auf das hin schoß ich; ich hatte
den Hahn schon früher gespannt und hielt die Waffe so nabe an
ihren Kopf, daß der Zwischenraum kaum handbreit war. Ich schoß
4 mal gegen ihren Kopf in der Absicht, sie zu töten. Daß sie wäh¬
rend der Abgabe der Schüsse gerufen hätte, „Vater, laß mich leben“,
(dies wird von der Ohrenzeugin D. behauptet) ist mir nicht erinner¬
lich. Nach den 4 Schüssen gegen meine Frau zielte ich gegen meine
Schläfe und feuerte 2 mal, — die Schüsse gingen los, allein in der
Aufregung hielt ich den Revolver so schlecht, daß ich mich nicht
traf. Nun lud ich den Revolver neuerlich, ich glaube, nur 2 Patronen
hinein getan zu haben, ich feuerte wieder gegen meine rechte Schläfe,
der t. Schuß traf, der 2. ging fehl. Nun sperrte ich die Eingangstüre
zum Zimmer, die ich beim Nachbausekommen zugesperrt hatte, auf
und rief der Aloisia D., sie solle einen Wachmann holen. Was weiter
geschah, weiß ich nicht, es ist möglich, daß ich noch geschossen
habe; aber wie oft und wohin, ist mir nicht erinnerlich (tatsächlich
gab G. noch 4 Schüsse ab). Den Wachleuten habe ich dann selbst
die Türe geöffnet und gesagt, ich habe meine Frau erschossen, da
bin ich.
Ich wollte die Frau töten, weil ich sie viel zu lieb habe, um sie
einem anderen zu gönnen, und da ohne sie das Leben für mich auch
keinen Wert hatte, wollte ich mich auch umbringen. Daß dieser
Entschluß fest war, geht daraus hervor, daß ich im anderen Zimmer
zwischen Bett und Fenster an einem Haken einen Strick mit einer
Schlinge vorbereitet hatte (sie wurde beim Lokalaugenscheine gefunden),
in diese wollte ich mich zuerst einhängen und dann auf mich schießen,
in der Aufregung kam ich aber gar nicht in dieses Zimmer und
vergaß darauf. Ich weiß genau, was ich getan habe, und warum ich
es getan habe, geht wohl aus meiner Leidensgeschichte hervor.“
Josefa G. war lebensgefährlich verwundet, die Wunden heilten
zwar oberflächlich zu, doch blieb ihr Bewußtein getrübt Über den
Vorfall war sie gar nicht orientiert, glaubte, sich ihre Verletzungen
bei einem Falle über eine Stiege zugezogen zu haben und hielt
Leute, die sie ansprachen, für den Michael — am 28.10. starb sie an
Gehirnlähmung.
Ignatz G. wurde von seiner nicht allzuscbweren Verletzung ge¬
heilt und am 10. 11. wegen des Verbrechens des Gattenmordes vor
die Geschworenen gestellt. Die sprachen ihn frei, — wie.man hinterher
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Eifersucht als Triebfeder von Verbrechen.
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erfahr, nicht, weil sie ihn für schuldlos hielten, sondern weil ihnen
die gesetzlich angedrohte Todesstrafe für die Tat zu hart erschien
nnd sie kein Mittel an der Hand hatten, die ihnen für sein Ver¬
schulden angemessen scheinende Strafe (mehrjähriger Kerker) über
ihn verhängt zu sehen.
Auch in diesem Drama spielte die Eifersucht eine unverkennbare
Rolle, u. z. weniger beim Täter als bei dessen Bruder Michael, der
erst dann ersteren auf die Untreue seiner Gattin aufmerksam macht,
als diese ihre Gunst einem anderen zuzuwenden begann.
Auch bei Ignatz G. hat zweifellos diese Leidenschaft zur Ent¬
stehung und Fassung seines Entschlusses mitgewirkt Daneben aber
wirkten und zwar wohl in nicht zu unterschätzendem Grade die Ver¬
zweiflung über den Zusammenbruch seines mühselig und emsig auf¬
gerichteten Lebensgebäudes und der bei dem in Jahren vorgeschrittenen
Manne begreifliche Mangel an Spannkraft, aus den Trümmern sich
ein neues Heim zusammen zu zimmern, ein Minus an Energie, sein
Lebensschiff anderswohin zu lenken und sich in andere Lebens¬
verhältnisse zu schicken oder der Spottlust seiner gewohnten Umgebung
die Spitze zu bieten.
Der österreichische Strafprozeß schließt die Geschworenen außer
dem Falle, daß ihnen nach § 322 eine Frage nach Erschwerungen oder
Milderungsumständen vorgelegt wird, deren Vorhandensein nach dem
Strafgesetze eine Änderung des Strafsatzes oder der Strafart begründen,
prinzipiell und absolut von jeder Einflußnahme auf die Straffrage aus;
sie sind vor Beginn ihrer Beratung nach § 326 von ihrem Obmanne
dahin zu belehren, daß nicht sie, sondern nur die Richter berufen sind,
die gesetzlichen Folgen auszusprechen, welche den Angeklagten im
Falle einer Schuldigerklärung treffen, daher sie ihre Erklärung ohne
Rücksicht auf die gesetzlichen Folgen ihres Ausspruches abzugeben haben.
So ideal dieses Prinzip in der Theorie erscheinen mag, in der
Praxis bewährt es sich nicht und es geht wohl kaum irgend eine
Session des Schwurgerichts vorüber, ohne daß eine Verhandlung eben
wegen des Ausschlusses der Geschworenen von jeglichem Einflüsse
auf die Straffrage gewiß nicht zum Gedeihen der Rechtspflege und
zur Aufrechterhaltung und Stärkung des Rechtsbewußtseins der Be¬
völkerung, mit einem Mißerfolge enden würde.
Es macht sich auch immer wieder das Bestreben der Geschworenen
geltend, Einfluß auf die Straffrage zu nehmen oder wenigstens ihrer
Anschauung in dieser Richtung Ausdruck zu geben, sei es, daß sie in
der irrigen Meinung, einhellige Bejahung der Schuldfrage ziehe strengere
Strafe nach sich, auch bei vollkommen klarer Schuldfrage diese nicht
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einhellig bejahen, sei es, daß sie, was gesetzlich ebenso unzulässig,
als menschlich begreiflich ist, an den Gerichtshof das Ersuchen richten,
bei Ausmessung der Strafe Milde walten zu lassen. Es kann den Ge¬
schworenen gewiß nicht verargt werden, daß sie nicht lediglich die Tat,
sondern ihren Wahrspruch als kausal für die Strafe ansehen und
deshalb die Folgen ihres Ausspruches bei Abgabe desselben in Rück¬
sicht ziehen; sie sind eben nicht Maschinen, sondern fühlende Menschen.
Es wäxe daher an der Zeit und gewiß nur im Interesse der
Rechtspflege gelegen, den Geschworenen die legale Möglichkeit einer
Einflußnahme auf die Strafbemessung zu gewähren, sei es, daß man
den Obmann oder zwei aus ihrer Mitte zu Wählende zur Beratung
über die Straffrage zuzieht oder daß man ihnen gestattet, die Schuld¬
frage mit dem Beisatze „unter mildernden Umständen tt zu bejahen
und an eine solche Beantwortung bestimmte Folgen knüpft
Fall HL Straffall Ridky.
Am klarsten und reinsten tritt das Eifersuchtsmotiv in folgendem
Straffalle zutage:
Die im Jahre 1876 als achtes Kind eines Arbeiters geborene
Katharina R. wuchs, wie begreiflich, in ärmlichen Verhältnissen auf,
genoß durch einige Jahre Schulunterricht in einem Kloster, bildete
sich dann im Weißnähen aus und war seit dem 16. Lebensjahre darauf
angewiesen, sich selbst ihren Unterhalt zu verdienen, was ihr um so
schwerer ankam, als sie stets kränklich war und vielfach an nervösen
Kopfschmerzen litt Von ihrer Umgebung wird sie als nervös, sehr
reizbar, exaltiert geschildert, — nach dem Gutachten der Psychiater,
die während der Voruntersuchung wegen des zu schildernden Straf¬
falles ihren Geisteszustand eingehend untersuchten, ist sie geistig voll¬
kommen klar, ganz intelligent, aber abnorm veranlagt, höchst leiden¬
schaftlich, exzessiv sinnlich, überspannt, offenbar hysterisch, Zeichen
einer Geisteskrankheit wurden bei ihr jedoch nicht vorgefunden.
In ihrem 19. Lebensjahre lernte sie in Gr. den 1879 geborenen
Maschinenschlosser August E. kennen, der sich nach ihrer Behauptung
an sie herandrängte und ihr „Liebe einzuflößen“ trachtete, doch fand
sie ihn damals antipathisch und wich einem näheren Verkehre mit ihm
aus' E. kam dann nach Wien, wo er seiner Militärdienstpflicht genügte.
Im Jahre 1896 zog die R. auch dorthin, traf mit E. zuerst auf
der Gasse zusammen, dann besuchte sie dieser in ihrer Wohnung;
durch das Wiener Leben „angeregt und lebenslustiger geworden“,
fand sie an E. immer mehr Gefallen, ihre Beziehungen wurden wärmer,
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schließlich gab sie sich ihm zu eigen. E. versprach, als die R. 1899
eines Kindes genas, sie zn ehelichen, sobald er sich eine feste Lebens¬
stellung errungen habe. R. kehrte zu ihren Eltern nach Gr. zurück.
E. fand nach Beendigung seines Militärdienstes eine Stelle in Frankfurt,
dann in K., wo ihn die R. besuchte, aber wieder wegfuhr, als sie
darauf kam, daß er mit einem anderen Mädchen ein Verhältnis unter¬
halte. Er knüpfte mit ihr aber wieder briefliche Beziehungen an, es
kam zu einer Aussöhnung, E. kehrte nach Gr. zurück, die R. traf
nach Kräften Vorbereitungen für die nun einzugehende Ehe, schaffte
unter vielen Entbehrungen Möbel an etc., — E. aber fand ein Leben mit
ihr wegen ihrer Reizbarkeit unerträglich und flüchtete vor ihr ins Ausland!
„Ich habe sie immer gern gehabt, — da sie aber wegen ihrer
Leidenschaft und Eifersucht unerträglich wurde, mich und meine An¬
gehörigen aufs gröblichste beschimpfte, fürchtete ich, mit ihr unglücklich
zu werden. Ich habe, um mit ihr zu brechen, meine Dienstplätze
auf gegeben, sie ist mir aber immer wieder aus eigenem Antriebe (nicht,
wie sie behauptet, auf meine Bitten) nachgefahren, und flehte nach
jedem der vielen Zerwürfnisse wieder um Versöhnung und weiteren
Verkehr, — ich ließ mich, da ich sie im Grunde genommen liebte,
immer wieder mit ihr ein.“
So kam es im Laufe der Jahre bis zum Jahre 1908 wiederholt
zu Streitigkeiten, Trennungen und Versöhnungen, — die R. war in¬
folge des Verkehrs mit E. noch 2 mal Mutter geworden, — die oft
besprochene Verehelichung kam aber nie zustande; wie sehr die R.
auch darauf drängte, E. wußte immer wieder Ausflüchte, hielt sie hin
und zeigte sich nur dann ihren Wünschen gefügiger, wenn es sich
darum handelte, Zwangsvollstreckungen zur Einbringung der Unter¬
haltungsbeiträge für das eine am Leben gebliebene Kind — die anderen
zwei waren im Laufe der Zeit gestorben — zur Einstellung zu bringen.
Im Sommer 1908 kamen beide wieder in Gr. zusammen und
setzten ihr Verhältnis fort, — die R. sah nun den E. öfters mit der
19jährigen L. sprechen, vermutete in ihr eine Rivalin, klärte sie über
ihre Beziehungen zu E. auf, geriet in hochgradige Erregung, konnte
nicht arbeiten, verfolgte den E. auf Schritt und Tritt und machte ihm,
als sie ihn eines Abends mit der L. auf der Gasse traf, eine heftige
Szene, in deren Verlaufe sie ihn im Gesicht zerkratzte und darauf
von ihm mißhandelt und leicht verletzt wurde. Sie brachte dies zur
Anzeige, lauerte dann dem E. auf der Gasse auf, stritt mit ihm, er
drohte mit einer Gegenklage, bat sie dann um Verzeihung, wußte sie
zu beruhigen und zu versöhnen, und trat mit ihr wieder über ihr
Drängen in intimen Verkehr; als er sie aber Tags darauf in ihrer
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Wohnung besuchte, fuhr sie auf ihn los und verletzte ihn mit einer
Schere an der Nase. Eingedenk der von ihr bei früheren Gelegen¬
heiten wiederholt ausgestoßenen Drohungen, daß sie ihn einmal ver¬
stümmeln werde, blieb E. ihr nun fern, suchte jedes Zusammetatreffen
mit ihr zu vermeiden und sah sie tatsächlich erst am 17. 9, als sie
bei der gegen ihn ob Übertretung der leichten körperlichen Beschädigung
angeordneten Verhandlung erschien, zu der über ihre Veranlassung
auch die L. als Zeugin geladen war.
E. hielt sich bei dieser Verhandlung völlig reserviert und machte,
wie durch die Vernehmung der Verhandlungsfunktionäre hinterher
konstatiert wurde, gegen die B. ebensowenig einen Ausfall oder eine
abfällige Bemerkung wie sein* Verteidiger oder die L., mit der er,
nachdem er zu einer Geldstrafe von 20 E und zur Zahlung eines
Schmerzensgeldes von 24 K an die R. verurteilt worden war, den
Verbandlungssaal verließ.
Anders spiegelte sich der Gang der Verhandlung in der Auffassung
der R. ab, deren Darstellung des Vorgangs bei Gericht und des
Folgenden für ihre Wesenheit so charakteristisch ist, daß sie wörtlich
wiedergegeben werden soll.
„Schon vor der Verhandlung sah ich im Warteraum, daß E. mit
der L. tuschelte, beide mich boshaft lächelnd anblickten und offenbar
gegen mich etwas im Schilde führten. Hierüber und über die offen¬
sichtige Mißachtung meiner Person seitens des E. geriet ich in hoch¬
gradige Erregung, hielt mich aber im Vertrauen auf mein gutes
Recht zurück.
Während der Verhandlung stellte mich der Verteidiger geradezu
als eine Dirne hin, die L. gab eine unwahre Zeugenaussage ab, und
da ich mich hiedurch in meiner Geschlechtsehre aufs heftigste gekränkt
sah und das Gefühl hatte, als ob auf mich mit Fingern gewiesen
würde, als wie auf eine Dirne, und ich nirgends ein Recht für mich
ersah, wuchs meine Erregung, so daß ich kaum wußte, was für einen
Ausgang die Verhandlung genommen habe.
Nach Verlassen des Verhandlungssaales hörte ich, wie E.
triumphierend zur L. sagte, daß ihm nichts geschehen sei, mich packte
die Wut, daß E., der mich verführt, wiederholt betrogen und in der
Not elend im Stiche gelassen hatte, auf Grund einer falschen Aussage
einer Person, von der ich wußte, daß sie nun seine Auserwählte und
Geliebte sei, straflos ausgehe und sich über mich lustig mache. Mir
war nun alles gleich, was über mich kommen würde, wenn ich mich
nur an E. rächen könnte. Ich beschloß, ihm einen Denkzettel zu geben,
mit Vitriol anzusebütten und dann meinem Leben ein Ende zu machen.
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Ich eilte zuerst zu meinem Vater, dem ich erzählte, daß ich gegen
E. nichts ausgerichtet habe und dagestanden wäre, wie eine Dirne,
wartete eine Antwort gar nicht ab und lief in meine Wohnung, riß
mir die Kleider vom Leibe, zog schnell andere an, nahm mir gar
keine Zeit zu essen, ergriff ein Einsiedeglas mit Vitriol, das ich zu
Wirtschaftszwecken im Hause hatte und eilte damit vor die Wohnung
des E., um ihm dort aufzulauern. Als E. seine Wohnung verließ
(2 Uhr Nm.), folgte ich ihm heimlich und täuschte mich nicht in der
Annahme, daß er zur L. gehen werde. Ich verbarg mich in der
Nähe der Behausung der L. in einem Gasthause, ließ mir etwas Essen
und zu Trinken reichen, setzte mich dort so, daß ich das Haus im
Auge behalten konnte. Ich sah, daß E. (etwa um 3 Uhr Nm.) mit der
L. am Arm fortging und wartete auf seine Rückkehr. Alles zitterte
in mir vor Erregung, ich wußte mich aber soweit zu beherrschen, daß
ich mit den Wirtsleuten und mit Gästen unauffällig sprechen konnte.
E. kam mit der L. etwa um V 2 6 Uhr wieder zurück und betrat
deren Wohnung, als er von dort nach einer Viertelstunde allein wegging
und sich der Straße zuwendete, (das Haus steht in einem Garten) verließ
auch ich eiligst das Gasthaus, nahm das Glas mit dem Vitriole zum
Ausschütten bereit in die Hand und begab mich auf die Straße. E. ging,
ohne mich zu beachten, gegen mich zu; ohne mich aufzuhalten schüttete
ich ihm den ganzen Inhalt des Glases ins Gesicht, er fuhr mit den
Händen gegen das Gesicht, mich reuje sofort die Tat, ich wagte aber
nicht mehr an ihn heranzutreten und ihm zu helfen und ging ohne
mich um ihn zu kümmern nach Hause.“
Diese Schilderung ist im großen und ganzen wahrheitsgetreu,
nur unterließ es Katharina R., im Verhöre anzugeben, daß sie vor
ihrem Weggehen aus ihrer 'Wohnung auch schwarze Brillen, deren
sie sich sonst nie bedient hat, aufgesetzt, ihr Gesicht überdies mit
einem schwarzen Schleier dicht verhüllt und so unkenntlich gemacht
hat. Während ihres Aufenthaltes im Gasthause erzählte sie der
Wirtstochter wohl von ihrem Verhältnisse zu E. und daß sie auf ihn
warte, weil sie mit ihm etwas zu besprechen habe, zeigte sich aber
nicht sonderlich erregt und nahm auch am Gespräche anderer Gäste,
teil. Als sie den E. gegen die Straße kommen sah, postierte sie sich
so hinter einem Laternenpfahl, daß E. an ihr vorbeikommen mußte.
Nach der Tat rief sie aus: „Jetzt ist’s gut!“ und verschwand eiligst.
E. erlitt schwere Brandwunden im Gesicht und büßte beide
Augen ein.
Katharina R. wurde schuldig gesprochen und zu 5 Jahren schweren
Kerkers verurteilt.
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IV.
Die Einwirkung von Volksparken auf die Kriminalität
der Jugend.
Von
Dr. Ernst Schultze in Hamburg-Großborstel.
In fast allen Kultnrländern beschäftigt man sich gegenwärtig viel
mit der Frage der Volksparke. Überall, wo die städtische Bevölke¬
rung, insbesondere die Bevölkerung der Großstädte, stark anwächst,
beginnt man zu erkennen, daß für die Erholungsmöglichkeiten der
Menschen, die hier, von der Natur abgeschnitten, in endlose Reihen
steinerner Häuser gebannt sind, nicht genügend gesorgt ist. England
und die Vereinigten Staaten, in denen Sport und Spiel weiter aus¬
gebildet sind als in deutschen Landen, gehen uns darin vorauf. Von
größter Bedeutung ist nun die Tatsache, daß die Volksparke, wie sich
durch ein bestimmtes amerikanisches Beispiel nachweisen läßt, nicht
nur die Gesundheit, die Stimmung, die Lebensfreudigkeit der Besucher
fördern, sondern daß sie auch nachweisbar zur Zurückdrängung
der Kriminalität der Jugend beitragen.
Zwar ist dies ja eigentlich schon ohne weiteres klar. Aber gerade
selbstverständliche Dinge müssen leider häufig erst bewiesen werden,
wenigstens wenn es sich um gemeinnützige Einrichtungen handelt,
die dem Staate oder der Stadt Geld kosten, ohne daß sich auf Heller
und Pfennig nachrechnen läßt, daß die aufgewendeten Summen „ren¬
tabel" angelegt sind, daß sie sich also in barem Gelde oder wenigstens
in Ersparnissen mit einem bestimmten Prozentsatz verzinsen werden,
wie etwa ein städtischer Schlacbthof oder ein Elektrizitätswerk
Für die gute Einwirkung der Volksparke auf die Bevölkerung
ist besonders kennzeichnend eine Reihe von Urteilen, die aus
Chicago vorliegen. In dieser unsympathischen, rußigen, rauchigen,
lärmenden, nüchternen, häßlichen, ganz auf den Gelderwerb gestellten
zweitgrößten Stadt der Vereinigten Staaten hat man Volksparke schon
seit längerer Zeit geschaffen. Seit etwa fünf Jahren aber sind gerade
in den südlichen Stadtteilen, also in denen, die sich unmittelbar um die
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Die Einwirkung von Volksparken auf die Kriminalität der Jugend. 33
großen Fabriken, um die Werkstätten der Pullmanngesellschaft, um
die riesigen Anlagen der Sch weineschlächtereien, um die Hochofen¬
betriebe und Eisenwalzwerke herum gruppieren, eine große Zahl neuer
Parke geschaffen. Von deren Einwirkung auf die moralische Haltung
der Bevölkerung, insbesondere der Kinder, soll hier die Rede sein.
Nicht nur Menschenfreunde, nicht nur die Parkbehörden selbst
bezeugen, daß das Benehmen der Erwachsenen ebenso wie das der
Kinder in den den Volksparken benachbarten Straßen ein wesentlich
anderes geworden sei — auch die Polizei teilt diese Ansicht durch¬
aus. Früher mußte sie alle Augenblicke Kinder verhaften, weil sie
alle erdenklichen Arten von Unfug verübt hatten. Großstadtkinder,
die ohne die Aufsicht der Eltern sind und in den Straßen herum¬
lungern, pflegen dort weder Gutes zu lernen noch Gutes zu tun.
Vorübergehende mit Schneeballen werfen ist noch ein verhältnismäßig
unschuldiges Vergnügen. Laternen ausdrehen, Fenster- und Laden¬
scheiben einschlagen macht schon mehr Spaß. Ab und zu tritt auch
einmal ein besonders böswilliger Fall hervor, der den Gerichten
zu schaffen macht und die Kriminalstatistik um einen schwarzen
Punkt bereichert.
Es liegt nun auf der Hand, daß der Antrieb zu manchem hä߬
lichen Vergehen fortfällt, sobald durch einen großen Volks park die
Möglichkeit der Erholung ohne dumme Streiche gegeben ist. Die
Kinder können sich hier wundervoll beschäftigen: die kleineren
können Burgen aus Sand bauen, die größeren können Räuber und
Soldat oder Farmer und Indianer spielen, sie können baden und
plantschen, können sich verstecken und nacheinander jagen, ohne
notwendig einen Vorübergehenden umzurennen oder selbst in Gefahr
zu kommen, überfahren zu werden; sie können im Grase liegen und
in den Himmel hineinträumen, im Winter können sie Schlittschuh
laufen, die Abhänge auf Rodelschlitten hinuntersausen, Schneemänner
bauen — und was der schönen Spiele der Kindheit mehr sind. Die
Energie der Jugend findet dann einen natürlichen Aus¬
weg. All die überströmende Kraft, die in unseren Jungen einen
Ausweg sucht, der sich in glücklicheren Verhältnissen, namentlich auf
dem Lande, in den Spielen im Freien ohne weiteres findet, die aber
in der Großstadt naturnotwendig mit dem ernsten Treiben und der
Berufspflicht der Erwachsenen Zusammenstößen muß, findet wieder
ein freies Feld der Tätigkeit, sobald Volksparke geschaffen sind, in
denen sich die Jugend nach Herzenslust tummeln kann. In Chicago
war die Polizei ungemein erstaunt, nach der Eröffnung der neuen
Volksparke in der Südstadt zu finden, daß sie wesentlich entlastet
Archiv für Kriminalanthropologie. 84. Bd. 3
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wurde, weil sich der Tätigkeitsdrang der Kinder nunmehr darin ent¬
lud, daß sie Fußball spielten oder um die Wette liefen oder schwam¬
men und sich gegenseitig neckten, nicht aber den Vorübergehenden
einen Schabernack antaten. Und die Gerichtshöfe konnten ebenso
feststellen, daß nun weniger übermütige oder böswillige Streiche
der Jugend vor die Schranken des Gerichts gezogen wurden als
zuvor. . . .
Übrigens ist auch die moralische Einwirkung der Volks¬
parke auf die Erwachsenen nicht zu unterschätzen. Die Hun¬
derttausende, die in den neugeschaffenen Parken ihre Erholung finden,
wissen nun, was sie mit ihrer freien Zeit anfangen sollen. Aller
Kampf um eine Verringerung der Arbeitszeit durch die Gesetzgebung
oder durch die Taktik der Gewerkschaften ist ja doch im Grunde
genommen ziellos, wenn der Arbeiter nachher nicht weiß, was er mit
der gewonnenen freien Zeit beginnen soll. In den rußigen Straßen
spazieren laufen ist kein Vergnügen; zu Hause mag man auch nicht
immer sitzen; wer keine Häuslichkeit hat, sondern nur als Schlaf¬
bursche zur Miete wohnt, hat häufig den Wunsch, sich anderswo
aufzuhalten. Seitdem nun die Parke geöffnet sind, gewährt es den
Hunderttausenden schwer arbeitender Menschen ein bisher nicht ge¬
kanntes Vergnügen, in ihrer freien Zeit im Grase zu liegen, in die
Äste der Bäume zu schauen oder den ziehenden Wolken am Himmel
nachzublicken, auf den Teichen umherzurudern, Schlagball zu spielen,
zu baden und zu schwimmen, in den Volksbibliotbeken eine Zeit¬
schrift oder ein gutes Buch zu lesen, im Winter Schlittschuh zu laufen
oder auf einem Rodelschlitten den Abhang hinunter zu fahren —
kurzum, sich an Körper und Geist so recht von Grund aus zu erholen
und auszuspannen.
Auch die Einwirkung auf die Reinlichkeit ist beträcht¬
lich: und eine Zunahme der körperlichen Reinlichkeit ist meist auch
von größerer moralischer Reinlichkeit, wenigstens in ein¬
zelnen Dingen, begleitet Die Einwohner Südchicagos haben in den
Schwimmhallen der Volksparke jetzt die Annehmlichkeit des Badens
für das körperliche Wohlbefinden und für die Gesundheit am eigenen
Leibe erfahren. Insbesondere für die zahlreichen Einwanderer aus
Südost- und Osteuropa, die nach Chicago kommen und dort in den
Fabriken die schwersten Arbeiten verrichten, ist dies von hervor¬
ragendem Einfluß. Oft und oft hat sich der Fall ereignet, daß ein
frisch zugezogener Einwanderer von seinen Verwandten, die schon
längere Zeit im Lande sind, sogleich nach seiner Ankunft in eine
Parkbadeanstalt geschleppt wurde, um seinen äußeren Menschen etwas
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Die Einwirkung von Volksparken auf die Kriminalität der Jugend. 35
aufzufrischen. Man kann getrost annehmen, daß manch einer, der
sich für eine überlange Frist auf ein einziges Bad beschränkte, jetzt
regelmäßig wöchentlich mindestens ein Bad nimmt. Die von den
Badeanstalten der Volksparke in Südchicago gewählte Verbindung von
Brausebad und Schwimmbad ist sehr geschickt — ja, ich möchte sie
für geradezu notwendig halten. Denn wo nur Brausebäder vorhanden
sind, üben sie noch nicht die Anziehungskraft aus wie in der Ver¬
bindung mit Schwimmbädern. Ich will nur an die Tatsache erin¬
nern, daß z. B. in einer oberschlesischen Stadt, wo Brausebäder für
die Arbeiter eingerichtet wurden, diese Badeeinrichtungen nicht oft
genug freiwillig benutzt werden, so daß förmliche Abkommandierungen
zum Baden erfolgen müssen.
Aber der erwachende Sinn für Reinlichkeit beschränkt sich nicht
auf die eigene Persönlichkeit, er greift auch auf die ganze Um¬
gebung, sowohl zu Hause als auch in der weiteren Umwelt, über.
Wer sich an die schmutzigen und unansehnlichen Straßen schon ge¬
wöhnt hatte, wird jetzt, nachdem er die schönen Parkwege kennen
und lieben gelernt hat, nicht mehr mit jenen zufrieden sein, sondern
auch seinerseits dahin streben, daß die Straßen in besseren Zustand
kommen. Und wer seinen Körper sauberer hält als früher, der wird
sich in seinem eigenen Haushalt nicht mehr damit genügen lassen,
nur das Notwendigste an Säuberungsarbeiten zu verrichten — er wird
auch hier größere Reinlichkeit durchzusetzen suchen. Endlich wird
auch die politische Reinlichkeit ihren Vorteil davon haben — für
amerikanische Städte kein gering anzuschlagender Gewinn.
Alles das sind Beobachtungen, die ein Einzelner oder eine Be¬
hörde machen kann und über die Meinungsverschiedenheiten vielleicht
kaum vorhanden sind. Für die Lauen und Gleichgültigen aber, bei
denen der Appell an das Herz und an den gesunden Menschenverstand
nicht genügt, um sie zu Freunden der Sache der Volksparke zu
machen, werden größere Wirkung positive Zahlen tun. Auch
solche liegen für die Volksparke Chicagos vor. Sie sind von be¬
sonderer Bedeutung, weil Chicago auch diejenige Stadt ist, in welcher
die Einrichtung der Kindergerichtshöfe am längsten besteht.
Schon am 1. Juli 1899 wurde der erste Kindergerichtshof in Chicago
(Chicago Juvenile Court) eröffnet Dessen Verhandlungen und Ent¬
scheidungen aber umfassen ein so ausgedehntes Beobachtungsmaterial,
das für statistische Aufnahmen weit geeigneter ist als die Verhand¬
lungen gegen Kinder und Jugendliche, die vor den gewöhnlichen
Gerichtshöfen stattfinden. Chicago bietet daher als zweitgrößte Stadt
der Vereinigten Staaten, als einer ihrer größten Indnstriemittelpunkte,
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als erste Stadt mit einem besonderen Jugendgerichtshof und als die¬
jenige Stadt Nordamerikas, die ein System von über die ganze Stadt-
fläche verteilten Volksparken am großzügigsten durchgeführt hat, be¬
sonders günstige Verhältnisse zur Beurteilung der Frage ihrer Ein¬
wirkung auf die Kriminalität der Jugend dar.
Die „Chicago School of Civics and Philanthropy“ hat ausführliche
Untersuchungen über diese Fragen unternommen, die sich auf die
Zeit vom 1. Juli 1899 (an dem der Jugendgerichtshof eröffnet wurde)
bis zum 30. Juni 1907 erstrecken.
Man teilte für die Zwecke dieser Untersuchung die Parke der
Stadt Chicago in drei Gruppen. Die erste Gruppe wird von den
großen städtischen Parken gebildet, die schon seit längerer Zeit be¬
stehen — die zweite von den kleinen Grünplätzen und Kinderspiel¬
plätzen, die ebenfalls schon mehrere Jahre in Wirksamkeit sind —
die dritte von den mittelgroßen Parken der Südstadt, die nach ihren
Zielen und nach der Art ihres Betriebes einen Typus für sich bilden.
Bei der Untersuchung sind nur die Knaben berücksichtigt worden,
die vor dem Jugendgericbtshof erschienen; bekanntlich ist die Kri¬
minalität des männlichen Geschlechts eine wesentlich höhere als die
des weiblichen. Hauptsächlich handelt es sich um Vergehen wie
Diebstahl, Gewalttätigkeit, groben Unfug, Böswilligkeit und ähnliches.
Das Alter der kleinen Verbrecher erstreckte sich von 7 bis zu
17 Jahren. Ihre große Mehrzahl war aber älter als 10 Jahre, und
die größte Zahl aller Fälle bezog sich auf Jungen im Alter von
15—16 Jahren. Um eine genaue Übersicht zu erhalten, wurden in
der Untersuchung der „School of Civics and Philanthropy“ alle Fälle,
in denen Knaben vor dem Kindergerichtsbof gestanden hatten, für
dessen 1., 5. und 8. Jahr auf Karten der Stadt durch Stecknadeln
mit farbigen Köpfen bezeichnet; jedes Jahr hatte seine besondere
Farbe. Ebenso wurden die Fälle eingetragen, in denen Besserung
erzielt worden war. Dadurch wurde es möglich, die Verteilung der
Vergehen und Verbrechen von Kindern und Jugendlichen und deren
Weiterentwicklung zu übersehen und ein Urteil darüber zu gewinnen,
ob etwa in der Umgebung der Volksparke die Kriminalität der Jugend¬
lichen von Anfang an schwach entwickelt oder im Laufe der Zeit
zurückgegangen war. Die erfolgreichen Fälle, in denen eine zweifel¬
lose Besserung eines vom Kindergerichtshof einmal verurteilten Kindes
festzustellen war, wurden auf der Karte besonders kenntlich gemacht.
Als solche Fälle wurden diejenigen gezählt, in denen die vom Gericht
ausgesprochene bedingte Verurteilung nicht in Kraft trat, weil die
Besserung des Übeltäters unverkennbar war.
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Die Einwirkung von Volksparken auf die Kriminalität der Jngend. 37
Natürlich ist es mit großen Schwierigkeiten verknüpft,
auch aus einer noch so genauen statistischen Untersuchung nach Art
der geschilderten bestimmte Schlüsse zu ziehen, insbesondere in einem
Lande, in welchem der gesamten Bevölkerung die Ortsveränderung
so sehr in Fleisch und Blut übergegangen ist wie in Nordamerika.
Dort werden alle solche Zahlenreihen immer dadurch durchkreuzt
werden, daß die Bevölkerung sich in starkem Flusse befindet
daß der Einzelne ein halbes Jahr hier und ein halbes Jahr dort
wohnt, und daß von Seßhaftigkeit gerade in den Großstädten nur
in einer beschränkten Anzahl von Fällen gesprochen werden kann.
Auch ist in Betracht zu ziehen, daß die Volksparke eine dauernd
gute Wirkung wohl nur auf den jugendlichen Gelegenheitsverbrecher
ausüben können, nicht aber auf den erblich belasteten, der durch die
moralische Verfassung, die er mit auf die Welt bekommen hat, durch
Trunksucht der Eltern, durch völlige Vernachlässigung von ihrer Seite,
durch tausend ungünstige Umstände in so großer Gefahr ist, moralisch
zu verkommen, daß er nur durch beständige und überaus geschickte
pädagogische Einwirkungen gerettet werden könnte. Volksparke und
Spielplätze werden ihre Wirkung also immer nur in solchen Fällen
üben können, die verhältnismäßig leicht liegen, die jedenfalls nicht
hoffnungslos sind, und es wäre selbstverständlich eine maßlose Über¬
treibung, wenn man annehmen wollte, das Problem der Kriminalität
der Jugend überhaupt allein schon durch Volksparke und Spielplätze
lösen zu können.
Nun zu den Ergebnissen der Untersuchungen der „ School of
Civics and Philanthropy“.
Die erste Gruppe von Volksparken bestand aus den großen
Parken, die die Stadt Chicago schon vor längerer Zeit geschaffen
hat. Sie enthalten Basenflächen, Baumgruppen, Seen und Teiche,
Tennisplätze, die für jedermann unentgeltlich benutzbar sind, Ruder¬
boote, die für ein kleines Entgelt gemietet werden können, u. a. mehr
Als Beispiel sei der Lincolupark genannt, der im Norden der Stadt
liegt und 32 Acres (1 Acre =* 0,4 Hektar) umfaßt. Er kostete der
Stadt eine Summe von 20 Millionen Mark. Ähnliche Parke, wenn
auch meist von geringerer Ausdehnung, finden sich auch in den
übrigen Teilen der Stadt, die sich im Jahre 1900, was vergleichs¬
weise erwähnt sein mag, mit ihren 1 700 000 Seelen über ein Gebiet
von 495 Geviertkilometern erstreckte, während Berlin im gleichen Jahre
mit einer ungefähr gleich großen Bevölkerung nur 64 Geviertkilometer,
also einen achtmal kleineren Flächenraum, einnahm. Die Bebauung
Chicagos ist eben außerordentlich weitläufig: es gibt Straßen von
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IV. Ernst Schultze
40 km Länge. Die Holzplanken, welche die unbebauten Grundstücke
inmitten halb oder mehr bebauter Stadtviertel umschließen, tragen viel
dazu bei, der Stadt einen so häßlichen, fast möchte man manchmal
sagen „verkommenen“ Anstrich zu geben. — Von den anderen großen
städtischen Parken sei der Jacksonpark erwähnt (211 Hektar groß
— der größte Park Chicagos), der im Jahre 1893 der Schauplatz der
Weltausstellung war. Dann wären in anderen Teilen des städtischen
Weichbildes der Humboldtpark, der Garfieldpark, der Douglaspark,
der Washingtonpark zu nennen, von denen der letztere in seinen
schönen Baumgruppen, seinen wundervollen Blumenbeeten und
Treibhäusern und in seinen großen Teichen, auf denen Wasserlilien
und andere Wasserpflanzen schwimmen, einen besonders prächtigen
Schmuck besitzt.
Aus den Untersuchungen der „School of Civics and Philanthropy“
ließ sich nun nicht entnehmen, ob eine Verminderung der Zahl der
Vergehen und Verbrechen Jugendlicher in der Umgebung dieser großen
Parke während der Zeit zu beobachten war, seitdem der Kinder¬
gerichtshof geschaffen wurde. Aber man kann eine solche Folge auch
nicht erwarten, denn diese 6 großen städtischen Volksparke sind sämt¬
lich vor dem 1. Juli 1899 geschaffen worden. Indessen muß man
es doch wohl als eine Folge der Wirksamkeit dieser Parke betrachten,
daß die Zahl der Fälle, in denen eine Besserung von Kindern und
Jugendlichen nachzuweisen war, die der Kindergerichtshof verurteilt
hatte, für die unmittelbare Umgebung dieser großen Parke eine höhere
war als für den Durchschnitt der ganzen Stadt. Der Durchschnitt
für die ganze Stadt Chicago betrug nämlich 39 Proz., während er für
die Straßenviertel, die in einem Kranz von einer englischen Meile
Entfernung sich um die 6 großen Parke herumlegen, 46 Proz. beträgt.
Diese Einflußzone ist wohl annähernd richtig geschätzt; eine englische
Meile beträgt in unserem Längenmaß etwa 1,6 km. Zudem ist die
Annahme dieser Breitenzone auf Grund von Angaben der städtischen
Parkbeamten erfolgt, die der Ansicht sind, daß die regelmäßigen Be¬
sucher der Parke etwa aus dieser Entfernung herbeikommen. Ganz
besonders lehrreich ist aber, daß viele von den 46 Proz. erfolgreicher
Besserungsfälle in der unmittelbaren Einflußzone der großen städtischen
Parke sich auf Kinderbeziehen, die vor der Verurteilung anderswo
wohnten und deren Eltern ihre Wohnung erst nach der Verurteilung
in die Einflußzone der Parke verlegten. Übrigens sind die Eltern ebenso
wie die Polizei in der Überzeugung von der guten Einwirkung der Parke
einig. Einer der erfolgreichen Besserungsfälle, den ich der Zeitschrift
„Charities and the Commons“ entnehme, sei hier kurz wiedergegeben:
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Die Einwirkung von Volksparken auf die Kriminalität der Jugend. 39
Ein neunjähriger Knabe wurde wegen Diebstahls vor den Kinder¬
gerichtshof gebracht und für kurze Zeit in Besserungserziehung ge¬
geben. Ein Jahr später stand er abermals vor den Schranken des
Gerichts und wurde der Überwachung durch einen der Beamten für
die Besserungserziehung überwiesen. Wieder 3 Jahre später mußte
er abermals vor Gericht gezogen werden und wurde nun einer Zwangs¬
erziehungsanstalt überwiesen, der die hoffnungslosen Fälle übergeben
zu werden pflegen. Nachdem er seine Strafzeit dort abgesessen hatte,
zogen seine Eltern, die bis dahin in einem Stadtteile gelebt hatten,
der Volksparke oder ähnliche Erholungsmöglichkeiten nicht aufwies, in
die Nähe des Lincoln-Parks. Bald gewöhnte sich hier der Knabe
daran, seine ganze freie Zeit im Park zu verbringen. Seither hat er
sich so ordentlich geführt, daß er nicht mehr mit dem Kindergerichtshof
in Konflikt gekommen ist. Und dies ist nicht der einzige Fall dieser
Art. Ganz zweifellos werden von den großen städtischen Parken auf
die Kinder ihrer Umgebung Einflüsse der besten Art ausgeübt.
Die zweite Gruppe von Parken, die in der Chicagoer Unter¬
suchung unterschieden wurden, besteht aus 12 kleinen Spiel¬
plätzen, die insbesondere für kleinere Kinder bestimmt sind. Drei
von diesen Plätzen liegen so nahe an den neu geschaffenen Parken
der Südstadt, welche die dritte Gruppe bilden, daß sie die Möglichkeit
zu gesonderter Untersuchung nicht boten. Bei der Kleinheit der Spiel¬
plätze der zweiten Gruppe ist die Zone ihrer Wirksamkeit keine große:
sie wird von Theodore A. Groß, ihrem Direktor, so eingeschätzt, daß
etwa 70 Proz. der Kinder, die sie benutzen, nur eine viertel englische
Meile, also 0,4 km entfernt wohnen, 90 Proz. eine halbe Meile, also
etwa 0,8 km entfernt Diese Einflußzone ist zu klein, als daß sichere
Schlüsse aus einer statistischen Untersuchung der Kriminalität der
Kinder in ihr gezogen werden könnten. Dennoch ist der Versuch
gemacht worden, die betreffenden Zahlen zu berechnen: er hat ergeben,
daß in den Jahren 1900—1907 in der unmittelbaren Einflußzone der
12 kleinen Spielplätze (d. h. in einer Entfernung von einer viertel
englischen Meile) die Abnahme der Kriminalität der Jugend 24 Proz.
betrug, während sie eine Zunahme von 10 Proz. zeigt, wenn die
Einflußzone auf eine halbe englische Meile berechnet wird. Die
Durchschittszahl für die ganze Stadt Chicago zeigt bei einem Vergleich
der Jahre 1900—1907 eine Abnahme von 18 Proz. Der Vergleich der
drei Zahlen scheint zu bestätigen, daß es unmöglich ist, sichere
Schlüsse aus statistischen Aufnahmen über so kleine Gebiete zu ziehen.
Die Statistik ist die Wissenschaft der Durchschnittsberechnung. Allzu
kleine Proben darf sie also nicht zugrunde legen.
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Selbst wenn aber diese kleinen Spielplätze einen günstigen Einfluß
auf die Kriminalität der Jugend nicht geübt haben sollten, so ist doch
eigentlich nur ein Schluß daraus möglich: daß ihre Wirksamkeit
nicht groß genug ist, weil sie zu wenig Anziehungskraft auf die Kinder
besitzen. Die kleinen Kerlchen von 4 Jahren bis zu 8 oder 10 Jahren,
die sich auf diesen Plätzen hauptsächlich tummeln, bilden ja doch
nur in den allerseltensten Fällen ein Objekt für die Kindergerichts-
höfe. Werden die Kinder älter, so wollen sie sich nicht mehr damit
begnügen, im Sand zu graben, Kuchen zu backen und kleine Burgen
zu bauen; dann wollen sie ihre Kräfte üben und sich den wilden
Spielen hingeben, die für die gesunde Jugend vom 8. Jahre an ge¬
radezu Lebensbedürfnis sind. Auf kleinen Spielplätzen haben sie dazu
keinen Baum. Auch ist ihnen die Anwesenheit kleinerer Kinder un¬
behaglich, nicht nur, weil sie alle Augenblicke einen dieser kleinen
Knirpse umzurennen in Gefahr sind, vielmehr auch weil es sich mit
der Würde eines zwölfjährigen oder nun gar vierzehnjährigen Jungen
nicht verträgt, mit Sechs- oder Achtjährigen auf demselben Grund
und Boden zusammen zu spielen. Die Scheidung dieser Altersklassen
ist das Natürliche, und wo die Älteren nicht die Kleineren verdrängen
wollen oder können, da halten sie sich eben selbst fern und verlegen
ihre Spiele lieber auf die Straße. Kleine Spielplätze bieten deshalb
größeren Kindern viel zu wenig, als daß sie einen Einfluß auf sie
ausüben könnten.
Wir wenden uns nun zu der dritten und letzten Gruppe
der städtischen Parke Chicagos, zu den Volksparken der Süd¬
stadt, die von dem „South Park Board“ ins Leben gerufen wurden.
Das ist eine städtische Behörde, die im Jahre 1903 geschaffen wurde,
um die südlichen Stadtteile, die eine besonders starke Arbeiterbevölke¬
rung aufweisen, für welche größere Erholungsmöglichkeiten geschaffen
werden mußten, mit einem ganzen Netz von Parken zu überziehen.
Diesem Parkausschuß für die Südstadt wurden große Mittel bewilligt:
er konnte während der ersten drei Jahre seiner Tätigkeit über
24 Millionen Mark ausgeben und erhielt bis zum Berichtsjahre 1906
bis 07 (siehe den amtlichen Bericht) Bewilligungen im Betrage von
mehr als 80 Millionen Mark. Der Ausschuß hat absichtlich davon
abgesehen, nur einen großen Park zu schaffen, der zwar der un¬
mittelbaren Nachbarschaft große Annehmlichkeiten geboten, der Be¬
völkerung der weiter entfernt liegenden Stadtteile aber doch nur
wenig genutzt hätte. Vielmehr hat er in weitsichtiger und geradezu
vorbildlicher Weise versucht, eine größere Anzahl kleinerer Parke
über die Südstadt zu verstreuen und insbesondere auch solche ihrer
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Die Einwirkung von Volksparken auf die Kriminalität der Jugend. 41
Teile damit zu versehen, die schon dicht bebaut waren. Die aller¬
wichtigste Seite der Tätigkeit der neuen Behörde war aber der Ver¬
such, die neugeschaffenen Parke in den Dienst der verschie¬
densten gemeinnützigen Zwecke zu stellen und dadurch
jeden einzelnen von ihnen zu einer Art Volksheim zu
machen. Man hat sich also nicht damit begnügt, Basenflächen an¬
zulegen, Baumgruppen zu pflanzen (für die besondere Baumschulen
angelegt werden, zumal sich die Bäume und Sträucher erst an die
rauchige und rußige Luft Chicagos gewöhnen müssen) und Sand¬
spielplätze für Kinder herzurichten, die übrigens mit sogenanntem
Torpedosand versehen werden, der auch an besonders windigen Tagen
nicht Staub aufwirbelt. Sondern es sind auch reichlich Tennisplätze
für Erwachsene angelegt worden, ferner Plätze für alle möglichen
Ballspiele, Teiche zum Budern und zum Schlittschuhlaufen, Abhänge zum
Schlittenfahren im Winter, Musikpavillons, Schwimmbäder, Turnhallen,
Speisehäuser, Volksbibliotheken und Lesehallen, Klubzimmer, Vortrags¬
und Vereinssäle — und was man sich nur irgend wünschen mag.
Das Kennzeichnende dieser Volksparke der Chicagoer Süd¬
stadt ist also einmal, daß sie in allen Teilen dieses Stadtviertels zu
finden sind; ferner, daß jeder dieser Parke die genannten Einrichtungen
neben einander besitzt, sodaß aus ihrer Vereinigung eine prächtige
Zusammenfassung gemeinnützigen Lebens entsteht; und endlich, daß
diese Einrichtungen (mit Ausnahme der Speisehäuser, denen indessen
billige Preise vorgeschrieben sind) völlig unentgeltlich benutzt werden
können. In dieser Beziehung hat man also einen Schritt getan, der
z. B. selbst unser deutsches Tarnwesen in den Schatten stellt. Im
allgemeinen ist dies ja, was seine Verbreitung und seinen Einfluß an¬
geht, dem amerikanischen durchaus überlegen, und unsere deutsche
Turnerscbaft kann auch auf ihre sozialen Leistungen stolz zein. Aber
die Amerikaner zeigen uns hier doch einen neuen Weg, indem sie
Turnhallen für das männliche wie für das weibliche Geschlecht ge¬
schaffen haben, die ohne Entgelt und ohne daß man einem Turnverein
anzugehören braucht, jederzeit benutzt werden können. Die Mitglieder
der meisten deutschen Turnvereine sind doch darauf beschränkt, die
Turnhallen nur zu bestimmten Stunden in der Woche zu benutzen;
die Turnhallen der Volksparke in Südchicago können von jedermann
während des ganzen Nachmittags und Abends ohne Beitragszahlung
oder Vereinszugehörigkeit benutzt werden. Das bietet natürlich einen
starken Anreiz, und Tausende entschließen sich zum Turnen und zu
Freiübungen, die sonst zu schwerfällig oder zu knauserig dazu sein
würden. Schließlich haben aber auch die Turnvereine, oder in Amerika
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noch mehr die Spielvereine ihren Vorteil davon, weil sich die nun
für körperliche Übungen neu Gewonnenen in bedeutender Zahl solchen
Vereinen anschließen.
Es fehlt hier an Raum, die Wirksamkeit der Turnhallen, der
Schwimmbäder, der Wat- und Spritzbäder für Kinder, der Spielplätze,
der Speisehäuser, der Parkbibliotheken und Lesehallen, der Tanzsäle,
der Klubzimmer, der Versammlungssäle, der Teiche, der Freikonzerte
in den Parken- Süd-Chicagos näher zu schildern. Ich habe dies in
einem ausführlichen Aufsatz „Amerikanische Volksparke“ getan.')
Daß gerade die Zusammenfassung dieser gemeinnützigen
Bestrebungen auf dem Boden der Volksparke auf die gesamte
umwohnende Bevölkerung großen Einfluß ausüben und auch die
Kriminalität der Jugendlichen wesentlich herbsetzen mußte, liegt klar
auf der Hand. Tatsächlich zeigen auch die Zahlen, daß dieser gute
Einfluß sich schnell bemerkbar gemacht hat. Denn während im
Jahre 1900 und noch im Jahre 1904 (unmittelbar nach Eröffnung der
Volksparke der Südstadt) die südlichen Stadtviertel Chicagos zu¬
sammen etwa 40 Proz. aller jugendlichen Verbrecher und Übeltäter
der Stadt stellten, war zwei Jahre nach der Eröffnung der Volksparke
der Südstadt dieser Prozentsatz auf 34 vom Hundert gefallen. Oder
anders gerechnet: während die Kriminalität der Jugendlichen in allen
Gebieten der Stadt zusammen ohne die Südstadt von 1900—1907 um
12 Proz. gestiegen war, hatte sie in der Südstadt selbst um 17 Proz.
abgenommen.
Noch stärker fallt die Abnahme der Kriminalität der
Jugend in der Südstadt in die Augen, wenn man sie nicht als
Ganzes betrachtet, sondern die unmittelbaren Einflußzonen der Volks¬
parke herausschält: d. h. die Straßen viertel, welche die Parke in einer
Entfernung von einer halben englischen Meile (0,8 km) umgeben. So
zeigt z. B. der Volkspark des 9. Bezirks der Südstadt eine Abnahme
der Kriminalität der Jugend um 28 Proz. In den Bezirken 6 und 8
sind zusammen drei Volksparke geschaffen worden. Die Folge war,
daß die Kriminalität der Jugendlichen um ein volles Drittel, also um
331/ 3 Proz. zurückging, obwohl die Bevölkerung gleichzeitig zunahm.
In einem anderen Bezirk, in dem die Bevölkerung annähernd gleich
stark blieb, (er trägt die Nummer 2 V 2 ) hat die Abnahme der jugend¬
lichen Kriminalität sogar 70 Proz. betragen. Alle diese Bezirke liegen
in der Umgebung der Schlachthöfe, in einem Teile der Stadt also,
1) Dieser Aufsatz erschien in der Zeitschrift „Coneordia" der Zentralstelle
für Volkswohlfahrt vom 15. September 1908. Er wird als besondere kleine
Broschüre im August 1909 im Verlage von Felix Dietrich, Leipzig, erscheinen.
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Die Einwirkung von Volksparken auf die Kriminalität der Jugend. 43
in dem soziale und moralische Reformbestrebungen jahrelang die ge¬
ringste Aussicht zu haben schienen. Als Ganzes genommen, zeigt
dieser Teil der Stadt für die Kriminalität der Jugend eine Abnahme
von nicht weniger als 44 Proz., wenn man das Jahr 1907 mit dem
Jahre vor der Eröffnung der Volksparke vergleicht.
Auch die Statistik der Besserung jugendlicher Verurteilter in der
Südstadt zeigt das gleiche günstige Bild, ja fast ein noch besseres. In der
unmittelbaren Einflußzone der 11 Volksparke, die in der Südstadt bis
zum Jahre 1907 geschaffen waren, betrug der Prozentsatz der Besse¬
rungen in den Jollen der bedingten Verurteilung zwischen 33 und
100 Prozent» Berechnet man den Durchschnitt, so ergibt sich ein Pro¬
zentsatz von 46, während der Prozentsatz für die ganze Stadt im
Durchschnitt 39 betrug.
* *
*
Auf alle Fälle ergibt sich unzweifelhaft ein wesentlicher
Einfluß der Volksparke auf die Kriminalität der Jugend.
Die Chicagoer Untersuchung zeigt uns ganz klar, was in dieser Be¬
ziehung zu tun ist: neben die großen Parke, von denen für jeden
Stadtteil nicht gut mehr als einer wird geschaffen werden können,
muß für jeden einzelnen Bezirk der Stadt ein kleinerer Volkspark
treten, der nicht nur Spazierwege und ein paar Bänke zum Ausruhen
und „Spazierensitzen 11 enthalten muß, sondern alle die Einrichtungen,
die die Volksparke Süd-Chicagos schnell zu so außerordentlichem
Einfluß gebracht und ihnen bei der gesamten Bevölkerung eine wahr¬
haft enthusiastische Liebe errungen haben. Ganz kleine Spielplätze
und Grün-Plätze genügen dafür nicht, wenngleich sie für die
kleineren Kinder natürlich unentbehrlich sind. Wir werden die Über¬
zeugung gewinnen müssen, daß wir für Volksparke wesentlich größere
Summen aufwenden sollten, als dies bisher geschehen ist. Je mehr
unsere großen Städte wachsen, je anstrengender und aufreibender
unsere Berufstätigkeit wird, je mehr wir von der Natur und ihren
stärkenden und beruhigenden Einflüssen durch das städtische Leben
abgeschnitten werden, desto mehr wird es zu einer Lebensfrage für
die körperliche und moralische Gesundheit weitester Volkskreise, daß
wir auch innerhalb der Städte oder zum mindesten in leicht erreich¬
barer Entfernung (nicht mehr als eine viertel Stunde elektrischer
Bahnfahrt) die Gelegenheit schaffen, uns an dem Busen der Natur
auszuruhen und neue Kraft für unser Arbeitsleben zu sammeln.
Insbesondere dem Problem der Kriminalität der Jugendlichen
wird man selbst mit den sorgfältigsten und liebevollsten Erziehungs¬
maßnahmen, mit der bestüberlegten Reform unseres Gerichtswesens
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doch nicht gerecht werden können, wenn wir nicht gleichzeitig alles
tun, um den Kindern körperlich und moralisch ein ge¬
sundes Aufwachsen zu ermöglichen: d. h. wenn wir sie
nicht dem Leben der Straße entziehen und ihnen statt
dessen gesunde und ungestörte Tummelplätze für ihren
jugendlichen Übermut bieten. Alle Volksparke, die wir schaffen,
werden uns helfen, dies Problem zu lösen. Und wenn uns die Neun¬
malweisen, die alles und jedes zunächst unter dem Bilde von Mark-
und Pfennig-Zahlen im Jahreshaushalt ansehen, vorrechnen wollen,
daß die städtischen Kassen durch all die zahllosen Anforderungen,
die an unsere modernen Städte gestellt werden, so in Anspruch ge¬
nommen sind, daß für Dinge, die sich nicht unmittelbar rechnungs¬
mäßig verzinsen, nichts mehr übrig bleibt, so müssen wir lernen, für
die Behandlung wichtiger Kulturprobleme den Einfluß solcher Augen¬
blicksmathematiker zu überwinden, so gut sie es auch meinen mögen.
Difitized
bv Google
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V.
Über die gerichtsärztliche Beurteilung perverser
Geschlechtstriebe.
Von
Dr. med. Heinrich Qräf, Cuxhaven.
Im Leben des einzelnen und besonders für das Wohl und Fort¬
bestehen eines Staates spielt der Geschlechtstrieb, der Trieb der Er¬
haltung der Art, eine große Rolle. Dieser Trieb zeigt eine ganze
Reihe von Abweichungen von der Norm, die für Psychiater und
Gerichtsarzt von großem Interesse sind. Mit diesen normwidrigen,
perversen Gescblechtstrieben und ihrer Beurteilung vom gerichtsärzt¬
lichen Standpunkte wollen wir uns in folgendem beschäftigen.
Was verstehen wir denn unter perversen Geschlechtstrieben?
Triebneigungen, die von dem normalen Geschlechtstriebe, Koitus
zwischen Mann und Weib, der der Befriedigung der Geschlechtslust
und der Fortpflanzung dient, abweichen. Es losen dabei inadäquate
Reize geschlechtliche Gefühle aus. Wir finden neben kleinen, noch
im Bereich des Normalen liegenden Abweichungen, Perversitäten, wie
Lustmord und Leichenschändung und als Gegensatz der Liebe zum
anderen Geschlechte widernatürliche Unzucht mit dem gleichen Ge¬
schlecht oder mit Tieren. Die wichtigsten Typen der perversen
Geschlechtstriebe, die für uns in Betracht kommen, sind Sadismus,
Masochismus, Fetischismus, Exhibitionismus, Sodomie und als wich¬
tigste die konträre Sexualempfindung oder Homosexualität. Es han¬
delt sich bei diesen Abweichungen des normalen Geschlechtstriebes
teils um krankhafte Erscheinungen, von v. Krafft-Ebing (47) als
„Perversionen“ bezeichnet, teils um verabscheuungswürdige Laster, für
die der Ausdruck „Perversitäten“ gilt Es dürfte, wie auch Ho che
(33) meint, nicht immer möglich sein, Perversion und Perversität
streng voneinander zu trennen.
Die Bezeichnungen Sadismus, Masochismus, Fetischismus stammen
von v. Krafft-Ebing und sind durch dessen „Psychopathia sexualis“
Gemeingut der Gebildeten geworden. Westphal (104) prägte die
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Bezeichnung „konträre Sexualempfindung“. Als Sadismus bezeichnen
wir eine Paarung von Grausamkeit und Wollust. Es wird durch
grausame, gewalttätige oder beleidigende Handlungen eine Steigerung
der Wollust beim Geschlechtsakt erstrebt In manchen Fällen tritt
auch die grausame Handlung an Stelle des verschmähten Koitus und
ruft Wollust nnd geschlechtliche Befriedigung hervor. Den Namen
Sadismus gab v. Krafft-Ebing (47) dem perversen Triebe „nach dem
berüchtigten Marquis de Sade, dessen obscöne Romane von Wollust
und Grausamkeit triefen“. Der Masochismus ist das direkte Gegen¬
stück zum Sadismus. Bei ihm strebt der Masochist danach, die
Steigerung der Libido durch Schmerz am eigenen Körper herbei¬
zuführen. Demütigende Situationen, erlittene Mißhandlungen, be¬
dingungslose Unterwerfung des eigenen Ich unter den Willen einer
anderen Person erhöhen die Wollust oder treten bei geminderter
Potenz als Ersatz für den normalen Beischlaf ein. Ihren Namen hat
die Erscheinung nach dem Schriftsteller Sacher-Masoch, der in seinen
Romanen die seinerzeit noch unbekannte Erscheinung zum Gegen¬
stände seiner Erzählungen machte. Wie v. Krafft-Ebing angibt, soll
Sacher-Masoch selbst mit dieser sexuellen Anomalie behaftet gewesen
sein. v. Schrenck-Notzing (89,90) schlägt dafür den Ausdruck
Algolagnie = Schmerzgeilheit vor und unterscheidet eine aktive und
passive Algolagnie. Eulenburg will Sadismus als „Lagnänomanie“,
Masochismus als „Machlänoraanie“ bezeichnet haben. Für den Ge¬
richtsarzt ist es wohl am richtigsten, sich an die allgemein eingebür¬
gerten Bezeichnungen von Krafft-Ebings zu halten.
Sadismus.
Sehen wir uns den Sadismus näher an, so können wir in seinen
Anfängen leicht eine Ausartung männlicher Geschlechtscharaktere er¬
kennen. Dem Manne ist das Streben, sich das Weib zu erobern,
angeboren. Das äußert sich vielfach beim normalen Geschlechts¬
verkehr durch den Liebesbiß und ähnliche im geschlechtlichen Affekte
an der Partnerin verübte leichtere Mißhandlungen. Hier gehören diese
Äußerungen noch ins Bereich des Normalen. Erinnert sei hier an
die Liebeswerbung mancher wilden Volksstämme, wo das Weib durch
Keulenschläge wehrlos gemacht wird. Man könnte also unter Um¬
ständen von einem atavistischen Rückschläge sprechen. Daß der
Anblick grausamer Handlungen sexuell erregend wirkt, ist bekannt
Ich erinnere an die Gladiatorenkämpfe im alten Rom, an die Be¬
liebtheit der Stiergefechte im modernen Spanien. Körperliche Züch¬
tigungen können auf Kinder lusterregend einwirken. Nach Donath
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(13) können Schläge, ob sie empfangen werden oder erteilt sind, in
frühem Alter bei Kindern zu den ersten geschlechtlichen Regungen
führen. In jedem Menschen schlummert ein gewisser Zug von Grau¬
samkeit. Nach Schmidtmann (8) wird bei den dazu veranlagten
Kindern durch körperliche Züchtigungen und Lektüre darüber ein oft
bleibender Eindruck im Kindergemüt hinterlassen und großgezogen.
Kommt dazu noch ungeeignete Lektüre, wie Indianergeschichten
u. dergl., so entwickelt sich bei dem betreffenden Individuum leicht
eine sadistische Triebverkehrung. In den Kinderjahren werden die
sadistischen Akte häufig als Grausamkeiten an Tieren ausgeübt. In
der Zeit der Geschlechtsreife und beim normalen Verkehr können die
sadistischen Neigungen verblassen. Bei Abnahme der Potenz treten
sie aber vielfach mit erneuter Stärke hervor und führen zu den größten
Scheußlichkeiten. Über sadistische Akte finden wir mancherlei An¬
gaben bei v. Krafft-Ebing (47). So zwingt ein Mann, der gewöhnlich
gegenüber seiner schönen Frau impotent ist, diese gewaltsam zum
Koitus z. B. auf einer Wiese, im Gebüsch, im Eisenbahnabteil. Überall,
wo Gefahr droht, überrascht zu werden, ist er potent, im Ehebett nicht
Diese Handlungen sind entschieden als grausam zu bezeichnen, drohte
doch der Frau bei Überraschung zum mindesten öffentliche Blo߬
stellung. Der Mann hätte sich dann wegen Erregung öffentlichen
Ärgernisses zu verantworten gehabt. Weiter finden wir bei v. Krafft-
Ebing einige Fälle von Lustmord. Solche Lustmorde werden ent¬
weder im Stadium des höchsten Orgasmus verübt oder der Täter tötet
sein Opfer nach vollzogenem Koitus, oder aber es findet gar kein
stuprum statt und der Mord selbst ist das Äquivalent für den Koitus.
Doch nicht jeder Mord einer weiblichen Person nach vollbrachtem
Koitus ist als Lustmord anzusehen. Vielfach ist es dem Täter nur
darum zu tun, die Zeugin seines Sittlichkeitsverbrechens zu beseitigen.
Von Lustmord kann nur die Rede sein, wenn dem Mord sexuelle
Momente zugrunde lagen. Gewöhnlich finden sich dabei Verstüm¬
melungen des weiblichen Körpers, wie Abschneiden der Brüste,
Schnitte in den Leib, Wühlen in den Eingeweiden, Herausnahme der
Genitalien. Manchmal hat erst nach der Ermordung ein Geschlechts¬
akt mit dem noch warmen Körper stattgefunden, gelegentlich in von
dem Täter gesetzte Einschnitte hinein, besonders wenn es sich um
Kinder mit kleinen Genitalien handelt Meist sind die Opfer der
Lustmörder weibliche Personen, jedoch werden auch Lustmorde an
Knaben vollzogen. Einen solchen Fall veröffentlicht Krticzka Frei¬
herr v. Jaden (51); es handelt sich um einen 21jährigen Ungar, der
einen 3 */j jährigen Knaben erst päderastierte und dann ermordete.
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Nach dem Obergutachten der Wiener Fakultät handelte es sich bei
dem für zurechnungsfähig erklärten Täter nm ein Surrogat normalen
Geschlechtsverkehrs, hervorgerufen durch Reizung infolge von Alkohol¬
genuß nnd durch Mangel an sexueller Befriedigung, also nm temporäre
Perversität. Mehrere gleichartige Fälle von Mord an Prostituierten
nach dem Koitus finden wir bei Kölle (41) und bei v. Krafft-
Ebing (47), zitiert nach Feuerbach nnd Lombroso. Jeder der Mörder
gab an, daß ihm nach dem Geschlechtsverkehr die Lnst gekommen
sei, das Weib zu ermorden. Auf gleiche Entstehungsnrsache sind
in den Großstädten jedenfalls manche Ermordungen Prostituierter
zurückzuführen.
Mit reiner Mordlust haben wir es wohl auch bei den Bauchauf-
schlitzern zu tun, wie Jack, the ripper, Vachers, der Aufschlitzer und
ähnlichen berüchtigten Menschen. Zur Mordlust gesellen sich sogar
noch Gelüste nach dem Fleisch oder Blut des Opfers. Hierher ge¬
hören die Fälle Leger und Tirsch v. Krafft-Ebings. Beide Male war
ein stuprum vorhergegangen, also Wollust und Mordlust vergesell¬
schaftet. In manchen Fällen fehlt aber der Trieb zum Koitus voll¬
ständig, der Mord als solcher ruft Erektion und Ejakulation hervor.
Ein typisches Beispiel für diese Triebverkehrung ist der vielerwähnte
Italiener Verzeni. Nach seinem eigenen Geständnis empfand Verzeni
beim Erwürgen seiner weiblichen Opfer höchste Wollust und außer¬
dem hatte er eine unbezwingbare Begierde, seinen Opfern das Blut
auszusaugen. Der weibliche Körper als solcher reizte ihn gar nicht.
Normale geschlechtliche Triebe scheinen diesem Scheusal fremd ge¬
wesen zu sein. Ähnliche Beispiele berichtet Schmidtmann (8), wo
der Mörder auch nach Fleisch und Blut der Ermordeten lüstern war.
Außer dem Lustmord kommen sadistische Taten vor, wo es sich
nur um Mißhandlungen von Weibern handelt. Solche Fälle finden
wir bei Tarnowsky (101), v. Krafft-Ebing (47), Eulenburg
(14). Sie haben gemeinsam die Zufügung von Schmerz durch Stich
mit Messern oder Nadeln oder durch Schläge vor, während oder
nach dem Koitus. Als sadistische Attentate sind auch die Taten der
sogen. Messer- oder Mädchenstecher anzusehen. Die Messerstecher
verwunden weibliche Personen in den Unterleib oder in andere
Körpergegenden mit Messer oder Stilet. Ein Zusammenhang mit dem
Geschlechtstriebe ist aus der Tat selbst nicht immer ohne weiteres
ersichtlich. Bloch (6) und v. Krafft-Ebing bringen Beispiele typi¬
scher Mädchenstecher. Sie ereigneten sich in Ludwigshafen, Kiel,
Augsburg. Verfasser hat 190 t als Student in der chirurgischen Klinik
in Kiel selbst einige der gestochenen Mädchen gesehen. Waren auch
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die Verwundungen nicht gefährlich, so war doch in Kiel die Auf¬
regung unter der Bevölkerung ganz gewaltig.
Zu den sadistischen Akten ist ferner der Besudelungstrieb zu
rechnen. Hier empfindet der Täter geschlechtliche Befriedigung darin,
daß er Frauenspersonen die Kleider mit einer Säure oder einer anderen
ätzenden Flüssigkeit bespritzt und beschmutzt und dadurch die Kleider
verdirbt Tarnowsky (101), Bloch (6), Moll (60), v. Krafft-
Ebing (47) bringen für diesen perversen Trieb Beispiele herbei. Aus
den Krankengeschichten erhellt deutlich die Verbindung dieser Taten
mit dem geschlechtlichen Fühlen.
Wie Ho che (33) meint, ist auch die Leichenschändung als modi¬
fizierter Sadismus anzusehen. Die Leichenschänder üben entweder
nur den Koitus an der Leiche aus, oder zerstückeln diese noch außer¬
dem. Bekannt ist als Beispiel von Nekrosadismus der Sergeant Ber-
trand; weitere Fälle von Nekrophilie berichten v. Krafft-Ebing und
Groß (23).
Von gerichtsärztlichem Interesse wichtig sind außerdem noch
sadistische Akte an Tieren. Hier kann einmal Tierquälerei als solche
in ihren verschiedenen Modifikationen in Betracht kommen als auch
Sadismus am Tiere zur Anreizung der Potenz. Auch hierfür bringt
die „Psychopathia sexualis“ lehrreiche Beispiele. Wir ersehen daraus,
daß es bei einigen Männern, um potent zu werden, erforderlich ist,
erst Mißhandlung von Tieren mit anzusehen oder selbst vorzunehmen.
Über den sogen, „ideellen Sadismus“ gehen wir hinweg, da er nicht
direkt forensisches Interesse hat. Wichtiger ist dagegen der „Erzieher-
Sadismus“. Leider finden wir diesen gar nicht so selten. Ab und
zn bringen die Tageszeitungen Notizen über Mißhandlungen von
Kindern durch Lehrer und Erzieher. Es handelt sich hier nicht um
gelegentlich überschrittenes Züchtigungsrecht, sondern um systema¬
tische Marterung der Pflegebefohlenen aus Lust an der Grausamkeit
Um Erziehersadismus handelte es sich jedenfalls bei dem 1903 ver¬
urteilten Dippold. Näcke (72) äußert sich ausführlich über die
Frage, ob Dippold Sadist war und kommt zu dem Ergebnis, daß bei
ihm Sadismus vorlag. Dafür spricht nach Näcke die Raffiniertheit
der Grausamkeiten und ihre Verschiedenartigkeit. Näcke hält Dip¬
pold trotz seines Verkehrs mit Prostituierten für einen homosexuellen
Sadisten.
Bloch (6) rechnet zum Sadismus auch noch Brandstiftung aus
sexuellen Motiven, ferner sexuelle Kleptomanie, den sogen. „Tropen¬
koller“, die Sucht des Publikums beim Zuscbauen bei gefährlichen
Situationen, z. B. bei Automobilrennen, die amerikanische Lynchjustiz
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u. dergl. Mit der sexuellen Kleptomanie werden wir uns weiter unten
befassen. Ob der „Tropenkoller“ mit hierher zu rechnen ist, möchte
ich bezweifeln. Wir haben es doch dabei mit dem schädigenden
Einfluß des Tropenklimas auf die Psyche des Betreffenden zu tun
und müssen den „Tropenkoller“ als die Äußerungen einer allgemein
psychischen Krankheit ansehen. Sexuelle Motive bei Brandstiftung
dürften, wenn nicht noch andere Zeichen geistiger Erkrankung vor¬
liegen, den Täter nicht straffrei erscheinen lassen. Die anderen er¬
wähnten Züge sind forensisch unwichtig.
Nächst der später zu besprechenden konträren Sexualempfindung
hat der Sadismus von allen perversen Geschlechtstrieben die meiste
forensische Bedeutim^r^ljp' j^n^r^jht zahlreiche Paragraphen des
Strafgesetzbuches/flftft bei der ABu njgihqg sadistischer Verbrechen in
Frage kommen./x^fandelt es sich um^Xlirlosmackung und Notzucht
an Weibern, so tritt iAK^i^mu Juchthaus wird bestraft, wer
durch Gewalt o«r dur ch [) r pLmng- mit Gegenwärtiger Gefahr für Leib
oder Leben eine wraupngDerson z^rDjraung des außerehelichen Bei¬
schlafs nötigt, oder wN^jßJlJa^msperson zum außerehelichen Bei¬
schlafe mißbraucht, nachdem er sie in einen willenlosen oder bewußt¬
losen Zustand versetzt hat. Sind mildernde Umstände vorhanden, so
tritt Gefängnisstrafe nicht unter einem Jahre ein.“ Unter Notzucht
ist also der mit Gewalt erzwungene außereheliche Beischlaf zu ver¬
stehen. Wie wir sahen, kann der Beischlaf — im obenerwähnten
Falle war es der eheliche — mit Gewalt erzwungen werden. In
den meisten Fällen von Notzucht dürfte der Beweggrund dazu aller¬
dings nicht in Sadismus des Täters zu suchen sein. Manchmal wird
der Notzucht die Tötung des Opfers folgen, beabsichtigt oder unbeab¬
sichtigt. Ist die Tötung beabsichtigt, um den Zeugen des Verbrechens
stumm zu machen, so liegt Mord vor, aber nicht eigentlicher „Lust¬
mord“ wie wir oben sahen. Unbeabsichtigte Tötung kann z. B. da¬
durch erfolgen, daß der Täter seinem Opfer die Kehle zudrückt, um
es am Schreien zu verhindern, und es dadurch erwürgt. Ferner kann
bei Mißverhältnis von männlichen und weiblichen Genitalien, wenn
es sich um kleine Mädchen oder alte Frauen handelt, durch Einrisse
in den Genitalien gelegentlich Verblutungstod eintreten. Um eigent¬
lichen „Lustmord“ handelt es sich nur, wenn dem Mord sexuelle
Momente zugrunde liegen. Hier würde § 211 in Kraft treten: „Wer
vorsätzlich einen Menschen tötet, wird, wenn er die Tötung mit Über¬
legung ausgeführt hat, wegen Mordes mit dem Tode bestraft“. In
diesem Paragraphen wird verlangt, daß die Tat „vorsätzlich“ und
„mit Überlegung“ ausgeführt wurde. Man wird oft bezweifeln müssen,
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daß eine so grauenhafte Tat wie ein Lnstmord mit Überlegung voll¬
bracht wird. Wurde die Tötung nicht mit Überlegung ausgeführt, so
hat § 212 Anwendung zu finden „Wer vorsätzlich einen Menschen
tötet, wird, wenn er die Tötung nicht mit Überlegung ausgeführt hat,
wegen Totschlags mit Zuchthaus nicht unter fünf Jahren bestraft".
Lustmord wird wahrscheinlich, wenn an der Leiche Verletzungen
sind, die ein Koitus nicht herbeiführen kann, wie Öffnung der Leibes¬
höhlen, Herausnahme der Genitalien und anderer innerer Organe, Ab-
schneiden der Brüste usw. In allen derartigen Fällen dürfte wohl
der Gerichtshof die Untersuchung des Geisteszustandes des Täters ver¬
anlassen, oder es wird dies der Verteidiger beantragen. Wir wollen
später auf diese Fragen eingehen. Jedem Menschen wird der Ver¬
dacht auf Unzurechnungsfähigkeit des Täters aufsteigen bei den
Fällen von Leichenschändung. Jedermann hat einen instinktiven
Abscheu vor Leichen, so daß es niemand' begreifen wird, daß sich
ein Mensch mit Liebkosung von laichen abgibt und vor allem an
diesen den Koitus vollzieht. Wohl in den meisten Fällen dürfte eine
geistige Minderwertigkeit oder Unzurechnungsfähigkeit der mit solch
perversen Trieben behafteten Menschen vorhanden sein. Für Be¬
strafung von Leichenschändung bestehen § 168 und § 367 St.G.B.
Nach § 168 wird „wer unbefugt eine Leiche aus dem Gewahrsam
der dazu berechtigten Person wegnimmt, ingleichen wer unbefugt ein
Grab zerstört oder schädigt, mit Gefängnis bis zu zwei Jahren be¬
straft“. Nach § 367 wird bestraft mit Geldstrafe bis zu 150 Mark
oder mit Haft „wer ohne Vorwissen der Behörde einen Leichnam
beerdigt oder beiseite schafft, oder wer unbefugt einen Teil der Leiche
aus dem Gewahrsam der dazu berechtigten Personen wegnimmt“. In
dem obenerwähnten Fall von Groß (23) war der Täter in der Nacht
in das Haus eingestiegen, hatte die im Totenbett liegende Frau ge¬
schlechtlich zu brauchen versucht und da angeblich wegen Toten¬
starre sein Versuch nicht recht geglückt war, hatte er sie „aus Wut“
verstümmelt.... Die Brüste hatte er mit sich genommen. Der Täter
wurde wegen widernatürlicher Unzucht und Wegnahme von Leichen¬
teilen und wegen Hausfriedensbruch zu einem Jahr Gefängnis und sechs
Monaten Haft verurteilt
Handelt es sich bei den sadistischen Vergehen um Mißhandlung,
Messerstecherei, Besudelungstrieb und Tierquälerei, so kommen in
Betracht die §§ 223, 223 a, 303, 360 Absatz 13. § 223 bestraft die
vorsätzliche körperliche Mißhandlung oder Gesundheitsbeschädigung
mit Gefängnis bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bis zu 1000 Mark.
§ 223 a würde in Frage kommen bei Messerstechereien, da durch diesen
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Paragraphen Körperverletzung mit einer Waffe, insbesondere mit einem
Messer bestraft wird und zwar mit Gefängnis nicht unter zwei Monaten.
Was in § 223a das Gesetz unter „hinterlistigem Überfall“ versteht:
„unvermuteter Angriff mit dem Willen des Angreifers, damit die Ab¬
wehr abzuschneiden“, dürfte beim sadistischen Verbrechen wohl kaum
jemals vorliegen. Und Komplizen hat der sadistische Verbrecher ebenso¬
wenig. Auch der Grziehersadismns fällt nnter § 223. Wohl steht ge¬
wöhnlich dem Lehrer oder Erzieher ein Züchtignngsrecht zu. jeden¬
falls ist es aber in dem Falle Dippold ganz bedeutend überschritten
worden. Der mit dem Besndelungstrieb behaftete Mensch wird sich
vor Gericht wegen Vergehen gegen § 303 zu verantworten haben. Er
hat vorsätzlich und rechtswidrig eine fremde Sache beschädigt. Wegen
Vergehen gegen den gleichen Paragraphen hat sich zu verantworten,
wer fremde Tiere mißhandelt und dadurch beschädigt. Es wird von
dem Eigentümer abhängen, ob er den Täter deshalb bestraft wissen
will, denn „die Verfolgung tritt nur auf Antrag ein“. Mit Geldstrafe
bis zu 150 Mark oder mit Haft bestraft nach § 360 Absatz 13 das
Strafgesetzbuch den, „wer öffentlich oder in Ärgernis erregender Weise
Tiere boshaft quält oder roh mißhandelt“.
Zivilrechtlich hat der Sadismus eine geringere Bedeutung. Sadi¬
stische Mißhandlungen der Frau durch den Ehemann können die Frau
veranlassen, gegen ihren Mann auf Scheidung zu klagen. Nach § 1568
B.G.B. berechtigt schwere Verletzung der ehelichen Pflichten zur
Scheidung. Als schwere Verletzung der Pflichten gilt auch grobe
Mißhandlung. Der Gerichtsarzt wird in solchen Fällen einmal sein
Gutachten über das Geschlechtsleben des Ehemannes vor und wäh¬
rend der Ehe abzugeben haben. Dann wird auch die vita sexualis
der Ehefrau darauf zu untersuchen sein, ob bei ihr vielleicht besondere
Frigidität Vorgelegen hat, die den Mann zu seinen Taten gereizt haben
könnte. Schließlich wird der Gerichtsarzt die erlittenen Mißhandlungen
der Frau auf ihre Schwere zu prüfen haben. In den meisten Fällen
von Mißhandlungen von Ehefrauen dürfte der Alkohol und seltener
sadistische Beweggründe eine Rolle spielen.
Masochismus.
Eine sehr geringe forensische Bedeutung hat der Masochismus.
Wie wir sahen, handelt es sich bei ihm darum, daß der damit Be¬
haftete sich danach sehnt, Schmerzen zu erleiden oder sein Ich anderen
Personen zu unterwerfen. Da also die Schmerzen und Demütigungen
selbst gewollt oder herbeigeführt sind, so wird der Masochist nicht
gegen den Täter Strafantrag stellen, ln manchen Fällen liegt aber
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Über die gerichtsärztliche Beurteilung perverser Geschlechtstriebe. 53
dem Masochisten gar nichts daran, die Schmerzen und Unbilden in
Wirklichkeit zu erleiden. Er gefällt sich nur darin, sich in seiner
Phantasie in derartige Situationen zu versetzen. Führt er in Wirk¬
lichkeit einmal eine solche Szene herbei, so läßt der empfundene
Schmerz ihn bald wieder von seinem Beginnen abstehen und er treibt
von nun an auch fernerhin nur noch seinen „ideellen Masochismus“.
Wir können den Masochismus als eine krankhafte Ausartung ein¬
zelner Züge des weiblichen psychischen Geschlechtscharakters an-
sehen. Das echte Weib will dienen und vom Manne beherrscht sein.
Beim Masochismus hat der Mann diesen Trieb. Auch hier kommt
es zu den scheußlichsten geschlechtlichen Akten. Vielfach läßt sich
der Masochist nur mißhandeln, um potent zu werden. Schläge aufs
Gesäß wirken durch die Spinalnerven erektionserregend. Anderseits
hat sich ein solcher Mensch aber durch seine perverse Phantasie so.
oft in masochistische Ideen und Szenen hineingelebt, daß schon die
Vorstellung derartiger Situationen Erektion und Ejakulatiön herbei¬
führt und beim Koitus Impotenz besteht Der Eine will von schönen
Weibern gepeitscht werden, der Andere will Page seiner „Herrin“
spielen, der Dritte dient der „Herrin“ als Reittier, der Vierte läßt
sich mit Stricken binden, eventuell mit wirklichen Marterwerkzeugen
foltern. Ein Fünfter leckt Weibern die Füße ab oder verlangt mictio
oder defaecatio mulieris in seinen Mund und was die Phantasie der¬
artig perverser Individuen an Obszönitäten noch mehr ersinnen mag.
Ist auch die erlittene Mißhandlung selbst gewollt, so wird doch,
wenn sie zur Kenntnis des Staatsanwaltes kommt, nach § 223 vor¬
gegangen werden; denn der früher bestehende Grundsatz „volenti
non fit injuria“ gilt heute nicht mehr. Derartige Sachen werden
aber überhaupt sehr selten offenkundig werden. Der Gerichts- oder
Polizeiarzt dürfte vielleicht Gelegenheit haben, masochistisches Treiben
gelegentlich in Bordellen festzustellen. Dort sind die Perversitäten
des Geschlechtstriebes wohl bekannt und man ist aus Geschäftsrück-
sicbten auf sie eingerichtet. So berichtet Bloch (6) von einer von
Staatsanwalt Dr. Ertel in Hamburg beschriebenen richtigen Folter¬
kammer bei einer Hamburger Prostituierten. Andere Frauen bieten
sich unter dem Decknamen „Masseuse“, „strenge Erzieherin“ oder
„Gouvernante“ in den Zeitungen an. „Masseuse“ hat wohl mehrere
Bedeutungen, da sich unter diesem Titel auch gewerbsmäßige Ab¬
treiberinnen verbergen. Auf jeden Fall wird es für den Gerichtsarzt
von Wert sein, solche Zustände zu kennen und mit offenen Augen
zu betrachten, da sie ihm vor Gericht gelegentlich von Wichtigkeit
sein können. Von großem kriminalpsychologischen Interesse sind
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die masochistischen Ausartungen, die man als „geschlechtliche Hörig¬
keit“ bezeichnet. Es sind das solche Fälle, in denen eine Person
der anderen so untertan ist, daß sie überhaupt keinen eigenen Willen
mehr hat oder ihn nicht geltend macht, wenn man sie zu Taten auf¬
fordert, die dem Strafgesetz widersprechen, v. Krafft-Ebing berichtet
über zwei Morde, deren Beweggrund geschlechtliche Hörigkeit war.
Soweit man aus Zeitungsnachrichten Schlüsse ziehen darf, scheint es
sich auch bei der Allensteiner Ermordung des Majors v. Schönebeck
um geschlechtliche Hörigkeit des Hauptmanns v. Göben gehandelt zu
haben. Die angekündigte Veröffentlichung von v. Schrenck-Notzing
über dieses Familiendrama wird voraussichtlich Klarheit bringen. Ein
interessantes Gutachten über den Geisteszustand eines jungen Beamten
veröffentlicht v. Schrenck-Notzin'g (89). Es handelte sich dabei
um einen Beamten, der sich von seinen Untergebenen duzen ließ, ihre
alten Uniformen anzog und sich andere Sachen zuschulden kommen
ließ, die äich mit seiner Eigenschaft als Vorgesetzter nicht vertrugen,
v. Schrenck-Notzings Gutachten lautete auf „larvierte passive Algo-
lagnie“. Geeignete Behandlung führte Heilung des masochistischen
Zustandes herbei.
Fetischismus.
Wir sahen, daß bei Prostituierten, besonders in den Großstädten,
eine ziemlich genaue Kenntnis von perversen Richtungen des Ge¬
schlechtstriebes herrscht. Dieses Wissen machen sich manche Men¬
schen bei ihren Diebstählen zunutze, indem sie geschlechtliche Beweg¬
gründe für ihre Tat ins Feld führen. Mit Diebstahl haben wir es
gelegentlich zu tun bei dem „Fetischismus“. Unter „Fetischismus“
verstehen wir die Verkehrung des Geschlechtstriebes, bei der nicht
das Weib als solches anziehend auf den Mann wirkt, sondern nur
Teile des Körpers oder sogar nur Kleidungsstücke oder Teile der
Kleidungsstücke oder nur gewisse Kleiderstoffe. Der anziehende Teil
ist für den Mann der Abgott, sein Fetisch. Der Fetischist betrachtet
als Ziel seiner Befriedigung nicht den Koitus, sondern irgend eine
ihm besonders angenehme Manipulation mit seinem Fetisch, v. Krafft-
Ebing sagt „das Abnorme liegt hier nur darin, daß ein Teileindruck
vom Gesamtbilde der Person des anderen Geschlechts alles sexuelle
Interesse auf sich konzentriert, so daß daneben alle Eindrücke ver¬
blassen und mehr oder minder gleichgültig werden“. Wir können
sagen, daß eine gewisse Art von Fetischismus noch als physiologisch
zu betrachten ist. So kann z. B. Schwärmerei für die Augen, die
Hand, den zierlichen Fuß der Geliebten bestehen. Und das ist als
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normal zn betrachten; denn die Hauptsache ist doch hier die geliebte
Person selbst, und daneben wird ein Körperteil von ihr noch be¬
sonders angeschwärmt. Beim pathologischen Fetischismus kann aber
die Trägerin selbst ganz zurücktreten, nur ein Teil von ihr wird ab¬
göttisch geliebt. Wir finden in der Literatur bei v. Krafft-Ebing
(47), Bloch (6), Moll (60), Schmidtmann (8) Beispiele von Teil¬
anziehung durch Augen, Nase, Mund, Ohren, Hand, Fuß, Haar,
dann durch Teile der weiblichen Kleidung als Schuh, Absatz, Hand¬
schuh, Unterrock, besonders Kostüme, weiße Leibwäsche, Taschen¬
tuch, Strumpf. Ja selbst körperliche Fehler, wie schielende Augen,
krumme Nasen werden zum Fetisch. Verfasser kennt selbst einen
Mann, der sich über braune Damenstrümpfe ganz wahnsinnig auf¬
regen konnte, so daß er beim Anblick eines Weibes mit solchen
Strümpfen sofort heftige Erektionen bekam und der Betreffenden
lange nachlief. Der Trieb ging nicht so weit, daß er zur Ursache
von unerlaubten Handlungen wurde.
Der pathologische Fetischismus kann durch die Verkehrung des
Geschlechtstriebes zur psychischen Impotenz führen. Der Gegenstand
des Fetischismus steht gewöhnlich in keiner unmittelbaren Beziehung
zum normalen Geschlechtsakte, dadurch verliert der Fetischist nach
und nach den Beiz für den Koitus. Manchmal kann auch der Ge¬
schlechtsverkehr nur unter gewissen Bedingungen zustande kommen,
z. B. wenn sich der Fetischist im Geiste seinen Fetisch vorstellt oder
wenn das Weib in der ihm zusagenden Weise bekleidet ist. So
konnte der von Moll (60) begutachtete Mann nur mit Weibern
koitieren, die weiße Wäsche trugen; v. Krafft-Ebing berichtet über
Patienten, die, um potent zu sein, ein Taschentuch, einen Damen¬
stiefel oder einen anderen Fetisch bei sich haben mußten. Diese
Art des Fetischismus könnte also vielleicht Gegenstand einer Ehe¬
scheidungsklage werden, über die wir später noch ausführlicher
sprechen werden. Forensich wichtiger sind die Äußerungen des
Fetischismus, bei denen der Trieb so mächtig ist, daß er zu Dieb¬
stahl oder Raub führt. Bei diesen Diebstählen handelt es sich meist
um Stehlen von Frauenwäsche, wie Taschentücher, Handschuhe,
Frauenschuhe, Schürzen, Beinkleider, Sammt oder Seidenstoffe, Pelz¬
werk. Es sind Fälle beschrieben, wo Männer hunderte von Taschen¬
tüchern gestohlen haben. Nachdem sie damit ihre Manipulationen
betrieben hatten, wie Küssen oder Onanie, wurden die Objekte sorg¬
fältig verpackt und weggelegt Die Täter gelangten zur Anzeige,
wenn sie die Taschentücher aus der Tasche zogen und damit viel¬
leicht gleichzeitig die Geldbörse. Handelte es sich um Leibwäsche,
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so vermißten die Frauen das Wäschestück nnd suchten nach dem
Diebe. Es liegt in diesen Fällen ein Vergehen gegen § 242 vor;
denn der Täter hat die Absicht, die fremde bewegliche Sache sich
widerrechtlich anzueignen. Geschieht die Wegnahme mit Gewalt oder
unter Anwendung von Drohungen, so liegt nach § 249 Raub vor.
Aber auch die schon beim Sadismus besprochenen Paragraphen der
Körperverletzung und Sachbeschädigung können bei fetischistischen
Verbrechen in Frage kommen. Nämlich bei Zopfabschneidern, die
Haarfetischisten sind. Nach mehreren Gerichtsentscheidungen ist Zopf-
abschneiden als Körperverletzung zu bestrafen. Sachbeschädigung
liegt vor bei Stoffetischisten, die nicht nur die Neigung haben, ihre
Lieblingsstoffe zu streicheln, zu küssen, damit zu onanieren, sondern
auch oft im Gegenteil die Sucht haben, die Stoffe zu zerschneiden
oder zu besudeln. Hier würde also eine Verbindung sadistischer und
fetischistischer Triebe vorliegen, und das ist keine Seltenheit. Wir
finden bei manchen Menschen Verbindung von Sadismus mit Maso¬
chismus und anderseits eine Verbindung dieser beiden Anomalien mit
dem Fetischismus, v. Krafft-Ebing ist der Ansicht, daß der Schuh¬
fetischismus nur eine Abart des Masochismus ist. Wie er meint,
kommt diese besondere Verkehrung dadurch zustande, daß das In¬
dividuum den Wunsch hat, mit dem Fuß oder Schuh getreten zu
werden. Durch weitere Gedankenreihen entsteht schließlich eine Vor¬
liebe für den Schuh. Hoche erwähnt noch eine Abart des Fetischis¬
mus: „dem Fetischismus nahestehend, ohne doch dazu zu gehören,
sind die jedenfalls nicht häufigen Fälle, in denen bestimmte Hand¬
lungen, z. B. Entwendungen, als solche von Wollustgefühl mit oder
ohne Angst begleitet werden.
Fetischismus kann als Beweggrund zur Tat vorgeschützt werden
bei manchen Diebstählen, um dadurch Straffreiheit oder wenigstens ein
geringeres Strafmaß herbeizuführen. Außerdem in den seltenen Fällen,
wo es sich um Zopfabschneiden aus reiner Gewinnsucht handelt
Fetischistische Motive für sein eigenartiges Handeln führte ein cand.
theol. an, der von Kurelia (52), Alzheimer (1) und noch manchen
anderen Ärzten beobachtet und begutachtet wurde. Dieser Kandidat
hatte sich eine Reihe Unterschlagungen, Schwindeleien usw. zu
Schulden kommen lassen, hatte sein Geld in schlechter Gesellschaft
verjubelt, war desertiert u. a. mehr. Wenn er in Geldverlegenheit
war, besuchte er Ärzte, erzählte ihnen, daß er eine unbezwingbare
Leidenschaft für Frauenschuhe hätte, daß er deshalb einer Person mit
solchem Fußzeug nachgereist und nun von allen Baarmitteln entblößt
wäre. Kurella hat nie einen fetischistischen Anfall bei dem Patienten
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Über die gerichteärztliche Beurteilung perverser Geschlechtstriebe. 57
bemerkt, obgleich dieser nach Kurellas Ansicht genügend Gelegenheit
gehabt hat, schönes Schnhzeug zu sehen. Patient hat normal koitiert
und von seinem perversen Triebe angeblich nur gesprochen, wenn
er sich Vorteil davon versprach. Kurelia hält deshalb den Patienten
für einen „Erzschwindler und Simulanten“. Anders beurteilt Alzheimer
denselben Patienten. Alzheimer hält Perversion des Geschlechtstriebes
für vorliegend und zwar führt er an, daß Patient erblich belastet ist,
anomale Schädelbildung zeigt und unter seiner Beobachtung beim
Anblick absichtlich hingestellter Frauenschuhe länger dauernde Puls¬
erhöhung und innere Unruhe dargeboten hat. Diese beiden so ab¬
weichenden Gutachten beweisen, wie schwer es in manchen Fällen
ist, ein richtiges Urteil abzugeben.
Wir kommen damit zur gerichtlich-psychiatrischen Betrachtung
dieser drei Triebverkehrungen. Da sie mancherlei gemeinsame Züge
nnd außerdem Übergänge darbieten, wollen wir sie hier gemeinsam
besprechen. Einig sind sich die Autoren darüber, daß wir es hier
mit krankhaften Perversionen zu tun haben. Die damit behafteten
Individuen sind meist von Eltern oder Großeltern her erblich belastet
und bieten auch sonst Anzeichen von Entartung. Es handelt sich
vielfach um neuro- oder psychopathische Personen und auch sonst
finden wir körperliche Entartungszeichen. Über die Erklärung der
Entstehung dieser Anomalien gehen die Meinungen auseinander,
v. Krafft-Ebing erklärt sowohl Sadismus wie Masochismus als ent¬
standen auf dem Boden sexueller Hyperästhesie. Mit dieser sexuellen
Hyperästhesie werden die Assoziationen der Lust am Schmerzzufügen
und Lust am zugefügten Schmerze verbunden zu pathologischen
Assoziationen. „Sadismus und Masochismus, sagt er, sind Resultate
in dem Sinne, in dem alle komplizierten Erscheinungen des Seelen¬
lebens Assoziationen sind." v. Schrenck-Notzing führt alle Perversionen
des Geschlechtstriebes auf eine Gelegenheitsursache zurück. Mit oder
ohne angebornene Anlage kann sich auf Grund eines „okkasionellen
Momentes“—bei Sadismus und Masochismus erteilter oder empfangener
Prügel oder erlittener Verwundungen — eine Perversion entwickeln.
In einem Teile der Fälle nimmt er angeborene Anlage an, im anderen
Teile Erwerbung. Wir kommen später bei der konträren Sexual¬
empfindung auf diese Streitfragen zurück. Auch v. Krafft-Ebing muß
zugeben, daß zwischen angeborenem und erworbenem Sadismus kein
strenger Unterschied durchführbar ist. Den Fetischismus erklären
beide Autoren für erworben, v. Krafft-Ebing sagt „Man kann sich
der Meinung Binets anschließen, daß im Leben eines jeden Fetischisten
ein Ereignis anzunehmen ist, welches die Betonung gerade dieses
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V. Heinrich Graf
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einzigen Eindrucks mit Wollustgefühlen determiniert hat“. Alle 3 Ano¬
malien sind also krankhaft und das ist für die gerichtsärztliche Be¬
urteilung von größter Wichtigkeit. Nicht gesagt ist aber damit, daß
durch die Krankhaftigkeit ohne weiteres Straffreiheit bedingt wird.
Über diesen Punkt wollen wir weiter unten sprechen.
Exhibitionismus.
Eine eigenartige Verkehrung des Geschlechtstriebes stellt der
Exhibitionismus dar. Bei ihm wird die Befriedigung der Geschlechts-
lust in dem Entblößen und der absichtlichen Zurschaustellung der
Genitialien gefunden. Die meisten Exhibitionisten sind Männer. Beim
weiblichen Geschlecht findet sich diese Anomalie seltener. Sehen wir
uns einmal die Entstehungsart dieser Triebverkehrung näher ad. ln
vielen Fällen fiel der erste exhibitionistiscbe Akt mit zufälligem
Urinieren zusammen. Entweder sahen weibliche Personen zufällig
das Glied des Urinierenden oder dieser drehte sich absichtlich, viel¬
leicht im Zustande von Berauschtbeit um. Das Erschrecken oder auch
das Belachen des Vorfalles führte bei dem Betreffenden zu Lust¬
empfindung, und in Zuständen geschlechtlicher Erregung suchte er
wiederholt diesen Vorgang herbeizuführen, häufig ausgehend von dem
Gedanken, daß der Anblick des männlichen Gliedes bei dem weib¬
lichen Gegenüber Gefallen erregen müsse. In anderen Fällen wiederum
wirkte das Erschrecken der Frauenspersonen als geschlechtlicher Beiz.
Der Exhibitionismus als solcher gewährt vielen Menschen Geschlechts¬
befriedigung, von anderen Männern wird diese erst noch durch Onanie
herbeigeführt Außer in der beschriebenen Weise kommt Exhibitionis¬
mus nach Hoche (33) noch vor bei jugendlichen unerfahrenen Per¬
sonen, die glauben „anbandeln“ zu können und bei alten Onanisten.
Bei diesen stellt das Erschrecken der weiblichen Zeugen oder die
Spekulation auf das Auftreten sexueller Empfindungen beim vis-ä-vis
auch ohne Absicht der Verführung einen neuen Reiz dar. Ferner
kommt Exhibitionismus vor bei Epileptikern oder an Psychosen mit
Herabsetzung der Intelligenz leidenden Personen mit angeborenem
oder erworbenem Schwachsinn; außerdem infolge psychischer Schwäche
bei Imbezillität, bei Dementia paralytica, Dementia senilis, bei Alko¬
holismus. Seiffer (92) fand unter 86 Fällen von Exhibitionismus
18 Epileptiker, 17 Demente, 13 „Degenerierte“, 8 Neurastheniker,
8 Alkoholiker, 11 „gewohnheitsmäßige“ Exhibitionisten. Näcke (76)
ist der Ansicht, daß die Exhibitionisten wohl ausnahmslos Minder¬
wertige sind. Die Ansicht, daß Exhibitionismus meist bei Hysterikern,
Dementen, Epileptikern, Paralytikern und Paranoikern vorkommt, teilen
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Über die gerichtsärztliche Beurteilung perverser Geschlechtstriebe. 59
auch andere Autoren wie Schmidtmann (8), Cramer (12), Schaefer
(86), Jolly (37), Jahrmärker (36), Bloch (6),Hoche (34), v.Krafft-
Ebing (47), v. Schrenck-Notzing (89, 90), Seydel (94),
Weygand (105) und andere. Unter den 86 Exhibitionisten Seiffers
befanden sich 11 weibliche. Sie entblößen bei ihren exhibitionistischen
Handlungen gewöhnlich die Brüste. Bloch möchte nach Burgls
Vorschlag „Exhibition und Exhibitionismus“ unterschieden wissen und
zwar soll erstere Bezeichnung nur für eine einmalige, letztere für
die mehrmalige oder gewohnheitsmäßige Ausübung gelten. Bloch
meint, daß Exhibition auch bei Geistesgesunden vorkommt, Exhibi¬
tionismus „abgesehen von einzelnen seltenen Ausnahmen bei nicht
geisteskranken Wüstlingen“ nur bei geisteskranken oder geistig defekten
Individuen. Nach Schaefer (86) gibt es eine zweckbewußte Ex
hibition, die nicht eigentlich krankhaft ist, „die vielmehr gerade ihre
sozusagen normale Erscheinung darstellt“. Sie kann sich allerdings
mit krankhaften Verhältnissen verbinden, z. B. mit Tabes und Alko¬
holismus. Diese wirken dann in doppelter Weise fördernd auf Ex¬
hibitionismus, einmal durch Steigerung des Reizes, dann durch Herab¬
setzung der Hemmungen. Auch Cramer (10) ist der Meinung, daß
bei völlig geistig Gesunden exhibitionistische Handlungen Vorkommen.
Bei Degenerierten kommen solche Akte vor. Sie fallen nach Hoche
„unter die Kategorie der impulsiven Handlungen mit vorausgehender
Angst und nachfolgendem Gefühl der Erleichterung.“ Nach J olly (37)
gehören die Exhibitionisten im weiteren Sinne zu den Sadisten. Ander¬
seits kann man bei ihnen aber auch von masochistischen Beweg¬
gründen im weiteren Sinne reden, nämlich manchmal wirkt direkt
die Gefahr des Entdeckt- und Angezeigtwerdens sexuell erregend. Es
ist nach Jolly sicher, daß bei den Exhibitionisten der Zwang eine
solche Stärke annehmen kann, daß er alle Schranken durchbricht und
dann die Verantwortlichkeit ausschließt. Man kann hier von einer
„Psychopathia sexualis“ sprechen, „deren Besonderheit aber nicht
darin gesucht werden darf, daß außergewöhnliche Arten der Geschlechts¬
empfindung auftreten, sondern daß diese Empfindung mit einer, aus
pathologischen Gründen unwiderstehlichen Gewalt zur Betätigung
drängt.“
Der Hergang des Aktes beim Exhibitionismus ist immer an¬
nähernd gleich. Auf Straßen, öffentlichen Plätzen, unter Laternen, in
Hausfluren, bei öffentlichen Bedürfnisanstalten usw. stellt sich der
Täter hin und unter Anschein des Urinierens entblößt er sein Glied.
Kommen nun weibliche Personen vorbei, so zeigt er diesen das ent¬
blößte Glied vor. Manchmal redet er dabei nichts, manchmal, besonders
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V. Heinrich Graf
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wenn kleine Mädchen kommen, fordert er diese zu näherer Betrach¬
tung auf. Häufig wird auch gar nicht der Vorwand des Urinierens
gebraucht, der Mann zieht bei passender Gelegenheit das entblößte
Glied aus der Hose hervor oder hat seinen Geschlechtsteil eine Zeit
lang entblößt außerhalb des Beinkleides, hat ihn aber mit dem Mantel
bedeckt, den er im geeigneten Augenblicke zurückschlägt. Attentate
auf Frauen oder Kinder sind dabei selten, oft bildet Onanie den
Schluß des exhibitiouistischen Aktes.
Als Beweggrund für ihre Taten geben manche an, daß sie von
einem inneren schrecklichen Angstgefühle gepackt würden, sodaß sie
unter starkem Herzklopfen und Schweißausbruch in eine Art von
Traumzustand gerieten, in dem sie gezwungen wären, ihre Geschlechts¬
teile zu entblößen und zu onanieren. Erst nach vollbrachter Tat hätten
sie das Gefühl der Erleichterung. Hoche spricht in solchen Fällen
von impulsiven Handlungen Degenerierter. Um solche Individuen
dürfte es sich wohl hauptsächlich handeln. Dafür sprechen einmal
die bei neurasthenisch Entarteten vorkommenden Angstzustände als
auch die daraus folgende läppische Art der Geschlechtsbefriedigung.
Diese erklärt sich auch noch durch die bei solchen Menschen infolge
von sinnloser Onanie oder von Krankheit bestehende Impotenz.
Überhaupt spielt bei Entstehung dieser Triebverkehrung Impotenz und
Onanie eine große Rolle. Der geistig Minderwertige onaniert häufig
ohne Maß und Ziel und wird dadurch impotent. Gibt sich aber
der geistig Gesunde im Übermaße diesem Laster hin, so wird er für
normale Geschlechtsreize unempfindlich und sucht durch perverse
Akte neue Reize v für seine gesunkene Potenz.
Wie Seif fers Statistik lehrt, liefern auch die Epileptiker bei dieser
Perversion einen großen Beitrag. Der exhibitionistische Akt wird
entweder im epileptischen Dämmerzustände ausgeführt, oder er ist
das Äquivalent eines solchen. Auch die anderen krankhaften Zustände,
bei denen Exhibitionismus vorkommt, wurden schon erwähnt Bei
allen diesen krankhaften Zuständen dürfte die gerichtsärztliche und
forensische Beurteilung keine großen Schwierigkeiten machen.
Es handelt sich um Vergehen gegen § 183 St.G.B., da die öffent¬
liche, schamlose Entblößung der Genitalien als unzüchtige Handlung,
durch die öffentliches Ärgernis verursacht wird, aufzufassen ist. Ist
der Täter durch Geisteskrankheit, Geistesschwäche oder durch den
epileptischen Dämmerzustand nicht im Zustande der freien Willens¬
bestimmung, so tritt nach § 51 Straffreiheit ein. Anders liegt der
Fall jedoch, wenn es sich um ein geistig gesundes Individuum handelt.
Läßt sich bei ihm nicht wirklich eine krankhafte Grundlage und ein
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Über die gerichtsärztliche Beurteilung perverser Geschlechtstriebe. 61
krankhafter Zwang nach weisen, so kann von einer Straffreiheit auf
Grund von § 51 keine Rede sein. Es hat eine sachverständige Unter¬
suchung des Geisteszustandes stattzufinden. Wir werden unten noch
im Zusammenhänge mit den anderen Gescblechtsverirrungen darüber
sprechen.
Als Abart der Exhibitionisten seien noch die sog. „Frotteurs“
erwähnt, Menschen, die ihre verhüllten oder entblößten Genitalien an
Personen des anderen Geschlechts reiben und dadurch geschlechtliche
Befriedigung erzielen. Auch bei ihnen handelt es sich meist um
krankhafte Individuen. Ihre Beurteilung ist ebenso wie die der
Exhibitionisten. Der Vollständigkeit halber seien hier auch noch
die „Voyeurs“ und „Voyeuses“ angeführt, die teils aktiv durch
sexuelle Akte anderer Personen geschlechtlich erregt werden, teils in
der passiven Rolle sich beim Geschlechtsakte von anderen betrachten
lassen. Auch bei ihnen liegen exbibitionistische Beweggründe vor,
gerichtsärztliche Bedeutung kommt ihnen wohl kaum zu.
Homosexualität.
Wir kommen nun zu dem forensisch wichtigsten perversen Ge¬
schlechtstriebe, zu der mannmännlichen Liebe oder widernatürlichen
Unzucht, zu den Vergehen gegen § 175 StGB. Für diese Art des
Geschlechtsverkehres gibt es eine ganze Reihe Bezeichnungen, wie
„Konträre Sexualempfindung“, „Homosexualität“, „Urningtum“ oder
„Uranismus“, „gleichgeschlechtliche“, „mannmännliche Liebe“, „Pä¬
derastie“. Der früher allgemein übliche Ausdruck war „Päderastie“.
Man verstand darunter jeden geschlechtlichen Verkehr zwischen
Männern, insbesondere aber seine häufigste Form, die immissio penis
in anum aut os. Infolge aufklärender Untersuchungen über die
gleichgeschlechtliche Liebe hat man die Bedeutung des Begriffes
Päderastie eingeschränkt und bezeichnet nur noch die immissio penis
tn die natürlichen Körperöffnungen des Mannes mit diesem Ausdrucke.
Eine ganze Reihe von Forschem haben sich mit dem Rätsel der
gleichgeschlechtlichen Liebe befaßt und darüber in der Literatur be¬
richtet Das ist der Anstoß gewesen dafür, daß für die Gleichberech¬
tigung der mannmännlichen Liebe eine Agitation eingesetzt hat, die
weit über das Ziel hinausschießt und sich dreist an die Öffentlichkeit
drängt Eine fast unübersehbare Literatur ist darüber zusammen¬
geschrieben worden.
Bei Durchsicht dieser Schriften findet man, daß sich auf diesem
Gebiete die Anschauungen recht geändert haben. Man hat früher die
Päderastie für ein verabscheuungswürdiges Laster gehalten, und im
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V. Heinrich Graf
Volke gilt diese Meinung jetzt noch. Wissenschaftlich läßt sich diese
Ansicht jedoch nicht mehr uneingeschränkt aufrecht erhalten, vielmehr
werden wir sehen, daß ein Teil der Gleichgeschlechtlichen zwar nicht
Kranke, wohl aber Abnormale sind. Um gerichtsärztlich diese
Anomalie gerecht und richtig zu beurteilen, wollen wir die Ansichten
der Autoren über ihre Entstehung und Begutachtung kennen lernen.
Ansichten der Antoren.
Westphal (103) gab 1868 der gleichgeschlechtlichen liebe den
Namen konträre Sexualempfindung und bezeichnete sie als „eine an¬
geborene Verkehrung der Geschlechtsempfindung mit dem Bewußtsein
der Krankhaftigkeit dieser Erscheinung“. Nach ihm entsteht sie auf
dem Boden erblicher Belastung. Man findet neuropathische Symptome
bei den damit Behafteten. Auffällig ist ein frühzeitiges Erwachen des
Geschlechtstriebes, häufig im 8. Lebensjahre, sofort mit einer Neigung
für das gleiche Geschlecht. Mit der konträren Sexualempfindung ist
oft ein neuropathischer Zustand vergesellschaftet, überhaupt ist die
Erscheinung krankhaft, jedoch sind nicht alle Individuen, die sich der
widernatürlichen Unzucht hingeben, als pathologisch anzusehen. Die
Berichte und Biographien der Homosexuellen gleichen sich auffallend.
Diese Individuen zeichnen sich durch große Lügenhaftigkeit aus, sowie
durch ihre Neigung zu weiblicher Kleidung und Schmuckgegenständen.
Die Frage, kann die konträre Sexualempfindung als ganz isoliertes
Symptom vorkommeu bei Fehlen sonstiger pathologischer Erschei¬
nungen, oder überwiegen dabei die krankhaften Erscheinungen von
seiten des Nervensystems und der Psyche, läßt Westphal zunächst
unentschieden, ebenso wie es einen pathologischen Mord und Dieb¬
stahl gibt, so nach Westphal auch eine pathologische Geschlechts¬
verirrung.
1875 und 1876 geben Gock und Servaes weitere Beiträge zur
Kenntnis von der konträren Sexualempfindung, auch Westphal be¬
richtet 1876 über einen neuen Fall. - Gock (22) meint, daß ein ge¬
wisser Grad von Schwachsinn den Ausgangspunkt dieser krankhaften
Geschlechtsverirrung bildet. Servaes (93) fand bei seinen Fällen
eine neuropathische Grundlage, gesteigerte Reflexerregbarkeit neben
angeborener psychopathischer Disposition; er hält die Erscheinung
auch für krankhaft.
Die gleiche Ansicht vertritt in seinen ersten Schriften und in der
Psychopatbia sexualis v. Krafft-Ebing. 1882 meint v. Krafft-
Ebing (50), die konträre Sexualempfindung ist eine krankhafte
Lebenserscheinung, speziell ein neuropathiscbes Belastungssymptom.
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Über die gerichtsärztliche Beurteilung perverser Geschlechtstriebe. 36
Ein isoliertes Vorkommen derselben ist fraglich. In seiner Psycho-
pathia sexualis (47) unterscheidet er eine angeborene und eine erwor¬
bene konträre Sexualempfindung.
Nach v. Krafft-Ebing kommt die angeborene oder besser die ein¬
geborene Gleichgeschlechtlichkeit vor bei sonst normal entwickelten
Männern oder Weibern. Diese zeigen gar keine Abweichungen an
den Geschlechtsteilen, nur ihre sexuellen Empfindungen sind auf das
gleiche Geschlecht gerichtet Typisch ist für diese Individuen folgendes:
1. Das Geschlechtsleben erwacht ungewöhnlich früh und stark.
Nicht selten zeigen sich außerdem noch andere abnorme sexuelle Er¬
scheinungen.
2. Die geistige Liebe dieser Personen ist häufig schwärmerisch
exaltiert. Der Geschlechtstrieb macht sich mit selbst zwingender
Stärke geltend.
3. Wir finden neben den funktionellen oft psychische Degenera¬
tionszeichen.
4. Neurosen wie Hysterie, epileptoide Zustände, Neurasthenie
finden sich, letztere meist in angeborenen Bedingungen wurzelnd und
dauernd bestehend. Sie wird durch Onanie geweckt und unterhalten,
aber ebenso durch erzwungene Abstinenz. Bei Männern kommt es auf
Grund derselben zu sexueller Neurasthenie mit reizbarer Schwäche
des Ejakulationszentrums.
5. In der Regel bestehen psychische Anomalien, glänzende oder
ganz schlechte Begabung, Schwachsinn, moralisches Irresein, Ver¬
schrobenheit Die Begabung erstreckt sich besonders auf Musik,
schöne Künste u. dergl. Bei zahlreichen Urningen kommt es zeit¬
weise oder dauernd zu Irresein.
6. Fast immer ist erbliche Belastung nachweisbar in der Aszen-
denz und Blutsverwandschaft.
Wichtig ist auch die Tatsache, daß sich der wollüstige Traum
des männlichen Homosexuellen auf Männer, der des weiblichen auf
Weiber erstreckt.
Den meisten Urningen fehlt das Bewußtsein der Krankhaftigkeit
ihrer Geschlechtsverirrung, sie fühlen sich dabei sogar ganz wohl
und verlangen, daß die gesetzlichen Schranken, die ihrer Art der
Geschlechtsbetätigung im Wege stehen, aufgehoben werden. Nur
wenige empfinden es peinlich, daß sie nicht die gleichen geschlecht¬
lichen Regungen haben, wie die anderen Menschen.
Die angeführten Gründe sieht v. Krafft-Ebing als Beweis dafür
an, daß die gleichgeschlechtliche Liebe als „ein funktionelles
Degenerationszeichen und als Teilerscheinung eines neuro-psycho-
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64
V. Heinbich Gkäi'
pathischen, meist hereditär bedingten Zustandes anzusehen ist Die
Erklärung der Entstehungsweise, die dieser Autor gibt, ist folgende:
Es entwickelt sich im Menschen ein peripherer Sexualapparat und
ein zentrales Geschlechtszentrum. Bei beiden ist die Anlage eine
bisexuelle, aus der die normal monosexuelle entsteht Den peripheren
Geschlechtsteilen entsprechend entwickelt sich auch der zentrale Ge*
schlechtsapparat Ebenso wie sich bei dem peripheren Sexualapparat
Rudimente des entgegengesetzten Geschlechtes finden, wie Reste des
Müller8cben Ganges oder des Wolffschen Körpers, Brustwarzen beim
Manne usw., so weisen auch im zentralen Apparat Reste auf die
phylogenetische Bisexualität hin. Beweise dafür sind die sogenannten
Mannweiber oder Weibmänner, die Entwicklung seelischer und körper¬
licher weiblicher Eigenschaften bei Eunuchen nach Beseitigung der
Hoden und männlicher nach Entfernung der Eierstöcke im Kindes¬
alter, ferner das Vorkommen von Zwittern.
Der konträre Geschlechtstrieb findet sich jedenfalls nur bei
organisch belasteten Individuen, daher die Störung im sexualen Zentral¬
apparat. Bei normal veranlagten Menschen vollzieht sich die normale
monosexuelle Entwicklung der peripheren und zentralen Sexualapparate.
Auf Grund der bisexuellen Reste im Menschen entsteht die Verkehrung
der Geschlechtsempfindung als krankhafte Perversion. Die konträre
Sexualempfindung ist aber nicht bei allen damit behafteten
Individuen gleichmäßig stark ausgeprägt. Ihre Ausdehnung bei dem
einzelnen ist geradezu ein Gradmesser für die Belastung dieses
Menschen. Die am wenigsten ausgebildete perverse Geschlechts¬
empfindung ist die psychische Hermaphrodisie. Neben der ausge¬
sprochenen Empfindung zum eigenen Gescblechte findet sich dabei
noch solche zu dem anderen, wenn auch meist schwächer oder nur
episodisch auftretend. Die Hauptmasse der geschlechtlich Perversen
sind die Homosexuellen oder Urninge. Ihr Geschlechtsleben ist nach
v. Krafft-Ebing die direkte Karrikatur der natürlichen Empfindungen.
Der Geschlechtstrieb des Urnings ist oft abnorm stark, seine Lieb¬
schaften sind schwärmerisch. Die Geschlechtsbefriedigung besteht in
Umarmung mit dem Geliebten, Kuß, gegenseitiger Onanie, coitus inter
feraora, selten Päderastie. Oft genügt schon die bloße Umarmung zur
Ejakulation und das erklärt sich aus der sexuellen Neurasthenie mit
reizbarer Schwäche des Erektions- und Ejakulationszentrums. Der
Koitus mit dem Weibe ist entweder ganz unmöglich, oder läßt sich
nur mit Hilfe von Phantasievorstellungen mühsam bewerkstelligen.
Er verursacht Ekel und starke körperliche Ermattung, seelische Nieder¬
geschlagenheit und Unbehagen, ln seinen sonstigen Lebensäußerungen
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Über die gerichtsärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe.
65
und Betätigungen unterscheidet sich der Homosexuelle nicht wesent¬
lich vom normalen heterosexuellen Manne.
Eine weitere Unterart der Homosexuellen sind die Effeminierten
oder weibischen Homosexuellen. Diese Individuen haben außer ihrer
perversen Geschlechtsempfindung noch eine Neigung zu weiblichen
Beschäftigungen, Handarbeiten, weiblicher Kleidung, Kunst usw. Sie
fühlen sich am wohlsten in Weiberkleidern und verkehren auch gerne
in Frauengesellschaften. Sie fühlen sich unter diesen auch gewisser¬
maßen gauz als Weib. Auch beim homosexuellen Akt fühlen sie sich
in der Rolle des Weibes. Sie lieben dabei außer den beim männ¬
lichen Homosexuellen beschriebenen Arten der Geschlechtsbetätigung
auch noch passive Päderastie oder auch immissio penis io os. Im
Bezug auf den Koitus mit dem Weibe verhalten sie sich genau so
wie die „männlichen" Homosexuellen.
Noch etwas mehr „weiblich“ sind die von v. Krafft-Ebing als
Androgynen bezeichneten Konträrsexuellen. Nicht nur Charakter und
Fühlen ist bei ihnen weiblich, sondern die Individuen nähern sich
auch in Skelettbildung, Gesichtstypus und Stimme dem weiblichen
Geschlechte. „Offenbar stellt diese selbst anthropologische Ausprägung
der cerebralen Anomalie eine besonders hohe Stufe der Entartung
dar“. Die Genitalien dieser Entarteten sind in der Regel vollkommen
differenziert Manchmal findet man einige anatomische Degenerations¬
zeichen wie Epi-Hypospadie usw.
Was hier von Männern mit Perversion des Geschlechtstriebes
gesagt ist, gilt in entsprechender Weise auch von den weiblichen
Homosexuellen. Hier unterscheidet v. Krafft - Ebing „psychische
Hermaphrodisie“, „Homosexualität“, „Viraginität“ und „Gynandrie“.
Die Weiber mit Viraginität fühlen in Gewohnheiten, Handlungen usw.
männlich, bei den Gynandriern entspricht Knochenbau, Haltung, Gang
schon mehr oder weniger dem des Mannes. Eine ganze Anzahl
unserer heutigen Emanzipierten sind weibliche Homosexuelle. Der
Koitus mit dem Manne ist den weiblichen Konträrsexualen entweder
wegen großen Ekelgefühles ganz unmöglich oder wird ohne Lust und
ungern gestattet. Untereinander gewährt diesen Weibern Kuß, Um¬
armung, gegenseitige Betastung der Genitalien mit Onanie, cunnilinguus,
in manchen Fällen auch der Gebrauch eines künstlichen männlichen
Gliedes geschlechtliche Befriedigung.
Außer der eben beschriebenen angeborenen Geschlechtsverirrung
gibt es auch noch eine erworbene Perversität, v. Krafft-Ebing
will die gezüchtete perverse Geschlechtsempfinduog allerdings nicht
recht gelten lassen. Er sagt „Niemals wird der unbelastete Mensch
Archiv für Krimmalanthropologie. 84. Bd. 5
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V. Heinrich Graf
durch Onanie, Verführung durch Personen desselben Geschlechtes
konträrsexual“. Er möchte die erworbene Gleichgeschlechtlichkeit
lieber als eine tardive bezeichnet wissen; denn immer liegt nach seiner
Meinung erbliche Belastung vor. Auf Grund einer latenten Homo¬
oder zum mindesten Bisexualität ist trotz früherer normaler Geschlecbta-
betätigung diese Verkehrung später entstanden und imponiert so als
erworbene, sollte aber richtiger tardive heißen. Er macht einen Unter*
schied zwischen perversen Akten und Perversion: „Das entscheidende
ist hier der Nachweis der perversen Empfindung gegenüber dem
eigenen Geschlechte, nicht die Konstatierung geschlechtlicher Akte an
demselben“. Perverse Akte kommen vor in Gefängnissen, Schiffen,
Kasernen, Pensionaten, Internaten, ferner bei impotent gewordenen
Masturbanten und Wollüstlingen. In den Kasernen nsw. werden die
perversen Akte nur getrieben wegen Mangel an Weibern und damit
Fehlen der normalen Geschlechtsbetätigung. Fallen die Hindernisse
dafür weg, so kehren diese Menschen zum normalen Verkehre zurück.
Wichtig für den perversen Geschlechtstrieb in allen seinen Äußerungen,
besonders auch für die konträre Sexualempfindung ist die Onanie.
Entweder wird der Knabe dazu verführt oder er beginnt sie von selbst
zu treiben. Mit erwachender Pubertät wird der Trieb zur Selbst¬
befriedigung gewöhnlich stärker und stärker und es bedarf immer
neuer und gröberer Reize, zur Erhöhung des Wollustgefühls. Damit
schwindet die Empfindung für die normalen Geschlechtsreize und die
Neigung zum anderen Geschlechte. Die vielen onanistischen Aus¬
schweifungen führen zu sexueller Neurasthenie und moralischer Ver¬
derbtheit. Es leiden darunter Ethik, Phantasie, das Gefühlsleben, alle
neuen Reize für die gesunkene Potenz, Sadismus, Masochismus, Fe¬
tischismus, Exhibitionismus, Bestialität und besonders gegenseitige
Onanie und Päderastie werden zur Befriedigung gesucht. Der normale
Beischlaf ist ein viel zu schwacher Reiz nnd löst nur mangelhaftes
Wollustgefühl aus. Infolgedessen oder auch infolge der reizbaren
Schwäche des Ejakulationszentrums erleidet der Onanist oft Fiasko
beim ersten Koitus. Findet er aber einen Verführer, so kommt es
dann zur Päderastie. Ganz ähnlich liegen die Verhältnisse beim im¬
potent gewordenen Wollüstling. Soweit gedeiht die Perversität
beim normalen unbelasteten Onanisten. Zu einer Perver s i o n mit
sexueller Erregbarkeit durch eine Person des gleichen Geschlechtes
gelangt nur das belastete Individuum. Ist es beim belasteten
Onanisten zur Perversion gekommen, so kann er wie der geborene
Urning verschiedene Stufen durcbmachen. v. Krafft-Ebing unter¬
scheidet hier
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Über die gerichtsärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe.
67
I. „einfache Verkehrung der Geschlechtsempfindung“,
II. Eviratio und beim Weibe Defeminatio,
III. Übergangsstufe zur Metamorphosis sexualis paranoica,
IV. Metamorphosis sexualis paranoica.
Die letzten beiden Stufen betreffen Menschen, die in dem Wahne
leben, zum anderen Geschlecht zu gehören.
• _ _
Wie wir sahen, hält v. Krafft-Ebing die Homosexualität für
krankhaft, anderseits will er diese und homosexuelle Akte getrennt
wissen. Er sagt „Es kann nicht genug betont werden, daß geschlecht¬
liche Akte an Personen desselben Geschlechts an und für sich durchaus
nicht konträre Sexualität verbürgen“. Für die forensische Begut¬
achtung derartiger Vergehen sind nach diesem Autor für die Diagnose
der angeborenen Perversion folgende Punkte von Wichtigkeit: Vor
allem die erbliche Belastung und das Vorkommen der gleichen Ab¬
normität bei mehreren Mitgliedern einer Familie. Da ja bei psychi¬
scher Hermaphrodisie der Vater eine Ehe geschlossen haben kann, so
ist der Fall möglich, daß auch der Sohn homosexuell veranlagt ist.
Häufig finden sich außer erblicher Belastung noch psychische und
auch körperliche Entartungszeichen. Wichtig sind auch die Auto¬
biographien der Urninge. Allerdings muß man solche Lebensbeschrei¬
bungen mit Vorsicht verwerten, da diese Leute vielfach große Lügner
sind. Sie bringen meist gleichmäßig die Angabe des frühzeitigen
Erwachens des Geschlechtstriebes mit oder ohne Anlaß an Schläge
oder ein sonstiges Ereignis und zwar mit der sofortigen Richtung
auf das gleiche Geschlecht Wichtiger als diese Angaben ist jeden¬
falls das Fehlen des Durchbruchs des normalen Geschlechtstriebes und
das Vorkommen gleichgeschlechtlicher Handlungen im Zeitalter der
Geschlechtsreife. Besonderer Wert ist zu legen auf das Traumleben
der Homosexuellen. Es ist ein Beweis dafür, welche Rolle das Ge¬
schlechtliche im Leben dieser Menschen spielt.
Bei der erworbenen konträren Sexualempfindung werden wir
finden, daß ihr Auftreten erst im späteren Leben erfolgt und auf
Einflüsse wie Masturbation und andere, die normale Geschlechts¬
betätigung störende Einflüsse zurückzuführen ist. Bei ihr besteht das
Bewußtsein des Lasterhaften und Krankhaften der Geschlechtsverkeh¬
rung. Die heterosexuelle Empfindung bleibt vorherrschend im Leben.
Die früher vertretene Ansicht von der Krankhaftigkeit der per¬
versen Geschlechtsempfindung hat v. Krafft-Ebing in seinen neuesten
Arbeiten geändert und preisgegeben. In seinen „neuen Studien auf
dem Gebiete der Homosexualität“ (46) vertritt er die Ansicht, Homo-
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Sexualität an sich ist keine Krankheit, eher Mißbildung. Sie ist
unverschuldet, verdient Mitleid und kann bei durchaus normaler
Psyche auftreten.
Näcke (77) unterscheidet bei den „lasterhaften“ Geschlechts-
handlangen zwischen Perversion, Perversität und Surrogat Unter
Surrogat versteht er eine „temporäre, einigermaßen entschuldbare Per¬
versität“. „Unter ,Perversion 4 ist eine angeborene, anomale sexuelle
Reizbarkeit, die dementsprechend abnorme Akte auslöst, zu verstehen 44 .
Perversität ist nach Näcke erworben und bleibend. Onanie kann die
Entstehung mutueller Masturbation und Perversität begünstigen, bei
der konträren Sexualempfindung fehlt sie aber öfter ganz und gar.
Überhaupt hält Näcke (72) die Nachteile der Onanie für viel zu
übertrieben. Er sagt: „Ob wirklich daraus Nerven- und Geistes¬
krankheiten entstehen, wie manche glauben, ist mehr als zweifelhaft.
Nur ein Kranker onaniert frenetisch, nie ein Gesunder“. Onanie führt
zu den anderen Geschlechtsverirrungen, wie Sadismus, Masochismus
Päderastie, paedicatio feminae. Für die konträre Sexualempfindung
ist sie höchstens als begünstigendes Moment anzusehen. Homosexualität
ist keine Krankheit, sie ist höchstens ein Stigma, aber ein nicht
schweres. Ob durch die Lektüre homosexueller Schriften diese Inver¬
sion erzeugt werden kann, ist fraglich. Die Möglichkeit, daß sie oder
eine andere geschlechtliche Perversion ohne angeborene Anlage erworben
werden kann, erscheint Näcke nicht ausgeschlossen.
In einer anderen Schrift, in der Näcke einen Besuch bei den
Homosexuellen in Berlin schildert (69), erklärt er die Gleichgeschlecht¬
lichkeit für eine Abart der gewöhnlichen Liebe, für eine normale,
seltenere Variation des Geschlechtstriebes, für eine Art Mißbildung,
jedoch niemals für Krankheit „Homosexualität ist de facto eine
„rudimentäre“ Heterosexualität, denn der Mann liebt nicht einen
x-beliebigen Menschen usw., sondern nur einen, der die inneren —
oft auch nur die äußerlichen — Eigenschaften des anderen Geschlechts
an sich trägt“. „Die meisten Homosexuellen denken und fühlen und
unterhalten sich also — bis auf ihre bestimmte Geschlechtsempfin¬
dung — genau so wie die Heterosexuellen“. Nach Näcke gibt es
kein sicheres Zeichen für Erkennung von Urningen. Man soll den
Invertierten die Art ihrer Geschlecbtsbefriedigung lassen. Sie sind
keine die Gesellschaft schädigenden Elemente, im Gegenteil würde ihre
Erhaltung für die Gesellschaft und Allgemeinheit von Nutzen sein.
Der Hauptwert bei Feststellung der Diagnose „Homosexualität“ ist
auf „Serienträume“ zu legen, da sich in ihnen das Leben der Menschen
am deutlichsten widerspiegelt.
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Über die gerichtsärztlicho Bedeutung perverser Geschlechtstriebe.
69
In einer Erwiderung gegen Lombroso „Vergleich von Verbrechen
und Homosexualität“ (78) leugnet Näcke, daß jemand durch Onanie
oder Verführung dauernd homosexuell werden könne. Er gibt aber
zu, daß anscheinend bei Verbrechern echte Homosexualität häufiger
sei. Er meint, die Homosexuellen sind „nicht oder kaum im höheren
Grade psychopathologisch als die sogenannten Normalen unter den
Heterosexuellen". Es ist nach ihm entweder die Homosexualität selbst
oder die Disposition dazu dem Menschen eingeboren und das ist seiner
Meinung nach nur ein Wortstreit. Die Homosexualität auf Schiffen,
in Internaten, Gefängnissen usw. ist nur eine vorübergehende.
In Hirschfelds Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen spricht
Näcke (70) die gleiche Meinung aus. Er vertritt hier die Ansicht,
zwischen „echter Homosexualität" und bloßen „homosexuellen Hand¬
lungen" besteht kein Unterschied. Auch einen Päderasten an sich
zählt er (74) noch nicht zu den lasterhaften Homosexuellen. Bei
echten Konträrsexuellen sind die Genitalien nur selten alteriert (73).
Brustdrüsen finden sich mehr oder weniger nur bei deutlich Effemi-
nierten. Abweichungen der Geschlechtsteile finden sich häufiger bei
Perversität durch lasterhafte Angewohnheit.
In seiner jüugst erschienenen Schrift „Einteilung der Homo¬
sexuellen" spricht Näcke (71) die Ansicht aus, daß die Homosexualität
in den niederen Volksschichten weniger verbreitet sei als in den
höheren. Näcke sagt „Verführung und Onanie haben, sehr wahr¬
scheinlich wenigstens, nie einen Urning erzeugt; es gehört dazu stets
eine angeborene Disposition. Der Ursprung ist dunkel, doch spielt
hierbei jedenfalls die sicher bestehende anatomische und psychische
bisexuelle Anlage des Menschen eine Hauptrolle." Päderastie kommt
nach Näcke ungefähr bei 8 Proz. der Gleichgeschlechtlichen vor.
Dieser Autor teilt die Homosexuellen ein in
I. Homosexuelle,
II. Bisexuelle und unterscheidet bei beiden
1. sehr früh sich zeigende Fälle,
2. später auftretende Fälle
a. zur Zeit der Geschlechtsreife,
b. im späteren Mannes- resp. Greisenalter
a temporär,
ß periodisch,
y kontinuierlich.
Auch bei der obenerwähnten „ Surrogatinversion“ wie auf Schiffen,
in Internaten usw. hält er einen Teil der Fälle für „zweifellos homo¬
sexuell bedingt“. In dem Nachtrag zu der Arbeit unterscheidet er
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V. Heinrich Graf
dann echte Homosexualität, die nur auf rein homosexuellem Wege
ihre Befriedigung findet und kein Laster ist und die unechte, die die
Befriedigung homosexuell sucht und eine Perversität ist Erworben
werden kann nach Näcke nur eine homosexuelle Handlung auf hetero¬
sexuellem Boden, nicht sexuell fremdes Empfinden.
Einen von Näcke recht abweichenden Standpunkt vertritt
v. Schrenck-Notzing (89, 90, 91) in seinen Schriften. Die An¬
sichten dieses Autors sind ungefähr folgende: Angeboren ist bei der
konträren Sexualempfindung nur die neuropathische Belastung und
die psychopathische Minderwertigkeit. Ererbt ist ebenso wie bei der
Tuberkulose die Prädisposition. Auf Grund der ererbten Disposition
können Gelegenheitsursachen wie empfangene oder erteilte Prügel,
Jugendschwärmereien, Grausamkeiten, erhaltene blutige Wunden usw.
der Anlaß zur Entstehung von Geschlechtsverirrnngen sein. Ja sie
können sogar, wenn stark genug, die Form der Erkrankung be¬
stimmen d. h. in dem einen Falle entwickelt sich konträre Sexual¬
empfindung, im anderen Sadismus, im dritten Fetischismus. Der Ge¬
schlechtstrieb erwacht vorzeitig, dabei fehlt aber in der Regel Ge¬
legenheit zum normalen Verkehr, daher Zuflucht zur Onanie. Der
Eindruck beim ersten Orgasmus gräbt sich tief ein und nach der
Stärke des Gefühles beurteilt das Individuum den Wert der Perzeption
für das Ich. „Die Wahrnehmung wird inhaltlich und zeitlich so
intensiv zusammengedacht, daß fortan das Wollustgefühl von der
reproduzierten Vorstellung der äußeren begleitenden Umstände regel¬
mäßig begleitet wird.“ Es kommt nun zu weiterer Verarbeitung der
Vorstellung und zu Streben nach häufigerer Wiederholung. Dadurch
erfolgt Vertiefung und schließlich wird die bestimmte Vorstellung
zwaugsartig und sie „genügt endlich für sich allein, um sexuelle
Neigungen zu produzieren“. Sie begleitet die Traumpollutionen und
wird der Ausgangspunkt' für perverse Geschlechtsregungen. Leicht
wird bei der modernen getrennten Erziehung der Geschlechter die
sexuelle Regung auf das eigenene Geschlecht bezogen. Zärtliche
Freundschaften nehmen durch die sexuelle Betonung geschlechtlichen
Charakter an. Die Naturanlage allein bietet keine Erklärung dafür,
warum der Eine homosexuell, der Andere Liebhaber von Schuhnägeln,
der Dritte von Frauenaugen wird. Also: die angeborene Prädisposition
bietet den Boden zur Entwicklung der Geschlechtsverkehrung, ohne
daß sie sich auf die Form der Erkrankungen zu erstrecken braucht.
Es besteht bei den Perversen nach v. Schrenck-Notzing eine
Schwäche ohne Störung des Verstandes, und diese macht die Be¬
treffenden unfähig, unsittliche Handlungen als rechtswidrig anzusehen
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Über die gerichtsärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe.
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und zu verstehen. Das ist atich der Grund, warum die Urninge nicht
einsehen wollen, daß ihr Geschlechtstrieb krankhaft ist. Ihre perverse
Geschlechtsbetätigung ist als eine Teilerscheinung einer nervösen oder
geistigen Erkrankung aufzufassen. Findet man auch manchmal außer
auf geschlechtlichem Gebiete keine krankhaften Erscheinungen, so
darf man sich dadurch nicht in seiner Ansicht irre machen lassen.
Gleichgültig ist es, ob man den perversen Geschlechtstrieb als neuro*
oder psychopathisch auffasst Der Gerichtsarzt kann das isolierte
Dasein perverser Äußerung des Geschlechtstriebes nicht als Unzu¬
rechnungsfähigkeit bedingend gelten lassen. Man hat als typisch für
Urninge ihre Neigung zu weiblichen Handarbeiten und ähnlichen Be¬
schäftigungen schon in den Kinderj'ahren biogestellt. Das ist nach
v. Schrenck-Notzing nicht beweisend. Überhaupt rät er zur
Vorsicht beim Ziehen von Schlußfolgerungen ans solchen Beobach¬
tungen. „Es ist überhaupt die Frage, ob ein Kind ohne erbliche
Belastung nicht durch Züchtung allein konträrsexual werden kann.“
Auf jeden Fall ist die Tragweite menschlicher Einwirkungen nicht
zu bezweifeln.
Bei der Diagnose der Homosexualität empfiehlt v. Schrenck-
Notzing Vorsicht. Der Arzt ist allein auf das Krankenexamen an¬
gewiesen und kann die Aussagen des Patienten nicht durch die An¬
gaben der Angehörigen ergänzen. Bei vielen Homosexuellen hat
durch die Lektüre der „Psychopathia sexualis“ eine unbewußte Auto¬
suggestion stattgefunden, deshalb ist der Wert der Autobiographien
nicht zu überschätzen, wenn sie auch selbst unentbehrlich sind.
Wissenschaftliche Theorien sollte man auf sie nicht aufbauen. Die
„Gelegenheitsursachen“ werden sehr häufig vergessen und lassen sich
nur bei einem Teile nachweisen. Sehr wohl kann sich die erste ge¬
schlechtliche Erregung mit dem Anblicke einer sympathischen männ¬
lichen Erscheinung oder mit der Berührung dieser Person verbinden
ohne vorliegende erbliche Belastung. Es kommt ehen dann zu den
beschriebenen pathologischen Assoziationen. Nach v. Schrenck-
Notzing kommen äthiologisch für die Entwicklung der konträren
Sexualempfindung drei Möglichkeiten in Betracht, nämlich
1. die originäre Gehimanlage,
2. Erziehungseinflüsse auf dem Boden neuropathischer Dis¬
position,
3. eine Züchtung bei Unbelasteten
und zwar ist die zweite Möglichkeit die häufigste.
Die zwar geistreiche Theorie v. Krafft-Ebings von der bisexu¬
ellen Anlage des Menschen ist nach v. Schrenck-Notzing ana-
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V. Hein eich Gkäf
tomi8ch nicht zu rechtfertigen. Dieser Autor ist zu seiner Ansicht
über die Entstehung der Homosexualität gekommen durch die Be :
einflußbarkeit, die diese Erscheinung in vielen Fällen durch die
Suggestionstherapie erfährt Wie die Denkweise des Perversen durch
die Suggestion „männlich" umgestimmt werden kann, so muß man
umgekehrt annehmen, daß die pathologischen homosexuellen Ideen
des Urnings dessen Handlungen bestimmen und schließlich den Cha¬
rakter umgeformt haben. „Wie Gewissen und Moral niemals an¬
geboren, sondern erst erworben werden, so ist auch der Geschlechts-
trieb, gleichgültig ob er im 5. oder 15. Lebensjahr zuerst sich äußert,
zunächst ohne Ziel, unbestimmt, selbst bei lebhaftester, krankhafter
Tendenz zur Entäußerung, zur Explosion.“ An anderer Stelle (89)
sagt v. Schrenck-Notzing, „die Gewöhnung des psychosexuellen
Mechanismus an inadäquate Reize (Onanie) sind imstande, schließlich
sogar den Widerstand einer normal empfindenden Persönlichkeit
dauernd zu besiegen.“ Bei der Vererbungstheorie der Homosexualität
müßte nachgewiesen werden, daß die Vorfahren homosexuell gewesen
sind, und auch diese müßten die Geschlecbtsverirrung doch erst ein¬
mal erworben haben. „Die stillschweigende Voraussetzung, daß die
Aszendenten solche Gewohnheiten besaßen und erwarben, bedarf also
selbst eines zureichenden Beweises und wird auch durch historische
Mitteilungen über Urningtum nicht erledigt.“ Zur Erklärung der
perversen Richtungen des Geschlechtstriebes genügt also vollständig
die Annahme einer erblichen Belastung und psycho- oder neuro-
pathischen Prädiposition. Als pathognomonische Zeichen der Heredität
führt v. Schrenck-Notzing an: Geringe intellektuelle Begabung,
Stimmungsanomalien, Neigung zu lebhafter Gefühlsbetonung und
Affekt, zu impulsiven Handlungen, leicht erregbare Vorstellungs¬
tätigkeit, kleine Reize — große Wirkungen auf die Psyche, Ein¬
seitigkeit und ungleichmäßige Entwicklung der geistigen Anlagen,
Intoleranz gegen Alkohol, Vorliebe für das Ungewöhnliche, zügelloses
Phantasieleben, Zwangsvorstellungen, starken' Egoismus, abnorm frühes
und starkes Auftreten des Geschlechtstriebes, erhöhte Reflexerregbar¬
keit und reizbare Schwäche. Die konträre Sexualempfindung ist also
als krankhaft anzusehen und darauf muß bei der forensischen Be¬
urteilung geachtet werden.
Moll hält in seiner 1891 veröffentlichten Schrift „Die konträre
Sexualempfindung“ (59) diese Verkehrung auch für krankhaft. Äti¬
ologisch wichtig ist nach ihm psychische oder nervöse Belastung oder
Entartung des zentralen Nervensystems. Reine Fälle erworbener kon¬
trärer Sexualempfindung sind nach Moll selten. Als belastende Mo- 1
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Über die gerichtsärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe. 73
mente sind anzusehen: Trunksucht, Selbstmord, Heirat unter Bluts¬
verwandten, Geisteskrankheiten, Lues, Atavismus. Die Tatsache der
Belastung wird gestützt durch die von v. Kr afft- Ebing angegebenen
Tatsachen. Warum nicht alle Entarteten homosexuell sind, erklärt
Moll dadurch, daß bei den mit der sexuellen Perversion behafteten
Degenerierten der Geschlecbtstrieb der locus minoris resistentiae ist.
Mitunter sind auch Gelegenheitsursachen beim Erwachen des Ge¬
schlechtstriebes wichtig, so besonders für die bestimmte Art der Ge¬
schlechtsbefriedigung. Jedoch ist die »Gelegenheit, die Veranlassung
zur Ausübung des perversen Aktes gibt, nicht mit derjenigen Gelegen¬
heit zu verwechseln, die den perversen Trieb zum Ausbruch bringt“.
Als Gelegenheitsursachen hält Moll für wichtig moralisches Contagium
und Verführung, das Treiben in großen Erziehungshäusern, perverse
Lektüre, gegenseitige Onanie, langen Ausschluß von Weibern, strenge
Erziehung und ausschließlichen Verkehr mit Knaben, Furcht vor Ge¬
schlechtskrankheiten und Schwängerung. Die Onanie hält auch Moll
für ein begünstigendes Moment, daß aber Wüstlinge oft zur Päderastie,
als zu einem neuen Reiz übergehen, ist nach ihm übertrieben. An
einer anderen Stelle erklärt er diese Entstehungsart der Homosexualität
als „Märchen“. Beim Altersblödsinn und bei progressiver Paralyse
ist diese Perversität häufiger. Die konträre Sexualempfindung ist
eine Perversion und bei ihr gehört Päderastie zu den Seltenheiten.
„Gestört ist bei perversem Geschlechtstrieb nur die Art und Weise,
wie die Psyche auf das Sexualorgan wirkt,“ sagt Moll. Die Diagnose
ist vor allem aus den erotischen Träumen zu stellen. Da die Homo¬
sexualität eine krankhafte Erscheinung ist, „dürfen wir ein damit
behaftetes Individuum nie für gesund erklären“. Der homosexuelle
Geschlechtstrieb besteht oft als einziges Symptom, jedoch ist der
Homosexuelle nicht für geisteskrank zu halten. Wohl besteht die
Möglichkeit des Koitus bei diesen Menschen, aber er befriedigt sie
nicht nur nicht, sondern soll sehr angreifend für sie sein. Der gleich¬
geschlechtliche Verkehr ist deshalb als Trieb der „Selbsterhaltung“
anzusehen.
Was Moll über die Urninge sonst sagt, haben wir schon teil¬
weise früher erwähnt. Nach ihm ist diese Erscheinung mehr in den
besseren Gesellschaftskreisen verbreitet, auch viel unter dem Geburts¬
adel. Viele Perverse lieben nicht Männer mit weibischem Wesen,
sondern normale Männer. Den Gebrauch weiblicher Kleider durch
die Urninge unterdrückt der Staat deshalb, weil erfahrungsgemäß
viele Diebstähle in Weiberkleidung begangen werden, um die Polizei
auf andere Spuren zu führen. Das Schamgefühl der Urninge besteht
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74
V. Heinrich Graf
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nur ihrem Geschlechte gegenüber. Die seltene Neigung der echten
Homosexuellen zur Päderastie beruht nicht auf Verführung, sondern
darin, daß der Urning bei der Art der geschlechtlichen Befriedigung
Abwechslung wünscht Das von so vielen Perversen erwähnte gegen¬
seitige Erkennen „auf den ersten Blick“ ist nach Moll (59 und 66)
nicht wahr. Auch diese Menschen haben eine große Vorliebe für
das Militär, was nach Moll als eine Art „Fetischismus“ anzusehen
ist. Sie suchen Soldaten als Partner für ihren Geschlechtsverkehr zu
gewinnen. Die männliche Prostitution mißbilligt Moll mit scharfen
Worten. Als gewöhnliches Alter der männlichen Prostituierten gibt
er 17 bis 30 Jahre an.
In seinen 1898 erschienenen „Untersuchungen über die Libido
sexualis“ (65) will Moll die Perversionen des Geschlechtstriebes auf
Grund hereditär degenerativer Grundlage zu den psychischen Ent¬
artungen, also zu den Geisteskrankheiten im weiteren Sinne, gerechnet
wissen, auch bei isolierter Homosexualität. „Ein einziges nachweis¬
bares Symptom kann zum Begriff des Krankhaften genügen.“ Moll
wendet sich gegen v. Schrenck-Notzings Ansicht, daß bei Ent¬
stehung der perversen Geschlechtsricbtung die Gelegenheitsursachen
die ausschlaggebende Bedeutung haben. Er meint, es kann mit
der Keimanlage die Homosexualität ererbt werden, d. h. der Sohn
erbt von der Mutter deren Neigung zum Manne und umgekehrt die
Tochter vom Vater die Neigung zum Weibe, aber nicht müssen not¬
wendig fetischistische und ähnliche Anlagen ererbt sein. Das abnorm
frühe Auftreten des Geschlechtstriebes ist nicht für Ererbtsein der
Homosexualität charakteristisch, mehr spricht dafür der fehlende
Durchbruch der Homosexualität zur Zeit der Geschlechtsreife. Die
Eindrücke im Stadium der geschlechtlichen Undifferenziertbeit können
für das spätere Geschlechtsleben eine Rolle spielen, brauchen es aber
nicht. Es läßt sich in vielen Fällen von Homosexualität der Nach¬
weis führen, daß der Betreffende in der Jugend homosexuell verkehrt
hat, jedoch wird der Mensch durch solche Jugendhandlungen nicht
homosexuell, da der mächtige heterosexuelle Trieb doch gewöhnlich
in der Pubertät durchbricht. Die Heterosexualität bricht bei dem
Perversen nicht durch, weil sie nicht ererbt ist, oder es besteht eine
ererbte Schwäche der Heterosexualität. Ohne letztere kann Homo¬
sexualität auch im späteren Alter oder bei Weibermangel nicht ge¬
züchtet werden. Unsere moderne Psychiatrie erkennt keine Mono¬
manien wie Kleptomanie, Pyromanie, perversen Geschlechtstrieb als
einziges Sympton als strafausschließend an. Diesen Standpunkt teilt
Moll. Jedenfalls ist nach ihm die sexuelle Perversion ein Straf-
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Über die gerichtsärztliche Bedeutung perverser Geschlcchtstriebe. 75
mildernngsgrund. Man kann nicht von der UnnnterdrQckbarkeit des
perversen Triebes auf Geisteskrankheit schließen, anch der normale
Geschlechtstrieb ist oft unnnterdriickbar.
Homosexuelle Gefühle können nach Moll (62) mitunter in der
Ehe znm Schwinden gebracht werden. Das spricht nicht gegen das
Angeborensein der Homosexualität, da künstliche Abänderungen, z. B.
sogar angeborener körperlicher Anlagen möglich sind. Also können
anch eingeborene psychische Dispositionen durch Einflüsse im Leben
modifiziert werden. Moll hebt das gerade deshalb hervor, weil es
gerade von denjenigen bestritten wird, die für Abschaffung von
§ 175 St. G. B. und Gleichberechtigung des homosexuellen Verkehres
agitieren.
v. Kraft-Ebings Ansicht von der bisexuellen Anlage des Men¬
schen teilt Moll nicht. Die erbliche Belastung der Homosexuellen
wird, wie er sagt, von manchen Menschen verneint. Und zwar führen
diese an, daß zu den Ärzten nur solche Leute kämen, die erblich be¬
lastet wären. Diese belasteten Individuen könnten ihren Trieben
weniger widerstehen als unbelastete. Sie empfänden deshalb ihren
Drang als krankhaft, kämen mit den allgemeinen sozialen Anschau¬
ungen in Konflikt und gingen deshalb zum Arzte. Demgegenüber stellt
Moll fest, daß in überwiegender Zahl erbliche Belastung nachweisbar
ist Aus dem homosexuellen Akte an sich geht nach Moll noch nicht
hervor, daß er ein Zwangsakt ist. Würden wir den Homosexuellen
ihre perversen Akte nicht zurechnen, so wären seiner Meinung nach
die Perversen besser gestellt als die Normalen, die ihren Trieb auch
nicht so befriedigen können wie sie wollen.
Eulen bürg (14) bezeichnet Uranismus als psychische Anomalie.
Die konträre Sexualempfindung kann nach ihm bei psychisch kranken
und psychisch gesunden, „meist jedoch degenerativ oder zum min¬
desten „nervös“ (neurasthenisch) veranlagten Individuen Vorkommen“.
Das gleiche gilt für die verschiedenen heterosexuellen Perversionen.
Eulenburg sagt: „Es gibt einen gewissen, schwer bestimmbaren, aber
anscheinend nicht ganz geringen Prozentsatz männlicher Individuen,
bei dem — zumeist auf Grund eigentümlicher angeborener Veran¬
lagung — jede heterosexuelle Beizung meist von vornherein vollstän¬
dig fehlt, oder doch schon gegen die Pubertätszeit hin gänzlich zurück¬
tritt, und dieser Defekt durch einen stark entwickelten körperlichen
und seelischen Zug zu männlichen Geschlechtsgenossen, durch mann¬
männliche (homosexuelle) Neigung ersetzt wird.“ Inbezug auf von
Schrenck-Notzings „okkasionelle Momente“ für Entstehung der
Homosexualität liegt nach Eulenburgs Meinung eine Verwechselung
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V. Heinbich Graf
von Ursache und Wirkung vor. Die meisten von dessen Leuten
hätten schon eine angeborene Homosexualität gehabt als sie in ihrem
5. oder 8. Jahre Vergnügen beim Anblicke eines penis oder ähnlichem
empfanden. Nun in manchen Fällen ist man nach Enlenburg be¬
rechtigt, Gelegenheitsursachen für Entstehung perverser Triebe ver¬
antwortlich zu machen. Onanie hält er für wichtig, jedoch ist das
Hauptmoment die abnorme neuropsychische Veranlagung, sei sie nun
angeboren oder auf erblicher Belastung beruhend, oder in früher Jugend
durch Gehirnkrankbeiten erworben.
Kirn (40) hält die konträre Sexualempfindung für eine patho¬
logische Verkehrung des Geschlecbtstriebes. Die Päderastie ist nach
ihm im allgemeinen ein scheußliches Laster; davon hebt sich eine
Anzahl Ausnabmefälle von konträrer Sexualempfindnng ab, basierend
auf Gebirnentwicklung und geistiger Veranlagung des betreffenden
Individuums. Dieser perverse Geschlechtstrieb ist keine isolierte krank¬
hafte Erscheinung, sondern ein psychischer Ausnahmezustand. Die
Homosexuellen sollten ihren Trieb auch bemeistern.
Auf Grund eines einschlägigen Falles vertritt Kautzner (39) die
Ansicht, daß man für Entstehung der Homosexualität keine angeborene
Homosexualität annebmen darf. Außere Umstände, Umgang, Er¬
ziehung bewirken, daß jemand homosexuell wird. Die heterosexuellen
Triebe sind bezähmbar, also auch die homosexuellen. Gleichgeschlecht¬
liche Betätigung wird mit voller Überlegung ausgeführt, es besteht
volles Bewußtsein der Strafbarkeit der Handlung, also kann von einem
unwiderstehlichen Zwange keine Rede sein.
Wilhelm (106) teilt einen Fall von Androgynie mit, wo es sich
um einen Mann mit durchaus weiblichem Habitus handelte, mit weib¬
lichem Skelettbau, Fettpolster, tänzelndem Schritt. Dieser Mann war
9 Jahre in der Schweiz als „Kellnerin“ tätig gewesen und wurde
nachher von einer weiblichen Prostituierten ans Brotneid angezeigt,
weil er immer abends in Frauenkleidem ausging und sich Männern
hingab. Wilhelm bemerkt hierzu: „Erkennt man auch die Krank¬
haftigkeit der konträren Sexualempfindnng an, so wird man deshalb
doch nicht unbedingt die Frage bejahen müssen, ob der Homosexuelle
für die aus der Homosexualität fließenden gleichgeschlechtlichen Hand¬
lungen als unverantwortlich und gemäß § 51 St. G. B. als straffrei
zu betrachten ist“. Es ist nach seiner Meinung je nach dem allge¬
meinen Symptomenkomplex oder je nach Stärke des krankhaften Triebes
nur in gewissen seltenen Fällen Unzurechnungsfähigkeit anzunehmen.
Seydel (94) will die Individuen mit perversem Geschlechtstrieb
genau so beurteilt wissen wie die normal empfindenden. Nach Seydel
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Über die gerichtsärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe. 77
ist bei diesen Individuen der Schluß berechtigt, daß es sich entweder
um Menschen bandelt, die im übrigen gesund, sich vor verbrecherischen
Exzessen vorsichtig zu wahren verstehen, oder daß ihre Vergehen von
ihren Komplizen gebilligt und der Bestrafung entzogen werden. Die
speziellen Äußerungen der Perversität müssen im Interesse der öffent¬
lichen Sittlichkeit durch Strafe verfolgt und zurückgedrängt werden.
Es ist schwer zu sagen, wann wirkliche geistige Verirrung vorliegt,
wann geistige Erkrankung und die sexuelle Perversität als ihr Sym¬
ptom. „Es wäre durchaus falsch, alle diese Individuen, die nach allen
übrigen Seiten sich normal zeigen, als Geisteskranke anzusehen“. Bei
Überschreiten des Strafgesetzes ist an diese Personen der gleiche
Maßstab anzulegen wie an geistig gesunde. Berücksichtigt werden
muß ihre schwache Resistenz gegen Anstrengungen und Reize, auch
gegen Alkohol. Eine genaue ärztliche Untersuchung, vor allem in
einer Irrenanstalt, ist erforderlich.
Salgo (85) spricht sich dahin aus: Die Homosexualität ist als
abweichend von der Norm anzusehen, jedoch ist solche Abweichung
nicht als krankhaft zu beurteilen; denn man darf nicht aus einem
auffälligen Symptome auf Krankheit schließen. Aus der Art der Be¬
friedigung des Libido sexualis kann unter keinen Umständen ein
Schluß auf den psychischen Geisteszustand gezogen werden, „mag die
Art wie weit entfernt immer von der Norm sein“. Es ist unzulässig
von einer „Psychopathia sexualis“ zu sprechen. „Die Frage der
sexuellen Perversität ist als solche nicht Gegenstand der Psychiatrie.“
Die Homosexualität bedeutet keine psychische Störung, sie ist ebenso
wie sexuelle Perversität eine individuelle Äußerung des Geschmackes.
Die Homosexualität wird im Verborgenen gewagt, nicht wegen der
Strafandrohung, sondern „wegen des wesentlich gesteigerten Anstands¬
gefühls“. Das Unterlassen der sexuellen Betätigung führt nicht zur
Beeinträchtigung der Gesundheit; wenn die Homosexuellen deshalb
geschlechtlich abstinent sind, so erleiden sie keinen Schaden an Leib
and Seele.
Nach Kraepelin (42) ist die konträre Sexualempfindung eine
Krankheit, entstanden auf dem Boden einer fast immer angeborenen,
oft ererbten psychopathischen Veranlagung. Päderastie ist dabei selten.
Die Liebe der Urninge ist recht unbeständig, manchmal erstreckt sie
sich auf andere Homosexuelle, vielfach auf Normale. Oft besteht
Neigung zu Leuten niederen Standes, Kutschern, Lastträgern, beson¬
ders beliebt sind Soldaten. Der Verstand der Kranken — Kraepelin
bezeichnet die Urninge durchgehend als Kranke — ist meist normal
entwickelt. Ihre Lebensführung ist oft zerfahren. Die geschlecht-
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V. Heimbich Gbäf
liehen Beziehungen spielen in ihrem Leben oft eine merkwürdig wich¬
tige Bolle. Die Berufswahl der Urninge ist häufig durch ihre Ver¬
anlagung bedingt Eraepelin ist ein Gegner der Lehre yon der
„angeborenen“ Homosexualität „Gegen das Angeborensein der Störung
spricht die Tatsache der häufigen psychischen Hermaphrodisie“. Die
Nebennmstände, unter denen die ersten sinnlichen Gefühle auftauchen,
sind bei Normalen gleichgültig, bei krankhafter Veranlagung jedoch
nicht Entscheidende Bedeutung für das Zustandekommen der Ge¬
schlechtsverkehrung haben die ersten geschlechtlichen Mißerfolge.
Eraepelin sagt: „Das Erankhafte liegt also, wie ich mitv.Sehrenck-
Notzing glaube annehmen zu müssen, häufig oder regelmäßig nicht
in einem ursprünglich verkehrt entwickelten Triebe, sondern es liegt
in der eigentümlichen, auf Entartung beruhenden Bestimmbarkeit des
überdies früh erwachenden Trieblebens. Durch sie wird in dem jugend¬
lichen Gemüte die erste Anregung der Sinnlichkeit maßgebend für die
dauernde Gesamtrichtung derselben“.
Auch von Sölder(96) hält die Homosexualität für krankhaft,
allerdings nicht für Geisteskrankheit im engeren Sinne. Von einem
„Zwang“ zur Ausübung des gleichgeschlechtlichen Verkehrs kann
nach v. So 1 der nicht gesprochen werden. Es sind hier zwei An¬
nahmen zu machen, nämlich:
1. der Homosexuelle ist zur Ausübung des perversen Aktes genötigt,
2. er vermag denselben nur in perverser Art auszuführen.
Die erste Annahme ist nach v. Sölder bestreitbar, die zweite jedoch
nicht. Aus der Homosexualität allein kann daher kein Zwang zur
Verübung gleichgeschlechtlicher Handlungen abgeleitet werden. Es
gibt unter den Urningen kalte und hypersexuelle Naturen; bei letz¬
teren ist dann eine krankhafte Verminderung der psychischen Wider¬
standsfähigkeit vorhanden. Nur im letzteren Falle kann man von
„Zwang“ reden. Die Macht des geschlechtlichen Antriebes ist bei
Homosexuellen und Heterosexuellen gleich zu beurteilen.
Fuchs (30), der Schüler v. Krafft-Ebings, vertritt den Stand¬
punkt seines Lehrers und meint, daß die Möglichkeit der therapeu¬
tischen Beeinflußbarkeit der Homosexualität „sich nur durch die An¬
nahme der bisexuellen Anlage des Menschen erklären läßt“. Nach
Fuchs ist die konträre Sexualempfindung ein funktionelles Degene¬
rationszeichen. „Sexuelle Hyperästhesie kann z. B. unter Umständen
zu homosexuellen Delikten führen, ohne daß es sich um Perversion
bandelt.“
Jolly (37) hält in einer ganz kleinen Zahl der Fälle die Homo¬
sexualität für wirklich angeboren, ganz sicher aber in den weitaus
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Über die gerichteärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe. 79
meisten Fällen für erworben, „erworben z. T. in früher Kindheit, z. T.
erst im späteren Leben.“ Die körperlichen Berührungen bei der
mutuellen Masturbation spielen dabei eine Rolle. „Nur die größere
Häufigkeit der Gelegenheit zur Entwicklung, der konträren Sexual¬
empfindung bedingt es, daß sie an Zahl der Fälle wohl die der
anderen Perversitäten übertrifft“. Nicht eine unbeträchtliche Minder¬
zahl der jugendlichen Onanisten bleibt unter der Nachwirkung der
Jugendeindrücke stehen und wird durch Erwerbung pervers. Die
Perversität kann aber ganz isoliert sein mit sonst völlig normalem
Seelenleben. In einzelnen Fällen ist ein pathologischer Zwang zur
Geschlechtsbetätigung, eine wirkliche „Psychopathia sexualis“ anzu¬
nehmen. Wenn die Homosexuellen sagen, daß sie nicht Päderastie
treiben, daß ihre einfache Form der Befriedigung die ja straffreie
gegenseitige Onanie ist, so ist das nach Jolly Heuchelei. So lange
eben § 175 besteht, müssen es sich die Homosexuellen gefallen lassen,
mit demselben Maße gemessen zu werden wie die anderen Sexual¬
perversen. Unter den Begriff der eigentlich Geisteskranken fallen
sie nicht
Tarnowsky (101) spricht in seiner wichtigen Abhandlung über
„die krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinnes“ stets von
Päderastie schlechthin. Er unterscheidet A. eine angeborene, eine
periodische und eine epileptische Päderastie, B. erworbene Perversität
und erworbene Päderastie, dazu gehören die senile und paralytische
Form. Die Beschreibung dieser verschiedenen Arten des perversen
Geschlechtstriebes können wir übergehen, sie ist in den Schilderungen
von v. Krafft-Ebing, Moll usw., die zum Teile auf Tarnowsky
fußen, gegeben. Hervorzuheben ist, was dieser Autor über Kenn¬
zeichen für passive Päderastie sagt. In der Knieellenbogenlage führe
man Erschlaffung der Hinterbacken herbei, manchmal erst durch Er¬
müdung zu erreichen. Die Erweiterung des Orifiziums, bedingt durch
Schlaffheit der äußeren und inneren Sphinkterschichten ist ein recht
charakteristisches Anzeichen. „Der im Mastdarm eingeführte Finger
wird nicht eng vom Sphinkter umfaßt, sondern sogar 2 Finger werden
frei eingelassen.“ Die Exploration verursacht oft Schmerz infolge
kleiner Einrisse am Rande des orificium ani. Die Untersuchung muß
bei vollständiger Erschlaffung der Muskeln vorgenommen werden,
der Explorant darf nicht die Muskeln des Anus kontrahieren. So¬
bald man die Hinterbacken mit Gewalt auseinander ziehen muß, ist
nichts deutlich zu sehen. Die Erschlaffung der den anus umgebenden
radiären Hautfalten ist auch oft wichtig. Bei alten Kynäden klafft
der anus auch bei der Kontraktion der Muskeln. Als Zeichen von
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einem frischen päderastischen Akte führt Tarnowsky an Nachweis
von Sperma, vielleicht auch von etwas Blut infolge frischer Ein¬
risse des Afters. Am penis des aktiven Päderasten ist meist nicht
viel zu sehen. Wichtig ist ein ulcus durum am After oder eine
andere geschlechtliche Infektion.
Schmidtmann (8) betrachtet es als festgestellte Tatsache, daß
eine große Anzahl derer, die gleichgeschlechtliche Befriedigung mit
Gleichgeschlechtlichen finden, nicht durch Entsittlichung und Über¬
sättigung zum homosexuellen Verkehre gelangt sind, sondern infolge
einer besonderen Veranlagung. Jedoch ist nur in sehr wenigen Fällen
von einer angeborenen Erscheinung zu sprechen, und zwar dann,
wenn nachzuweisen ist, daß der Trieb bei der ersten Regung in ab¬
weichende Bahnen gelenkt wurde. Meist ist die Gleichgeschlechtlich¬
keit erworben. Dabei spielen Zufälligkeiten eine große Rolle. Schmerz¬
erregung und Schmerzerduldung können, wie bekannt, die ersten ge¬
schlechtlichen Empfindungen wecken. Im späteren Leben ist die
gegenseitige Masturbation wichtig. Die Bedeutung der Onamie für
das Zustandekommen der Perversität wird nach Schmidtmann
überschätzt. Von einer psychopathischen Anlage ist vielfach bei der
Perversität gar nicht die Rede. „Der Sachverständige hat zu er¬
forschen, ob die Homosexualität als Teilerscheinung eines psycho¬
pathischen oder nervösen Zustandes anzusehen ist, wird in jedem
Falle genau abschätzen, in welchem Umfange eine solche Störung
vorliegt.“ Die Theorie der Urninge von der bisexuellen Uranlage des
Menschen erkennt Schmidtmann nicht an. Wirkliche Päderastie
wird von den echten Homosexuellen kaum ausgeübt, das tun Wüst¬
linge und männliche Prostituierte, wo es sich also nicht um Perversion
handelt Außer den oben besprochenen Zeichen für Päderastie führt
Schmidtmann noch an Schlaffheit der Hinterbacken und düten-
förmige Einsenkung der nates gegen den After hin, ferner Wuche¬
rungen der Haut des anus und der Schleimhaut des rectum. Das
sind alles keine sicheren Zeichen. Relativ sicher ist noch Verstrichen¬
sein der radiären Falten am After. Sichere Zeichen sind beim Manne
Gonorrhoe des Afters, ulcus durum und ulcus molle. Auch nach
längere Zeit fortgesetzen passiv päderastischen Akten können alle
Zeichen fehlen. Beim frischen päderastischen Akte finden sich ge¬
legentlich auch noch Spermaflecken im Hemd oder auf dem Fu߬
boden. Infolge von immissio penis in os oder bei Saugen und Be¬
lecken des Gliedes kann sich auch venerische Infektion im Munde finden.
Schäfer (85) hält die Annahme einer abnorm stark und früh
in Tätigkeit tretenden allgemein sexuellen Erregbarkeit für genügend
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Über die gerichtsärztiiche Bedeutung perverser Gescbiecbtstriebe.
81
zur Entstehung der Gleichgeschlechtlichkeit „Treten frühzeitig sexu¬
elle Eindrücke ein, welche dem bildsamen und abnorm erregbaren
sexuellen Trieb gewissermaßen in statn aasoendi die konträre Richtung
geben, so vermag er vermöge der ihm innewohnenden reizbaren
Schwäche dem Einfluß nicht zu widerstehen.“ Bezüglich der Stärke
des homosexuellen Geschlechtstriebes sagt Schäfer: „die echte kon¬
träre Sexualempfindung ist eine pathologische Abweichung und wirkt
mit großer Kraft bestimmend und Widerstände überwindend auf die
Willensäußerungen. Es braucht darum noch kein eigentlicher psychi¬
scher Zwang zu einer Handlung vorzuliegen, die Störung genügt,
wenn ihr als Motiv eine erhebliche Kraft zugeschrieben werden muß.“
Ho che (33,34) hält die Krankhaftigkeit der konträren Sexual¬
empfindung nicht für erwiesen. Nach ihm sind „angeborene“ Störungen
in dem Sinne nicht anzuerkennen, „daß abnorme Vorstellungen sexueller
Art schon mitgebracht würden oder sich mit Sicherheit entwickeln mü߬
ten.“ „Alle Triebe erhalten den zngeordneten Vorstellungsinhalt erst im
Einzelleben; was von vomeherein abnorm sein kann, ist eine das ge¬
wöhnliche Maß überschreitende Bestimmbarkeit des Geschlechtstriebes
durch zufällige erste Eindrücke und eine vom Gewöhnlichen ab¬
weichende Gefühlsbetonung, durch welche Lust und Unlust nicht von
denselben Eindrücken hervorgerufen werden, wie bei der Mehrzahl
der übrigen Menschen.“ Die konträre Sexualempfindung ist nach
Ho che „eine selbständige, auf dem Boden abnormer Veranlagung
erwachsene Störung, die mit s der Päderastie in keiner Weise identi¬
fiziert werden darf.“ Sie stellt aber nicht das einzig Abweichende
dar, was die Träger dieser Form von Störung aufweisen. Meist
finden sich erbliche nervöse Belastung oder organische Degenerations¬
zeichen. Anffallend ist der unverhältnismäßig große, oft beherrschende
Einfluß, den der geschlechtliche Faktor auf die ganze Lebensgestaltung
ausübt. Strafrechtlich gelten für die Gleichgeschlechtlichen dieselben
Gesichtspunkte wie bei anderen Entarteten.“ „Ob ein Konträrsexualer
zur Päderastie kommt, hängt nicht von der abnormen Sexualempfindung,
sondern wie bei normal Empfindenden, aber sexuell Verkommenen,
von dem Maße der ästhetischen und ethischen Abstumpfung ah.“ Die
Häufigkeit des Vorkommens der Homosexuellen wird sehr verschieden
und wohl zu hoch eingeschätzt. Der Psychiater wird meist nur
wenige derartige Individuen zu sehen bekommen, zu Ärzten, die den
Homosexuellen freundlich gesinnt sind, kommen anderseits wieder
sehr viele. Gleichgeschlechtliche Handlungen kommen bei ganz ge¬
sunden Menschen vor. Als Beweis dafür führt Hoc he Erlebnisse
aus einem Alumnat an, in dem richtige Liebesverhältnisse zwischen
Archiv für Kriminalanthropologie. 84. Bd. 6
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Primanern und Tertianern bestanden mit dem Fernbleiben der Päd¬
erastie „aber eventuell mit Ausübung der „ beischlafähnlichen Hand¬
lungen." Im späteren Leben brach bei allen diesen Schülern der
normale Geschlechtstrieb durch. Dieser Durchbruch fehlt beim
Konträrsexualen, der durch das andere Geschlecht unerregbar ist
Sind die Homosexuellen krank, so sollen sie, rät Ho che, sich wie
auch andere Kranke in ihre Krankheit ergeben und auf Dinge ver¬
zichten, die ihnen versagt sind. Die hohe Intelligenz, die viele Homo¬
sexuelle auszeichnet, sollte diesen ihre Stellung erleichtern. Zwei
Punkte sind nach Ho che noch wesentlich für Entstehung geschlecht¬
licher Verirrungen, nämlich einmal die Lektüre der „Psychopathia
sexualis“ und dann die Onanie. Die Selbstbefleckung führt zu allen
möglichen geschlechtlichen Anomalien, besonders aber zur Päderastie.
Sie ist für sexuell verkommene Individuen ein neuer Reiz, ja wie
Hoche sich drastisch ausdrückt, direkt eine „Kaliberfrage“. „Pä-
derasten unterliegen keiner anderen Beurteilung als irgendwelche Täter
anderer Taten“ sagt Hoche. Ein Schluß auf krankhafte Störungen
ihres Tuns ist nicht erlaubt
Die Ansichten Cramers (11, 12) decken sich im wesentlichen
mit denen Hoch es. Auch er hält die konträre Sexualempfindung
nicht für krankhaft. Gewiß gibt es erblich Belastete, Neurastheniker
usw. unter den Homosexuellen, meist sind diese aber seiner Meinung
nach gesunde Menschen. Eine angeborene Homosexualität kommt
nach Cramer nur selten vor, meist ist sie gezüchtet. Onanisten
kommen häufig durch „perverse“ Literatur zu gleichgeschlechtlichen
Handlungen, indem sie autosuggestiv glauben, daß Homosexualität
für ihr zerrüttetes Sexualempfinden der adäquate Reiz sei. Warum
sich nach v. Krafft-Ebings Theorie das Genitale monosexuell ent¬
wickelt, das Geschlechtszentrum aber bisexuell, versteht Cramer
nicht Auch Cramer meint, daß die Häufigkeit der Homosexualität
überschätzt wird. Wären nämlich die Urninge so zahlreich, so könnten
sie nicht so viel über Vereinsamung und Nichtverstandensein klagen.
Viele gleichgeschlechtliche Handlungen werden von alten Rouös aus
Liebe zur Veränderung vollführt Bei Untersuchung von Leuten, die
gleichgeschlechtliche Handlungen begangen haben, hängt viel von der
Fragestellung ab. Cramer meint, man kann die Homosexualität in
jemand hineinfragen.
Sterz (98) siebt die konträre Sexualempfindung als krankhaft
an. Er spricht von „geistiger Verschrobenheit“ bei der perversen
Sexualempfindung und betrachtet die damit Behafteten als „unglück¬
liche Entartete“.
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Über die gerichtsärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe.
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Sommer (97) vertritt die Ansicht, daß es einen angeborene,
homosexuellen Trieb gibt, der sich meist schon in der Kindheit äußert.
Er unterscheidet passive und aktive Homosexualität, aber auch solche
ohne ausgeprägte Anlage. Letztere ist auf Eindrücke in der Kinder¬
zeit auf pathologischer Basis zurückzuführen. Der Ansicht von der
bisexuellen Anlage des Menschen stimmt Sommer zu.
Straßmann (100) meint, angeboren ist bei der perversen Ge¬
schlechtsrichtung nicht die abnorme sexuelle Veranlagung, sondern
die degenerative Natur der Psyche. Wie v. S c h r e n c k - N o t z i n g hält
auch er Gelegenheitsursachen für wichtig. Die Urninge möchte er
nicht als besondere anthropologisch verschiedene Menschenklasse be¬
trachtet wissen.
Laupts (53) unterscheidet zwischen angeborener und gelegent¬
licher Homosexualität und führt sie zurück auf eine zerebral abnorme
Veranlagung oder Prädisposition. Nach Laupts ist das Geschlechts¬
zentrum dabei wichtig. Er sagt: „Das sexuelle Zentrum ist für das
Geschlecht des Individuums bestimmend'' und „Eine Anziehung findet
statt zwischen Individuen, die konträre Sexualzentren haben, eine Ab¬
stoßung hingegen zwischen denen, die gleichartige Sexualzentren haben.
Forel (16, 17) sieht die Homosexualität als krankhaft an. Er
hält die meisten Gleichgeschlechtlichen für Zyniker und Wollüstlinge,
so sehr sie auch ihre Ideale im Munde führen. Die eigentlichen
„erworbenen“ Fälle von konträrer Sexualempfindung sind nach Forel
durch Suggestion oder Autosuggestion entstanden. Vom Standpunkte
der sexuellen Ethik betrachtet er die perversen Triebe, deren Aus¬
übung niemanden schädigt, als ethisch indifferent und insofern harm¬
los. Kann sich der Perverse jedoch nur durch Schädigung anderer
befriedigen, so ist er als Geisteskranker zu behandeln.
Löwenfeld (56) will die Homosexualität nicht als Krankheit
oder Entartung angesehen wissen. Sie ist nach ihm bedingt durch
„die Fixierung der Erinnerung gewisser infantiler oder juveniler
Sexualerlebnisse und die dauernde Exklusivität des durch diese Er¬
innerungen bestimmten Sexualobjektes.“ Unterstützende Faktoren sind
dafür sexuelle Frühreife, weiblicher Typus der Gehimorganisation,
schmerzverursachende Prozeduren. Homosexualität ist eine Anomalie,
in der Mehrzahl der Fälle jedoch eine isolierte psychische Abweichung,
nicht krankhaft degenerativer Natur. Den Prozentsatz der Gleich¬
geschlechtlichen schätzt Löwenfeld niedriger ein als Hirschfeld
(siehe unten).
Sioli (95) sprach sich in der Sitzung des Vereins deutscher Irren¬
ärzte zu Frankfurt 1893 dahin aus, daß die konträre Sexual-
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eropfindang nur in einem Defekt bestehe, herbeigeführt durch
Schwäche der Assoziationsbahnen. Er glaubt, daß die Organ«
empfindung wegen Schwäche im Assoziationssystem frühzeitig ins
Bewußtsein trete, und dadurch Onanie herbeigeführt werde. „Durch
Assoziation wird die Vorstellung des eigenen oder homosexuellen
Körpers mit dem Wollustgefühl verbunden. In weiterer Folge bilden
eich sexuelle Perversitäten. Die bestimmten pervers sexuellen Hand¬
lungen sind nach Sioli begründet durch Schwächung der assoziativen
Denktätigkeit
In der Diskussion erklärte sich Mendel gegen diese Asso-
ziationstbeorie. Nach ihm sind populäre Bücher über Gleichgeschlecht¬
lichkeit mit eine Ursache für diesen perversen Trieb. Er hat die
Beobachtung gemacht, daß nicht ganz Normale dadurch bestärkt
werden.
Wildermuth hält nach seinen Erfahrungen die konträre Sexual¬
empfindung für krankhaft.
Hecker bemerkt, die perverse Sexualempfindung komme da-
dadurch zustande, daß frühzeitig auf Kinder abnorme geschlechtliche
Reize einwirken.
Hofmann (35) unterscheidet eine krankhafte konträre Sexual¬
empfindung und eine nicht krankhafte Päderastie, wie sie infolge von
Unmöglichkeit des Koitus in Internaten usw. getrieben wird. Homo¬
sexualität ist nach ihm eine Art Monomanie mit impulsiven trieb-
artigen Handlungen. Er schildert weiter die oben beschriebenen
ärztlich wichtigen Zeichen für Päderastie. Nach Hof mann hat der
Gerichtsarzt auch die durch Päderastie hervorgerufenen Schädlich¬
keiten zu beachten wie Verletzungen und psychischen Schok des
Päderastierten.
Weygandt (105) nimmt für wenige Fälle von Homosexualität,
nämlich für solche, bei denen schon in früher Jugend Empfindungen
für das gleiche Geschlecht hervortreten, das Angeborensein dieser
Störungen an. Diese Menschen, die infolge ihrer krankhaften Natur¬
anlage sich nicht anders als gleichgeschlechtlich betätigen können,
müssen für ihre Gesetzesverletzung nicht strafrechtlich verantwortlich
gemacht werden. Anders zu beurteilen sind die Individuen, die die
Homosexualität erst erworben haben, vielfach infolge von Onanie und
geschlechtlicher Ausschweifung. Für die Erwerbung der Gleich¬
geschlechtlichkeit führt Weygandt ein recht instruktives Bei¬
spiel an.
Asch affen bürg (2) hält die Homosexualität nicht für eine an¬
geborene Eigenschaft, sondern für erworben auf dem Boden einer
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Über die gerichtsärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe.
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psychopathischen Prädisposition. Der Geschlechtsbetrieb der Homo¬
sexuellen ist meist krankhaft verstärkt. Die Onanie spielt bei der
Geschlechtsverkehrung nicht die Rolle, wie man gewöhnlich glaubt.
Scharf zu unterscheiden ist zwischen Homosexualität und homo¬
sexuellen Handlungen. Der echte Konträrsexuale ist nach Aschaffen-
burg kein verkommener Wüstling, sondern ein bemitleidenswerter
Kranker.
Bloch (6) unterscheidet die echte angeborene Homosexualität,
die kein Laster, aber auch keine Krankheit ist und die Pseudohomo-i
Sexualität, die erworben wird. Für die Entstehung dieser rätselhaften
Gescblechtsverirrung ist die Degeneration höchstens ein begünstigender
Faktor. Die letzte Ursache aller geschlechtlichen Perversionen ist
nach Bloch das Variationsbedürfnis und der Reizhunger, der zu den
schwersten geschlechtlichen Verirrungen führen kann. Eine weitere
Ursache ist die Bestimmbarkeit des Geschlechtstriebes durch äußere
Einflüsse und assoziative Einbeziehung mannigfacher Reize., Ein
weiterer ursächlicher Faktor ist die häufige Wiederholung derselben
geschlechtlichen Verirrung. Der Mensch kann sich nach Bloch an
die verschiedensten geschlechtlichen Verirrungen gewöhnen. Suggestion
und Nachahmungstrieb, Beispiel und Verführung sind hier wichtig.
Soziale Unterschiede hinsichtlich der Häufigkeit sexueller Perversionen
bestehen nach Bloch nicht. Die echten Homosexuellen vergreifen
sich nach seiner Ansicht selten an Kindern.
Siemerling, zitiert nach Schaefer(87) sagt: „Alle Autoren
sind sich darin einig, daß die konträre Sexualempfindung Bich dar-
stellt als eine angeborene, veranlagte Anomalie, die in krankhaften
hereditären Bedingungen ihren Grund findet.“ Ferner: „es ist eine
anerkannte Tatsache, daß wir in sehr vielen, ja den meisten Fällen
anderweitige Erscheinungen des pathologischen Zustandes konstatieren
können. Freilich ist dies nicht immer so ausgesprochen, daß wir von
einer Geisteskrankheit im engeren Sinne sprechen können.“
Hirschfeld (24 bis 32), der bekannte Vorkämpfer für die Gleich¬
berechtigung der Homosexuellen, bestreitet entschieden, daß die Homo¬
sexualität eine Krankheit ist Er sieht sie als eine Art Konstruktions¬
fehler an und hat die sogenannte „Zwischenstufentheorie“ aufgestellt.
Es gibt nach Hirschfeld Geschlechtsübergänge zwischen Mann und
Weib. Beweis dafür sind die Hermaphroditen und Pseudoherm¬
aphroditen. Ebenso wie diese Wesen in der Mitte zwischen Mann und
Weib stehen und durch ihre angeborene fehlerhafte Beschaffenheit
beweisen, daß Übergänge von Mann zu Weib Vorkommen, so auch
die Homosexuellen. Auch sie gehören auf diese Stufe und gleich-
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zeitig ist damit auch für sie bewiesen, daß ihnen ihre Eigenart an¬
geboren ist Nach Hirschfeld ist die Uranlage des Menschen
bisexuell. Es können nun folgende Arten der Entwicklung vor
sich geben.
1. Es entwickeln sich männliche Geschlechtsorgane und der auf
den Mann gerichtete Instinkt verkümmert, es entsteht der normale
Mann.
2. Die Geschlechtsorgane entwickeln sich in männlicher Richtung,
es findet eine Differenzierung der nervösen Sexualteile statt, es ent¬
wickelt sich der bisexuell empfindende Mann.
3. Es entwickeln sich männliche Geschlechtsorgane und Neigungs¬
fasern zum Manne; mit dem Verschwinden der weiblichen Geschlechts-
cbaraktere verkümmert der Trieb zum Weibe.
Diese dritte Stufe ist der Homosexuelle, der Urning. Der ana¬
loge Entwickelungsgang kann beim Weibe stattfinden und es ent¬
steht dann
1. das normale Weib,
2. das bisexuell veranlagte,
3. die weibliche Homosexuelle oder Uminde.
Da die Gleichgeschlechtlichkeit ein Konstruktionsfehler ist, so
kann niemand für diesen Fehler verantwortlich gemacht oder gar be¬
straft werden. Außerdem wird nach Hirschfeld nur in 10 Proz.
aller Fälle von den Homosexuellen eine aktive oder passive Imitation
des Koitus getrieben. 9/10 der Homosexuellen sind nur nach gegen¬
seitiger Manustupration lüstern, nach Umarmung und Kuß des geliebten
Mannes. Die Päderastie verschmähen diese Menschen. Sie werden
auch nur selten Knaben gefährlich; denn der echte Urning liebt das
kraftvoll Männliche. Außer ihrer Geschlechtsrichtung unterscheiden
sich die Urninge in nichts vom normal fühlenden Menschen. Hirsch¬
feld hat durch Umfragen bei Studenten und Metallarbeitern festzu¬
stellen gesucht, wie groß die Zahl der gleichgeschlechtlich fühlenden
Menschen in Deutschland ist. Er schätzt, daß 1—2 Proz. aller
Menschen gleichgeschlechtlich und ca. 4 Proz. bisexuell fühlen. Da¬
nach würden in Deutschland ca. 1200000 Homosexuelle existieren,
in Berlin allein ca. 56000. Mindestens 75 Proz. aller Perversen
stammen seiner Meinung nach von gesunden Eltern ab, 20—25 Proz.
sind erblich belastet, bei 16 Proz. finden sich ausgesprochene Ent¬
artungszeichen. Die Homosexuellen haben nach Hirschfeld in
Berlin ihre gewissen Lokale, sie halten Versammlungen, Teeabende,
Gesellschaften, Bälle usw. ab. Es gibt für sie eine männliche Pro¬
stitution und noch besonders eine Soldatenprostitution. Die „Soldaten-
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Über die gerichtsärztliche Bedentung perverser Geschlechtstriebe. 87
liebe“ soll nach Hirsch fei d in Ländern, wo der mannmännliche
Verkehr nicht unter Strafe steht, einen geringeren Umfang haben,
als in Deutschland.
Ganz kurz sei hier der hannoversche Assesor a. D. Ulrichs er«
wähnt, der unter dem Namen Numa Numantius eine Reihe Streit¬
schriften für Gleichberechtigung der Homosexuellen geschrieben hat,
und von dem die Bezeichnung „Urning“ stammt. Nach Ulrichs hat
der Urning eine weibliche Seele im männlichen Körper. Das erklärt
die andersartige Denk- und Fühl weise dieser Art Menschen. Ulrichs
war selbst ein Homosexueller. Er wurde wegen der eigenartigen
Abfassung seiner Schriften meist nicht ernst genommen.
Römer (84) tritt ebenso wie Hirschfeld für die Gleich¬
berechtigung der Urninge ein und teilt durchweg dessen Ansichten.
Nach ihm kommt Uranismus in mindestens 35 Proz. der Fälle familiär
vor. In uranischen Familien ist nach seiner Ansicht die erbliche Be¬
lastung nicht größer als in anderen.
Es seien hier noch einige die Homosexualität verteidigende
Schriften angeführt, teilweise von Laien stammend und meist ent¬
halten in Hirschfelds „Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen mit
besonderer Berücksichtigung der Homosexualität.“
Mühsam (67) vertritt den Standpunkt, daß die Homosexualität
angeboren ist. Er betrachtet sie als eine biologische Decadence-
Erscheinung und entwickelt folgende Hypothese: Im dekadenten
Menschen kommt die höchste Kultur seines Stammes zum Austrage,
„so daß eine weitere Verpflanzung dieses Stammes, dem eine höhere
geistige Entwicklung ja doch nun versagt ist, nicht mehr wünschens¬
wert ist.“ Mühsam setzt die Homosexualität nicht auf die gleiche
Stufe mit den wirklichen krankhaften Triebverkehrungen wie: Ma¬
sochismus, Sadismus, Fetischismus usw. Er unterscheidet zwischen
verantwortlichem Handeln und unverantwortlichem Trieb. Nach ihm
ist jeder Mensch von vornherein bisexuell und Homosexualität und
Heterosexualität sind neben Bisexualität ererbte Erscheinungen.
Fischer (15) faßt die Homosexualität als eine physiologische
Erscheinung auf und hält sie für ein Korrektionsmittel der Natur
gegen Übervölkerung. Er sagt: „Mir scheint die Homosexualität
eine Selbsthilfe der Natur gegen die Übervölkerung in solchen Ge¬
genden, in denen die Dichtigkeit der Menschen eine solche be¬
fürchten läßt.“
v. Ullrich (102) unterscheidet eine angeborene Homosexualität,
die ein verkehrtes Empfinden darstellt, und eine erworbene, die
Lasterhaftigkeit ist. Er führt die angeborene zurück auf die Frigi-
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dität der Matter, ferner auf zerrüttete Nerven, auf getrennte Erziehung
der Geschlechter. Er meint, die Homosexuellen sind wohl anormal,
aber noch lange nicht krankhaft. Er hält fast die Hälfte der Jüng¬
linge Deutschlands für homosexuell. (1)
Merzbach (57) hält die Homosexualität für angeboren und
jeder Therapie Trotz bietend. Die Gleichgeschlechtlichen sind nach
ihm physiologisch feiner organisierte Menschen als die Hetero¬
sexuellen und stehen zum Teil auf höherer geistiger Stufe als diese,
Päderastie der Homosexuellen bezeichnet er als „Märchen 11 .
Sichtung der Ansichten.
Die* Ansichten der Autoren sind, wie wir sehen, über die gleich¬
geschlechtliche Liebe noch recht geteilt Die einen halten Bie für;
eine Krankheit, die anderen für ein Laster. Die Homosexuellen
selbst erklären sich für ganz gesund und sehen in der Art ihrer
Liebe nur eine Abart der normalen. Die herrschende Meinungs¬
verschiedenheit ist mit darauf zurückzuführen, daß vielfach kein
scharfer Unterschied zwischen gleichgeschlechtlichen Handlungen und
perversem Geschlechtstriebe als solchem gemacht wird. Es ist nach
unserer Ansicht als erwiesen anzusehen, daß es eine originäre Ver¬
kehrung der Geschlechtsempfindung gibt, die sich gleich vom Anfänge
ihrer Betätigung an auf das gleiche Geschlecht richtet. Außerdem
werden aber noch vielfach gleichgeschlechtliche Handlungen verübt,
wie besonders die Päderastie, die mit homosexuellem Fühlen nichts
gemein haben.
Beschäftigen wir uns zunächst einmal mit der echten konträren
Sexualempfindung. In einer kleinen Zahl von Fällen können wir
sie direkt als angeboren ansehen. Den Begriff „angeboren“ möchten
wir in dem Sinne angewandt wissen, wie man von einem Klumpfuß,
einer Hasenscharte oder ähnlichen körperlichen Fehlern als angeboren
spricht. Angeboren ist aber wohl viel häufiger eine psycho- oder
neuropathische Veranlagung oder erbliche Belastung, und auf Grund
dieser wird die Homosexualität erworben. Der echten konträren
Sexualempfindung möchten wir also die Frille zurecbnen, wo diese
Triebverkehrung angeboren oder in früher Jugend erworben wird.
Davon zu trennen sind die auf Grund von geschlechtlicher Aus¬
schweifung oder durch Verführung im späteren Leben entstandenen
Neigungen zu widernatürlichem Geschlechtsverkehr.
In der Mehrzahl der Fälle von konträrer Sexualempfindung
dürfte nach unserer Meinung diese Triebverkehrung auf Grund von
Entartung und erblicher Belastung in früher Jugend erworben sein.
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Ober die gerichtsärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe. 89
Zugegeben wird von vielen Autoren wie Moll, v. Krafft-Ebing,
Eul en bürg, Bio ch, v. Sehr enek-Notzing, Eraepel in, Schmidt¬
mann nnd anderen, daß sich im Anschluß an empfangene oder er¬
teilte körperliche Züchtigungen Begangen des Geschlechtstriebes bei
Kindern einstellen können. Dieser erwachende Trieb kann sich auch
bei den verschiedensten anderen Gelegenheiten äußern, so z. B. beim
Anblicke eines sympathischen Lehrers, eines nackten Körpers, einer
Nachtmütze, eines Bedienten mit praller Beithose, eines Soldaten mit
Lackstiefeln, eines blutenden Fingers usw. Beispiele dafür finden
wir in der Literatur genügend angegeben. Dieser Eindruck bei der
ersten geschlechtlichen Empfindung wird, wie v. Schrenck-Notzing
bemerkt, vom Kinde tief empfunden und unbewußt mit dem Gefühle
der Wollust immer wieder zusammengebracht Auch später empfun¬
denes Wollustgefühl wird von der ersten zufälligen Begebenheit
regelmäßig begleitet. Die Vorstellung wird im kindlichen Gehirn
weiter verarbeitet und durch häufigere Wiederholung vertieft Es
kommt schließlich dahiu, daß die bestimmte Vorstellung allein ge¬
nügt, geschlechtliches Empfinden hervorzurufen. So entsteht allmäh¬
lich Perversion des Geschlechtslebens, die das ganze Wesen des
Menschen in dieser bestimmten Bicbtung hin beeinflußt Ja, sie
äußert sich auch in den nächtlichen Träumen und ruft Traumpollu¬
tionen hervor. Als begünstigende Ursache für das Zustandekommen
der Gleichgeschlechtlichkeit ist wohl die häufige streng getrennte
Erziehung der Geschlechter anzusehen. Es ist da doch zu leicht
möglich, daß die ersten Geschlechtsregungen sich auf das gleiche
Geschlecht beziehen. Wichtig ist dabei auch noch die häufige Ver¬
führung zur einfachen oder zur gegenseitigen Masturbation. Es muß
wohl zugegeben werden, daß die so betriebene Onanie, wie sie unter
Sohülern in Internaten so verbreitet ist, meist im Zeitalter der Ge¬
schlechtsreife unterlassen wird und daß der Trieb zum normalen
Geschlechtsverkehr durchbricht. Daß aber, wie Näcke sagt, Onanie
und Verführung wohl noch nie einen Urning erzeugt haben, möchten
wir doch entschieden bestreiten. Wie oft findet sich in den Selbst¬
biograpbien der Homosexuellen die Tatsache, daß sie von anderen
zur alleinigen oder gegenseitigen Onanie verführt worden sind! So
finden sich allein in v. Krafft-Ebings Schrift „Der Konträrsexuale
vor dem Strafrichter“ unter 50 Fällen, die das Angeborensein der
konträren Sexualempfindung beweisen sollen, 7, bei denen Verführung
durch Urninge oder andere Menschen zur Masturbation vorliegt. Wir
rechnen die Verführung in der Jugend mit zu den „Gelegenheits¬
ursachen“ für Entstehung der echten Homosexualität. Alle diese
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90
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7 Homosexuellen sind erblich belastete Menschen. Wenn wir also
„angeboren“ in dem Sinne einer angeborenen neuropathiscben Be¬
lastung oder psychopathischen Minderwertigkrit gebrauchen, so sind
allerdings auch diese 7 Fälle zu den „angeborenen“ zu rechnen.
Bei den so verschiedenartigen Äußerungen des perversen Ge-
schlechtstriebes ist es nicht recht einzusehen, wie alle diese Ver¬
schiedenheiten in einer angeborenen Naturanlage ihre Erklärung
finden sollten. Warum wird ein Mensch homosexuell, ein anderer
Schuhfetischist, ein dritter Zopfabschneider, ein vierter Liebhaber von
Damenstrümpfen? Die Form der Perversion muß also durch Ge¬
legenheitsursachen bestimmt werden. Nun ist es allerdings nicht
leicht, immer diese Gelegenbeitsursachen später festzustellen. Manche
Perverse geben sie ganz bestimmt an, andere haben sie vergessen.
Und das ist leicht erklärlich. Wieviele Menschen können wohl noch
sagen, bei welcher Gelegenheit ihre ersten geschlechtlichen Regungen
auftraten? v. Schrenck-Notzing hat v. Krafft-Ebings Fälle und die
anderer Autoren auf das „okkasionelle Moment“ hin untersucht und
es in einer ganzen Anzahl feststellen können. Die Bedeutung von
Gelegenheitsursachen für Entwicklung des menschlichen Lebens kann
nicht geleugnet werden. Spielen doch auch in anderer Richtung im
Eindesalter empfangene Reize und Eindrücke eine wichtige Rolle.
Alexander v. Humboldt sagt im „Kosmos“ II. Bd. Einleitung, daß
„oft sinnliche Eindrücke und zufällig scheinende Umstände in jungen
Gemütern die ganze Richtung eines Menschenlebens bestimmen.“
Warum die Gleichgeschlechtlichkeit so viel häufiger ist als die
anderen Äußerungen des perversen Geschlechtstriebes, ist wohl aus
der Häufigkeit gleichgeschlechtlicher Handlungen in der Jugend zu
erklären. Sadismus, Masochismus, Fetischismus können übrigens
auch in Verbindung mit Homosexualität Vorkommen. Wir möchten
dabei nochmals auf die Wichtigkeit der Onanie hin weisen, die zu
allen Verkehrungen des Geschlechtstriebes führen kann. Der „Reiz¬
hunger“, das Bedürfnis nach Veränderung der Geschlechtsbetätigung
ist dabei neben der moralischen Minderwertigkeit, die an sich wie¬
derum durch die Onanie geschaffen wird, der Hauptgrund.
Wir sprachen von neuro- oder psychopathischer Belastung der
Konträrsexualen. Sie findet sich in der Tat in einem großen, wenn
nicht dem größten Prozentsätze dieser Individuen. Das wird zwar
von Römer und anderen, besonders natürlich von den Urningen selbst
bestritten. Jedoch beweisen die vielen Autobiographien der Urninge,
daß sehr häufig erbliche Belastung, wie Ehe unter Blutsverwandten,
Geistes- und Nervenkrankheiten der Eltern oder naher Verwandter,
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Über die gerichteärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe.
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Alkohol, Lues usw. vorliegen. Die erbliche Belastung beweist nun
nicht ohne weiteres, daß wir in den Perversen geistig Kranke zu
sehen haben. Nein, die Verkehrung des Geschlechtstriebes braucht
nicht mit einer Schwäche des Verstandes verbunden zu sein. Wohl
kann sie es, und eine Anzahl der schwer belasteten und entarteten
Urninge sind entschieden Kranke und zeigen auch noch andere An¬
zeichen von Krankheit wie Hysterie, schwere Neurasthenie, selbst
moralischen Schwachsinn. Bei anderen Urningen kann man wohl
von einer Mißbildung oder Anomalie, aber nicht direkt von Krank¬
heit reden. Jedenfalls kann man die isoliert bestehende Homosexua¬
lität nicht zu den eigentlichen Geisteskrankheiten rechnen; denn die
Lehre von den Monomanien wie Klepto-Pyromanie usw. erkennt,
wie gesagt, die moderne Psychiatrie nicht an. Also nur da, wo zur
konträren Sexualerapfindung noch andere pathologische Stigmata
hinzutreten, müssen wir von Krankheiten sprechen. Solche Kenn.
Zeichen der Entartung sind nach v. Krafft-Ebing (45) „Anomalien
der Schädelbildung, abnorme Stellung oder abnorme Größe der Ohren,
ungleiche Entwicklung der Gesichtshälften, Mißwacbs oder fehlerhafte
Stellung der Zähne, abnorm großer oder kleiner Mund, Hasenscharte,
Wolfsrachen, Retinitis pigmentosa, Albinismus, Klumphand und -Fuß,
Anomalien der Genitalien und Behaarung".
Gewöhnlich werden von den Autoren und den Urningen selbst
2 Haupttypen Homosexuelle unterschieden, nämlich die „weiblichen“
oder besser die weibischen und die „männlichen“ Homosexuellen.
Scharf ausgeprägt sind diese Typen jedoch nicht. Beim „weib¬
lichen“ Urning besteht danach von Kindheit an eine Neigung zu
weiblichen Handarbeiten, zu Kochkunst, schöner Literatur, besonders
aber zu weiblicher Tracht. Der Urning verschmäht als Knabe die
Spiele seiner Kameraden, er spielt mit Puppen, hilft der Mutter in
der Küche usw. Später hat er Vorliebe für Kunst, Literatur, Theater,
Musik, liebt Parfüms, Schmuck. Das äußert sich auch in der Berufs¬
wahl. Die Berufe der Verkäufer in Konfektionsgeschäften, Damen¬
schneider, Köche, Kellner, Schauspieler, besonders Damenkomiker
weisen eine ganze Anzahl Konträrsexuale auf. Beim Geschlechtsakte
fühlt sich der „weibliche“ Urning angeblich als der passive Teil, in
der Rolle des Weibes. Ferner soll er oft weiblichen Gang, starke
Entwicklung der Brüste, einen zarten Teint haben, nicht pfeifen
können (Berz (4)), sich immer wärmer anfühlen wie andere Menschen,
seine Beckenbreite soll größer sein als die Schulterbreite, während
das Umgekehrte normal ist, sein Schamgefühl soll besonders dem
eigenen Geschlecht gegenüber ausgesprochen sein usw. Diese für
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Urninge „typischen“ Erscheinungen und Eigenschaften dürften von
den Homosexuellen wohl teilweise allzusehr verallgemeinert sein. Es
entspricht das ganz der Sucht dieser Leute, jeden, der ein oder das
andere „urnische“ Zeichen an sich bat, zum Urning zu stempeln,
ein Bestreben, was Eulenburg als „ekelhafte Urningsschnüffelei“
treffend kennzeichnet. Wieviele Männer gibt es nicht, die großes
Verständnis, oft sogar Kunstfertigkeit in weiblichen Handarbeiten be¬
sitzen! So erwähnt v. Schrenck-Notzing einen Reiteroffizier, der sich
die Überzüge seines Mobiliars selbst gestickt hat und doch durchaus
geschlechtlich normal fühlte. Verfasser hat selbst einen in glücklicher,
kinderreicher Ehe lebenden Vetter, der prachtvolle Stiokereien an¬
gefertigt hat Wieviele Ärzte gibt es wohl, die nicht nur Kochrezepte
wissen, sondern auch praktisch zu kochen verstehen! Alle derartige
Beispiele beweisen, daß man mit den Schlußfolgerungen aus solchen
Eigenschaften und Neigungen vorsichtig sein muß. Als Untergruppen
des „weiblichen“ Urningstypus sind die Effeminierten anzusehen,
deren ganzes psychisches Sein der abnormen Gescblecbtsempfindung
entsprechend geartet ist und schließlich die Androgynen wie v. Krafft-
Ebing sie nennt. Bei den letzteren nähert sich die ganze Körper¬
form, Skelettbau, Fettpolster usw. der des Weibes. Hier haben wir
es wohl unstreitig mit einer angeborenen krankhaften Erscheinung
zu tun; denn wie sich infolge einer Verkehrung der Geschlechts¬
empfindung sogar die sekundären Geschlechtscharaktere des anderen
Geschlechtes einstellen sollen, ist nicht recht einzusehen. Wilhelm,
der einen Fall von Androgynie mitteilt, hält ebenso wie v. Krafft-
Ebing und Näcke die Effeminierten und Androgynen für schwer
Entartete.
Über den „männlichen“ Typus der Urninge ist nicht viel zu
sagen. Bloch ist der Ansicht, daß das Zahlenverhältnis zwischen
„weiblichen“ und „männlichen“ Urningen ungefähr das gleiche ist,
Hirscbfeld schätzt die Zahl der mehr oder weniger weibliches Wesen
zeigenden Urninge höher, ebenso Meisner (zitiert nach Blocb). Der
„männliche“ Urning unterscheidet sich danach in nichts vom nor¬
malen Manne. Geschlechtsteile, Statur, Behaarung, Bart, Stimme
sind völlig die des Mannes. Die seelischen Eigenschaften dieser
Menschen halten nach Bloch „die Mitte ein zwischen der Psyche des
heterosexuellen Mannes und der des Weibes“. Das Gefühlsmäßige
tritt stärker hervor als der Wille, sie sind sanft, aufopfernd, besitzen
auffallende Beweglichkeit der Phantasie, sind träumerisch. Die oft
glänzende, aber einseitige Begabung heben v. Krafft-Ebing, Moll,
Bloch usw. besonders hervor, und die Urninge prahlen mit ihren „ur-
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Über die gerichtsärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe. 93
nischen Größen“. Abgesehen von den Effeminierten und Androgynen
durfte sich wohl kaum eine scharfe Trennung von „männlichen“ und
„weiblichen“ Urningen machen lassen.
Was die Geschlechtsbetätigung der echten Homosexuellen
anbetrifft, so kann diese, wie zugegeben werden muß, infolge des
normwidrigen Triebes im wesentlichen nur eine gleichgeschlechtliche
sein. Eine impotentia coeundi besteht natürlich nicht, wie aber alle
echten Urninge angeben, sind sie dem Weibe gegenüber psychisch
impotent Sofort beim ersten Koitus erleiden sie Fiasko und später
stellt sich ein immer mehr zunehmender Ekel vor dem normalen
Geschlechtsleben ein. In wenigen Fällen berichten diese Leute über
erfolgreiche Beiwohnungen. Meist sind diese nach ihrer Angabe
aber nur möglich, indem sie sieb in der Phantasie männliche geliebte
Personen vorstellen. Außerdem wird durch den Beischlaf nicht nur
keine Befriedigung erzielt, nein die Urninge fühlen sich danach sehr
angegriffen und geschwächt. Manche, zur Gruppe der psychischen
Hermaphroditen gehörende Urninge sind verheiratet und auch Fa¬
milienväter. In den weitaus meisten Fällen ist aber eine solche Ehe
unglücklich und führt oft zur Scheidung.
Der Gescblechtstrieb erwacht gewöhnlich abnorm früh, ist
vielfach sofort auf das gleiche Geschlecht gerichtet und bei manchen
Urningen pathologisch stark ausgeprägt Er beherrscht oft das ganze
Wesen solcher Menschen. Die Betätigung dieses Triebes erfolgt an¬
geblich nur durch gegenseitige Masturbation oder coitus inter femora,
nur in sehr wenigen Fällen soll Päderastie oder immisio penis in os
erstrebt werden. Oft soll sich der Urning nur nach Kuß und Um¬
armung des geliebten Mannes sehnen. Der Geliebte ist entweder ein
anderer Urning, häufig verschmähen die Homosexuellen aber gerade
ihresgleichen und verkehren nur mit Normalen. Wie die Liebe dieser
Menschen oft überschwenglich ist, so ist sie gleichzeitig meist recht
unbeständig und flatterhaft. Sie ist aber manchmal noch insofern
sonderbar, indem sie sich auf Männer aus den niederen Volks¬
schichten erstreckt, wie Fabrikarbeiter, Kutscher, Bediente usw. Be¬
liebt sind auch bei den Perversen die Soldaten und wie Hirschfeld,
Näcke und andere berichten, gibt es eine Soldatenprostitution, die sich
in gewissen Urningslokalen anbietet. Außerdem besteht noch eine aus¬
gedehnte männliche gewerbsmäßige Prostitution, vielfach vergesellschaf¬
tet mit der weiblichen gewerbsmäßigen. Moll berichtet darüber: ihr
gewöhnliches Alter ist zwischen 17 und 30 Jahren, aber auch jüngere
sind darunter. „Es ist skandalös und widerlich zu sehen“, sagt er, was
für unreife Jungen sich diesem elenden Erwerbszweige hingeben“.
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Gewöhnlich sagen die Homosexuellen und ihre Verteidiger wie
z. B. Näcke, „der Mann liebt nicht einen x-beliebigen Mann usw.,
sondern nur einen, der die inneren — oft auch die äußeren — Eigen¬
schaften des anderen Geschlechts an sich trägt,“ oder der Urning
liebt nur einen seinem Wesen entsprechenden normalen Mann. Von
Verführung der Jugend kann keine Rede sein. Mit Soldaten „anzu¬
bandeln tt gilt nach Näcke auch bei den Homosexuellen nicht für
fein. Kurz, die Verführung wird von ihnen in Abrede gestellt. Dem
sei wiederum v. Krafft-Ebings „Der Konträrsexuale vor dem Straf¬
richter“ entgegengehalten. Von 50 Fällen von „angeborener“ Homo¬
sexualität waren 7, wie wir oben sahen, durch Verführung in früher
Jugend entstanden, weitere 8 der angeführten Personen geben an,
daß sie andere Knaben oder Männer zu homosexuellen Handlungen
verführt haben.
Ist es nicht ferner abscheulich, was Tarnowsky über Verführung
und gleichgeschlechtliches Treiben in St. Petersburg erzählt? Servaes,
Meyer v. Schauensee (58) und Kraepelin berichten ebenso über
Verführung, v. Schrenck-Notzing sagt „die künstlich aufgenötigte
Rolle des Weibes führt zur Untergrabung männlicher Tugenden. Will
die Soldatenprostitution denn gar nichts besagen? Beweisen nicht die
jüngst behandelten Prozesse das Gegenteil? Auch hier heißt es also
„Vorsicht“ bei kritischer Prüfung der Angaben der Urninge.
Bei der Begutachtung gleichgeschlechtlicher Handlungen ist für
die gerichtsärztliche Beurteilung wichtig festzustellen, ob wir es mit
echter normwidriger Empfindung zu tun haben oder ob nur lasterhafte
gleichgeschlechtliche Akte vorliegen. Der Gerichtsarzt hat eine genaue
Körper- und Geistesuntersuchung vorzunehmen. Er wird vor allem
nach Entartungszeichen suchen, nach erblicher Belastung und beson¬
ders nach dem Geschlechtsleben des Individuums fragen. Wesentlich
ist er hierbei auf die Angaben seines Klienten angewiesen, er kann
nicht dessen Angehörige befragen. Von vielen Autoren wie Schmidt¬
mann, Hoche, Weygand, Forel, Moll, v. Schrenck-Notzing, v. Krafft-
Ebing und auch von Näcke wird unter Hinweis auf die oft große
Lügenhaftigkeit der Urninge zur Vorsicht bei Beurteilung ihrer Auto¬
biographien gemahnt. Diese Mahnung sollte auch ja beherzigt werden.
Spielt bei den „Bekenntnissen“ der Perversen doch die Lektüre der
„Psychopathia sexualis“ bewußt oder unbewußt eine große Rolle.
Mehr Wert war wohl den Lebensbeschreibungen der Urninge vor 10
bis 20 Jahren zuzumessen als die wissenschaftliche und „schöne“
Literatur über Urningtum noch keinen solchen geradezu beängstigen¬
den Umfang angenommen hatte, wie jetzt Die Krankengeschichten
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Über die gerichtsärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe. 95
von Westphal, Casper, Gock usw. sind unseres Erachtens viel höher
zu bewerten als viele Schriften der Jetztzeit Daß bei diesen Bekennt¬
nissen die Schriften von Numa Numantius suggestiv gewirkt haben
sollten, ist wohl kaum anzunehmen.
Die Zahl der echten Homosexuellen ist recht schwer richtig zu
schätzen. Wie wir oben (S. 86) sahen, meint Hirschfeld, daß 1 bis
2 Proz. aller Menschen homosexuell, ca. 4 Proz. bisexuell fühlen.
Nach anderen Schätzungen, die Hirschfeld mitteilt, bewegt sich die
Zahl der Urninge zwischen 0,1 Proz. und 2 Proz. Ebenso wurde
schon die Art der Feststellung dieser Zahlen erwähnt. Gegen die
Zuverlässigkeit von Hirschfelds Umfrage sprechen sich Bum ke (7)
und auch Groß (31) aus. Sie halten derartige Stichproben nicht für
wissenschaftlich zuverlässig. Bumke meint, die Kontrolle der Richtig¬
keit ließe sich nicht vornehmen. Sicher seien absichtlich falsche An¬
gaben gemacht worden. Außerdem seien gewiß von den Urningen
manche als Gesinnungsgenossen erklärt worden und zwar aus dem¬
selben Prinzip, wie Morphinisten und Alkoholiker viele als gleich-
gesinnt bezeichnen, um damit ihr eigenes Laster zu beschönigen.
Diesen Einwänden von Bumke und Groß kann Verfasser nur zustimmen.
Verfasser studierte gerade zur Zeit von Hirschfelds erster Umfrage in
Berlin und weiß, daß das Rundschreiben unter den Studenten große
Entrüstung erregte. Er weiß auch ganz bestimmt, daß von einer
Reihe von Studenten „aus Scherz“ absichtlich falsche Antworten ge¬
geben worden sind; aus Gleichgültigkeit oder Entrüstung haben viele
gar nicht geantwortet. Ob auf die Rundfrage bei den Metallarbeitern
und auf die von v. Römers in Amsterdam mehr Wert zu legen ist,
sei dahingestellt. Sehr wahrscheinlich ist es jedenfalls, daß sowohl
Hirschfelds als auch v. Römers Zahlen zu hoch sind, da sie in der
Großstadt aufgenommen worden sind. Dahin ziehen sich bekanntlich
die „vereinsamten“ Urninge und finden reichlich Genossen. Fürs platte
Land und für Deutschland überhaupt sind die Zahlen entschieden zu
hoch. Ganz energisch zurückzuweisen ist aber |v. Ullrichs Ansicht,
daß die Hälfte der Jünglinge Deutschlands homosexuell sei.
Wir haben bisher fast stets nur von den männlichen Homosexuellen
gesprochen, da deren gleichgeschlechtliche Handlungen für die gerichts¬
ärztliche Beurteilung im wesentlichen in Betracht kommen. Bezüglich
der weiblichen Perversen können wir uns kurz fassen. Bei ihnen
macht sich oft schon frühzeitig eine Vorliebe für Reiten, Fahren, Pferde,
Knabenspiele bemerkbar, während weibliche Beschäftigung und Hand¬
arbeiten verschmäht werden. Später tragen sie gern Männerkleidung,
rauchen, trinken usw. Als stärker Entartete sind anolog den Effe-
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ruinierten dieViragynen und analog den Androgyneu die Gynandrier
zu erwähnen. Ihre Geschlechtsbetätigung besteht in Umarmung, Kuß,
Betastung der Genitalien, mutueiler Masturbation, cunnilinguus, ge¬
legentlich Gebrauch eines künstlichen männlichen Gliedes. Wie beim
Urning horror feminae besteht, so bei der Urninde horror viri und
unerträglicher Ekel vor dem Koitus. Auch weibliche Homosexuelle
sind gelegentlich verheiratet und Mütter. Meist suchen sie sich aber
in der Ehe möglichst bald ihren Pflichten zu entziehen. Ihre Zahl
ist noch weniger sicher als die der männlichen Homosexuellen. Das
Vorkommen dieses perversen Triebes beim Weibe ist wohl meist als
echte Konträrsexualität anzusehen. Mögen auch Onanie und Gelegen¬
heitsursachen dabei nicht unwesentlich sein, so kann doch bei den
Urninden aus besseren Ständen sicher nicht von Übersättigung und
Variationsbedürfnis die Rede sein. Diese beiden ätiologischen Momente
kommen wohl hauptsächlich bei Prostituierten in Betracht, denen der
Koitus gegen Bezahlung zum Ekel geworden ist. Als weitere Ur¬
sachen für gleichgeschlechtliche Handlungen bei Frauen
kommen Unkenntnis des Koitus, Ekel davor, Angst vor Schwängerung
und Verführung in Frage. Hierbei dürfte es sich wohl meist um
Perversität handeln und nicht um Triebverkehrung.
Betrachten wir nun noch kurz die erworbene Homosexuali¬
tät und die gleichgeschlechtlichen Handlungen. Hierhaben
wir es wohl durchgehend mit Perversität zu tun. Als Ursachen kom¬
men besonders in Betracht früh und häufig getriebene Onanie, ge¬
schlechtliche Ausschweifungen, gelegentlich Angst vor Geschlechts¬
krankheiten und Schwängerung. Der alte Wollüstling, der alle Beize
der normalen Liebe durchgekostet hat, vergreift sich an kleinen Mäd¬
chen oder Knaben und wird aktiver Päderast. Bei ihm wird die
Geschlechtsbefriedigung, wie Ho che sagt, direkt zur „Kaliberfrage“.
Oft sind homosexuelle Akte Zeichen und Vorläufer von Altersblödsinn,
Paralyse usw. und viele derartige Akte geschehen im Alkoholrausch.
Treffend drastisch drückte sich ein Patient Cramers so aus „das
ist so eine Schweinerei, wie man sie in der Trunkenheit macht“.
Häufig sind gleichgeschlechtliche Akte in Gefängnissen, Kasernen,
Pensionaten, Kadettenanstalten und größeren Internaten und auf
Schiffen. Bekannt und berüchtigt ist in dieser Hinsicht besonders die
französische Fremdenlegion. Überall ist es hier der Mangel an
Weibern, der zu den gleichgeschlechtlichen Akten führt. Von echter
Inversion kann wohl dabei nur selten oder nie die Rede sein. Es
bandelt sich hier um geistig ganz gesunde Menschen, die bei passender
Gelegenheit sofort wieder zum normalen Verkehr übergehen. Bei den
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gleichgeschlechtlichen Handlungen, wie sie eben besprochen, kommt
vorwiegend die Päderastie und immissio penis in os in Frage, nur
selten coitus inter femora und gegenseitige Onanie.
Die Annahme, daß Päderastie durch die von uns angeführten
Ursachen erworben ist, bestreitet Hirschfeld, indem er sagt, „ich halte
nach meinen Forschungen die Wüstlingspäderasten für ebensolche
Fabelwesen, wie die Hexen“. Moll erklärt, die Meinung des Er¬
worbenseins der Homosexualität nach vorhergegangenem Wüstlings-
leben sei ein „Märchen“. In ähnlicher Weise spricht sich, wie wir
oben sahen, Näcke aus. Demgegenüber stehen einmal die Ansichten
der meisten Psychiater wie Hoche, Cramer, Schmidtmann, Stra߬
mann und anderen, teilweise beweisen auch hier wieder Kranken¬
geschichten und Autobiographien das Gegenteil.
Gerichtsärztliche Beurteilung.
Nachdem wir im obigen versucht haben, das Wesen und den
Ursprung der perversen Triebe im allgemeinen kennen zu lernen,
wollen wir auf die gerichtsärztliche Beurteilung eingehen. Strafrecht¬
lich kommt für die gleichgeschlechtlichen Handlungen besonders
§175 St. G. B. in Betracht Er lautet: „Die widernatürliche Unzucht»
welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen
mit Tieren begangen wird, ist mit Gefängnis zu bestrafen, auch kann
auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden“. Die Er¬
klärung des Paragraphen besagt „Widernatürliche Unzucht“
begreift nur „beischlafähnliche“ Handlungen (sodomia ratione sexus
und ratione generis: Päderastie, Bestialität), nicht Onanie zwischen
Männern und ist eingeschränkter als der Begriff „unzüchtige Hand¬
lungen“ in den §§ 174, 176 — zwischen Personen, setzt nicht
strafbare Teilnahme des passiven Teils voraus; derselbe kann bewußt¬
los, geisteskrank usw. gewesen sein. Bestialität, Berührung des
Körpers des Tieres mit dem Geschlechtsteil des Menschen (unter bei-
schlafähnüchen Bewegungen) zum Zweck der Befriedigung der Ge¬
schlechtslust (nicht erforderlich Vereinigung der Geschlechtsteile).
Wir sehen, daß nach § 175 die widernatürliche Unzucht zwischen
Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Tieren be¬
straft wird. Letzteres Vergehen, „Bestialität“, wollen wir weiter unten
noch näher besprechen. Der Staat bestraft diese normwidrigen Be¬
tätigungen des Geschlechtstriebes mit Beeht deshalb, weil er ein
großes Interesse an der normalen Ausübung dieses Aktes hat. Einmal
nämlich hängt davon die für das Bestehen des Staates notwendige
Ergänzung und Vermehrung der Bevölkerung ab, und dann sind
Archiv für Kri rninalanthropologie, 84. Bd. 7
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Moral und Sitte Grundpfeiler des Staatswohles und mit Sitte und
Sittlichkeit hängt die Kultur eines Volkes zusammen. Auch von
Gegnern des § 175 wie v. Krafft-Ebing, Salgö, Fuchs (20) und
anderen wird dieses Recht des Staates anerkannt. Außer in Deutsch¬
land wird die widernatürliche Unzucht noch bestraft in Rußland, Bul¬
garien, England, Dänemark, Schottland, Norwegen, Chile, in den Ver¬
einigten Staaten von Nordamerika; in Österreich auch zwischen weib¬
lichen Personen. Straffrei ist der gewöhnliche gleichgeschlechtliche
Verkehr in Frankreich, Italien, Holland, Belgien, Spanien, Portugal,
Luxemburg, in der Schweiz, Türkei, Mexiko, Japan.
Unter der widernatürlichen Unzucht und den „beischlafähnlichen
Handlungen“ ist ursprünglich nur die Päderastie verstanden worden,
also die immissio penis in anum, überhaupt in corpus vivum. In der
Entscheidung vom 15. März 1876 (56) wird dagegen gesagt, daß ein
Eindringen des Gliedes in den Körper der anderen Person unnötig
sei, wenn nur die beischlafähnliche Handlung an dem Körper anderer
Personen vorgenommen werde. Nach der Entscheidung vom 24. Ok¬
tober 1877 muß sich das Analogon des Beischlafs aus der Beschaffen¬
heit des konkreten Falles ergeben. Das Reichsgericht entschied am
23. April 1880 (82), eine immissio seminis sei nicht nötig, es genüge
das Reiben des Gliedes am Körper des anderen. Wurde in früheren
Entscheidungen noch unmittelbare Berührung des männlichen Gliedes
des aktiven Teiles mit dem Körper des anderen verlangt, wozu die
Entblößung notwendige Voraussetzung ist, so ist das Reichsgericht
neuerdings noch zu einer schärferen Auffassung übergegangen, indem
nach einer Reichsgerichtsentscheidung vom 22. Dezember 1904 (82)
der Tatbestand eines Vergehens gegen § 175 darin gefunden wurde,
daß der Angeklagte in 2 Fällen mit seinem entblößten Gliede heftige
stoßende Bewegungen gegen das von der Hose bedeckte Gesäß des
anderen gemacht hatte. Es wird angeführt, das Gesetz fordere nicht,
daß der Körper der zur widernatürlichen Unzucht gebrauchten Person
an derjenigen Stelle entblößt gewesen sein müsse, gegen welche der
Akt vorgenommen worden sei. Das Reiben des Gliedes am Ober¬
schenkel des anderen ist gleichfalls als ein dem Beischlaf ähnlicher
Akt angesehen und nach § 175 für strafbar erklärt worden. Es ist
nicht notwendig, daß zur Anwendung von § 175 Samen entleert wird,
eine strafbare Handlung kann schon vor Erregung des Wollustgefühls
vorhanden sein. Wie wir sahen, kann nur der eine Teil bestraft
werden, wenn bei dem anderen Gründe für Strafausschluß vorhanden
sind. Streng geschieden werden vom Reichsgericht entsprechend der
Entstehung dieser Paragraphen „widernatürliche Unzucht“ und „un-
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Über die gerichtsärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe. 99
züchtige Handlungen“. So ist nach Moll die Entscheidung eines Rich¬
ters, der Manipulationen am Glied nach § 175 bestraft hatte, vom
Reichsgericht aufgehoben worden, weil im betreffenden Falle unzüch¬
tige Handlungen, aber nicht widernatürliche Unzucht vorlag. Die
gegenseitige Onanie zwischen Männern oder die Onanie eines Mannes
durch den anderen ist straflos, wenn nicht durch gleichzeitige Kompli¬
kation der Akt beischlafähnlich wird. Nach Oppenhof (zitiert nach
Moll) sind Umarmungen bei der wechselseitigen Onanie nicht ge¬
nügend, um den Tatbestand des § 175 zu erfüllen; dazu gehört nach
Oppenhof das Reiben des Gliedes an dem Körper des anderen. Das
freiwillige Dulden der widernatürlichen Unzucht seitens eines Mannes
macht diesen gleichfalls strafbar, „selbst wenn dieser Befriedigung
des eigenen Geschlechtstriebes nicht gesucht hat.“ In praxi ist der
Tatbestand des § 175 im konkreten Falle nicht leicht festzustellen.
Einfach liegt die Sache bei immissio membri in corpus vivum;
schwerer in den häufigsten Fällen, wenn das Glied einem Teil des
anderen Körpers angedrückt wird. Die Frage der Strafbarkeit der
Handlung ist davon abhängig, ob Reibungen des Gliedes am Körper
ausgeführt worden sind. Die einfache Aneinanderlegung der Körper
genügt nicht, um die Strafbarkeit herbeizuführen. Finden Bewegungen
des oder der Körper statt, also Reibungen aneinander, so tritt Straf¬
barkeit ein, weil der Akt zu einem „beischlafähnlichen“ wird. Es ist
oft schwer für den Beteiligten zu sagen, ob Bewegungen ausgeführt
worden sind oder nicht. Die Feststellung des Tatbestandes wird also
vor Gericht gelegentlich Schwierigkeiten machen. Für den Gerichts¬
arzt wird es sich darum handeln, den Nachweis passiver oder auch
aktiver Päderastie zu führen. Für Päderastie gibt es, wie wir bei
Tamowsky und Schmidtmann sahen, wenig sichere Zeichen. Lange
betriebene Päderastie braucht gar keine Kennzeichen zu hinterlassen,
weder beim aktiven noch beim passiven Päderasten. Man hat früher
gemeint, daß bei ersterem der penis eine spitze Form annehme, ähn¬
lich wie beim Hunde, das ist aber nicht der Fall. Beim passiven
Päderasten hat man die „trichterförmige Analöffnung“ für besonders
typisch gehalten. Sie kann Vorkommen, charakteristischer ist aber
eher ein schlaffer Schließmuskel, infolgedessen dann der After klafft
Wichtig ist dabei die von Tarnowsky als wesentlich angegebene Unter¬
suchung in Knieellenbogenlage mit Erschlaffung der Hinterbacken.
Verstrichensein der radiären Falten am After dürfte zu beachten sein.
Es kommen ferner gelegentlich periproktitische Abszesse vor, ferner
Wucherungen der Haut des anus und der Schleimhaut des rectum,
sowie Infektion des Rektums mit Gonorrhoe. Dieses spricht beim
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Mann sehr fiir Päderastie, sicher wird diese dnrch ein ulcus molle
oder einen luetischen Primäraffekt am After. Beim frischen
päderastischen Akt kommt besonders in Frage der Nachweis von
Sperma nach Fiorence Barberio oder als Spermatozoen. Es kann sich
am After, im Hemd und auf dem Fußboden finden. Venerische Infek¬
tion kann sich anch bei immissio penis in os und ähnlichen Mani¬
pulationen im Munde finden.
Bei Begehung der gleichgeschlechtlichen Handlungen können aber
anch noch Vergehen gegen andere Paragraphen des Strafgesetzes Vor¬
kommen. Vergreift sich der Mann an Knaben unter 14 Jahren, so
macht er sich nach § 176 3 strafbar; denn dieser Paragraph bestraft
mit Znchthaus and zwar nach Absatz 3 „wer mit Personen unter
14 Jahren unzüchtige Handlungen vornimmt oder dieselben zur Ver¬
übung oder Duldung unzüchtiger Handlungen verleitet“- Handelt es
sich um öffentliche Berührung der männlichen Genitalien, die Homo¬
sexuelle manchmal in öffentlichen Bedürfnisanstalten an anderen vor¬
nehmen, so kann § 183 in Frage kommen. Es liegt dann ebenso
wie bei der Exhibition ein öffentliches Ärgernis vor. Auch § 180
kann zur Anwendung kommen. Dieser Paragraph, der die Kuppelei
bestraft, gilt ebenso für die männliche, wie für die weibliche Pro¬
stitution.
Wir haben bisher nur von der widernatürlichen Unzucht zwischen
Personen männlichen Geschlechts gesprochen. Der § 175 bestraft aber
in gleicher Weise die widernatürliche Unzucht, welche von Menschen
mit Tieren begangen wird. Die Kasuistik über derartige normwidrige
Geschlechtsbefriedigung ist nicht groß. Diese selten zur Kenntnis der
Gerichte gelangenden Vergehen kommen häufiger auf dem Lande vor
und werden von Knechten, Hirten usw. verübt, eben solchen Men¬
schen, die viel oder ausschließlich mit Tieren zu tun haben. Viel¬
fach sind es schwachsinnige Personen, die sich nicht an das andere,
Geschlecht heranwagen und ihre Triebe an Tieren befriedigen. Pferde,
Kühe, Ziegen, Esel, große Hunde, Gänse, Enten, Hühner werden zu
den Akten der Bestialität gebraucht Meist sind es Männer, die aktiv
coitus oder paedicatio an den Tieren vollziehen, seltener handelt es
sich nm Frauen, die sich von Hunden oder Katzen belecken oder be¬
gatten lassen. Nach v. Krafft-Ebing besteht im Volke der Aberglaube,
daß Gonorrhoe durch Sodomie geheilt wird.
Für den Gerichtsaxzt ist für die Beurteilung sodomitischer Ver¬
gehen hauptsächlich wichtig der Nachweis eines solchen. Dieser läßt
sich führen durch Sperma, das sich an den Genitalien der Tiere findet
ferner durch Einrisse, die vielfach beim Geschlechtsmißbrauch an den
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Über die gerichtsärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe. 101
Tieren Vorkommen, dann durch Tierhaare, Federn oder Vogelblut an
den Genitalien des Täters, bei Frauen gelegentlich durch Kratzwunden
an den Oberschenkeln. In vielen Fällen wird der Nachweis sodo-
mitischer Akte mißlingen, am leichtesten wird er sein, wenn der Täter
dabei überrascht wird. Bei der Bestrafung kommt es nach Schmidt¬
mann auf das Geschlecht des Tieres nicht an, es ist gleich, ob der
Akt zwischen Mann oder Weib mit einem männlichen oder weiblichen
Tiere geschieht. Päderastie, cunnilinguus, aktiver oder passiver coitus
werden in gleicher Weise bestraft. Straffrei bleibt nach Wachenfeld
die Unzucht mit einem getöteten Tiere.
Geringer wie die strafrechtliche Bedeutung der sexuellen Perver¬
sionen und Perversitäten ist die zivilrechtliche. Besonders kommen
die perversen Handlungen in Frage bei Anfechtung einer Ehe oder
bei Ehescheidung. Nach § 1565 B. G. B. kann ein Ehegatte auf
Scheidung klagen, wenn der andere sich einer nach § 175 St G. B.
strafbaren Handlung schuldig gemacht hat Die Scheidung ist in
diesem Falle die Folge des strafbaren Aktes. Alle perversen Hand¬
lungen, wie Sadismus, Masochismus, Fetischismus, Exhibitionismus
und Gleichgeschlechtlichkeit können durch den § 1568 B. G. B. ge¬
troffen werden. Danach kann ein Ehegatte auf Scheidung klagen,
wenn der andere Ehegatte durch schwere Verletzung der durch die
Ehe begründeten Pflichten oder durch ehrloses oder unsittliches Ver¬
halten eine so tiefe Zerrüttung des ehelichen Verhältnisses verschuldet
hat, daß dem anderen Ehegatten die Fortsetzung der Ehe nicht zuge¬
mutet werden kann. Jeder perverse Verkehr, auch gegenüber der
Ehefrau, wie coitus in os, aut in anum, kann also unter diesen Para¬
graphen fallen, auch der, der nicht als Ehebruch oder widernatürliche
Unzucht aufgefaßt werden kann. Auch die durch die Perversion
hervorgerufene Impotenz kann eine Scheidungsklage nach § 1568
B. G. B. veranlassen. Die Norm Widrigkeit des Geschlechtstriebes
kann zu einer Anfechtung der Ehe nach § 1333 B. G. B. führen,
indem nach diesem Paragraphen eine Ehe von dem Ehegatten ange-
fochten werden kann, der sich bei der Eheschließung in der Person
des anderen Ehegatten oder über solche persönlichen Eigenschaften
des anderen Ehegatten geirrt hat, die ihn bei Kenntnis der Sachlage
und bei verständiger Würdigung des Wesens der Ehe von der Ein¬
gehung der Ehe abgehalten haben würden. Würde nämlich einer
der Ehegatten von dem perversen Triebe des anderen Kenntnis gehabt
haben, so hätte er aller Wahrscheinlichkeit nach die Ehe mit diesem
nicht eingegangen.
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V. Heinrich Graf
Zurechnungsfähigkeit bei perversen Geschlechtsakten,
a) Ansichten der Autoren.
Unter den durch einen perversen Geschlechtstrieb bedingten Hand¬
lungen kommen oft so abscheuliche und unverständliche vor, daß sich
unwillkürlich die Frage nach Zurechnungsfähigkeit des Täters auf-
drängt. Das gilt sowohl für Sadismus, Masochismus, Fetischismus,
Exhibitionismus, Sodomie, als auch für gleichgeschlechtliche Hand¬
lungen. Werden doch gerade letztere von den Autoren verschieden¬
artig beurteilt. Wir sahen, daß alle Arten von perversen Handlungen
bei geistig Kranken, aber auch bei Gesunden Vorkommen können,
deshalb sind wir der Meinung, daß für alle diese Handlungen eine
einheitliche Beurteilung geübt werden muß. Für Beurteilung von
Strafbarkeit oder Straffreiheit einer Tat gibt uns § 51 St G. B. die
Richtschnur. „Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn
der Täter zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande
von Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit be¬
fand, durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war“.
In den Motiven zum Strafgesetzbuch heißt es nach Gramer (12)
betreffs § 51: „Bei der gewählten Fassung des Paragraphen hat man
zugleich mit den Schlußworten desselben ausdrücken wollen, daß die
Schlußfolgerung selbst, nach welcher die freie Willensbestimmung in
Beziehung auf die Handlung ausgeschlossen war, die Aufgabe des
Richters ist. Also der Arzt hat sein Gutachten abzugeben bezüglich
des Zustandes von Bewußtlosigkeit und krankhafter Störung der
Geistestätigkeit, die Entscheidung über die freie Willensbestimmung
des Täters steht dem Richter zu. Inbezug auf letztere sagt die
Reichsgerichtsentscheidung vom 14. September 1886 (12): „Es genügt
dabei keineswegs die bloße Unfähigkeit zur freien Willensbestimmung
einem Anreize gegenüber, es muß vielmehr die freie Willensbestimmung
durch einen Zustand der Bewußtlosigkeit oder krankhaften Störung
der Geistestätigkeit ausgeschlossen sein.“
v. Schrenck-Notzing führt ungefähr aus: Die Tatsache der
Erkrankung des geschlechtlichen Trieblebens für sich allein macht
das Individuum durchaus noch nicht unverantwortlich. Der Nachweis,
daß der Mensch aus organischer Nötigung, also zwangsartig die be¬
treffende Handlung begeht, und infolge von Gehimanlage unfähig ist,
die nötigen Hemmungsvorstellungen zu bilden, lassen es willensunfrei
erscheinen. Sehr viele Konträrsexuale sind sehr wohl imstande, ihre
Triebe zu beherrschen. Milde, wie z. B. Moll seinen Klienten zuteil
werden läßt, kann höchstens als Freibrief für lasterhafte Handlungen
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Über die gerichtsärztliehe Bedeutung perverser Geschlechtstriebe. 103
mißbraucht werden. Da der § 51 nicht nach angeborener oder er¬
worbener Triebanomalie fragt, sondern danach, ob im Augenblick der
Handlung Störung der Geistestätigkeit bestand, durch welche die
freie Willensbestimmung ausgeschlossen war, so ist nach v. Schrenck-
Notzing zu ermitteln, ob der Mensch auf Grund psychischer Organi¬
sation in der Lage war, rechtliche und sittliche Gegenvorstellungen
zu bilden oder ob diese durch psychische Erkrankung in Verfall
kamen und unwirksam wurden. Es muß der Kausalzusammenhang
zwischen der strafbaren Tat und dem durch krankhafte Störung der
Geistestätigkeit ausgeschlossenen Willen besonders nachgewiesen werden.
Die anomale Stärke des perversen Triebes allein macht nicht straffrei.
Wohl kann der Homosexuelle anomale Triebstärke haben, dann hat
er aber noch die Wahl, sich für eine strafbare beischlafähnliche Hand¬
lung oder für die straflose mutuelle Onanie zu entscheiden. Auch
der normale Mensch ist bei starkem Triebe nicht berechtigt, auf illegalem
Wege Befriedigung zu suchen.
Schaefer meint bezüglich § 51 beim Exhibitionismus, daß zur
Ausschließung der freien Willensbestimmung eine gewisse Erheblich¬
keit der Störung zu verlangen sei. Es sagt: Der Jurist richtet sich
danach, „ob derjenige normale Zustand geistiger Gesundheit vorhanden
ist, dem die Bechtsanschauung des Volkes die strafrechtliche Verant¬
wortung tatsächlich zuschreibt“. An anderer Stelle sagt Schaefer in
bezug auf die Homosexualität: „Mag der Sachverständige sonst
Zeichen von Krankheit finden oder nicht, im Grundsatz sollte festge¬
halten werden, daß ein Mensch, welcher nur momentan seiner Sinne
nicht fähig ist, dessen Ich durch einen Affekt so alteriert ist, daß ein
ganz anderes Bewußtsein an Stelle des eigenen Ich getreten ist, nicht
für zurechnungsfähig gehalten werden kann.“ Und: „Bezüglich der
konträren Sexualempfindung bin ich ... . um so mehr geneigt, ihr,
auch wenn sie als alleiniges pathologisches Symptom in einem ausge¬
sprochenen Falle nur nachweisbar ist, die Kraft zuzuschreiben, die
freie Willensbestimmung aufzuheben“. Schaefer schließt sich hier ganz
der von ihm zitierten gleichen Ansicht von Grashey an.
Moll führt ungefähr aus: Nach § 51 brauchen wir nicht Geistes¬
krankheit, sondern nur krankhafte Störung der Geistestätigkeit oder
Bewußtlosigkeit nachzuweisen. Zwar ist aus der erblichen Belastung
nicht der Schluß zu ziehen, daß der Deszendent an krankhafter Stö¬
rung der Geistestätigkeit im Sinne von § 51 leidet, da aber die Homo¬
sexualität eine Krankheit ist, wird sich auch in den meisten Fällen
eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit nachweisen lassen, wenn
auch nicht jeder krankhafte Geschlechtstrieb strafausschließend wirkt.
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V. Hehtrich Graf
Aber durch krankhafte Störung der Geistestätigkeit ist an sieh noch
kein Strafausscbluß begründet Dazu gehört, wie Moll besonders be¬
tont, der Ausschluß der freien Willensbestimmung. Und von letzterer
kann nicht immer die Bede sein. Viel hängt von der Stärke des
Triebes ab. Um das gerecht zu beurteilen, bedarf es einer genauen
Untersuchung des Angeklagten. Oft wird der Trieb abnorm stark
sein. Man hat da vielfach davon gesprochen, daß hier eine „unwider¬
stehliche Gewalt“ im Sinne von § 52 vorläge, das stimmt aber nicht
§ 52 meint eine physische „unwiderstehliche Gewalt“. § 51 wird
nach dem Grundsätze „in dubio pro reo“ im entsprechenden Falle
zugunsten des Angeklagten anzuwenden sein. Auf jeden Fall ist
nach Moll eine sexuelle Perversion als strafmildernd anzusehen.
Jolly sagt: „Sexuelle Perversitäten an sich mögen sie noch so
sehr durch ihre Absonderlichkeit Verwunderung oder Abscheu erregen,
sind niemals ausreichend, um einen geistig abnormen Zustand im
ganzen zu beweisen“. Nach Jolly ist schwere Neurasthenie geeignet,
die Widerstandskraft herabzusetzen. In einzelnen Fällen ist patho¬
logischer Zwang, wirkliche „Psychopathia sexualis“ anzunehmen.
Aber für die Mehrzahl der Fälle gilt das nicht, § 51 kann also nicht
überall Anwendung finden. Augenblicklich herrscht nach Jolly in
betreff der Beurteilung von homosexuellen Vergehen eine ziemlich
weitgehende Duldung.
Meyer v. Schauensee bemerkt zu 5 51, es komme bei Vor¬
handensein von krankhafter Störung der Geistestätigkeit auf das Vor¬
stellungsvermögen und nicht auf das Willensvermögen an. Nicht der
Drang zur konkreten Tat, sondern die allgemeine Zwangsvorstellung,
unter der der Täter leide, sei das Entscheidende.
Nach v. Erafft-Ebing sind impotentia coeundi und sitdiche
Verkümmerung (dementia senilis) wichtige ursächliche Bedingungen
für das Zustandekommen von Sittlichkeitsdelikten. Vielfach sind dabei
psychopathische Bedingungen ausschlaggebend. Dadurch wird die
Zurechnungsfähigkeit vieler in Frage gestellt. Er sagt: „Die Art des
Deliktes kann niemals an und für sich eine Entscheidung darüber
herbeiführen, ob es sich um einen psychopathischen oder einen in physio¬
logischer Breite des Seelenlebens zustande gekommenen Akt handelt.
Der perverse Akt verbürgt nicht die Perversion der Empfindung.“
Wichtig ist nach v. Krafft-Ebing die Art der Tat sowie ihre Wieder¬
holung trotz Bestrafung; pathologische Bedeutung hat auch die impulsive
Art der Ausführung.
Schmidtmann spricht sich ähnlich aus wie Jolly und v. Krafft-
Ebing, daß Perversitäten bei Gesunden und Kranken Vorkommen.
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Über die gerichtsärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe. 105
„Im letzteren Falle bilden sie Teilerscheinungen einer Psychose oder
Neurose, können unter Umständen das hervortretendste Symptom der
Erkrankung darstellen." Es ist nach Schmidtmann nicht zulässig, aus
der Eigenartigkeit der Befriedigung des Geschlechtstriebes eine Un¬
widerstehlichkeit und Psychopatbia sexualis zu konstruieren. Es ist
kein Beweis für die Unwiderstehlichkeit, wenn jemand seinen perversen
Trieben unterliegt. Die Unwiderstehlichkeit darf nicht aus der Art
der Betätigung, sondern aus den durch Geistes- oder Nervenkrankheit
gesetzten Bedingungen erklärt werden. „Ausschlaggebend für die
Beurteilung ist die nachweisbare krankhafte Grundlage." „Allgemeine
Regeln für die Beurteilung sexueller Perversitäten lassen sich nicht
aufstellen.“ Nach Schmidtmann muß jeder einzelne Fall für sich
betrachtet und untersucht und danach § 51 herangezogen werden. Das
Vorkommen von Geistesstörungen, Epilepsie, Schwachsinn, Imbezillität,
Alkoholismus, trauma capitis ist zu berücksichtigen. Bei Schwach¬
sinnigen ist die Tat oft auf einen plötzlichen Einfall zurückzuführen,
dem triebartig nachgegeben wird. Das Handeln dieser Menschen ist
planlos, Überlegung und Hemmungen fehlen ihnen. Ihre Gelüste
sind triebartig; Rücksicht auf ihre Umgebung besteht nicht. Oft wird
die Tat geleugnet, doch ist dieses Leugnen nicht als Simulation auf¬
zufassen, sondern für die Schwachsinnigen typisch. Sie glauben da¬
durch Strafbefreiung zu erreichen. Schwieriger ist nach Schmidtmann
die Beurteilung bei Schwachsinnigen leichteren Grades, wie bei Neu¬
rasthenikern und Entarteten. Der Jurist ist leicht geneigt, nach der
Schwere des Deliktes die Zurechnungsfähigkeit zu bemessen. Die
Annahme unwiderstehlicher Gewalt anzuerkennen, ist nach Schmidt¬
mann unzulässig. „Die Art der Handlung und ihre gehäufte Wieder¬
holung kann beim Fehlen aller sonstigen krankhaften Momente allein
niemals als Beweis für eine unbezwingliche Gewalt gelten. Dann
müßten wir ja jedem Gewohnheitsverbrecher diese mildernden Umstände
zuteil werden lassen.“
Nach Hoche sind bei der forensischen Beurteilung sexueller
Vergehen die noch normalen großen Verschiedenheiten im Verhalten
des Geschlechtstriebes nicht zu übersehen. Bei den „Disponierten“
liegt wohl nicht erhöhte Triebstärke, sondern erhöhte Reizempfänglich¬
keit des Zentralnervensystems vor. Wird bei Untersuchung des Geistes¬
zustandes der Angeklagten eine Psychose nachgewiesen, so ist ihnen
der Schutz des § 51 sicher. Die „Unwiderstehlichkeit" bei Entarteten
ist ebenso wie besondere Umstände (z. B. Alkoholgenuß) in zweifel¬
haften Fällen zugunsten des Angeklagten zu verwerten. Erbliche
Belastung und infolgedessen herabgesetzte Widerstandsfähigkeit bilden
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V. Heinbich Gkäf
gelegentlich mildernde Umstände. Hoche und Ascbaffenbnrg teilen
den Standpunkt: „Homosexualität allein gehört nicht zu den Zuständen
krankhafter Störung der Geistestätigkeit, durch welche die freie Willens¬
bestimmung ausgeschlossen ist“. Es ist nicht jedem Homosexuellen
der Schutz des § 51 zuzubilligen.
Nach Cr am er ist die praktische Handhabung des § 51 für
psychopathisch minderwertige Individuen oft mit Härten verbunden,
deshalb ist von Autoren wie Jolly, Schaefer, v. Schrenck-Notzing,
Delbrück empfohlen worden, den Begriff der geminderten Zurechnungs¬
fähigkeit einzuführen. Cramer hält die Einführung dieses Begriffes
nicht für vorteilhaft Der Sachverständige hat nach ihm nur danach
zu fragen, „ob ein Zustand von Bewußtlosigkeit oder krankhafter
Störung der Geistestätigkeit zur Zeit der Begehung der strafbaren
Handlung vorhanden war oder nicht“ Es ist für die Anwendung
von § 51 auf alle perversen Triebe der Nachweis der Krankheit
erforderlich. Es muß die krankhafte Basis und der krankhafte Zwang
erwiesen sein.
Vom juristischen Stnndpunkte bespricht Numa Prätorius (80)
die Zurechnungsfähigkeit der Homosexuellen. Er meint, der homo¬
sexuelle Trieb sei nicht ein plötzlich auftretender und eine Zeitlang
wieder verschwindender, „sondern ein mit dem gesamten Wesen der
Person verwachsener, mit der Konstitution aufs engste verknüpfter“.
Der homosexuelle Trieb gibt sich fortgesetzt kund, „er hat daher mit
sonstigen Zwangsideen und Impulsen nicht mehr und nicht weniger
gemein als auch der heterosexuelle Geschlechtstrieb“. „Man muß die Un¬
zurechnungsfähigkeit der Homosexuellen für homosexuelle Handlungen
stets annehmen.“ Der normale Konträrsexuale muß nach Numa Prätorius
selbst schon als krank gelten, seine Widerstandskraft gegen homosexuelle
Reize ist im Verhältnis zum Heterosexuellen äußerst herabgesetzt
Dazu bemerkt Berze in einer Erwiderung: „Nach meiner
Meinung tut der psychiatrische Sachverständige gut, wenn er bei
jedem echten Homosexuellen ohne Ausnahme eine herabgesetzte Wider¬
standskraft gegen homosexuelle Reize annimmt; ob die Widerstands¬
kraft so weit herabgesetzt ist, daß der homosexuelle Reiz zum un¬
widerstehlichen Zwang werden muß, wird natürlich erst in jedem
speziellen Falle zu entscheiden sein“. „Ich möchte annehmen, daß
auch die weitherzigste Gesetzesauslegung nicht imstande wäre, die
Verhältnisse, welche man durch Aufhebung des § 175 herbeiführen
will, heute schon herzustellen.“
Auf dem gleichen Standpunkte wie Numa Prätorius steht nach
Weygandt der Kriminalist Wachenfeld. Auch dieser hält bei kon-
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Über die gerichtsärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe. 107
trärer Sexualempfindung, einerlei ob angeboren oder erworben, den
§ 51 für zulässig. Den,Einwand, es sei unbillig, Wüstlinge freizu¬
sprechen, weist er damit zurück, daß auch verbrecherische Geisteskranke
nicht bestraft werden, die durch eigene Schuld, wie durch delirium
tremens oder Hirnlues erkrankt sind.
Für Straflosigkeit der Homosexuellen treten ferner ein Fuchs,
jedenfalls beim Weibmann; denn er meint, das seien nicht Angehörige
des Geschlechts, dem sie anzugehören schienen. Auch der Jurist
Liszt will die Konträrsexualen nicht für ihre perversen Handlungen
bestraft wissen.
b) Sichtung der Ansichten.
Wir sehen, daß die Ansichten der Autoren über die Zurechnungs¬
fähigkeit bei sexuell perversen Handlungen ebenso verschieden sind,
wie über Entstehung und Beurteilung des perversen Triebes. Bei
Autoren wie Schaefer, Grashey, Fuchs ist die Neigung vorhanden,
den § 175 durch Heranziehung des § 51 für die echte Homosexualität
unwirksam zu machen. Die Juristen Numa Prätorius, Wachenfeld
und Liszt vertreten den gleichen Standpunkt. Wir möchten dieser
viel zu weitherzigen Anwendungsweise des § 51 nicht zustimmen.
Um ein wirklich gerechtes Gutachten über einen wegen wider¬
natürlicher Unzucht, Sadismus usw. Angeklagten abzugeben, ist vor
allem eine genaue Untersuchung eines solchen Menschen erforderlich.
Wir werden nach erblicher Belastung und Entartungszeichen forschen
und durch Eingehen auf das Geschlechtsleben des Angeklagten fest¬
zustellen suchen, ob wir es mit einem Falle krankhafter Verkehrung
der Geschlechtsempfindung oder um Begehung von lasterhaften Hand¬
lungen zu tun haben. Nun fragt allerdings § 51 nicht danach, ob
wir es z. B. mit angeborener oder erworbener Gleichgeschlechtlichkeit
zu tun haben, sondern er will wissen, ob ein Zustand von krank¬
hafter Störung der Geistestätigkeit oder Bewußtlosigkeit vorlag im
Augenblick der Begehung der Tat. Es ist also erforderlich, einen
Kausalzusammenhang zwischen strafbarer Handlung und krankhafter
Störung der Geistestätigkeit nachzuweisen. Haben wir es mit wirk¬
lich angeborener Konträrsexualität zu tun, so können wir wohl ge¬
legentlich von krankhafter Störung der Geistestätigkeit reden. Das
müssen wir sogar tun, wenn wir es bei dieser Perversion oder den
anderen Triebverkehrungen wie Sadismus usw. mit Dementia senilis,
Imbezillität, Idiotie, Schwachsinn, Epilepsie, Alkoholismus, Para¬
lyse usw. zu tun haben. Bei solchen ausgesprochenen Krankheiten
wird § 51 immer zur Anwendung kommen. Schwieriger liegt der
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V. Heinrich Graf
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Fall aber bei der einfachen Neurasthenie und Nervosität, sowie bei
anderen leichten Formen von Entartung. Pie Neurasthenie ist ge¬
eignet, die Widerstandskraft des Individuums gegen starke Beize herab¬
zusetzen. Von einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit oder
Bewußtlosigkeit kann man hier kaum reden, man wird aber bei diesen
Individuen einen milderen Maßstab anlegen. Zustände von Bewußt¬
losigkeit finden wir häufig bei Schwachsinnigen. Bei ihnen treten
die Gelüste oft triebartig auf und beim Fehlen der geordneten Über¬
legung und der Hemmungen des Normalen wird ihnen nacbgegeben.
Sehr oft leugnet der Schwachsinnige die Tat und zwar von dem Ge¬
danken ausgehend, daß er dann nicht bestraft werden kann. Als
Simulation ist das nicht aufzufassen. An Simulation ist allerdings
stets zu denken, wie wir oben bei dem von Kurella und Alzheimer
und mehreren anderen Ärzten begutachteten cand. theol. mit Schuh¬
fetischismus sahen. Auch die Wiederholung einer perversen Handlung
wie beim leicht schwachsinnigen Exhibitionisten, der sofort nach Ent¬
lassung aus dem Gefängnis wieder exhibitioniert, wird den Gedanken
an Bewußtlosigkeit aufkommen lassen. Die Zustände von Kopf¬
schmerzen, Schwindel, Angst mit Schweißausbruch und Herzklopfen,
die Exhibitionisten, manche Homosexuelle und andere Perverse zu
ihren Handlungen veranlassen, sind sicher oft als epileptoide Dämmer¬
zustände und nach § 51 als Zustand von Bewußtlosigkeit aufzufassen.
Jedenfalls wird es für Anwendung von § 51 immer erforderlich sein,
Krankheit, Erheblichkeit der Störung nachzuweisen, infolge deren der
Mensch außerstande ist, Hemmungen zu bilden und dadurch der freien
Willensbestimmung beraubt ist. Sicher liegt in einer Reihe von Fällen
eine wirkliche „Psychopathia sexualis“ vor. Da, wie wir oben sahen,
nicht alle Perversen als krank zu bezeichnen sind, ist auch nicht allen
der Schutz des § 51 zuzubilligen. Vielfach hat man von einer „un¬
widerstehlichen Gewalt“ der perversen Triebe gesprochen. Dieser
Begriff ist medizinisch nicht zulässig. Gegen „unwiderstehliche Ge¬
walt“ spricht einmal die volle Überlegung, mit der viele perverse
Handlungen begangen werden. Ferner gibt es unter den Perversen
Naturen, die hypersexuell und andere, die frigid veranlagt sind. Die
anomale Stärke des Triebes allein macht nicht straffrei. Ein Gesunder
wird seinen, wenn auch starken Geschlechtstrieb beherrschen können.
Darf doch auch der Normale nicht seinem Geschlechtstriebe nach¬
geben, er darf ihn nicht mit Gewalt oder öffentlich ausüben. Würde
also, wie Numa Prätorius und andere es wollen, der Gleichgeschlecht¬
liche für jede seiner normwidrigen Handlungen straffrei sein, so würde
er besser gestellt sein als der Normale. Außerdem hat ja der Kon-
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Über die gerichtsärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe. 109
trärsexuale die Wahl zwischen der straffreien gegenseitigen Onanie
und den strafbaren beischlafähnlichen Handlangen. Und gerade die
gegenseitige Onanie wird durchweg von den Homosexuellen als die
ihnen zusagende Art der Geschlechtsbefriedigung angegeben! All¬
gemeine Vorschläge für die Beurteilung perverser Geschlechtsakte
lassen sich nicht geben; denn es ist ein Unterschied, ob man einen
Lustmord oder eine exhibitionistische oder gleichgeschlechtliche Hand¬
lung zu begutachten hat Man wird von Fall zu Fall nach ein¬
gehender Untersuchung sein Gutachten abzugeben haben. Danach
hat dann der Richter zu entscheiden, ob bei Begebung der Tat die
freie Willensbestimmung ausgeschlossen war. Der Sachverständige
hat also nur den Richter zu beraten und zu unterstützen, das Urteil
steht dem Richter zu.
Bestrebungen zur Aufhebung von § 175.
Durch weitherzigste Auslegung des § 51 suchen einige Autoren,
wie wir oben sahen, die Anwendung des § 175 auf die Homosexuellen
unwirksam zu machen. Es hängt das zusammen mit der seit Jahren
bestehenden Agitation für Aufhebung des § 175. Wir dürfen uns bei
der gerichtsärztlichen Begutachtung nicht dadurch beeinflussen lassen,
sondern müssen auf dem Standpunkte stehen, so lange ein Gesetz in
Kraft ist, es genau zu handhaben. Von gerichtsärztlichem Interesse
ist die Agitation gegen § 175 deshalb, weil sein Bestehen die Züch¬
tung eines Erpressertums als unbeabsichtigte Nebenwirkung zur Folge
gehabt hat, und der Gerichtsarzt in die Lage kommen kann, solche
Erpresser begutachten zu müssen. Wir wollen darum noch kurz auf
die Gründe, die gegen § 175 angeführt werden und ihre Stichhaltig¬
keit eingehen.
Die Gegner des § 175 führen gewöhnlich folgende Gründe an:
I. Medizinische Gründe.
1. Es herrsche wissenschaftliche Einmütigkeit darüber, daß die
Homosexualität eine angeborene Krankhaftigkeit der Geschlechts¬
empfindung sei. Gleichgeschlechtliche Handlungen würden nur von
echten Homosexuellen begangen und zwar aus „krankhafter Nötigung“,
unter einem unwiderstehlichen Zwange. Ihr Unterlassen sei nur mög¬
lich um des Preis körperlichen und seelischen Siechtums.
2. Die;. Zahl der Homosexuellen sei bedeutend größer als man
durchweg annehme, ca. 2 Proz. aller Einwohner Deutschlands fühlten
gleichgeschlechtlich.
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V. Heinrich Graf
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3. Die Geschlechtsbetätigung sei nur in ca. 10 Proz. Päderastie,
in 90 Proz. gegenseitige Onanie.
4. Verführung Normaler, besonders Jugendlicher, sei durch Homo¬
sexuelle nicht zu fürchten.
5. Die Homosexualität sei aus der bisexuellen Uranlage des
Menschen zu erklären.
II. Juristische Gründe.
1. Die Fassung des § 175, der seinerzeit gegen den Wider¬
spruch der preußischen wissenschaftlichen Deputation für das Medizinal¬
wesen zustande gekommen ist, entspreche nicht mehr der modernen
wissenschaftlichen Erkenntnis.
2. Es sei eine Ungerechtigkeit und Inkonsequenz, daß der gleich¬
geschlechtliche Verkehr nur zwischen Männern und nicht auch zwischen
Weibern untereinander bestraft werde.
3. Der § 175 habe sehr geringen praktischen Nutzen, da nur
wenige gegen ihn begangene Handlungen bestraft und die danach
Bestraften nicht gebessert würden.
4. Die Fassung des § 175 sei sehr unklar und ließe dem Er¬
messen des Richters großen Spielraum.
5. Der größte Schaden des § 175 sei die Züchtung eines Er-
pressertums. Werde auch gegen diese Erpresser vorgegangen, so
würden doch manche aus Furcht vor öffentlicher Anklage entweder
wirtschaftlich oder gesellschaftlich vernichtet oder zum Selbstmorde
getrieben. Erfolge auch Freispruch, so sei schon mit der Anklage die
gesellschaftliche Stellung verloren.
6. § 175 widerspreche den Grundsätzen des Rechtsstaates, der
nur da strafe, wo Recht verletzt werde, und bei den im gegenseitigen
Einverständnis begangenen gleichgeschlechtlichen Handlungen werde
kein Recht Dritter verletzt
Als Gründe mehr allgemeiner Art werden gewöhnlich noch an¬
geführt, daß die Urninge unterdrückt würden, die recht brauchbare
Glieder der menschlichen Gesellschaft seien. Es sei ferner nicht er¬
wiesen, daß der Verfall des alten Rom und Griechenland mit durch
Päderastie veranlaßt worden sei.
Gegenüber der Stichhaltigkeit dieser Gründe sei folgendes aus¬
geführt:
I. Medizinische Gründe.
m
ad 1. Wie wir oben sahen, herrscht durchaus keine Einmütigkeit
darüber, daß die Homosexualität eine angeborene Krankheit oder
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Über die gerichtsärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe. 111
Krankhaftigkeit ist Autoren wie Westphal, Gock, Servaes, v. Schrenck-
Notzing, Moll, Eulenburg, Kirn, Scbaefer, Sterz, Wilderrauth, Wilhelm,
Kraepelin, v. Sölder, Fuchs, Jolly, Tamowsky, Forel, Aschaffenburg
sehen die echte konträre Sexualempfindung als krankhaft an. Näcke,
Hirschfeld, Römer, Kautzner, Salgö, Sommer, Loewenfeld, Mühsam,
Ullrichs, Fischer, v. Ulrich, Merzbach, Prätorius, Berze und auch
v. Krafft-Ebing lassen die Gleichgeschlechtlichkeit nicht als krankhaft
gelten. Seydel, Schmidtmann, Hoche, Cramer, Straßmann lassen nur
für wenige Fälle die Bezeichnung krankhaft zu. Bei vielen gleich¬
geschlechtlichen Handlungen kann von Krankheit keine Rede sein
und ebenso wenig davon, daß gleichgeschlechtliche Handlungen nur
von echten Homosexuellen begangen werden. Auch den unwider¬
stehlichen Zwang zur Ausübung perverser Betätigung können wir
nicht für alle Homosexuellen gelten lassen. Es gibt hypersexuelle
und frigide Naturen unter ihnen. Richtig ist, daß der echte Konträr¬
sexuale nur auf gleichgeschlechtlichem Wege Befriedigung findet,
aber es steht ihm ja da die straffreie gegenseitige Onanie mit Gleich¬
gesinnten zur Verfügung.
ad 2. Die Zahl der Urninge in Deutschland wird entschieden
zu hoch angegeben, von ca. 2 Proz. mag vielleicht in der Großstadt,
aber nicht auf dem Lande gesprochen werden.
ad 3. Nicht erwiesen ist es, daß nur in ca. 10 Proz. Päderastie
vorkommt, wäre das der Fall, so würde wohl die männliche Prosti¬
tution in den Großstädten nicht so ausgedehnt sein.
ad 4. Wir haben oben darauf hingewiesen, daß Verführung zur
Homosexualität und auch durch Verübung homosexueller Handlungen
vorkommt. Den Beweis führen viele Gegner des § 175 dadurch, daß
sie ausdrücklich, wie wir unten noch sehen werden, einen Schutz der
Jugend verlangen. Und ist die Verführung von Soldaten wirklich
nicht vorhanden und ist sie nicht eine ernste Gefahr für unser Volk?
Wie Numa Prätorius sagt, besteht sie in Venedig ebenso wie in
Berlin und Kopenhagen. Selbst angenommen, daß die meisten dieser
Soldaten nicht homosexuell würden, demoralisierend wirkt solcher Ver¬
kehr und die oft damit verbundenen Orgien auf jeden Fall.
ad 5. Die Theorie der bisexuellen Anlage des Menschen ist nicht
erwiesen. Auf v. Schrenck-Notzings Gegengründe und die anderer
Antoren ist bereits hingewiesen. Meynert sagt dazu nach Moll:
„Zwischen Mann und Weib besteht der Geschlechtsunterschied nicht
im Gehirn, sondern in den äußeren Genitalien.“ Weygand bemerkt
zur Theorie der bisexuellen Anlage: „Für die spätere sexuelle Funk¬
tion haben jene Anlagen und die ihr entsprechenden Organe keine
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V. Heinbich Graf
Bedeutung, so wenig wie etwa die Embiyonalanlage von Kiemen¬
bogen für die spätere Atemfunktion irgend eine Bedeutung hat
Gerade Zwitterbildung der primären Geschlechtsorgane ist keineswegs
regelmäßig mit perverser oder bisexueller Gescblechtsempfindung ver¬
bunden.“
Die medizinischen Gründe für Aufhebung von § 175 sind also
größtenteils nicht stichhaltig. Als Schatz steht den Homosexuellen
außerdem noch § 51 zur Seite, nach dem sie bei bestehender Krank¬
heit straffrei sind.
II. Juristische Gründe.
ad 1. Richtig ist daß seinerzeit der § 175 gegen den Wider¬
spruch der preußischen wissenschaftlichen Deputation für das Medizinal¬
wesen zustande gekommen ist und daß man damals über konträre
Sexualempfindung noch nicht viel wußte. Deshalb aber den Para¬
graphen ohne weiteres aufzuheben, würde ein großer Fehler sein;
denn es ist, wie auch Salgö und Hoche sagen, etwas ganz anderes,
einen Gesetzesparagraphen überhaupt nicht zu erlassen, als einen be¬
stehenden abzuschaffen. Die Aufhebung des Paragraphen könnte
leicht so aufgefaßt werden, daß die früher straffällige Handlung nun
nicht nur geduldet sondern sogar erwünscht sei. Jedenfalls würde
sie ein Anreiz werden für viele, zügellos ihren perversen Trieben
nachzugehen.
ad 2. In der Bestrafung des gleichgeschlechtlichen Verkehrs
nur zwischen Männern liegt eine gewisse Inkonsequenz. Diese be¬
steht jedoch nicht wenn man auf die ursprüngliche Auffassung vom
Wesen des § 175 zurückgeht Danach verstand man unter wider¬
natürlicher Unzucht nur Päderastie und von dieser kann zwischen
Weibern nicht die Rede sein. Die gegenseitige Onanie zwischen beiden
Geschlechtern ist ja straflos. Liegt nun allerdings darin eine gewisse
Inkonsequenz, so ist der Grund dafür in dem Rechtsbewußtsein des
Volkes zu sehen, das von jeher Päderastie als ein verabscheuungs¬
würdiges Laster und Verbrechen betrachtet hat. Gerade die Empfin¬
dung des Volkes dürfte wohl vielfach den Richter veranlaßt haben,
bei der Häufigkeit gleichgeschlechtlicher Vergehen, dem § 175 eine
etwas weitergehende Auslegung zu geben wie ursprünglich beabsichtigt
ad 3. Richtig ist, daß von der großen Menge jährlich begangener
gleichgeschlechtlicher Handlungen nur wenige gerichtlich bestraft
werden. Das ist jedoch kein Grund, den Nutzen des § 175 überhaupt
zu bestreiten. Wie aus vielen Autobiographien Homosexueller bervor-
geht, bat diese Strafbestimmung einen theoretischen Strafzweck wohl
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Über die gericht9ärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe. 113
erfüllt, nämlich als Abschreckungsmittel zu wirken. Geben diese
Menschen doch an, daß sie sich aus Furcht vor Strafe von der Be¬
gehung perverser Handlungen haben Zurückbalten lassen. Der Ein¬
wand, daß die Strafbestimmungen nicht bessernd wirken, läßt sich
auch für andere Paragraphen machen.
ad 4. Unklare Fassung besteht auch noch für andere Gesetzes¬
paragraphen und es wird eine zweifelhafte Auffassung möglich sein.
Dazu bemerkt Bornträger: „Man wird deswegen aber die Strafbar¬
keit des Betruges, der Untreue, der Beleidigung, des groben Un¬
fugs usw. nicht aufheben, sondern höchstens darnach streben, den Tat¬
begriff möglichst scharf zu fassen.“
ad 5. Richtig ist der Schaden, der vielfach durch das Erpresser-
tum angerichtet wird. Es ist zweifellos, daß schon die Verwicklung
in eine solche Angelegenheit mit Anklage gegen § 175 meist nicht
nur peinlich, sondern für die Betreffenden direkt schädlich sein kann.
Nur zu leicht bleibt ein Makel hängen, besser wäre es also in dieser
Hinsicht, wenn der Paragraph nicht bestände. Aber ist denn das
Erpressertum wirklich nur eine Folge von § 175? Nein, durchaus
nicht. Sowohl in Frankreich wie in Italien, wo es entsprechende
Bestimmungen nicht gibt, ist der Homosexuelle verachtet. Und auch
hier besteht das Erpressertum in gleicher Weise. Ja in Italien ver¬
binden sich damit noch andere Verbrechen. Nach Näcke hat de Blasio
mitgeteilt, „daß von den meisten jungen Langfingern Neapels nicht
weniger als 35 Proz. passive Päderasten sind und zwar — um die
aktiven zu bestehlen.“ Das Erpressertum würde also mit Aufhebung
von § 175 sicher nicht verschwinden. Und außerdem geht man jetzt
immer schärfer gegen solche gewissenlosen Blutsauger vor.
ad 6. Daß bei den im gegenseitigen Einverständnis begangenen
gleichgeschlechtlichen Handlungen an und für sich kein Recht Dritter
verletzt wird, ist wohl zuzugeben. Nicht gesagt ist damit aber, daß
dadurch Straffreiheit begründet ist. Auch der Beischlaf zwischen
Verwandten findet oft im gegenseitigen Einverständnis statt und ist
doch auch strafbar. Ebenso wird derjenige, der eine Person mit
deren Einwilligung getötet hat, gleichfalls bestraft.
Einige juristische Gründe lassen also die Wünsche nach Änderung
der Bestimmungen des § 175 nicht unberechtigt erscheinen. Daraus
aber sofort die restlose Aufhebung des Paragraphen zu fordern, ist
nicht angängig. Erkennt der Staat die homosexuellen Handlungen
als gleichberechtigt an, so schafft er damit gewissermaßen eine zweite
Sorte Staatsbürger. Es ist mit Abschaffung der Strafbestimmung eine
direkte Sanktionierung gleichgeschlechtlichen Verkehrs verbunden.
Archiv für Kriminalanthropologie. 34. Bd. 8
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Die notwendige Folge ist die Anerkennung einer männlichen Prosti¬
tution und die Duldung von Männerbordellen. Diese Konsequenzen
wären der reine Hohn sowohl gegen den Kampf gegen das Erpresser-
tum, der von Homosexuellen und vom Staate in gleicher Weise ge¬
führt wird, wie gegen den Kampf gegen die weibliche Prostitution.
Und eine Gleichwertung mit den Normalen werden die Urninge doch
nicht erreichen. Groß sagt: „Das liegt in der Natur und im Gesetz
von der natürlichen Zuchtwahl: das unnormale, unbrauchbare stößt
ab und wird ausgestoßen.“ „Unterdrückt“ würden die Urninge ge¬
wissermaßen auch nach Aufhebung von § 175 sein. Daß manche
dieser Leute ganz brauchbare Glieder der menschlichen Gesellschaft
sind, soll nicht bestritten werden. Im allgemeinen herrscht aber, wie
wir sahen, unter den Autoren keine hohe Meinung über die Tugenden
und Vorzüge der Homosexuellen.
Ob der Verfall des alten Griechenland und Rom mit durch die
Päderastie veranlaßt worden ist, sei dahin gestellt. Die Bevölkerungs¬
abnahme Frankreichs dürfte auch wohl mehr auf das Zweikinder¬
system als auf Duldung der Päderastie zurückzuführen sein. Dazu
sagt Eulenburg: „Es ist nicht zu leugnen, daß diese Auffassung und
Behandlung der Sache der in geschlechtlichen Dingen von jeher
etwas laxen französischen Volksmoral trefflich entspricht.“ Die Ge¬
fahr der Einschränkung der Volks Vermehrung durch Aufhebung von
§ 175 ist wohl nicht zu fürchten, im Gegenteil ist es vielleicht ganz
gut, daß diese entarteten Menschen, in denen nach Mühsam „die
höchste Kultur ihres Stammes zum Austrag kommt“ keine Nach¬
kommenschaft erzeugen, die vielleicht noch minderwertiger ist Die
Gefahr beruht vielmehr in dem Niedergang von Moral und Sitte
im Volke.
Die Heilung der Homosexualität hat man vielfach erfolgreich
durch Suggestionstherapie erreicht. Vorgeschlagen hat man ferner die
Beseitigung durch Kastration. Dieser Vorschlag von Oliva (79) und
von Meyer (siehe Vortrag von v. Rabow 81) ist wohl deshalb ab¬
zulehnen, weil bekanntlich die libido nicht nur von den Genitalien,
sondern besonders vom Gehirn ausgeht.
Die Gesetzesbestimmungen, die man an Stelle von § 175 setzen
will, laufen im wesentlichen darauf hinaus, daß man die Altersgrenze
nach § 176 3 bezüglich der unzüchtigen Handlungen und nach § 182
bezüglich des Beischlafes an Minderwertigen auf 18 Jahre hinauf¬
setzen will. Ferner sollen nach § 176 1 mit Gewalt begangene un¬
züchtige gleichgeschlechtliche Handlungen bestraft werden. In dem
Sinne sprechen sich v. Krafft • Ebing, Moll, Bloch, Sommer aus.
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Über die gerichtsarztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe. 115
v. Ullrich will nur „bewiesene Verführung und Überredung zur Un¬
sittlichkeit“ bestraft wissen, Liszt nur die gewerbsmäßige männliche
Prostitution. Auf Grund der letzten Prozesse fragt Moll, ob bei Ab.
Schaffung von § 175 nicht besonders die Soldaten gegenüber homo¬
sexuellen Angriffen zu schützen seien. Sommer und Friedlaender
wollen auch noch § 177 auf den mannmännlichen Verkehr ange¬
wandt wissen. Man fordert also einmal restlose Beseitigung von
§ 175 und setzt an dessen Stelle neue Bestimmungen. Ob man glaubt
dadurch mehr zu erreichen? Wir möchten es bezweifeln. Daß der
Paragraph gewisse Härten hat, sei zugegeben. Ihn deswegen auf¬
zuheben, ist im Interesse des Volkswohles nicht zulässig. Als Gegen¬
strömung gegen die maßlose Agitation für Aufhebung von § 175
macht sich auf Grund der jüngsten Vorgänge sogar ein Verlangen
nach Verschärfungen der Strafbestimmungen gegen die widernatür¬
liche Unzucht geltend. Wird sich auch der Staat dazu nicht ver¬
stehen, so darf er im eigenen Interesse nicht an die Abschaffung
von § 175 denken.
Zusammenfassung.
1. Perverse Geschlechtstriebe sind solche, bei denen der nor¬
male Geschlechtsverkehr zwischen Mann und Weib keine Befriedigung
schafft, bei denen nicht die normalen, sondern andere Beize geschlecht¬
liche Gefühle auslösen.
2. Von Arten der perversen Geschlechtsempfindung unterscheiden
wir: Sadismus, Masochismus, Fetischismus, Exhibitionismus, Homo¬
sexualität, Bestialität.
3. Sadismus oder aktive Algolagnie ist der Drang, die Wollust
durch Zufügung von Schmerz zu vergrößern oder durch Grausam¬
keit wollüstige Gefühle hervorzurufen. Dieser Drang wird strafrecht¬
lich wichtig als Akt von Notzucht, Lustmord, Leichenschändung,
Messerstecherei, Züchtigung von Pflegebefohlenen, Tierquälerei. Zivil-
rechtlich kann er durch Mißhandlung der Frau zur Ehescheidung
Anlaß geben.
4. Masochismus oder passive Algolagnie ist der Drang, durch
Erduldung von Schmerz, Demütigung oder Unterwürfigkeit die Wol¬
lust zu steigern oder demütigende Akte an Stelle des Koitus treten
zu lassen. Die gerichtsärztliche Bedeutung ist gering, da es sich um
selbstgewollte Schmerzen handelt. Wichtig werden kann der durch
masochistische Ideen bedingte Mord aus Geschlechtshörigkeit
5. Fetischismus ist die Triebverkehrung, bei der nicht das Weib
als solches anziehend auf den Mann wirkt, sondern nur Teile von
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V. Heinrich Grat
ihm oder Gegenstände seiner Kleidung.' Der Drang nach dem an¬
ziehenden Teile kann so stark werden, daß es zu Diebstahl und Raub
desselben kommt. Haarfetischismus führt öfters zu Abschneiden von
Zöpfen.
6. Exhibitionismus ist die Art der Geschlechtsbefriedigung, die
in öffentlicher Entblößung der Genitalien (beim Weibe in Entblößung
der Brüste) gesucht und gefunden wird. Meist handelt es sich hier¬
bei um Schwachsinnige, Epileptiker usw. Der Exhibitionismus ist als
eine Erregung öffentlichen Ärgernisses strafbar.
7. Die Homosexualität oder konträre Sexualempfindung ist die¬
jenige perverse Empfindung, die sich im gegenseitigen Verkehr von
Männern betätigt und darin ihre Befriedigung findet.
8. Man erklärt die Homosexualität vielfach durchweg als an¬
geboren und auf bisexueller Anlage von peripheren Geschlechtsorganen
und Geschlechtszentrum im Gehirn beruhend; diese Theorie ist ana¬
tomisch nicht bewiesen.
9. Man muß unterscheiden zwischen
a) einer echten Gleichgeschlechtlichkeit und
b) zwischen gleichgeschlechtlichen Handlungen.
10. Die echte Homosexualität kann angeboren und in früher
Jugend durch Gelegenheitsursachen erworben sein. Bei den gleich¬
geschlechtlichen Handlungen handelt es sich durchweg um Laster,
erworben entweder infolge von Onanie oder von geschlechtlichen
Ausschweifungen.
11. Als Bestialität bezeichnet man geschlechtliche Handlungen
zwischen Menschen und Tieren.
12. Der § 175 St.G.B. bestraft die von Männern untereinander und
zwischen Menschen und Tieren vorgenommenen beischlafähnlichen
Handlungen mit Gefängnis.
13. Soweit es sich bei allen diesen Handlungen um nachweisbar
Kranke handelt, steht ihnen der Schutz des § 51 St.G.B. zur Seite.
14. Für Aufhebung von § 175 besteht eine sehr lebhafte Agita¬
tion, die gegen diese Bestimmung eine Reihe medizinischer und
juristischer Gründe ins Feld führt.
15. Diese Gründe sind nur in sehr geringem Maße berechtigt
und lassen es besonders im Interesse der Volkswohlfart nicht zulässig
erscheinen, daß der § 175 St.G.B. aufgehoben wird.
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Über die gerichtsärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe. 117
Literatur.
1) Alzheimer, Ein „geborener Verbrecher“. Archiv für Psychiatrie und
Nervenkrankheiten. 28. Bd., 1896, S. 327.
2) Aschaffenburg, Zur Psychologie der Sittlichkeitsverbrecher. Monats¬
schrift für Kriminalpsychologie usw. 2. Bd., S. 404.
3) Aschaffenburg und Heimberger: „Über die strafrechtliche Be¬
handlung der Homosexuellen“. Vortrag im psychiatrischen Verein der Rheinprovinz
vom 15. Juni 1907 mit Diskussionsbemerkungen. Allgemeine Zeitschrift für
Psychiatrie usw. 35. Bd., 1908, S. 140.
4) Berz Walt Whitman, Ein Charakterbild. Jahrbuch für sexuelle Zwischen¬
stufen 7. Jahrg. 1. Bd., 1905.
5) Berz, Zur Frage der Zurechnungsfähigkeit der Homosexuellen. Monats¬
schrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform. 4. Jahrg., 1907, S. 49.
6) Bloch, Iwan, Das Sexualleben unserer Zeit in seinen Beziehungen zur
modernen Kultur. 1. — 5. Tausend. Berlin 1907.
7) Bumke, Zur Frage der Häufigkeit homosexueller Vergehen. Münch, med.
Wochenschr. 1904, Nr. 52.
8) Casper-Liman-Schmidtmann, Handbuch der gerichtlichen Medizin
9. Auflage. 1. Bd. 1905, 3. Bd. 1906.
9) Colla, 3 Fälle homosexueller Handlungen in Rauschzuständen. Viertel¬
jahresschrift für gerichtliche Medizin und öffentliches Sanitätswesen. 3. Folge Bd. 31,
1906, 1. Heft
10) Cramer, Die Beziehungen des Exhibitionismus zum § 51 des Strafge¬
setzbuches. 32. Versammlung des Vereins der Irrenärzte Niedersachens und West¬
falens. 1. Mai 1897. Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 54. Bd, 1898, S. 481.
11) Cramer, Die konträre Sexualempfindung in ihren Beziehungen zum
§175 des Strafgesetzbuches. Berlin, klin. Wochenschr. 1897, Nr. 43 und 44.
12) Cramer, Gerichtliche Psychiatrie. 3. Auflage, Jena 1903.
13) Donath, Zur Psychopathologie der sexuellen Perversionen. Archiv für
Psychiatrie und Nervenkrankheiten. 40. Bd., 1905, S. 435.
14) Eulenburg, Sexuelle Neuropathie. Leipzig, Vogel 1895.
15) Fischer, Hans, Homosexualität eine physiologische Erscheinung?
Berlin 1903. Referat von Schneickert im Archiv für Kriminalanthropologie und
Kriminalistik 1903, 13. Bd., S. 186.
16) Forel, Die sexuelle Frage, eine naturwissenschaftliche, physiologische
hygienische und soziologische Studie für Gebildete. München 1905.
17) Forel, Sexuelle Ethik. Ein Vortrag. München 1906.
18) Friedlaender, Kritik der neueren Vorschläge zur Abänderung des
§ 175. Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen. 8. Bd., 1906.
' 19) Friedlaender, Schadet die soziale Freigabe des homosexuellen Ver¬
kehrs der kriegerischen Tüchtigkeit der Rasse? Jahrbuch für sexuelle Zwischen¬
stufen, 7. Bd., 1905.
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20) Fuchs, Bemerkungen zur Publikation „Homosexualität und Strafgesetz;
ein Beitrag zur Untersuchung der Reformbedürftigkeit des § 175 Strafgesetz¬
buches von Dr. Friedrich Wachenfeld, Professor der Rechte in Rostock i. ÄL
(Leipzig, Dietrich sehe Verlagsbuchhandlung Theodor Weicher 1901)“. Friedreichs
Blätter für gerichtliche Medizin und Sanitätspolizei 52. Jahrg. 1901, S. 321.
21) Fuchs, Hanns, Sinnen und Lauschen. Briefe an einen Freund. Ein
Beitrag zur Psychologie der Homosexualität. Jahrbuch für sexuelle Zwischen¬
stufen, 7. Jahrg., 1905.
22} Gock, Beitrag zur Kenntnis der konträren Sexualempfindung. Archiv
für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, 5. Bd. 1875, S. 564.
23) G r o s s - Stadtmagistrat Kulmbach, Ein Fall von Leichenschänduug. Archiv
für Kriminalanthropologie und Kriminalistik 1904, 16. Bd., S. 289.
24) Hirschfeld, Berlins 3. Geschlecht. Großstadt-Dokumente. Bd 3. 1904.
25) Hirschfeld, Das Ergebnis der statistischen Untersuchungen über den
Prozentsatz der Homosexuellen. Leipzig, Spohr. 1904. Ref. Groß, Archiv für
Kriminalanthropologie und Kriminalistik. 14. Bd.. 1904, S. 57.
26) Hirschfeld, Gesctilechtsübergänge. Mischungen männlicher und weib¬
licher Geschlechtscharaktere. Sexuelle Zwischenstufen. Leipzig, Spohr. 1905.
27) Hirschfeld, Monatsbericht des Wissenschaftlich-humanitären Komitees
Charlottenburg-Berlin, Berlinerstraße 104. Jahrg. 4—6.
28) Hirschfeld, Vom Wesen der Liebe. Zugleich ein Beitrag zur Lösung
der Frage der Bisexualität. Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, 8. Jahrg. 1906.
29) Hirschfeld, Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen mit besonderer Be¬
rücksichtigung der Homosexualität. 7. Jahrg., 1905.
30) Hirschfeld, Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen mit besonderer Be¬
rücksichtigung der Homosexualität. 8. Jahrg., 1906.
31) Hirschfeld, Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen mit besonderer Be¬
rücksichtigung der Homosexualität. Ref. von Groß. Archiv für Kriminalanthro¬
pologie und Kriminalistik. 14. Bd., 1904, S. 379.
32) Hirschfeld, Zeitschrift für Sexualwissenschaft. Januar 1908, No. 1,
Leipzig, Wigand.
33) Hoche, Handbuch der gerichtlichen Psychiatrie unter Mitwirkung von
Professor Dr. Aschaffenburg, Privatdozent Dr. E. Schultze, Professor Dr. Wollen¬
berg. Berlin 1901.
34) Hoche, Zur Frage der forensischen Beurteilung sexueller Vergehen.
Neurologisches Zentralblatt. 15. Jahrg., 1896, Nr. 2 S. 57.
35) Hof mann, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin. 6. Aufl. Wien und
Leipzig, Urban und Schwarzenberg. 1893.
36) Jahrmärker, Zur Frage der Zurechnungsfähigkeit bei sexuellen Per¬
versitäten. Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform. 4. Jahrg.
1907, S. 122.
37) Jolly, Perverser Sexualtrieb und Sittlichkeitsverbrechen. Gerichtliche
Medizin. 12. Vorträge. Abdruck aus dem klinischen Jahrbuch Jena 1903 S. 199,
herausgegeben vom Zentralkomitee für das ärztliche Fortbildungswesen in
Preußen, in dessen Aufträge redigiert von Professor Dr. Kutner.
38) Katte, Die virilen Homosexuellen. Jahrbuch für sexuelle Zwischen¬
stufen, 7. Jahrg., 1905.
39) Kautzner, Homosexualität. Erläutert an einem einschlägigen Falle.
Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik, 2. Bd., 1899, S. 153.
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Über die gerichtsärztliche Beurteilung perverser Geschlechtstriebe. 119
40) Kirn, Über die klinisch-forensische Bedeutung des perversen Sexual¬
triebes. Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin.
39. Bd., 1883, S. 216.
41) Kölle, Gerichtlich-psychiatrische Gutachten. Stuttgart, Enke, 1896.
42) Kraepelin, Psychiatrie. Leipzig 1896. Ein Lehrbuch für Studierende
und Ärzte.
48) v. Krafft-Ebing, Der Konträrsexuale vor dem Strafrichter. 2. Auf¬
lage, 1895.
44) v. Krafft-Ebing, Drei Konträrsexuale vor Gericht Jahrbücher für
Psychiatrie und Neurologie. 19. Bd., 1900, S. 262.
45) v. Krafft-Ebing, Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie. 2 Auf¬
lage, Stuttgart 1881.
46) v. Krafft-Ebing, Neue Studien auf dem Gebiete der Homosexualität.
Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, 3 Jahrg., 1901.
47) v. Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis. 12. Auflage, Stuttgart, Enke,
1903; 13. vermehrte Auflage, herausgegeben von Dr. Alfred Fuchs, Stuttgart,
Enke, 1907.
48) v. Krafft-Ebing, Über gewisse Anomalien des Geschlechtstriebs und
die klinisch-forensische Verwertung derselben als eines wahrscheinlich funktionellen
Degenerationszeichens des zentralen Nervensystems. Archiv für Psychiatrie und
Nervenkrankheiten, 7. Bd., 1877, S. 291.
49) v. Krafft-Ebing, Zur Ätiologie der konträren Sexualempfindung.
Jahrbücher für Psychiatrie, 12. Bd., 1894, S. 338.
50) v. Krafft-Ebing, Zur „konträren Sexualempfindung“ in klinisch¬
forensischer Hinsicht. Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-ge¬
richtliche Medizin. 38. Jahrg., 1882.
51) Krticzka Freiherr v. Jaden, Ein an Sadismus grenzender Fall. Archiv
für Kriminalanthropologie und Kriminalistik. 14. Jahrg., 1904, S. 23.
52) Kurella, Fetischismus oder Simulation. Archiv für Psychiatrie und
Nervenkrankheiten. 28. Bd., 1896, S. 964.
53) Laupts, Betrachtungen über die Umkehrung des Geschlechtstriebes.
Zeitschrift für Kriminalanthropologie, Gefängniswissenschaft und Prostitutions¬
wesen. 1. Bd., 1897, S. 321.
54) Leppmann, Die Sachverständigen-Tätigkeit bei Seelenstörungen.
Berlin 1890.
55) Lim an, Zweifelhafte Geisteszustände vor Gericht. Berlin, Hirsch¬
wald 1869.
56) Loewenfeld, Homosexualität und Strafgesetz. Wiesbaden, Berg¬
mann 1908.
57) Merzbach, Die Lehre von der Homosexualität als Gemeingut wissen¬
schaftlicher Erkenntnis. Monatsschrift für Harnkrankheiten und sexuelle Hygiene.
1. Jahrg., 1904, Heft 1.
58) Meyer v. Schauensee, Homosexualität oder Kontrasexualität. Monats¬
schrift für Krimmalpsychologie und Strafrechtsreform. 3. Jahrg., 1906, S. 227.
59) Moll, Die konträre Sexualempfindung. Berlin 1891.
60) Moll, Gutachten über einen sexuell Perversen (Besudelungstrieb). Zeit¬
schrift für Medizinal beamte. 1900. 13. Jahrg., S. 409.
61) Moll, Inwieweit ist die Agitation zur Aufhebung des § 175 berechtigt?
Deutsche med. Wochenschr. 1907, S. 1910.
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120
62) Moll, Perverse Sexualempfindung, psychische Impotenz und Ulie.
Krankheiten und Ehe. Herausgegeben von Senator und Kaminer. München.
Lehmann.
63) Moll, Probleme in der Homosexualität. Zeitschrift für Kriminalanthro¬
pologie, Gefängnis Wissenschaft und Prostitutions wesen. 1. Bd. Berlin 1897, S. 157.
64) Moll, Sexuelle Perversionen, Geisteskrankheit und Zurechnungsfähigkeit.
Moderne ärztl. Bibliothek, herausgegeben von Dr. Ferdinand Karewski. 1905, Heft 5.
65) Moll, Untersuchungen über die Libido sexualis. 1. Bd. Berlin, Korn¬
feld. 1898.
66) Moll, Wie erkennen und verständigen sich .die Homosexuellen unter¬
einander? Archiv für Kriminalanthropologie u. Kriminalistik, 9. Bd., 1902, S. 157.
67) Mühsam, Erich, Die Homosexualität. Ref. Schneickert, Archiv für
Kriminalanthropologie und Kriminalistik, 16. Bd., 1904, S. 364.
68) Näcke, Die Homosexualität im Orient. Archiv für Kriminalanthro¬
pologie und Kriminalistik, 16. Bd., 1904, S. 353.
69) Näcke, Ein Besuch bei den Homosexuellen in Berlin. Mit Bemerkungen
über Homosexualität Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik, 15. Bd.,
1904, S. 244.
70) Näcke, Einige psychiatrische Erfahrungen als Stütze für die Lehre
von der* bisexuellen Anlage des Menschen. Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen,
8. Jahrg., 1906.
73) Näcke, Einteilung der Homosexuellen. Allgemeine Zeitschrift für
Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin. 35. Bd., 1. Heft, 1908, S. 109.
72) Näcke, Forensisch-psychiatrisch-physiologische Randglossen zum Pro¬
zesse Dippold, insbesondere über Sadismus. Archiv für Kriminalanthropologie
und Kriminalistik. 1903, 13. Bd., S. 350.
73) Näcke, Häufigkeit der Anomalien der Geschlechtsteile bei Stupratoren
und sexuell Pervertierten. Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik,
16. Bd., 1904, S. 364.
74) Näcke, Höhen und Tiefen der homosexuellen Welt Erwiderung auf
den Aufsatz von Raffalowich, Les groupes uranistes ä Paris et k Berlin. Archiv
für Kriminalanthropologie und Kriminalistik, 18. Bd., 1905, S. 360.
75) Näcke, Homosexuelle Annonce. Archiv für Kriminalanthropologie und
Kriminalistik, 9. Bd., 1902, S. 217.
76) Näcke, Kritisches zum Kapitel der normalen und pathologischen
Sexualität. Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten. 1899, 32. Bd., S. 356.
77) Näcke, Probleme auf dem Gebiete der Homosexualität Allgemeine
Zeitschrift für Psychiatrio und psychisch-gerichtliche Medizin, herausgegeben von
Deutschlands Irrenärzten. 59. Bd., 1902, S. 805.
78) Näcke, Vergleich von Verbrechen und Homosexualität Monatsschrift
für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform. 3. Jahrg., 1906, S. 477.
79) Oliva, Kastration gegen Homosexualität. Ref. Näcke im Archiv für
Kriminalanthropologie und Kriminalistik. 16. Bd., 1904, S. 352.
80) Prätorius, Numa, Zur Frage der Zurechnungsfähigkeit der Homo¬
sexuellen. Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform. 3. Jahrg.,
1906, S. 557.
81) Rabow, Zur Kasuistik der angebprenen konträren Sexualempfindung.
Vortrag in der Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenkrankheiten.
Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, 1884, 15. Bd., S. 288.
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Über die gerichtsärztliche Bedeutung perverser Geschlechtstriebe. 121
82) Reichsgerichtsentscheidungen, siehe „Entscheidungen des Reichs¬
gerichts in Strafsachen“, Jahrg. 1880 und 1904.
88) Reimann, Exhibition eines nicht erweislich Geisteskranken. Zeitschr,
für Medizinalbeamte, 1898, 11. Jahrg., S. 205.
84) Römer, Die erbliche Belastung des Zentralnervensystems bei Uraniem,
geistig gesunden Menschen und Geisteskranken. Jahrbuch für sexuelle Zwischen¬
stufen, 7. Jahrg., 1905.
85) Saig6, Die forensische Bedeutung der sexuellen Perversität Sammlung
zwangloser Abhandlungen aus dem Gebiete der Nerven- und Geisteskrankheiten.
Halle 1907.
86) Schaefer, Determinismus und Zurechnungsfähigkeit mit 3 Gutachten
über Exhibition. Vierteljahresschrift für gerichtliche Medizin und öffentliches
Sanitatswesen. III. Folge, 9. Bd., 1895, S. 99.
87) Schaefer, Über die forensische Bedeutung der konträren Sexual¬
empfindung. Vierteljahresschrift für gerichtliche Medizin und öffentliches Sanitäts¬
wesen. 17. Bd., 1899, S. 289.
88) Schmincke, Ein Fall von konträrer Sexualempfindung. Archiv für
Psychiatrie und Nervenkrankheiten. 3. Bd., 1872, S. 225.
89) v. Schrenck-Notzing, Beiträge zur forensischen Beurteilung von
Sittlichkeitsvergehen mit besonderer Berücksichtigung der Pathogenese psycho-
sexueller Anomalien. Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik. 1. Bd.,
1899, S. 5.
90) v. Schrenck-Notzing, Die Suggestionstherapie bei krankhaften Er¬
scheinungen des Geschlechtssinnes mit besonderer Berücksichtigung der konträren
Sexualempfindung. Stuttgart, Enke, 1892.
91) v. Schrenck-Notzing, Ein Beitrag zur Aetiologie der konträren
Sexualempfindung. Wien, Holder. 1895.
92) Seiffer, Über Exhibitionismus. Archiv für Psychiatrie, 31. Bd., 1899,
S. 405.
93) Servaes, Zur Kenntnis der konträren Sexualempfindung. Archiv für
Psychiatrie und Nervenkrankheiten. 6. Bd., 1876, S. 484.
94) Seydel, Die Beurteilung der perversen Sexual vergehen in foro. Viertel¬
jahresschrift für gerichtliche Medizin und öffentliches Sanitätswesen. DL Folge,
V. Bd., 1893, S. 273.
95) Sioli, Beiträge zur Genese der konträren Sexualempfindung. Nebst
Diskussion. Sitzung des Vereins deutscher Irrenärzte zu Frankfurt a. M. 1893.
Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie, 50. Bd., 1894, S. 378.
96) v. S öl der, Die Bedeutung der Homosexualität nach österreichischem
Strafrecht. Jahrbücher für Psychiatrie u. Neurologie. Leipzig u. Wien 1905, S. 403.
97) Sommer, Kriminalpsychologie und strafrechtliche Psychopathologie auf
naturwissenschaftlicher Grundlage. Leipzig, Barth. 1904.
98) Sterz, Beitrag zur Lehre von der „konträren Sexualempfindung“. Jahr¬
bücher für Psychiatrie. 3. Bd., Wien 1882. S. 221.
99) Straßmann, Kasuistische Beiträge zur Lehre von den epileptischen
Zuständen. Vierteljahresschrift für gerichtliche Medizin und öffentliches Sanitäts¬
wesen. 3. Folge. 9. Bd., 1895, S. 80.
100) Straß mann, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin. Stuttgart, Enke, 1895.
101) Tarnowsky, Die krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinnes.
Berlin 1886. Eine forensisch-psychiatrische Studie.
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102) v. Ullrich, Homosexualität. Die Kritik vom 18. Januar 1898. Ref
Näcke, Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie, 56. Bd., 1898, S. 107.
103) Westphal, Die konträre Sexualempfindung, Symptom eines neuro-
pathisehen (psychopatischen) Zustandes. Archiv für Psychiatrie und Nerven¬
krankheiten. 2. Bd.. 1868, S. 73.
104) Westphal, Zur konträren Sexualempfindung. Archiv für Psychiatrie
und Nervenkrankheiten. 6. Bd., 1876, S 620.
105) Weygandt, Sind die Einwände gegen gesetzliche Bestimmungen be¬
treffs sexueller Anomalie wissenschaftlich haltbar? Münch, med. Wochenschr.
1908, S. 459.
106) Wilhelm, Ein Fall von Homosexualität (Androgynie). Archiv für
Kriminalanthropologie und Kriminalistik. 14. Bd., 1904, S. 57.
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VI.
Befangenheit als Verdachtsgrund.
Von
Privatdozent Dr. jur. et pbil. Hans Reichel in Leipzig.
Die experimentelle Psychologie ist eifrig am Werke, Methoden
ausznbilden, mittels deren man die Affektbetontheit gewisser Vor¬
stellungen konstatieren oder gar messen kann. Zu nennen wären
etwa *) die Verwendung des Pulszählers, Breuer - Freuds Psycho¬
analyse 2 ), neuestens die Versuche Veraguths, betreffend den psycho-
galvanischen Reflex 3 ).
Man hat nun angeregt, diese Methoden auch im Strafverfahren
für die Feststellung der Schuld oder Nichtschuld Verdächtiger nutz¬
bar zu machen. Die Erwägung, von der hierbei ausgegangen wird,
ist folgende. Ist der Verdächtigte der Täter, so werden die mit dem
Verbrechenstatbestand verknüpften Vorstellungen eine relativ starke
Affektbetontheit auf weisen; ist er dagegen unschuldig, so werden diese
Reaktionen ausbleiben.
Wäre diese Deduktion zutreffend, so wäre in der Tat die Hoff¬
nung berechtigt, daß wir in den erwähnten Untersuchungsmethoden
demnächst einen wahren Zauberschlüssel für die Erforschung des sub¬
jektiven Tatbestandes besitzen würden. Indes jene zuversichtliche
Schlußfolgerung ist denn doch in ihrer Allgemeinheit nicht aufrecht
zu erhalten. Folgende Bedenken nämlich stellen sich ihr entgegen:
ll Nicht hierher gehört die Wcrtheimer-KIeinsche Methode der Assoziations¬
werte (Max Wertheimer und Julius Klein, Psychologische Tatbestandsdiagno¬
stik; dieselben in H. Groß’ Archiv 14, 72, Alfr. Groß in demselben Archiv
19, 49 und in der Beil. z. Allg. Zeitung 1906 III. Quartal S. 339, Grabowski
in derselben Beilage 1905 IY. Quartal ö. 497). Denn diese befaßt sich nicht lnit
der Aff ektbetontheit, vielmehr mit der assoziativen Verknüpftheit ge¬
wisser Vorstellungen. Ob es angängig und empfehlsam sei, diese Methode für
den Strafprozeß nutzbar zu machen, mag hier dahingestellt bleiben; vgl. darüber
Alfred Groß in ZSchr. f. d. ges. StrafRWss. 26, 34, Grabowski a. a. 0.
2) Freud, Drei Studien zur Sexualtheorie; derselbe in Groß’ Archiv 26, 1;
Friedmann in der Beil, der Münchener Neuesten Nachrichten 1909 I. Quartal
Nr. 17 S. 139.
3) Allgemeine Zeitung (München) vom 28. Nov. 1908 S. 748.
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124
VI. Hans Reichel
1) Fehlen der Affektbetontheit läßt keinen sicheren Schluß auf
die Nichttäterschaft zu. Denn es ist kein allgemein gültiges Ge¬
setz, daß jeder Täter eines Verbrechens, wenn um die Straftat befragt,
hierdurch affektiv erregt werden müßte.
2) Vorhandensein der Affektbetontheit gestattet keinen sicheren
Schluß auf die Täterschaft. Denn die Feststellung der Affekt¬
betontheit der auf dem Verbrechenstatbestand bezüglichen Vorstellungen
sagt nichts aus über Grund und Natur des Affekts. Der Affekt
kann nicht nur hervorgerufen sein durch die Erinnerung der selbst
verübten Tat und die Furcht, mit Recht als der Täter entlarvt zu
werden; er kann ebensowohl erzeugt sein durch die Scham, mit Un¬
recht verdächtigt zu sein oder die Furcht, bestraft zu werden wegen
einer nicht begangenen Tat. Die Tatsache der Affektbetontheit für
sich allein ist hiernach kein eindeutiges Indiz. Erst bei Kenntnis
von Art und Grund des Affektes dürften wir Schlüsse ziehen auf
Schuld oder Unschuld der Versuchsperson.
Die hier ausgesprochenen Sätze werden durch die kriminalistische
und sonstige Erfahrung Tag für Tag bestätigt. Es ist zwar eine
Binsenwahrheit, daß der leugnende Täter sich nicht selten durch un¬
freies, scheues, auch wohl vordringlich-affektiertes Betragen bemerkbar
macht, und daß hierbei sogar physiologische Beflexe, wie Erröten,
Erblassen eine Rolle spielen können. Nicht minder allgemein bekannt
aber ist andererseits die Tatsache, daß dieser Satz von so vielen
Ausnahmen durchlöchert ist, daß man ihm nicht einmal empirische
Allgemeinheit zusprechen kann 1 )- Es geschieht nicht nur tagtäglich,
daß abgebrühte Gauner, obschon der Tat längst überführt, ohne
Wimperzucken bei ihrem Leugnen beharren; sondern es kommtauch
umgekehrt nicht selten vor, daß Unschuldige, über Tat und Täter¬
schaft befragt, in die größte Verlegenheit und Verwirrung geraten bei
dem bloßen Gedanken daran, man könne sie der Täterschaft für fähig
halten. Es zeugt daher von Anfängertum, wenn hier und da krimi¬
nalistische Heißsporne aus der Tatsache, daß ein Verdächtigter sich
„auffallend“ benommen (gestottert, geschlottert, die Farbe gewechselt)
habe, kurzerhand einen Vermutungsschluß auf seine Schuld glauben
ziehen zu können.
Ich vergesse nie den inquisitorischen Vorgang, der sich in der
Unterprima unseres Berliner Gymnasiums zutrug, nachdem mein
Klassenkamerad M. mutwillig eine Fensterjalousie des Klassenzimmers
1) Vergl. Hans Groß, Kriminalpsychologie 2. Aufl. S. 59 ff.
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Befangenheit als Verdachtsgrund.
125
zerbrochen hatte. Unser Klassenlehrer, der sich auf seine Menschen¬
kenntnis viel zugute tat, glaubte den Schuldigen mit Sicherheit er¬
mitteln zu können, indem er jeden von uns (wir waren 60) einzeln
aufstehen und langsam die Worte hersagen ließ: „Ich habe die
Jalousie nicht zerbrochen“, wobei er den Betreffenden mit einem,
wie er glaubte, durchbohrenden Blick fixierte. Wir alle sagten unseren
Satz her; am kaltblütigsten tat dies M. selbst. Es hätte nur gefehlt,
daß irgend ein von Natur schüchterner und durch Maßregelungen
vollends verschüchterter Schüler der letzten Bank bei dem Aufsagen
der Worte oder bei der Erwiderung des ihn treffenden Blickes ein
wenig uusicher gewesen wäre: ich bin überzeugt, er wäre von dem
Schulmanne für den Missetäter gehalten worden, und das „Schul¬
beispiel“ wäre fertig.
Im Zusammenhänge hiermit sei mir gestattet, aus meiner Kuriosen-
mappe einen Fall mitzuteilen, der im Mai 1902 durch die Presse ging.
Eine Berliner Tageszeitung berichtete damals wörtlich was folgt: „Ein
Jurist und Kriminalist, der als scharfer Denker geachtet ist, betrat
vor einigen Tagen den Laden eines Vermischtwarenhändlers in Wien.
Er wollte ein 10 Kronen-Goldstück wechseln lassen und machte des¬
halb einen einige Heller betragenden Einkauf. Außer dem Geschäfts¬
inhaber befand sich noch eine Kundin in dem kleinen Laden, ein
Fabrikmädchen. Als der Jurist das Goldstück überreichen wollte,
streckte gerade das Fabrikmädchen in irgend einer Absicht ihren
Arm aus, der dadurch mit der Hand des Juristen in Berührung kam.
Das Goldstück entglitt seinen Fingern, fiel zu Boden und bückte er
sich, um es zu suchen. Aber auch das Mädchen hatte sich sofort
auf den Boden gekniet, suchte einen Augenblick, erhob sich dann
rasch und sprach: „Ich find 7 nichts, übrigens hab’ ich auch nichts
fallen gehört“. Nach diesen Worten verließ sie auffallend rasch den
Laden. Der Verlustträger suchte weiter, der Geschäftsinhaber kehrte
mit einem Besen den Staub auf dem Fußboden zusammen, das Gold¬
stück kam jedoch nicht zum Vorschein. „Das ist doch merkwürdig“,
meinte der Jurist, in welchem der Kriminalist erwachte, „weshalb hat
sich die Frauensperson am Suchen beteiligt, weshalb diese verdäch¬
tige Entschuldigung, daß sie nichts fallen gehört hat und weshalb
dieses rasche Davongehen?“ Der Geschäftsführer zuckte die Achseln
und meinte: „Näher kenne ich sie nicht, sie ist gegenüber in der
Glühlampenfabrik beschäftigt“. Der Jurist war ein energischer Mann,
so leicht wollte er sich nicht bestehlen lassen, auch interessierte ihn
der Fall von der kriminalistischen Seite. Rasch entschlossen, begab
er sich zu dem Direktor der gegenüber befindlichen Fabrik und
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126
VI. Hans Reichel
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erzählte ihm den Hergang der Sache. Der Direktor meinte: „Frei¬
lich ist die Sache höchst verdächtig, aber wenn man keine Beweise
hat .... Soll ich das Mädchen entlassen?“ — „Das wohl nicht,“
erwiderte der Besucher; „mir genügt es, zu wissen, ob sie die
Schuldige ist, und darüber könnte man weitere Anhaltspunkte ge¬
winnen, wenn Ste sie sofort rufen lassen. Wir werden sehen, wie
sie sich benimmt.“ Der Direktor klingelte und ordnete an, daß die
betreffende Arbeiterin in das Comptoir komme. Kaum war die Be¬
schuldigte erschienen und des Juristen ansichtig geworden, als sie
totenbleich wurde, am ganzen Körper zu zittern begann und ausrief:
„Ich hab’ nichts gefunden!“ Für den Juristen gab es nun keinen
Zweifel mehr. Diese Angst, diese Beteuerung der Un¬
schuld, noch be*vor das Mädchen beschuldigt wurde,
sprach klar für die Schuld. „Also, Sie bleiben dabei,“ sagte
er strenge, „das 10-Kronenstück nicht genommen zu haben?“ Ein
Tränenstrom brach aus den Augen des Mädchens: „So wahr mir
Gott helfe, ich hab J nichts gefunden.“ Der Jurist erwiderte: „Machen
Sie das mit Ihrem Gewissen ab,“ empfahl sich dem Direktor und
verließ mit der Überzeugung das Comptoir, daß jeder Richter diese
Person auf Grund des vorhandenen Indizienbeweises verurteilen würde.
Als der Jurist die Straße betrat, kam eiligst der Vermischtwaren-
händler auf ihn zu: „Gnä’ Herr, das Goldstückl is schon da, es war
im Erdäpfelsack!“ Und er überreichte ihm das Geld. Augenblicklich
ging der Jurist wieder zu dem Direktor, bat vor diesem die Arbeiterin
mit bewegten Worten um Verzeihung und übergab ihr das Goldstück
als Geschenk.“
Dieser höchst lehrreiche Vorfall zeigt auf das Deutlichste, wie
vorsichtig man in der Verwertung nicht nur von objektiven, sondern
auch von subjektiven Verdachtsmomenten sein muß, und welch proble¬
matischen Wert insbesondere das Erröten und andere Verlegenheits¬
symptome in der Person des Beschuldigten besitzen. Es ist psycho¬
logischer Dilettantismus, zu glauben, die sich kundgebende Befangen¬
heit und Betroffenheit sei ein eindeutiges Symptom, welches nur den
einen Schluß zulasse, der Befangene fühle sich als Schuldiger. Die
Befangenheit kann vielmehr ebensowohl auch darauf beruhen, daß
der Befangene sich als Verdächtigter, und zwar unschuldig
Verdächtigter fühlt.
Nach alledem begrüße ich es mit Sympathie, daß nicht allein
Juristen vom formaljuristischem (prozeßrechtlichen •), sondern auch
1) Diese Bedenken würden sieh überwinden lassen.
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Befangenheit als Verdachtsgrund.
127
Psychologen und Psychopathologen vom Standpunkte ihrer Wissen¬
schaft aus gegen eine kritiklose und vorschnelle Ausschlachtung der
oben erwähnten Untersuchungsmethoden für die Zwecke des Straf¬
prozesses ihr Veto einlegen 1 ).
1) Vergl. Veraguth und Freud a. a. 0. Die Begründung ist die gleiche
wie die des Textes. Freud macht noch darauf aufmerksam, daß der Ver¬
dächtigte recht wohl ein schlechtes Gewissen haben kann (nämlich wegen einer
anderen Missetat), ohne doch deswegen gerade der jetzt in Frage stehenden
Tat schuldig zu sein (Archiv 26, 9).
t
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VII.
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Ein Gedicht in Rotwälsch
von Hoffmann von Pallorsleben (Leipzig 1843).
Mitgeteilt von
Dr. Jos. B. Holsinger, Hof- und Gerichtsadvokat in Graz.
1 .
Funkert her, hier laßt uns hocken,
Hol der Ganhart das Geschwenz!
Auf dem Terich ist’s ja trocken,
Wie am Glatthart in der Schrenz.
2 .
Und kein Laubfrosch soll uns merken,
Wenn den Mackum wir beziehen.
Kann der Billret uns erferken,
Und der Terich sein ein Quien?
3.
Nerrgescherr, ihr Gleicher alle!
Dippet was ihr habt erfetzt
Im Polender, in der Galle,
Alles brisst dem Erlat jetzt!
4.
Wie der Fluckart freut sich grandig
Auch der Gleicher allerwärts,
Jeder Strombart ist sein Kandig
Und sein Windfang ist die Schwärz.
5.
Jeder dippe jetzt das Seine!
Betzam, Lechem brisst herbei,
Regenwürme groß und kleine,
Jo die ganze Fünkelei!
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Ein Gedicht in Rotwelsch von Hoffmann von Fallersleben.
129
6 .
Keris her! jetzt laßt uns schwadern
Um den Funkert in der Schwärz!
Keris ströme durch die Adern
Und voll Keris sei das Herz!
Keris her! und laßt sie schlafen,
Schreiling, Müssen, Sonz und Hauz!
Keris her! wir wollen bafen,
Weckt uns doch kein Holderkauz!
W orterklärungen.
1. Funkert, Feuer, hocken, liegen. Ganhart, Teufel. Geschwenz. Umherlaufen.
Terich (Terra) Land, Erdboden. Glatthart, Tisch. Schrenz, Stube.
2. Laubfrosch, Jäger. Mackum, Ort, Stelle. Billret, Baum, erferken, aus¬
schwatzen, verraten. Quien, Hund.
3. Nerrgescherr! guten Abend, Gleicher, Kamerad, dippen, geben, erfetzen,
erarbeiten, erwerben. Polender, Burg. Galle, Stadt, brissen, zutragen.
Erlat, Meister.
4. Fluckart, Vogel, grandig, sehr. Strombart, Wald. Kandig, Haus. Wind¬
fang, Mantel, die Schwärz, Nacht.
5. Betzam, Eier. Lechen, Brot. Regenwurm, Wurst. Fünkelei, Küche.
6. Keris, Wein, schwadern, saufen, strömen, hin- und her fahren, durchstreifen.
7. Schreiling, junges Kind. Muße, Weib. Sonz, Sonzer Edelmann. Hauz, Bauer;
Hauz und Hans Hache häufig Spottnamen der Bauern in Schriften des XVI. Jahrh.
bafen, tüchtig zechen. Holderkauz, Hahn.
Archiv für Kriminalanthropologie. 34. Bd.
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VIII.
Beiträge
zum Auslieferungsrecht und Auslieferungsverfahren.
Von
Prof. Dr. Bosenblatt in Krakau.
Das ausgezeichnete Werk von Lammasch über Auslieferungs-
pflicht nnd Asylrecht (Leipzig 1887) ist zn einem Handbnch für alle
Entscheidungen über Anslieferungsfragen geworden nnd so oft eine
Anslieferungsfrage auftaucht, wird bei Lammasch Auskunft nnd Be¬
lehrung gesucht
Seit dem Erscheinen dieses Werkes sind aber im Auslieferungs¬
recht so manche neue Fragen aufgetaucbt und so manche alte Fragen
in einem anderen Lichte erschienen, daß es nicht überflüssig scheint,
einige dieser in neuester Zeit aufgetauchten Auslieferungsfragen zu
besprechen und den Versuch zu unternehmen, zu deren Lösung bei¬
zutragen. Insbesondere haben sich zufolge der allgemein bekannten
Zustände in Rußland die Fälle, daß in Rußland strafgerichtlich ver¬
folgte Individuen nach Österreich (Galizien) flüchteten und daß deren
Auslieferung von unseren Gerichten verlangt wurde, sehr stark ver¬
mehrt. Daraus ergab sich eine ganze Reihe von Auslieferungsfragen,
welche bis nun entweder gar nicht oder nicht grundsätzlich entschieden
worden sind. Die Folge dessen war eine gewisse Unsicherheit in
der Praxis des Auslieferungsverfahrens, welche dazu führte, daß sogar
beschlossene Auslieferungen rückgängig gemacht wurden und die
Gerichte für ihre Entscheidungen keine sichere Grundlage mehr hatten.
Die Fragen, in denen sich prinzipielle Meinungsverschiedenheiten
ergaben, betreffen zum Teil das materielle Auslieferungsrecht und
zum Teil das Auslieferungsverfahren und sind es insbesondere fol¬
gende, welche eine Klarstellung und Lösung erfordern.
I. Unter welchen Voraussetzungen darf überhaupt die Auslieferung
bewilligt werden?
II. Welchen Einfluß hat eine Geisteskrankheit des Auszuliefernden
auf die Auslieferung?
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Beitrage zum Auslieferungsrecht und Auslieferungsverfahren.
131
III. Welche Voraussetzungen haben die inländischen Behörden
(Gerichte) selbständig zu prüfen und betr. welcher sind sie an den
Inhalt des Auslieferungsantrages resp. die Feststellungen eines Aktes
des die Auslieferung begehrenden Staates (Haftbefehl, Anklageakt,
Urteil) gebunden?
IV. Staatszugehörigkeit (Nationalität) und forum delicti commisi
im Auslieferungsrecht.
V. Können Personen ausgeliefert werden, welche zur Zeit der
Begehung der strafbaren Handlung Ausländer waren, zur Zeit des
Auslieferungsbegehrens aber bereits die österreichische Staatsbürger¬
schaft erworben haben?
VI. Kann im Falle der Ablehnung des Auslieferungsbegehrens
der Beschuldigte wegen des dem Auslieferungsantrage zugrunde
liegenden Deliktes im Inlande verfolgt werden?
VII. Darf der Ausgelieferte im Heimatstaate (Österreich) wegen
Verbrechen verfolgt werden, welche nicht Gegenstand der Auslieferung
waren?
VIII. Muß gegen den beschuldigten Ausländer, ‘der eventuell aus¬
geliefert werden soll, die Haft verhängt werden?
IX. Ist das Justizministerium an den die Auslieferung ver¬
weigernden Beschluß des Oberlandesgerichtes gebunden oder darf
es entgegen diesem Beschluß die Auslieferung anordnen?
X. Ist eine Wiederaufnahme des Auslieferungsverfahrens zu¬
lässig; kann insbesondere die beschlossene Auslieferung nachträglich
rückgängig gemacht werden und umgekehrt?
Diese Fragen wollen wir nun der Reihe nach besprechen.
ad I. Die Auslieferung ist an bestimmte Voraussetzungen und
Bedingungen gebunden. Zu unterscheiden sind allgemeine und be¬
sondere Voraussetzungen der Auslieferung:
Zu den allgemeinen Voraussetzungen der Auslieferung sind
folgende zu zählen:
1. Es muß vor allem ein sogenanntes Auslieferungsdelikt vor¬
liegen, d. i. eine strafbare Handlung, wegen welcher nach dem
Strafgesetze oder nach den besonderen Staatsverträgen eine Auslieferung
zulässig ist.
Zulässig ist die Auslieferung nach § 39 des österr. StG.B. und
im Sinne der meisten Staatsverträge nur wegen Verbrechen. Wegen
Vergehen und Übertretungen ist die Auslieferung sowohl nach § 234
St.G.B. wie nach den meisten Staatsverträgen ausgeschlossen. Nur
für Ungarn, für das Deutsche Reich und für Griechenland besteht die
Ausnahme, daß auch wegen Vergehen die Auslieferung stattzufinden
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132
VIII. Rosenblatt
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hat, worauf wir noch später zurückkommen werden. Sämtliche Aus¬
lieferungsverträge mit Ausnahme desjenigen mit Deutschland (Bundes¬
beschluß vom 26. Jänner 1854) haben ferner die Verurteilung oder
Verfolgung wegen einer vorsätzlichen Handlung zur Voraussetzung,
woraus sich von selbst ergibt, daß wegen fahrlässiger Handlungen
eine Auslieferung nicht stattfindet. Nur im Schlußprotokoll des Aus¬
lieferungsvertrages mit Rumänien vom 27. Juni 1901 findet sich die
Bemerkung, daß im Verhältnisse zwischen den im österreichischen
Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern einerseits und Ru¬
mänien andererseits unter dem im Artikel II, Zahl 11, des Überein¬
kommens gebrauchten Ausdrucke „Mord“ nur die vorsätzliche Tötung
verstanden wird, während derselbe Ausdruck im Verhältnisse zwischen
den Ländern der ungarischen Krone und Rumänien sowohl die vor¬
sätzliche als auch die fahrlässige Tötung umfaßt und nach Inhalt
des AuslieferungsVertrages mit Serbien vom 6. Mai 1881 (R.G.B.
Nr. 90 ex 1882) hat die Auslieferung auch wegen Tötung, welche
durch kulposes Verschulden herbeigeführt wurde, zu erfolgen.
Es muß ferner der Ausliefernde in dem die Auslieferung ver¬
langenden Staate wegen eines gemeinen Deliktes verurteilt worden
sein oder sich in Untersuchung befinden. Politische Delikte sind all¬
gemein von der Auslieferung ausgeschlossen.
In dieser Beziehung schließen die einzelnen Staatsverträge die
Auslieferung nicht nur wegen rein politischer Delikte aus, sondern
auch wegen solcher strafbarer Handlungen, die mit politischen De¬
likten in Zusammenhang (Verbindung) stehen (fait connexe). Vergl.
Art. II des früheren Vertrages mit der Schweiz vom 17. Juli 1855;
(Art. III des gegenwärtig geltenden Vertrages mit der Schweiz vom
10. März 1896 lautet abweichend, wovon später). Art. III des Ver¬
trages mit Montenegro vom 23. September 1872; Art III des Ver¬
trages mit Rußland vom 30. Oktober 1874; Art. VII des Vertrages
mit Holland vom 24. November 1880; Art. III des Vertrages mit
Belgien vom 12. Jänner 1881; Art. III des Vertrages mit Rumänien
vom 27. Juni 1901; Art. VI. des Vertrages mit Griechenland vom
21. Dezember 1904 usw.
Auf die Frage der Nicbtauslieferung wegen einer politischen
oder einer damit zusammenhängenden strafbaren Handlung wollen
wir hier nicht eingehen. Es genügt, auf die umfangreiche Literatur
über diese Frage zu verweisen 1 ). Es muß jedoch bemerkt werden,
1) Über den Begriff des politischen Verbrechens im Auslieferungsrecht vgl.
insbesondere Liszt in dessen Zeitschrift II S. 65ff., Lammasch in derselben
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Beiträge zum Auslieferungsrecht und Auslieferungsverfahren. 133
daß die bekannte belgische Attentatsklausel zu weitgehenden Mi߬
verständnissen Anlaß geben kann.
Die meisten Auslieferungsverträge enthalten nämlich die „bel¬
gische Attentatsklausel“ benannte Bestimmung, daß ein gegen die
Person des Staatsoberhauptes oder gegen die Mitglieder seiner Familie
verübtes Attentat, wenn es den Tatbestand des Mordes, des Meuchel¬
mordes, der Vergiftung oder des Versuches einer dieser strafbaren
Handlungen oder der Mitschuld daran begründet, nicht als eine poli¬
tische Straftat oder als eine damit zusammenhängende Handlung
angesehen werden soll.
Daraus ergibt sich die Folgerung a contrario, daß solche Hand¬
lungen, wenn sie gegen die leitenden Staatsmänner, Minister, Gouver¬
neure uud dergleichen, welche als Repräsentanten eines bestimmten
Regierungssystems gelten, vorgenommen werden, wohl als politische
resp. mit diesen zusammenhängende strafbare Handlungen anzuseben
sind und ihretwegen die Auslieferung nicht gewährt werden soll.
Nun kann man aber Bedenken haben, ob es gerecht ist, das
Leben derjenigen, welche als Organe der Vollzugsgewalt die Befehle
ihrer Vorgesetzten resp. ihres Herrschers ausführen, auszuliefern und
sie weniger zu schützen als diejenigen, welche diese Befehle erteilen.
Wie schwer es jedoch fällt, im konkreten Falle zu entscheiden,
ob ein politisches resp. ein mit einem politischen konnexes Delikt
vorliegt, welches die Auslieferung ausschließt, und wie wünschens¬
wert es daher wäre, zu einer Fixierung dieses Begriffes für das Aus¬
lieferungsrecht zu gelangen, um zu weit gehenden Konnivenzen gegen
sogen, „politische Delikte“ vorzubeugen, wollen wir an folgendem
Beispiel illustrieren.
Es wurde von Rußland die Auslieferung des X. aus Österreich
verlangt, welcher beschuldigt war:
a) gegen eine Gendarmerie-Patrouille eine Bombe geworfen
zu haben;
b) einen Landwächter ermordet zu haben, um die Vornahme
einer Personendurchsuchung zu verhindern.
Sowohl die Ratskammer wie auch das Oberlandesgericht ent¬
schieden sich gegen die Auslieferung aus dem Grunde, weil es sich
um politische Delikte handle. Begründet wurde insbesondere der Be¬
schluß dahin, daß die Handlungen (Werfen einer Bombe gegen eine
Gendarmerie-Patrouille) zu politischen Zwecken verübt wurden, somit
Zeitschrift III S. 376ff. und in oben angef. Werk; Löwenfeld ebenda V S. 46ff.,
und viele andere.
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134
VIII. Rosenblatt
als politische Verbrechen anznsehen sind, weil der Handlung des X.
keine persönlichen, sondern nur politische Motive zugrunde lagen
daß er aktenmäßig Mitglied einer sozialistischen Kampfesorganisation
war und es eine bekannte Tatsache ist, daß die sozialistische Partei
in Rußland durch ihre Kampfesorganisation Attentate auf Militär-
Patrouillen zu politischen Zwecken verübe.
Das Justizministerium nahm den Beschluß des Oberlandes-
gericbtes, insoweit damit die Auslieferung des X. wegen des ihm zur
Last gelegten Verbrechens des versuchten Mordes durch Werfen einer
Bombe gegen eine Gendarmerie-Patrouille abgelehnt wurde (factum a),
zur Kenntnis. Dagegen erklärte das Justizministerium, daß es Be¬
denken trage, den Teil des Beschlusses zur Kenntnis zu nehmen,
womit die Auslieferung des X. wegen Verbrechens des vollbrachten
und versuchten Mordes (factum b) ebenfalls abgelehnt wird, denn
die für die politische Natur dieses Deliktes geltend ge¬
machten Gründe scheinen dem Justizministerium nicht
stichhaltig zu sein.
Die Gründe bestehen wesentlich im Hinweis darauf, daß X. der
revolutionären oder der sozialistischen Partei angehörte, daß die sozia¬
listische Partei durch ihre Kampfesorganisation vielfach Attentate auf
Sicherheitsorgane zu politischen Zwecken verübte und daß persön¬
liche Motive für die Verübung der Tat nicht Vorlagen.
Die Zugehörigkeit zu einer radikalen Partei und die Tatsache,
daß von dieser Partei zahlreiche verbrecherische Handlungen aus¬
gegangen sind, die unter gewissen Voraussetzungen als politische De¬
likte angesehen werden könnten, dürfte zwar eine genaue Prüfung
notwendig machen, ob das dem X. zur Last gelegte Delikt nicht
ebenfalls politischer Natur ist, sie wird aber kaum ausreichen, um
den politischen Charakter dieses Deliktes als festgestellt anzunehmen.
Hierzu kommt, daß X. die ihm zur Last gelegte Ermordung des
Landwächters — nach den Auslieferungsbehelfen — begangen zu
haben scheint, um die Vornahme einer Personendurchsuchung zu
verhindern.
War dies wirklich seine Absicht, so kann wohl kaum davon ge¬
sprochen werden, daß die Tat — weil zu politischen Zwecken be¬
gangen — als ein politisches Delikt zu behandeln sei.
Das Justizministerium, welches über die Einhaltung der von der
Monarchie im Auslieferungsvertrage übernommenen internationalen
Verpflichtungen zu wachen hat, muß Wert darauf legen, daß die im
Vertrage festgelegte Voraussetzung für die Ablehnung eines Aus¬
lieferungsbegehrens im Einklang mit der internationalen Übung aus-
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Beiträge zum Auslieferungsrecht und Auslieferungsverfahren.
185
gelegt und daß ihr Bestand vor Ablehnung eines Auslieferungs-
begehrens in verläßlicher Weise festgestellt werde.
Es wird daher ersucht „obige Erwägungen in Betracht zu ziehen
und neuerdings über das Auslieferungsbegebren Beschluß zu fassen.“
Nach neuerlicher Prüfung der Sache beschloß das Oberlandes-
gericbt die Auslieferung wegen des zweiten Verbrechens b, d. i. wegen
Ermordung des Landwächters, zu bewilligen, weil, obgleich X. zu
einer radikalen politischen Partei gehöre, welche zu politischen Zwecken
zahlreiche verbrecherische Handlungen verübt hat — er die ihm zur
Last gelegte Tat lediglich deshalb begangen hatte, um einer Personen¬
durchsuchung zu entgehen, mithin diese Tat als ein politisches Ver¬
brechen nicht betrachtet werden kann.
2. Eine weitere allgemeine Voraussetzung der Auslieferung ist
die, daß die Handlung, wegen welcher die Auslieferung erfolgen soll,
eine strafbare Handlung bilde und zwar sowohl nach den Gesetzen
des die Auslieferung verlangenden, wie auch nach den Gesetzen des
um die Auslieferung ersuchten Staates (sogen. Prinzip der iden¬
tischen Norm).
Ist also die Handlung nach dem österr. Strafgesetze nicht strafbar
dann ist die Auslieferung ausgeschlossen.
Dies gilt nach den einzelnen Auslieferungsverträgen insbesondere
auch dann, wenn die Handlung nach den Gesetzen des um die Aus¬
lieferung ersuchten Staates verjährt wäre.
Die Schwierigkeit der Feststellung, ob eine im Auslande be¬
gangene strafbare Handlung nach den Gesetzen des Inlandes verjährt
sei, ist aber namentlich dann, wenn die Voraussetzungen der Ver¬
jährung in den Gesetzen beider Staaten verschieden sind, keine geringe.
So z. B. könnte die strafbare Handlung nach österr. Gesetz unter
Umständen nur dann als verjährt angesehen werden, wenn Schaden¬
ersatz geleistet wurde und wäre es fraglich, ob ein erst im Laufe des
Auslieferungsverfahrens erfolgter Schadenersatz zur Verjährung hin¬
reichen würde. Die Frage wäre wohl mit Rücksicht auf die bekannte
Judikatur des Österr. Obersten Gerichtshofes in der Frage der
Rechtzeitigkeit der Gutmachung des Schadens bei der Verjährung
in Fällen, wo es sich um die Auslieferung eines Beschuldigten han¬
delt, zu bejahen.
3. Endlich wäre als dritte allgemeine Voraussetzung der Aus¬
lieferung die Feststellung der Identität des Auszuliefemden (im In¬
lande Angehaltenen) mit dem vom Auslandsgerichte Verurteilten resp.
Verfolgten zu nennen.
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136
VIII. Rosenblatt
Außer diesen allgemeinen Voraussetzungen enthalten aber die
Aaslieferungsverträge besondere Bedingungen im Verhältnisse zn ein¬
zelnen Staaten.
So insbesondere muß nach einigen Verträgen:
1. Die strafbare Handlung, wegen welcher die Auslieferung
erfolgen soll, mit einer bestimmten sch wereren Strafe bedroht sein
und zwar wird gewöhnlich verlangt, daß dies sowohl nach den Ge¬
setzen des die Auslieferung verlangenden, wie nach denjenigen des
um die Auslieferung angegangenen Staates der Fall sei.
Man geht hier vom Grundsätze aus „praetor non curat minima“
und verzichtet auf die Auslieferung wegen geringfügiger Delikte.
In dieser Beziehung wird in den vom österr. Staate geschlossenen
Auslieferungsverträgen meistens ein gewisses Minimum der im Gesetze
angedrohten Freiheitsstrafe verlangt; so heißt es z. B. im Vertrage
mit Schweden und Norwegen vom 2. Juni 1868, daß die Auslieferung
wegen der im Vertrage aufgezählten Delikte nur dann stattfindet,
wenn diese Delikte nach dem schwedischen oder norwegischen Straf¬
gesetz mit einer mindestens zweijährigen schweren Freiheitsstrafe
bestraft werden können und nach dem österr. Strafgesetz ein Ver¬
brechen begründen oder nach dem ungarischen mit schweren Strafen
bedroht sind.
In den neueren von Österreich geschlossenen Auslieferungs¬
verträgen, so insbesondere im Vertrage mit Rumänien vom 27. Juni
1903 und im Vertrage mit Griechenland vom 21. Dezember 1904
wird, namentlich wenn es sich um Vergehen handelt, verlangt,
daß entweder eine Verurteilung des Auszuliefernden zu einer minde¬
stens einjährigen Freiheitsstrafe erfolgt ist oder daß das höchste Aus¬
maß mindestens 2 Jahre Freiheitsentziehung beträgt, sonst aber, daß
die strafbare Handlung, wegen welcher die Auslieferung verlangt wird,
nach der Gesetzgebung des ersuchenden und des ersuchten Staates
eine einjährige Freiheitsstrafe oder eine schwerere nach
sich ziehen kann.
Es folgt daraus, daß im Verhältnis zu denjenigen Staaten, an
welche die Auslieferung schon dann zu erfolgen hat, wenn die straf¬
bare Handlung mit einer einjährigen oder einer schwereren Freiheits¬
strafe bedroht ist, auch in denjenigen Fällen, in denen nach unserem
Strafgesetze die strafbare Handlung nur mit Kerker von 6 Monaten
bis zu einem Jahre bedroht ist, die Auslieferung stattfinden müßte,
weil eben die strafbare Handlung nach unserem Gesetz auch eine
einjährige Freiheitsstrafe nach sich ziehen kann. Nach den früheren
Auslieferungsverträgen dagegen, so insbesondere nach dem Aus-
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Beiträge zum Auslieferungsrecht und Auslieferungsverfahren.
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lieferungsvertrage mit Kußland vom 15. Oktober 1874 findet die
Auslieferung nur wegen solcher strafbarer Handlungen statt, welche
nach der Gesetzgebung des die Auslieferung begehrenden uud des um
die Auslieferung ersuchten Staates — also nach den Strafgesetzen
beider Staaten — „eine schwerere Strafe nach sich ziehen
können als jene des Gefängnisses in der Dauer eines
Jahres.“ Ausgeschlossen ist somit die Auslieferung, wenn die
angedrohte Gefängnisstrafe ein Jahr zwar erreicht, aber nicht
übersteigt.
In denjenigen Fällen also in welchen nach unserem Strafrecht
nur Kerkerstrafe von 6 Monaten bis zu einem Jahre angedroht ist,
ist die Auslieferung nach dem Vertrage mit Rußland ausgeschlossen.
Ob in den neueren Verträgen ein Redaktionsversehen vorliegt
oder absichtlich die Fälle, wo Auslieferung zulässig sein soll, aus¬
gedehnt werden wollten, was auch richtig wäre, können wir nicht
entscheiden, jedenfalls spricht der Wortlaut des Vertrages für die
übrigens ganz bedeutende Extension der Auslieferungsdelikte.
Es muß schließlich noch erwähnt werden, daß in jenen Fällen,
in welchen es sich um die Auslieferung eines rechtskräftig Verurteilten
handelt, und die Strafe, zu welcher er verurteilt worden ist, ein Jahr
nicht erreicht, der Einwand erhoben werden könnte, daß die erwähnte
Bedingung, daß die strafbare Handlung eine einjährige Freiheitsstrafe
oder eine schwerere nach sich ziehen kann, nicht mehr vorliegt, da
der Auszuliefernde bereits rechtskräftig zu einer niedrigen z. B. ein¬
monatlichen Gefängnisstrafe rechtskräftig verurteilt worden ist.
Trotzdem aber wäre unserer Ansicht nach die Auslieferung zu
bewilligen, da für die Frage der Zulässigkeit der Auslieferung nicht
die in concreto erkannte Strafe, sondern die in abstracto für die be¬
treffende strafbare Handlung im Gesetze angedrohte Strafe maßgebend,
daher nur diese in Betracht zu ziehen ist.
2. Es muß gegen den Verfolgten entweder ein verurteilendes Er¬
kenntnis vorliegen, oder es sind solche Beweise oder Verdachtsgründe
beizubringen, worüber er sich bei seiner Vernehmung nicht auf der
Stelle auszuweisen vermag. (§ 59 St.P.O.).
3. Endlich darf nicht ein die Auslieferung hindernder Umstand
vorliegen.
Im Sinne der meisten Auslieferungsverträge ist aber insbesondere
die Auslieferung ausgeschlossen in folgenden Fällen:
a) Wenn der Beschuldigte, dessen Auslieferung begehrt wird, wegen
der dem Auslieferungsbegehren zugrunde liegenden Straftat im
ersuchten Staate bereits verurteilt wurde oder in Unter-
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vni. Rosenblatt
Buchung gezogen and außer Verfolgung gesetzt worden ist, so-
feme nicht nach den Gesetzen des ersuchten Staates die Wieder¬
aufnahme des Strafverfahrens zulässig wäre;
b) Wenn nach den Gesetzen des ersuchten Staates die dem Aus¬
lieferungsbegehren zugrunde liegende strafbare Handlung nur
infolge einer Privatanklage oder eines Antrages der betroffenen
Partei verfolgt werden kann, es sei denn, daß die betroffene
Partei die Verfolgung begehrt hätte;
c) wenn der Auszuliefernde in dem um die Auslieferung ersuchten
Staat wegen derselben strafbaren Handlung verfolgt wird;
d) wenn der Auszuliefernde in dem ersuchten Staate wegen einer
anderen strafbaren Handlung als derjenigen, die den Grund
des Auslieferungsbegehrens bildet, verfolgt wird oder verurteilt
wurde.
In den Fällen c und d kann die Auslieferung erfolgen, sobald
das Hindernis behoben ist Erfolgt aber eine Einstellung oder ein
Freispruch wegen derselben Handlung wegen mangelnden Tatbestan¬
des oder Schuldbeweises, so ist auch die Auslieferung ausgeschlossen.
Einen eigentümlichen Hinderungsgrund, richtiger Ablehnungsgrund
der verlangten Auslieferung enthält das Übereinkommen mit Rumänien
vom 27. Juni 1901 sub ZI. 2 des Schlußprotokolles; wenn nämlich
die Auslieferung einer Person aus Rumänien wegen eines mit der
Todesstrafe bedrohten Verbrechens begehrt wird, bei dem es nicht
ausgeschlossen ist, daß deshalb an dem Ausgelieferten die Todesstrafe
vollzogen werden könnte, so steht es in dem freien Ermessen der
rumänischen Regierung die Auslieferung abzulehnen.
Zu erwähnen bleibt schließlich, daß nach Art. 6 des Auslieferungs¬
vertrages mit Griechenland vom 21. Dezember 1904 die Auslieferung
nicht bewilligt werden soll, wenn der Auszuliefernde nachweist, daß
das Auslieferungsbegehren tatsächlich zum Zwecke seiner Verfolgung
wegen eines politischen Deliktes oder einer mit einem solchen Delikte
zusammenhängenden Handlung gestellt wurde.
In manchen Auslieferungsverträgen wird auch noch erwähnt,
daß wenn der Auszuliefernde durch die Auslieferung verhindert wird,
seine Verbindlichkeiten gegen Privatpersonen zu erfüllen, dies die
Auslieferung nicht hindert. Nach einigen früheren Auslieferungs¬
verträgen hat nämlich ein Schuldenarrest des Verfolgten dessen Aus¬
lieferung gehindert.
ad II. Zu erörtern ist insbesondere die Frage, ob eine
im Laufe des Auslieferungsverfahrens ausgebrochene
Krankheit des Auszuliefernden insbesondere eineGeistes-
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Beiträge zum Auslieferuugsrecht und Auslieferungsverfahren. 139
krankheit die Auslieferung hindert resp. welchen Ein¬
fluß sie auf die Auslieferung übt.
Daß eine physische Krankheit, welche den Auszuliefernden trans¬
portunfähig macht resp. der Gefahr einer Verschlimmerung seines
Zustandes zu Folge des mit der Auslieferung verbundenen Trans¬
portes aussetzen würde, den Vollzug der Auslieferung hindert, so¬
lange dieser Zustand dauert, dürfte nicht bestritten werden. Nicht so
ganz unzweifelhaft ist die Frage, wenn es sich um eine Geisteskrank¬
heit handelt.
In einem uns vorliegenden Falle ergaben sich vor dem Vollzug
einer bereits vom Justizministerium bewilligten Auslieferung gegründete
Zweifel, ob der Auszuliefernde nicht an einer Geisteskrankheit leide
und transportunfähig sei. Es wurde daher die Prüfung seines Geistes¬
zustandes durch zwei Gerichtspsychiater angeordnet. Das von diesen
erstattete Gutachten lautete dahin, daß sich bei dem Auszuliefemden
allem Anscheine noch eine Geisteskrankheit entwickelt habe und es
daher geboten sei, mit dem Vollzüge der Auslieferung inne zu halten,
weil solche Individuen während des Transportes Selbstmord verüben
können, welchem auch die strengste Beaufsichtigung vorzubeugen
nicht in der Lage ist; es sei daher vor endgültigem Gutachten eine
weitere Beobachtung des Auszuliefernden erforderlich.
Trotzdem entschied die Ratskammer, daß die Auslieferung zu
vollziehen sei, weil sie es als nicht erwiesen erachtete, daß der Aus¬
zuliefernde wirklich geisteskrank sei, die Feststellung seines Geistes¬
zustandes aber Sache der Behörden desjenigen Staates sei, welcher
die Auslieferung verlangt habe.
Das Oberlandesgericht teilte diese Ansicht nicht; es meinte daß
die Auslieferung ein strafprozessualer Akt sei, welcher wie jeder an¬
dere Akt dieser Art gegen einen Geisteskranken nicht vorgenommen
werden könne.
Die Ansicht des Oberlandesgerichtes scheint uns nicht unrichtig
zu sein. —
Bekanntlich wird in der Literatur darüber gestritten, ob die Aus¬
lieferung nur ein Akt der Rechtshilfe oder auch gleichzeitig ein Akt
der Rechtspflege des ausliefernden Staates sei.
Die erste Ansicht vertreten hauptsächlich v. Liszt, Finger und
Martitz; die zweite Lammasch, welcher meint, daß die Auslieferung
stets eine Konkurrenz von Strafansprüchen zweier Staaten gegen ein Indi¬
viduum wegen derselben Tat voraussetzt (Prinzip der identischen Norm).
Ich teile diese letztere Ansicht nicht, ebensowenig wie ich mich für das
Prinzip der Weltstrafrechtspflege erwärmen kann, dessen Unhaltbarkeit
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VIII. Kosen bi.att
schon Rohland in seinem internationalen Strafrecht (1877 S. 7 u. ff.)
nachgewiesen hat, indem er es als einen idealen Irrtum, aber den¬
noch als einen Irrtum bingestellt hat 1 ).
Jedenfalls darf aber gegen einen Geisteskranken weder ein Akt
der Rechtspflege, noch ein Akt der Rechtshilfe vollzogen werden, da
er der Möglichkeit beraubt ist, sich dagegen zu wehren.
Bei der Beurteilung des Einflusses einer Geisteskrankheit des
Auszuliefernden auf die Auslieferung ist offenbar zu unterscheiden,
ob behauptet wird, daß die Geisteskrankheit bereits zur Zeit, wo die
inkriminierte Handlung begangen worden iBt, vorlag, oder daß sie erst
im Laufe des Auslieferungsverfahrens eingetreten ist.
Wird das erstere behauptet, so muß diese Behauptung, selbst
wenn sie erst nach bereits bewilligter Auslieferung erhoben worden
wäre, geprüft werden, da in einem solchen Falle die Auslieferung
unzulässig wäre. Eine der wesentlichen Voraussetzungen der Aus¬
lieferung ist nämlich die Vorsätzlichkeit der begangenen Handlung,
denn Gegenstand der Auslieferung sind nach der ausdrücklichen Be¬
stimmung der meisten von Österreich geschlossenen Auslieferungs¬
verträge nur vorsätzliche strafbare Handlungen; falls also in Frage
steht, ob die dem Auszuliefernden zur Last gelegte Handlung als eine
vorsätzliche strafbare Handlung angesehen werden kann, so muß dies
von unseren Gerichten vor Erledigung des Auslieferungsbegehrens er¬
hoben und festgestellt werden 2 ).
Zweifelhafter ist die Frage dann, wenn die behauptete Geistes¬
krankheit erst später eingetreten wäre. Ein Grund zur Ablehnung
des sonst begründeten Auslieferungsbegehrens würde zwar in solchen
Fällen nicht gegeben sein, jedoch müßte wohl der Vollzug der Aus¬
lieferung für die Zeit der Geisteskrankheit sistiert werden, ähnlich
wie der Vollzug von Freiheitsstrafen gegen Geisteskranke bis zur Be¬
hebung der Krankheit gehemmt erscheint. Ausgeliefert werden Verbre¬
cher, nicht aber Geisteskranke. Auch ist in Erwägung zu ziehen, daß dem
Auszuliefernden doch nach dem Gesetze (§ 59 Öst. StiP.O.) die Mög¬
lichkeit gewährt werden muß, nachzuweisen, daß seine Auslieferung
1) Gegen das Weltrechtsprinzip auch Liszt und Finger. Letzterer sieht
darin eine ihrem Kerne nach ungesunde Idee (Compend. des österr. Strafrechts I
S. 91. Anders Harburger: zwei Grundfragen des sog. internat. Strafr. in der
Zeitschrift v. Liszt XX S. 588ff. Vgl. ferner Hegler: Prinzipien des internat.
Strafr., 1906 S. 84ff., und Bar: Gesetz und Schuld im Strafrecht I, das Straf¬
gesetz, 1906 S. 125 u. ff.
2) Anders nach den vom Deutschen Reich geschlossenen Auslieferungs¬
verträgen. (Vgl. Dr. Cohn: Die Auslieferungsverträge des Deutschen Reiches,
1908 S. 19.
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Beiträge zum Auslieferungsrecht und Auslieferungsverfahren.
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unzulässig sei, ein Geisteskranker ist aber nicht in der Lage von
seinem Rechte den richtigen Gebrauch zu machen und deshalb ist es
auch zutreffend wenn das Oberlandesgericht in dem oben darge¬
stellten Falle erklärt hat, daß gegen Geisteskranke kein strafprozessualer
Akt somit auch die Auslieferung nicht vollzogen werden darf.
ad III. Es reicht nicht hin, die Voraussetzungen der Auslieferung
festzustellen; es drängt sich noch die weitere Frage auf, ob die in¬
ländischen Behörden resp. die Gerichte, welche über das vom Aus¬
lande gestellte Auslieferungsbegehren Beschluß zu fassen haben,
sämtliche Voraussetzungen der Auslieferung selbständig zu prüfen be¬
rechtigt oder aber — und in welcher Richtung — sie an den Inhalt
des Auslieferungsbegehrens gebunden sind?
Treffend sagt Lammasch (Auslieferungspflicht und Asylrecbt
S. 513), daß die Aufstellung dieser Bedingungen nur dann Wert habe,
wenn der um die Auslieferung ersuchte Staat berechtigt ist, selbst
deren Vorhandensein zu prüfen iund nicht etwa genötigt ist, sie auf
Grund ihrer bloßen Behauptung von Seite des requirierenden Staates
anzunehmen.
Es würde sich insbesondere darum bandeln:
a) Ob die Qualifikation der strafbaren Handlung seitens der Be¬
hörden des die Auslieferung verlangenden Staates für unsere
Gerichte maßgebend ist;
b) ob unsere Gerichte berechtigt sind, die Schuldfrage zu über¬
prüfen und unabhängig vom Inhalte des Auslieferungsbegehrens
festzustellen, ob der Auszuliefernde hinreichend verdächtig ist,
die strafbare Handlung begangen oder an ihr teilgenommen
zu haben.
ad a). Hier ist vor allem zu unterscheiden, ob es sich um die
Auslieferung eines bereits rechtskräftig Verurteilten oder eines Be¬
schuldigten handelt.
* ’ Im ersteren Falle müßte wohl die durch ein rechtskräftiges Urteil
des fremden Staates festgestellte Qualifikation der strafbaren Handlung
auch für unsere Gerichte maßgebend sein und es wäre wohl nicht
zulässig im Falle, wenn z. B. die Auslieferung auf Grund eines rechts¬
kräftigen Urteiles verlangt wird, mit welchem der Auszuliefernde eines
Auslieferungsdeliktes schuldig erkannt worden ist, zu behaupten, daß
das Verbrechen nicht unter die im Vertrage aufgezählten Delikte zu
subsumieren sei und daher die Auslieferung verweigert werde.
Der Auszuliefernde ist in diesen Fällen hinreichend dadurch ge¬
schützt, daß ihm gegen das Urteil nach den Gesetzen seines Heimats¬
landes die entsprechenden Rechtsmittel zur Verfügung standen. Nur
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VIII. Rosenblatt
wenn der Anszuliefernde behaupten würde, daß in Wirklichkeit kein
gemeines, sondern ein politisches (absichtlich verdecktes) Delikt vor¬
liege, müßte man unseren Gerichten das Recht der Überprüfung auch
des rechtskräftigen ausländischen Urteiles zuerkennen.
Anders liegt die Sache, wenn ein Urteil des fremden Gerichtes
noch gar nicht vorliegt. Hier sind die über die Auslieferung ent¬
scheidenden Behörden berufen selbständig zu untersuchen, ob die
strafbare Handlung, wegen welcher der Auszuliefernde verfolgt wird,
ein Auslieferungsdelikt bildet, oder nicht Es werden daher insbe¬
sondere die Beweise, welche der Auszuliefernde in dieser Richtung
anbietet, durchzuführen sein und auf Grund des Ergebnisses der
letzteren wird das inländische Gericht die Qualifikation der in Rede
stehenden Handlung selbständig festzustellen befugt sein.
ad b). Auch über die Schuldfrage haben die um die Auslieferung
angegangenen Gerichte selbständig zu entscheiden, denn § 59 Österr.
St.P.O. verlangt, daß von der die Auslieferung verlangenden Behörde
sogleich oder in einem angemessenen Zeiträume solche Beweise oder
Verdachtsgrüude beigebracht werden, worüber sich der Beschuldigte
bei seiner Vernehmung nicht auf der Stelle auszuweisen vermag. Dies
hat aber selbstverständlich das um die Auslieferung angesucbte Gericht
zu untersuchen und festzustellen. Wenn also z. B. der Verfolgte sein
Alibi behauptet und darüber den Beweis durch Zeugen führt, welche
sogleich einvernommen werden können, so hat das inländische Gericht
diesen Beweis durchzuführen und sohin festzustellen, ob der Alibi-
Beweis als erbracht anzusehen sei oder nicht.
Selbstverständlich wird das Gericht nicht voreilig zu Werke gehen,
sondern erforderlichen Falls von der die Auslieferung verlangenden
Behörde im Sinne der angeführten Vorschrift des § 59 St.P.O. vor
der Beschlußfassung die Beibringung weiterer Beweise verlangen.
Natürlich werden unsere Gerichte nicht den ganzen Strafprozeß
durchführen und in alle Einzelheiten eingehen; nur wenn der Aus¬
zuliefernde durch sofort durchführbare (liquide) Beweise dar¬
zutun vermag, daß kein strafbarer Tatbestand vorliegt, oder daß er
überhaupt die Tat nicht begangen haben konnte, kann in die Prüfung
dieser Frage eingegangen und darnach der Beschluß gefaßt werden.
Die Auslieferungsverträge befassen sich mit diesen Fragen in der
Regel nicht
Nur der Vertrag mit Griechenland vom 21. Dezember 1904 ent¬
hält im Art. 8 die allgemeine Bestimmung, daß die Bewilligung der
Auslieferung nach den Gesetzen des ersuchten Staates er¬
folgt, und der Vertrag mit Rußland vom 15. Oktober 1874 bestimmt
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Beiträge zum Auslieferungsrecht und Auslieferungsverfahren. 143
im Art XVIII, daß durch den Vertrag und innerhalb seiner Bestim¬
mungen, die in den beiden Staaten bestehenden, den weiteren Ge¬
schäftsgang bei der Auslieferung regelnden Gesetze wechselseitig an¬
erkannt werden, womit eigentlich die Vorschrift des § 59 StP.O. für
das Verhältnis zu Rußland jedenfalls in Kraft erhalten ist
Da es aber in den meisten Verträgen heißt, daß die Auslieferung
nur wegen solcher strafbarer Handlungen stattfindet welche nach der
Gesetzgebung des die Auslieferung begehrenden sowie des um die
Auslieferung ersuchten Staates mit einer bestimmten Strafe bedroht
sind, und überdies die Delikte, wegen welcher Auslieferung gewährt
wird, aufgezählt werden, so ergibt sich hieraus von selbst daß unsere
Gerichte selbständig zu prüfen haben, ob der Tatbestand einer der
im Auslieferungsvertrage aufgezählten strafbaren Handlungen vorliegt
und mit der bestimmten Minimalstrafe bedroht ist.
Auch kann die obenerwähnte Bestimmung des § 59 StP.O. nicht
als durch die Auslieferungsverträge aufgehoben angesehen werden,
wie dies Lammasch a. a. 0. ausführlich nachweist.
Eine noch weiter gehende Bestimmung enthält der Ausliefernngs-
vertrag mit der Schweiz vom 10. März 1896. Es heißt in seinem
Artikel III: „Wegen politischer strafbarer Handlungen wird die Aus¬
lieferung nicht bewilligt Die Auslieferung wird indessen bewilligt,
obgleich der Täter einen politischen Beweggrund oder Zweck vor¬
schützt, wenn die Handlung, um deren Willen die Auslieferung ver¬
langt wird, vorwiegend den Charakter eines gemeinen Verbrechens
oder Vergehens hat Der um die Auslieferung ersuchte Staat
entscheidet im einzelnen Falle nach freiem Ermessen über
die Natur der strafbaren Handlung auf Grund des Tat¬
bestandes.“
Hier wird also den Gerichten des um die Auslieferung ersuchten
Staates ausdrücklich das Recht Vorbehalten, über die Natur der straf¬
baren Handlung nach eigenem freien Ermessen zu entscheiden.
ad IV. Staatszugehörigkeit (Nationalität) und forum
delicti commissi im Auslieferungsrecht.
Nicht ansgeliefert werden eigene (österreichische) Staatsangehörige,
wobei nicht der Zeitpunkt, in welchem die strafbare Handlung be¬
gangen worden ist, entscheidet, sondern der Zeitpunkt in welchem
über das Auslieferungsbegehren entschieden werden soll, zu welcher
Frage wir noch später zurückkommen werden').
1) Dasselbe gilt nach den vom Deutschen Reiche geschlossenen Aus¬
lieferungsverträgen. (Vgl. Cohn: Auslieferungsverträge des Deutschen Reiches,
1908 S. 28).
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VIII. Rosenblatt
Nicht ausgeliefert werden ferner fremde Staatsangehörige wegen
strafbarer Handlungen, welche sie im Inlande begangen haben und zwar
gemäß des Territorialprinzipes, nach welchem sie im Inlande bestraft
werden.
Nicht ausgeliefert werden sodann Ausländer, welche sich im Aus¬
lande eines der im § 38 St.G.B. genannten Verbrechen zu Schulden
kommen ließen, z. B. österreichische Kreditpapiere im Auslande gefälscht
haben und sodann bei uns ergriffen worden sind, denn diese werden
von unseren Gerichten nach unserem Strafgesetz verfolgt und bestraft.
Nicht ausgeliefert werden endlich fremde Staatsangehörige,
welche in einem fremden Staate sich einer im zweiten Teile des
Strafgesetzes vorgesehenen strafbaren Handlung (Vergehen oder Über¬
tretung) schuldig gemacht haben, weil solche Delinquenten nach § 234
Abs. 2 Str.G.B. weder an das Ausland auszuliefern noch im Inlande
zu bestrafen sind.
Eine Ausnahme besteht nach Art. I des Bundesbeschlusses vom
26. Jänner 1854 (kundgemacht mit Erlaß des Ministr. d. a. A. vom
5. April 1854 Rgbl. Nr. 76) im Verhältnis zum Deutschen Reiche,
da sich die Bundesstaaten verpflichtet haben gegenseitig Individuen,
welche wegen Verbrechen oder Vergehen von einem Gerichte des¬
jenigen Staates, in welchem oder gegen welchen das Verbrechen oder
Vergehen begangen worden, verurteilt oder in Anklagestand versetzt
sind, oder gegen die ein gerichtlicher Verbaftsbefehl dort erlassen ist,
diesem Staate auszuliefern.
Eine weitere Ausnahme besteht im Verhältnis zu Ungarn, an
welches im Grunde der Reziprozität laut Erlaß des Justizministeriums
vom 26. Mai 1875 S. 6742 sowohl wegen Verbrechen als wegen Ver¬
gehen Verfolgte ausgeliefert werden, und nur Übertretungen ausge¬
schlossen sind.
Endlich sollen gemäß der Bestimmung des Art. 2 des Auslieferungs¬
vertrages mit Griechenland vom 21. Dezember 1904 auch wegen Ver¬
gehen Beschuldigte ausgeliefert werden, wenn es sich um eine im
Art. 2 des erwähnten Vertrages angeführte strafbare Tat handelt und
wenn die erkannte oder angedrohte Strafe das dort festgesetzte Mindest¬
maß erreicht.
Es könnte hier die Frage aufgeworfen werden, ob diese Bestim¬
mung des erwähnten Übereinkommens, welche auch bei Verfolgung
wegen Vergehens die Auslieferung zuläßt, gültig ist angesichts der
kategorischen Bestimmung des § 234 Abs. 2 St.G.B., welcher die
Auslieferung wegen Vergehens ausschließt, denn ein Staatsvertrag
welcher von den gesetzgebenden Körperschaften nicht bestätigt ist,
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Beiträge zum Auslieferungsrecht und Auslieferungsverfahren.
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kann ein Gesetz nicht derogieren (Vgl. Lammasch S. 85 bis 87)
und die Ausführungen der Generalprokuratur zur Kassationsentschei¬
dung vom 8. März 1897 Z. 659 N. 2095 der Samml. sowie die
Gründe dieser Entscheidung, welche wir noch später sub VII be¬
sprechen wollen).
Jedoch ist diese Frage insoferne irrelevant, als die im Art. 2
des Übereinkommens mit Griechenland aufgezählten strafbaren Hand¬
lungen, wenn sie auch nach dem in Griechenland gültigem Straf¬
recht Vergehen bilden, im Sinne unseres Strafgesetzbuches stets als
Verbrechen qualifiziert werden müßten, die Bestimmung des § 234
Abs. 2, welche die im zweiten Teile des Strafgesetzes aufgezäblten
strafbaren Handlungen zur Voraussetzung hat, somit keine Anwendung
finden würde.
Die weitere Frage welche hier zu besprechen ist, geht dahin, an
welchen Staat der Verfolgte auszuliefern sei, falls mehrere Staaten
die Auslieferung verlangen, also konkurrierende Auslieferungsanträge
vorliegen.
Es kann der Beschuldigte, der in einem fremden Staate ein Aus¬
lieferungsdelikt begangen hat, und in Österreich ergriffen wird, in¬
soferne die Ausnahme des § 38 St.G.B. nicht eintritt, ausgeliefert
werden:
1. an denjenigen Staat, wo er das Verbrechen begangen hat oder
2. an denjenigen seiner Staatszugehörigkeit;
3. oder endlich an denjenigen Staat, von dessen Gerichten er
verurteilt worden ist und verfolgt wird.
Der Fall 3 wird sich gewöhnlich entweder mit dem Fall 1 oder
mit dem Fall 2 decken, d. h. es werden entweder die Gerichte des
Ortes, wo der Beschuldigte die strafbare Handlung begangen hat,
seine Verfolgung einleiten und seine Auslieferung verlangen, oder es
werden dies die Gerichte seines Heimatsstaates tun, wo er gewohnt
hat und zuständig ist.
Es kann aber auch der Fall Vorkommen, daß ein Verbrecher
von den Gerichten eines Staates verfolgt wird, ja auch verurteilt
worden ist, wo er weder das Verbrechen begangen hat, noch auch
als Staatsbürger zuständig ist; nehmen wir z. B. an, daß ein russi¬
scher Staatsangehöriger in Deutschland österreichische Kreditpapiere
fälscht, bei uns ergriffen und nach § 38 StG.B. von unseren Gerichten
verurteilt wird, vor Vollzug des Urteiles aber in das Gebiet eines
Staates entweicht, mit welchem wir einen Auslieferungsvertrag abge¬
schlossen haben. Steht den österreichischen Gerichten das Recht zu,
seine Auslieferung zu verlangen und umgekehrt?
Archiv für Kriminalanthropologie. 84. Bd. 10
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VIII. Rosenblatt
In den von Österreich geschlossenen Anslieferungsverträgen
herrscht nun in dieser Beziehung eine große Verschiedenheit, welche
leicht zn allen möglichen Kollisionen führen kann. Insbesondere
lassen sich diesbezüglich die Staatsverträge in folgende Gruppen
einteilen:
a) Der Auslieferungsvertrag mit Frankreich vom 13. November
1855 (R.G.B. Nr. 12 ex 1856) — durch den Additionalvertrag vom
12. Februar 1869 nicht abgeändert; ferner der frühere Vertrag mit
der Schweiz vom 17. Juli 1855 (aufgehoben dnrch den gegenwärtig
geltenden vom 10. März 1896), sodann der Vertrag mit Spanien vom
17. April 1861, der Vertrag mit Schweden und Norwegen vom 2. Juni
1868 und einige andere bestimmen, daß auszuliefern sind Individuen,
welche von den zuständigen Gerichten des einen Vertragsteiles in
Untersuchung gezogen oder verurteilt in das Gebiet des anderen
Teiles geflüchtet sind. Die Auslieferung erfolgt sohin an den Staat,
dessen Gerichte den Auszuliefernden verfolgen, ohne Unterscheidung,
ob er dort das Verbrechen begangen hat oder als Staatsbürger zu¬
gehörig ist, sobald diese Gerichte zuständig sind.
Wenn jedoch der Verfolgte kein Untertan des ersuchtep Staates
ist, so kann die Auslieferung verschoben werden bis die Regierung
seines Heimatsstaates in die Lage gesetzt wird, die Beweggründe
bekannt zu geben, welche sie dieser Auslieferung entgegen stellen
könnte. Der um die Auslieferung angegangenen Regierung steht es
dann zu, die Auslieferung zu verweigern oder das reklamierte Indi¬
viduum entweder an die Regierung seines Heimatsstaates oder des
Landes, wo das Verbrechen begangen wurde, auszuliefern.
b) Im Verhältnis zu Deutschland wird der Beschuldigte nur dann
ausgeliefert, wenn er von einem Gerichte der Vertragsstaaten wegen
eines Deliktes, welches er im Staate, welcher die Auslieferung ver¬
langt, oder gegen diesen Staat begangen bat, verurteilt oder in
Anklagezustand versetzt ist.
c) Nach den Verträgen mit den Vereinigten Staaten von Nord¬
amerika vom 3. Juli 1856, mit England vom 3. Dezember 1873 und
Montenegro vom 23. September 1872 erfolgt die Auslieferung von
Personen, welche wegen einer auf dem Gebiete des einen Teiles
begangenen strafbaren Handlung beschuldigt oder verurteilt Sind.
Das Recht, die Auslieferung zu verlangen, steht somit nur dem Staate
des delicti commissi zn.
d) Nach dem Vertrage mit der Schweiz vom 10. März 1906 und
mit Rumänien vom 27. Juni 1901 werden wie in den Fällen ad a
diejenigen ausgeliefert, welche von den Gerichtsbehörden des anderen
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Beiträge zum Ausliefenrngsrecht und Auslieferungsverfahren.
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Vertragsstaates verfolgt werden oder verurteilt worden sind. Die
Staatszugehörigkeit spielt keine Bolle (mit Ausnahme der eigenen
Staatsangehörigen); dagegen soll die Auslieferung, falls die strafbare
Handlung, auf die sich das Auslieferungsbegehren gründet, in einem
dritten Staate begangen wurde, nur dann erfolgen, wenn die Gesetz¬
gebungen des ersuchenden und des ersuchten Staates die Verfolgung
solcher Handlungen, mögen sie auch im Auslande verübt worden
sein, gestatten, und wenn der Täter weder nach den Gesetzen des
ersuchten Staates vor dessen Gerichte zu stellen, noch der Regierung
jenes Staates, wo die strafbare Handlung begangen wurde, zufolge
der zwischen diesem und dem ersuchten Staate geschlossenen Ver¬
träge auszuliefern ist.
Der Staat des delicti commissi hat also den Vorzug im Falle
konkurrierender Auslieferungsbegehren.
e) Nach dem Auslieferungsvertrag mit Griechenland vom 28. De¬
zember 1904 werden diejenigen ausgeliefert, welche wegen eines auf
dem Gebiete des ersuchenden Staates begangenen Deliktes verfolgt
werden oder verurteilt sind, jedoch mit der Modifikation, daß wenn
der Beschuldigte oder Verurteilte nicht Staatsangehöriger eines der
vertragschließenden Teile ist, es der Regierung, an welche das Aus¬
lieferungsbegehren gerichtet wurde, freisteht, diesem Begehren nach
ihrem Ermessen stattzugeben und den Beschuldigten zum Zwecke
der Verurteilung entweder in sein Heimatsland oder an das Land, wo
das Verbrechen oder Vergehen verübt wurde, zu überstellen.
Es entscheidet also im Verhältnis zu Griechenland das Ermessen
der um die Auslieferung angesuchten Regierung, ob sie den Ver¬
folgten an den Staat des delicti commissi oder an den Heimatsstaat
ausliefern will.
Bei konkurrierenden Auslieferungsbegehren mehrerer Staaten
wegen verschiedener Delikte entscheidet die Schwere der Tat,
wegen welcher der Auszuliefernde verfolgt wird.
Daß sich aus diesen so verschiedenartigen Bestimmungen Kolli-
tionen ergeben können, bedarf keines Beweises und spricht dies nur
dafür, daß ein einheitliches Auslieferungsgesetz, welches die deutsche
Landesgruppe der I. K. V. als für Deutschland notwendig zu erklären
beschlossen hat (vgl. auch Mendelssohn-Bartholdy über das
räuml. Herrschaftsgebiet des St.G. in der vergleichenden Darstellung
V. S. 310ff.) auch für Österreich dringend erwünscht ist.
ad V. Das Strafgesetzbuch bestimmt im § 36, daß wegen Ver¬
brechen, die ein Untertan des österr. Kaisertums im Auslande be¬
gangen hat, die Auslieferung an einen fremden Staat nicht erfolgen darf.
io*
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Lammasch (S. 406) meint, daß diese Bestimmung die Aus¬
lieferung von naturalisierten Untertanen wegen Verbrechen, welche
sie vor der Naturalisierung im Auslande verübt haben, nicht bindert,
da § 36 nur für diejenigen gilt, welche als Untertanen des österr.
Kaisertums im Auslande eine strafbare Handlung begangen haben.
Gleichzeitig konstatiert aber Lammascb, daß die österr. Regierung
es wiederholt abgelehnt hat, sich zur Auslieferung wegen der vor der
Naturalisierung verübten Verbrechen zu verpflichten. Im Grundriß
des österr. Strafr. § 6 gibt Lammasch zu, daß auch derjenige, der
erst nach der Tat Österreicher wurde, nicht ausgeliefert werden könne.
In den Staatsverträgen heißt es immer, „die vertragschließenden
Teile verpflichten sich, jene Personen mit Ausnahme der eigenen
Staatsangehörigen, sich gegenseitig auszuliefern usw.“
Es ist also die Auslieferungspflicht bezüglich eigener Staats¬
angehörigen unbedingt ausgeschlossen ohne Unterscheidung, ob sie
zur Zeit der Tat bereits österr. Untertanen waren oder es erst später
geworden sind.
In diesem Sinne hat auch der Oberste Gerichtshof mit Urteil
vom 23. Februar 1903 ZI. 17186 (Nr. 2824 der Sammlung) in einem
Falle entschieden, in welchem eine russische Staatsbürgerin, welche
in Rußland wegen eines dort begangenen schweren Verbrechens ver¬
urteilt worden ist, nach Österreich flüchtete und hier durch die Heirat
mit einem österr. Staatsbürger (welche übrigens, wie dies das hier
durchgeführte Strafverfahren ergeben hat, nur eine Scheinheirat
ad hoc war, um der Auslieferung zu entgehen) die österr. Staats¬
bürgerschaft erworben hat.
Der oberste Gerichtshof begründet seine Entscheidung wie folgt.
„Der Grundsatz, daß ein Inländer zur Bestrafung wegen des im Aus¬
lande verübten Verbrechens dahin nicht abgegeben werden darf, ist
nicht nur in der eine Ausnahme nicht statuierenden Bestimmung des
§ 36 St.G. ausgesprochen, er findet sich auch in den Staatsverträgen
wegen Auslieferung von Verbrechern und ist insbesondere auch im
Artikel III des Staatsvertrages mit Rußland wiedergegeben, ohne daß
dabei unterschieden wird, ob das Staatsbürgerrecht des Inlandes vor
oder nach der im Auslande verübten Tat erworben worden sei Es
bestand daher kein Anlaß, die Auslieferung der Angeklagten anzu¬
bieten, und war dieselbe gemäß § 36 St.G. lediglich nach dem österr.
Strafgesetze zu behandeln. Eine andere Auffassung dieser Gesetzes¬
bestimmung würde nur zur unrichtigen Folgerung führen, daß ent¬
weder die Täterin straflos bliebe, was dem allgemeinen Grundsätze,
daß jedes Verbrechen bestraft und gesühnt werden muß, wider-
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Beiträge zum Auslieferungsrecht und Ausliefcrungsverfahren.
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sprechen würde, oder daß die Angeklagte ausgeliefert werden müßte,
was, wie dargetan wurde, dem Grundsätze des § 36 StG. zuwider¬
läuft Mit Recht wurde daher die Angeklagte wegen des ihr zur
Last gelegten Verbrechens nach dem österr. Strafgesetze verfolgt.“
Es kann somit als feststehender Grundsatz angesehen werden,
daß auch solche Verbrecher, welche zur Zeit, wo sie die strafbare
Handlung im Auslande begangen haben, Ausländer waren, sodann
aber in Österreich die österr. Staatsbürgerschaft erlangt haben, nicht
ausgeliefert werden dürfen.
Ob aber an diesem Grundsatz de lege ferenda festzuhalten ist,
wäre jedenfalls noch zu überlegen. Die 10. These der Oxforder
Beschlüsse des Instituts für Völkerrecht, wonach wenigstens im Falle
der Erwerbung der inländ. Staatsbürgerschaft nach Begehung des
Verbrechens im Auslande diese der Auslieferung nicht entgegen¬
stehen sollte, hat vieles für sich; sie würde die Zweifel gegen die
Zulässigkeit der Bestrafung im Inlande beheben und zugleich die
Bestrafung der flüchtigen Verbrecher sichern.
ad VI. Nun entsteht aber die weitere Frage: was hat
mit denjenigen Verbrechern zu geschehen, welche nicht
ausgeliefert werden? Sind sie im Inlande zu verfolgen oder
bleiben sie straflos? Es kann diese Frage in verschiedenen Fällen
Vorkommen und zwar:
1. Die Auslieferung darf wie ad III besprochen nicht erfolgen,
weil der vom Ausland Verfolgte inzwischen die österreichische Staats¬
bürgerschaft erworben hat.
2. Die Auslieferung an das Ausland wird verweigert, weil das
Delikt, wegen dessen die Auslieferung verlangt wird, im Sinne des
bezügl. Staatsvertrages nicht zu denjenigen strafbaren Handlungen
gehört, wegen welcher die Auslieferungspflicht besteht
3. Die Auslieferung wird gar nicht verlangt resp. nicht an¬
genommen.
Im Falle 1 erfolgt, wie der Kassalionshof in der oben angeführten
Entscheidung erkannt hat, die Bestrafung gemäß § 36 St.G., wenn
es sich um gemeine Verbrecher handelt, nach österreichischem
Recht, jedoch mit Berücksichtigung des Gesetzes des Tatortes, insofern
es milder ist
Nicht ganz zutreffend ist es, wenn der Kassationshof in der oben
angeführten Entscheidung vom 23. Februar 1903 bemerkt, „bei dieser
Auffassung muß von der Berücksichtigung des russischen Straf¬
gesetzes ganz abgesehen werden und entfällt hienach die Voraus¬
setzung für die Anwendung des § 40 St.G.“
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VW. Rosenblatt
Wir meinen umgekehrt, daß die Vorschrift des zweiten Satzes
des § 40 „wenn aber nach dem Strafgesetze des Ortes, wo er (der
ausländische Verbrecher) die Tat begangen hat, die Behandlung ge¬
linder ausfiele, ist nach diesem gelinderen Gesetze zu behandeln“
auch für die hier besprochenen Fälle Anwendung finden müsse, denn
es wäre ungerecht und allen Grundregeln des Strafrechtes zuwider,
jemanden, der als Ausländer im Auslande eine strafbare Handlung
begangen hat, wenn er späterhin die Inlandsqualität erworben hat,
nach dem ihm zur Zeit der Tat ganz unbekannten österr. Rechte zu
behandeln.
Aber selbst die auf gemeine Delikte beschränkte Anwendbarkeit
des § 36 St.G. in Fällen, von denen die Rede ist, steht theoretisch
nicht ganz fest Jedenfalls kann § 36 nicht ohne weiteres auf
denjenigen Staatsbürger angewendet werden, welcher zur Zeit der Tat
noch Ausländer war und erst später die österr. Staatsbürgerschaft
erworben hat, sonst würde man zu der Konsequenz gelangen, daß
wenn ein Ausländer im Auslande eine nach dortigem Gesetz nicht
strafbare Handlung begangen hat (z. B. die Handlungen des § 129
des österr. Strafgesetzbuches in Frankreich, Italien usw., wo sie nicht
bestraft werden) er dennoch in Österreich gestraft werden soll, wenn
er späterhin Österreicher wird.
Wie sollen nun aber diejenigen behandelt werden, die als Aus¬
länder im Auslande ein politisches oder ein damit zusammenhängendes
Verbrechen begangen haben, sich sodann nach Österreich flüchteten und
hier die Österreich. Staatsbürgerschaft erlangten?
In einem praktischen Falle dieser Art, welcher viel Aufsehen er¬
regt hat, kam die Frage zufolge Einspruches gegen die vor der
Staatsanwaltschaft erhobene Anklageschrift zur Entscheidung vor das
kompetente Oberlandesgericht.
Für die Zulässigkeit der Bestrafung nach inländischem Recht
wurde geltend gemacht, daß der Angeklagte in analoger Anwendung
des § 40 StG.B. so zu behandeln sei wie ein Ausländer, dessen Aus¬
lieferung nicht angenommen wurde, und es wurde auf die Motive
der oben angeführten Kassationsentscheidung vom 23. Februar 1903
hingewiesen.
Gegen die Zulässigkeit der Bestrafung im Inlande dagegen
wurden folgende Argumente ins Treffen geführt.
Die Vorschrift des § 36 StG.B. über die Bestrafung des In¬
länders, der im Auslande ein Verbrechen begangen hat, nach inländi¬
schem Strafgesetz, hat nur den Fall im Auge, wenn der Täter im
Zeitpunkte der Verübung der Tat ein Inländer war und kann nicht
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Beiträge zum Auslieferungsrecht und Auslieferungsverfahren.
151
auf diejenigen Fälle bezogen werden, wo der Täter zur Zeit der Ver¬
übung der Tat ein Ausländer war. Für die Theorie der rück¬
wirkenden Kraft der Vorschrift des § 36 würde nur das vom Kassa¬
tionshof in der wiederholt bezogenen Entscheidung geltend gemachte
Motiv sprechen, „daß der Täter sonst straflos bliebe, was dem all¬
gemeinen Grundsätze, daß jedes Verbrechen bestraft uud gesühnt
werden müsse, widersprechen würde.“ Dieses Moment ist aber ein
ethisches und kein juristisches; der Mangel einer ausdrücklichen ge¬
setzlichen Bestimmung kann aber die Bestrafung nicht begründen.
Die angeführte Entscheidung des Kassationshofes bezieht sich
übrigens nur auf gemeine Verbrecher, nicht auf politische, wie im
vorliegenden Fall.
Wäre der Beschuldigte von Anfang an d. i. schon zur Zeit der
begangenen Tat österreichischer Staatsbürger gewesen, so müßte erst
im Sinne der Bestimmung des Art. III des österr.-russischen Vertrages
die russische Regierung dessen Bestrafung verlangen und bestände
die Pflicht der Verfolgung im Inlande nur bezüglich der im Art II
des Vertrages aufgezählten gemeinen Delikte; keine dieser Voraus¬
setzungen ist aber im vorliegenden Falle gegeben.
Das Oberlandesgericht akzeptierte diese Ausführungen nicht und
gab dem Einspruch gegen die Anklageschrift keine Folge.
Bei der Verhandlung wurde aber der Angeklagte einstimmig frei¬
gesprochen. Wir sind nun der Meinung, daß die gegen die Zu¬
lässigkeit der Verfolgung im Inlande geltend gemachten Motive stärker
sind, als die gegnerischen für die Verfolgung und möchten zu den
obenangeführten Motiven noch folgende hinzufügen.
Daß die Bestrafung nach § 36 St.G.B. nicht eintreten kann ,dürfte
unbestritten sein, da § 36 offenbar nur für denjenigen gilt, der im
Zeitpunkte der Verübung der Tat Inländer war. Für die Bestrafung
nach § 40 fehlt aber die Voraussetzung, daß die Übernahme der an¬
gebotenen Auslieferung verweigert worden ist, denn der Verweigerung
der Auslieferung kann der Fall, wo die Auslieferung als unzulässig
gar nicht angeboten werden konnte, nicht gleichgestellt werden.
Die Anwendung des § 40 im Wege der Analogie auf die Fälle
wo die Auslieferung als unzulässig gar nicht angeboten worden ist,
bekämpft auch Lammasch') mit der zutreffenden Bemerkung, daß
die Bedingungen, welche ein Gesetz für die Behandlung einer Tat
als Verbrechen aufstellt, nicht durch Analogie ausgedehnt werden
dürfen.
1» In der Abhandlung über die Strafbarkeit des Hochverrates gegen Ru߬
land nach österr. Recht (Juristische Blätter ex 1883 Nr. 10 S. 110).
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152
VIII. Rosenblatt
Eine Verfolgung im Inlande wäre in diesen Fällen nur dann
möglich, wenn die betreffende Bestimmung lauten würde, ähnlich wie
in den Strafgesetz-Entwürfen, daß die Verfolgung im Inlande dann
zu erfolgen habe, wenn die Auslieferung an die Behörden des Tat¬
ortes nicht zulässig oder nicht ausführbar ist.
Nach § 66 Abs. 2 StG.B. werden bekanntlich hochverräterische
Handlungen gegen fremde Staaten nach § 65 St.G.B. gestraft, insoferne
die Gegenseitigkeit vom betreffenden Staate verbürgt und in Öster¬
reich gesetzlich kundgemacht ist und mit J. M. V. vom 19. Okt. 1860
Nr. 233 B.G.B1. wurde kundgemacht, daß bezüglich der Bestrafung
der auf dem Gebiete des einen der beiden Staaten gegen
die Sicherheit des anderen begangenen Verbrechen Rußland in
die Reihe derjenigen Staaten getreten ist, welche gegenüber Österreich
die Gegenseitigkeit befolgen.
Mit Erlaß vom 12. September 1863 hat sodann das Justiz¬
ministerium den Oberstaatsanwälten mitgeteilt, daß hochverräterische
Handlungen gegen Rußland auch dann von den österr. Gerichten ver¬
folgt und bestraft werden müssen, wenn diese nicht in Österreich,
sondern in Rußland oder in einem dritten Staate verübt worden wären.
Daß aber diese Ansicht nicht richtig ist, hat Lammasch in seiner
bereits erwähnten Abhandlung über die Strafbarkeit des Hochverrats
gegen Rußland nach österr. Recht überzeugend nachgewiesen. Im
Art III Abs. 2. des österr.-russischen Auslieferungsvertrages heißt es
ferner, daß die vertragsschließenden Teile sich verpflichten die von
ihren Untertanen gegen die Gesetze des anderen Teiles verübten Ver¬
brechen und Vergehen in Gemäßheit ihrer Gesetze zu verfolgen, wenn
dies begehrt wird und wenn diese Verbrechen und Vergehen sich
als solche darstellen, welche im Art. II des Übereinkommens aufge-
zäblt sind.
Im Art. II des Übereinkommens werden aber nur gemeine Ver¬
brechen aufgezählt und Art. IV. erklärt überdies ausdrücklich, daß
politische Delikte von dem Übereinkommen ausgenommen sind. Es
folgt daraus, daß Inländer, welche im Auslande politische
Delikte gegen Rußland begehen, nach österr. Strafgesetz
nicht zu verfolgen sind.
Zwar regelt der erwähnte Staatsvertrag nur die gegenseitigen
Pflichten der vertragschließenden Teile und bestimmt Art. II des
erwähnten Vertrages, wörtlich genommen, nur daß der österr. Staat
nicht verpflichtet sei, von seinen Untertanen gegen die Gesetze
des anderen Vertragsteiles begangene Delikte, welche im Vertrage aus¬
genommen sind, also insbesondere politische Delikte zu verfolgen,
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Beiträge zum Auslieferungsrecht und Auslieferungsverfahren.
15S
und könnte man daraus deduzieren, daß das Recht des Inlandes die
von seinen Untertanen gegen das Ausland begangenen Verbrechen zu
verfolgen, dadurch nicht tangiert wird, jedoch wäre diese Deduktion
unrichtig, da sich die Pflicht mit dem Rechte deckt.
Wir stoßen hier auf die bekannte Streitfrage, ob die Auslieferung
von Verbrechern außerhalb des Auslieferungsvertrages zulässig ist
d. i. ob der Staat in jenen Fällen, in welchen eine vertragsmäßige
Pflicht zur Auslieferung wegen bestimmter Delikte nicht besteht, den¬
noch den fremden Verbrecher auszuliefern berechtigt ist. Insbesondere
aber strittig ist die Frage, ob Ausländer, welche im Auslande politische
Verbrechen begangen haben, über den Auslieferungsvertrag hinaus
ins Ausland ausgeliefert werden dürfen.
Das Justizministerium interpretiert und mit Recht die Bestim¬
mung des § 41 St.G.B. („bestehen über die gegenseitige Auslieferung
von Verbrechern mit auswärtigen Staaten besondere Verträge so ist
im Gemäßheit derselben vorzugehen“) in konstanter Praxis (wie dies
Lammasch S. 194 bezeugt) dahin, daß hierdurch hinsichtlich jener
Staaten, mit welchen Österreich Auslieferungsverträge abgeschlossen
hat, die Geltung des § 39 St.G.B. derogiert sei, weshalb die öster¬
reichischen Gerichte wegen nicht im Vertrage aufgezählter Delikte,
ein von einem fremden Staate verfolgtes Individuum in seiner Frei¬
heit nicht beschränken und dessen Auslieferung nicht beschließen
dürfen und das Justizministerium diese Auslieferung daher auch nicht
bewilligen könne.
Daß die Auslieferungsverträge nur von der Pflicht zur Aus¬
lieferung handeln ist einfach damit zu erklären, daß doch das Recht
des Staates zur Auslieferung von Verbrechern resp. das Recht des
Staates seine eigenen Untertanenen zu verfolgen, nicht Gegenstand
eines Übereinkommens mit einem fremden Staate sein kann; selbst¬
verständlich ist es aber, daß die in den Auslieferungsverträgen stipu-
lierte Strafverfolgungspflicht zugleich auch einen Verzicht auf die
weiter gehenden Rechte des Inlandstaates enthält.
Sowohl das Recht der Auslieferung fremder Untertanen wie das
Recht der Bestrafung eigener Untertanen für strafbare Handlungen,
welche im Auslande oder gegen das Ausland begangen worden sind,
richtet sich sonach nach den Bestimmungen der bezüglichen Aus¬
lieferungsverträge und ist durch diese beschränkt, somit erscheinen
auch die Bestimmungen der §§ 36—40 St.G.B. dadurch derogiert,
resp. modifiziert.
Diese Ansicht teilt auch Hye, welcher in seinem Kommentar
(S. 544) folgendes ausführt:
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154
VIII. Bosenblatt
„Alle vorstehenden in den §§ 37—40 enthaltenen Bestimmungen
erhalten ihre Vervollständigung, und zwar teilweise eine Beschrän¬
kung, teilweise eine Erweiterung, gegenüber einzelnen fremden Staaten
und in Beziehung auf gewisse Gattungen von Verbrechen, erst durch
die zwischen Österreich und den verschiedenen fremden Staaten be¬
stehenden Staatsverträge über gegenseitige Auslieferung von Ver¬
brechern, deren in dieser Richtung teilweise derogierende Wirksam¬
keit durch die im nächstfolgenden Paragraphen geschehende Berufung
ausdrücklich anerkannt ist.“
Ebenso schließt Lammasch seine ausführliche Besprechung
dieser Frage (S. 191) mit den Worten:
„Aus diesen Erwägungen empfiehlt es sich daher, die Aufzählung
derjenigen Delikte, wegen welcher ein Staat die Pflicht zur Aus¬
lieferung übernimmt, zugleich als den festen Rahmen aufzufassen,
innerhalb dessen allein er auch sein Recht, auszuliefern, ausübt Dieser
feste Rahmen kann nun aber in den Verträgen oder in einem all¬
gemeinen Auslieferungsgesetze gegeben sein.“
Der Fall, daß ein vom Auslande verfolgter Verbrecher, der dort
ein Verbrechen begangen hat, sich nach Österreich flüchtet und hier
die österreichische Staatsbürgerschaft erwirbt, dürfte übrigens selten
und in der Wirklichkeit nur dann Vorkommen, wenn eine ledige
Ausländerin, welche in ihrem Heimatslande eine strafbare Handlung
begangen hat nach der Tat einen österr. Staatsbürger heiratet; denn
es dürfte sich wohl in den seltensten Fällen ereignen, daß einem vom
Auslande namentlich wegen eines schweren Verbrechens Verfolgten
die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen wird. Soll nun die
Ausländerin, welche einen Inländer heiratet dadurch ihre Lage ver¬
schlimmern und der Strafverfolgung ausgesetzt sein?
Wir sprechen selbstverständlich nur von politischen Delikten,
wegen welcher eine Ausländerin weder im Inlande verfolgt noch an
das Ausland ausgeliefert wird. Dieses Asylrechtes würde sie nun
beraubt werden, sobald sie einen österreichischen Staatsbürger heiraten
würde. Das Gesetz würde sie zwingen ledig zu bleiben bei sonstigen
schweren kriminellen Folgen.
Zu welchen unhaltbaren Konsequenzen die gegenteilige Ansicht
führen würde, ist noch aus folgendem Beispiel zu ersehen.
A. und B., Bruder und Schwester begehen gemeinschaftlich im
Auslande ein politisches Verbrechen und flüchten nach Österreich, wo
sie sich ansiedeln. Die B. bisher ledig, heiratet in Österreich einen
österreichischen Staatsbürger. Der Bruder A. wird nun nicht aus¬
geliefert und auch in Österreich nicht verfolgt, da es sich um ein
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Beiträge zum Auslieferungsrecht und Auslieferungsverfahren.
155
von einem Ausländer im Auslande begangenes politisches Delikt
handelt; während die Schwester B. wegen desselben Verbrechens in
Österreich verfolgt werden sollte!
Gewiß ist dieses Argument kein ausschlaggebendes, aber viel¬
leicht nicht minder beachtenswert, wie das Gegenargument, daß Be¬
strafung eintreten muß, weil strafbare Handlungen gesühnt werden
müssen.
Aus obiger Darstellung folgt unwiderleglich, daß Ausländer,
welche im Auslande politische Delikte gegen Rußland begehen, auch
dann in Österreich wegen derselben nicht verfolgt werden dürfen,
wenn sie nach Begehung der Tat die österreichische Staatsbürgerschaft
erlangt haben.
Mit anderen Worten politische Delikte gegen Rußland können
nur gemäß derl. M. V. vom 19. Okt 1860 Nr. 233 R.G.B1. verfolgt wer¬
den d. i., wenn sie auf österreichischem Gebiete begangen werden;
sind sie von Ausländem im Auslande, oder von Inländern im Aus¬
lande begangen worden, so findet eine Bestrafung nicht statt, folglich
kann auch der Ausländer, der nach Begehung einer solchen Handlung
im Auslande sich nach Österreich flüchtet und hier die Staatsbürger¬
schaft erwirkt, hier nicht gestraft werden.
Die I. M. V. vom 19. Oktober 1860 bezieht sich zwar ihrem Wort¬
laute nach nur auf hochverräterische Handlungen, es dürfte jedoch
das oben Gesagte für politische Delikte überhaupt gelten').
Eine Illustration zu diesen Ausführungen bietet die Bestimmung
des Punktes 4 des Schlußprotokolls zum Auslieferungsvertrag mit der
Schweiz vom 10. März 1896, in welchem erklärt wird, daß der Ver¬
trag nicht hindert, daß von dem einen und dem anderen Vertragsteil
mit oder ohne Vorbehalt des Gegenrechtes auch wegen einer im Ver¬
trage nicht vorgesehenen strafbaren Handlung die Auslieferung ge¬
währt werden kann, sofern dies nach den Gesetzen des ersuchten
Staates zulässig ist.
Daraus folgt aber a contrario, daß diese nur im erwähnten Ver¬
trage mit der Schweiz enthaltene, weder den früheren noch den
späteren mit anderen Staaten geschlossene Auslieferungsverträgen be¬
kannte Klausel, eben nur im Verhältnisse zur Schweiz Anwendung
finden kann, somit gegenüber anderen Staaten die allgemeine Regel
Platz greift, daß das Recht der Auslieferung sich mit der vertrags¬
mäßigen Pflicht zur Auslieferung deckt, daher nur so weit reicht, wie
1) Vgl. Lammasch; Über polit. Verbr. gegen fremde Staaten in der Liszt-
schen Zeitschr. III S. 376ff.; Rosenblatt im Archiv für öff. Recht VIII S. 97ff;
und Gerland in der Vergl. Darst. Bes. TIS. It4ff.
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VIII. Rosenblatt
die vertragsmäßige Pflicht, darüber hinaus aber eine Auslieferung
ausgeschlossen ist
Die Richtigkeit unserer Ausführungen findet auch teilweise ihre
Bestätigung in der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes vom 8. Mai
1897 ZI. 3659 (Nr. 2095 Samml.) mit welcher zu Recht erkannt
worden ist, daß den Staatsverträgen wegen gegenseitiger Auslieferung
von Verbrechern durch § 41 StG.B. gesetzliche Kraft verliehen wor¬
den ist, und daß die Bestimmung dieser Auslieferungsverträge, das
Herschafts-Gebiet des hierländischen Strafgesetzes be¬
stimmend, an die Stelle der §§ 36—40 StG.B. getreten sind.
Obige Ansicht teilt auch Professor Roszkowski in seinem im
Jahre 1882 in polnischer Sprache erschienenem Werke über Asyle
und Extradition (S. 266).
Die in Rede stehende Frage war endlich auch Gegenstand
der Debatten der deutschen Landesgruppe der Internat
krim. Vereinigung in Frankfurt am 8. Septbr. 1906 (Vergl. die
Mitteilungen der Internat, krim. Vereinig, vom Jahre 1907 S. 354—390).
Der Referent Prof. Frank wies insbesondere auf den Unterschied
in der Textierung des deutsch-spanischen und des deutsch-schweizer.
Auslieferungsvertrages hin. Der Art. VI des deutsch-spanischen Aus¬
lieferungsvertrages vom 2. Mai 1878 lautet nämlich wie folgt: „Die
Bestimmungen des gegenwärtigen Vertrages finden auf solche Per¬
sonen, die sich irgend eines politischen Verbrechens oder Vergehens
schuldig gemacht haben, keine Anwendung“, während im Art. IV
des deutsch-schweizer Vertrages bestimmt wird: „Die Auslieferung
soll nicht stattfinden, wenn die strafbare Handlung einen politischen
Charakter an sich trägt.“
Auf Grundlage dieser tatsächlich veschiedenen Textierung der
bez. Auslieferungsverträge verfocht Prof. Frank die Ansicht, daß auch
dann, wenn ein Auslieferungsvertrag abgeschlossen ist, die darin vor¬
genommene Aufzählung der auslieferungsmäßigen d. h. eine Aus¬
lieferungspflicht begründenden Delikte nur die Bedeutung habe, daß
die Auslieferungspflicht auf diese beschränkt sei; außerdem
aber haben die Regierungen das Recht über einen Auslieferungs¬
vertrag hinaus auszuliefern d. h. auch wegen eines solchen Deliktes,
das in dem Auslieferungsvertrag gar nicht als ein auslieferungsmäßiges
bezeichnet ist. Zweifel könnten in dieser Beziehung nur bezüglich der
politischen Verbrecher bestehen.
Die Meinung Franks traf aber auf vielseitigen Widerspruch.
Insbesondere erklärten Dr.Neumeyer und Prof. Dr.Freuden¬
thal unter lebhafter Zustimmung der Versammlung, daß sie die Aus-
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Beiträge zum Auslieferungsrecht und Auslieferungsverfahren.
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lieferung in den von Frank erwähnten Fällen für unzulässig halten.
Schließlich wurde beschlossen zu erklären, daß die Versammlung ein
Auslieferungsgesetz für das Deutsche Reich für dringend wünschens¬
wert erachtet.
Wir reassumieren daher:
Ein Ausländer, welcher im Auslande ein Verbrechen begangen
und nach Österreich geflüchtet ist, kann wegen eines Verbrechens,
wegen dessen unser Staat zur Auslieferung des Verfolgten im Sinne
des Auslieferungsvertrages nicht verpflichet ist (insbesondere wegen
politischer Delikte) weder ausgeliefert noch auch im Inlande verfolgt
werden. Nur im Verhältnis zur Schweiz gilt die obenerwähnte im
Schlußprotokoll des Auslieferungsvertrages vom 10. März 1896 ent¬
haltene Ausnahme.
Wenn der nach Österreich Geflüchtete inzwischen die österr.
Staatsbürgerschaft erlangt hat, darf er dem Auslande nie ausge¬
liefert werden.
Es darf aber wegen Verbrechen, wegen welcher die Auslieferung
vertragsmäßig nicht stattfindet, auch im Inlande nicht verfolgt werden.
ad 2. Die Auslieferung wird verweigert. Es kann dies erfolgen:
a) wegen politischer Delikte;
b) wegen einer mit einem politischen Delikt zusammenhängenden
strafbaren Handlung, wie dies die meisten Verträge bestimmen;
c) nach dem Grundsätze; „praetor non curat minima“ wegen ge¬
ringfügiger Delikte. 1 )
In letzterer Beziehung wird in den Staatsverträgen entweder die
Pficht der Auslieferung auf Verbrechen beschränkt (so in den
meisten Auslieferungsverträgen) oder auf strafbare Handlungen, die
mit „schweren“ Strafen bedroht sind, oder es wird verlangt, daß die
strafbare Handlung, wegen welcher die Auslieferung verlangt wird,
nach den Strafgesetzen des die Auslieferung verlangenden und des
um die Auslieferung ersuchten Staates mit einer bestimmten höheren
Freiheitsstrafe bedroht sei, z. B. mindestens mit einer einjährigen
Gefängnisstrafe, wobei die einzelnen strafbaren Handlungen respekt.
Kategorien derselben, welche somit als Auslieferungsdelikte zu gelten
haben, aufgezählt werden (sogenannte Enumerationsmethode).
In den Fällen a und b findet nach allgemein anerkannten Grund¬
sätzen auch im Inlande eine Strafverfolgung nicht statt
ad c). In Fällen, in denen die Auslieferung gemäß der Bestim¬
mungen des Auslieferungsvertrages wegen Geringfügigkeit der ange-
1) Vgl. Art. 3 des Schweizer Auslief.-Gesetzes vom 22. Jänner 1892.
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VIII. Rosenblatt
drohten Strafe nicht zulässig ist (wie z. B. nach der Konvention mit
Kußland, weil die nach einem der maßgebenden Strafgesetze oder
nach beiden angedrobte Strafe eine einjährige Freiheitsstrafe nicht
übersteigt), könnte die Frage aufgeworfen werden, ob nicht gemäß
des dem österr. Strafgesetzbuch zugrunde liegenden Weltrechtsprinzips
(§ 40) dennoch die Verfolgung des Ausländers im Inlande einzu¬
treten hätte.
Die Frage ist aber zu verneinen, denn nach § 40 St.G.B. ist
gegen den ausländischen Verbrecher nur dann nach Vorschrift des
österr. Strafgesetzes vorzugehen, wenn der auswärtige Staat die Über-
nehmung des Beschuldigten verweigert. Dies kann auf diejenigen
Fälle, wo die Auslieferung nach den Bestimmungen der bezüglichen
Staatsverträge nicht stattfindet, wie bereits oben ansgeführt wurde,
nicht per Analogie ausgedehnt werden. Sonst könnte auch wegen
politischer Delikte, wegen welcher die Auslieferung ausgeschlossen
ist, die Verfolgung im Inlande eintreten, was aber kein Vertrag oder
Gesetz zuläßt
Bezüglich der von der Auslieferung ausgeschlossenen Delikte ist
daher dem Ausländer, der sich nach Österreich flüchtet, volles Asyl¬
recht gewährt.
Dies folgt auch aus der Vorschrift des § 41 St.G.B., nach welcher
die Bestimmmungen der Auslieferungsverträge, insofeme solche be¬
stehen, an die Stelle der Vorschriften der §§ 39 und 40 St.G.B.
treten, was eben nur dahin verstanden werden kann, daß in denjenigen
Fällen, in denen die Auslieferung nicht gewährt wird, auch die Ver¬
folgung der Ausländer im Inlande nicht statthaft ist Es beweist
dies aber auch, daß das vom Obersten Gerichtshöfe in der oben an¬
geführten Entscheidung vom 23. Februar 1903 Nr. 2824 gebrauchte
Argument, „daß sonst der nicht ausgelieferte Täter straflos bliebe,
was dem allgemeinen Grundsätze, daß jedes Verbrechen bestraft und
gesühnt werden muß, widersprechen würde“ — sehr stark anfechtbar
ist, da in allen von der Auslieferung ausgeschlossenen Fällen, wor¬
unter nicht nur politische sondern auch gemeine Verbrechen gehören
können, der Verbrecher eben trotz des angeblichen im Gesetze nirgends
ausgesprochenen allgemeinen Grundsatzes, daß „jedes Verbrechen be¬
straft und gesühnt werden müsse“ straflos bleibt.
ad 3. Wir kommen nun zu der letzten Gruppe der hierher gehören¬
den Fälle d. i. zu denjenigen, in welchen die dem ausländischen
Staate angebotene Auslieferung nicht angenommen wird.
Es liegt diesbezüglich folgende in mehrfacher Beziehung inter¬
essante zu Folge Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes
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Beiträge zum Auslieferungsrecbt und Auslieferungsverfahren.
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erflossene Entscheidung des k. k. Kassationshofes vom 30. April 1907
ZI. 5823 (Nr. 3341 der Sammlung) vor:
Das Landesgericht in Troppau erkannte mit Urteil vom 31. Okt.
1906 die preußischen Staatsangehörigen Ferdinand B. und Alfred T.
des am 3. Oktober 1906 im Gebiete des Deutschen Reiches begangenen,
im § 242 des deutschen Reichsstrafgesetzes bezeichneten Vergehens
des Diebstahls schuldig und verhängte über sie gemäß § 16 des ge¬
nannten Gesetzes eine der einfachen Kerkerstrafe äquiparierende Ge¬
fängnisstrafe in der Dauer von je fünf Tagen.
Der k. k. Kassationshof erkannte, daß durch das angeführte
Urteil, insofeme es von der Anwendung des österreichischen Straf¬
gesetzes absehend, den dem Ferdinand B. und Alfred T. zur Last
fallenden Diebstahl lediglich als Vergehen des Diebstahles nach § 242
des deutschen Reichsstrafgesetzes und die über die Angeklagten ver¬
hängte Freiheitsstrafe als Gefängnisstrafe gemäß § 16 desselben Ge.
setzes bezeichnet, wurde das Gesetz im § 40 St.G.B. verletzt.
Die Gründe der Kassationsentscbeidung lauten:
Die Anklageschrift hatte auf das in den §§ 171 und 174 II b
St.G.B. bezeichnete, nach § 40 des österreichischen Strafgesetzes und
§§ 242 und 16 des deutschen Reichsstrafgesetzes strafbare Verbrechen
des Diebstahles gelautet. Die Bezeichnung der Straftat im Urteils¬
tenor nach dem deutschen Reichsstrafgesetze geht über die Vorschrift
des § 40 St.G.B., wonach in dem Falle, wenn nach dem Strafgesetze
des Ortes, wo die Tat begangen wurde, die Behandlung gelinder aus¬
fiele, der Täter nach diesem gelinderen Gesetze zu „behandeln“ ist,
hinaus und verstößt gegen den allgemeinen Rechtsgrundsatz, daß im
Inlande nur inländisches Gesetz gilt und daher auch nur dieses un¬
mittelbar anzuwenden ist. Der Gerichtshof hätte, wenn er auch in
dem vorliegenden Falle das deutsche Strafrecht zutreffend als das ge¬
lindere erkannte, dennoch seinen Urteilsspruch nach dem österreichi¬
schen Rechte erlassen sollen. Dem kann nicht entgegengehalten
werden, daß durch die Vorschrift des § 40 St.G.B. das ausländische
Recht für den daselbst vorgesehenen Ausnahmsfall zum inländischen
erhoben werde. Der Richter hat in einem solchen Falle zwar die
ausländischen Strafbestimmungen zu berücksichtigen, allein doch nur
nach österreichischem Rechte zu erkennen. Der Gerichtshof hatte
daher in seinem Urteile nicht bloß die deutschen, sondern vor allem
die österreichischen Strafbestimmungen über Diebstahl anzuwenden.
Während die Strafbarkeit einer im Inlande begangenen Tat so¬
zusagen einfach bedingt ist, daß sie nämlich unter den Tatbestand
einer inländischen Strafbestimmung subsumiert werden kann, ist die
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VIII. Rosenblatt
Strafbarkeit einer von einem Ausländer begangenen Tat (die Fälle
des § 38 St.G.B. ausgenommen) doppelt bedingt: 1. dadurch; daß
die Tat am Begebungsorte irgendwie kriminell (nicht bloß disziplinär)
strafbar ist; 2. dadurch, daß sie unter eine inländische Verbrechens¬
strafbestimmung fällt Nicht Bedingung der Strafbarkeit, son¬
dern nur Bedingung des Einschreitens des österreichischen
Gerichtes, Prozeßvoraussetzung ist, daß der ausländische
Staat auf die ihm angebotene Auslieferung des Täters
verzichtet 1 ). Das österreichische Gericht, das eine von einem Aus¬
länder im Auslande begangene Tat abzuurteilen hat, hat demnach
diese sowohl unter dem Gesichtspunkte des ausländischen wie unter
dem Gesichtspunkte des österreichischen Rechtes zu würdigen und
beide Arten der Würdigung müssen auch in dem Urteile zum Aus¬
drucke kommen.
Nun erscheint es unmöglich, daß in der Sentenz, im Urteils¬
spruche selbst, beide Beurteilungsweisen nebeneinander stehen, denn
im Spruche kann doch nur ein Recht seinen Ausdruck finden. Wenn
nun die Frage entsteht, nach welchem von beiden Rechten der Urteils¬
spruch zu fassen ist, so kann die Antwort wohl nicht zweifelhaft
sein: nach dem österreichischen Rechte. Denn die beiden Arten der
Würdigung sind einander nicht gleichwertig. Die Beurteilung der
Tat nach dem österreichischen Rechte ist für das österreichische Ge¬
richt das Primäre. Von diesem hat es auszugehen. Die Beurteilung
nach dem ausländischen Rechte hat sich in die Beurteilung nach
dem österreichischen Rechte einzufügen.
Kommt daher das Gericht zum Schlüsse, daß die Tat nach der
lex loci überhaupt nicht oder nach dem österreichischen Rechte nicht
als Verbrechen strafbar wäre, und findet es, demgemäß mit einem
Freispruch vorzugehen, so hat es den Freispruch stets dahin zu for¬
mulieren, daß der Angeklagte von der Anklage, das Verbrechen nach
§ .... des österreichischen Strafgesetzes begangen zu haben, freige¬
sprochen werde. Ist ein Erfordernis der Strafbarkeit der Tat nach
inländischem Strafgesetze nicht gegeben, so versteht sich dies ohnehin
von selbst. Die österreichische Freispruchsformel hat aber auch dann
Anwendung zu finden, wenn der Grund des Freispruches darin liegt,
daß die Tat nach dem ausländischem Rechte nicht gestraft werden
könnte. Dies ist vor allem für den Fall klar, daß das ausländische
Recht eine Strafbestimmung, die überhaupt in Betracht käme, gar
1) Diese Frage ist zumindest bestritten. Die Bedingung des § 40 St.G. ist
eine materielle Klagsvoraussetzung und daher eine Bestimmung des materiellen
Strafrechts. Vgl. Lammasch in den Juristischen Blättern ex 1883 S. 110.
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Beiträge zum Auslieferungsrecht und Auslieferungsverfahren.
161
nicht enthält; hier wäre eine Formulierung nach dem ausländischen
Strafgesetze — das gar nicht existiert — unmöglich. Gleiches hat
aber auch für die Fälle zu gelten, in denen nach ausländischem Straf¬
gesetze ein Strafausscbließungs- oder Strafaufhebungs- Grund vor¬
liegt, den das österreichische Recht nicht kennt (etwa Ehrennotwehr
oder bei Jugendlichen mangelndes Unterscheidungsvermögen). Das
Gericht hat die Nichtstrafbarkeit der Tat nach ausländischem Straf¬
gesetze nur in den Urteilsgründen auseinanderzusetzen und den Frei¬
spruch dahin zu erläutern, daß der Angeklagte, trotzdem sich seine
Tat nach österreichischem Rechte als Verbrechen darstellt, nicht ver¬
urteilt werden könne, weil das österreichische Recht für die von Aus¬
ländern im Auslande begangenen Taten die Strafbarkeit nach der lex
loci als Bedingung der Strafbarkeit nach österreichischem Rechte auf¬
stellt. Ebenso hat das Gericht, wenn es die Tat sowohl nach dem
ausländischen wie auch nach dem inländischen Strafgesetze (und zwar
nach letzterem als Verbrechen) als strafbar erkennt und darum mit
einem Strafurteile vorzugehen findet, dieses immer nach dem öster¬
reichischen Strafgesetze zu formulieren. Auch hier versteht sich dies
in dem Falle, daß das österreichische Strafgesetz milder ist, von selbst.
Aber auch, wenn das Strafgesetz des Tatortes milder und der Täter
daher gemäß § 40 St.G.B. nach diesem gelinderen Gesetze zu be¬
handeln ist, hat das Gericht sein Urteil dahin zu schöpfen, der Täter
sei schuldig des Verbrechens nach §.. . . des österreichischen Straf¬
gesetzes. Denn die erste Voraussetzung, daß der Täter vom öster¬
reichischen Gerichte verurteilt werden kann, ist ja die, daß seine Tat,
an den Normen des österreichischen Rechtes gemessen, sich als Ver¬
brechen darstellt. Das österreichische Strafurteil hat diese österreichische
Anschauung — nicht umsonst bezeichnet § 40 St.G.B. den ausländischen
Täter als „Verbrecher“ — zum Ausdrucke zu bringen.
Die mildere Behandlung wird erst bei dem Ausspruche über die
Strafe wirksam. Wie die Kriminalisierung der Tat durch das aus¬
ländische Recht, vom Standpunkte des österreichischen Rechtes aus
betrachtet, als Bedingung der Strafbarkeit erscheint, so hat das Be¬
stehen einer milderen ausländischen Strafdrohung für das öster¬
reichische Recht die Bedeutung eines Milderungsumstandes, und zwar
eines solchen, der unter Umständen eine ganz besondere außerordent¬
liche Strafmilderung zur Folge hat. Das Gericht hat jedoch nicht
unmittelbar den milderen ausländischen Strafsatz anzuwenden, sondern
es hat auch bei Ausmessung der Strafe von den inländischen Straf¬
bestimmungen auszugehen und nur insofern auf die ausländischen
Strafdrohungen Bedacht zu nehmen, als es keine höhere Strafe aus-
Archiv für Kriminalanthropologie. 84. Bd. 11
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VTfi. Rosenblatt
sprechen darf, als das ansländische Recht kennt; das Gericht hat auch
Rechtsfolgen, die nach österreichischem Rechte mit der Strafe ver¬
bunden wären, die aber das ausländische Recht überhaupt nicht oder
nicht für diese Tat kennt, auszuschließen. Dagegen hat es immer
seinem Urteile die Verweisung anzuhängen. So kann es kommen,
daß ein österreichisches Gericht jemand eines Verbrechens schuldig
erkennt, und trotzdem nur eine Geldstrafe oder einen Verweis über
ihn verhängt Im vorliegenden Falle hätte das Landesgericht Troppau
die beiden Angeklagten des Verbrechens des Diebstahls nach §§171
und 174 Ilb St.G.B. schuldig erkennen und sie zu fünf Tagen ein¬
fachen Kerker verurteilen sollen. Ferner hätte es aussprechen müssen,
daß mit der Tat keine Rechtsfolgen verbunden seien. In den Urteils¬
gründen wäre zu sagen gewesen, das Gericht habe statt des im § 178
St.G.B. angedrohten schweren Kerkers nur einfachen Kerker verhängt,
weil es gemäß § 40 St.G.B. die beiden Angeklagten nach dem milderen
deutschen Strafgesetze (§ 242 St.G.B.) behandeln mußte und daher
nur die der dort angedrohten Gefängnisstrafe gleich kommende Kerker¬
strafe verhängen konnte. Im Hinblicke auf § 32 R.StG.B. mußte es
auch den Entfall der Rechtsfolgen aussprechen.“
Die angeführte Kassationsentscheidung 1 ) ist aber nicht erschöpfend
und die Behauptung, daß das Bestehen einer milderen ausländischen
Strafdrohung für das österr. Recht nur die Bedeutung eines Milderungs¬
umstandes habe (das unter Umständen eine ganz besondere außer¬
ordentliche Strafmilderung zur Folge hat) jedenfalls nicht genau, denn
im Sinne der Vorschrift des § 40 SfcG.B. wird oft eine Strafänderung
eintreten müssen und zwar eine sehr weit gehende. Wenn es sich
z. B. um das Verbrechen des gemeinen Mordes handeln würde,
welches nach österr. Strafgesetz mit der Todesstrafe, nach russischem
Strafgesetz aber nur mit einer schweren Freiheitsstrafe bedroht ist,
wäre die Verhängung der Todesstrafe in Österreich nicht zulässig und
müßte diese von Gesetzwegen in eine Kerkerstrafe geändert werden.
Ja es könnten oft Schwierigkeiten und Zweifel entstehen, die
schwer zu lösen wären und nur beweisen, daß das Weltrechts¬
prinzip unseres Strafgesetzes trotz des Lobes, welches ihm mitunter
in der Literatur gespendet worden ist, verfehlt und reformbedürftig ist.
Wir sehen es am deutlichsten in dem mit obigem Kassations¬
urteil entschiedenen Fall. Die deutschen Behörden hielten deu Fall
für zu geringfügig um die Auslieferung ihrer Staatsangehörigen wegen
Vergehens des Diebstahls zu verlangen und verweigerten deren An-
1) Vgl. die Bemerk, zu dieser E. von Dr. M. Sternberg in der Zeitschr.
liir intern. Pr. u. Öff. Recht, XVIII S. 568.
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Beitrage zum Auslieferungsreeht und Auslieferungsverfahren. 163
nähme, weil sie offenbar froh waren die Diebe losgeworden zu sein.
Und nun wurde bei uns der große Apparat der Strafverfolgung mit
staatsanwaltlicher Anklageschrift, Verhandlung vor einem Erkenntnis¬
senat, Nichtigkeitsbeschwerde und Verhandlung vor dem Kassations¬
hof usw. in Bewegung gesetzt, um zwei fremde Diebe zu einer fünf¬
tägigen Freiheitsstrafe zu verurteilen.
Würde es nicht vollständig hinreichend gewesen sein und den¬
selben Zweck erreicht haben, wenn man die Diebe einfach im Ver¬
waltungswege (polizeilich) aus Österreich ausgewiesen hätte?
VII. Betreffend das Verhältnis des Heimatstaates zu
dem ihm vom fremden Staate ausgelieferten Verbrecher
ist zu erwähnen, daß dieser nach Inhalt der meisten Verträge wegen
Verbrechen, wegen welcher die Auslieferung nicht verlangt, oder ver¬
langt aber nicht ausdrücklich bewilligt worden ist, nicht verfolgt
werden darf, es wäre denn, daß er gutwillig zur Verfolgung wegen
derselben seine Zustimmung erteilt (welche aber nur in besonderen
Fällen die Auslieferungsbewilligung des ausliefernden Staates supplieren
kann) oder wenn er nach endgültiger Erledigung des Straffalles, welcher
Gegenstand der Auslieferung war, es unterläßt, in einer bestimmten
Frist (gewöhnlich binnen drei Monaten) das Land zu verlassen, trotz¬
dem ihm dies möglich war.
So bestimmt insbesondere der oftmal erwähnte Vertrag mit Ru߬
land im Art. IV, daß der Ausgelieferte wegen keiner anderen der
Auslieferung vorangegangenen Gesetzesübertretung verfolgt noch be¬
straft werden kann, es wäre denn, daß eine solche Person nach er¬
folgter Abstrafung oder endgültiger Freisprechung wegen jener straf¬
baren Handlung, wegen welcher ihre Auslieferung erfolgte, unter¬
lassen hätte, das Land vor Ablauf einer dreimonatigen Frist zu ver¬
lassen, oder daß dieselbe in der Folge dahin zurückgekehrt wäre.
Andere Verträge lassen überhaupt die Verfolgung wegen anderer
Delikte, welche vor der Auslieferung begangen worden sind und nicht
Gegenstand der Auslieferung waren, nicht zu (so Art. VI des Ver¬
trages mit Griechenland), oder verlangen zur Verfolgung wegen einer
anderen strafbaren Handlung, wenn sie im Sinne des Vertrages über¬
haupt ein Auslieferungsdelikt bildet, die Zustimmung der Re¬
gierung, welche die Auslieferung bewilligt hat (so Art. X des Ver¬
trages mit Rumänien).
Der k. k. Oberste Gerichtshof hat in dieser Frage mit Entschei¬
dung vom 14. Juni 1907 ZI. 3811 (Nr. 3369 Samml.) zu Recht erkannt,
daß die vom beschuldigten von Rumänien ausgelieferten Verbrecher
zu seiner Verfolgung im Inlande erteilte Zustimmung nur dann die
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VIII. Bosenblatt
Erklärung (Einwilligung) der ausliefernden Regierung zur Verfolgung
suppliert, wenn in der Auslieferungsbewilligung der fremden Regierung
eine der dem Beschuldigten zur Last gelegte Straftaten unberücksichtigt
gelassen worden ist und unter der Voraussetzung, daß sie ein Extra¬
ditionsdelikt überhaupt bildet. Es kann also selbst die Zustimmung
des Ausgelieferten zu seiner Verfolgung wegen anderer Verbrechen
eine ausdrückliche Verweigerung der Auslieferung nicht beseitigen,
ebenso wie sie nicht rechtswirksam ist, wenn es sich um ein Ver¬
brechen handelt, welches kein Extraditionsdelikt bildet. 1 )
In einer Entscheidung vom 8. Mai 1897 ZI. 3659 (Nr. 2095
Samml.) hat der k. k. Kassationshof mit Bezug auf den Auslieferungs¬
vertrag mit England zn Recht erkannt, daß der nach Österreich Aus¬
gelieferte wegen strafbarer Handlungen (Tatbestände) rücksichtlich,
welcher die Auslieferung vom auswärtigen Staate nicht zugestanden
worden ist, nicht verfolgt werden darf, und daher ein Schuldspruch
wegen einer solchen Handlung nach § 281 ZI. 9 lit. a resp. § 344
ZI. 10 lit. b St.P.O. nichtig sei. In den Motiven wird ausgeführt:
Das Strafgesetz bestimmt im § 41 mit klaren Worten, daß, wenn
über die gegenseitige Auslieferung von Verbrechern mit auswärtigen
Staaten besondere Verträge bestehen, in Gemäßheit derselben vorzu¬
geben ist. Hiedurch anerkennt das Strafgesetz den Bestand der Ans¬
lieferungsverträge als rechtserzeugenden, bezw. rechtsändernden Faktor,
durchbricht gleichzeitig den allgemeinen Grundsatz des § 37 StG.B.
und macht dem Richter zur Pflicht, sich an die bestehenden Aus¬
lieferungsverträge zu halten. Da somit die letzteren kraft des Ge¬
setzes an die Stelle der Bestimmung der §§ 36—40 St.G.B. zu treten
haben, so sind sie auch sowohl vom öffentlichen Ankläger, als vom
Gerichte amtswegig wahrzunehmen, und es involviert deren Außer¬
achtlassung eine Verletzung des Gesetzes. Jede Verletzung eines
Auslieferungsvertrages kann sohin in bestimmten Fällen auch für den
Ausgelieferten, wiewohl letzterer nur Objekt desselben ist, insoferne
wirksam werden, als sie zugleich eine Verletzung des gültigen Ge¬
setzes in sich faßt. Durfte der Richter nach § 41 St.G.B. mit einer
Verurteilung nicht vorgehen, so bietet der diesem Paragraphen zu¬
widerlaufende Schuldspruch dem Ausgelieferten allerdings Grund zur
Beschwerde, da ja dieser mit einer Gesetzesverletzung einhergehende
Bruch des Auslieferungsvertrages das Interesse des Ausgelieferten
aufliegend empfindlich tangiert.“
Nur im Verhältnis zu Deutschland ist die strafgerichtliche Verfolgung
1) Vgl. Meltzenberg in der Zeitschrift für intern. Pr. und Öff. Recht,
XVIII S. 442.
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Beiträge zum Auslieferungsrecht und Auslieferungsverfahren.
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des Ausgelieferten nur dann auf das Auslieferungsdelikt beschränkt,
wenn die Auslieferungsbewilligung in dieser Hinsicht einen ausdrück¬
lichen Vorbehalt enthält (E. 1. Februar 1907, Z. 20368 Sg. Nr. 3300).
Zu bemerken ist schließlich, daß die Auslieferung auch an Be¬
dingungen geknüpft werden kann, welche dann das Heimatsland gegen¬
über dem ausgelieferten eigenen Untertan befolgen muß z. B. die Be¬
dingung, daß er nicht vor ein Ausnahmsgericht gestellt werden darf.
Diese Bedingung wurde z. B. bei einem unlängst nach Rußland Aus¬
gelieferten, wo bekanntlich Ausnahmegerichte (Militärgerichte) funk¬
tionieren, vom k. k. Justizministerium gestellt, und die Einhaltung
dieser Bedingung mit allem Nachdruck verlangt.
Im Vertrage mit der Schweiz vom 10. März 1906 heißt es aus¬
drücklich im Art. VI, daß der auf Grund des Vertrages Ausgelieferte
im Staate, der die Auslieferung begehrt hat, nicht vor ein Ausnahme¬
gericht gestellt werden darf, und im Schlußprotokoll dieses Aus¬
lieferungsvertrages sub ZI. 2 findet sich eine noch weiter gehende
allgemeine Bedingung, wornach die im Grunde dieses Vertrages aus¬
gelieferten Personen in öffentlicher Verhandlung beurteilt werden
müssen, insoweit nicht aus Gründen der Sittlichkeit oder der öffent¬
lichen Ordnung die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden muß.
Ebenso enthält der Vertrag mit der Schweiz die Beschränkung,
daß wenn das Strafgesetz des um die Auslieferung ersuchenden
Staates für die strafbare Handlung, welche Gegenstand der Auslieferung
war, eine körperliche Strafe androht, diese Strafe gegebenen Falls
gegen den Ausgelieferten in eine Freiheitsstrafe oder Geldstrafe um¬
zuwandeln ist, somit nicht vollzogen werden darf, was aber nach ZI. 3
des Schlußprotokolles für die Todesstrafe nicht gilt, diese daher durch
die Bestimmung des Art. V nicht ausgeschlossen ist.
Dagegen heißt es im Schlußprotokoll des Vertrages mit Rumänien
vom 27. Juni 1901 unter ZI. 2, daß wenn die Auslieferung einer
Person aus Rumänien wegen eines mit der Todesstrafe bedrohten
Verbrechens begehrt wird, bei dem es nicht ausgeschlossen ist, daß
deshalb an dem Ausgelieferten die Todesstrafe vollzogen werden
könnte, so steht es in dem freien Ermessen der rumänischen Regierung
die Auslieferung abzulehnen.
Daraus folgt, daß die rumänische Regierung gegebenen Falls
die Auslieferung an die Bedingung knüpfen kann, daß gegen den
Auszuliefemden die Todesstrafe nicht vollzogen werden darf und dürfte
in diesem Falle die Verhängung der Todesstrafe in Österreich aus¬
geschlossen sein.
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Vill. Rosenblatt
Einen interessanten Beitrag zur Lehre vom Verhältnis des Hei¬
matsstaates zn seinem eigenen von einem fremden Staate aasgelieferten
Verbrecher, liefert folgender vor dem Appellationsgerichtshofe in Bor¬
deaux am 3. Februar 1905 verhandelte Fall: (siehe Revue de Droit
international privö et de droit pönal intern. 1905 S. 704).
Am 11. Dezember 1903 wurde der alte Rezidivist Jabonille vom
Strafgericht in Bergerac wegen des Vergehens des Betruges zu acht
Monaten Arreststrafe in contumacia verurteilt Kurz darauf wurde in
Erfahrung gebracht, daß sich Jabonille nach Spanien geflüchtet hatte,
worauf auch das Auslieferungsverfahren eingeleitet wurde.
Die spanischen Behörden machten aber kurzen Prozeß. Noch
ehe die Regierung selbst das Auslieferungsverfahren zu untersuchen
vermochte, wurde Jabonille aus dem Lande verwiesen und der fran¬
zösischen Grenzpolizei übergeben.
Gegen dieses Vorgehen erhob Jabonille Protest Er wandte sich mit
einer Eingabe an den Justizminister und appellierte an dessen Rechts¬
gefühl. Der Versuch blieb nicht ohne Erfolg, denn kurz darauf erteilte
der Justizminister dem Oberstaatsanwälte in Bordeaux den Auftrag,
die Enthaftung Jabonilles vor dem dortigen Appellgerichte anzustreben.
Dem Anträge des Justizministeriums wurde Folge geleistet, Jabo¬
nille auf freien Fuß gesetzt und ihm eine 14 tägige Frist zum Ver¬
lassen des Landes oder zur freiwilligen Antretung seiner Verhaftung
eingeräumt.
VIII. Muß gegen den eventuell Auszuliefernden die
Haft verhängt werden? Nach § 39 St.G. ist der Ausländer, der
im Auslande ein Verbrechen begangen hat und nach Österreich geflüchtet
ist, bei seiner Betretung im Inlande immer in Verhaft zu nehmen.
Der Grund dieser strengen Bestimmung war offenbar der, daß
der fremde Verbrecher, der sein Heimatsland verlassen hat, sich auf
der Flucht befindet, also stets fluchtverdächtig ist.
Diese aus dem St.G. vom Jahre 1803 § 33 rezipierte Bestim¬
mung wurde schon durch das Hofdekret von 1808 gemildert, in
welchem es heißt, daß der Fremde entweder zu verhaften oder doch
auf eine die Gefahr der Entweichung ausschließende Art zu beobachten
sei. Die Vorschrift des § 39 St.G. erscheint aber geändert durch die
Bestimmung des § 59 St.P.O., welcher nur verlangt, daß gegen die
Entweichung des Beschuldigten die nötige Vorkehrung zu treffen sei.
Die Haft ist somit nach dem Gesetze nicht obligatorisch und es
dürfte heutzutage keinem begründeten Zweifel unterliegen, daß die
Bestimmung der Strafprozeßordnung über die Enthaftung des Be¬
schuldigten gegen Bürgschaft (Kaution) auch auf den Fall der Ver-
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Beiträge zum Auslieferungsrecht und Auslicferungsverfahrcn.
167
haftung eines Ausländers zum Zwecke eventueller Auslieferung oder
Aburteilung im Inlande (§ 40 St.G.) Anwendung zu finden habe.
Treffend bemerkt auch Lammasch (S. 657), daß es sonderbar
wäre, wenn ein Staat die Freiheit einer Person im Interesse der
Rechtspflege eines fremden Staates weitergehenden Beschränkungen
unterwerfen würde, als im Interesse seiner eigenen.
Von diesem Gesichtspunkte ausgehend, bat auch das k. k. Justiz¬
ministerium mit Erlaß vom 2t. Jänner 1901 ZI. 1722 den Staats¬
anwaltschaften empfohlen, in Auslieferungsfällen nicht blindlings mit
dem Anträge auf Haftverhängung vorzugehen, sondern in jedem ein¬
zelnen Falle genau zu erwägen, ob eine so einschneidende Maßregel
genügend begründet sei J ).
Die einzelnen Auslieferungsverträge enthalten aber darüber be¬
sondere Bestimmungen.
Insbesondere ordnen die meisten Auslieferungsverträge die obli¬
gatorische Verhaftung des eventuell Auszuliefernden über Verlangen der
fremden Regierung an, und zwar soll die vorläufige provisorische Ver¬
haftung schon über telegraphische, oder briefliche Verständigung seitens
der ausländischen Behörde, daß ein Haftbefehl vorliegt, verfügt werden.
Ob nun diese Bestimmungen der Auslieferungsverträge, welche
mit der Vorschrift des § 59 St.P.O. nicht übereinstimmen, rechts¬
verbindlich sind oder nicht, ist fraglich.
Lammasch (S. 652) erklärt sie für nicht zu Recht bestehend,
weil diese Verträge mangels Genehmigung von seiten des Reichsrates
keine Gesetzeskraft erlangt haben und daher umsoweniger die Norm
des § 59 St.P.O. derogieren können, als diese auf dem Gesetze zum
Schutze der persönlichen Freiheit vom 27. Oktober 1862 beruht,
welches durch Art. 8 des Staatsgrundgesetzes vom 21. Dezember
1867 Nr. 142 R.G.B. zu einem Bestandteil der Österreich. Staats¬
verfassung erklärt worden ist und somit nicht einmal durch ein im
gewöhnlichen parlamentarischen Wege, sondern nur durch ein mit
Zweidrittel-Majorität zustande gekommenes Gesetz aufgehoben oder
abgeändert werden können.
Der Kassationshof geht in der bereits oben besprochenen Ent¬
scheidung vom 8. Mai 1897 Nr. 2095 der Sammlung von der Ansicht
aus, daß durch die Bestimmung des § 41 StG., wonach dann, wenn
über die gegenseitige Auslieferung von Verbrechern mit auswärtigen
Staaten besondere Verträge bestehen, in Gemäßheit derselben vor¬
zugehen sei, diesen Auslieferungsverträgen im voraus Gesetzeskraft
1) Vgl. auch Miiicka: „Obsolete Strafgesetze“ in der österr. Richterzeitung
1907 Nr. 7 und 8.
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VIII. R 08 ENBLATT
verliehen wird, und daher deren Bestimmungen von unseren Gerichten
von Amts wegen zu berücksichtigen sind, und auch Lammasch sagt
(S. 807) „da nach § 41 des österr. St.G. die Auslieferungsverträge
an Stelle der Normen der §§ 39 ff. StG. treten und somit Gesetzeskraft
haben, so sind zunächst Staatsanwaltschaft und Gerichte verpflichtet,
diese gesetzlichen Normen wie alle anderen von Amts wegen wahr¬
zunehmen.“
Fraglich wäre daher, ob durch die erwähnte Vorschrift des § 41
St.G. nur den materiellrechtlichen Bestimmungen der Auslieferungs¬
verträge Gesetzeskraft verliehen wurde, oder auch den prozessualen.
Die allgemein lautende Bestimmung des § 41 St.G. würde für
die letztere Ansicht sprechen und glauben wir daher, daß da, wo die
nach der StPO, von 1873 abgeschlossenen Auslieferungsverträge die
Verhaftung des Auszuliefernden über Verlangen des auswärtigen
Staates anordnen, die Verhaftung als obligatorisch zu betrachten und
daher zu vollziehen sei.
Einen Schutz gegen die auf Antrag des fremden Staates verfügte
Haft geben aber diejenigen Bestimmungen der Auslieferungsverträge,
nach welchen die Enthaftung des provisorisch Angehaltenen zu verfügen
ist, wenn das formelle Auslieferungsbegehren nicht in einer bestimmten
Frist unter Vorlage der erforderlichen Dokumente gestellt wird.
Die Frist beträgt bald 20 Tage, bald einen Monat und läuft vom
Tage der vollzogenen provisorischen Verhaftung.
In der Praxis wird diese Beschränkung der Haft nicht beachtet,
ja es wird die Haft mit folgender Begründung verlängert: es wird
behauptet, daß doch nach § 40 St.G. die subsidiäre Strafverfolgung
des fremden Verbrechers im Inlande einzutreten hat und daher dessen
Verhaftung nach den Bestimmungen unserer Strafprozeßordnung zu¬
lässig resp. geboten sei.
Diese Argumentation wäre aber nur in den Fällen zutreffend,
wo unsere Gerichte von Anfang an auf Grund des § 39 St.G. ein-
schreiten und auf Grund der §§ 175 und 180 St.P.O. die Haft ver¬
hängen. Ist aber die Verhaftung auf Grund des Begehrens einer
ausländischen Behörde mit Rücksicht auf einen avisierten Aus¬
lieferungsantrag erfolgt, so können die Bestimmungen der §§ 39
und 40 St.G. nicht mehr platzgreifen, sondern es treten diejenigen
der Auslieferungsverträge in Wirkung. Die Voraussetzung des § 40
d. i. die Verweigerung seitens der ausländischen Behörde der An¬
nahme des Auszuliefernden liegt nicht vor; umgekehrt durch das Ver¬
langen der Verhaftung desselben ist der entgegengesetzte Wille des
Auslieferungsbegehrens manifestiert; es muß daher gemäß den Be-
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Beiträge zum Auslieferungsrecht und Auslieferungsverfahren. 169
Stimmungen des Auslieferungsvertrages vorgegangen werden und
somit ist im Falle der Nichteinhaltung der Frist zur Begründung der
provisorischen Verhaftung sofort vom Untersuchungsrichter die Frei¬
lassung des vorläufig Verhafteten zu verfügen, ohne erst die Zu¬
stimmung des Oberlandesgerichtes oder gar des Justizministers ab¬
zuwarten. Selbstverständlich bleibt der ausländischen Behörde das
Recht gewahrt, nachträglich das Versäumte einzuholen und sollten
dann unsere Gerichte das Auslieferungsbegehren für begründet er¬
achten, so werden sie nach der Vorschrift des § 59 St.P.O. vorzugehen
haben, d. h. die Haft wird nicht mehr obligatorisch, sondern nur
fakultativ zu verhängen sein, falls nach Ermessen unserer Gerichte
andere Vorkehrungen gegen die Entweichung des Beschuldigten sich
nicht als hinreichend sicher darstellen würden.
In diesem Sinne ist auch unserer Ansicht nach die Bestimmung
des Art. XVIII des österreichisch-russischen Auslieferungsvertrages
vom 15. Oktober 1874 zu verstehen, welcher sagt, daß durch diesen
Vertrag und innerhalb der Bestimmungen desselben die in den beiden
Staaten bestehenden den weiteren Geschäftsgang bei der
Auslieferung regelnden Gesetze wechselseitig anerkannt werden.
Wir resümieren daher wie folgt:
Im Sinne des § 59 St.P.O. ist die Haft des auszuliefernden
fremden Verbrechers nicht obligatorisch. Er kann nach den ent¬
sprechenden Bestimmungen der §§ 191, 195 St.P.O. auf freiem Fuße
belassen oder gegen Bürgschaft enthaftet werden. Wo jedoch nach
den Bestimmungen des bezüglichen Auslieferungsvertrages die Haft
auf Begehren einer Behörde des fremden Staates kategorisch ange¬
ordnet wird, dort muß die Bestimmung des § 59 St.P.O. zurück¬
weichen und es gelten die Vorschriften des Auslieferungsvertrages.
Hält nun aber der fremde Staat die im Auslieferungsvertrage fest¬
gesetzte Frist zur Begründung der Haft und Vorlage der erforderlichen
Nachweise nicht ein, so hat die Freilassung des Verhafteten sofort zu
erfolgen.
Für das weitere Verfahren tritt wieder die Bestimmung des § 59
St.P.O. in Kraft.
IX. Die Frage, ob der Justizminister an den im Sinne des § 59
St-P.O. gefaßten Beschluß im Falle, wenn dieser auf Ablehnung des
Auslieferungsbegehrens lautet, gebunden ist oder trotz desselben die
Auslieferung bewilligen darf, war seit jeher strittig.
Lammasch (1. c. S. 644ff) konstatiert, daß nach dem etwas un¬
deutlich gefaßten Texte des § 59 die Stellung des Justizministers in
Auslieferungsangelegenheiten keine völlig klare ist und meint, daß aus
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170
VIII. Rosenblatt
der Bestimmung daß das Oberlandesgericht seinen Ansliefernngsbeschlnß
jederzeit vorläufig dem Justizministerium zur Genehmigung vorlegen
müsse, zu folgen scheine, daß zwar die Genehmigung dieses Beschlusses
durch das Justizministerium eine Bedingung seiner Ausführbarkeit sei,
daß aber das Justizministerium doch nicht selbständig etwa entgegen
dem Beschlüsse des Oberlandesgericbtes eine Auslieferung gewähren
könnte. Es könnte somit das Justizministerium einem Gerichtsbeschlüsse
auf Auslieferung des Beschuldigten die Ausführung verweigern, es
könnte aber nicht eine Auslieferung entgegen einem Gerichtsbeschlüsse
gewähren. Es macht aber Lammasch dem Justizministerium die
Konzession, daß wenn der Antrag der Ratskammer auf Gewährung
der Auslieferung lautet, das Justizministerium über den Beschluß des
Oberlandesgerichtes auf Verweigerung der Auslieferung hinweggehen
und den Antrag der Ratskammer bestätigen könne. Dies sei die
äußerste Grenze, bis zu welcher das Justizministerium angesichts des
§ 59 StP.O. gehen könne, es dürfe aber keinesfalls auch gegen einen
mit dem Anträge der Ratskammer übereinstimmenden Beschluß
des Oberlandesgerichtes auf Ablehnung des Auslieferungsbegehrens
die Auslieferung bewilligen.
Die Entstehungsgeschichte des, wie Lammasch richtig sagt,
unklaren § 59 StP.O. gibt uns keinen Aufschluß über die auf¬
geworfene Frage.
Die Vorschrift des $ 59 stammt eigentlich noch aus dem Justiz¬
hofdekrete vom 1.0. Dezember 1808 Nr. 874 J.G.S. Von hier wurde
sie in die St.P.O. vom J. 1850 im § 68 übernommen und ist sodann
in die St.P.0. vom J. 1853 und sodann auch in das geltende Gesetz
ohne wesentliche Änderungen übergegangen (vgl. Würth Erläuter. zur
StP.O. vom J. 1850 S. 166 und Mayers Handbuch I. S. 429 St.)
Aus den Erläuterungen Würths, des Urhebers der StP.O. vom
Jahre 1850, würde aber folgen, daß nur der Beschluß der ersten In¬
stanz auf Auslieferung dem Oberlandesgerichte vorzulegen sei,
welches denselben entweder bestätigen oder aufheben kann; im
Falle der Bestätigung des Beschlusses oder richtiger des An¬
trages der Ratskammer auf Auslieferung hat das Oberlandesgericht
diesen seinen die Auslieferung bewilligenden Beschluß dem Justiz¬
ministerium zur Genehmigung vorzulegen, welchem allein die
Prüfung und Entscheidung zusteht, ob die Auslieferung an den requi
rierenden Staat mit Rücksicht auf die bestehenden Verträge und auf
die obwaltenden internationalen Verhältnisse stattfinde.
Im Falle der Ablehnung der Auslieferung würde also der Be¬
schluß des Oberlandesgerichtes endgültig sein und das Justizministe-
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Beiträge zum Auslicferungsrccht und Auslieferuugsverfahren.
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rium wäre nicht befugt, entgegen dem Beschlüsse des Oberlandes¬
gerichtes die Auslieferung zu bewilligen.
Dies scheint nns ancb das Richtige zn sein und zwar nicht nur
für den Fall, wo sich die Ratskammer gegen die Anslieferung aus¬
gesprochen hat, sondern auch für die Fälle, wo die Ratskammer sich
für die Auslieferung ausgesprochen hätte, denn die Ratskammer hat
nach § 59 St.P.O. eigentlich gar keinen selbständigen Beschlnß zn
fassen, sondern nur bei dem Gerichtshöfe zweiter Instanz den Antrag
auf Auslieferung zn stellen, falls die im $ 59 angeführten Voraus¬
setzungen zutreffen, und nur das Oberlandesgericbt hat seinen Beschluß
dem Justizminister zur Genehmigung vorzulegen, woraus mit Recht
im Zusammenhang mit dem ersten Satz des § 59 gefolgert werden
darf, daß nur der Beschluß auf Bewilligung der Auslieferung zur
Genehmigung vorzulegen sei, nicht aber der Beschluß auf Ablehnung.
Diese Ansicht vertritt auch der Reichsratsabgeordnete Dr. Ptas'
in einem in der „Zeit“ vom 16. Juli 1908 veröffentlichten Artikel, in
welchem er davon ansgeht, daß im Sinne des § 59 St.P.O. die Frage
der Auslieferung von Verbrechern als eine Rechtsfrage zu betrachten
sei und deren Entscheidung daher den Gerichten und nicht dem
Justizministerium als einer Verwaltungsbehörde überlassen ist
Jedenfalls ist die Frage im Gesetze nicht klar entschieden und
wäre eine legislative Entscheidung derselben erwünscht
Im Falle legislativer Regelung der Frage wäre es aber wohl am
entsprechendsten, die Entscheidung über jedes Auslieferungsbegehren
in letzter Instanz nicht dem Justizministerium, sondern dem ober¬
sten Gerichtshöfe zu übertragen, denn da es sich um An¬
wendung gesetzlicher Bestimmungen handelt, wobei politische Momente
keine Rolle spielen sollten, so wäre die Übertragung der Entscheidung
an den Obersten Gerichtshof eine Gewähr dafür, daß nur gesetzliche
Erwägungen für die Entscheidung maßgebend wären.
Der auf Grund des Antrages der Ratskammer nach § 59 St.P.0
zu erlassende Beschluß des Oberlandesgerichtes wäre sowohl dem Be¬
schuldigten, dessen Auslieferung begehrt wird, wie auch der Staats¬
anwaltschaft zuzustellen und beiden Parteien sollte das Rechtsmittel
der Beschwerde an den Obersten Gerichtshof zustehen, dessen Ent¬
scheidung dann für das Justizministerium resp. die Justizverwaltung
bindend wäre.
Es wäre dies auch für das Justizministerium vom Vorteil, da
dieses durch die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes gegen alle
möglichen Einwendungen und diplomatischen Erörterungen ge¬
deckt wäre.
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172
VIII. Rosesblatt
ad X. Kann die vom Justizministerium bereits be¬
schlossene Auslieferung vor deren Ausführung wieder
rückgängig gemacht werden; mit anderen Worten: gibt
es eine Wiederaufnahme des Auslieferungsverfahrens?
Es können nach bewilligter Auslieferung: a) entweder Tatsachen
bekannt werden, welche, wenn sie vor der Erledigung des Aus¬
lieferungsbegehrens bekannt gewesen wären, eine andere Entscheidung
herbeigeführt hätten oder auch: b) Tatsachen sich ereignen, welche
eine Sistierung der beschlossenen Auslieferung eventuell einen Wider¬
ruf derselben begründen können. Der erstere Fall (a) kann sowohl
zugunsten wie zuungunsten des Beschuldigten eintreten.
Es waren z. B. die dem ursprünglichen Auslieferungsbegehren
zugrunde liegenden Beweise unzulänglich und werden nun nach
bereits erfolgter Ablehnung des Begehrens von der die Auslieferung
verlangenden auswärtigen Regierung ergänzt, oder umgekehrt: der
Beschuldigte ist erst nach bewilligter Auslieferung imstande Beweise
seines Alibi vorzubringen oder den Nachweis zu liefern, daß er zur
Zeit der Tat unzurechnungsfähig war, daß es sich um ein Delikt
handelt, wegen dessen die Auslieferung nicht statthaft ist, daß die
strafbare Handlung verjährt sei und dgl. mehr. Der Fall b würde
vorliegen, wenn der Beschuldigte nach bewilligter Auslieferung in
eine Geisteskrankheit verfallen würde.
Die erwähnten Fälle sind weder im Gesetze noch in den Aus¬
lieferungsverträgen vorhergesehen wie überhaupt vom Wiederaufnahme¬
verfahren keine Erwähnung geschieht.
Lammasch (S. 728) erwähnt den Fall, wenn das requirierte
Individuum sich dem gegen dasselbe eingeleiteten Verfahren, bevor
noch eine Entscheidung erfolgt war, entzogen hatte und dann später
neuerdings in dem Gebiete des um seine Auslieferung ersuchten
Staates betreten wird und bemerkt ganz richtig, daß in diesem Falle
eine Erneuerung des Antrages um Auslieferung nicht notwendig sei,
sondern es wird nur das Verfahren auf Grund des früheren Ansuchens
fortgesetzt.
In diesem Falle findet eigentlich kein Wiederaufnahmeverfahren
statt, sondern ähnlich wie in den Fällen des § 363 St.P.O. eine form¬
lose Fortsetzung des früheren Verfahrens. Von den Fällen der eigent¬
lichen Wiederaufnahme erwähnt Lammasch nur den, wenn nach ab¬
schlägiger Erledigung des Auslieferungsautrages der verfolgende Staat
Umstände dartut, welche geeignet sind das der Bewilligung der Aus¬
lieferung entgegenstehende Bedenken zu beheben, und entscheidet
richtig, daß in diesem Falle eine Wiederaufnahme des Auslieferungs-
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Original fram
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Beiträge zum Auslieferungsrecht und Auslieferungsverfahren.
178
Verfahrens statthaft sei, jedoch ohne vorläufige Verhaftung auf Grund
eines direkten Ansuchens des ausländischen Gerichtes, da durch die
ergangene Entscheidung des Justizministers, daß die Auslieferung nicht
stattfinde, die Gerichte gebunden sind. Die anderen oben dargestellten
Fälle werden von Lammasch nicht berührt.
In der Praxis wird die Zulässigkeit des Wiederaufnahmeverfahrens
zugunsten des Auszuliefemden, sowie der Änderung des bereits ge¬
faßten und vom Justizministerium bestätigten Beschlusses der Aus¬
lieferung zufolge neu vorgekommener und nachträglich erhobener
Tatsachen zugegeben und ebenso auch die Sistierung des Vollzuges
der Auslieferung zufolge der Einleitung des Wiederaufnahmeverfahrens
als statthaft erklärt
Es liegt uns diesbezüglich folgender Fall vor.
Vom Oberlandesgericht X. wurde der Beschluß auf Auslieferung
des A. gefaßt und dem Justizministerium zur Bestätigung vorgelegt.
Nachdem das Justizministerium den Auslieferungsbeschluß bestätigt
hatte, wurden die Behörden des die Auslieferung begehrenden Staates
hievon verständigt und die nötigen Schritte zum Vollzug der Aus¬
lieferung angeordnet.
Inzwischen erlitt der Auszuliefernde im Gefängnis Tobsucbtsan-
fälle und es ergaben sich Bedenken, ob er nicht an einer Geisteskrank¬
heit leide und transportunfähig sei.
Sein Geisteszustand wurde durch 2 Gerichtspsychiater geprüft,
welche ihr Gutachten dahin abgaben, daß sich bei ihm allem Anscheine
nach eine Geisteskrankheit entwickelt habe und es daher geboten sei
mit dem Vollzüge der Auslieferung inne zu halten, weil solche In¬
dividuen während des Transportes Selbstmordversuche verüben können,
welchen die strengste Beaufsichtigung vorzubeugen nicht in der Lage
sei. Es wäre daher eine weitere Beobachtung des A. vor endgültigem
Gutachten erforderlich.
Die Batskammer entschied sich trotzdem für die Auslieferung
weil sie es als nicht erwiesen erachtete, daß der Auszuliefernde wirk¬
lich geisteskrank sei, die Feststellung seines Geisteszustandes daher
Sache der russischen Gerichte sei.
Inzwischen überreichte aber der Verteidiger des A. eine Eingabe,
in welcher er eine Reihe von Umständen und Beweisen zum Nach¬
weise der Tatsache vorbrachte, daß die dem A. zur Last gelegte
Handlung, welche in dem Auslieferungsbeschluß als ein nicht poli¬
tisches Verbrechen qualifiziert worden ist, sich in Wirklichkeit als
politisches resp. relativ politisches Delikt darstelle und deshalb die
Auslieferung nicht zulässig sei. In dieser Eingabe wurde auch an-
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174
VIII. Rosenblatt
geführt, daß gegen den Auszuliefernden in Rußland bereits ein Todes¬
urteil gefällt worden sei, daher dort sein Geisteszustand gar nicht mehr
geprüft, sondern das Urteil sofort vollstreckt werden würde.
Das Oberlandesgericbt hat nun von der Erwägung geleitet, daß
in dieser Auslieferungs-Angelegenheit bereits nach Bewilligung der
Auslieferung und Verständigung der russischen Behörden gewichtige
Bedenken aufgetaucht sind, ob die dem A. zur Last gelegte Tat
wegen welcher er ausgeliefert werden , soll, nicht doch als ein Teil¬
akt einer Aufruhrbewegung anzusehen sei, die zur kritischen Zeit die
politischen Gegner der russischen Regierung erfaßt hatte, wie auch,
daß es das Recht und die Pflicht des Oberlandesgericbt sei, mit dem
ihm zu Gebote stehenden gesetzlichen Mitteln in jedem Stadium
des Auslieferungsverfahrens durch provisorische Maßnahmen
zu verhindern, daß eine Auslieferung entgegen den Voraussetzungen
des Auslieferungsvertrages zustande kommt, dem Landesgerichte den
Auftrag erteilt mit der Auslieferung des A. inne zu halten und fest¬
zustellen, ob sich die ihm zur Last gelegte Tat nicht als ein relativ
politisches Delikt darstelle und zu diesem Zwecke weitere Erhebungen
zu pflegen, unter anderem auch eine Abschrift des gegen ihn angeb¬
lich bereits erflossenen Urteiles zu verlangen, da aus den Motiven
dieses Urteiles der Charakter der Tat am besten festgestellt werden
könnte.
Nach Durchführung dieser nachträglichen Erhebungen, nach Ein¬
vernahme von Zeugen usw. beschloß das Oberlandesgericht in ana¬
loger Anwendung der Bestimmungen über die Wiederaufnahme des
Strafverfahrens den früheren Beschluß auf Auslieferung des A. zurück¬
zuziehen und das Auslieferungsbegebren abzulehnen und zwar aus
folgenden Gründen:
Trotzdem das angeblich wider A. durch die russischen Gerichte
gefällte Todesurteil nicht zugekommen ist, so glaubt das Oberlandes¬
gericht dennoch, daß die nachträglichen in dieser Auslieferungs-
Angelegenheit durchgeführten Erhebungen die Feststel¬
lungen, auf Grund welcher die Auslieferung bewilligt
wurde, derart erschüttert und fraglich gemacht haben,
daß für einen Revisionsbeschluß ein mehr als zureichen¬
des Material vorhanden ist.
Aus den Aussagen der nachträglich vernommenen vollständig
glaubwürdigen Zeugen ist nämlicb zu entnehmen, daß die revolutionäre
Partei in Russisch-Polen zu politischen Zwecken Attentate auf Regierungs¬
organe vollführe, daß auch das fragliche Attentat auf die Landwächter
im Aufträge der revolutionären Partei verübt worden ist, welche um
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Beiträge zum Auslieferungsrecht und Auslieferungsverfahren.
175
den lästigen Cbansseerevisionen ein Ende zu machen und die Sicher-
beitsorgane zn zwingen, ihre Tätigkeit in dieser Richtung anfzngeben,
ihren Mitgliedern den Auftrag erteilt habe, sich solchen Revisionen
mit den Waffen in der Hand zn widersetzen, daß das in Rede stehende
Attentat daher als ein im Aufträge der Partei verübte Tat betrachtet
werden muß, daß die russischen Gerichte selbst Attentate,
welche von Mitgliedern der revolutionären Partei gegen
Sicherheitsorgane verübt werden, als politische Verbrechen
qualifiziert nnd nnter diejenigen Gesetzesvorschriften subsumiert,
welche die politische Revolution zum Gegenstände haben, daß schließlich
auch die Befreiung des A. aus dem Gefängnisse in W. durch die Mit¬
glieder der revolutionären Partei bei welcher Gelegenheit nur poli¬
tische Gefangene befreit wurden, für den politischen Charakter des
dem A. zur Last gelegten Deliktes spricht.
In Anbetracht dieser neuen Tatsachen, welche falls sie bei der
Fassung des Auslieferungs-Beschlusses bekannt gewesen wären, je¬
denfalls einen Beschluß auf Nichtauslieferung hervorgerufen hätten,
ohne sogar dem Umstand zn berücksichtigen, daß nachdem der Zeuge
X. seine Aussage gegen A. zurückgezogen hat, eigentlich gar keine
Beweise für die Schuld des letzteren vorliegen, glaubt das Oberlandes¬
gericht, daß es ein Gebot der Gerechtigkeit sei, die bereits bewilligte
Auslieferung des A. rückgängig zu machen, widrigenfalls seine Aus¬
lieferung als ein gegen die ausdrücklichen Vorschriften des Aus¬
lieferungs-Vertrages erfolgter Akt betrachtet werden müßte.
Es wird schließlich vom Oberlandesgerichte noch hervorgehoben,
daß die bereits bewilligte Auslieferung des A. gegenwärtig auch aus
dem Grunde unstatthaft wäre, weil er laut gerichtsärztlichem Gut¬
achten an neurasthenischen Wahnsinn leidet, demnach geisteskrank ist,
wider ihn daher keinerlei strafprozessualen Schritte, also auch nicht
die Extradition unternommen werden könnte.
Das Justizministerium hat obigen Beschluß des k. k.
Oberlandesgerichtes zur Kenntnis genommen und damit
wurde die Sache endgültig erledigt d. i. es wurde im Wege der
Wiederaufnahme des Verfahrens der frühere Auslieferungsbeschluß
abgeändert und widerrufen.
Daß also ein Wiederaufnahmeverfahren nach Analogie der Be¬
stimmungen der §§ 353 u. ff. der St.P.O. zulässig sei, daß man in dem¬
selben nachträglich den Beweis erbringen könne, daß die gesetzlichen
resp. vertragsmäßigen Bedingungen der Auslieferung nicht vorliegen, so¬
wie daß der Auslieferuugsbeschluß auf falschen Voraussetzungen beruhe,
und daß sohin der Auslieferungsbeschluß rückgängig gemacht werden
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176
VIII. Rosenblatt
kann, trotzdem bereits die Behörden des die Auslieferung begehren¬
den Staates vor der früher erfolgten Bewilligung der Auslieferung ver¬
ständigt worden sind, ist vom k. k. Justizministerium anerkannt worden.
Im Auslieferungsvertrage mit Griechenland vom 21. Dezember
1904 finden wir im Art 13 eine eigentümliche Bestimmung, aus welcher
die Zulässigkeit der Wiederaufnahme des Äuslieferungsverfahrens
offenbar resultiert.
Es wird nämlich daselbst bestimmt, daß wenn der gesuchte und
unter den Bedingungen dieses Auslieferungsvertrages in Haft ge¬
nommene Verbrecher innerhalb dreier Monate nach seiner Haftnahme
nicht übergeben und weggeführt wurde, so ist er in Freiheit zu setzen,
und es kann aus dem gleichen Grunde seine Auslieferung
nicht mehr begehrt wer4en.
Daraus folgt a contrario, daß in anderen Fällen somit auch
wenn das erste Ausliefemngsbegehren abgelehnt worden wäre, die
Auslieferung aus dem gleichen Grunde d. i. wegen desselben Ver¬
brechens nochmals begehrt werden kann, selbstverständlich, wenn die
früheren Mängel behoben und die Bedenken, welche der Bewilligung
der Auslieferung entgegenstanden, durch nachträglich vorgebrachte
Beweise zerstreut worden sind.
Wenn wir nun die oben besprochenen Fragen und Erörterungen:
überblicken, so gelangen wir zu folgenden Ergebnissen:
De lege lata: Die österr. Gerichte sind ermächtigt, selbständig
d. i. unabhängig von den Behauptungen des um die Auslieferung an
suchenden Staates, festzustellen, ob sämtliche Voraussetzungen der Aus¬
lieferung vorliegen und kein gesetzliches oder vertragsmäßiges Hinder¬
nis derselben im Wege steht.
Im Verhältnis zu denjenigen Staaten, mit welchen Auslieferungs¬
verträge geschlossen worden sind, findet die Auslieferung nur wegen
der in den Auslieferungs- Verträgen aufgezählten strafbaren Hand- '
lungen statt.
Wegen politischer und mit denselben in Verbindung stehender
Delikte erfolgt keine Auslieferung.
Wo eine Auslieferung wegen eines bestimmten von einem Aus¬
länder begangenen Deliktes unzulässig ist, ist de lege lata auch eine
Verfolgung im Inlande wegen dieser Handlung unzulässig. Nur wenn
ein Ausländer, welcher im Auslande ein gemeines, der Auslieferung
unterliegendes Delikt begangen hat und nur deshalb nicht ausgeliefert
wird, weil er inzwischen österreichischer Staatsbürger geworden ist,
kann die Verfolgung im Inlande stattfinden.
Eine Geisteskrankheit des Auszuliefernden hindert die Auslieferung.
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Beiträge zum Auslieferungsrecht und Auslieferungsverfahren.
177
Bezüglich des Verfahrens in Auslieferungssachen hat die Vor¬
schrift des § 59 StP.O. zur allgemeinen Richtschnur zu gelten. Die
Verhaftung des Auszuliefernden ist gemäß derselben nicht obligatorisch,
insoferne Auslieferungsverträge nicht anders bestimmen.
Der Beschluß des Oberlandesgerichtes, mit welchem die Auslieferung
abgelehnt wird, ist endgültig. Nur der die Auslieferung bewilligende
Beschluß bedarf der Genehmigung seitens des Justizministeriums.
Eine Wiederaufnahme des Auslieferungsverfahrens ist sowohl zu¬
gunsten wie zuungunsten des Auszuliefernden zulässig.
De lege ferenda:
Bei der Bekämpfung der Verbrecher insbesondere des internatio¬
nalen Verbrechertums spielen die Auslieferungsgesetze eine nicht zu
unterschätzende Rolle. Gute Auslieferungsgesetze können den Kampf
gegen die Verbrecher fördern. Schlechte erschweren ihn, hindern die
Bestrafung der flüchtigen und gewähren vielen Verbrechern Straflosigkeit
ohne triftigen Grund. Einige statistische Daten dürften dies bekräftigen.
Es wurden insbesondere:
Ausgeliefert von Österreich:
im
Jahre
1900
: Personen
160;
abgelehnte Auslief.-Begehren:
15
7 ?
77
190t
77
185;
7 ?
77
77
19
7 ?
77
1902
77
140;
77
77
77
13
77
77
1903
?7
249;
77
77
77
19
77
77
1904
77
201;
77
7 »
77
14
77
7 ?
1905
77
129;
77
77
77
08
zusammen:
1064
88
Dagegen wurden an
Österreich ausgeliefert:
im
Jahre
1900:
Personen
104;
abgelehnte Auslief.-Begehren:
9
77
77
1901
77
101;
7 ?
77
77
8
77
7 ?
1902
7 ?
192;
?7
77
’?
8
7 ?
’7
1903
7 ?
216;
77
77
7 ?
7
77
77
1904
77
199;
77
77
77
18
7 ?
77
1905
7 ?
210;
’7
77
77
11
zusammen: 1022 6 t
Die Daten der Jahre 1906 bis 1908 sind bis nun nicht ver¬
öffentlicht worden.
Es sind somit in den 6 Jahren von 1900 bis 1905 61 (einund¬
sechzig) von Österreich verfolgte gemeine Verbrecher von den um die
Auslieferung angesuchten Staaten nicht ausgeliefert worden und
blieben daher straflos. Ebenso wurden aus Österreich 88 verfolgte
Personen nicht ausgeliefert; man kann also annehmen, daß zu¬
sammen 150 wegen gemeiner Verbrechen verfolgte Individuen der
Strafjustiz zufolge nicht ausreichender Bestimmungen der Aus¬
lieferungsverträge entzogen worden sind.
Archiv für Eriminaianthropologie. 34. Bd. 12
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HARVARD UNIVERSITY
178
VIII. Rosenblatt
Beim Bestände entsprechender Auslieferungsverträge und bei
ihrer richtigen Anwendung resp. beim Bestände guter Auslieferungs¬
gesetze dürften eigentlich Ablehnungen von Auslieferungsbegehren
nicht Vorkommen, keinesfalls aber in einem so ungünstigen Prozen¬
tualverhältnis wie oben angegeben.
Die Erlassung eines Auslieferungsgesetzes erweist sich daher als
sehr wünschenswert und würde es sich empfehlen, gelegentlich der
im Zuge befindlichen Reform des Strafgesetzes auch ein Auslieferungs¬
gesetz zu schaffen.
Die Grundsätze des jetzt geltenden Auslieferungsrechtes müßten
aber einer gründlichen Revision unterzogen werden, denn es läßt
sich nicht bestreiten, daß die (oben dargestellten) einzelnen Bestim¬
mungen der Auslieferungsverträge ein gewisses Mißtrauen gegen die
Strafrechtspflege des die Auslieferung verlangenden Staates bekunden
und die Verfolgung flüchtiger Verbrecher erschweren. Sie greifen
auch in die Rechtssphäre des requirierenden Staates weit hinein-
wenn z. B. eine nach den Gesetzen des requirierten Staates eingetretene
Verjährung die Auslieferung ausschließt, trotzdem die strafbare
Handlung nach den Gesetzen des requirierenden Staates noch nicht
verjährt ist, was eigentlich ganz ungerechtfertigt ist.
Auch das Asylrecht an sich geht oft zu weit, d. i. der Kreis der
Delikte, wegen welcher keine Auslieferung erfolgen soll, ist zu groß.
Weshalb sollen z. B. gemeine Verbrecher, wenn die für das von ihnen
begangene Verbrechen angedrohte Strafe ein Jahr Kerker nicht über¬
steigt, nicht ausgeliefert werden?
Das Asylrecht, welches eigentlich in unseren Zeiten ein Ana¬
chronismus ist, soll nur für politische Delikte aufrecht erhalten bleiben,
wobei aber der Begriff des politischen Deliktes genau — und nicht
zu extensiv — zu umschreiben wäre'). Sonst aber soll das Asylrecht
möglichst beschränkt werden, um die internationale Verfolgbarkeit
der Verbrecher und damit auch die Bekämpfung des Verbrechens
nicht zu erschweren. Bei gemeinen Verbrechen wäre nur bei wirk¬
lich geringfügigen Delikten, wo der Grundsatz „praetor non curat
minima“ seine Berechtigung hat, die Auslieferung auszuschließen.
Wurden doch schon im alten Rom unter Tiberius laute Klagen
gegen den Mißbrauch des Asylrechtes, durch welches den Ver¬
brechern ganz ungewöhnlicher Vorschub geleistet wurde, erhoben
und dagegen Vorkehrungen getroffen:
1) Vergl. Artikel 10 Absatz 2 des Schweizer Auslieferungsgesetzes vom
22. Januar 1892.
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Original frarn
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Beiträge zum Auslieferungsrecht und Auslieferungsverfahren. 179
„Crebrescebat enim Graecas per urbes — sagt Tacitus (An-
nales III 61) licentia atque inpunitas asyla statuendi; conplebantur
templa pessimis servitiorum; eodem subsidio obaerati adversum credi-
tores suspectique capitalium criminum receptabantur, nec ullum satis
validum imperium erat coercendis seditionibus populi, flagitia homi-
num nt caerimonias deum protegentis“.
Um diesem Mißbrauch zu steuern, wurde den Tempeln, welche
als Asyle dienten, aufgetragen, die Erztafeln als Dokument, womit
sie das Recht ihres Asyles beweisen können, am Tempel anzuschlagen
„sacrandam ad memoriam neu specie religionis im ambitionem de-
laberentur“ (damit sie nicht die Befugnisse ihres Asylreechts über
das ihnen zugestandene Recht ausdebnen könnten — also zur Abwehr
von mißbräuchlicher Ausdehnung des Asylrechtes).
Das zu erlassende Auslieferungsgesetz*) müßte bezüglich des
materiellen Rechtes die allgemeinen Grundsätze des Auslieferungs¬
rechtes im Verhältnis zum internationalen Strafrecht, die Voraus¬
setzungen der Auslieferung und die Grenzen der Auslieferungspflicht
resp. des Auslieferungsrechtes des Staates, die Verfolgbarkeit gemeiner
Verbrechen im Inlande in Fällen, wo die Auslieferung unstatthaft
oder untunlich ist usw., festsetzen.
Das Verfahren in Auslieferungssachen müßte vereinfacht werden 1 2 ),
jedenfalls aber wäre im Gesetze zu bestimmen, daß die Prüfung und
Entscheidung über Auslieferungsbegehren den Gerichten zugewiesen
werde, insbesondere in letzter Instanz dem Obersten Gerichtshöfe.
1) Auslieferungsgesetze besitzen insbesondere Belgien, Großbritannien, die
Niederlande, die Vereinigten Staaten von Nordamerika, die Schweiz u. a. m. Im
deutschen Reichstag wurde im Jahre 1892 die Erlassung eines Reichsauslieferungs¬
gesetzes von Prof. Bar und Genossen beantragt, jedoch abgelehnt. Den Beschluß
der deutschen Landesvers. der I.K.V. vom 8. September 1906 haben wir oben mit¬
geteilt. Für die Erlassung eines Auslieferungsgesetzes für das Deutsche Recht tritt
neuerlich auch Dr. Cohn in der Einleitung zur Darstellung der Auslieferungs¬
verträge des Deutschen Reiches sehr lebhaft ein und bemerkt mit Recht, daß das
Auslieferungsgesetz als feststehendes Programm den Staaten, welche solche Ver¬
träge abzuschließen wünschen, das Maximum der für sie erreichbaren Zugeständ¬
nisse zeigt und so den Vertragsschluß erleichtert. Das Auslieferungsgesetz gibt
ferner dem Flüchtling Gewißheit darüber, wegen welcher Delikte er ein Asyl
finden soll. Erst das Bestehen eines Auslieferungsgesetzes mit seinen festen
Rechtsgrundsätzen ermöglicht es endlich, die Entscheidung in Auslieferungssachen
den Gerichten zu übertragen, eine Regelung, welche trotz der unleugbaren staats¬
politischen Bedeutung des Auslieferungswesens mit Rücksicht auf die Vorteile
einer festen, sicheren und gleichmäßigen Praxis durchaus wünschenswert ist.
2) Vgl. auch Glos: Die Verfolgung flüchtiger Verbrecher in dieser Zeit¬
schrift 31. Bd. S. 167.
12 *
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Kleinere Mitteilung.
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Von Hans Groß.
(Mit 1 Abbildung.)
Das Verfolgen von Faßsparen. Eine ebenso wichtige als schwierige
Aufgabe bei Aufnahme des Tatbestandes eines Verbrechens besteht in der
Verfolgung von etwa aufgefundenen Fußspuren, da diese selten vollständig
ausgedrückt und in zusammenhängender Reihen¬
folge wahrzunehmen sind. In der Regel finden
sich nur kleine Teile einer Spur, bei welchen
immer vom neuen nachgewiesen werden muß,
daß sie wirklich von einem menschlichen Fuße
herrühren und nicht bloß sonstwie entstandene
Terrainunebenheiten sind, und ist man auch
sicher, daß man einen Spurenrest gefunden hat,
so ist der nächste erst wieder in größerer Ent¬
fernung zu entdecken. Die größte Schwierigkeit
besteht also darin, daß man die Richtung findet,
in welchen weiter zu suchen ist, d. h. in welcher
% der zu Suchende gegangen ist. —
Auch hier können wir bei einigem Auf¬
merken im gewöhnlichen Leben Belehrung finden.
Beobachten wir einmal irgend einen Weg, einen
v Steig, welcher nicht absichtlich angelegt, sondern
von den Leuten über eine Grasfläche oder ähn¬
liches Terrain ausgetreten worden ist. Wir
nehmen wahr, daß solche Wege fast niemals in
gerader Linie, sondern geschlängelt verlaufen,
und daß sie in der Regel in Bögen ausgetreten
sind, die dann und wann zusammenlaufen, eine
Weile vereint bleiben und sich wieder trennen.
Nehmen wir an, Leute kommen von a, so bleiben
i alle eine Weile auf demselben Steig; schon bei b
schwenken aber einige nach rechts, einige nach
links ab; bei c treffen sie wieder zusammen, trennen
sich bei d, bleiben auf verschiedenen Linien bis e etc.
Wir sehen also, daß die Leute — wie man
sich bei jedem derartigen Fußsteig überzeugen kann — selten geradeaus,
sondern im Bogen, einmal rechts und einmal links ausweichen. Ob nun
ein Teil der Menschen nach rechts, ein Teil nach links von der geraden
Gck igle
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Kleinere Mitteilung.
181
Linie abweicht, oder ob derselbe Mensch einmal so und einmal anders geht,
wird schwer festzustellen zu sein, wahrscheinlicher ist das erstere, da es
sich doch um eine Gewohnheit handelt, und von einer solchen läßt einer
nicht leicht ab. Daß diese Wegteilungen bloß durch das Ausweichen zweier,
einander Begegnenden entstehen, ist unwahrscheinlich, da sie in der Regel
viel weiter von einander entfernt sind, als dies zum Ausweichen nötig ist,
und da mitunter doch dieselbe Strecke ziemlich weit vereint bleibt. —
Was wir für unsere Arbeit hierbei lernen können, besteht darin, daß
wir beim Verfolgen von Fußspuren fast immer fehl gehen, wenn wir in
gerader Linie fortsuchen; wir haben dieses eigentümliche „Bogenmachen“
in Erinnerung zu behalten und demgemäß rechts und links vom geraden
Wege ebenfalls zu suchen. —
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Zeitschriften scliau.
Archiyes d’Anthropologie criminelle. Fevrier 1909.
Paul Gaedeken: Gontribution statistique ä la röaction de l’organiame
sous l’influence physico-chimique des agents mötöorologiques.
E. Martin: Etudes sur la submersion.
Beim Tod durch Ertrinken kommt es zu folgenden Veränderungen:
1. Von seiten der Lunge entsteht ein alveolärer Shok mit perakutem
Emphysem, konsekutivem Ödem, welche beiden die Zirkulation in den
Lungen aufheben.
2. Es tritt eine akute Erweiterung des rechten Herzens mit einer Tri-
kuspidalinsuffizienz auf, welche wieder eine starke Blutfüllung des
Venensystemes (besonders der Ven. cava superior und inferior) zur
Folge hat.
3. Dies bedingt wieder eine plötzliche Blutüberfüllung der Leber, welche
als Sicherheitsventil für die Zirkulation der Cava inferior dient, indem
sie bei ihrer Erweiterung große Mengen von Blut in sich aufnimmt
Dieses Rückströmen des venösen Blutes in die Lebet erzeugt trauma¬
tische Läsionen in diesem Organe: Hämorrhagien und Dislokationen
der Zellbalken.
4. Flüssige Beschaffenheit des Blutes, welche durch das Fehlen des Fibri¬
nogens bedingt ist. Dieser Umstand wieder ist nicht verursacht durch
die Verdünnung des Blutes mit Wasser, sondern ist wahrscheinlich die
Folge der Leber-Läsionen.
Söverin Ivard: Nouvelle möthode pour obtenir la formule chiffröe du
portrait parlö.
Die rasche Dechiffrierung der telegraphisch übertragenen „portraits
parlös“ leidet gegenwärtig wesentlich unter der Umständlichkeit die dadurch
gegeben ist, daß solche Depeschen noch keinen internationalen Charakter
tragen und zu lange und umständlich sind. Verfasser schlägt daher fußend
auf den Angaben von Reiß und Paul Oll et eine neue Art der Ziffern¬
verwendung für solche Zwecke vor. Das Prinzip ist das folgende: Jedes
„portrait parlö“ besteht aus einer Anzahl von Angaben über die Eigen¬
schaften bestimmter Körperteile. Bei der vorgeschlagenen Methode
nun wird die Eigenschaft durch eine zweizifferige Zahl ausgedrückt, welche
von 10—99 geht; der Körperteil, auf welchen sich die Angaben beziehen,
wird gleichfalls durch eine zweizifferige Zahl ausgedrückt: 10, 11, 12 usw.
Diese Ziffern verweisen auf die Zahl der Tabellen, welche die genauere
Beschreibung der Eigenschaften des betreffenden Körperteiles in Worten
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Zeitschriftenschau.
183
und den entsprechenden Ziffern enthalten. Die auf die Tabellenziffer sich
beziehende Zahl ist durch das Vorsetzen eines Gedankenstriches gekenn¬
zeichnet. So bezeichnet z. B. in: 1120405592 11 die Tabelle Nr. 11,
während die folgende Zahl die Eigenschaft des in Tabelle 11 beschriebenen
Körperteiles genau wiedergibt. Verfasser verspricht sich von diesem Vor¬
gehen eine bedeutende Vereinfachung der Methode, vor allem durch den
internationalen Charakter der als Chiffern verwendeten Zahlen.
Alexis Bertrand: Le Mouvement psychologique.
H. Pfeiffer, Graz.
Archives d’Anthropologie criminelle. 1909. März.
G. Tarde: Interpsychologie infantile.
P. Gaedeken: Contribution statistique ä la röaction de l'organisme sous
l’influence physico-chimique des agents mötöorologiques.
Außerordentlich gründliche, auf breiter statistischer Basis ruhende Arbeit
über den Einfluß der meteorologischen Faktoren auf die Reaktionsfähigkeit
des menschlichen Organismus, namentlich in Hinsicht auf Selbstmord, De¬
likte etc. Zu kurzem Referate leider ungeeignet.
Louis Baumann: Ceux qu’on n’a pas exdcutds.
Der Verfasser bespricht in diesem Aufsatze das Leben der auf die
Salutinseln Deportierten und meint zum Schluß, wenn man schon die Todes.-
strafe abschaffen und durch die Deportation ersetzen will, so muß jeden¬
falls vorher diese selbst in ihrer Durchführung beträchtlich geändert werden.
L. Tranchant: Deux cas d'amputation des phalangines de l'index et du
mddius.
Bericht über zwei am selben Tage ganz unabhängig voneinander er¬
folgte Fälle von Verstümmelung des Zeige- und Mittelfingers bei Rekruten.
Der erste Fall betraf eine komplette Abtragung der beiden Finger der linken
Hand mittels eines Gartenmessers. Aus dem Charakter der Verletzung
(mehrfache Schnittwunden) konnten zunächst die Angaben des Verstümmelten,
es handle sich um einen durch einen einzigen Schnitt verursachten Unfall
zurückgewiesen und er zu dem Geständnis der Selbstverstümmelung gebracht
werden. In dem zweiten Falle handelt es sich gleichfalls um eine Ab¬
tragung des Zeige- und Mittelfingers, diesmal der rechten Hand, wo die
absichtliche Beibringung nicht nachweisbar war. H. Peiffer, Graz.
Archiv für die gesamte Psychologie. 13. Bd. 4. Heft.
0. Schnitze: Beitrag zur Psychologie des Zeitbewußtseins.
Zusammenfassung.
I. Wenn man je zwei akustische, taktile oder optische Reize der Vp. im
Experiment isoliert nacheinander bietet, so ist der Eindruck derselben
je nach der Geschwindigkeit der Sukzession mehr oder weniger deut¬
lich verschieden. Es lassen sich so einige Typen von Reizpaaren ab¬
grenzen (die S. 280 in einer schematischen Übersicht zusammengestellt
sind), die man wiedererkennen kann und die jeweils in einer mehr oder
weniger scharf umschriebenen Zone von Geschwindigkeiten auftreten.
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Zeitechrif tenschau.
2. Bei den Trillererscbeinnngen (die einem wie ein „trr“ Vorkommen) ist
die Strecke zwischen den beiden Schlägen nicht leer, sondern erfüllt;
das ganze Gebilde erscheint zeitlich nicht eigentlich ausgedehnt, sondern
„psychisch präsent.“ Die Höhepunkte des Gebildes zu zählen macht
Schwierigkeiten. — Triller treten z. B. bei akustischen Reizen zwischen
den Geschwindigkeiten reiner Verschmelzung und etwa 60—100 o am
reinsten auf.
3. Die Kollektionserscheinungen sind durch eine unmittelbare Zusammen¬
gehörigkeit der Schläge ausgezeichnet, wobei diese deutlich voneinan¬
der getrennt sind. Das Merkmal der Zusammengehörigkeit der Schläge
zu einer Gruppe ist an die Schläge selbst gebunden; es ist nicht ab¬
strakt, wie die Intensität, sondern ein unmittelbar Vorgefundenes Plus.
Es bleibt dahingestellt, ob dieses Plus als Wirkungsakzent oder als Be¬
wußtheit aufzufassen ist. — Die Kollektionserscheinungen treten bei den
akustischen Schlägen am reinsten rund zwischen 100 o und 350 bis 400 o
auf. Unreine Fälle finden sich bis zu 550 und 600 o. Optisch ist der
Eindruck unmittelbarer Zusammengehörigkeit sehr schwach entwickelt.
4. Die Erscheinungen der subjektiven Einheitlichkeit sind gleichfalls durch
ein unmittelbar (als ein besonderes Plus, nicht bloß abstrakt) nachweis¬
bares Merkmal der Zusammengehörigkeit der Schläge charakterisiert.
Dieses Merkmal ist an das Vorhandensein von Organempfindungen ge¬
bunden: Schläge und Organempfindungen bilden eine unmittelbare
Einheit. Diese Einheitlichkeit kann willkürlich herbeigeführt werden
oder spontan auftreten. Letzteres geschieht am ehesten bei Geschwindig¬
keiten von 440 bis 880 o. Die gefundenen Zahlen schwanken je¬
doch je nach Vp. und Versuchsinstruktion stark.
5. Der Typus der vollen Selbständigkeit unterscheidet sich von den eben
genannten dadurch, daß die Schläge für den unmittelbaren Eindruck
nichts miteinander zu tun haben. Dieser Typ findet sich im allge¬
meinen bei den größten Zeitabständen.
6. Die Erscheinungen der subjektiven Einheitlichkeit und die Kollektions¬
erscheinungen haben für die Analyse des Rhythmus die größte Bedeutung.
7. Gelegentlich treten im Verlauf der zeitlichen Gebilde eigentümliche sinn¬
liche und gedankliche Begleiterlebnisse von großer Mannigfaltigkeit auf.
8. Die Abgrenzung eines Aufmerksamkeitsschrittes ist sehr schwierig und
gelingt nicht allen Vp. Wo er abgrenzbar ist, scheint er etwa rund
400 bis 900 o zu betragen; jedenfalls ist seine Dauer von den be¬
sonderen Versuchsbedingungen abhängig.
9. Das Wort Bewußtseinsumfang ist vieldeutig. Wenn man sich streng
an das Bewußterlebte und an den Sprachgebrauch hält, heißt es: Dauer
eines Bewußtseinsinhaltes bis zu seinem vollen Verschwinden äus dem
Bewußtsein. Seine maximale Größe bestimmt man am besten durch
das Aufhören der scheinsinnlichen Nachdauer. Die Beobachtungen
sind hierbei sehr schwierig. Vermutlich dürfte der Bewußtseinsumfang
akustischer Schläge mittlerer Intensität rund 300 bis höchstens 500 o
nicht überschreiten.
10. Die zeitliche Ausdehnung ist ein Merkmal der Erlebnisse und seelischen
Gebilde; es läßt sich nicht auf räumliche, intensive oder qualitative
Merkmale reduzieren.
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11. Es gibt zeitliche Gebilde, die keinen Erscheinungscharakter besitzen,
deren Ausdehnung aber bestimmt und für den seelischen Haushalt von
Wirksamkeit sein kann, z. B.. die Pause.
A. Kirschmann: Über die Erkennbarkeit geometrischer Figuren und
Schriftzeichen im indirekten Sehen. H. Pfeiffer, Graz.
Zeitschrift für angewandte Psychologie und psychologische
Sammelforschung. 2. Bd. Heft 5 und 6.
J. P laß mann: Astronomisches und Terrestrisches zur Lehre von der Tiefen¬
wahrnehmung.
W. Stern: Die Entwicklung der Raumwahrnehmung in der ersten Kindheit.
Die Deutung optischer Eindrücke im dreidimensionalen Sinne kommt
zwar nur auf Grund von Assoziationen zwischen den optischen und den
taktil-motorischen Eindrücken zustande, aber diese Assoziation wird außer¬
ordentlich schneller perfekt und leistungsfähig, so daß die optischen „Tiefen¬
zeichen“ relativ früh in der Entwicklung des Kindes wirksam werden.
0. Lipmann: Methodologische Beiträge zur Aussageforschung.
Zu kurzem Referate leider ungeeignet.
J. H. Schultz: Psychoanalyse.
Die dankenswerte Arbeit gibt eine, auf umfassende Literaturkenntnis
sich stützende Darstellung der Breuer-Freudschen Lehren, ihrer historischen
Entwicklung und ihrer Aufnahme bei den Fachgenossen.
W. Stern: Über verlagerte Raumformen.
Alle diejenigen Merkmale eines optischen Raumgebildes, die seine Lage¬
beziehung zu der wahmehmenden Person ausdrücken, — seine „egozen¬
trischen Raummerkmale“ oben, unten, rechts, links, nah und fern — ge¬
hören nicht zu den angeborenen Anschauungsbestandteilen der optischen
Raumwahrnehmung selbst, sondern entstehen erst durch assoziative Zuord¬
nung der optischen Eindrücke zu bestimmten Eigenbewegungen des Wahr¬
nehmenden und zu den damit verbundenen kinästhetischen Empfindungen.
Das Verhalten der Kinder zu verlagerten Raumformen variiert individuell
beträchtlich. Die Neigung zum Hervorbringen, die Fähigkeit im Erkennen
von Verlagerungen usw. ist bei manchen Kindern ausgeprägt und lange an¬
haltend, bei anderen kaum bemerkbar. Die Variationen beruhen zunächst
auf äußeren und inneren Umständen.
H. Stadelmann: Die Beziehung der Ermüdung zur Psychose.
Der Vorgang der Ermüdung hat zwei Stadien, das der gesteigerten
und das der herabgesetzten Reizbarkeit. Dem eisten Stadium kommt ge¬
steigerte Dissoziation und gesteigerte Assoziation zu, sowie eine intensivere
Gefühlsbildung. Bei dem zweiten Stadium ist mangelhafte Assoziation und
Gefühlsbildung festzustellen. Die subjektiven Werte entsprechen den Ge¬
fühlen in den jeweiligen Zuständen. Bei Übergang des einen Zustandes in
den anderen zeigt sich der Umsturzwert. Entsprechend diesen Gefühlen
ist das Handeln dort impulsiv, hier lässig. Nach individuell verschieden
langer Zeit tritt die Erholung nach der Ermüdung ein. Denkt man sich
diesen Vorgang bei der Ermüdung stark vergrößert, dann haben wir psy¬
chotische Symptome vor uns. Bei genauer psychologischer Analyse der
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t
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psychotischen Symptome lassen sicii diese alle in den Erscheinungen bei
dem Vorgänge der Ermüdung wieder erkennen. Dies erstreckt sich nicht
nur auf die geistigen Symptome allein, sondern auch auf die körperlichen
Ermüdungssymptome, die wir in vergrößertem Maße bei der Psychose wieder¬
finden. Es finden somit die psychotischen Symptome entsprechende Vor¬
gänge in der Norm. H. Pfeiffer, Graz.
Zeitschrift für Medizinalbeamte. 22. Jahrg. Nr. 3. 1909.
H. Traumann: Über die Bekämpfung der Diphtherie.
F. Wolter: Zur Frage der Entstehungsursachen des Unterleibstyphus in
Berlin.
Rust: Kreisarzt und Kreistierarzt.
0. Rapmund: Erwiderung auf den vorstehenden Artikel sowie auf einen
in Nr. 3 der Berliner tierärztlichen Wochenschrift enthaltenen Artikel
von Prof. Dr. Schmaltz.
0. Rapmund: Das Ergebnis der Beratungen der verstärkten Budget¬
kommission und des preußischen Abgeordnetenhauses über die Be¬
soldungsordnung. H. Pfeiffer, Graz.
Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin. Dritte Folge.
37. Band: 2. Heft. 1909.
A. Le sser: Verletzungen in der Umgebung des Kehlkopfeinganges durch
Selbsterhängen.
Interessante kasuistische Beiträge. Die ernte der Beobachtungen stellt
sicher, daß beim Selbstmord durch Erhängen und zwar selbst dann, wenn
er in stehender Position ausgeführt worden ist, eine zum Teile blutunter¬
laufene Wunde in der Umgebung des Kehlkopfeinganges entstehen kann.
Sie zeigt ferner eine Dislokation eines Teiles der Kehldeckelschleimhaut,
deren Entstehen allein und ausschließlich auf die Suspension zurückzuführen
sein dürfte. Ob die bei dem beobachteten Falle bestehende auffällige Asym¬
metrie des Kehlkopfgerüstes die Entstehung dieses Phänomens begünstigt
hat, läßt Verfasser offen. Bei dem zweiten Falle handelt es sich um einen
zweifellosen Selbstmord in stehender Stellung. Eis bestand auch hier eine
akute entzündliche Schwellung des Rachens und der Plicae aryepiglotticae.
Eine Kontinuitätstrennung der obersten Schichten des Ligamentum aryepi-
glotticum dextrum hat zwar hier nicht stattgefunden, aber es war zu einer
Blutung von nicht ganz unbeträchtlicher Größe in der Mukosa gekommen.
Vielleicht hat man sich das Zustandekommen so zu erklären, daß man an¬
nimmt, durch die Intumeszenz sei der betreffende Teil des Bandes während
der Konstriktion in die Lage gekommen, gegen das Kehlkopflumen hin
auszuweichen und so sich der totalen Gefäßkompression zu entziehen.
C. Jacobj: Beitrag zur Beurteilung der Filix- und VeronalVergiftung.
Gutachten über einen Fall, in dem ein gewisser R. 5 g Extractum
Filicis maris und später 10 g Veronal zu sich genommen und verschieden
war. Es warf sich die Frage auf, welchem der beiden Gifte der tödliche
Ausgang zugeschrieben werden mußte. Auf Grund chemischer Untersuchungen
und eines eingehenden Literaturstudiums wird die Antwort dahingehend ge¬
geben, daß R. durch die Aufnahme der 10 g Veronal verschieden sei.
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Hobohm: Der Wert der Magendarmprobe mit besonderer Berücksichtigung
der Verwendbarkeit von Röntgenogrammen.
Leitsätze:
1. Eine gleichmäßige Aufblähung des Magens und wenigstens des an¬
grenzenden Teiles des Dünndarmes kann in allen forensischen Fällen
sowohl bei frischen wie bei faulen Leichen als Beweis für Gelebthaben
angesehen werden. In den überaus seltenen Fällen, in denen es in¬
trauterin zu einer über den Pylorus hinausgehenden Luftfüllung des
Intestinaltraktus gekommen ist, werden die Geburtsvorgänge stets be¬
kannt sein. Allerdings wird eine so intensive Luftaufnahme in der
Regel nur dann nachzuweisen sein, wenn das Leben nicht sofort nach
der Geburt seinen Abschluß gefunden hat; eine sehr wichtige Aus¬
nahme von dieser Einschränkung machen aber diejenigen Fälle, in
denen infolge Behinderung der Lungenrespiration unverhältnismäßig
viel Luft in den Magen gelangt ist
2. Ist der Magen allein durch Luft aufgetrieben, so hat man an die Mög¬
lichkeit intrauteriner oder künstlichsr Luftfüllung zu denken. Kann
man beides mit einiger Sicherheit ausschließen, so wird auch dieser Be¬
fund mit großer Sicherheit zur Unterstützung der Lungenprobe heran¬
gezogen werden können.
3. Findet man nur einzelne Luftblasen im Magen, keine Aufblähung und
keine Schwimmfähigkeit, so wird man am besten Abstand nehmen,
hierauf einen Beweis des Lebens zu gründen.
4. Fäulnisgase erkennt man daran, daß sie nicht kontinuierlich das Lumen
ausfüllen. Mit einiger Wahrscheinlichkeit wird man zuweilen eine
gleichmäßige Luftauftreibung des Magens und Darmes selbst dann noch
als von der atmosphärischen Luft herstammend erkennen, wenn sich
schon in der Wandung Fäulnisblasen gebildet haben. Im übrigen
muß man bei faulen Leichen sich in der Bewertung gasförmigen In¬
halts nach der Gesamtfäulnisgasbildung im Körper richten, die sich
am deutlichsten durch Röntgendurchleuchtung feststellen läßt.
5. Negativer Befund hat eine sehr geringe Beweiskraft und wird gegen
das Ergebnis der Lungenprobe mit irgendwelcher Sicherheit nicht ver¬
wendet werden können.
6. Ganz ohne Bedeutung ist sowohl ein positiver wie ein negativer Be¬
fund in keinem Fall, da die Konstanz der Befunde eine sehr große ist.
Wada: Über die Unterscheidung der Menschen- und Tierknochen.
Leitsätze:
1. Der Unterschied zwischen Menschen- und Tierknochen besteht haupt¬
sächlich darin, daß die durchschnittliche Zahl der Haversschen Kanäle
des Menschenknochens viel geringer, ihre Weite dagegen auffallend
größer ist als beim Tierknochen, so daß die Unterscheidung selbst
vom Affenknochen nicht unmöglich ist.
2. Die Knochen des neugeborenen Kindes sind betreffs der Zahl und
Weite der Haversschen Kanäle nicht gleich denjenigen des Er¬
wachsenen. Sie sind vielmehr den Affenknochen ähnlich. Die Unter-
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Scheidung ist aber nicht schwer, weil bei den Knochen des Neuge¬
borenen die Grenzen zwischen den Hävers sehen und interstitiellen
Knochenlamellen ganz verwischt und die konzentrischen Anordnungen
der Knochenlücken um die Haversschen Kanäle noch weniger aus¬
geprägt sind, während bei den Knochen des Affen die Haversschen
Lamellen scharf begrenzt und ihre Knochenlücken deutlich konzentrisch
angeordnet sind.
3. Wenn ein verbrannter Knochen untersucht werden muß, so ist es
zweckmäßig, daß man Gelatine-Einbettungspräparate herstellt und sie
im auffallenden Licht mikroskopiert.
4. Ist der Knochen dabei unvollständig verbrannt und tiefschwarz, so
verbrenne man ihn aufs neue in einem Porzellantiegel, bis er dunkel¬
grau erscheint und bette ihn in Gelatine ein.
5. Beim ganz weiß kalzinierten Knochen färbe man die Gelatine -Ein-
bettungspräparate mit alkoholischer Methylenblau- oder Gentianaviolett-
Lösung und schleife ein wenig, bis der Farbstoff an der Knochen-
fiäche kaum sichtbar wird.
Albert Hellwig: Sympathiekuren.
Zu kurzem Referate nicht geeignet. H. Peiffer, Graz.
Yierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin. Dritte Folge.
37. Band. 2 . Supplement-Heft. 1909.
Verhandlungen der IV. Tagung der Deutschen Gesellschaft für gerichtl. Medizin
in Cöln. 21.—22. September 1908.
I. Wissenschaftliche Sitzung.
Nach Eröffnung der ersten wissenschaftlichen Sitzung hält der Vorsitzende
Ungar-Bonn eine beherzigenswerte Ansprache, welche die akademische
Stellung der gerichtlichen Medizin im Deutschen Reiche zum Gegenstände
hat. Er fordert darin wie alle übrigen Anwesenden mit allem Nachdrucke,
es möge entsprechend der wissenschaftlichen und sozialen Bedeutung dieser
Disziplin ihr an den deutschen Hochschulen die Stellung eingeräumt werden,
welche sie in den übrigen Kulturstaaten schon längst einnimmt. Sie möge
als eine den anderm Fächern gleichwertige Spezialwissenschaft durch ge¬
eignete wissenschaftliche Institute und durch Aufnahme ihrer Vertreter in
die Medizinalkollegien, sowie in die Professorenkollegien der Universitäten als
ordentliche Professoren auch vom Staate gestützt werden.
Puppe: Die kriminalistische Bedeutung der Rekonstruktion zertrümmerter
Schädel vor der Hauptverhandlung.
An der Hand praktisch wichtiger Fälle stellt hier der Vortragende
neuerlich die Forderung auf, daß in einem fraglichen Falle von Schädel¬
zertrümmerung nicht nur der verletzte Schädel knochen asserviert werde,
sondern daß er auch alsbald einer sachgemäßen Rekonstruktion unterzogen
werde. Er bezeichnet die Unterlassung der Erfüllung dieser Forderung als
einen Kunstfehler. In der Diskussion finden seine Ausführungen im all¬
gemeinen volle Zustimmung.
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Zeitschriftenschau.
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Molitoris: Erfahrungen zur Frage des biologischen Blutnachweises.
Verfasser berichtet über Versuche, an Stelle von Serum oder ge¬
schlagenem Blute eingetrocknete, durch längere Zeit hindurch aufbewahrte
Blutprobeo zur Immunisierung der Kaninchen bei der Gewinnung präzi-
pitierender Seren zu verwenden. Er tritt für die subkutane Einverleibungs¬
art von Lösungen aus diesen trockenen Blutrückständen und für ihre vor¬
herige fraktionierte Sterilisierung bei 56—58 # C ein. Die Konservierung
der Seren geschieht in der Menge von 1,0 ccm in sterilem Zustande ohne
jeden weiteren desinfizierenden Zusatz, vor Licht geschützt. Wie in der
Diskussion mit vollem Recht bemerkt wurde, stellt dieses Verfahren keines¬
wegs eine neue Technik dar. Es wurde vielmehr schon vor Jahren von
Uhlenhuth für seltenere Blutsorten angewendet. (Referent arbeitet selbst
seit 1903 bei selteneren Blutsorten gleichfalls mit den Lösungen getrock¬
neter Rückstände. Er injiziert dieses Material intraperitoneal).
Weidanz: Zur Technik und Methodik der biologischen Eiweißdifferen¬
zierung.
Verfasser bespricht hier zunächst die Stellung, welche Uhlenhuth
und er selbst gegen die Einführung der Komplementbindungsmethode in
die forensische Praxis eingenommen haben. Seine Ausführungen gipfeln
in dem Schluß, daß bei einem negativen Ausfall der Präzipitinreaktion auf
Grund eines positiven Ausfalls der Neißer-Sachsschen Methode ein Urteil
in der Praxis vor Gericht nicht abgegeben werden dürfe. Wohl aber sei sie
für den Laboratoriumsversuch, wo man a priori reine Eiweißlösungen be¬
sitzt, vorzüglich zu verwerten. Endlich bespricht er noch einzelne technische
Neuerungen zur bequemeren Ausführung der Komplementbindungsmethode
Leers: Zum spektroskopischen Nachweis kleinster Blutspuren.
Um auch noch kleinste Hämochromogenmengen durch das Spektroskop
nachweisen und sie namentlich von Verunreinigungen abscheiden und kon¬
zentrieren zu können, empfiehlt Leers folgendes Vorgehen für die Unter¬
suchung kleinster, verunreinigter Blutspuren:
1. Nach Zerzupfen des Objektes sorgfältige Extraktion der Spur in einer
kleinen Menge bis zu 33 Proz. Kalilauge unter Zusatz von absolutem
Alkohol im Brutschränke.
2. Nach dem Erkalten des Extraktes Zusatz von 2—3 Tropfen Pyridin
und eines Tropfens frischen Schwefelammoniums. Umschütteln.
3. Spektroskopieren der mit allem Hämochromogen beladenen kleinen
und klaren Pyridinmenge.
II. Wissenschaftliche Sitzung.
Leers: Zur quantitativen Blutbestimmung.
Verfasser schlägt für den quantitativen Blutnachweis den von Sahli
verbesserten Goversehen Apparat vor. Die Standardlösung ist eine salz¬
saure Hämatinverbindung und entspricht in ihrer Farbennüance einer 100-
fachen Verdünnung von normalem Blut, welches durch Zusatz der 10 fachen
Menge von 1/10 normal Salzsäure zu einer abgemessenen Blutmenge
(0,02 ccm gleich 20 emm) in salzsaures Hämatin umgewandelt ist. Dieselbe
Umwandlung wird an dem zu untersuchenden Blutextrakt vorgenommen,
indem 0,02 ccm davon mit der kleinen Kapillarpipette aufgesaugt und zu
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der lOfachen Menge der verdünnten Salzsäure hinzngefügt werden. Eis
entsteht eine mehr-minder dunkel gefärbte Hämatinlösung, die mit gewöhn¬
lichem Wasser bis zur Farbengleichheit mit der Testlösung verdünnt wird.
Das graduierte Röhrchen zeigt dann direkt den Hämoglobingehalt in Pro¬
zenten der Norm (Normalblut zu 100 Proz. angenommen) an. Die quan¬
titative Bestimmung gestaltet sich dann folgendermaßen: Ein Teil der Ex¬
traktionsflüssigkeit wird mit 10 Teilen der Normalsalzsäure und Wasser
bis zur Farbengleichheit mit der Testlösung verdünnt Die Verdünnungs¬
zahl entspricht dem Normal-Hämoglobingehalt der Testlösung. Durch Gleichung
läßt sich dann die Zahl der ccm berechnen, auf welche die ganze Extrak¬
tionsflüssigkeit verdünnt werden müßte, um in der Farbe der Testlösung zu
gleichen. Diese Verdünnungszahl entspricht dem Hämoglobingebalt der ge¬
samten Auslaugeflüssigkeit, aus welchem sich leicht die gesamte Blutmenge
berechnen läßt. Die mit dieser Methode gewonnenen Resultate sollen vor¬
zügliche sein.
Ungar: Der heutige Stand der Lehre von der Magendarmprobe.
Die Ausführungen des Redners können in folgende Leitsätze zusammen¬
gefaßt werden:
1. Dadurch, daß die Luftfüllung des Magendarmtraktes durch die inspi¬
ratorische Erweiterung des Brustkorbes vermittelt wird, bildet die Magen¬
darmprobe in letzter Linie eine Art Atemprobe. (Die Luftfüllung er¬
folgt also nicht durch verschluckte Luft. Diese findet sich vielmehr
in Form kleiner Bläschen im Magenschleim eingebettet).
2. Der Magendarmtrakt kann völlig luftleer sein, obwohl die Lungen luft¬
haltig sind.
3. Es besteht die Möglichkeit, daß Magen und Darm dadurch ihren Luft¬
gehalt wieder verlieren, daß die Luft seitens der Schleimhaut resorbiert
wird. Man könne also dem Bres lauschen Satz, daß eine luftleere
Beschaffenheit des Magendarmkanals mit großer Wahrscheinlichkeit gegen
extrauterines Leben spricht, nicht zustimmen.
4. Eis kann anch der Magendarmtrakt lufthaltig sein, während die Lunge
luftleer gefunden wird. So beständen also verschiedene Möglichkeiten,
daß durch die Magendarmprobe der Beweis des Gelebthabens erbracht
werden kann, während die Lungenprobe ein negatives Ergebnis hatte.
5. An der Tatsache, daß Magen und Darm durch Fäulnis gashaltig und
schwimmfähig werden, ist nicht zu zweifeln. Eine gleichmäßige un¬
unterbrochene zusammenhängende Gasfüllung des Magens und der an¬
grenzenden Dünndarmpartien berechtigt aber zu der Annahme, daß der
Magendarmtrakt nicht durch Fäulnis allein aufgetrieben sei.
6. Selbst wenn nicht nur der Darm, sondern auch der Magen luftleer ist,
wird man noch nicht ohne weiteres annehmen dürfen, daß das Kind
gleich oder unmittelbar nach der Geburt gestorben sei.
7. Bei einer Luftfüllung des ganzen oder fast des ganzen Dünndarmes
ist ein stundenlanges Leben wahrscheinlicher, als ein Leben von wenig
Minuten.
8. Der Magendarmprobe ist eine besondere Bedeutung für die gerichts¬
ärztliche Praxis beizulegen und sie vermag dort noch wichtige Auf¬
schlüsse zu geben, wo die anderen Lebensproben im Stiche lassen.
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Fritsch: Die Berechtigung und die Methode der Unterbrechung der
Schwangerschaft.
Ohne Lehrsätze aufstellen zu wollen betont der Redner, daß die ärzt¬
liche Unterbrechung der Schwangerschaft unter verschiedenen, von ihm näher
ausgefiihrten Bedingungen eine vollberechtigte Operation ist.
Ko ekel: Der mikroskopische Bau der Vogelfedern und seine Bedeutung
für die Kriminalistik.
An der Hand eines reichen Untersuchungsmateriales kommt der Redner
zu dem begründeten Schlüsse, daß man im Einzelfalle aus Federchen, die
irgend wo gefunden werden, unter günstigen Verhältnissen ohne weiteres
ableiten könne, von welcher Vogelart sie herrühren. Häufiger wird man
wohl zu entscheiden imstande sein, von welcher von zwei in Frage kommen¬
den Vogelarten die Federn stammen. Daß naturgemäß die Untersuchung
von Federn auf ihre Herkunft oft mit einem non liquet abschließen wird,
bedarf im Hinblicke auf das über die mikroskopischen Befunde Mitgeteilte
keiner weiteren Begründung.
Lochte: Zur Identifikation daktyloskopischer Bilder.
Ziemke: Über die Entstehung der Carotisintima-Rupturen und ihre diagno¬
stische Bedeutung für den Tod durch Strangulation.
Leitsätze:
1. Die Intimarupturen der Carotiden können eine gewisse Bedeutung für
die Diagnose der Strangulationsart gewinnen, wenn sie ohne andere
eindeutige Befunde an der äußeren Halshaut und an den inneren Hals¬
teilen, oder wenn sie als einzige anatomische Veränderungen gefunden
werden. Da sie beim Erdrosseln und Erwürgen bisher nur ganz ver¬
einzelt beobachtet worden sind, so spricht ihr Vorkommen zunächst
immer mit Wahrscheinlichkeit dafür, daß von den drei verschiedenen
Arten der Strangulation der Tod durch Erhängen in Betracht kommt
Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, daß sie beim Erhängen wohl
kaum ohne gleichzeitig vorhandene Strangmarke zu finden sein werden,
weil sie durch dünne, tief in die Halshaut einschneidende oder mit
scharfen Rändern versehene Strangwerkzeuge hervorgerufen werden.
Ihr isoliertes Vorkommen ohne äußeren Halsbefund dürfte daher wohl
eher für Strangulation durch Erwürgen, als durch Erhängen sprechen,
wenn die Strangrinne nicht etwa durch vorgeschrittene Fäulnis oder
dadurch zum Verschwinden gebracht wurde, daß das Strangwerkzeug
unmittelbar nach der Strangulation wieder entfernt worden ist, so daß
es zur Ausbildung einer deutlichen Strangrinne gar nicht kommen konnte.
2. Intimarupturen, welche dicht unter der Gabelung der Carotis communis
oder sogar über ihr liegen, machen eine Strangulation durch Erhängen
wahrscheinlicher, als eine solche durch Erdrosseln oder Erwürgen.
Eine tiefere Lage der Rupturen am Gefäßrohr der Carotis communis
spricht nicht gegen Erhängen.
3. Mehrfache Querrisse der Carotidenintima, welche nicht in einer Ebene,
sondern untereinander gelegen sind, kommen auch beim Erhängen vor.
Nicht immer sind atheromatöse Veränderungen der Gefäßwand die
notwendige Voraussetzung für ihre Entstehung, wenn diese auch un-
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leugbar eine Prädisposition für die Zerreißung der Gefäßhäute schaffen
können. Andererseits brauchen beim Erwürgen trotz der Mehrzahl der
Finger, welche unter Umständen einen Druck auf das Gefäßrohr aus¬
üben, mehrfahe Intimarupturen der Carotis nicht vorhanden zu sein.
4. Während beim Erhängen und Erdrosseln bisher nur Intimarupturen
von querer Richtung beobachtet worden sind, kommen beim Erwürgen
auch solche von anderer Richtung z. B. längsgestellte vor. Intimarup¬
turen von anderer als annähernd horizontaler Richtung lassen also eine
Strangulation durch Erhängen oder Erdrosseln mit ziemlicher Bestimmt¬
heit ausschließen und machen Tod durch Erwürgen höchst wahr¬
scheinlich.
5. Glatte Beschaffenheit und regelmäßige lineare Form der Rupturränder
spricht mehr für Erhängen, breite unregelmäßig gezackte Risse mit
unterminierten, blutunterlaufenen und aufgerollten Rändern mehr für
eine der beiden anderen Strangulationsarten.
6. Doppelseitige Intimarupturen der Carotiden kommen bei Erhängten
und bei Erdrosselten häufiger vor, als bei Erwürgten. Ein solcher Be¬
fund macht also a priori Erhängen eventuell Erdrosseln wahrschein¬
licher als Erwürgen.
7. Beim Erhängen sind Blutextravasate in die Gefäßscheiden, namentlich
solche von größerer Ausdehnung so selten, daß sie für die Diagnose
unberücksichtigt bleiben können. Beim Erdrosseln und Erwürgen sind
die Intimarupturen der Carotiden regelmäßig von meist ausgedehnteren
Blutergüssen in die Gefäßwand oder in ihre nächste Umgebung begleitet.
Das Vorhandensein größerer Blutextravasate in der Nähe der Intima¬
risse spricht also gegen Erhängen und für Erdrosseln oder Erwürgen.
8. Beim Fehlen eines äußeren örtlichen oder überhaupt jedes charakteri¬
stischen Befundes können die Intimarisse der Carotiden in Kombination
mit Blutaustritten in die Gefäßscheiden allein zu der Annahme berech¬
tigen, daß ein Mensch durch Erwürgen gestorben ist.
9. Intimarupturen der Carotiden können auch durch Strangulation von
Leichen entstehen. Hier begegnet ihre Erzeugung aber größeren
Schwierigkeiten, als beim Lebenden. Findet man sie, so erscheint ihre
vitale Entstehung daher zunächst wahrscheinlicher, wobei aber selbst¬
verständlich alle übrigen Faktoren, welche für oder gegen ein Strangu¬
lieren während des Lebens sprechen, auf das sorgfältigste in Betracht
zu ziehen sind. Blutansammlungen zwischen Intima und Media der
Carotiden, namentlich wenn sie die Intima in größerem Umkreis unter¬
miniert haben und umschriebene Ansammlungen von geronnenem Blut
in den Gefäßwänden und Gefäßscheiden am Orte der Einrisse dar¬
stellen, sind ein absolut sicheres Zeichen für die Entstehung der Rup¬
turen während des Lebens, sofern eine Entstehung der Blutaustritte
durch Hypostase auszuschließen ist
10. Werden Intimarupturen der Carotiden bei Strangulierten angetroffen,
so läßt sich aus ihrem Vorhandensein schließen, daß ein sehr dünner
Strick oder ein Strangwerkzeug mit scharfen Kanten zur Strangulation
benutzt und der Hals mit ihm sehr fest zugeschnürt worden ist.
11. War aus irgend welchen Gründen die Stelle am Halse nicht mehr zu
erkennen, wo das Strangwerkzeug eingewirkt hatte, so läßt sich seine
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Lage noch annähernd aus der Lage der Intimarisse am Gefäßrohr der
Carotis bestimmen, wobei zu berücksichtigen ist, daß die Risse am
leichtesten dann entstehen, wenn das Strangwerkzeug zwischen Kehl¬
kopf und Zungenbein angelegt wnrde.
12. Auch eine magere und wenig muskulöse Beschaffenheit des Halses
und die Zerrung, welche durch Bewegungen des Körpers im Todes¬
kampf herrorgerufen wird, beim Erhängen ferner ein schweres Körper¬
gewicht kann das Zustandekommen der Intimarupturen begünstigen.
13. Ihre Entstehung verdanken die Intimarupturen in der Hauptsache dem
unmittelbaren Druck, welcher durch das Strangwerkzeug oder die würgen¬
den Finger auf das Gefäßrohr der Carotis direkt ausgeübt wird. Da¬
neben spielt vielleicht eine gewisse Zerrung des Gefäßrohres insoferne
noch eine Rolle, als durch den Gefäßverschluß an der Teilungsstelle
der Carotis communis, der wohl in allen Fällen eintritt, wo Intimarup¬
turen angetroffen werden, dem aus dem Herzen in die Carotis ge¬
worfenen Blute der Weg versperrt wird und so durch den plötzlichen
und starken Anprall des Blutes die Gefäßwände momentan einem er¬
heblichen Seitendruck ausgesetzt werden, der unter Umständen so stark
sein kann, daß der Elastizitäts-Koeffizient der Gefäßhäute überschritten
und die durch die direkte Quetschung schon ohnehin verdünnte und
zur Ruptur vorbereitete Intima zum Einreißen gebracht wird.
III. Wissenschaftliche Sitzung.
Leppmann: Über den Einfluß der Hysterie auf die Erwerbsfähigkeit vom
Standpunkte der Invalidenversicherung.
Die interessanten, durch reiche kasuistische Belege besonders wertvollen
Ausführungen des Vortragenden sind leider zu einem kurzen Referate un¬
geeignet. '
Pollitz: Stellung und Aufgabe des .Strafanstaltsarztes.
Förster: Forensische Erfahrungen bei Dementia praecox.
Vortr. hat das Material der Bonner Prov.-Heilanstalt innerhalb der
letzten 10 Jahre berücksichtigt. Die Delikte der mit dem Strafgesetz in
Konflikt geratenen Individuen sind äußerst mannigfaltige. Besonderes In¬
teresse beanspruchen Mord- und Sittlichkeitsverbrechen, die drei- bezw. vier¬
mal vertreten sind. Zu den Zusammenstößen mit dem Strafgesetz führten
in der Regel: bereits eingetretene Demenz und Urteilslosigkeit, ethische
Entartung, Impulsivität und schließlich (imperatorische) Halluzinationen, so¬
wie Wahnvorstellungen. Nicht selten ist der Alkohol mit im Spiele. Be¬
sonders besprochen werden eigentümliche Dämmerzustände bei Dementia
praecox, die forensisch wichtig sind. Vortr. ist mit Wilmanns der Mei¬
nung, daß bei akuten Haftpsychosen die Diagnose Dementia praecox zu
häufig gestellt wird; vielfach handelt es sich dabei um degenerative Zu¬
stände. Drei Unfallgutachten führten weiterhin zu Erörterungen über den
Zusammenhang zwischen Kopfverletzung und Dementia praecox. Förster
betont zum Schlüsse die große forensische Bedeutung der Dementia praecox.
Der Sachkundige, welcher den Zustand früh genug erkennt, vermag oft
großes Unheil zu verhüten.
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Plempel: Zur Frage des Geisteszustandes der heimlich Gebärenden.
An der Hand von 6 Eigenbeobachtungen zieht der Vortragende am
Schlüsse seiner Ausfahrungen die nachstehenden Folgerungen: „Wenn in
der letzten Zeit der sogenannte Ehrennotstand als ursächliches Moment der
Kindestötung in den Hintergrund gestellt werden soll, so möchte ich auf
Grund der geschilderten Beobachtungen mich nachdrücklich für seine Exi¬
stenz und sein Wirken aussprechen. Wie ja wohl auch die Betrachtung
dieser Fälle ergibt, daß in der Tat „die erschütternden und schwächenden
EinflQsse beim Geburtsvorgange derart verwirrend wirken, daß die Furcht
vor Not und Schande mit abnormer Kraft ausgestattet wird und die nor¬
malen Instinkte auf Beschfltzung des Neugeborenen überwältigt.“
H. Pfeiffer, Graz.
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Die Feuerbestattung vom gerichtsärztlichen Standpunkt.
Von
Dr. Ernst Stark, Unterarzt im 5. Badischen Feldartillerie-Regiment Nr. 76.
(Aas der Unterrichts-Anstalt für Staatsarzneikunde der Königlichen
Universität Berlin.)
Wenn im folgenden ein Beitrag zu der vielbehandelten Frage der
Feuerbestattung gebracht wird, so geschieht es nicht, um etwa ihre
so hochgerühmten hygienischen Vorzüge zu beleuchten oder ihre volks¬
wirtschaftliche Seite zu betrachten. Auch soll hier nicht ästhetischen
Gefühlsschwärmereien eines Giacchi Raum gegeben sein, der in der
Akademie von Florenz ausbricht in die Worte: „Welch traurige Ge¬
fühle bemächtigen sich unser bei dem Gedanken, daß das göttliche
Gehirn eines Dante die Lieblingsspeise eines kleinen Erdwurms bilden
konnte, und daß der Phosphor eines Streichholzes ein Leichenteilchen
von Lord Byron enthalten kann.“
Vielmehr sei hier die Aufgabe gestellt, in möglichst sachlicher
Weise die Feuerbestattung vom gerichtsärztlichen Standpunktzu
besprechen.
Eine Behandlung dieses Themas scheint um so mehr am Platz,
weil einmal die Frage der Leichenverbrennung immer noch viel er¬
örtert und viel umstritten ist, andererseits eben die gerichtsärztliche
Seite bis jetzt nur wenig beleuchtet wurde. Und dies aus wohlbegreif¬
lichen Gründen. Weitaus die Mehrzahl aller Abhandlungen über
Bestattungswesen hat ja nur die Propaganda der Leichenverbrennung
im Auge und daher keinerlei Interesse, die gerichtlichen Bedenken
gegen die Feuerbestattung besonders hervorzukehren. Es sind des¬
halb die forensischen Einwände fast durchweg nur kurz erwähnt und
scheinbar mit Leichtigkeit abgetan, während gerade ihre Widerlegung
besonderen Schwierigkeiten begegnet.
Aktuell wurde, meines Wissens zum ersten Mal, die gerichtliche
Frage der Feuerbestattung bei einem Fall in München im Jahre 1904,
wo das Gericht bei Verdacht auf Giftmord Leichenasche als einzig
vorhandenes Untersuchungsobjekt zur Verfügung hatte. Dieser prak-
Archiv für Kriminalanthropologie. 34. Bd. 14
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IX. Ernst Stark
tische Fall hat wohl dem Fortschreiten der Feuerbestattung mehr
Schaden zugefügt als viele der gegnerischen Schriften und mit Recht
die Aufmerksamkeit weiter Kreise auf die neue Bestattungsart gezogen.
Gleichzeitig hat der Fall die für Gerichtsärzte und -Chemiker wichtige
Folge gehabt, daß von sachkundiger Seite Untersuchungen über den
Nachweis von Giften in der Leichenasche vorgenommen wurden.
Eben dieser Fall, im Verein mit den dadurch hervorgerufenen Arbeiten,
scheint mir ein Grund mehr für den Gerichtsarzt, die Feuerbestattung
seiner Kritik zu unterziehen. Gerade er soll sich über diese Fragen
orientieren und ein festes Urteil bilden, da er jederzeit in die Lage
kommen kann, sein Sachverständigen-Gutachten über die Feuerbestattung
abzugeben.
Vor der Behandlung des eigentlichen Themas müssen daher fol¬
gende allgemeine Fragen besprochen werden:
Welches Interesse hat die gerichtliche Medizin an
der Leichenbestattung überhaupt? und
In welchen Fällen können nachträgliche Leichen¬
untersuchungen für gerichtliche Zwecke erwünscht sein?
Daran schließt sich eine Beantwortung der Frage:
Welche Bedeutung für die Rechtsprechung haben die
Erd-und die Feuerbestattung, ins besondere welcheSicher-
beiten bieten sie ihr?
Zum Schluß folgt ein Vergleich der beiden Bestattungsarten hin¬
sichtlich ihrer Garantien für Staatsordnung, Rechtspflege und allge¬
meine Sicherheit.
Kurz vorausgeschickt sei, daß unter „Feuerbestattung“ nur die
moderne Leichenverbrennung verstanden ist, die vorwiegend Öfen mit
S iemens schem Gasfeuerungssystem benützt, wobei durch eine Tem¬
peratur von ca. 1000° C eine völlige Veraschung erzielt wird.
Es sei nnn die erste Frage besprochen:
„Welches Interesse hat die gerichtliche Medizin an
der Leichenbestattung überhaupt?“
Während der Arzt als Beschützer und Förderer der Volksgesund¬
heit mit der Leichenbestattung vornehmlich eine schnelle, vollständige
und gefahrfreie Beseitigung der Toten anstrebt, liegt für den Arzt
als Gehilfen der Gerichtsbarkeit das Interesse an der Bestattungsweise
vielmehr darin, den Leichnam so zu erhalten, daß dieser möglichst
lange und möglichst sicher Ermittlungen zu gerichtlichen Zwecken ge¬
stattet. Es kreuzen sich also gewissermaßen die beiderseitigen Wünsche
und Bedürfnisse, und dies kommt offenbar auch zum Ausdruck bei
den beiden Bestattungsarten, dem Erdgrab und der Einäscherung.
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Die Feuerbestattung vom gerichtsärztlichen Standpunkt. 197
Wie für den Hygieniker das Ideal der Leichenbestattung sozu¬
sagen eine sofortige Zerlegung des toten Organismus in unschädliche
Elemente wäre, so für den Gerichtsarzt eine gute Konservierungs¬
methode. Dieser, der Helfer der Gerechtigkeit, erblickt seine Aufgabe
darin, durch möglichst zuverlässige Gutachten als Sachverständiger
den Behörden Material in die Hand zu geben, durch das ihnen eine
Beweisführung bei Anklagen, die Ermittlung von Verbrechen u. dergl.
erleichtert wird. Und eben um auch nach dem Tode von Personen
als Gutachter in erfolgreiche Wirksamkeit treten zu können, ist der
Arzt des Forums darauf bedacht, daß die Leichen in einer für spätere
Untersuchungen günstigen Weise bestattet werden. Der Vertreter der
öffentlichen Gesundheitspflege dagegen hat die berufliche Pflicht, die
durch Leichen drohenden Gefahren zu beseitigen, und geht daher
darauf aus, Verwesungsprodukte und Infektionsmaterial der Leichen
so schnell und gründlich als möglich zu vernichten. Doch hier soll
nur der Standpunkt des Gerichtsarztes zu der Leichenbestattung
besprochen werden; es ist somit zu erörtern:
„In welchen Fällen können nachträgliche Leichen-
untersuchungen für gerichtliche Zwecke erwünscht
sein?“
Bei der zurzeit üblichen Art der Leichenschau ist es nicht zu
verwundern, wenn oft nach erfolgter Bestattung noch eine Leichen¬
untersuchung gefordert wird, und so sehen sich die Gerichtsbehörden
ab und zu veranlaßt, von dem ihnen zukommenden Recht der Ex-
humation Gebrauch zu machen. Mannigfach sind die Gründe, die
dem Juristen solch nachträgliche Ermittlungen an Leichen erwünscht
erscheinen lassen. Die Abhandlungen über Feuerbestattung erwähnen
allerdings, wenn von „juristischen“ oder „kriminalistischen“ Bedenken
gegen deren Einführuog die Rede ist, nur die Möglichkeit durch Aus¬
grabungsbefunde einen Mord, gemeinhin Giftmord nachzuweisen.
Ebenso werden aber auch Exhumationen nötig, um eine fahrlässige
Tötung zu ermitteln oder Unterscheidungsmerkmale zu liefern zwischen
Mord und Selbstmord, zwischen Verbrechen und Unglücks¬
fall. Selbst zivilrechtliche Streitfragen können Leichenaus¬
grabungen erheischen. Bei Unfallversicherten wird nicht so selten
nachträglich die Obduktion der ausgegrabenen Leiche angeordnet, um
in dem Prozeß um die Versicherungsprämie zu entscheiden, ob der
Tod aus natürlicher Ursache oder infolge eines Unfalles eingetreten ist.
Einen solchen Fall erzählte mir Herr Geheimrat Straßmann aus seiner
eigenen Praxis. Einen weiteren Grund für Exhumationen fand ich
nirgends weiter angeführt, — und doch halte ich ihn nicht für so
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IX. Ernst Stark
unwesentlich, wenngleich mir kein Fall aus der Praxis bekannt wurde—,
ich meine den nachträglichen Beweis eines Selbstmordes, den je¬
mand begehen kann, um seinen Hinterbliebenen Vermögensvorteile zu
verschaffen, z. B. durch Versicherungssummen, die nur bei natürlichem
Tod zu bezahlen sind.
Wie ferner verschiedentlich mit Recht hervorgehoben wird, be¬
steht der Hauptwert nachträglicher Leichenuntersuchungen weniger
darin, einen Schuldigen zur verdienten Bestrafung zu bringen, als
vielmehr dem ungerecht Verdächtigten das Beweismaterial seiner Un¬
schuld zu verschaffen. Es ist ja auch der glückliche Grundsatz unserer
Rechtsprechung, lieber einen Schuldigen mangels genügender Beweise
unbestraft zu lassen, als einen Unschuldigen zu verdammen. Und
wie leicht kommen falsche Verdächtigungen vor! Es werde z. B.
ein Arzt eines Kunstfehlers bei der Behandlung eines verstorbenen
Patienten beschuldigt; kann er dann nicht mehr durch das entlastende
Zeugnis der nachträglichen Obduktion seine Unschuld erweisen, so
ist es, selbst nach erfolgender gerichtlicher Freisprechung, doch .leicht
um seinen Ruf geschehen. Oder ein anderes Beispiel: Ein Todesfall
durch Genuß verdorbener Nahrungsmittel bringe jemanden in den
Verdacht, Gift gegeben zu haben. Auch hier kann unter Umständen
nur eine nachträgliche Leichenuntersuchung die Entscheidung zwischen
Schuld und Unschuld treffen.
Auf Einzelheiten, wie Feststellung einer freiwillig erduldeten
Tötung oder ähnliche seltene Fälle will ich mich nicht weiter ein¬
lassen, dagegen noch erwähnen, daß es von forensischem Interesse
sein kann, die Identität eines Gestorbenen zu erweisen, sein
Alter zu erfahren oder über besondere körperliche Zustände
Aufschluß zu erhalten, so über eine Schwangerschaft, überstandenen
Abort, normale Geburt oder solche infolge von Abtreibung, über noch
bestehende Jungfernschaft u. a. m. Als juristisches Beweismaterial
kann ferner der Fund von Fremdkörpern dienen: z. B. falsche
oder plombierte Zähne, Geschosse, Nadeln u. dergl., Reste von Nah¬
rungsmitteln, und was bei weitem das Wichtigste ist, in der Leiche
vorhandene Gifte.
Das wertvollste Ergebnis nun, das man von nachträglichen Unter¬
suchungen ausgegrabener Leichen erwartet, ist die Ermittlung der
Todesursachen. Diese unterscheiden sich nach ihrer Wirkungs¬
weise in äußere und innere. Eigentlich möchte man glauben, daß
bei der zurzeit allgemein durchgeführten Leichenschau die äußern
Todesursachen nicht verborgen bleiben könnten, auch dort nicht,
wo die Besichtigung der Toten von Laien ausgeübt wird. Doch ist
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Die Feuerbestattung vom gerichtsärztlichen Standpunkt.
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dem keineswegs so. Ist es schon denkbar, daß der wenig erfahrene
Laie einmal eine tödliche Kopfschußwunde unter starkem Haarwuchs
übersieht, so können doch noch viel eher solche Todesursachen
unbemerkt bleiben, auch dem untersuchenden Arzt, die bei äußerer
Einwirkung nur innere Verletzungen hervorgerufen haben. Dies
könnte z. B. der Fall sein bei Schlag auf den bedeckten Kopf mit
Sprung der Schädelkapsel, Überfahren, Tritt vor den Bauch mit Zer¬
reißung von Eingeweiden; kurz, überhaupt bei Einwirkung stumpfer
Gewalt. Bei derartigen Traumen finden sich ja häufig die schwersten
inneren Zerstörungen, obwohl äußerlich keine Spur einer Verletzung
besteht.
Daß endlich bei ausschließlich innerlich wirkender
Todesursache ein Übersehen oder Irrtum dem Leichenschauer bei
der bisherigen Art der Ausübung dieses Geschäftes leicht mitunterlaufen
konnte, ist ohne weiteres zuzugeben, auch durch manche Ausgrabungen
tatsächlich erwiesen.
Meine Annahmen von Gründen gerichtlicher Leichenausgrabungen
fanden ihre Bestätigung in einer Zusammenstellung von 25 Exhu-
mationen, die ich aus denAkten der Königlich Württembergischen
Ministerien nachträglich, nach Beendigung meiner Arbeit, durch
persönliche Mitteilung des Herrn Oberstaatsanwaltes v. Hecker-
Stuttgart, erfuhr. Diese forensischen Exhumationen waren nämlich
angestellt worden teils zur Beseitigung von Verdächtigungen, teils zur
Entscheidung von Mord und Selbstmord (teils wegen ungenauer ärzt¬
licher Bescheinigung, also wohl zur genaueren Feststellung der Todes¬
ursache). Leider war aus dieser Statistik nicht zu ersehen, über
welche Zeitdauer die 25 Fälle sich erstreckten, auch nicht, mit welchem
Erfolg für gerichtliche Zwecke sie begleitet waren.
Als tatsächliche Belege für die angeführten Möglichkeiten, unter
welchen Umständen Exhumierungen erwünscht sein können, sollen
noch folgende, besonders lehrreiche Fälle dienen:
In einem von Riedel (19) berichteten Fall sollte die Exhumation
Anhaltspunkte geben, ob bei einer Ertrunkenen Mord oder Selbstmord
Vorgelegen habe. Der Schwager der Verstorbenen stand nämlich in
dem Verdacht, die von ihm Geschwängerte umgebracht zu haben
Die Obduktion der nach l 3 /-* Jahren ausgegrabenen Leiche ergab nun
einen noch jungfräuliche Uterus; mit Sicherheit konnte also das
Gutachten über nicht bestehende Sch wangerschaft abgegeben werden
und damit war das verdächtigende Motiv hinfällig: der Angeklagte,
der schon gefesselt der Ausgrabung beigewohnt hatte, wurde darauf¬
hin freigesprochen.
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IX. Ebjtst Stark
Einen ganz ähnlichen Fall berichtet Schmidtmann (16), wo
eine weibliche Leiche nach 9 Monaten in der Abtrittsgrube völlig
verwest aufgefunden wurde. Die Untersuchung fand den Uterus
jungfräulich, wodurch der angezweifelte gute Ruf des angeblichen
Schwängerers und mutmaßlichen Mörders wieder hergestellt war.
Ein Gegenstück hierzu ist folgender ebenfalls von Schmidt¬
mann (16) berichteter Fall: „In der total verwesten Leiche einer
Magd, die ungefähr 10 Monate vorher erdrosselt und in einer Scheune
unter Heu verborgen worden war, wurde im Becken eine schmierige
unförmliche Masse gefunden, in die das Skelett eines Kindes einge¬
schlossen war.“
Ein weiterer Fall von Leichenaushebung zur Entscheidung von
Mord und Selbstmord ist durch v. Bergmann und Skreczka(18)
berichtet: „Ein Feldwebel war verdächtigt, seine Geliebte ermordet
zu haben; diese war erhängt aufgefunden, trotz des unvollkommenen
ärztlichen Totenscheines aber begraben worden. Nach 3 Monaten
wurde gerichtlich die Exhumation angeordnet zur Feststellung
äußerer Verletzungen. Recht bezeichnend für die außerordent¬
liche Schwierigkeit der pathologisch-anatomischen Diagnostik an ver¬
wesenden Leichen sind die 3 verschiedenen Gutachten, die über die
Hautveränderungen am Hals und andern Stellen abgegeben wurden.
Das Superarbitrium kommt zu dem Schluß, daß die Hautveränderungen
„mit größter Wahrscheinlichkeit“ als Verwesungserscheinungen, nicht
aber als Beweis eines der Lebenden zugefügten Gewaltaktes anzu¬
sehen sind. (Die Verurteilung soll trotzdem erfolgt sein.) Weitere
Beispiele von Ausgrabungen teilt Schmidtmann(l6) aus Caspers
Praxis mit, wobei besondere „körperliche Zustände“ nachzu¬
weisen waren: so konnte nach 6, in einem andern Fall nach 12 Wochen
die intakte Beschaffenheit des Hymen festgestellt werden, wodurch die
Anschuldigung auf dem Tode vorausgegangene Notzucht und dieser
gefolgte tödliche Krankheit hinfällig wurde.
Auch in dem alt-ehrwürdigen Handbuch Orfilas (20) zum Ge¬
brauche bei gerichtlichen Ausgrabungen finden sich Beispiele, die zum
Teil noch jetzt geeignet sind, Anwendung und Wert der Exhumation
zu zeigen. Schon damals wurden durch Leichenausgrabungen Ver¬
giftungen ermittelt, Verletzungen festgestellt, Kindesmorde nachgewiesen,
nachträglich noch Geschlecht, Alter, Größe usw. bestimmt. Auch vom
Funde von Fremdkörpern spricht Orfila; so fand er in einer Kindes¬
leiche mehrere Nadeln vor. Unter nachgewiesenen gröberen patho¬
logischen Veränderungen erwähnt er eine Ruptura uteri (bei künstlichem
Abort durch mechanische Mittel), ferner mehrmals eine Fractura cranii.
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Die Feuerbestattung vom gerichtsärztlichen Standpunkt.
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Es ist zu bedauern, daß in neuerer Zeit keine Zusammenstellung
über forensische Exhumationen der Öffentlichkeit übergeben worden ist.
Die eigentliche Hauptfrage ist nunmehr:
„Welche Bedeutung für die Rechtsprechung haben
die Erd- und die Feuerbestattung, insbesondere welche
Sicherheiten bieten sie ihr?“
Hinsichtlich ihrer forensischen Bedeutung zeigen die beiden Be¬
stattungsarten, in der Erde oder durch das Feuer, fundamentale Unter¬
schiede, wenigstens so lange sie nach dem bisherigen Modus ausgeübt
werden. Die Beerdigung schafft zwar den Leichnam fort, überläßt
ihn dann aber sich selber, beziehungsweise seiner Umgebung, ohne
noch weiter auf ihn einzuwirken. Dadurch erhält die Erdbestattung
eine Zeitlang und bis zu einem gewissen Grade Körperform und
organische Substanzen der begrabenen Leiche. Die Feuerbestattung
hingegen vernichtet den Leichnam sozusagen in einem Augenblick:
es tritt an die Stelle des Körpers die Asche, die nur noch die un¬
organischen Stoffe des Organismus enthält. Die „Leichenperson“ ist
dadurch völlig verloren gegangen und übergeführt in ein für alle
gleichartiges chemisches Gemenge. Eine Mittelstellung müßte das
Begraben im Tachyphag einnehmen, wenn derselbe tatsächlich, wie
seine Name verspricht, die Leiche besonders „schnell verzehrte“. Doch
ist dies nach den gemachten Erfahrungen keineswegs der Fall; so
gab Obermedizinalrat Dr. Scheurlen sein Gutachten im Württem-
bergischen Medizinalkollegium dahin ab, daß „ein nennenswerter Unter¬
schied in der Leichenzersetzung — qualitativ und quantitativ — bei
Beerdigung im Tachyphag oder Holzsarg nicht vorhanden“ sei. Aus
seinen mir persönlich mitgeteilten Erfahrungen über diesbezügliche
Exhumationen ziehe ich den Schluß, daß der anatomisch-patholo¬
gischen Untersuchung vermehrte Sicherheit, dem chemischen Nach¬
weis jedoch größere Schwierigkeit sich bietet bei Ausgrabungen von
im Tachyphag bestatteten Leichen als bei solchen im Holzsarg. Der
Leichnam selbst fand sich nämlich besser erhalten (etwas mumifiziert
und in Adipocire übergegangen) im Tachyphag; die abgeschiedene
Flüssigkeit war dagegen aus dem durchlässigen „Hartgußgips“ hin¬
durchgesickert.
Werden nun nach erfolgter Bestattung vom Gerichte ärztliche
Untersuchungen der Leichen angeordnet, so besteht bei der gewöhn¬
lich üblichen Art des Erdbegräbnis die Möglichkeit der Exhumation
mit anschließender Obduktion, während bei der Leichenverbrennung
die Nachforschungen auf ein Häuflein Asche beschränkt sind. Das
gerichtsärztliche Gebiet erscheint demnach geschmälert um die seit-
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IX. Ernst Stark
herige Möglichkeit Leichen aaszagraben und daran anatomisch-patho¬
logische und zum Teil auch chemische Untersuchungen anzustellen.
Zur richtigen Beurteilung und Würdigung der gerichtsärztlichen
Bedeutung der Bestattungsart sind einerseits die Aussichten und Er¬
folge der Exhumationen in Betracht zu ziehen, andererseits der Wert der
Leichenasche für forensisch-chemische Untersuchungen abzuschätzen,
Die erwähnten anatomisch-pathologischen und chemisch-physio¬
logischen Untersuchungen ausgegrabener Leichen sind naturgemäß
zeitlich beschränkt: von der Zeit hängt der Grad der Verwesung und
damit die Ausführbarkeit der Leichenuntersuchung ab, außerdem von
der Beschaffenheit des Grabes, von Feuchtigkeit, Luftzutritt u. a. m.,
ja selbst von der Art der begrabenen Leiche.
Diese Faktoren lassen sich natürlich auch nicht annähernd in
ihrer Wirkung zur Leichenfäulnis bestimmen. Da aber alle diese
Einflüsse Hand in Hand gehen, fällt damit überhaupt eine genauere
Bestimmung für die Dauer der Untersuchungsmöglichkeit weg. Es
herrscht eben nirgends Einheit darin, und Angaben wie: „die voll¬
ständige Verwesung dauert 6, 10 und mehr Jahre“ haben keinen
praktischen Wert. Allerdings richtet sich danach der Turnus der
Gräber, aber Gerichtsbehörden werden sich auf solche unbestimmte
Zeitangaben nicht verlassen und etwa davon eine Leichenausgrabung
abhängig machen. Ferner ist es erst recht nicht möglich, genaue
Zahlen für die Verwesungsdauer der verschiedenen Organe mensch¬
licher Leichen anzugeben oder über die Erhaltung organischer Stoffe
in der begrabenen Leiche (z. B. Gifte, Nahrungsmittel) etwas Bestimmtes
auszusagen.
Trotz dieser geringen Aussicht auf Gelingen wurden von ver¬
schiedenen Seiten Versuche gemacht, zahlenmäßige Zeitangaben zu
gewinnen für die Verwesungsdauer des menschlichen Körpers und
seiner Organe. So hat schon Burdach in seiner „Physiologie als
Erfahrungswissenschaft“ diesbezügliche Mitteilungen gemacht, auch
Orfila (20), der Vater der Gerichtsmedizin Frankreichs, gab sich viel
mit Studien über die Fäulnisvorgänge ab; ferner gab Casper einige
Daten über die Verwesungsdauer einzelner Organe, die sich jedoch
ebenfalls — naturgemäß! — in zu weiten Grenzen bewegen, um prak¬
tisch verwertbar zu sein. In etwas neuerer Zeit machte Zil ln er (17)
folgende Beobachtungen über den Gang der Verwesung:
1) Wanderung der wässerigen Körperbestandteile (Blutimbibition
und Transsudation) — 1. Woche bis 1. Monat.
2) Hinfälligkeit der Oberhautgebilde, dann des Coriums, dadurch
Ausblutung — erste 2 Monate.
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3) Zerfall der Muskel- und Drüsen-Parenchyme und der orga¬
nischen Grundlage der Knochen bis zum endlichen alleinigen Zurück¬
bleiben des anorganischen Knochengerüstes, des faserigen und elastischen
Gewebes; mechanische Entfernung der Zerfallprodukte — 3.—12. Monat.
4) Wanderung der Neutralfette (Fettimbibition und Transsudation)
— 4.—6. Monat.
5) Zersetzung der Neutralfette, mechanische Entfernung der
flüssigen Spaltprodukte (Glyzerin und Ölsäure), Kristallisation und
teilweise Verseifung der höheren Fettseifen im Panniculus. Umwand¬
lung des Restes des Blutfarbstoffes in kristallisierte Pigmente (be¬
sonders in der Umgebung der Gefäße) — 4. — 12. Monat und darüber.“
Nochmals sei also betont, daß die erfolgreiche Nachuntersuchung
ausgegrabener Leichen, dieser offenbare Vorzug des Erdgrabes gegen¬
über der Verbrennung, immer zeitlich beschränkt bleibt. So ver¬
schwinden leichte Veränderungen an Organen schon durch die be¬
ginnende Fäulnis (vergl. Zillners 1. Zeitraum). Trotzdem, wie
Schmidtmann(16) mit Recht hervorhebt, die Fäulnis in der Erde
erheblich langsamer fortschreitet als an der Luft, treten die Ver¬
änderungen verhältnismäßig frühzeitig auf, wenigstens nach den Er¬
gebnissen Zillners. Symptome wie Farbenveränderung (bei Ent¬
zündung, Hautquetschung), Schwellung (bei Ödem, Trauma), Blutaustritt
(Magen-, Gehirnblutung) u. a. m. sind nur kurze Zeit nachzuweisen.
Außerdem bringen die Leichenveränderungen durch Fäulnis die Gefahr
diagnostischer Irrtümer mit sich, so besonders bei vermuteten Ver¬
giftungen: die sogenannte „Magenerweichung“ kann eine Gastritis
toxica Vortäuschen, das nicht mehr deutliche Bild von einfachen oder
krebsigen Magengeschwüren zur Annahme von Atzwirkung verführen;
„Mazeration“ oder Zernagung durch Insekten gleicht dem Aussehen
von Verbrennungen. Bekannt ist der Fall Harbaum, wo die von
Ameisen zernagte Haut des Gesichtes und Halses einer Kindsleiche
zur Annahme einer Schwefelsäurevergiftung führte und die Verur¬
teilung das verdächtigten Vaters zur Folge hatte.
Daß frühzeitige Leichenausgrabung noch Erfolg hat bei Fahndung
nach pathologischen Veränderungen innerer Organe, zeigten zwei
von Schmidtmann (16) berichtete Fälle, wo es gelang, „im Darm
der 4 Wochen nach der Beerdigung exhumierten Leiche Typhusge¬
schwüre nachzuweisen; der behandelnde Arzt hatte hier bei seiner
Vernehmung geschwankt zwischen Perikarditis, Volvulus und Incar-
ceration, Oesophagus-Strikturen und Folgen von Mißhandlungen des
Lehrers (!). Bei einem angeblich nach einem Fußtritt gegen den Bauch
verstorbenem Menschen fand Casper an der nach 4 Wochen aus-
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IX. Ernst Stark
gegrabenen Leiche eine sehr große Blutung im rechten Seitenventrikel,
kolossalen Milztumor und Nephritis, und war so imstande, den ent¬
standenen Verdacht zu entkräften“.
Je gröber Veränderungen oder Verletzungen von Weichteilen sind,
desto länger werden sie sich nachweisen lassen, selbst Monate lang
in günstigen Fällen (Weich teilwunden durch Schnitt, Schuß usw.,
Zerreißungen und Lageveränderungen innerer Organe u. a. m.j. Als
besonders haltbar hat sich der Uterus erwiesen, was ja auch aus den
angeführten Exhumationen erhellte.
Geradezu unbegrenzt lange werden sich dagegen an Knochen
(einschl. der Zähne) Veränderungen nachweisen lassen, sowohl trau¬
matische als durch Krankheit entstandene. Als Beweis dafür möge
ein Bericht Schmidtmanns ( 16 ) dienen, wonach 6000 Schädel, die
sich in der Krypta des Klosters St. Florian fanden und aus einer
Schlacht zu Ende der Völkerwanderung herrühren, so wohlerhalten
sind, daß aus ihren Verletzungen genaue Vorstellungen über die da¬
mals gebrauchten Waffen sich bilden lassen. Denselben Beweis für
die Haltbarkeit der Knochen erbringen die Sammlungen von Museen.
Trotz dieser Widerstandsfähigkeit gegen Verwesung können bei
Leichenausgrabungen gefundene Knochen diagnostische Schwierig¬
keiten bieten insofern, als z. B. ein Bruch nicht immer erkennen läßt,
ob er beim Lebenden zustande gekommen ist oder erst an der Leiche.
Die bei einer Fraktur auftretende Neubildung von Knochensubstanz
fehlt teils schon am Normalen (wie am Schädel), teils bei gewissen
Allgemeinerkrankungen. Unter Umständen genügende Auskunft können
die Knochen bei Altersbestimmung liefern, auch geben sie Anhalts¬
punkte zur Feststellung von Persönlichkeit
Sehr wichtigen Aufschluß gewähren Knochenveränderungen über
Allgemeinerkrankungen (Tuberkulose, Syphilis u. s. w.). Außerdem
halten sich Gifte in ihnen besonders lange, wie der Abschnitt über
den Giftnachweis zeigen wird. Ferner ermöglichen gerade die Knochen
noch am ehesten zuverlässige Ermittelungen bei dem besonders leicht
faulenden Fötus, so die Erhebung des Alters und damit eine etwaige
Unterscheidung zwischen Abtreibung und Kindstötung.
Zu den am längsten sich erhaltenden Organen gehören noch
Haare und Nägel, die unter anderm die Identität von Leichen er¬
kennen lassen, wobei allerdings zu berücksichtigen ist daß Haare
unter dem Einfluß der Bodenbestandteile ihre Farbe ändern können.
Doch all diese Punkte treten weit in den Hintergrund gegenüber
der so überaus wichtigen Frage: Lassen sich auch Vergiftungen
an Leichen nach ihrer Erdbestattung nachweisen? Denn ohne weiteres
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Die Feuerbestattung vom gerichtsärztlichen Standpunkt.
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wird jedermann zugeben, daß gerade die Vergiftungen unter allen
Todesursachen die größte Wahrscheinlichkeit haben, bei der Leichen¬
schau unentdeckt zu bleiben. Daher soll, des praktischen Interesses
und Bedürfnisses wegen, auf diese Todesart und ihren Nachweis an
ausgegrabenen Leichen besonders eingegangen werden.
Obwohl auch bei den Vergiftungen ein anatomisch-pathologischer
Nachweis von großer Bedeutung wäre, so wird ein solcher doch
gewöhnlich in Wegfall kommen, sofern es sich nicht um ganz
frühzeitige Leichenausgrabungen handelt. Die pathologischen Ver¬
änderungen, die bei diesen Todesfällen im menschlichen Organismus
stattfinden, verwaschen sich zu schnell; es handelt sich eben meist
um feine, teilweise nur mikroskopisch nachweisbare Dinge. Die Haupt¬
untersuchung wird auf den chemischen und den physiologischen
Nachweis von Giftstoffen beschränkt bleiben. Es wird also auf die
Widerstandsfähigkeit der Gifte gegen Fäulnis einerseits, andererseits
darauf ankommen, ob zur Zeit des Todes diese Stoffe noch im Körper
sich befanden. Denn es ist sehr wohl denkbar, daß der Organismus
die eingeführten Stoffe schon wieder von sich gegeben hat, ehe deren
Wirkungen den Tod herbeigeführt hatten. Nicht nur „denkbar“ ist
dies, sondern häufig äußerst wahrscheinlich, da der Organismus sich
gegen aufgenommene schädliche Stoffe durch deren schleunige Be¬
seitigung durch Erbrechen, Diarrhöen, reichliche Urinausscheidung
usw. zu schützen sucht. Sind nun wirklich noch Giftstoffe in einer
Leiche bei ihrer Bestattung vorhanden, so bieten sie ihrer Natur nach
verschiedene Nachweismöglichkeiten: organische Substanzen werden
sich weniger leicht und kürzere Zeit, unorganische eher mit Sicher¬
heit und fast unbeschränkt lange nachweisen lassen. Eine Schwierig¬
keit wird mehr oder weniger beiden Gruppen anhaften, nämlich die
festzustellen, ob das betreffende Gift schon bei Lebzeiten beigebracht
oder erst nachträglich im Leichnam entstanden, aus der Umgebung
eingedrungen oder absichtlich erst dem Toten einverleibt worden ist
Den organischen Giftstoffen kommt große forensische Be¬
deutung zu; so ergibt eine Statistik, die Casimir Pörier und Gam-
betta im Jahre 1S80 für Frankreich aufstellen ließen, daß unter 617
Vergiftungen innerhalb 10 Jahren 105 auf organische Gifte zurück¬
zuführen waren (Cristoforis (13)).
Koppels Zusammenstellung der in der Weltliteratur von 1880
bis 1889 beschriebenen Vergiftungen ergibt, daß unter 2297 Fällen
über 900 Mal Alkaloide angewandt waren, was die besondere Häufig¬
keit gerade dieser organischen Giftmittel zeigt (Kobert 25). Unter den
Alkaloiden sind es nun vornehmlich Morphium, Opium, Atropin,
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IX. Ernst Stark
Cocain und Strychnin, die für gerichtlich - chemische Unter¬
suchungen in Betracht kommen. So waren in der eben erwähnten
Statistik Koppels Morphium 184, Opium 148, Atropin 131, Cocain
114, Strychnin 116 mal als Giftmittel verwandt.
Da nun nach Straßmann (15), Wachholz bei Schmidt¬
mann (16) u. a. der Sektionsbefund bei Alkaloidvergiftungen im all¬
gemeinen ein negativer ist, so beschränkt sich der Nachweis dieser
Intoxikationen bei Leichenausgrabungen vollkommen auf die chemische
und physiologische Untersuchung.
Seit Seimis Entdeckung der alkaloidähnlichen Ptomaine schien
der chemische wie physiologische Nachweis von Pflanzengiften nicht
mehr völlig einwandfrei und eindeutig geführt werden zu können.
Heutzutage sind aber die gefürchteten Verwechslungen sicher zu um¬
gehen; besonders durch die Untersuchungen von Brieger, Dragen-
dorff (24), Kratter u. a. sind die Pflanzenalkaloide ihrer wahren
Natur nach genau gekennzeichnet und durch exakte Methoden von
den Kadaveralkaloiden unterscheidbar geworden. Nach Kratter
(28) fand sich in Kadaverextrakten nicht ein Körper, der in allen
seinen Eigenschaften sich ganz gleich verhielte wie ein Pflanzenalka¬
loid. Die Ähnlichkeit der beiden Alkaloidarten beruhe vornehmlich
auf den physiologischen Wirkungen, und aus den Sei mischen Ent¬
deckungen folge nur „das mit Notwendigkeit, daß in Hinkunft dem
Tierexperimente in der gerichtlichen Toxikologie nicht mehr die ent¬
scheidende, sondern nur eine bestätigende Bedeutung zukomme“. Auch
Straßmann (15) ist der Ansicht, daß man mit Bestimmtheit ein Al¬
kaloid als solches ansprechen kann, wenn die sämtlichen chemischen
und physiologischen Reaktionen sich positiv zeigen. „Denn wir
kennen kein Ptomain, welches in allen seinen Eigenschaften etwa
mit dem Strychnin oder Atropin übereinstimmt“
Mit Sicherheit Alkaloidgifte in verwesenden Leichen nachzu¬
weisen, scheint also nach dem heutigen Stand der chemischen Analyse
und des physiologischen Experimentes durchaus möglich; wie lange
solche Nachweise an begrabenen Leichen gelingen, soll bei den ein¬
zelnen Giften besprochen werden.
Morphium und Opium sind ziemlich widerstandsfähig gegen
Fäulnisprozesse; so hat Goppelsroeder (5) noch nach 18 Monaten
Morphium in begrabenen Eingeweiden auffinden können. Auch Opium
habe sich noch nach mehreren Monaten in verfaulten Körperteilen
vorgefunden. Panzer wies Morphin nach 6 Monaten nach, andere
noch später (Schmidtmann (16)). Proelß (38) hat Morphin sogar
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nach 260 Tagen nachgewiesen, Nagelvort nach 50 Tagen, Auten-
rieth selbst nach 15 Monaten (Kobert (25)).
Über die Nachweisdauer von Atropin finden sich bei Ipsen (33)
mehrere Angaben: Er selbst konnte nach 12 Jahren Atropin in Blut,
Harn und Bier auffinden, Kratter und Paltauf in Eingeweiden
bez. im Speisebrei nach 6 Monaten. Ludwig und Mauthner fanden
mit Sicherheit Atropin in Menschenleichen nach 1 Jahr, Ipsen selbst
nach drei Jahren, wodurch eine Verurteilung ermöglicht wurde. Da¬
gegen gelang Proelß (38) schon nach 167 Tagen der Nachweis bei
seinen Versuchen nicht mehr, was auf eine immerhin geringere Be¬
ständigkeit des Atropins hinweist. Auch sind Verwechslungen des
Atropin mit andern Körpern offenbar nicht ganz ausgeschlossen: so
glaubte Ipsen bei einer nach 2*/2 Jahren ausgegrabenen Leiche
Atropin nachgewiesen zu haben, da die chemische und physiologische
Untersuchung positiv ausfiel. Der gefundene Giftstoff stellte sich je¬
doch als Oleum Hyoscyami heraus, das äußerlich als Medikament
angewandt worden war. Die Gefahr eines derartigen Irrtums ist
übrigens weniger der späten Untersuchung als solcher zuzuschreiben als
vielmehr dem Umstande, daß die beiden Alkaloide isomere Körper
von ähnlichen chemischen und physiologischen Eigenschaften sind.
Der Nachweis des Hyoscyamin verfügt, wie Ipsens Fall zeigte,
ebenfalls über große Feinheit, da selbst medizinale Dosen nach langer
Zeit zu finden waren.
Nur wenig lange scheint dagegen Cocain der chemischen Er¬
mittlung zugängig zu sein; so konnte bei Proelß (38) Versuchen der
Nachweis nicht einmal nach 14 Tagen erbracht werden.
Die hohe Beständigkeit und Widerstandskraft des Strychnins
gegen Fäulnisvorgänge hat Ipsen durch 14 Versuche (31) dargelegt,
indem er in den verschiedenartigsten faulen Flüssigkeits- und Organ-
Gemischen, selbst bei künstlich gesteigerter Fäulnis, mit Sicherheit
das Vorhandensein dieses Alkaloides nach weisen konnte, und zwar
gelang ihm der Nachweis nach V 2 —2 Jahren. Die chemische und
physiologische Reaktion fiel selbst positiv aus bei der Untersuchung
eines mit Urin verunreinigten Hemdes, das von einer mit Strychnin
vergifteten Person herrührte und 1 Jahr lang allen äußeren Ein¬
wirkungen ausgesetzt war. Aus seinen Versuchen sowie aus ander¬
weitigen Exhumationsberichten glaubt Ipsen folgende Schlüsse ziehen
zu können:
„1. Das Strychnin ist selbst bei jahrelanger Verwesung in den
Kadavern nachweisbar, wenn alle Verluste ausgeschlossen waren. Die
Wahrscheinlichkeit, unser Gift selbst nach sehr langer Zeit in Leichen-
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IX. Ernst Stark
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resten noch auffinden zu können, wird daher bedeutend größer sein,
wenn die Leiche in undurchlässigem Boden (Lehm) oder in einem
vollkommen dichten und schwer zerstörbaren Sarge ruhte.
2. Das wiederholte Nichtauffinden von Strychnin in zweifellosen
Vergiftungsfällen erklärt sich durch das experimentell festgestellte all¬
mähliche Auswandern des Strychnins mit den diffundierenden Körper¬
säften aus dem Kadaver. In welcher Zeit dieser Prozeß bis zum
vollständigen Verschwinden des Giftes fortschreitet, konnte bisher noch
nicht sichergestellt werden. Unzweifelhaft sind die hierzu erforder¬
lichen Zeiten sehr verschieden nach wechselnden äußeren und innern
Bedingungen, wie Ort und Art der Bestattung, Beschaffenheit des
Leichnams und Gang der Verwesung.
3. Im Falle von Exhumierung wegen Vergiftung wird in Zu¬
kunft bei der Auswahl der für die chemische Untersuchung bestimmten
Objekte nicht, wie üblich, das I-eicheninnere, die Organe, allein zn
berücksichtigen sein, sondern vor allem das, was die Leiche von außen
umgibt, und von dem Fäulnistranssudate durchtränkt worden ist,
namentlich die Kleider und die im Sarge außerhalb der Leiche an¬
gesammelten Stoffe.“
Auch andere Forscher, wie Dragendorff, Cloetta, Erd¬
mann, Usler, Riecker u. a. m. bestätigen, daß Strychnin zu den
am meisten widerstandsfähigen Alkaloiden gehört. Ferner will z. B.
Macadam Strychnin aus Überbleibseln vergifteter Tiere noch nach
3 Jahren nachgewiesen haben.
Außerordentlich lange nach dem Tode, nämlich noch nach
6 Jahren, wurde Strychnin chemisch wie physiologisch nachgewiesen
bei einer Leiche, die in Lehm gebettet und in Fettwachs umgewandelt
war (Kratter (29)).
Der Nachweis des Strychnin in damit vergifteten Leichen ist aber
nicht nur lange, sondern auch sicher zu erbringen. Befürchtungen
von Verwechslungen mit Kadaveralkaloiden oder gar mit Bakterien¬
toxinen sind jetzt kaum mehr berechtigt Allerdings fanden Giotta
Lombroso, Cortez, Brugnatelli und Zenoni ein wie Strychnin wirken¬
des Ptomain. Allein bei keinem Ptomain werden sämtliche physio¬
logischen Wirkungen und chemischen Reaktionen und Abscheidungs¬
weisen mit denen des Strychnins zusammenfallen (nach Dragen-
dorf (24)).
So gaben die in der Literatur erwähnten Leichenstrychnine ent
weder keinen Tetanus, oder sie teilten nicht alle chemischen Reaktionen
des Strychnin, wie z. B. ein Ptomain, das tetanische Wirkung be¬
sessen haben soll (Dragendorff (24)).
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Die Feuerbestattung vom gerichtsärztlichen Standpunkt.
209
Auch eine Verwechslung des Strychnin mit Anilin ist bei der
Durchführung zahlreicher Gruppenreaktionen zu vermeiden (im übrigen
gehören tödliche Anilinvergiftungen zu außerordentlichen Seltenheiten).
Andere Schwierigkeiten, z. B. die Unterscheidung des Methyl- und
Äthyl-Strychnins von ihrer Muttersubstanz, werden in forensischer Be¬
ziehung erst recht nicht in Frage kommen, wären außerdem durch
Fehlen der physiologischen Reaktion zu erkennen. Kurz, man kann
behaupten, daß in dieser Hinsicht der chemische Nachweis des Strych¬
nin völlig einwandfrei zu führen ist. Andererseits geht aber aus den
Arbeiten Ipsens hervor, daß auch Bakterientoxine nicht imstande sind,
Strychnin vorzutäuschen; er fand, „daß das Strychnin selbst bei Gegen¬
wart eines in seinen biologischen Eigenschaften ziemlich gleich bez. ähn¬
lich wirkenden Bakteriengiftes, des Tetanotoxins, so rein abgeschieden
werden kann, um sämtliche Einzelreaktionen damit vorzunehmen.“
Was für Tetanus gilt, glaubt Ipsen auch auf die Stoffwechsel¬
produkte aller übrigen Bakterien übertragen zu dürfen und kommt
zu dem Schluß, daß Strychnin aus faulen Leichen trotz der gleich¬
zeitig vorhandenen und häufig ähnlich wirkenden Kadaveralkaloide
noch sicher nachgewiesen werden kann.
Bezüglich der Feinheit des Strychninnachweises sei erwähnt, daß
nach Dragendorff (24) 0,000001 g Strychnin noch chemisch zu er¬
mitteln sind. Beim physiologischen Versuch tritt schon mit 0,00006 g
die gewünschte Reaktion ein.
Der Strychninnachweis verspricht demnach in mancher Beziehung
Aussicht auf Erfolg, selbst wenn die Untersuchung an spät ausge¬
grabenen Leichen vorgenommen wird. Allerdings wird Strychnin
sehr leicht ausgelaugt, kann daher in der Leiche selbst fehlen und
nur in der nähern Umgebung sich vorfinden. Schließlich besteht bei
gut durchlässiger Graberde die Gefahr, daß das Strychnin durch die
Bodenwässer völlig ausgewaschen und so einem spätem Auffinden
entzogen wird. Da aber de Dominicis (37) Strychnin in den
Knochen nachweisen konnte und gleichzeitig über eine mikrochemische
Methode mit einer Empfindlichkeit bis auf 1:1000 000 verfügt, ver¬
spricht der Strychninnachweis noch zu einer ganz späten Zeit sicheres
Gelingen. So sagt auch Kratter (27), „daß der Strychninnachweis
heute zu den bestgesicherten Aufgaben der forensen Chemie gerechnet
werden darf“. Und dies ist sehr wichtig, da (nach Pflanz) weder
der äußere Leichenbefund noch die Obduktion etwas Charakteristisches
ergeben.
Die Entscheidung, ob Strychnin intra vitam oder post mortem
einverleibt wurde, glaubt Pflanz aus dem chemischen Befund treffen
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IX. Ernst Stark
zu können nach Analogie der Untersuchungen Straßmanns und
Kirsteins „über Diffusion von Giften an der Leiche“.
Über die Dauer der Auffindbark eit verschiedener anderer Alka¬
loide macht Wachholz (1. c. 16) folgende Angaben:
„Pellacani ist es gelungen, Eserin, Atropin, Daturin und Pilo¬
karpin noch nach 7, Veratrin, Santonin, Kodein, Pikrotoxin und Ku¬
rarm noch nach 4 Monaten nachzuweisen.“
Proelß(38) fand Colchicin nach 258 Tagen, Veratrin nach 266
Tagen, Kodein nach 254 Tagen, Strychnin und Brucin nach 250 Tagen,
Pikrotoxin nach 169, Opiumalkaloide nach 165, Morphin nach 260 Tagen.
Kobert (25), der ebenfalls P r o elß zitiert, sagt darüber: „Während
ich diese Angaben, soweit sie sich auf Alkaloide beziehen, gelten
lassen will, möchte ich hinsichtlich der Glykoside (Digitalin) darauf
hinweisen, daß sie durch sehr verschiedene Arten von Mikroben zer¬
legt werden und daher in Leichen vermutlich meist rasch verschwinden
dürften. So fand K. Pruriewitsch, daß z. B. die Schimmelpilze
durch ein von ihnen produziertes Enzym Glykoside zerlegen.“
Dem sei entgegengehalten, daß Pro elß den Nachweis des Glykosides
Digitalin immerhin noch nach 169 Tagen erbringen konnte.
Auf Grund der angeführten Urteile über den Nachweis organischer
Gifte, die von altbewährten Gerichtschemikem und andern namhaften
Forschern abgegeben sind, auf Grund auch der exakten Daten, die
sich ebenso aus Versuchen wie bei Exhumationen ergaben, scheint
es möglich, Vergiftungen mit organischen Stoffen selbst bei ver¬
hältnismäßig später Leichenausgrabung mit für forensische Zwecke
genügender Sicherheit zu ermitteln. Bei den jetzigen Kenntnissen der
Ptomatine dürfte eine Verwechslung mit den Alkaloiden nicht mehr
zu befürchten sein, wenngleich Baumert (23) noch im Jahre 1904
ausspricht, der Gerichtschemiker werde sich beim Fund eines Pflanzen¬
giftes vor einer verhängnisvollen Täuschung stets sichern durch den
gutachtlichen Satz: „Die Möglichkeit sei nach Lage der Sache nicht
ausgeschlossen, daß das fragliche Gift ein Ptomain sein könne“. Da¬
gegen gibt auch Baumert in seinem Lehrbuch vom Jahr 1907 (22)
zu: „Nach allen bis jetzt vorliegenden Erfahrungen ist unter den
Leichenzersetzungsprodukten noch kein Stoff aufgefunden worden (mit
Ausnahme vielleicht des Muskarins), der in seinen äußeren Eigen¬
schaften und in seinem gesamten physikalischen, chemischen und
physiologischen Verhalten mit einem Pflanzenalkaloid vollständig
übereinstimmt.“
Baumert (22) legt großen Wert auf den Fund von Pflanzen¬
resten im Mageninhalt usw. Zweifellos würde gegebenen Falles die
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Die Feuerbestattung vom gerichtsärztlichen Standpunkt
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Entscheidung, ob ein Pflanzengift oder Ptomain vorliegt, wesentlich
erleichtert. So führt Baumert (22) als Beispiel das Auffinden von
Besten der Schierlingspflanze neben einer coniinähnlichen Substanz an;
damit wäre allerdings die Diagnose ziemlich gesichert. Doch sind
wohl auch ohne solch eine „botanische Ausbeute 11 die Chemiker im¬
stande, ein bestimmtes Gutachten über gefundene Pflanzengifte abzugeben.
Baumert (22) sagt fernerhin: „Wie die Dinge in Wirklichkeit
liegen, bleibt im Hinblick auf die stets vorhandene Gefahr einer
Täuschung durch Ptomaine manche Untersuchung auf Pflanzengifte
unentschieden, insofern, als der Gutachter, falls nicht wirklich jeder
Zweifel ausgeschlossen ist, sich für das Vorhandensein eines be¬
stimmten Pflanzengiftes nur mit großer Vorsicht und entsprechendem
Vorbehalt erklären kann u . Ich möchte mich dagegen eher Robert
anschließen und auf die gemeinschaftliche Arbeit und das überein¬
stimmende Ergebnis von Chemiker, Pharmakologen und Mediziner
das Hauptgewicht legen. Robert sagt darüber: „Nur wo der Che¬
miker und der Pharmakologe zu derselben Diagnose kommen und
diese auch mit den in vita beobachteten Symptomen übereinstimmt
da ist die Sicherheit vorhanden, daß der Verstorbene wirklich durch
dieses Gift ums Leben gekommen ist“.
Neben den Alkaloiden verdienen|die Cyanvergiftungen be¬
sonderes forensisches Interesse, teils wegen der ihnen zukommenden
Eigenschaft, bei der Leichenschau unentdeckt zu bleiben, teils wegen
ihrer Häufigkeit. Über das Vorkommen dieser Vergiftungen geben
verschiedene Statistiken bei Robert (25) Aufschluß: Die amtliche
preußische berichtet von 38 Fällen für das Jahr 1908. Unter 432 Ver¬
giftungen in Berlin von 1876 bis 1878 waren 40 mit Blausäure¬
verbindungen, also fast 10 Proz. Casper erwähnt unter 206 Ver¬
giftungen 28 durch Cyankalium bedingte. Die Cyanverbindungen
sind demnach unter den Vergiftungen zahlreich vertreten, was auf
die leichte Beschaffung des Giftes zurückzuführen ist; so findet sich
Cyankalium in technischen Gewerben, Blausäure in offiziellen Prä¬
paraten, in den bittern Mandeln usw.
Der frische Sektionsbefund bei Cyanvergiftungen mag zu einer
Diagnose beitragen können, bei einer späteren Leichenausgrabung sind
jedoch keine diagnostisch verwertbaren Symptome mehr zu erwarten.
Höchstens mag der spezifische Geruch sich noch einige Zeit in der
Schädelhöhle bemerkbar machen, sofern er nicht vom Fäulnisgeruch
überdeckt wird.
Bezüglich des chemischen Nachweises der Cyanverbindungen
hält Robert (25) die Wahrscheinlichkeit, Cyan quantitativ in Leichen
Archiv für Kriminalanthropologie. 84. Bd. 15
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IX. Ernst Stark
wiederzufinden, für null; aber auch der qualitative Nachweis habe
a priori wenig Aussicht auf Erfolg. Die Blausäure könne sich mit
den Eiweißstoffen direkt oder mit dem disponiblen Schwefel verbinden,
ferner mit Kohlehydraten sich kondensieren, schließlich auch durch
Fäulnis oder sonstige Einflüsse sich in ameisensaures Ammoniak um
wandeln. Übrigens erwähnt Ko bert (25) das Gelingen des Cyan¬
nachweises nach 8, 15, 22, 28, 100, 120, 180 Tagen (Jollymann,
[Chem. Ztg. 1905, p. 350] fand nach 6 Monaten Cyan in Magen¬
inhalt).
Kuhlmey(35), der eine besondere Abhandlung über Cyan¬
vergiftungen veröffentlichte, meint: „Wie lange nach dem Tode der
Nachweis der Blausäure in der Leiche noch gelingt, darüber bestimmte
Zeit anzugeben, ist ein vergebliches Bemühen.“
Bei Exhumationen gelang Braune der Nachweis nach 3 Wochen
Herapath nach 2 Monaten. Außerdem erwähnt Kuhlmey (35)
noch Versuche anderer, so den Nachweis des Cyan durch Benard
nach 14 Tagen in der Lunge, nach 15 Tagen im Darm, durch,
Sokulof nach 22 Tagen, durch Dragendorff nach 4 Wochen
und durch Zillner nach 4 Monaten.
„Ludwig hält es sogar für denkbar, daß sich die Blausäure
respektive das Cyankalium 1 Jahr, selbst noch länger in einem
Kadaver erhält. Wenn nun auch die näheren Umstände, welche eine
so lange Nachweisbarkeit des Giftes ermöglichen, nicht bekannt sind,
so ist es doch nicht zu bezweifeln, daß die Blausäure als chemisch nach¬
weisbarer Körper sich unvermutet lange in der Leiche erhalten kann.“
Keine so günstige Prognose für die Nachweisbarkeit stellt
Baumert (22), der glaubt, daß die Ermittlung der Blausäure wegen
ihrer leichten Zersetzlichkeit in bereits faulenden Organen meist nicht
mehr möglich sein werde. Etwas besser stehe es mit dem Cyan¬
kalium, das nach Maisei bis zu 4 Wochen nachweisbar sei.
Die Angaben über die Nachweisbarkeit der Cyanverbindungen
zeigen demnach wenig Übereinstimmung; immerhin darf wohl der
Schluß gezogen werden, daß diese Gifte bei nicht zu späten Aus¬
grabungen noch zu ermitteln sind, und praktisch folgt daraus, daß
der Sachverständige bei vermuteter Cyanvergiftung dem Gericht die
Exhumierung anzuraten hat.
Erwähnt sei noch, daß diesen Vergiftungen eine eigentliche Er¬
krankung nicht vorausgeht; meist tritt, bei größerer Dosis, der Tod
sofort oder wenigstens sehr schnell ein, daher die häufigen Fehl¬
diagnosen „Schlagfluß“, „Lungenschlag“, „Herzlähmung“, wegen derer
schon Casper den Ärzten seine berechtigten Vorwürfe machte.
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Die Feuerbestattung vom gerichtsärztlichen Standpunkt.
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Natürlich ist es hier nicht möglich, alle organischen Giftstoffe
zu besprechen, die etwa in forensischer Beziehung in Frage kommen
können. Für die Mehrzahl wird das vorher Gesagte ebenfalls zu
treffen: der chemische Nachweis stößt, mehr oder weniger bald
nach Beerdigung der vergifteten Leiche, auf verschieden große
Schwierigkeit und Unsicherheit; mitunter ist allerdings die Dauer der
sichern Nachweisbarkeit eine auffallend lange.
Die anatomische Untersuchung wird bei etwas fortgeschrittener
Leichenfäulnis unmöglich, zumal die Veränderungen der vergifteten
Organe nur leichte sind, abgesehen von nachher zu erwähnenden Ver¬
giftungen durch organische Säuren. Physiologische u. a. Methoden
sind bei den Zersetzungsprozessen sehr unsicher und höchstens zur
Bestätigung der andern Befunde heranzuziehen. Gar keine Aussicht
auf ein für gerichtliche Zwecke genügendes Ergebnis bieten die Nach¬
forschungen nach Fäulnisgiften: sie entstehen ja auch bei der Leichen¬
fäulnis, wie könnte man also einen diesbezüglichen Befund für eine
Wurst-, Fleisch-, Fisch-, Käse- o. ä. Vergiftung deuten? Auch die
bakteriologische Untersuchung kommt selbstverständlich in Wegfall.
Höchstens könnten noch bestimmte Nahrungsmittel überhaupt er¬
mittelt werden, was aber für das Gericht nicht mehr als ein leiser
Fingerzeig bedeutete.
Zum Abschluß des Kapitels über organische Gifte seien noch
erwähnt: Oxalsäure, Karbol und Lysol.
So charakteristisch nun auch der anatomische Befund bei
baldiger Obduktion nach diesen Vergiftungen sein mag, so ist er doch
bei späten Exhumationen von weit geringerer Bedeutung und Zu¬
verlässigkeit. Am längsten schiene eine Perforation des Magendarm¬
kanals diagnostisch zu verwerten; doch ist es zweifelhaft, ob diese
von einer solchen durch Selbstverdauung der Magenwand deutlich
genug zu unterscheiden wäre. Die Erkennung vitaler Perforationen
wäre nach Schmidtmann (16) allerdings leicht, da diese klein und
scharfrandig seien. Bei Ätzvergiftungen kommen aber namentlich
auch postmortale Perforationen vor. Die Ätzung an sich wird nicht
lange deutlich erkennbar bleiben. Wiederum ist also das Gericht vor¬
nehmlich auf den chemischen Sachverständigen angewiesen, wenn¬
gleich nach Kobert(25) diese Gifte zu denen „mit grob anatomischer
Wirkung“ zu rechnen sind.
Über das Auffinden der Oxalsäure teilt Kobert (25) mit, daß
sie sich in faulen Fleischmassen 9 Monate hielt (nach Vitali). Ob
sie aber immer ähnlich beständig ist, erscheint sehr zweifelhaft, da
Oxalate durch Mikroben zerlegt werden. Sonst wäre der Nachweis
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IX. Ernst Stark
schon einfach zu erbringen durch die Niederschläge von oxalsaurem
Kalk auf der Magenschleimhaut, in den Nieren usw. Nach Baumert (22)
genügt übrigens der qualitative Nachweis an sich nicht, da die Oxal¬
säure zu den in der Natur sehr verbreiteten Pflanzensäuren gehört;
es muß noch die quantitative Bestimmung ausgeführt werden. Da¬
mit schwindet die Aussicht einer für gerichtliche Zwecke genügenden
Ermittlung wohl ziemlich bald nach der Beerdigung der vergifteten
Leiche.
Für Karbol und Lysol ergibt eine Statistik Englands, daß im
Jahre 1897 unter 328 Selbstmorden 176 durch Karbolsäure und unter
648 zufälligen Vergiftungen 43 durch Karbolsäure sich befanden
(Kobert (25)). Und wie beliebt z. Z. das Lysol zu Selbstmordzwecken
ist, ist allgemein bekannt. Trotz der außerordentlichen Häufigkeit
dieser Vergiftungen geben sie doch nur selten Anlaß zu Exhu¬
mierungen, da der Leichenschauer gewöhnlich durch Geruch oder
Verätzungen vorher auf die richtige Spur geleitet wird.
Über die Haltbarkeit des Karbols und Lysols liegen genauere
Angaben nicht vor. Bei Lesser (34) sind Karbolsäurevergiftungen
erwähnt, wo die Analyse 27—54 Tage nach dem Tode gelang. In
Leichen sollen nach Dragendorff (24) die Fäulnisprodukte dem
Nachweise des Phenols sehr hinderlich sein. Wie lange überhaupt
Aussicht auf chemische Ermittlung besteht, bespricht auch Dragen¬
dorff nicht; sie scheint für die Phenole ebenso ungünstig wie für
die organischen Säuren zu liegen. —
Auch nach unorganischen Giftstoffen kann bei gericht¬
lichen Leichenausgrabungen gefahndet werden; in Betracht kommen
dabei die giftigen Verbindungen der Metalle, die Mineralsäuren
und ganz besonders die Metalloide Phosphor und Arsen.
Ohne weiteres wird man sich sagen, daß bei dieser Gruppe von
Giftstoffen die Aussicht auf einen Nachweis selbst in Leichen, die
schon lange beerdigt sind, eine viel günstigere sein muß als bei den
organischen Stoffen. Vor allem ist hier weniger jene Gefahr zu be¬
fürchten wie bei den Alkaloiden, daß die Verwesungsprodukte der
Leiche selbst zu Täuschungen Veranlassung geben; eine Umsetzung
der Leichensubstanzen in den unorganischen Giften ähnliche Ver¬
bindungen gibt es nicht. Dagegen bleibt eine andere Schwierigkeit
bestehen und tritt sehr in den Vordergrund, nämlich die Entscheidung,
ob etwa Vorgefundene Giftstoffe nicht dem Körper als Medikamente
u. dgl. eingeführt wurden oder ob sie nicht überhaupt physiologische
Bestandteile des Körpers sind. Ersteres ist z. B. zu erwägen bei
Arsen und Quecksilber, auch Phosphor; letzteres ebenfalls und zwar
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vorwiegend bei Phosphor, der sich in bestatteten Leichen wohl nie
mehr frei nachweisen läßt, bekanntlich aber normalerweise im mensch¬
lichen Körper vorkommt, z. B. als phosphorsaurer Kalk im Knochen.
Der normale Kupfergehalt der Leber ist wohl zu gering, um prak¬
tisch in Betracht zu kommen; dagegen können Blei, Arsen u. a. an¬
organische Giftstoffe infolge beruflicher, chronischer Intoxikation in
einem Körper sich vorfinden und so unter Umständen verbrecherische
Vergiftung vortäuschen. Kurz nach dem Tod würde es in solchen
Fällen dem Untersucher ohne Schwierigkeit gelingen, eine sichere
Entscheidung zu fällen; anatomische Veränderungen, die noch er¬
kennbar, würden ihm den Weg zeigen, auf dem das Gift in den
Körper gedrungen ist, eine gleichmäßige Diffusion in alle Leichen¬
teile, wie sie bei Verwesung eintritt, wäre noch nicht vorhanden. —
Auch bei den anorganischen Giften soll nur der Nachweis
einiger besonders wichtigen besprochen werden.
Bleivergiftungen sind am häufigsten im Gewerbe, doch kommen
solche gelegentlich auch sonst vor, so z. B. infolge Verwechslung von
Medikamenten (Bleizucker etc.), bei Gebrauch bleihaltiger Geschirre
zum Kochen u. a. m. Bekannt ist ein Fall von Vergiftung bei An¬
wendung einer Schminke, die Blei enthielt. Was den chemischen
Nachweis des Bleis betrifft, so hängt er von vielen Faktoren, ja so
recht eigentlich von der Gunst des Schicksals ab. Tritt Luft hinzu,
so wird Blei selbst von schwachen organischen Säuren, z. B. Essig¬
säure, gelöst, kann also vom Regenwasser vollständig weggeschwemmt
werden. Bildet sich dagegen Bleisulfat, so haben jfwir es mit einem
unlöslichen Bleisalz zu tun und können es nun unter günstigen Um¬
ständen unbeschränkt lange nachweisen. Nach Baumert (23) ent¬
stehen übrigens bei den Bleivergiftungen meist schwer lösliche Salze:
Bleikarbonat, -chlorid und -sulfat. Es versteht sich wohl von selbst,
daß es unmöglich ist, alle Eventualitäten zu diskutieren, was mit einem
derartigen Giftstoffe in verwesenden Leichen geschehen kann. Wir
wollten nur, gleich beim Beginn unserer Besprechung der anorgani¬
schen Gifte, hervorheben, daß man auch bei diesen nicht immer auf
eine chemische Ermittlung rechnen kann in der Annahme: die un¬
organischen Stoffe zersetzen sich nicht! Bei den völlig unberechen¬
baren Fäulnisvorgängen läßt es sich eben gar nicht absehen, welche
Verbindungen z. B. ein Metall eingehen wird, ob lösliche oder un¬
lösliche. Übrigens ist mit der Löslichkeit eines derartigen Giftes noch
nicht jede Aussicht auf Nachweis entschwunden, es kann ja beispiels¬
weise eine Leiche auf undurchlässiger Bodenschicht ruhen. Diese
Punkte, die erst bei fortgeschrittener Leichenverwesung in Betracht
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IX. Erkst Stark
kommen, gelten auch für die im folgenden erwähnten unorganischen
Giftstoffe.
Gerade für Kupfer trifft das eben Gesagte zu, denn das be¬
kannte Kupfervitriol ist in Wasser löslich, ebenso essigsaures Kupfer.
Ist ein unlösliches Salz gebildet, so muß sein Nachweis unbeschränkt
lange sich führen lassen, vorausgesetzt, daß es nicht mechanisch durch
Wegschwemmen entfernt wird.
In forenser Beziehung noch wichtiger als die beiden eben ge¬
nannten Metalle ist das Quecksilber mit seinen giftigen Ver¬
bindungen. Leider sehen wir uns hinsichtlich seines Nachweises auf
ähnliche theoretische Mutmaßungen beschränkt, wie bei den Blei- und
Kupferverbindungen: es sind uns auch hierfür weder Exhumationen
noch Versuche zur Auffindung dieser Gifte bekannt geworden. Nur
Dragendorff spricht sich darüber aus und meint, daß bei der
Quecksilbervergiftung selbst in länger beerdigten Leichen das Gift
sich noch erwarten lasse. Man müsse sich übrigens vor Irrtümern
in acht nehmen, da HgCh häufig zur Leichendesinfektion (bei
Diphtheritis etc.) Verwendung finde. Selbstredend gilt dasselbe für
den therapeutischen Gebrauch der Hg-Präparate. Da bei derartigen
Vergiftungen die Sicherheit des chemischen Nachweises je nach den
äußern Umständen sich richten wird, so ist, sofern noch möglich, die
anatomische Leichenuntersuchung als wichtiges Hilfsmittel heranzu¬
ziehen. Es kann z. B. das betreffende Gift aus Magen und Darm
schon völlig verschwunden sein, in den sogenannten zweiten Wegen
finden sich nur noch seine Spuren, die, wenn auch die Qualität, so
jedenfalls nicht die Quantität und den Weg der Einführung des Gift¬
stoffes erkennen lassen. Die anatomisch-pathologischen Ermittlungen
ergeben dann vielleicht, daß eine Gastroenteritis Vorgelegen hat oder
andere Befunde, wodurch dann die Annahme einer Vergiftung an
Wahrscheinlichkeit gewinnt. Und gerade die Mercurialintoxikationen
bieten einen charakteristischen anatomischen Befund, der den allen¬
falls ungenügenden chemischen Beweis ergänzen kann. So finden
sich bei Sublimatvergiftung in den oberen Verdauungswegen die be¬
kannten Verätzungen und Verschorfungen, und, was wohl nur kurze
Zeit nach dem Tode sich nachweisen läßt, der crupöse (diphtherie-
ähnliche) graue Belag der Magen- und Darmschleimhäute.
Die übrigen Metalle geben so selten zu tödlichen Vergiftungen
Anlaß, daß ihr Nachweis in ausgegrabenen Leichen praktisch gar
nicht in Betracht kommt. Im allgemeinen gilt auch für sie, daß sie
unbegrenzt lange durch chemische Analyse sich ermitteln lassen, wenn
sie nicht gerade in leicht lösliche Salze übergeführt und völlig aus-
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gewaschen sind. Es können dabei übrigens schwierige, ja nicht lös¬
bare Differentialdiagnosen Vorkommen, z. B. ob Vorgefundenes Kali
auf Vergiftung mit chlorsaurem Kali oder auf den natürlichen Ge¬
halt der Muskeln an Kalisalzen zurückzuführen ist. Die anatomischen
Veränderungen, die diese übrigen Metalle hervorufen, sind nicht geeignet,
längere Zeit nach dem Tod genaue Schlüsse ziehen zu lassen; so
geben Vergiftungen mit Kali chloricum, mit Barytsalzen u. a. keine
spezifischen Sektionsbefunde.
Wenn im folgenden vom Nachweis der Mineralsäuren an aus¬
gegrabenen Leichen gesprochen wird, so möchte man sich fast
wundem in der Annahme: Säurevergiftungen können überhaupt nicht
unentdeckt bleiben bei der zurzeit allgemein eingeführten Leichen¬
schau, wozu also die müßige Frage nach deren Nachweismöglichkeit?
Allein trotz ihren ätzenden Wirkungen können Säurevergiftungen
einer äußeren Leichenbesichtigung entgehen, wie aus zwei bei Schmidt¬
mann (16) mitgeteilten Leichenbefunden hervorgeht: So schildert der
127. Fall seines Handbuches einen Frachtabtreibungsversuch mittels
Schwefelsäure, an dem Mutter nebst Fracht zugrunde gingen. Die
Mutter hatte ein Fläschchen rohe Schwefelsäure, vermischt mit Brennöl
ausgetrunken. „Äußerlich fand man nichts an der Leiche Auffallendes,
auch nicht an der Zunge." Wir erwähnen ferner den Fall 128 des¬
selben Buches: Ein Mädchen hatte zwei Eßlöffel Schwefelsäure ge¬
trunken, starb nach fünf Tagen; „die Zunge war vollkommen normal,
war aber offenbar es in den Tagen der Krankheit erst wieder ge¬
worden.“
Gelegentlich ereignen sich Säurevergiftungen auch aus Versehen,
z. B. Verwechslung einer Medizin mit einer Flasche Salzsäure; doch
können derartige Fälle für uns kaum in Betracht kommen, da dann
die Umgebung des Getöteten wenig Interesse an Verheimlichung des
wahren Sachverhalts haben wird. Es müßten denn die betreffenden
Personen (Eltern, Krankenpfleger o. dgl.) den Unglücksfall aus Furcht
vor Bestrafung wegen Fahrlässigkeit verdunkeln wollen.
Sollte nun einmal zur Ermittlung einer Säurevergiftung eine
Leichenausgrabung stattfinden, so ließe sich, falls nicht zu viel Zeit
verstrichen ist, zu dem charakteristischen anatomischen Befund leicht
eine chemische Analyse ergänzend beifügen. Solange der Magen¬
inhalt noch vorhanden ist, können natürlich Schwefel-, Salz-, Salpeter-
u. a. -säuren mit einiger Aussicht aufgesucht werden. Auch bei
Diffusion der Säuren kann ihre Auffindung noch möglich sein, teils
direkt, teils in entstandenen Salzen, sowohl in den Leichenteilen selbst
als in deren Umgebung.
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Ähnliches trifft für die alkalischen Langen zu.
Die Phosphor Vergiftungen bieten einen recht charakteristischen
Sektionsbefund, doch bedarf er, wie mehr oder weniger alle Ver¬
giftungen, zur absoluten Sicherstellung der Diagnose noch der chemi¬
schen Analyse. Die anatomisch - pathologischen Veränderungen sind
nun so ausgesprochen, daß sie auch bei etwas späten Leichen-
ausgrabungen noch mit einiger Sicherheit zu erheben sind. Dagegen
scheint der chemische Nachweis bei dieser Vergiftung weniger langes
Gelingen zu versprechen als der anatomische, da mitunter bei Ob¬
duktionen die unmittelbar nach dem Tode stattfanden, die chemische
Analyse schon versagte. So erinnere ich mich, wie im Sommer 1907
Geheimrat Orth aus einem Sektionsbefund mit absoluter Sicherheit
auf Phosphorvergiftung schließen zu dürfen glaubte, während die so¬
gleich angeschloBsene chemische Untersuchung nicht mehr imstande
war, Phosphor aufzufinden. Auch unter den 17 von Lesser(34)
berichteten Phospborvergiftungen war 9mal das Ergebnis völlig
negativ, obwohl die Untersuchung z. T. nur wenige Tage nach dem
Tode angestellt wurde.
In einigen andern Fällen fand sich allerdings noch phosphorige
Säure; deren Auffinden hat jedoch keine absolute Beweiskraft für
eine stattgehabte Phosphorvergiftung, da ihre Salze aus den Phos¬
phaten, also normalen Bestandteilen des menschlichen Körpers, durch
reduzierende Fäulnisvorgänge entstanden sein können. Auch zu thera¬
peutischen Zwecken könnten die Phosphite eingeführt worden sein.
Dagegen gelang es nach Lesser(34) in einem Fall, noch nach
88 Tagen Phosphor in Substanz trotz sehr weit vorgeschrittener
Leichenfäulnis nachzuweisen, in 2 andern Fällen nach 8 bez. 3 Tagen.
Le88er schließt nun aus seinen Untersuchungsergebnissen, „daß bei
längeren Intervallen zwischen Einführung des Giftes und Beginn der
Analyse der negative Ausfall dieser nicht so sehr durch postmortale
Oxydation der Noxe, als durch den Giftgehalt der Teile bezw. den
Mangel eines solchen im Moment des Ablebens bedingt wird.“ Auf¬
fallend lang konnte (nach Robert (25)) Bosnjakowic den Nachweis
freien Phosphors erbringen, nämlich nach 15 V 2 Monaten in vier Or¬
ganen einer Leiche.-Daß sich schließlich ganze Phosphorstücke
länger halten werden, als fein verteiltes Ph - pulver, braucht wohl
kaum erwähnt zu werden.
Noch weit günstiger steht es mit dem chemischen Nachweis in
exhumierten Kadavern für das Arsen, das Lieblingsgift der Mörder
und früher auch der Selbstmörder; dagegen bietet der anatomisch¬
pathologische Nachweis einer Arsenvergiftung geringere Chancen.
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Die Feuerbestattung vom gerichtsärztlichen Standpunkt.
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Die außerordentliche Bedeutung der Arsenvergiftung liegt für uns
nicht nur in ihrem häufigen Vorkommen, — eine Statistik gibt weiter
unten darüber Aufschluß —, sondern vornehmlich in dem Umstand,
daß diese Vergiftung sehr leicht gewöhnliche Krankheiten vorspiegeln
kann, z. B. Magendarmkatarrh, Cholera, und so selbst den behandeln¬
den Arzt täuscht und eventuell zur Ausstellung eines diesbezüglichen
Leichenscheines bewegt. Wie oft Arsenvergiftungen unerkannt bleiben,
beweisen die zahlreichen Exhumationen, die als Todesursache Arsen
und seine Präparate noch nachträglich ergaben. Lesser (34) erwähnt
unter 48 Arsenvergiftungen 9 Fälle, wo der Nachweis erst bei der
Leichenausgrabung erfolgte, teils nach verschiedenen Monaten, einmal
sogar noch nach über 10 Jahren. Auch in Caspers Handbuch
findet sich eine Reihe derartiger Exhumationsergebnisse zusammen¬
gestellt, der folgende Fälle entnommen sind:
Fall:
Zeit nach Beerdig.
Ergebnis:
172.
11 J.
nur in den Haaren
179.
1 J. 4 M.
+ (arseniksaures Kupfer)
180.
3 J.
±
181.
8 J.
+
Wir haben noch hinzuzufügen:
ad 179. Fall: Eine vorhergehende Obduktion hatte nur die
Diagnose „Darmkatarrh“ ergeben, trotzdem sie von den behandelnden
Ärzten ausgeführt worden war. Dies beweist, daß auch eine Ob¬
duktion ohne genaue chemische Untersuchung nicht unbedingt vor
Irrtümern in Annahme der Todesursache schützt.
ad 180. Fall: Es fand sich As in der Leiche, aber gleichzeitig
auch in der umgebenden Erde, ein Umstand, auf den wir noch nach¬
her zu sprechen kommen. Der Tod war aus anderer Ursache ein¬
getreten.
ad 181. Fall: Die Untersuchung ergab mit Wahrscheinlich¬
keit As, quantitativ jedoch nicht ausreichend.
Über die große Zahl von verborgen gebliebenen Arsenvergiftungen
berichtet die „Enzyklopädie der Hygiene“ (9) (Abschn. Leichenver¬
brennung) p. 21: „Eine neuerdings angestellte Enquete in Preußen
ergab, daß dort z. B. jährlich im Durchschnitt allein etwa 10 post¬
hume Leichenuntersuchungen aus Anlaß von Ermordungen durch
Arsenikvergiftungen ausgeführt werden, welche selbst bei obligatori¬
scher ärztlicher Leichenschau nicht festzustellen gewesen wären.“ In
wieweit dabei die nachträglichen Ermittlungen von Arsen erfolgreich
waren, ist leider nicht mitgeteilt.
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Um ein anschauliches Bild zu geben von den Schwierigkeiten,
die dem Gerichtsarzt bei Abgabe des Urteils „Arsenvergiftung“ be¬
gegnen, sei ein interessanter und charakteristischer Fall wiedergegeben,
den Dittrich (26) veröffentlicht hat in einer Abhandlung „Über die
die Grenzen der forensischen Verwertbarkeit des] chemischen Arsen¬
nachweises bei Exhumierungen.“ Der Tatbestand ist kurz folgender:
Der Knecht Joseph W., der mit seinem Schwager Albert K. und
dessen Ehefrau zusammenlebte, wurde eines Morgens tot in seinem
Lager aufgefunden. Am Abend vorher hatte er mit der übrigen
Familie gemeinsam aus einer Schüssel gegessen, dabei war nur auf¬
gefallen, „daß Joseph W. .wie nach einer schweren Arbeit stark ge¬
rötet war und schwitzte.“ Da Verdacht entstand, Joseph W. sei von
seinem Schwager Albert K. vergiftet worden, fand drei Tage darauf
die gerichtliche Sektion statt. Es ergab sich „ ein hochgradiger akuter
Magendarmkatarrh mit Wulstung, Lockerung und Ekchymosierung
der Schleimhaut des Magens und des Zwölffingerdarms, mäßige
Lockerung der Schleimhaut der übrigen Darmabschnitte“. Die che¬
mische Untersuchung wies nun „deutliche Spuren von Arsenik in
dem spärlichen Mageninhalt“ nach. „Hervortretender war der Befund
von Arsenik in Stücken des Magens, im Dünndarm, Dickdarm, in der
Leber, Milz, in den Nieren und im Blaseninhalt“ Die zwei Gerichts¬
ärzte gaben auf Grund ihres Sektionsergebnisses und dieser chemischen
Befunde ihr Gutachten dahin ab, „daß Joseph W. an Vergiftung durch
Arsenik gestorben sei“. Dies gab weiterhin die Veranlassung, die
Leichen von vier andern Familienangehörigen auszugraben, welche
vor ca. 5 Jahren, im Verlauf von 1 Vs Jahren, ebenfalls plötzlich ge¬
storben waren. Als Todesursache war vom Leichenschauer, dem
Gemeindevorsteher, „Schlaganfall“ in all diesen Fällen angenommen
worden. Die an die Exhumation sich anschließende chemische Unter¬
suchung ergab, daß in allen vier Leichenüberresten bezw. Kleidern
Arsen nachzuweisen war. Die Graberde zeigte sich frei von As, so
daß die Gerichtsärzte sich dahin aussprachen, aus dem chemischen
Befunde gehe unzweifelhaft hervor, daß das Gift nicht aus der Um¬
gebung in die Leichen gelangt sei. Aus verschiedenen Gründen
hielten die Ärzte es für unwahrscheinlich, daß die Kleider die Quelle
des As waren, vielmehr sei dasselbe dem Verstorbenen während des
Lebens beigebracht worden. Krankhafte Veränderungen ließen sich
wegen zu weit fortgeschrittener Verwesung nicht mehr erkennen. Die
Gerichtsärzte kamen nach ihren Ausführungen zum Schluß, daß die
vier Mitglieder der W.schen Familie ebenfalls durch Arsenvergiftung
zugrunde gegangen seien. Es wurde nun ein Fakultätsgutacbten ver-
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Die Feuerbestattung vom gerichtsärztlichen Standpunkt.
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langt, das etwa ff. ausführte: „Es sei anzunehmen, daß Joseph W.
einer akuten Arsenvergiftung erlegen sei; daß für die vier andern
Familienglieder eine solche nicht nachzuweisen sei, da anatomisch-
pathologische Befunde fehlen, ein Übergang von Arsen aus Kleidungs¬
stücken usw. nicht bestimmt auszuschließen sei.“ Daraufhin wurde
Albert K. von den Geschworenen einstimmig schuldig erkannt und
zum Tode verurteilt. Kurze Zeit darnach wurde bekannt, daß
Joseph W. ein .Arsenikesser gewesen war, ein Wiederaufnahmever¬
fahren wurde eingeleitet und ein neues Fakultätsgutachten verlangt.
Dieses erklärte eine Feststellung nach dem anatomischen Befunde,
ob Joseph W. Arsenikesser war oder nicht, für unmöglich; eine
akute Arsenvergiftung liege vor, es sei aber nicht ausgeschlossen,
daß ein Arsenikesser „durch eine für ihn ungewöhnliche große Gabe
des Giftes, oder wenn er längere Zeit mit dem Arsenikessen ausgesetzt
hat, auch durch eine solche Dosis, an welche er sich früher bereits
gewöhnt hatte, akut vergiftet werden kann“. Bei der zweiten Ver¬
handlung wurde nun Albert K. von dem ihm zur Last gelegten Ver¬
brechen einstimmig freigesprochen.
Im vorliegenden Falle sind so ziemlich alle Punkte gestreift, die
es dem Gerichtsarzt erschweren, sein Gutachten über eine ausgegrabene
Leiche für Arsenikvergiftung abzugeben. Da ist es der mangelnde
anatomische Befund, entweder weil derselbe überhaupt nichts Spezi¬
fisches bietet, oder weil die Verwesung eine solche Untersuchung von
vornherein ausschließt; ferner die Differentialdiagnose einer etwa be¬
richteten Erkrankung vor dem Tod; dann die folgenschwere Ent¬
scheidung, ob das Arsenik als Medikament genommen oder in bös¬
williger Absicht gereicht, die Frage, ob die Menge hinreichend war,
um den Tod herbeizuführen, und endlich, ob das ermittelte Gift nicht
gar aus der Umgebung stammt. Trotz all dieser Einwürfe ist doch
nicht zu verkennen, daß der Nachweis des Arsen verhältnismäßig am
ehesten gelingt, denn gerade hierfür gibt es ganz außerordentlich
empfindliche Methoden: So will Bertrand mittels der Berthelotschen
Bombe noch ^2000 mg As sicher, V5000 mg mit Wahrscheinlichkeit
nachweisen, Lockemann dagegen mit dem Marshschen Apparat
deutlich bis zu t /i 0 mmg (= ‘/i 0000000 g) As. An Feinheit lassen
also die zurzeit bekannten Verfahren nichts zu wünschen übrig.
Bezüglich der Dauer, As bei Leicbenausgrabungen nachzuweisen
finden sich bei Weimann die Angaben, daß As in Leichenresten
noch nach 10 Jahren (Bley), ja selbst nach 22 Jahren (Seidel) auf¬
gefunden wurde. Kratter erwähnt vier Exhumationen, wo der
Nachweis noch nach 1 1 / 2 —3V2 Jahren erbracht wurde. Er spricht
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sich demgemäß dahin ans, daß „die Möglichkeit desT Nachweises
ffiulnisbeständiger Gifte fast unbegrenzt sei, d. h. wenigstens für
Mineralgifte sicher so lange bestehe, als überhaupt noch Leichenreste
auffindbar seien“. Er betont ebenda, daß es neben etwaiger Aus¬
wanderung auch eine Einwanderung von Giften in die Leichen gebe,
glaubt aber, daß diese mögliche Quelle eines verhängnisvollen Rechts¬
irrtums vom sachkundigen Untersucher unschwer aufzudecken und
auszuschalten sei.
Die wichtigsten Giftstoffe sind nun durchgesprochen, deren Nach¬
weis bei „forensischen Exhumationen“ von Bedeutung sein kann.
Leider war es mir nicht möglich, eine Statistik zu bekommen darüber,
welche Vergiftungen hauptsächlich zu Leichenausgrabungen Veran¬
lassung gegeben haben: Eine diesbezügliche Eingabe an das Egl.
Preuß. Justizministerium „um Überlassung der Statistik von Ex-
humationsergebnissen“ war abschlägig beschieden worden. Ich muß
mich daher beschränken auf eine Statistik der Häufigkeit von Ver¬
giftungen aus Tardieu (21): p. 162. „Statistique de l’empoisonne-
ment criminel en France de 1851—63.“
Gesamt-Summe: 617 Fälle von Vergiftungen.
190 Fälle mit tödUchem Ausgang,
285 „ die Krankheiten zur Folge hatten,
152 „ ohne weitere Folgen.
Es waren angewandt:
As . . .
Ph . . . ,
CuS0 4 . .
h 2 so 4 . . .
Canthariden .
Opium nur
Hg nur . .
232 mal
170 „
■ ' i>
30 „
P. 160 gibt Tardieu ff. Statistik Tailors wieder:
547 Todesfälle durch Vergiftungen.
Durch Opium.
77
77
77
77
V
As . .
H 2 S0 4 .
Hg . .
CNH . .
Nux vomica
in 197 Fällen
185
32
15
4
3
Ob die Sammlung von kriminellen Vergiftungen, die Eratter (29)
im kleinen aufgestellt hat, sich auch auf allgemeine, größere Ver¬
hältnisse übertragen läßt, ist nicht zu entscheiden. Eratter hat
unter 100 Fällen (1901—1905) 37 Exhumationsuntersuchungen gehabt,
also mehr als J /3. I. g. verteilten sich die Vergiftungen folgendermaßen:
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Die Feuerbestattung vom gerichtsärztlichen Standpunkt
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As.40 mal
ft. 7 „
Strychnin.8 „
Opium, Morphium. 3
Pb. 2 „
23 Untersuchungen blieben ergebnislos, in den 17 übrigen waren
organische, wie anorganische Gifte gleichbäufig angewandte
Es wurde der Versuch gemacht, einen Überblick zu gewähren
darüber, welche Aussicht auf Erfolg gerichtsärztliche Ermittlungen
an Leichen nach deren Ausgrabung versprechen. Jetzt soll die
forensische Bedeutung der andern Bestattungsart, der Leichenver¬
brennung, erörtert werden mit Beantwortung der Frage: Kann das
Gericht nach einer Verbrennung überhaupt noch Untersuchungen an¬
stellen lassen an den Leichenüberresten, worauf beziehen sich dieselben
und was ist von ihnen zu erwarten? Oder kurz: „Welche Sicher¬
heit bietet die Feuerbestattung der Rechtsprechung?“
Wie ohne weiteres klar, beschränkt sich bei der Feuerbestattung
das gerichtsärztliche Gebiet ausschließlich auf chemische Ermitt¬
lungen. Jegliche anatomische Untersuchung wird hinfällig und
damit tritt der Arzt zurück, um dem Chemiker seinen Platz ein¬
zuräumen. Er selbst wird sein Gutachten lediglich auf Grund von
Angaben des Chemikers aufbauen, nach diesen dann z. B. sein Urteil
darüber abgeben, ob eine berichtete Erkrankung des Verstorbenen
durch Vergiftung mit der in der Asche aufgefundenen Substanz er¬
klärt werden kann. Da gerichtliche Nachforschungen an der ver¬
brannten Leiche sich auf Vergiftungen beschränken, so ist zu unter¬
suchen: Welche Gifte lassen sich in der Leichenasche
nachweisen?
Für die eine Gruppe von Giften, die organischen, fällt mit
der Leichenverbrennung jede Nachweismöglichkeit fort. Es gibt eben
keine organischen Stoffe, die eine solch hohe Temperatur (ca. 1000° C)
ertrügen, wie sie im Verbrennungsofen herrscht; die Leichenverbrennung
erstrebt es ja gerade, die organischen Stoffe zu vernichten, zu zerlegen.
Anders steht es mit den anorganischen Giftkörpern, unter
denen wir Cu, Pb, Hg, Ph und As sowie einige Säuren besonders
häufig bei Vergiftungen aller Art gefunden haben. Anorganische
Säuren (abgesehen von Säureverbindungen des Arsen!) werden sich
in der Leichenasche nicht nachweisen lassen, sie kommen aber auch
weniger in Betracht, da es doch zu einer großen Ausnahme zu rechnen
ist, wenn eine Vergiftung mit einem solchen Atzstoff der Leichen¬
schau unbemerkt bleibt.
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Dagegen müßte Kupfer sicher nachzuweisen sein, da es bei
der Temperatur von 1000° kaum zu schmelzen anfängt.
Nicht beständig bei diesen hohen Temperaturgraden sind Blei
und Quecksilber. Blei beginnt bei Weißglut langsam zu ver¬
dampfen, bei Luftzutritt verbrennt es zu Bleioxyd. Letzteres wäre
also der Fall im Verbrennungsofen und somit Blei als gelbes, amor¬
phes PbO-Pulver aufzufinden, sofern nicht mechanische Entfernung
z. B. durch den starken Luftzug, eintritt.
Da Quecksilber schon bei ca 350° zu sieden anfängt, so ver¬
flüchtigt es sich natürlich völlig bei der Verbrennung im Leichenofen
und gibt, wie auch die später angeführten Versuche zeigten, nicht
die geringste Hoffnung auf Nachweis in der Leichenasche.
Daß Phosphor nicht mehr anfzufinden ist, liegtauf der Hand;
ebenso selbstverständlich schien dies vielen für Arsen der Fall zu
zu sein, da es sich schon bei 450° verflüchtigt ohne zu schmelzen,
Acidum arsenicosum AS 2 O 3 sogar schon bei 220°. So machten selbst
eifrige Anhänger der Feuerbestattung freimütig das Eingeständnis, die
Möglichkeit, Arsenvergiftungen nachträglich bei ihrem Bestattungs¬
verfahren nachzuweisen, sei gänzlich ausgeschlossen. Auch wissen¬
schaftliche Forscher wie Goppelsroeder (5), Christoforis (13),
Baumert (23) u. a. nahmen früher durchweg an, der As-Nachweis
komme für Leichenasche in Wegfall. Erst nachträglich fand ich
folgende Ansicht Sendral’s (14) (vom Jahre 1890), die nicht weiter be¬
kannt geworden ist: p. 31. „avec la crömation, il est impossible ou
plutöt il n’est pas prouvö suffisamment qu’on puisse le (sc. Arsenik)
trouver dans les cendres. Dans ces derniöres annöes, M. Cadet, avec
le eoncours de M. Wurtz, a entrepris une sörie d’expöriences en vue
de constater la prösence de traces d’araönic dans les cendres d’animaux
empoisonnös au moyen de d’acide arsönieux; de ces expöriences faites
k la Pharmacie centrale, il semble rösulter pour ces chimistes que le
poison peut trös bien se retrouver; raais ces expöriences ont besoin
de contröle.“
In Deutschland scheint nichts von derartigen Untersuchungen
bekannt gewesen zu sein, bis zum Jahre 1904, wo es den Münchner
Chemikern Mai und Hurt gelang, in einwandsfreien Versuchen den
Nachweis von Arsen in Leichenasche zu erbringen: zweifellos ein
wichtiges Ergebnis für die gerichtsärztliche Bedeutung der Feuer¬
bestattung und eine große Ermutigung für die „Krematisten“. Gerade
der Arsennachweis in Leichenresten nach vollzogener Bestattung ist
ja besonders wertvoll, wie vorher erläutert wurde.
Die Veranlassung zu den Arbeiten von Mai und Hurt gab der
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Die Feuerbestattung vom gerichtsärztlichen Standpunkt.
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eingangs erwähnte Fall iB raunst ei n-München, wo dem „Labo¬
ratorium für angewandte Chemie der k. Universität München“ Leichen¬
asche vom Gericht zur Untersuchung auf Gifte übergeben wurde.
Die genannten Chemiker hielten einen Nachweis von Alkaloiden,
Phosphor usw. von vornherein für aussichtslos, „beschränkten daher
ihre Versuche auf die Beobachtung des Verhaltens von Arsen, Cyan¬
wasserstoff und Quecksilber bei der Verbrennung von damit ver¬
gifteten Tieren.“ Die im Kadaverkrematorium des Münchener kgl.
hygienischen Institutes ausgeführten Einäscherungen fanden unter
annähernd gleichen Bedingungen statt, wie sie die Feuerbestattung
für menschliche Leichen bietet. Die höchste Temperatur des Ofens
wurde auf 1120° angegeben, übertraf also noch diejenige des Siemens-
schen Krematorienofens.
Folgende Versuche wurden zum Arsen-Nachweis angestellt
1. Ein 19,5 kg schwerer Hund wurde im Laufe von 7 Tagen
mit 2,72 g AS 2 O 3 vergiftet. In dem verbrannten Kadaver wurden
nach Marsh durch Bildung kräftiger Arsenspiegel beträchtliche Mengen
des Giftes aufgefunden. (Die Heizkohle war als arsenfrei befunden
worden).
2. Ein 2,85 kg schweres Kaninchen wurde mit 0,05 g AS2O3
getötet; Aschenrückstand 124 g.
“3. Ein 2,5 kg schweres Kaninchen mit 0,1 g AS 2 O 3 ; Aschenrest:
105 [g.
In den Verbrennungsrückständen beider Kaninchen fand sich As
mittels Marsh und zwar deutlich fast ausschließlich in der Knochen¬
asche. In den Weichteilrückständen waren höchstens Spuren von As
zu erkennen. Die Tiere waren kurz nach der Vergiftung verendet.
„Das |Arsen scheint also auch bei akut verlaufenden Vergiftungen
sehr rasch in die Knochen zu wandern und dort in eine Form oder
Bindung überzugehen, die sich ganz oder teilweise der Verflüchtigung
bei hohen Temperaturen entzieht, während der in den Weich teilen
verbleibende Teil der Reduktion und Verflüchtigung anheimfällt.“
Demnach wäre jein forensisch-chemischer Nachweis des Arsen
auch bei feuerbestatteten Leichen möglich und müßte hauptsächlich
auf die Knochenasche sich beziehen. Leider würde es nicht möglich
sein, die betreffende Form nachzuweisen, in der das Arsen in den
Körper gelangt ist; so könnten dann gefährliche Irrtümer entstehen,
indem vielleicht beim Vorfinden von Arsen eine kriminelle Vergiftung
mit demselben angenommen würde, während in Wirklichkeit das Arsen
mit dem Beruf des Verstorbenen in (Zusammenhang stand (z. B. ge¬
brauchen die Gerber viel Arsen in Gestalt des Auripigment). Ver-
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IX. ÜKN8T St AKK
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mutlich sind aber die io der Asche zu findenden Arsenverbi ndungen
immer dieselben, unabhängig von der Art des in den Organismus ein¬
gedrungenen Arsens.
Beim Versuch quantitativer Ermittlung des Arsen stieben die ge¬
nannten Autoren auf erhebliche technische Schwierigkeiten. Ein ge¬
nauer quantitativer Nachweis kann natürlich nie gelingen, da nur
der Teil der arsenigen Säure in der Asche zu finden ist, der beim
Verbrennen der Leiche zu Arsensäure sich oxydieren konnte, um so
mit dem in den Knochen vorhandenen Ca und Mg glühbeständige
Arsenate zu bilden. Diese werden dann bei der hohen Temperatur
wahrscheinlich noch in Salze der Pyroarsensäure umgewandelt (z. B.
Ca3 (As 04)j == Ca* As 2 O7 4- CaO). Tritt aber die Oxydation des
As 2 O 3 nicht schon vor 220 ü ein, mangels genügender Sauerstoffzufuhr,
so wäre dieser Teil der arsenigen Säure durch seine sofortige Ver¬
flüchtigung dem Aschennachweis für immer entzogen.
Bezüglich der Versuche könnte man den Einwand machen, daß
die — im einzelnen Fall klein erscheinende — Quantität des vorhan¬
denen As auf den Menschen berechnet eine sehr große wäre. Nach
Tardieu (21) wurde aber das Arsenik bei den meisten Ver¬
giftungen in Mengen von 5, 10, 15 g auf einmal gegeben. Rechnet
man die zu den Versuchen genommenen Mengen arseniger Säure auf
den Menschen um, also auf ca. 70 kg Körpergewicht, so erhält man
9,764 g, bez. 1,228 und 2,8 g. Allein schon ziemlich kleinere Gaben
können beim Menschen tödlich wirken; ob solche dann auch noch
nachzuweisen wären, bleibt dahingestellt.
Die von Mai und Hurt angestellten Versuche zum Nachweis
von Cyanwasserstoff und Quecksilber hatten ein negatives
Resultat, ebenso ein Vorversuch zur Feststellung, ob sich nicht etwa
durch Verbrennen aus dem Organismus Cyanverbindungen entwickeln.
Weder eine Vergiftung mit Kaliumcyanid noch eine solche mit wässe¬
riger Cyanwasserstoffsäure ließ sich in der Asche der verbrannten Ver¬
suchstiere nachweisen.
Die Versuche zum Quecksilber-Nachweis waren einmal mit Queck¬
silberchlorid, das andere Mal mit Quecksilberoxycyamid angestellt
worden; in den Verbrennungsrückständen der vergifteten Tiere war
nichts von Hg zu entdecken.
Immerhin wäre es denkbar, daß auch noch andere Gifte sich in
der Asche finden ließen, die nach theoretischen Überlegungen als ein¬
fache Körper zwar nicht glühbeständig erscheinen, es aber in irgend
welchen Verbindungen werden könnten. Auch beim Arsen mußte der
Theoretiker eine Möglichkeit des Nachweises verneinen, und doch
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Die Feuerbestattung vom gerichtsärztlichen Standpunkt.
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zeigte es die Praxis anders. 'Diesbezügliche weitere Untersuchungen
von Fachmännern wären daher wünschenswert.
Über die Möglichkeit Gasvergiftungen nachzuweisen, ist kein
Wort zu verlieren: diese Aussicht ist bei der Feuerbestattung noch
weniger vorhanden als beim Erdbegräbnis.
Dagegen war es nicht ganz richtig, wenn im Vorhergehenden
der Giftnachweis „als die einzig mögliche Nachforschung bei der
Leichenverbrennung“ bezeichnet wurde. Denn auch andere Fremd¬
körper, die in forensischer Beziehung möglicherweise in Betracht
kommen, können glühbeständig und also in der Asche auffindbar sein,
so u. a. künstliche Zähne. Ich erwähnte diese etwas gesucht er¬
scheinende Möglichkeit nicht, wäre nicht tatsächlich ein derartiger
Fall 1 ) schon vorgekommen: Ein Besitzer einer Zementfabrik in Amerika
hatte seinen Bruder ermordet und dessen Leiche in einem Zement¬
ofen verbrannt, um so jede Nachforschung unmöglich zu machen.
Und doch sollte der Brudermord an den Tag kommen, nämlich durch
den Fund eines künstlichen Zahnes in der Asche, der vom Zahnarzt
als dem Ermordeten gehörig erkannt wurde.
Also, es sind nicht die Gifte allein, auf die das Gericht in der
Leichenasche fahnden lassen kann.
Hinreichend sind wohl die Fragen erörtert, welche Untersuchungen
an Leichenüberresten und mit welchen Aussichten die beiden Bestat¬
tungsarten für gerichtliche Zwecke noch erlauben. Es sei jetzt der
Versuch eines Vergleiches von Erdbegräbnis und Feuerbe¬
stattung hinsichtlich ihrer Garantien für gerichtsärztliche Nach¬
forschungen gemacht.
Nach all dem Gesagten liegt ohne weiteres auf der Hand, daß
die Feuerbestattung weit hinter der Erdbestattung zurücksteht in dem,
was sie an Untersuchungsmaterial dem Gerichtsarzt, bez. dem Ge¬
richtschemiker hinterläßt. Nicht nur macht die Feuerbestattung jede
Feststellung auf Grund anatomischer Ermittelungen völlig unmöglich,
sondern sie beschränkt auch den chemischen Nachweis insofern, als
sich hierbei organische Gifte der nachträglichen Analyse durch Ver¬
flüchtigung entzogen haben. Doch ist dieser Nachteil nicht ein der
Feuerbestattung allein anhaftender, sondern, wie wir sahen, auch bei
der Beerdigung vorhanden, freilich in geringerem Maße. Was nun
die Feststellung von Vergiftungen mit organischen Stoffen anlangt,
so muß der gerichtliche Sachverständige zugeben, daß hierin der am
1) Erfahren durch die liebenswürdige Mitteilung des Herrn Oberstaatsanwalts
von H ecker - Stuttgart. Beleg eines Autors war leider nicht mehr zu er¬
mitteln.
Archiv für Kriminalanthropologie. 34. Bd. 16
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IX. Ernst Stark
wenigsten bedeutende Unterschied zwischen Feuer- und Erdbestattung
besteht. Die Erdbestattung mag dabei allerdings das voraus haben,
daß sie bestimmter angeben kann, ob ein gefundenes Gift wirklich in
den Körper bei Lebzeiten gebracht wurde. Doch scheint gerade bei
der wichtigen Arsenvergiftung auch die Feuerbestattung die Möglich¬
keit eines Beweises dadurch nicht ganz auszuschließen, daß Arsen,
das dem Lebenden eingegeben wurde, sich hauptsächlich in der
Knochenasche vorfinden muß. Ja, man kann nach den berichteten
Versuchen wohl annehmen, daß nicht in den Kreislauf aufgenommenes
Arsen bei der hohen Ofentemperatur sich ohne Rückstand verflüchtigt;
denn nur As-Verbindungen mit den Knochensalzen (Caj A 82 O7,
Mg 2 AS 2 Ot) scheinen feuerbeständig zu sein. Es kann also ermittelt
werden, ob ein As-Gift die sogenannten zweiten Wege passiert bat,
was bei dem Erdbegräbnis durch anatomische Feststellungen geschieht.
Den Hauptvorzug des Erdgrabes erblicke ich darin, daß es den
chemischen Befund durch anatomisch-pathologische Ergebnisse zu er¬
klären und zu berichtigen vermag, vorausgesetzt, daß die Ausgrabung
nicht zu spät, d. h. bei zu weit vorgeschrittener Verwesung, vorge¬
nommen wird. Dieses Hand in Hand Arbeiten von Arzt und Chemiker
bei der Exhumation weicht bei der Aschenuntersuchung der Tätigkeit
des letzteren allein. Physiologische u. a. Nachweise sind zu unsicher,
um einen nennenswerten Vorrang der Erdbestattung zu bedeuten.
Höchstens könnte man noch die Möglichkeit mikroskopischer Unter¬
suchung erwähnen, die beispielsweise giftige Pflanzenteile erkennen
lassen.
Sind somit die „forensischen Garantien" nach einer Feuerbestat¬
tung im allgemeinen viel geringer, so können die wenigen gebotenen
doch so ausgenützt werden, daß ein praktischer Wert daraus erzielt
wird. Und da, zum Glück für die Feuerbestattung, gerade der Arsen¬
nachweis in der Asche noch gelingt, halte ich den Vorschlag, die
Asche möglichst rein und unverfälscht in ihrer Gesamtheit zu ge¬
winnen und aufzubewahren, für äußerst wichtig. Ich kann der An¬
schauung Baumerts (23) nicht beipflichten, der sich in der „Flamme“
folgendermaßen äußerte: „-auch auf die UnVerbrennlichkeit
mineralischer Gifte wird sich kein Fachmann zugunsten der Feuer¬
bestattung berufen.“ (Baumert hielt damals (1904) noch den Arsen¬
nachweis in der Asche für unmöglich, sonst hätte er wohl anders
geurteilt.) Im Gegenteil ist in der Auffindung des As ein Faktor
gefunden, der die „gerichtsärztlichen Bedenken“ vermindert, zumal
da von diesem Giftstoffe besondere Gefahr in krimineller Hinsicht
besteht. Daher wäre es wünschenswert und möglich, die Feuerbe-
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Die Feuerbestattung vom gerichtsärztlichen Standpunkt.
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stattung im Punkte des Arseünachweises der Erdbestattung überlegen
zu gestalten. Es wäre dies dadurch zu erreichen, daß man eine völlig
einwandfreie Asche erzeugt: also die Leiche ganz allein verbrennt
oder höchstens mit einer Asbesthülle umgibt. Särge, Blumen, Kleider
u. a. sollten nicht mit eingeäschert werden, vor allem aber nicht
Metallsärge, was bis jetzt immer noch geschieht. Auch müßte dafür
Sorge getragen sein, daß das Feuermaterial sowie das Ofeninnere frei
von Arsen sind. Verlangt man dann noch behördlichen Verschluß
der Aschenkapsel, so würde gegebenen Falles, eine positiv ausfallende
Untersuchung auf Arsen dem Gerichte zuverlässigeres Material über¬
geben als es bei einer Ausgrabung aus den vorerwähnten Gründen
möglich ist. Ob As als Medikament o. dergl. eingeführt wurde, läßt
sich natürlich mit Sicherheit auch hier wie beim Erdgrab nicht unter¬
scheiden: doch erlaubte der quantitative Befund zum wenigsten Mut¬
maßungen. Inwieweit allerdings die quantitative Ermittelung noch
gelingen kann, muß weiteren Forschungen überlassen bleiben.
Ein Schlußvergleich der Erd- und der Feuerbestattung ergibt, daß
bei der seitherigen Ausübung dieser Bestattungsarten die Beerdigung
dem Gerichtswesen recht wesenliche Hilfsmittel für „posthume“ Unter¬
suchungen bietet, die bei der Leichenverbrennung großen Teils un¬
möglich werden. Die Feuerbestattung steht durch den Verlust ana¬
tomisch-pathologischer Untersuchungen in ihren „forensischen Garantien“
hinter der Beerdigung bedeutend zurück, ebenso auch durch die im
ganzen doch wesentlich geringere Aussicht der chemischen Unter¬
suchungen. Ist es auch leider nicht möglich gewesen, eine Statistik
über Exbumationsergebnisse aufzustellen, so erscheint doch nach den
vorausgegangenen Beispielen und theoretischen Erwägungen die Unter¬
suchung ausgegrabener Leichen als wichtige und mitunter erfolgreiche
Unterstützung der Rechtspflege. Während dabei die physiologischen
Ergebnisse weniger zuverlässig sind, verspricht die Vereinigung der
anatomisch-pathologischen und der chemischen Befunde vor allem
Erfolg, — ein spezieller Vorzug der Leichenbeerdigung vor der Ver¬
brennung! Immerhin ist zuzugeben, daß dieser „Vorzug“ nur ein
relativer ist wegen der zeitlichen Beschränkung der anatomisch-
pathologischen Untersuchung. — Im übrigen haben schon manche
verhängnisvolle Fehldiagnosen auf ärztlichem wie chemischem Gebiete
die gesteigerten Schwierigkeiten bei der Untersuchung exhumierter
Leichen dargetan.
Der offenbare und nicht unwesentliche Nachteil der Feuerbe¬
stattung gegenüber der Beerdigung könnte jedoch durch andere der
Rechtspflege gebotene Garantien ausgeglichen, ja man kann ruhig
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IX. Ernst Stark
sagen, überkompensiert werden. Als Entschädigung der Gerichtsbarkeit
für den Wegfall der Exbumationen müßten gesetzlich ähnliche Ma߬
nahmen wie folgende Vorschläge getroffen werden:
1 . Leichenschau durch Medizinalbeamte;
2 . Bericht des behandelnden Arztes über vermutliche Todesursache
sowie Äußerung, daß ein Verbrechen gegen das Leben des Gestorbenen
nahezu sicher auszuschließen sei;
3. Im Falle von plötzlichem Tod, nicht völlig aufgeklärter Todes¬
ursache, bei jedem Selbstmord sowie beim geringsten Verdacht auf
Verbrechen irgend welcher Art: vollständige gerichtliche Sektion, ev.
auch chemische Untersuchung;
4. Aufbewahrung jeder Leiche im Leichenhause während einigen
(z. B. 8) Tagen vor der Einäscherung;
5. a) Verbrennung zu reiner Asche;
b) Aufbewahrung der Gesamtasche;
6 . Wunsch des Verstorbenen, verbrannt zu werden; bez. bei Un¬
mündigen jedesmalige Sektion!
Genaue Feststellung der Persönlichkeit u. ä. wird als selbstver¬
ständlich vorausgesetzt.
Strenge Vorschriften müssen für die Feuerbestattung im Interesse
der allgemeinen Sicherheit zweifellos getroffen werden; doch ist es
andererseits auch nicht richtig, derartig harte Bedingungen zu stellen,
daß eine allgemeinere Verbreitung dieser Bestattungsweise im Keime
erstickt wird dadurch z. B., daß ihren Anhängern übertriebene Opfer
in ästhetischer, pekuniärer u. a. Hinsicht zugemutet werden. Ist auch
der heutige Standpunkt der öffentlichen Gesundheitspflege offenbar
nicht mehr ein solcher, der die Einführung der Feuerbestattung all¬
gemein verlangt, so kann man immerhin die Freiheit des einzelnen
in der Bestattungsfrage soweit berücksichtigen, als dadurch der
Staatsordnung keine Gefahr droht; und hier handelt es sich doch
um die Freiheit der letzten Willensbestimmung!
Für übertrieben halten wir Forderungen, wie sie Kerschen-
steiner (3) in einem Gutachten aufstellte: „1. Abgabe einer aus¬
führlichen Krankengeschichte von seiten des behandelnden Arztes;
Revision durch den die Leichenpolizei überwachenden öffentlichen
Arzt und im Falle der Nichtbeanstandung Hinterlegung derselben bei
Gericht.
2 . Vornahme einer vollständigen Sektion von seiten eines wohl¬
unterrichteten, hierzu in Pflicht genommenen pathologischen Ana¬
tomen; Aufnahme eines genauen Sektionsprotokolls, und im Falle kein
Bedenken besteht, Hinterlegung desselben bei Gericht.
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Die Feuerbestattung vom gerichtsärztlicben Standpunkt.
231
3. Fortlaufende Numerierung der Aschenüberbleibsel, Entnahme
einer Probe und Hinterlegung derselben zum gerichtlichen Akt mit
der gleichlaufenden Nummer.“
Damit würde natürlich die Feuerbestattung weiteren Kreisen gänz¬
lich unmöglich gemacht. Man muß schon sehr mißtrauisch veranlagt
sein, um „eine vollständige Sektion“ jedesmal zu fordern, dazu noch
von einem „wohlunterrichteten Anatomen!“ Kerschensteiner’s (3)
Punkte 1 und 3 finden sich teilweise auch in den von mir auf¬
gestellten Postulaten. Sie begründe ich einmal allgemein damit, daß
die Vertreter des Rechtes und Beschützer der öffentlichen Sicher¬
heit eine Entschädigung erhalten müssen dafür, was ihnen die Feuer¬
bestattung durch völlige Vernichtung der Leichen zu nehmen droht.
Im besondern möchte ich durch meine 1. Bedingung „Leichenschau
durch Medizinalbeamte“ den seitherigen Mißstand heben, daß zum
Teil einfache Laien die Todesursache festzustellen haben.
Durch meine 2. Forderung wird Fehldiagnosen nach Möglichkeit
vorgebeugt und ein Verborgenbleiben von Verbrechen gegen das Leben
nahezu ganz ausgeschlossen. Die Eventualität, daß der behandelnde
Arzt etwas verheimlichen möchte (z. B. einen von ihm begangenen
Kunstfehler), fällt dadurch ziemlich weg, daß noch ein weiterer, dazu
beamteter Arzt bei Ausstellung der Papiere in Tätigkeit tritt.
Um ferner die häufigen Verlegenheitsdiagnosen „Schlagfluß“ u. ä.
nicht verhängnisvoll werden zu lassen, glaubte ich Bedingung 3 an
die Zulassung zur Verbrennung knüpfen zu müssen. Wie notwendig
auch bei scheinbar sicher feststehendem Selbstmord eine Obduktion
ist, zeigte vor kurzem der Mordprozeß der ßürgermeisterstochter Grete
Beier aus Brand: Infolge der Diagnose Selbstmord durch Schuß in
den Mund war die Feuerbestattung des mit Cyankalium vergifteten,
nachträglich noch erschossenen Bräutigams zugelassen worden. Auch
Beispiele, wo trotz ärztlicher Leichenschau Exhumationen nötig wurden
zur Untersuchung von Selbstmord und Mord, sind eingangs erwähnt.
4. Stellte ich zur Erwägung, ob mit der Verbrennung der Leichen
nicht etwas länger als seither gewartet werden sollte. Dafür spräche,
daß gerichtsärztliche Nachforschungen kurze Zeit nach dem Tode
verhältnismäßig günstige Aussichten bieten, andererseits aber in diesem
etwas längeren Zwischenraum Verdachtsgründe sich verdichten könnten,,
und dadurch das Publikum eher Gelegenheit hätte, noch zeitig gegen
die Bestattung Einspruch zu erheben. Denselben Gedanken, nämlich
daß ein Verdacht auf Verbrechen nicht unmittelbar nach dem Todesfälle
laut ausgesprochen wird, fand ich schon von Tardieu (21) erwähnt:
„ ... ä moins que le mödecin lui-meme ne constate et ne rövöle les
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XI. Ernst Stark
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indices accusateurs, il est rare que la pensäe qui a travers^ l’esprit
des amis ou des proctaes qui entourent la victime ä ses derniers mo-
ments, se fasse jour et se traduise immödiatement en un recours ä la
justice. Ce n’est que plus tard, lorsque la röflexion, le rapprocbement
de certaines circonstances inattendues ou suspectes, l’impossibilitä de
s’expliquer par une cause naturelle un coup si imprövu, ont fortifiö
les doutes et grandi les soup^ons, qu’une accusation se formule et
qu’une dönonciation provoque les poursuites judiciaires. Ces r6v61ations
tardives ont, au point de vue de la mödecine 16gale, cette consöquence
importante ä noter, d’ajouter une difficultö de plus aux expertises
döjä si dölicates en matiöre d’erapoisonnement.“ Ausführbar wäre
dieser Vorschlag, die Leichen kurze Zeit, beispielsweise 8—14 Tage,
aufzubewahren. Ob aber ein nennenswerter Vorteil damit erzielt
würde bezüglich der Entdeckung von Verbrechen, das entzieht sich
der Beurteilung, da die verhältnismäßig geringe Zahl von Exbu-
mationen, die aufzufinden waren, nicht zu einem Allgemeinscblusse
ausreichen, wie viel Zeit nach dem Tode in der Regel gerichtsärzt¬
liche Nachforschungen stattfanden. Die Zeiträume, innerhalb welcher
Ausgrabungen vorgenommen wurden, schwanken in weiten Grenzen
und fanden teils schon wenige Tage nach dem Tode, teils aber erst
nach vielen Jahren statt.
Die Notwendigkeit der 5. Forderung ergibt sich ohne weiteres
aus den voraufgehenden Erörterungen über die Untersuchungen der
Leichenasche. Selbstverständlich müßte eine behördliche Aufsicht
über die Leichenasche eingeführt werden, damit diese nicht entfernt
oder vertauscht werden kann. Bei den heutigen Bestimmungen würde
eine stille Beseitigung der Asche dem interessierten Teil sehr leicht
fallen, während bei der Erdbestattung das Fortschaffen der Leichen¬
reste den Täter meist gefährden würde. Die „Aufbewahrung der
Asche“ müßte behördlich so geregelt werden, daß die Aschenume
nicht ohne Erlaubnis an andere Orte gebracht werden dürfe, und bei
einem Wegz,ug der amtliche Urnenverschluß am neuen Orte kontrolliert
werden müßte.
Auch sollte die Asche selbst als etwas „Heiliges“ betrachtet
werden und denselben gesetzlichen Schutz genießen wie andere
Leichenreste.
Erwähnt sei kurz ein ministerieller Erlaß (cf. V. J. S. f. g. M. 1900.
3. F. XIX. Bd. p. 404), der für den Transport der Leichenasche Er¬
leichterungen gewährte, daher von den Krematisten freudig aufge¬
nommen wurde, aber nicht ganz unbedenklich ist. Zu billigen ist
selbstverständlich die Vereinfachung des Transportes der Asche gegen-
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Die Feuerbestattung vom gerichtsärztiichen Standpunkt.
233
über der Beförderung von Leichen; doch sollte auch das Verschicken
von Asche nicht so ohne weiteres, d. h. ohne Paß, erlaubt sein. Ins¬
besondere müßten internationale Abkommen über die Behand¬
lung der Leichenasche — wie über die Feuerbestattung im allge¬
meinen — getroffen werden.
Die Wichtigkeit der 6. Forderung zeigte ebenfalls der schon
erwähnte Mordprozeß Beier. Um eine Fälschung der letztwilligen
Verfügung betr. Feuerbestattung unmöglich zu machen, müßte die
Namensunterschrift behördlich beglaubigt sein. Bekanntlich hatte die
Grete Beier ein derartiges Schriftstück mit Erfolg selbst anzufertigen ver¬
standen,indem sie die Handschrift ihres Bräutigams täuschend nachmachte.
Man wende nun gegen die gemachten Vorschläge nicht ein, daß
sie unausführbar wären, daß ihre Kosten nicht bestritten werden
könnten. Denn, was die fakultative Feuerbestattung anlangl, so
müßten ja die Kosten von ihren Anhängern bezahlt werden, ausgehend
von der Notwendigkeit einer Ausgleichung: was die Krematisten auf
der einen Seite dem juristischen Gebiet entziehen, müssen sie durch
eine Entschädigung andererseits auszugleichen suchen. Ist die Feuer¬
bestattung aber nicht mehr „Liebhaberei“ einzelner, sondern würde
sie etwa gar staatlich eingeführte Bestattungsart, nun, so würden sich
die nötigen Geldmittel ebenso auftreiben lassen wie für die Durch¬
führung der Pockenimpfung oder anderer hygienischer Maßregeln in
großem Umfang. Die entstehenden Ausgaben wären ebensogut ein
Tribut für Erhaltung der Volksgesundheit wie für die allgemeine
Sicherheit im Staate. Gleich den Polizeiorganen sollte der Staat auch
Medizinalbeamte in hinreichender Zahl zur Verfügung haben. Reich¬
lich würden sich diese Aufwendungen des Staates bezahlt machen;
die Verbrechen wider das Leben würden abnehmen, da der Täter
nicht mehr auf Unentdecktbleiben eines Mordes usw. rechnen kann,
wie bei der seitherigen Leichenschau; die zu erwartende Obduktion
würde sicherlich in manchen Fällen „prophylaktisch“ gegen kriminelle
Unternehmungen wirken. Nicht zu unterschätzen wäre sodann die
zu erwartende Besserung der Mortalitäts- und auch der Morbiditäts¬
statistik: entstehende Seuchen kämen beizeiten zur Kenntnis des Staates
und ermöglichten frühes Einschreiten. Irgendwelche Schädigung
könnte durch die obligate ärztliche Leichenschau und selbst durch
die häufigen Obduktionen nicht entstehen; auch das Pietätsgefühl
der Angehörigen würde sich, ohne abzustumpfen und zu verrohen,
bald mit dem Gedanken an die Sektion abfinden, wenn einmal die
Notwendigkeit dieser staatlichen Vorschrift in das Volksbewußtsein
übergegangen wäre.
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IX. Ernst Stark
Diese Betrachtungen führen zn dem Ergebnis, daß unter ent¬
sprechenden Vorausetzungen, gegen die Feuerbestattung vom
gerichtsärztlichen Standpunkt kein Einspruch erhoben werden kann,
daß eine obligate Leichenuntersuchung durch Ärzte an Stelle der seit¬
herigen Leichenschau durch Laien etwaige forensische Bedenken zu
beseitigen vermag, und schließlich die Aufbewahrung der Leichenasche
unter behördlicher Aufsicht als nicht ganz unwichtig für spätere
chemische Untersuchungen zu verlangen ist.
Zum Schluß sei übrigens erwähnt, daß gerichtliche Leichen¬
ausgrabungen nicht sehr häufig ausgeführt wurden: So berichtet
Pauly (10), daß in Preußen auf 600000 Leichen eine gerichtliche
Exhumation fällt, in England sogar erst auf 1000 000 Leichen.
Francke (6) gibt für Wien an, daß bei 670 000 Leichenbeerdigungen
in 25 Jahren nur zwei Ausgrabungen und mit für das Gericht nega¬
tivem Erfolg angestellt wurden.
Die Seltenheit wie auch die unbefriedigenden Ergebnisse der Ex-
humationen bestätigt ferner ein Ausspruch Tanchinis, des Mailänder
Gerichtsarztes: „Während 26jähriger Tätigkeit habe ich Tausende
von Kriminalprozessen unter meinen Augen sich abspielen gesehen.
Oft wurde die Gerichtsmedizin herbeigezogen; 10 Fälle nur hatten die
Ausgrabung zu Folge. In vieren wurde das Verbrechen entdeckt;
diese vier Fälle lassen sich noch auf einen reduzieren, da derselbe
Mann seine vier Opfer auf einem Platz, nämlich seinem eigenen Hof,
verscharrt hatte.“
Eine fakultative Feuerbestattung müßte daher überall gestattet
sein, wo für die öffentliche Sicherheit in genügendem Maß gesorgt
ist, z. B. durch ähnliche Bedingungen wie meine Vorschläge. Die
Allgemein-Einführung der obligaten Feuerbestattung hat sich noch
nach andern Faktoren zu richten, von gerichtsärztlicher Seite wäre
bei Durchführung obiger Vorschläge nichts gegen sie einzuwenden.
Noch sei ein logischer Fehler erwähnt, den Gegner der Feuer¬
bestattung so häufig sich bei Aufzählung der „juristischen Bedenken“
zuschulden kommen lassen. Sie werfen nämlich der Leichen¬
verbrennung nicht nur vor, daß sie Schuldige ihrer Bestrafung ent¬
ziehe und Unschuldige der Mittel eines Entlastungsbeweises beraube,
sondern sie sehen eine weitere Gefahr darin, daß diese Bestattungsart
zum Gebrauch von Giftmitteln gewissermaßen ermutige, die Zahl der
Giftmorde damit vermehre. Obwohl diese Behauptung weniger den
Arzt als den Juristen angeht, erlaube ich mir doch hier folgende Er¬
widerung: Woher weiß denn beispielsweise ein Mörder, daß sein Opfer
eingeäschert wird? Oder steht es 'gar in seiner Macht, eine Ver-
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Die Feuerbestattung vom gerichtsarztlichen Standpunkt. 235
brennuug der Leiche zu veranlassen? Das letztere träfe wohl nur
unter Nahverwandten zu, aber auch hiergegen ist vorgebeugt, da die
Feuerbestattung (nach Vorschlag 6) nur zulässig sein soll auf Grund
schriftlicher Verfügung des Verstorbenen oder, bei Kindern und andern
nicht der Selbstbestimmung fähigen Personen nach vorausgegangener
Sektion. Eine Kenntnis dieser Willensbestimmung aber wäre (bei der
fakultativen Feuerbestattung) nur denkbar, wenn engere Beziehungen
bestehen (z. B. von Dienstboten zur Herrschaft). Bei vorgeschriebener
ärztlicher Leichenuntersuchung müßte im Gegenteil die Feuerbestattung,
wie oben erwähnt, eher beschränkend auf die Zahl der Giftmorde
einwirken.
Fast einstimmig wird die Feuerbestattung für Krieg und Epi¬
demien empfohlen. Die Verhältnisse des Krieges erlauben natürlich
nicht eine Durchführung der hier vorgeschlagenen Maßregeln; sie
sind hier auch nicht notwendig. Dagegen müßten bei Epidemien die
Bestimmungen der Leichenverbrennung nach Möglichkeit innege¬
halten werden, um nicht bei der allgemeinen Lockerung der Ordnung
und Sittlichkeit dem Verbrechertum weitern Vorschub zu leisten.
Unter gewöhnlichen Lebensverhältnissen scheint mir jedoch kein
Grund vorhanden zu der Befürchtung eines Matteucci, der meinte:
„An dem Tage, wo die Leichenverbrennung eine vollendete Tatsache
ist, muß die strenge Statue der Gerechtigkeit mit Grund sich mit
einem Trauerschleier umhüllen.“ Vielmehr, glaube ich, kann man,
begeistert von der idealen Auffassung eines Occioni, anstatt des
alten „Nos habebit humus“ setzen:
„Vermibus erepti puro consumimur igni:
Indocte vetitum mens renovata petit.“
Quellen-Angabe.
A) Literatur der Feuerbestattung.
1) Wegmann-Ercolani: Über Leichenverbrennung als rationellste Be¬
stattungsart. Zürich 1874.
2) Küchenmeister: Über Leichenverbrennung. Erlangen 1874.
8) Kerschensteiner: Gutachten über die Einführung der fakultativen
Feuerbestattung. Deutsche Vierteljahrsschr. für öffentl. Gesundheitspflege. XI. 1879.
4) Breitung: Über neuere Leichenanstalten. Berlin 1886.
5) Goppelsroeder: Über Feuerbestattung. Mühlhausen i. E. 1890.
6) K. Francke: Die Feuerbestattung. Münchener medizinische Wochen¬
schrift 1899. p. 118.
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IX. Ernst Stark
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7) Sander: Welche Vorteile, welche Nachteile bietet die Feuerbestattung?
Welche Bedeutung hat sie im hygienischen Sinne? *V.J.S. f. g. M. 1900. 3. F.
XX. Bd.
8) Wernich in Weyls Handbuch der Hygiene. II. 2. Abt. Leichenwesen,
einschließlich Feuerbestattung.
9) Encyklopädie der Hygiene (Pfeiffer - Proskauer-Oppenheimer):
Leipzig 1905. Leichenverbrennung p. 14—22.
10) Pauly: Die Feuerbestattung. Leipzig 1904.
11) Rühs: Einrichtung von Krematorien. Kritische Besprechung der Leichen¬
verbrennung mit Berücksichtigung der Gründe für und wider dieselbe. V.J.S.
f. g. M. 1907. 3. F. XXXIV. Bd.
12) Pr. de Pietra Santa und M. de Nansouty: La Crömation. Paris 1881.
13) Mal. de Cristoforis: Cr&nation moderne. Milan 1890.
14) S e n d r a 1: Ütude critique sur laCrSmation. (Bibliotheque deCriminologie),
Lyon 1890.
B) Gerichtliche Medizin und Chemie.
15) Straßmann: Lehrbuch der gerichtlichen Medizin. Stuttgart 1895.
16) Schmidtmann: Handbuch der gerichtlichen Medizin. Berlin 1907.
(9. Aufl. des Casper-Liraanschen Handbuches.)
17) Z i 11 n e r: Studien über Verwesungsvorgänge. V.J.S. f. g. M. 1885. N. F.
XLII. Bd.
IS) v. Bergmann-Skrzeczka: Superarbitrium derK. wissenschaftl. Depu¬
tation für das Medizinalwesen, betreffend Mord oder Selbstmord. V.J.S. f. g. M.
1892. 3. F. IV. Bd.
19) Riedel: Zur Kasuistik der Spätexhumierung menschlicher Leichen.
Münchener medizinische Wochenschrift. 1899. p. 767.
20) Orfila et Lesueur: Traitö des exhumations juridiques.
21) Tardieu: Ütude medico-lögale et chiinique sur Tempoisonnement
22) Baumert: Lehrbuch der gerichtlichen Chemie. Braunschweig 1907.
23) Baumert: Über den gerichtlich-chemischen Nachweis von Giften in
Leichen. Vortrag im Verein für Feuerbestattung in Halle. In Nr. 289 der Zeit¬
schrift „Flamme“ (1. IV. 1904).
24) Dragendorff: Die gerichtlich-chemische Ermittlung von Giften. Göt¬
tingen 1895.
25) Kobert: Lehrbuch der Intoxikationen. Stuttgait 1902 und 1906.
26) Dittrich: Über die Grenzen der forensischen Verwertbarkeit des che¬
mischen Arsennachweises bei Exhumierungen. V.J.S. f. g. M. 1894. 3. F. 8. p. 212.
27) Kratter: Erfahrungen über einige wichtige Gifte und deren Nachweis.
Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik. XHL, XIV. u. XVI. Bd.
28) Kratter: Über die Bedeutung der Ptomaine für die gerichtliche Medizin.
V.J.S. f. g. M. 1890. N. F. L1II. Bd. p. 227—234.
29) Kratter: Über Giftwanderung in Leichen und die Möglichkeit des Gift¬
nachweises bei später Enterdigung. V.J.S. f. g. M. 1907. Supplementheft 3. F.
XXXIII. Bd. p. 119.
30) I p s e n; Über das Verhalten des Strychnins im Organismus. V.J.S. f. g. M.
1892. 3. F. IV. Bd. p. 15.
31) Ipsen: Untersuchungen über die Bedingungen des Strychninnachweises
bei vorgeschrittener Fäulnis. V.J.S. f. g. M. 1894. 3. F. VII. B. p. 1.
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Die Feuerbestattung vom gerichtsärztlichen Standpunkt.
237
32) Ipsen: Zur Differentialdiagnose von Pflanzenalkaloiden und Bakterien¬
giften. V.JS. f. g. M. 1895. 3. F. X. Bd. p. 1.
33) Ipsen: Über den Nachweis von Atropin. V.J.S. f. g. M. 1906. 3. F.
XXXI. Bd. p. 308.
34) Lesser: Über die Verteilung einiger Gifte im menschlichen Körper.
VJ.S. f. g.M. 1898. 3. F. XIV. u. XV. Bd.
35) Kuhlmey: Die Blausäure- und Cyankaliumvergiftung in gerichtlich¬
medizinscher Beziehung. V.J.S. f. g. M. 1898. 3. F. XV. Bd. p. 76.
36) Pflanz: Gerichtsärztliche Beurteilung der Strychnin Vergiftung. Friedreichs
Blätter für gerichtliche Medizin. 1904 u. 1905. 55. und 56. Jahrg.
37) deDominicis: Nachweis des Strychnins in den Knochen. V.J.S. f. g.M.
1904. 3. F. XXVIII. Bd.
38) Proeiss: Über die Widerstandsfähigkeit von Alkaloiden, Glykosiden
und Bitterstoffen bei Fäulnisprozessen. Apotheker-Zeitung. 1901. Nr. 56. p. 492.
39) W ei mann: Über die akute Arsenikvergiftung vom gerichtsärztlichen
Standpunkt, ibid. 56. Jahrg.
40) Mai, C.: Nachweis von Arsen in der Asche feuerbestatteter Leichen.
Zeitschrift für analytische Chemie (Fresenius). Bd. 43. 1904.
41) C. Mai u. H. Hurt: Der forensisch-chemische Nachweis von Giften in
den Rückständen verbrannter Leichen. Zeitschrift für angewandte Chemie,
lieft 43. 1904.
* bedeutet: Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin und öffentliches Sanitätswesen.
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X.
Zur Frage der Feuerbestattung vom gerichtlichen
Standpunkte,
Von
Hans Gross.
Ich habe die in mehrfacher Beziehung wertvolle Arbeit des Herrn
Unterarztes E. Stark gebracht, obwohl nach meiner Ansicht die Feuer
bestattung vom gerichtlichen Standpunkte aus als unzulässig bezeich¬
net werden muß. Die Gründe für diese Auffassung und die für die
gegenteilige sind so oft und so eingehend erörtert worden, daß ich mich
lediglich auf die zusammenfassenden Darstellungen des Herrn Stark
beziehen will. —
Selbstverständlich gibt Herr Stark zu, daß aus der aufbewabrten
Asche eines unter etwa 1000° 0 verbrannten Menschen anatomisch
absolut nichts, chemisch aber einzig nur eine etwa vorgenommene Ver¬
giftung mit Arsen nachgewiesen werden könnte. Ich zweifle aber
daß der Nachweis: „in der Asche ist Arsen enthalten“ — irgend
welchen gerichtlichen Wert haben und etwa die Verurteilung eines
Verdächtigten herbeiführen könnte. Freilich wird verlangt, daß ein
zu verbrennender Leichnam ohne Bekleidung, ohne Sarg, ohne Blumen
U8W. den Flammen übergeben wird, daß das Brennmaterial, die Aus¬
kleidung des Schachtes usw. verläßlich ohne eine Spur von Arsen
befunden wurde, daß die Asche behördlich versiegelt und verwahrt
wird usw. — aber abgesehen davon, daß z. B. kaum immer für den
absoluten Arsenmangel der verwendeten Steinkohle und der Schacht¬
auskleidung garantiert werden könnte, so würde sich kein Richter mit
dem Nachweise zufrieden stellen, daß in der Asche überhaupt
Arsen vorhanden war; wenn auch der Körper nackt verbrannt wurde,
so kann er durch eine Pomade, ein Haarfärbemittel, eine Salbe, eine
Zahnplombierung, ein falsches Gebiß usw. Arsen mitgebracht haben,
es wird dann allerdings die Asche Arsen enthalten, aber vergiftet mußte
der Mensch nicht worden sein. Und wenn es im Volke bekannt wird,
daß allein Arsen in der Asche nachweisbar ist, so wird man eben dem
allerdings bequemen und verläßlichen Arsen als Vergiftungsmittel ent-
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Zur Frage der Feuerbestattung vom gerichtlichen Standpunkte. 239
sagen und wird andere in der Asche nicht nachweisbare Gifte, nament¬
lich heimische Giftpflanzen verwenden. Wir müssen trotz aller
Einwendung zu der Überzeugung gelangen: ist ein Mensch verbrannt
— nach Siemens oder sonstwie gründlich — so ist jede Möglichkeit,
eine an ihm begangene strafbare Handlung nachzuweisen, vollständig
ausgeschlossen. —
Man wendet ein, es müßte jeder Verbrennung selbstverständlich
eine verläßliche Totenbeschau und Obduktion vorausgehen. Vor allem
würde eine Obduktion allein nicht genügen, sondern es müßte auch
jedesmal eine umständliche chemische Untersuchung des Verdau¬
ungstraktes, der Leber, Nieren, Plattenknochen und des Blutes sowie
aller Sekretionen vorgenommen werden. Wir wissen auch, daß obdu¬
zierte Leichen exhumiert und nochmals obduziert werden mußten —
es müßte also die Obduktion besonders sorgfältig und von ersten
Fachmännern vorgenommen werden, um Sicherheit zu bieten — kurz
Sektion und chemische Untersuchung würden eine oft unerschwing¬
liche Menge von Kosten verursachen und außerdem jedesmal den
Eindruck machen, als ob ein vorliegender Mord recht wahrschein¬
lich wäre.
Endlich wäre auch die amtliche Versiegelung, Verwahrung und
Registrierung der verschiedenen Aschenurnen viel zu umständlich, un¬
sicher und pietätlos. —
Erwägen wir also, daß eine flüchtige Obduktion nahezu zweck¬
los, eine genaue und mit chemischer Untersuchung verbundene Sektion
za umständlich, zeitraubend und teuer wäre und daß eine Unter¬
suchung der Asche allein ausnahmslos für gerichtliche Zwecke wert¬
los ist, so müssen wir zur Erkenntnis der großen Gefahren ge¬
langen, die eine weitere Verbreitung der Leichenverbrennung mit sich
brächte.
Wir haben hierbei mit psychologischen Vorgängen zu rechnen,
da wir aus den Geständnissen von spät entdeckten Mördern zur Genüge
wissen, wie sie Jahre und Jahre von der Furcht gepeinigt wurden,
es könnte zur Exhumierung ihres Opfers kommen; wir können daher
auch annehmen — diesfällige Geständnisse liegen allerdings kaum
vor —, daß dieselbe Furcht vor der Exhumierung manchen Mord
nicht geschehen ließ. Hat aber einer bloß 48 Stunden zu zittern
und weiß er, daß alle Gefahr vorbei ist, wenn sich der Deckel des
Verbrennungsofens geschlossen hat — nun dann wagt er es gewiß
leichter, den Mord zu begehen. —
Wenn sich also der Kriminalist nachdrücklich gegen die Ver¬
breitung der Leichenverbrennung aussprechen muß, so leugnet er aber
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X. Hans Gross
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nicht ihre sanitären und ästhetischen Vorteile. Wer je das grausige
Werk der Verwesung beobachten mußte, der wird der reinen und
raschen Tätigkeit der Flammen den Vorzug geben; freilich ist die
Zersetzung des Körpers im Feuer auch scheußlich genug, aber sie
vollzieht sich viel rascher und man sieht sie nicht, der Vorgang in
der Erde ist im Ofen eben vielfach beschleunigt. Wir kommen so
unwillkürlich zu der Frage, ob es zwischen Erd- und Feuerbestattung
nicht ein Mittelding gibt, welches den Forderungen der Sanität und
Ästhetik ebenso Rechnung trüge, wie jenen der Sicherheit vom krimi¬
nellen Standpunkte aus. Dieser Mittelweg zwischen Begraben und
Verbrennen wäre eine Art von Mumifizierung durch Hitze, und Ver¬
wahren der so getrockneten Körper in einer Art von Kolumbarien.
Wir könnten uns denken, daß man einen oder mehrere Körper
dem Einflüsse von darüber streichender, heißer, trockener Luft aus¬
setzt, die am Ausgange durch eine Flamme geführt wird, so daß
Geruch und etwa mitkommende Schädlichkeiten von dieser verzehrt
werden. Die Erzeugung der nötigen austrocknenden Wärme würde selbst¬
verständlich unvergleichlich weniger Brennmaterial erfordern, als das
heutige Verbrennen der Leichen und Kalzinieren der Knochen; wir
können es ohnehin kaum verantworten, solche Unmengen von Brenn¬
material für jede Leiche zu vertilgen, da dieses doch nur in beschränkter
Menge auf der Erde existiert.
Natürlich wäre nicht viel gewonnen, wenn man nun die ge¬
trockneten Körper in der Erde bestatten wollte; sie würden wieder
Feuchtigkeit anziehen und dann doch verfaulen. Man müßte sich
die Errichtung von etwa 4 Meter breiten, in der Mitte abgteilten, also
beiderseits zugänglichen Mauern denken, die aus undurchlässigem
Zement hergestellt sind und, wie aufrecht gestellte Bienenwaben, aus
lauter Fächern bestehen; in jedes Fach wird ein getrockneter Körper
eingeschoben und vorne die Öffnung mit einer eingekitteten Steinplatte
verschlossen, die Namen etc. enthalten kann.
Entsteht später der Verdacht, daß an einem so Bestatteten ein
Verbrechen verübt wurde, so ist der Leichnam ungleich leichter und
durch ungleich längere Zeit zu beschaffen, als wenn er begraben
wurde, und die meisten Verletzungen und Vergiftungen wären noch
sicher nachzuweisen: namentlich Knochenverletzungen und mineralische
Vergiftungen. Aber auch Verletzungen der Weichteile müßten sich
noch nach vielen Jahren nachweisen lassen, wenn sich hierfür eine
besondere Präparationstechnik entwickelt. Aber, wenn man heute die
Hände von ägyptischen Mumien soweit rekonstruiert, daß man
deutliche Papillarabdrücke machen kann, und wenn man aus der
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Zur Frage der Feuerbestattung vom gerichtlichen Standpunkte. 241
Leiche des Königs Amenbotep festzustellen vermochte, daß er etwa
1300 v. Ohr. an Arteriosklerose gestorben ist, dann wird man auch
aus getrockneten Mumien vieles konstatieren können. Freilich werden
diese bedeutender Hitze ausgesetzt worden sein, dafür sind aber jene
fast3'/2 Jahrtausendealt. Ich glaube, daß das vorgeschlagene Trocknen
der Leichen („Dörren“ werden es die Gegner nennen) vom krimi¬
nalistischen Standpunkte aus mehr sichere Ergebnisse verbürgen würde,
als die heutige Erdbestattung; jedenfalls auch auf viel längere Zeit¬
räume hinaus.
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HARVARD UNIVERSUM
XI.
Krankheit oder Laster?
Von
Dr. Fleischer in Düsseldorf.
Unser heutiges Zeitungswesen bringt es mit sich, daß der Neugier
und dem Sinnenkitzel der Menge zu Liebe über sittliche Verfehlungen
mehr als gut ist, berichtet wird. Was früher als ganz absonderlich
und fast unglaublich oft sehr alten Leuten nur entfernt oder überhaupt
nicht bekannt war, das kann heute jedes Kind in den angesehensten
Tagesblättern lesen. Zwar sucht die Presse durch Umschreibung oder
Gebrauch von Fremdwörtern die kindliche Ahnungslosigkeit zu er¬
halten, aber durch aufgeklärtere Freunde erfährt das Kind doch die
Bedeutung der geheimnisvollen Worte, auf die seine Aufmerksamkeit
durch fettgedruckte ellenlange Berichte und die Erregung der Er¬
wachsenen darüber gelenkt ist.
Es fehlt nicht an Leuten, welche den sogenannten „Perversen“
(z. deutsch: „Verkehrten“) das Wort reden, sie als unschuldige Opfer
unserer ungenügenden Kenntnisse über geschlechtliche Dinge hinstellen
möchten, als Leute, welche unter dem unwiderstehlichen Zwange eines
verkehrt entwickelten Naturtriebes handeln. Es gibt eine ganze Anzahl
von Menschen, auch Arzte und Rechtslehrer, welche für Verfehlungen
dieser Art völlige Straffreiheit erwirken möchten, da man die verkehrte
Anlage eines Menschen als solche nicht bestrafen dürfe.
Demgegenüber ist zu bemerken, daß das Gesetz nicht die Anlage
bestraft, sondern ihre Betätigung. Ob es sich wirklich um angeborene
Anlage oder um erworbene Lasterhaftigkeit handelt, ist außerdem noch
sehr fraglich, und eine Erörterung dieser Frage dürfte angesichts der
Aufmerksamkeit, welche ihr die Öffentlichkeit heute entgegenbringt,
angesichts der geplanten Umänderung des Strafgesetzbuches, einmal
angebracht sein.
Anmerkung des Herausgebers. Persönlich bin ich zwar für Be¬
seitigung der §§ 175 D. St.6. und 129 Öst. St.G., glaube aber doch, dieser gegen¬
teiligen Ansicht ebenfalls Raum geben zu sollen.
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Krankheit oder Laster?
243
In den Verteidigungsschriften einflußreicher Gelehrter und milde
urteilender mitfühlender Menschen erscheinen die geschlechtlich Ver¬
kehrten als höchst bemitleidenswerte Wesen, welche, durch die ewigen
Kämpfe gegen ihre unseligen Triebe nahezu aufgerieben, von Ver¬
zweiflung erfüllt sind, zum Teil dicht vor dem Selbstmorde stehen
und durch die heutige Gesetzgebung der höchsten Freuden des
Daseins beraubt sind. Mag es auch einzelne solche Unglückliche
geben, man muß sich davor hüten, deren Schicksale zu ver¬
allgemeinern.
Wirkliche geschlechtliche Verkehrtheit in körperlicher Hinsicht
ist etwas ungeheuer Seltenes, ich meine z. B. Menschen, welche, im
übrigen Männer, mit weiblichen Brüsten oder Geschlechtsteilen aus¬
gestattet sind, oder, sonst als Weiber ausgebildet, männliche Zeugungs¬
werkzeuge besitzen.
Erfreulich ist solches Spiel der Natur für die Betroffenen ja
gerade nicht, aber nicht einmal die Zwitter, welche gleichzeitig männ¬
liche und weibliche, und dann meist verkümmerte Zeugungswerkzeuge
besitzen, fühlen sich immer totunglücklich. Noch weniger ist das
der Fall, wenn die Abweichungen von der Regel geringer sind, wenn
z. B. Weiber mit ansehnlichem Bartwuchs oder tiefer männlicher
Stimme ausgestattet sind oder Männern diese Eigenschaften fehlen.
Es soll nicht geleugnet werden, daß Manche unter solchen Ab¬
weichungen von der Regel schwer leiden und sich unglücklich fühlen,
häufiger sieht man aber solche Leute als glückliche Väter und Mütter.
Derartige kleine körperliche Abweichungen bedingen also keineswegs
im Widerspruch mit dem sonstigen Körperbau stehendes Gescblechts-
empfinden, dergestalt, daß die Frau mit einem stattlichen Schnurrbart
sich nur oder besonders zu Weibern hingezogen fühlt, der bartlose
Mann zu Männern fleischliche Liebe empfindet.
Wie nun solche körperliche Verbildungen Vorkommen, so soll es
auch mit den seelischen Anlagen sich verhalten. In einem männlichen
Körper soll gelegentlich die Seele und das Empfindungsleben eines
Weibes wohnen, ein Weib geschlechtliche Neigungen und Gelüste
haben wie ein Mann. Das erscheint auch ganz glaublich, daß der¬
artige Keimverirrungen in den feinsten Nervenzellen ebenso statthaben
wie in den gröberen Körperzellen, es wäre wunderbar, wenn es sich
anders verhielte.
Während aber die kleinen körperlichen Abweichungen verhältnis¬
mäßig selten Einfluß haben auf das Geschlechtsempfinden, soll das
bei seelischen Abweichungen die Regel sein, auch sollen seelische
Abweichungen viel, viel häufiger sein als körperliche. Als Beweis
Archiv für Kriminalanthropologie. 34. Bd. 17
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244
XI. Fleischer
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wird seitens der Anhänger dieser Lehre das Ergebnis einer Umfrage
angeführt, welche der auf diesem Gebiete sehr rührige Arzt Dr.
Magnus Hirschfeld in Berlin und Vororten an Arbeiter und Studenten
erlassen hat. Viele Tausend Arbeiter und Studenten waren gefragt
worden, ob sie sich vorwiegend von Weibern geschlechtlich angezogen
fühlten oder auch von Männern oder ob sie sich ausschließlich von
Männern angezogen fühlten. Die Antworten sollten ohne Namens¬
nennung eingesandt werden, und Tausende von Antworten liefen auch
ein, ungefähr mit dem Ergebnis, daß kaum die Hälfte ausschließlich
auf Frauen gerichtete Triebe zu besitzen vorgab. Die andere Hälfte
wollte doppeltes Geschlechtsgefühl haben, ein sehr ansehnlicher
Hundertsatz der Gefragten von der Frau ganz kalt gelassen werden
und ausschließlich Neigung zum Manne empfinden, und zwar war
das Ergebnis bei Arbeitern und Studenten fast gleich. Daß ein
solches Vorgehen in einer so zarten Gefühlssache keine hohe Beweis¬
kraft besitzt, dürfte ohne weiteres einleuchten. Wie viel Ulk mag
getrieben sein und wie viel Mißverständnisse mögen unterlaufen sein
bei Beantwortung der heiklen Fragen?
Es ist in Wirklichkeit nicht einzusehen, warum die seelische
verkehrte Keimanlage so viel häufiger sein soll wie die körperliche,
und warum sie so viel auffälliger das Geschlechtsempfinden be¬
einflussen soll. Gewiß spielen bei dem ganzen Geschlechtsleben neben
dem körperlichen Gefühl und Befinden, neben dem Blutdruck bez.
sonstigen äußeren Beizen, unter welchen die Geschlechtswerkzeuge
und Geschlechtsnerven gerade stehen, das Gedankenleben, die Ein¬
bildung eine große Bolle. Gewiß gibt es Männer, welche nur dann
imstande sind, mit einem Weibe geschlechtlich zu verkehren, wenn
es bestimmte Eigenschaften besitzt, mögen sie geistiger oder körper¬
licher Art sein. Den einen reizt der Duft der unberührten Keuschheit,
zartes Schamgefühl, angstvolles Widerstreben gegen den verbotenen
Genuß, der andere empfindet diese Tugend als Kälte, er bedarf zu
seinem eigenen Genüsse feurigen Ungestüms, schamlosen Verlangens,
sinnlicher Tollheit auf der andern Seite, was wieder den ersten
abschrecken oder anekeln würde, ein Dritter fühlt sich angezogen
nur von einem üppigen Körper oder von dunklen Glutaugen, während
den vierten nur die Schlankheit bezaubert oder die kalte Grausamkeit
eines stahlgrauen Auges in ihren Bann zwingt. Derartige Beize gibt
es unzählige, auch solche, welche an der Grenze des Krankhaften
stehen. Feinfühlende Leute stößt das schönste Weib ab, wenn es
geschminkt, aufgedonnert oder geschmacklos angeputzt ist, andere
Männer gibt es, welche das gerade lieben, ja, die sich gewissermaßen
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Krankheit oder Laster?
245
nur in Kleidungsstücke verlieben von gewisser Farbe, von besonderem
Schnitt, in Stiefeln von bestimmter Form. Wer die anbat, ist ihnen
gleichgültig, daß sie getragen werden, reizt ihren Geschlechtstrieb.
Man weiß in der Tat nicht, wo da gesundes Empfinden aufhört und
krankhaftes beginnt. Das Gefühl, der Glaube, die Einbildung, daß
das betreffende Wesen bestimmte Eigenschaften besitzt, genügt oft
— zu Zeiten, wo die Eigenschaften vielleicht nicht einmal wahrgenomraen
werden können —, um einen geschlechtlichen Reiz auszulösen, der
ohne dieses Gefühl fehlen würde. Fast alle Sinnesorgane, Geruch,
Gehör, Gesicht, vermögen da Einfluß zu üben. Andere werden von
den körperlichen oder geistigen Eigenschaften der Frauen gar nicht
berührt, sie erliegen dem Zauber gewisser Stellungen, Handlungen,
Geschehnisse und Vorstellungen. Ein Wesen, welches unter gewöhn¬
lichen Verhältnissen ihnen völlig gleichgültig sein würde, mag in irgend
einer absonderlichen Lage, bei einem Zusammenwirken besonderer
Umstände, in einer gewissen Stimmung, ihnen gefährlich werden.
Man darf den Einfluß der seelischen Eindrücke, der Vorstellungs¬
kraft, der Einbildung, ja nicht unterschätzen, aber auch nicht über¬
schätzen. Das körperliche Befinden spielt eine ebenso große Rolle.
Dinge, die man heute in der Nüchternheit verabscheut, werden morgen
unter dem Einflüsse des Rausches, des Katers, des Hungers, der
Sattheit unbedenklich getan. Jemand, der heute geschlechtlich fast
teilnahmlos ist, wird einige Tage später nach dem Genüsse gewisser
Speisen, in Augenblicken körperlicher Schwäche, ganz zügellos.
Langer Schlaf, körperliche Ruhe machen lüstern, harte Arbeit drängt
geschlechtliche Reize zurück. Im Grunde ist das Geschlechtsleben
eins der vielen Wunder, welche wir nie ganz begreifen werden, und
es ist schwer, durch Gesetze da ordnend einzugreifen.
Trotzdem muß das aber geschehen, will man nicht auf jede
Sittlichkeit verzichten. Die verschiedenen Völker haben je nach ihrer
Veranlagung Gesetze geschaffen, welche einer Zügellosigkeit in
geschlechtlicher Beziehung steuern sollen. Es sind nicht etwa die
Pfaffen, welche uns diese Gesetze beschert haben, sondern sie sind
aus dem Bedürfnis des Volkes heraus geboren. Jedes Volk hat da
seine eigene Anschauung. Dinge, welche vielleicht ein Neger für
natürlich und erlaubt hält, findet der Germane unehrenhaft und un¬
natürlich. Solche anerzogenen Anschauungen beeinflussen unser
Geschlechtsempfinden auch, so sehr das auch bestritten wird von den
vielen Weltverbesserern, welche den Geschlechtstrieb als unwider¬
stehlichen oder von der Erziehung ganz unabhängigen Naturtrieb
hinstellen möchten.
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XI. Fleischer
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Der Geschlechtstrieb ist nicht unwiderstehlich. Die gegenteilige
Ansicht ist ein Irrtum. Selbst der rücksichtsloseste, sinnlichste, ver¬
tierteste Lastmörder kann sich beherrschen, wenn die Polizei kommt.
Es gibt — und gab zu allen Zeiten — Tausende und Millionen
von Menschen, welche ihren Geschlechtstrieb ganz zu unterdrücken
wissen, welche, durch die Verhältnisse gezwungen, auf seine Be¬
friedigung verzichten müssen. Manche davon mögen sich deshalb
unglücklich fühlen, vielfach sind es aber auch ganz glückliche
Menschen. Diese Leute sind in einer ähnlichen Lage wie die verkehrt
Veranlagten und müssen ihre erzwungene Untätigkeit ertragen.
Weshalb man mit den sogenannten Perversen mehr Mitgefühl haben
muß wie mit anderen unfreiwillig zur Enthaltsamkeit Gezwungenen,
ist nicht einzusehen. —
„Ja! Aber wenn diese anderen die ihnen gezogenen Schranken
durchbrechen, dann werden sie wenigstens nicht bestraft!“ — Das
stimmt nicht. Wenn diese zu geschlechtlicher Untätigkeit Verurteilten
sich auf eine Weise dem ersehnten Genüsse hingeben, welche den
Anschauungen unserer Volkseigenheit unnatürlich und ekelhaft
erscheint, so werden sie auch bestraft, — und nicht zu knapp!
Eltern, Vormünder, Anstaltsleiter, welche sich mit ihren Schutz¬
befohlenen vergehen, Menschen, welche mit Tieren Unzucht treiben,
welche ihre Opfer in willenlosen Zustand versetzen oder gar töten,
weil gerade die Todesangst ihres Opfers ihre Sinneslust reizt, Leichen¬
schänder, alle, welche durch Drohung oder Gewalt geschlechtlichen
Verkehr erzwingen, alle diese Sittenbrecher werden bestraft. Auch
wer sich mit Kindern vergeht, verfällt der Strafe, selbst wenn die
Kinder schon geschlechtsreif sind und sich selbst angeboten haben.
Warum soll der Strafrichter nun allein vor dem geschlechtlich
Verkehrten Halt machen? Fällt es diesem schwerer wie dem Lust¬
mörder, dem gewissenlosen Vormund, dem Liebhaber eben entwickelter
Minderjähriger, dem Leichenschänder, seine Triebe zu bekämpfen?
Oder ist er weniger schädlich?
Freilich, er bringt seine Opfer nicht leiblich um. Das tun die
Vorgenannten zum Teil auch nicht. Dafür vernichtet er sie aber in
sittlicher Beziehung. Ehe er einen findet, der sich ihm hingibt, wie
oft mag er mit seinen Anträgen das sittliche Empfinden anderer
verletzt haben und in wie viel anderen vorher ahnungslosen Menschen
mag er den Keim zu kommenden unsittlichen Handlungen erweckt
haben! — „Wenn man so denkt, dann muß jeder Verführer bestraft
werden, auch wenn er geschlechtlich naturgemäß vorging.“ —
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Krankheit oder Laster?
247
Das ist denn doch etwas anderes. Man will ja nicht jeden
außerehelichen Geschlechtsverkehr bestrafen, sondern nur den, welcher
den bei uns herrschenden Anschauungen unnatürlich und widerlich
erscheint. Dieser Beigeschmack fehlt dem Verkehr zwischen Mann
und Weib, mag er auch vereinzelt Formen annebmen, die an sich
dem einen oder anderen widerlich sein können. Der geschlechtlich
naturgemäß Empfindende wird bei seinem Vergehen wider die Sitte
auch nicht bedrückt durch das Gefühl, etwas zu tun, was allgemein
als widernatürlich angesehen wird. Dieses Gefühl quält aber gerade
den widernatürlich Veranlagten, er weiß es, daß sein Begehren sich
mit den sittlichen Anschauungen seines Volkes und Landes nicht
verträgt, und das muß notwendig seine Triebe hemmen, er weiß, daß
er mit seinen Wünschen, noch mehr mit deren Ausführung, sich in
den Augen seiner Standesgenossen verächtlich macht; das muß seine
geschlechtliche Lust lähmen, wie überhaupt das Schamgefühl, mag
es anerzogen oder angeboren sein, der beste Schutz gegen Unsittlich¬
keit ist. Ein verkehrt Veranlagter, welcher sich über alle diese
Schranken hinwegsetzt, steht sittlich auf einer niedrigeren Stufe als
ein naturgemäß Empfindender, welcher gelegentlich entgleist, denn er
hat mehr Schamgefühl über Bord werfen müssen wie der andere.
Selbstverständlich gibt es auch unter den naturgemäß Empfindenden
tief, zuweilen entsetzlich tief stehende Menschen, wir brauchen da
durchaus noch nicht bis zum Zuhälter hinabzusteigen. Diese Wüstlinge
richten genau so viel sittlichen Schaden an wie der geschlechtlich
Verkehrte, der sich Genossen sucht. Eine empfindliche Strafe wäre
ihnen wohl zu gönnen, es ist nur unmöglich, eine gesetzliche Hand¬
habe zu finden, um sie von dem gelegentlich Entgleisten zu trennen.
Häufig wenden derartige Wüstlinge, wenn sie alles ausgekostet haben,
in immer wilderer Gier nach neuen Sinnesreizen, sich noch verbotenen
Genüssen zu, und dann sind sie zu fassen.
Man wendet nun wohl ein, daß geschlechtlich Verkehrte ja
niemandem Schaden zufügen, wenn sie in verschwiegener Stille in
gegenseitigem Einverständnis handeln, an dem Gleichgearteten ist
ja nichts zu verderben. Auf der Suche nach Gleichgesinnten wirken
sie schon sittlich zersetzend, weil sie nicht immer an Gleichgesinnte
geraten, und der widernatürliche Verkehr wird leider nicht auf
die verkehrt Veranlagten beschränkt. Mit Geld kann man viel
erreichen und böses Beispiel wirkt ansteckend. Gar manches wirkt
ansteckend, von dem man es nicht für möglich halten sollte, z. B.
die Selbstmorde. Diejenigen, welche geschlechtlich sich von den
einseitig verkehrt Veranlagten, den sogenannten Urningen, anstecken
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XI. Fleischer
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lassen, sind aber durchaus nicht immer einseitig Veranlagte, sondern
oft Leute, welche sehr wohl imstande sind oder waren, naturgemäßen
Geschlechtsverkehr zu pflegen. Die Geschichte lehrt uns, daß ganze
Völker der schlimmsten Unzucht verfallen sind und daß dann gerade
der geschlechtliche Verkehr unter Männern in erschreckender Weise
zugenommen hat. Das sollte uns doch stutzig machen. Immer war
es die Zeit des Verfalls der Völker, in der solche Erscheinungen
auftraten, wenn die Genußsucht und Sinnlichkeit alle edlen Eigen¬
schaften überwuchert hatten. Die Römer der Kaiserzeit betrieben die
Knabenliebe förmlich als Sport, als etwas, das zum guten Ton gehörte.
Es will doch wohl im Ernste keiner behaupten, daß das samt und
sonders Unglückliche gewesen seien, welche nicht anders gekonnt
hätten; sie hatten Frauen und hatten auch Kinder. Auch die heutigen
Verkehrten sind weniger unglücklich über ihre Triebe, als darüber,
daß deren Befriedigung bestraft wird. Sie sind häufig nicht
Menschen, welche zu anderer geschlechtlicher Tätigkeit unfähig sind,
sondern die übersättigt sind, da sie die Liebe zum Weibe bis zum
Uberdrusse gekostet haben, sie haben oft Frauen und Kinder. Man
werfe nur einen Blick in die Gerichtsverhandlungen. Der Menge der
lasterhaften Leute gegenüber sind die wirklichen Urninge gering an Zahl.
Man male sich nur aus, wohin es führt, wenn man den geschlecht¬
lichen Verkehr unter Männern freigibt. Da von diesem Verkehr
kostspielige Folgen in Gestalt von Nachkommen nicht zu befürchten
sind, so würde er ungeahnte Ausdehnung annehmen, denn, was nicht
verboten ist, wird bekanntlich als erlaubt angesehen. Das wird nicht
gleich geschehen, dazu sind die alten herrschenden Anschauungen noch
zu mächtig, mit der Zeit würde sich die noch vorhandene Scheu aber
verlieren und schließlich würden bei uns dieselben Zustände herrschen
wie im alten Rom. Vor allem aber würden die Geschlechtskrankheiten eine
ungeheure Verbreitung annehmen, die Ehelosigkeit, die Zahl der unglück¬
lichen Ehen, würde zunehmen und die Nerven- und Körperkraft unserer
Männer infolge der vermehrten Gelegenheit zu Ausschweifungen ab.
Um die Straffreiheit des geschlechtlichen Verkehrs zwischen
Mann und Mann zu erwirken, weist man darauf hin, daß der Verkehr
zwischen Weib und Weib straffrei ist; was dem einen aber recht sei,
sei dem anderen billig. Nun sind die Gesetze aber von Männern
gemacht, und denen waren die Weiber bisher noch stets ein Rätsel.
Deshalb haben sie sich eines allzu einschneidenden Eingriffs in den
Geschlechtsbereich des Weibes enthalten. Daß auch unter Frauen
gleichgeschlechtliche Liebe vorkommt, ist erwiesen, nur bat man noch
nirgendwo gesehen, daß sie derart widerliche Formen annähme wie
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Krankheit oder Laster?
249
beim Manne, oder derart in der Öffentlichkeit von sieb reden machte.
An sich hat das Weib ein zarteres Schamgefühl oder wenigstens mehr
furchtsame Zurückhaltung als der Mann, so lange es nicht gefallen
ist. Nicht die Männer, die Mütter sind die besten Be¬
wahrer von Sitte und Zucht. Es bedarf größerer Überredungs¬
und Verführungskunst, um ein Weib vom rechten Wege abzuleiten,
als wenn man einen Mann zu außerehelichem Geschlechtsverkehr
verführen will. Ausnahmen gibt es selbstverständlich auf beiden
Seiten. Das gefallene Weib wird auch im allgemeinen von seinen
Mitschwestern mehr geächtet wie der unsittliche Mann von seinen
Standesgenossen. Ferner ist das Weib viel öfter als der Mann
körperlich verhindert (monatliche Reinigung, Schwangerschaft, Wochen¬
bett, früheres Aufhören der Geschlechtstätigkeit), geschlechtliche Lust
zu erwecken oder zu betätigen. Aus allen diesen Gründen wird der
geschlechtliche Verkehr unter Weibern sich schwerer verbreiten als
unter Männern. Wir hören auch aus den sittenlosesten Zeiten der
Geschichte von einem Geschlechtsleben der Weiber unter sich
verhältnismäßig nur wenig; wo wir davon hören, berührt es uns
nicht so unangenehm. Deshalb hat man geglaubt, dem überschweng¬
licher gearteten Gefühlsleben der Frauen mehr Spielraum lassen zu
müssen. Es berührt uns doch durchaus nicht unangenehm, wenn
zwei Frauen sich bei geringfügigem Anlaß umarmen und küssen,
wenn sie ihre Einder in manchmal sehr weitgehender Weise liebkosen,
während uns das bei Männern ekelhaft vorkommt. Das Geschlechts¬
leben ist das ureigenste Gebiet des Rätsels Weib. Darin beim Weibe
einzugreifen, darf uns nur die äußerste Notwendigkeit bestimmen,
und die liegt nicht vor. Man hört auch nie, daß das Volk ein Ein¬
schreiten der Gesetzgebung gegen die verkehrt veranlagten Weiber
verlangt, während das gesunde Volksbewußtsein den Verkehr unter
Männern bestraft wissen will, wenigstens bei den Völkern nordischer
Rasse. Das Volk will die sittlichen Anschauungen, welche sich in
Jahrtausenden bei ihm gebildet und bewährt haben, geschützt wissen;
das kann man mit aller Spitzfindigkeit und allem Aufwand von
Wissenschaftlichkeit nicht abstreiten.
Es ist doch besser, daß unter den verhältnismäßig wenigen
wirklichen Urningen, die sich zu einem enthaltsamen Leben nicht
zwingen können, einmal einer bestraft wird, obwohl wir Mitleid mit
ihm haben, als wenn man aus falsch verstandenem Mitleid die vielen
lasterhaften Übertreter unserer Anschauungen vom natürlichen Ge¬
schlechtsverkehr nun auf die Menge losläßt. Besser, es verdirbt ein
Glied denn das ganze Volk.
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XI. Fleischer
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Unsere Gesetze sind dazu da, das Volk gesund zu erhalten,
seinen Anschauungen gerecht zu werden; sie sollen der Allgemein¬
heit dienen, nicht einzelnen Sonderlingen, und sie müssen deshalb
das bekämpfen, was nach der Ansicht der Mehrheit unserem Volke
schädlich ist Wie andere Völker und vereinzelte Menschen darüber
denken, darauf kann unsere Gesetzgebung keine Rücksicht nehmen.
Härten hat jedes Gesetz im Gefolge.
Die geschlechtlich Verkehrten müssen eben Enthaltsamkeit üben,
wenn sie unter uns leben wollen; das Verlangen ist nicht zu grausam.
Von ihnen können wir, falls sie sonst geistig gesund sind — und
das wollen sie ja sein —, Enthaltsamkeit ebenso gut verlangen, wie
wir das von unseren unverheirateten Schwestern und Töchtern, von
unseren katholischen Geistlichen, Ordensbrüdern und Ordensschwestern
tun. Die verkehrte Anlage ist nicht derartig mächtig, daß ihre Be¬
tätigung nicht durch den Willen unterdrückt werden könnte. Urninge
aber, die ihre Triebe beim besten Willen nicht zähmen können,
welche unter unwiderstehlichem Zwange handeln, die sind als
Kranke, als geistig Minderwertige zu beurteilen, und die läßt ja auch
unsere heutige Gesetzgebung unbehelligt. Nötigenfalls müssen sie
durch Absperrung in Anstalten unschädlich für die Allgemeinheit
gemacht werden. Bei solchen Kranken wird sich in fast allen Fällen
der Nachweis des Krankhaften erbringen lassen, da der Arzt bei so aus¬
geprägter Aufhebung der Willenskraft auch sonst Störungen im Nerven¬
bau finden wird, welche für die Krankhaftigkeit beweisend sind.
Von der Strafe getroffen werden also nicht die, welche sich nicht
zügeln können, sondern diejenigen, welche sich nicht zügeln
wollen. Den einseitig verkehrt Veranlagten darunter oder den geistig
mangelhaft Entwickelten mag man mildernde Umstände zubilligen,
ganz schuldlos sind sie nicht.
Geistig und körperlich gut entwickelte Menschen, welche nach¬
weislich imstande sind oder waren, ihre Geschlechtslust in natur¬
gemäßer Weise zu befriedigen, haben doch wahrhaftig nicht nötig,
auch noch andere Freuden aufzusuchen aus zügelloser Gier nach
immer neuen Genüssen oder gar für Geld sich hinzugeben. Mit diesen
braucht man kein Mitleid zu haben, sie sind lasterhaft ohne einen
Schein von Entschuldigung, und das dürfte die große Mehrzahl sein.
Eine völlige Aufhebung der Strafbestimmungen, welche den ge¬
schlechtlichen Verkehr unter Männern treffen, ist für die Mehrheit
unseres Volkes nicht wünschenswert; sie bringt unserem Volke
keinen Segen, sondern namenloses Unglück; über eine Milderung ließe
sich allenfalls reden.
Go^ 'gle
Original from
HARVARD UNIVERSITY
XII.
Eine kriminalistisch-chemische Untersuchung von Klebstoff.
Von
Dr. Hans Schöfer.
Ich glaube, die Darstellung einer Untersuchung bringen zu sollen,
obwohl sie aus den neunziger Jahren stammt; sie zeigt aber, daß der
Sachverständige dem Untersuchungsrichter mitunter auch in Fällen
helfen kann, welche verzweifelt aussehen und das Verlangen von Hilfe
zu Anfang als völlig aussichtslos erscheinen lassen. —
Eine gerichtliche Zentralbehörde W mit besonderem Indorsat-
Erlasse die Untersuchung mehrerer Corpora delicti in der bei dem
k.k. Gerichte in X gegen den Aufseher Y des Fabriksunter¬
nehmens in Z anhängigen Strafsache angeordnet.
Aufseher Y ist beschuldigt, mehrere an Mitbedienstete angelangte
Briefsendungen, die er in der Eigenschaft als Postbevollmächtigter aus
dem Postfache der Fabrik im Laufe der Monate Oktober bis Dezember
v. J. übernommen hatte, gewaltsam eröffnet und deren Inhalt ganz oder
teilweise sich angeeignet zu haben.
„Einige von den gewaltsam eröffneten Kuverts gelangten zu
Gerichtshanden und ist an deren Bückenfläche ganz genau das Ver¬
fahren, welches der Täter beobachtet hat, um das Geld herauszunehmen
und die Übernehmer resp. Adressaten zu täuschen, ersichtlich.“
„Nach Aussage der hierüber einvemommenen Post-Sachverstän¬
digen hat der Täter wahrscheinlich mit einem Taschenmesser einen
Teil der Verschlußklappen aufgerissen und dann wieder mit Gummi,
zugeklebt. Da nun dieses Gummi von ungewöhnlicher, viele fette
Bestandteile enthaltender Gattung ist, in der Wohnung des Beschul¬
digten aber gelegentlich der Vornahme der Durchsuchung derselben
ein Fläschchen mit Gummi gefunden wurde, so erscheint es von großer
Wichtigkeit, festzustellen, ob und inwiefern letzteres Gummi und jenes
womit die Briefe zugeklebt wurden, von gleicher Beschaffenheit seien.“
Das k. k. Gericht in X stellt daher die Bitte, „durch zwei Sach¬
verständige die beigeschlossenen Kuverts und das im Fläschchen ent¬
haltene Gummi chemisch untersuchen zu lassen.“
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252
XII. SCHÖFER
Die Sachverständigen hätten sodann ein motiviertes Gutachten
abzugeben:
1. ob zwischen dem im Fläschchen enthaltenen und jenem Gummi,
womit die gewaltsam eröffneten Briefe zugeklebt wurden, rücksicht¬
lich der Bestandteile eine Übereinstimmung zu konstatieren sei,
2. welche Zeit erforderlich war, damit das auf dem Kuvert
befindliche Gummi, womit die aufgeschnittenen Stellen zugeklebt
erscheinen, mit Rücksicht auf die hierzu verwendete Quantität und
chemische Zusammensetzung des Klebestoffes ganz oder wenigstens
bis zu einem gewissen Grade trocknen konnte, welcher die Wahr¬
nehmung der vielleicht erst kurz zuvor ausgeführten Spolierung nicht
leicht möglich machte.
„Der verdächtige Aufseher hat nämlich die meisten Briefe kurze
Zeit nach Ankunft von der Post an die Bevollmächtigten der Ab¬
teilung übergeben. Manche Briefe mochte er vielleicht nur V 2 Stunde
oder noch kürzer im Besitze gehabt haben.“
„Trotzdem haben nur 2 Adressaten wahrgenommen, daß das
Gummi, womit die Verschlußklappen zugeklebt worden sind, noch
nicht ganz trocken war.“
Schließlich wird gebeten, daß die Sachverständigen die Unter¬
suchung derart vornehmen mögen, „daß hierdurch das äußere Aus¬
sehen der Kuverts möglichst wenig verändert werde.“
Als Corpora delicti langten im Laboratorium der Untersuchungs¬
stelle ein versiegeltes Fläschchen und eine Anzahl eröffneter Brief¬
kuverts an. Das Fläschchen, welches augenscheinlich zur Aufbe¬
wahrung einer Klebemasse für Papier und dergl. gedient hatte,
enthielt keine Spur von Flüssigkeit mehr, war aber auf dem Boden
mit einer glänzenden, lackartigen Substanz überzogen. Diese Substanz
hat auch den im Fläschchen steckenden, ausgespreizten Pinsel über¬
und durchzogen und förmlich verglast; ein ganzer Wulst dieser Masse
hat sich aber im Halse und an der Mündung des Fläschchens
abgelagert, ein zwar nicht reichliches aber immerhin sehr beachtens¬
wertes Untersuchungsmaterial.
Mit Rücksicht auf den vorliegenden Fall mußte es sich zunächst
darum handeln, die Eigenschaften dieses Materials möglichst genau
zu ergründen, um es naturwissenschaftlich mit Sicherheit klassifizieren
zu können und dabei schärfstens etwaigen Eigentümlichkeiten nach-
zuspüren, wodurch gerade diese Masse gegenüber anderen aus¬
gezeichnet und charakterisiert erscheinen konnte.
Das hierbei erzielte Ergebnis mußte sodann zu einem rationellen
Untersuchungsplane verwertet werden, nach welchem es vielleicht
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Eine kriminalistisch-chemische Untersuchung von Klebstoff.
253
möglich wäre, zur Beantwortung der überaus schwierigen und sub¬
tilen oben zitierten Frage einige wichtige und positive Beiträge
zu liefern.
Die dem Fläschcbenhalse auf- und angelagerte Masse stellte
sich dem bloßen Ansehen als eine glasartig glänzende, feste, durch,
sichtige mit feinen Rissen durchsetzte, schwach grünlich gefärbte und
sonst gleichmäßige Substanz dar, an welcher weiteres bei dem Ver¬
suche, kleine Partikelchen davon loszulösen, eine bedeutende Sprödig¬
keit neben geringer Härte auffiel. Im Zusammenhalte mit den
sonstigen Attributen, mit denen das Fläschchen, wie oben bemerkt,
ausgestattet war, konnte die Masse aus Leim, Dextrin, Gummi- und
anderen Harzen oder aus dem Gemisch einiger oder aller dieser
Substanzen bestehen. Die Art ihrer Verteilung nnd Ablagerung
macht es für unzweifelhaft, daß sie durch Austrocknung einer Lösung
oder Quellung jener Stoffe zustande gekommen war.
Das Fläschchen trägt die gedruckte Bezeichnung „Colle blanche
liquide“. Wiewohl die Erfahrung lehrt, daß man es mit derartigen
Aufschriften auf käuflichen Präparaten von dieser Sorte nicht gerade
sehr genau zu nehmen braucht, überdies fremdländische Ausdrücke
wie hier die Bezeichnung Colle verschiedenes besagen können und
aus diesem Grunde gern gewählt werden, um den Fabrikanten keine
Verlegenheiten zu bereiten, so schien es dennoch geboten, den Aus¬
druck nach seiner ursprünglichen Bedeutung, nämlich als Leim auf¬
zufassen und daraufhin die erste Untersuchung vorzunehmen und
zwar aus folgenden Gründen:
Das Klebemittel, dessen sich die k. k. Postverwaltung für Brief¬
kuverts und andere zu verklebende Briefsorten bedient, besteht, wie
die einschlägigen Untersuchungen an einem mit dankenswerter Bereit¬
willigkeit und Schnelligkeit zur Verfügung gestellten Materiale ergeben
haben, in der Tat aus Leim.
Die sonstigen käuflichen Briefkuverts sind, wie mehrere Unter¬
suchungen an solchen Erzeugnissen von verschiedener Herkunft
erwiesen, mit einer Masse verklebt, welche im wesentlichen aus
Gummi arabicum mit einem variablen Zusatze von Dextrin bereitet
wird. Der Leim als stickstoffhaltige, den Eiweißkörpem nahestehende
Substanz liefert ganz andere Reaktionen als die Gummiharze und
Dextrine, welche der Klasse der Kohlehydrate angehören.
Da nun alle in dieser Angelegenheit vorgelegten Briefkuverts
durch Privatindustrie erzeugt, also nach den Ergebnissen zahlreicher
Untersuchungen durch Gummiharze oder durch Dextrin oder ein
Gemisch beider dieser Stoffe verklebt sind, so mußte zunächst die
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XII. SCHÖFER
Entscheidung, ob das in der Wohnung des Angeklagten Vorgefundene
Fläschchen eine Leimlösung enthalten habe, für den weiteren Verfolg
der Untersuchung von größter Wichtigkeit erscheinen.
Die an dem Fläschchen Vorgefundene Masse wurde nunmehr einer
genauen chemischen Prüfung unterzogen. Sie löste sich in kaltem
Wasser nicht leicht, bei längerem Digerieren zerging sie darin zu
einer schleimigen Flüssigkeit, die Lösung wurde durch Wärme be¬
schleunigt, und die Flüssigkeit zeigte sehr schwache alkalische
Reaktion. In Alkohol und Äther blieb die Masse so gut wie unlöslich,
Zusatz von Alkohol zu der wässerigen Lösung erzeugte eine weiße
Ausscheidung, welche auch nach längerem Stehen keine Flocken
absetzte. Die Lösung in Wasser erfuhr durch die empfindlichsten
Reagentien auf stickstoffhaltige Substanzen wie Jodkalium — Queck¬
silberjodid, Jod-Jodkalium, Phosphorwolframsäure und Phosphor¬
molybdänsäure keine deutliche Veränderung. Die Masse enthielt
demnach keinen Leim.
Mit Fehlingscher Lösung gekocht ergab sie eine sehr geringe
Ausscheidung von Kupferoxydul, jedoch keine Biuretreaktion. War
sie zuvor längere Zeit mit etwas Salzsäure gekocht worden, so lieferte
sie hinterher mit Fehlingscher Lösung eine weit beträchtlichere Aus¬
scheidung von Kupferoxydul.
Diese Wahrnehmungen sprachen dafür, daß die Masse zum größten
Teile aus Gummiharz bestehe. Aus der Tatsache, daß sie an und
für sich, ohne früher durch Mineralsäure gespalten und zum Teil in
Zucker übergeführt worden zu sein, die Zuckerreaktion allerdings
nur in minimalen Spuren ergab, blieb noch die Annahme eines
Zusatzes von Dextrin, welches in käuflicher Ware stets mit Zucker
vermengt ist, möglich.
Diese Annahme wurde jedoch durch die Erfahrung hinfällig,
welche lehrt, daß auch reines Gummiharz, wenn es längere Zeit in
Lösung steht oder aus Lösungen wieder eintrocknet, die Zucker¬
reaktionen gibt.
Für den vorliegenden Fall sind diese letzteren Untersuchungs¬
ergebnisse insofern interessant, als die in dem vorgelegten Fläschchen
befindliche Klebemasse nach den soeben beschriebenen Richtungen
dieselben Reaktionen liefert, wie die Klebemasse, welche bei der
Herstellung von käuflichen Briefkuverts in Privatfabriken ver¬
wendet wird.
Nach den bisherigen Untersuchungen konnte sonach zwischen
der in dem vorgelegten Fläschchen befindlichen und der in der
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Eine kriminalistisch-chemische Untersuchung von Klebstoff.
255
Privatindustrie bei Erzeugung von Briefkuverts verwendeten Klebe¬
masse kein Unterschied gefunden werden.
Man mußte sieb nunmehr die Frage vorlegen, ob vielleicht der
Beweis erbracht werden könne, daß der Fläscbcheninhalt, welcher,
wie bemerkt, seiner Hauptmasse nach aus Gummiharz besteht, einen
quantitativ bestimmbaren Zusatz von Dextrin enthalte und ob daraus
eine ersprießliche vergleichende Beurteilung im vorliegenden Fall
erhofft werden dürfe.
Diese Frage konnte mit Rücksicht auf die geringen Mengen zu
Gebote stehenden Untersuchungs- und Versuchsmaterials sofort ver¬
neint werden. Zusatz von Dextrin zu Gummiharzen läßt sich, soweit
die bisherigen Kenntnisse reichen, vielleicht unter Umständen. quanti¬
tativ ermitteln, wenn das Untersuchungsmaterial in fester Form
vorliegt und in beliebigen Mengen zu Gebote steht. Es könnte sich
im wesentlichen dabei nur um eine polariskopische Untersuchung
handeln. Die verschiedenen Dextrine drehen den polarisierten Licht¬
strahl sehr stark nach rechts, die Gummiharze bald nach rechts, bald
nach links, jedoch ist ihr Drehungsvermögen im ganzen gegenüber
dem der Dextrine ein geringes.
Man könnte also nur in dem Falle, als eine Gummilösung eine
auffallend starke Rechtsdrehung des polarisierten Lichtstrahles ergäbe,
qualitativ auf einen Zusatz von Dextrin schließen, die quantitative
Bestimmung eines solchen Zusatzes dürfte jedoch mit den heutigen
wissenschaftlichen Hilfsmitteln kaum möglich sein, jedenfalls aber
müßte, wie bereits bemerkt, ein unbegrenztes Versuchsmaterial zur
Verfügung stehen.
Nun wolle man dagegen bedenken, daß im vorliegenden Falle
die Frage erhoben werde, ob die äußerst geringe, zwischen der
Faltenlage eines Briefkuverts befindliche Klebemasse in dieser Rich¬
tung quantitativ gegenüber anderen Klebestoffen differenziert werden
könne.
Von dieser Art der Beweisführung mußte daher im vorliegenden
Falle, um nicht das geringe zu Gebote gestellte Untersuchungsmaterial
unnötig zu versplittern, gänzlich abgesehen werden.
Es blieb nur noch übrig, aus dem Aschengehalte des vorgelegten
Klebestoffes Anhaltspunkte für die Beurteilung der Sache zu gewinnen.
Demgemäß wurden Teile der in dem Fläschchen befindlichen Klebe¬
masse verascht, es zeigte sich, daß der Aschengehalt ein reichlicher
war. Die nähere Untersuchung ergab, daß diese Asche zum kleineren
Teil in Wasser löslich war, daß die wässerige Lösung derselben
deutlich alkalische Reaktion besaß und daß der in Wasser unlösliche
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256
XII. SOHÖFER
Teil der Asche durch verdünnte Salzsäure unter Kohlensäure¬
entwicklung nahezu vollständig in Lösung ging, in welcher Kalk und
Magnesia nachgewiesen werden konnten.
Genau dieselben Ergebnisse wurden erhalten bei der Veraschung
verschiedener käuflicher Sorten von Gummi arabicum. Die in den
Gummiharzen enthaltene Verbindung der Arabinsäure mit Alkalien
und alkalischen Erden liefern beim Veraschen die betreffenden kohlen¬
sauren Salze, und es war also auch in dieser Hinsicht weder qualitativ
und noch weniger quantitativ eine Auskunft in der vorgelegten Frage
mit Rücksicht auf das minimale Vergleichungs- und Untersuchungs¬
material zu erwarten.
Hingegen hatte sich bei der Ermittlung der Eigenschaften der
Klebemasse des Fläschchens gegenüber verschiedenen Gummisorten
doch ein sehr wichtiger Unterschied herausgestellt.
Bei der Beschreibung des Fläschcheninhalts wurde oben bereits
seine grünliche Farbe hervorgehoben. Gewöhnliche käufliche Gummi¬
sorten besitzen diese Farbe nicht, sie ist daher als der eingesendeten
Probe eigentümlich anzusehen und es blieb zu erforschen, welchem
Stoff die Masse diese Färbung verdankt
In dieser Hinsicht konnte durch wiederholte Versuche mit Sicher¬
heit festgestellt werden, daß die Masse in dem eingesendeten Fläschchen
neben Eisen auch ganz deutliche Mengen von Kupfer enthalte,
während in verschiedenen marktgängigen Gummiproben dieses Metall
auch nicht in Spuren nachgewiesen werden konnte. Man wird nicht
fehlgehen, wenn man annimmt, daß das arabische Gummi in einem
Kupfergefäß gekocht worden sei.
Mit dieser Entdeckung schien der besagte Fläschcheninhalt
geradezu charakterisiert, und damit war ein Fingerzeig gegeben, nach
welcher Richtung die Untersuchungen an den eingesendeten Brief¬
kuverts unternommen werden mußten, um vielleicht einen positiven
Aufschluß auf die gestellten Fragen zu ermöglichen, der in anderer
Weise, wie die bisherigen Ausführungen eingehend gezeigt haben,
unmöglich zu erbringen gewesen wäre. Vor Erledigung dieser Vor¬
fragen konnte an die Untersuchung der eingesendeten Kuverts
nicht geschritten werden, da einerseits das darin enthaltene Unter¬
suchungsmaterial nur in minimaler Menge vorhanden war und anderer¬
seits in der Zuschrift die Bitte gestellt war, bei der Untersuchung
das äußere Aussehen der Kuverts möglichst wenig zu verändern.
Für die vergleichende Untersuchung der auf einem eingesendeten
Kuvert befindlichen verschiedenen Klebemasse wurde das mit der
Adresse: A. B. (R 1902) ausgewählt.
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Eine kriminalistisch-chemische Untersuchung von Klebstoff.
257
An seiner Innenseite erschien an einem Lappen eine grüngefärbte
Überkleisterung, welche von dem Klebeüberzug der übrigen Kuvert¬
verschlußklappen ganz auffallend abstach. Diese Stellen, an welchen
allem Anscheine nach später auf den ursprünglichen Klebestoff des
Kuvertverschlusses ein anderer aufgetragen worden war, wurde für
die Durchführung der nachfolgend beschriebenen Untersuchung aus¬
geschnitten.
Ein Teil davon wurde mit einigen Tropfen destillierten Wassers
ausgekocht. Das filtrierte Dekokt gab mit Fehlingscher Lösung
eine minimale, jedoch deutliche Reduktion von Kupferoxydul.
Ein anderer Teil wurde verascht, der Aschegehalt war ein sehr
reichlicher. Die verhältnismäßig doch sehr geringe Menge des Klebe¬
mittels, welche auf dem schmalen Streifchen des Kuvertabschnittes
aufgetragen war, konnte diese Aschenmenge unmöglich liefern, der
Hauptanteil mußte sonach aus dem Papiere des Kuverts stammen.
Bekanntlich werden der Papiermasse, um ihr mehr Körper zu geben,
reichlich Mineralbestandteile zugesetzt, unter denen insbesondere
Tonerde und Bary um Verbindungen eine Rolle spielen.
Für den vorliegenden Fall konnte es nach den bisherigen Er¬
örterungen weder von Wichtigkeit, noch von Interesse sein, sämtliche
Mineralbestandteile des Papieres festzustellen, aus welchen das zur
Untersuchung gewählte Kuvert bestand.
Die ganze Aufmerksamkeit mußte der Frage zugewendet werden,
ob unter den Mineralbestandteilen Kupfer nachgewiesen werden
könne. Die Asche des genannten Kuvertstreifchens wurde also mit
einigen Tropfen verdünnter Salpetersäure ausgezogen und der filtrierte
Auszug mit Ammon versetzt. Hierdurch entstand eine Fällung von
Tonerde, welche in der Papiermasse enthalten gewesen war und die
Überstehende Flüssigkeit nahm einen nur für sehr geübte Augen erkenn¬
baren blauen Farbenton an, der auf Spuren von Kupfer hindeutete.
Um diese minimale, vielleicht zweifelhafte Reaktion durch eine
andere von noch größerer Schärfe zu unterstützen und zu bestätigen,
wurde die Flüssigkeit filtriert, mit einem Tropfen verdünnter Salz¬
säure angesäuert, zur Trockene verdampft, der Rückstand zur
Entfernung der Ammonsalze geglüht, mit einigen Tropfen reiner
verdünnter Salpetersäure aufgenommen, auf dem Wasserbade zur
vollständigen Trockene verdampft, und zuletzt in einigen Tropfen
destillierten Wassers gelöst.
Diese Lösung gab mit einer verdünnten Lösung von gelbem
Blutlaugensalz die eigentümlich rotbraune, für Kupfer charakteristische
Fällung von Ferrocyankupfer.
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XIL SCHÖFER
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Damit war mit Sicherheit erwiesen, daß in der Asche des allem
Anscheine nach späterhin mit einem Klebemittel neu bestrichenen
Teiles des Kuvertverschlusses Kupfer enthalten sei, dieselbe Substanz,
welche auch in der Asche der in dem vorgelegten Fläschchen be¬
findlichen Klebemasse als eine ganz eigentümliche Beimengung auf¬
gefunden wurde.
Es blieb nun weiter zu untersuchen übrig, ob nicht etwa das
ursprüngliche Klebematerial des Kuvertverschlusses oder aber das
Papier des Kuverts selbst Kupfer enthalte. Namentlich mußte man
in dieser Beziehung die Möglichkeit vor Augen halten, daß durch
Zusetzung von mineralischen Bestandteilen, welche in der Papier¬
fabrikation üblich sind, auch Spuren von Kupfer in die Papiermasse
des untersuchten Kuverts hineingebracht worden sein konnten.
Die Doppelfrage, ob die ursprüngliche Klebemasse des Kuvert¬
verschlusses oder aber das Papier des Kuverts selbst Kupfer enthalte,
ließ sich möglicherweise durch einen einzigen Versuch entscheiden.
Man brauchte nur andere Teile der Verschlußstelle des Kuverts zu
veraschen, an denen von einer nachträglichen Auftragung eines Klebe¬
mittels absolut nichts wahrzunehmen war; dann kamen das dem
Kuvert ursprünglich aufgestrichene Klebematerial und das Papier des
Kuverts selbst gleichzeitig in Untersuchung. Ergab dies ein Resultat,
so war die Beweisführung geschlossen.
Dieser Überlegung entsprechend wurde aus dem Verschluß des
Kuverts, dort wo es unzweifelhaft seine ursprüngliche und unver¬
änderte Beschaffenheit zeigte, ein ungefähr gleich großes Stück, als
es zu dem früheren Versuche gedient hatte, ausgeschnitten und ver¬
ascht. Der Aschegehalt erwies sich abermals als sehr reichlich.
Die Asche wurde in minutiöser Weise der gleichen Behandlung
unterzogen wie früher, die Reaktionen fielen jedoch durchweg
negativ aus.
Danach kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die nach¬
träglich auf jener Stelle des Kuverts, welche auch die Spuren einer
stattgehabten ungewöhnlichen Eröffnung aufweist, aufgestrichene
Klebemasse vom Klebemittel verschieden ist, mit welchem die anderen
Stellen des Verschlusses zusammengeklebt sind, und daß gerade
derjenige Körper, aus welchem eine solche Verschieden¬
heit dieser beiden Klebemittel erschlossen werden kann,
auch in dem Inhalt des vorgelegten Fläschchens nach¬
gewiesen worden war.
Die in dieser Angelegenheit gestellten Fragen erheischten noch
weitere Untersuchungen.
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Eine kriminalistisch-chemische Untersuchung von Klebstoff 250
Die Natur und chemische Beschaffenheit des in dem eingesendeten
Fläschchen enthaltenen Klebemittels war, wie dies gezeigt worden ist,
als Gummi arabicum festgestellt worden. Es fragt sich mithin, in
welcher Zeit ein Aufstrich einer solchen Lösung auf Papier soweit
eintrocknen kann, daß man nicht mehr zu unterscheiden vermag, ob
das Klebemittel schon vor längerer Zeit oder erst kürzlich zum Zweck
der Verklebung aufgetragen wurde.
Allgemeine Angaben lassen sich hierüber nicht machen, der
Zeitraum innerhalb dessen ein Aufstrich einer Lösung von Gummi
arabicum auf einem Papier eintrocknen kann, so daß man nicht mehr
zu unterscheiden imstande ist, ob dieser Aufstrich erst vor kurzer
Zeit stattgefunden hat oder ein bereits von längerer Zeit her bestehen¬
der eingetrockneter Aufstrich zum Zwecke der Verklebung vor kurzem
eingefügt wurde, hängt von vielerlei Umständen ab; erstlich von der
Konzentration bezw. dem Wassergehalte der Lösung, von der Wärme
und dem Feuchtigkeitsgrade der Luft, fernerhin von der Qualität,
insbesondere von der Porosität des Papiers, auf welches die Masse
aufgetragen wurde und endlich von der Dicke der Schicht, in welcher
das Klebemittel verwendet wurde.
Von allen diesen Verhältnissen können für den vorliegenden
Fall hauptsächlich zweierlei Umstände in Betracht gezogen werden,
der erste betrifft die Konzentration. Man darf annehmen, daß Klebe¬
lösungen, so wie man sich diese für den Gebrauch in eigener
Bereitung zurecht stellt, auch käuflich in der höchst möglichen
Konzentration abgegeben werden. Das in dem Fläschchen vorgelegte
Klebemittel dürfte sonach eine gesättigte Lösung von Gummi arabicum
dargestellt haben.
Der zweite Umstand bezieht sich auf die Beschleunigung bezw.
Verzögerung der Austrocknung von konzentrierten Gummilösungen
je nach der herrschenden Temperatur der Luft und insbesondere nach
der Zuhilfenahme künstlicher Erwärmung.
Nach diesen beiden Richtungen angestellte Versuche ergaben,
daß eine konzentrierte Gummilösung mittels eines Pinsels in gewöhn¬
licher Art auf Papier aufgetragen ohne Zuhilfenahme künstlicher
Erwärmung in 20—30 Minuten vollständig eintrocknet, ohne daß man
zu unterscheiden imstande ist, ob das Klebemittel kürzere oder
längere Zeit vorher aufgestrichen wurde. Bei Zuhilfenahme von
Erwärmung kann die Eintrocknung in 2—3 Minuten vollendet sein.
Es schien nach diesen Ergebnissen der Untersuchung und mit
Rücksicht auf die am Schlüsse der Zuschrift des k. k. Gerichts
in X. ausgesprochene Bitte nicht weiter nötig, auch die anderen
Archiv für Krirainalanthropologio. 34. Bd. 18
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XII. SCHÖFER
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Kuverts in derselben Weise zn untersuchen und es konnte nun¬
mehr auf die gestellten Fragen nachstehendes
Gutachten
abgegeben werden.
1. Zwischen dem im Fläschchen enthaltenen und jenem Gummi,
womit die gewaltsam eröffneten Kuverts zugeklebt wurden, ist rück¬
sichtlich der Bestandteile eine Übereinstimmung zu kon¬
statieren. Beide Gummisorten enthalten nämlich Kupfer, während
in dem Klebemittel der anderen Versohlußstellen desselben Kuverts
dieser Stoff nicht enthalten ist.
2. Die Frage nach der Zeit, welche erforderlich war, damit das
auf dem Kuvert befindliche Gummi, womit die aufgeschnittenen
Stellen zugeklebt erscheinen, ganz oder wenigstens bis zu einem
solchen Grade eintrocknen konnte, welcher die Wahrnehmung der
vielleicht erst kurz zuvor ausgeführten Spolierung nicht leicht möglich
machte, läßt sich mit Rücksicht auf die obigen Erörterungen dabin
beantworten, daß je nach verschiedenen Umständen zur vollständigen
Eintrocknung einer konzentrierten Gummilösung, welche auf Papier
in der Weise auf gestrichen wird, wie dies an Briefkuverts gewöhnlich
geschieht, ein Zeitraum von 20—30 Minuten ausreichend erscheint.
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XIII.
Beiträge zum Kapitel über sexuale Verirrungen.
Von
Staatsanwalt Dr. E. Ehmer in Graz.
Wiewohl ab und zu Anzeigen einlaufen, in denen behauptet
wird, die erwachsene Anzeigerin sei das Opfer eines gewaltsamen
Angriffes auf ihre Geschlechtsehre gewesen, so führt die Untersuchung
doch in den seltensten Fällen zur Erhebung einer Anklage ob des
vollbrachten Verbrechens der Notzucht (nach § 125 öst. St.G.). Vorsicht
ist in solchen Fällen immer am Platze, ja geradezu geboten, denn die
Anzeigen sind zumeist nichts anderes als ein mit Hintansetzung der
Gefahr, ob falscher gerichtlicher Aussage und Verleumdung belangt
zu werden, angewendetes Mittel um Eltern oder dem Ehegatten einen
Fehltritt zu verbergen und vorzuspiegeln, der Anzeigerin sei etwas
ab- bezw. aufgezwungen worden, was sie tatsächlich mit freier Gunst
gewährte. 1 )
Weiteres ist aber bei derlei Untersuchungen auch darauf Bedacht
zu nehmen, daß im Sprachgebrauche des Volkes der Ausdruck „Not¬
zucht“ einen weiteren Umfang hat, als der gesetzliche Begriff und
dort vielfach auch zur Bezeichnung eines Vorganges dient, der mit
schamhaftem Sträuben gegen eine im Grunde genommen nicht
unliebsame Umarmung beginnt und einer nicht unfreiwilligen Hin¬
gabe endet.
Eingehende Erhebung über die Beziehungen beider Teile vor
und nach der Tat werden in den meisten Fällen genügende Auf¬
klärung geben, um einen Mißgriff zu vermeiden und auch bei Anzeige
wegen eines Notzuchtsversuches den Täter dann vor einer Anklage
zu bewahren, wenn er tatsächliche Anhaltspunkte zur Annahme hatte,
daß das angebliche Opfer des Attentates seinen wenn auch stürmischen
Werbungen nicht abhold gewesen sei.
Beischlafshandlungen an Taubstummen, ja auch an Kretinen sind
nicht so selten, als man glauben sollte. Die Heftigkeit des Gescblechts-
1) Vergl. H. Groß, Hdb. f. Ü.R., 5. Aufl. Bd. I p. 28.
IS*
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XIII. R. Ehmer
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triebes, mitunter auch die Erwägung, daß die Mißbrauchte über die
Tat und den Täter keine Auskunft geben kann und letzterer derart
vor den zivilrechtlichen Folgen der Befriedigung seiner Lust bewahrt
bleibt, lassen über die Körpergebrechen des Opfers hinwegseheD,
besonders wenn Alkoholgenuß das ohnehin gering entwickelte ästhe¬
tische Empfinden betäubt bat und die Kretinen, die dem Geschlechts-
genusse zumeist nicht abgeneigt sind, mit freundlichem Grinsen alles
über sich ergehen lassen.
Auch die Behauptung, im Schlafe überfallen, somit im Zustande
der Wehr- und Bewußtlosigkeit mißbraucht worden zu sein, taucht
immer wieder einmal auf, findet aber, wenn Beginn des Geschlechts¬
aktes während des Schlafes und Erwachen erst während des Bei¬
schlafes behauptet wird, bei den Sachverständigen keinen Glauben
und wird wohl mit Recht in die Kategorie der obenerwähnten
Deckungsmanöver verwiesen.
1. Irrtum in der Person.
Ein Irrtum in der Person des Mannes, der ihr naht, ist aber
bei dem im Schlafe befangenem Weibe nicht ausgeschlossen, wie
folgender Straffall zeigt, der hier mitgeteilt wird, wenn schon er
außerhalb des Rahmens der Erörterungen liegt.
Der Holzknecht A kam nach mehrwöchentlicher Abwesenheit im
Holzschlage zu Tal, traf mit seiner Liebe, der Magd Kathel zusammen,
besprach mit ihr, sie nachts zu besuchen, mußte aber dringender
Geschäfte wegen, ohne sie hiervon verständigen zu können, wieder
in seinen Schlag zurückkehren.
Der Holzknecht B, der schon lange ein Auge auf die Kathel
geworfen hatte, um sie aber nicht zu werben wagte, weil A ihm an
Kräften überlegen war, erfuhr hiervon, machte sich die Gelegenheit
zu nutze, schlich zu nachtschlafender Zeit zur Kathel in den Stall,
beantwortete ihre Frage, Hansel, bists du, wahrheitsgemäß, weil er
auch diesen Taufnamen führte, — aber vorsichtshalber im Flüstertöne
mit ja, und vergnügte sich, den Flüsterton beibehaltend, mit der Kathel,
die er vor Eintritt der Dämmerung wieder verließ.
Der Holzknecht war wenig erfreut, als er nach einigen Wochen
von der Kathel, die er bishin nicht wieder gesehen hatte, mit der
Nachricht überrascht wurde, daß sie von ihm in guter Hoffnung sei,
— er entzweite sich mit ihr und zog in eine andere Gegend, wurde
aber dann, als Kathel eines Knaben genaß, vom Vormunde desselben
auf Anerkennung der Vaterschaft belangt. Er leugnete, die Kathel
schwor als Zeugin, daß A ihr in der kritischen Zeit besonders in der
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Beiträge zum Kapitel über sexuale Verirrungen.
26 »
fraglichen Nacht beigewohnt habe, in der nach der Entwicklung des
Kindes und da sie seither nicht mehr menstruiert hat, wohl zweifellos
die Zeugung des Kindes vor sich ging. A wurde dem Klagebegehren
gemäß verurteilt; dies ging ihm doch über die Hutschnur, er raffte
sich aus seiner Gleichgültigkeit auf, zeigte die glückliche Mutter ob
falscher Aussage vor Gericht an und bewies, daß er ihr in der be¬
sprochenen Nacht nicht beigewohnt haben könne, da er so zeitig
schon wieder im Holzschlage war, daß er zur Nachtzeit unmöglich
noch im Dorfe gewesen sein konnte. — Die Kathel kam dadurch in
eine üble Lage, eine Anklage und Verurteilung ob Betruges durch
falsche Aussage schien gewiß. Da regte sich in B, der der Ent¬
wicklung der Dinge bishin ruhig zugesehen hatte, doch das Gewissen
und er erlöste die Bedrängte durch das Zugeständnis, daß er die Bolle
des A gespielt habe.
2 . Zum Kapitel der Schändung.
Am Abende des 1. Juni... schickte Frau X ihre im 10. Lebens¬
jahre stehende Tochter Fanny zum Kleinkrämer H. (32 Jahre alt,
in M. in Ungarn geboren, kath., verehelicht, unbescholten), um einen
Einkauf zu besorgen.
Die Kleine kam bald darauf in großer Erregung zurück und
erklärte weinend ihrer Mutter: zu dem Manne gehe ich nicht mehr,
der hat mir den ganzen Mund ausgeschleckt. Nachdem das Mädchen r
das starken Brechreiz zeigte, sich etwas beruhigt hatte, schilderte e&
den Vorfall in seinen Einzelheiten seiner Mutter, die hierauf die An¬
zeige erstattete.
Als Zeugin vernommen gab das als sittlich und wahrhaft ge¬
schilderte Mädchen, wie schon früher, ihrer Mutter an:
Ich wurde am 1. Juni abends zu H. geschickt, um Bohnen ein¬
zukaufen. H. gab mir die Bohnen, — er stand hinter der Budel (Ge¬
schäftstisch), ich vor derselben. Bevor er mir auf das Geld herausgab,
griff er mit beiden Händen über die Budel, hielt mich an den
Schultern fest und schleckte mit seiner Zunge mein Gesicht ab, so
daß ich ganz feucht wurde, dann fuhr er mir mit der Zunge auch
in den Mund; obwohl ich meinen Mund geschlossen hielt, zwängte
er seine Zunge zwischen meinen Lippen durch. Ich wehrte mich,
so gut ich konnte, doch hielt er mich fest. — Dann griff er mir
auch zwischen meine Füße, er hob jedoch dabei die Röcke nicht in
die Höhe, sondern drückte sie an meinen Leib.
Der Beschuldigte bestreitet das Abschlecken des Gesichtes, gibt
aber zu, das Mädchen geküßt und ihr ein sogen. „Zungenbussel“
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XIII. R. Ehmer
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gegeben zu haben, wobei seine Zunge die des Mädchens berührt
habe; auch gestand er, mit der Hand zum Bauch des Kindes ge¬
griffen zu haben. Dies alles will er im Zustande leichter Anheiterung
und nur aus Übermut getan haben, ohne geschlechtlich erregt gewesen
zu sein und nicht in der Absicht, seinen Geschlechtstrieb zu befriedigen.
Da aber nach der Sachlage und im Hinblicke auf die über die Be¬
deutung des Zungenkusses erstattete Äußerung der Gerichtsärzte nicht
daran zu zweifeln war, daß ein grober geschlechtlicher Mißbrauch
des Mädchens vorlag, dessen Leib von H. widerrechtlich zur Be¬
friedigung seiner Lüste in Anspruch genommen worden ist, wurde
gegen ihn Anklage ob des Verbrechens der Schändung nach § 128
österr. St.G. erhoben, er dieser Tat auch schuldig gesprochen und
zu 4 Monaten schweren durch einen Fasttag und 1 hartes Lager
monatlich ergänzten und verschärften Kerker verurteilt.
Die Urteilsgründe nehmen den erzählten Sachverhalt als erwiesen
an und beziehen sich auf das gerichtsärztliche Gutachten, aus dem
folgendes hervorgehoben werden möge.
Die Erfahrung und wissenschaftliche Beobachtung lehrt, daß
allzuheiße Küsse kaum einer Leidenschaft entbehren; werden Kinder
von fremden Leuten, besonders an ungewöhnlichen Körperstellen
oder gar in widernatürlicher Weise geküßt, so bildet sicher eine
sexuelle Betätigung den Beweggrund dazu. Solche Küsse sind selbst
bei Kindern nicht ohne Wirkung. Schon bei Säuglingen regt sich
die Natur, und Kinder, die man doch nur als unbewußte Wesen
ansehen kann, verstehen es schon, wie Katzen zu schmeicheln und
sich durch Küsse in eine wollüstige Stimmung zu versetzen.
Man kann nicht genug darüber staunen, wie früh durch Küsse
der sexuelle Trieb geweckt wird.
Küßt ein Mann ein fremdes Kind gewaltsam und in exzessiver
Weise, dann kann die treibende Sinnenlust wohl nicht geleugnet
werden; kommt überdies die Zunge dabei in Tätigkeit, zumal durch
Eindrängen in den Mund des mißbrauchten Opfers, so ist die be¬
absichtigte Befriedigung der Lust wohl nicht mehr zweifelhaft, da
bekanntlich der Kontakt der Zungen außerordentlich erregend wirkt.
Selbstredend ist unter Befriedigung nicht die ejakulatorische
Stillung des Geschlechtstriebes zu verstehen, — schon die gewollte
Anfachung der Wollust fällt unter obigen Begriff.
3. Unzucht mit Tieren — Bestialität (§ 129a österr. St.G.).
Die nicht zahlreichen Fälle dieses Deliktes, die in Mittelsteiermark
zur Kenntnis der Behörden kommen, etwa 5—6 jährlich, zeigen so
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Beiträge zum Kapitel über sexuale Verirrungen.
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ziemlich alle denselben Typus. Halbwüchsige Jungen, die von ihren
Kameraden, hauptsächlich aber älteren Knechten sexuell aufgeklärt
worden sind, aber nicht den Mut oder die Gelegenheit finden, sich
dem anderen Geschlechte zu nähern, unterliegen dem immer stärker
auftretenden, durch aufreizende Erzählungen anderer oder die eigene
ausschweifende Phantasie aufgestacbeiten Geschlechtstriebe und machen
sich fast immer an eine „Kalbin“ (1—2jähriges weibliches Kind)
heran, der sie sich mit Hilfe eines Melkstuhles a posteriori nähern.
Ganz ausnahmsweise werden junge Stuten mißbraucht
Abweichungen von dieser Regel kamen mir in meiner langjährigen
Praxis nur zweimal vor.
In einem Falle, der deutlich sadistischen Einschlag zeigt, benützte
•der Täter eine Henne, nachdem er sie auch an Körperstellen, an
denen die Federn seinem Beginnen nicht hinderlich waren, zum Teile
gerupft und deren Kloake er aufgeschnitten hat. Er leugnete zwar,
doch waren, wie die Blutuntersuchung nachwies, seine Kleider und
seine Unterwäsche in der Nähe der Geschlechtsteile mit Hühnerblut
befleckt; ferner fanden sich an diesen Partien Partikelchen von
Hühnerfedern; diesen Beweisen gegenüber schritt er zu einem Ge¬
ständnisse.
Der zweite Fall entbehrt nicht einer gewissen Komik. Ein älterer
verwitweter Bauer, der sich mit seiner ihm sonst in allem zu Diensten
stehenden Wirtschafterin entzweit hatte, wurde von dieser dabei er¬
tappt, wie er sich mit einer jüngeren Sau vergnügte. Die Wirt¬
schafterin, deren sittliche Empörung mit etwas Eifersucht gemischt
gewesen zu sein scheint, zeigte ihn an, — er gestand seine Schandtat
offen zu und brachte zu seiner Entschuldigung vor: „Die Sau sei ihm
immer nachgegangen und habe ihn so gewiß angeschaut, so daß er
nicht anders konnte, als ihr den Willen zu tun“.
Tatsächlich dürfte aber medizinischer Volksaberglaube der sonst
schier unbegreiflichen Tat zugrunde gelegen sein. Gewisse Krank¬
heiten der Geschlechtsorgane sollen bekanntlich nach diesem Aber¬
glauben durch geschlechtliche Vereinigung mit einer reinen Jungfrau
geheilt werden können; da dem Bauer eine solche unzugänglich war,
machte er sich an seine bishin noch nicht belegte Sau heran. Näheres
war aber darüber aus dem Manne nicht herauszubringen.
4. Blutschande.
Fälle von Blutschande ereignen sich zu meist auf dem Lande und da
wieder vornehmlich an der Sprachgrenze. Als Täter erscheinen ge¬
wöhnlich verwitwete Keuschler, die zu keiner zweiten Ehe schritten,
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XIII. E. Ehmer
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mit heranwacbsenden Töchtern zusammen leben und wirtschaften
und den Weg in deren Schlafkammer finden. Ihre Schandtat kommt
fast regelmäßig dann ans Tageslicht, wenn sich Nachkommenschaft
einstellt und der Vormund im Vereine mit dem Gerichte nach dem
außerehelichen Vater forscht.
£in entgegengesetzter Fall legt Zeugnis davon ab, daß Mutterliebe
auch das Schamgefühl besiegen kann.
Eine ältere Witwe hauste mit ihrem irrsinnigen Sohne allein in
der Einsamkeit, in die sie sich zurückgezogen hatte, da der Kranke
sich in der Irrenanstalt unglücklich fühlte und unter Menschen nicht
zu halten war. Da ihrer Meinung nach seine Erregungszustände
infolge geschlechtlicher Abstinenz an Dauer und Intensität Zunahmen,
gab sie sich ihm hin. Die Sache wurde erst ruchbar, als der Irre
in einem Tobsuchtsanfalle seine Mutter erschlagen hatte.
5. Verführung zur Unzucht (§ 132).
Eine bejahrte Ehefrau merkte, daß die Neigung ihres bedeutend
jüngeren Gatten zu ihr im Schwinden sei; um ihren Einfluß auf ihn
nicht zu verlieren, ihn von Seitensprüngen abzubalten und zu ver¬
hindern, daß er anderweitig auf Kosten des sonst dem Haushalte
zufließenden Einkommens Ersatz suche, wußte sie arme Leute zu
überreden, ihr ihr 13 jähriges, aber über sein Alter hinaus entwickeltes
Mädchen zur Verrichtung leichterer Dienste gegen billiges Entgelt zu
überlassen.
Dieses Kind verdarb sie in den Grund hinein, untergrub dessen
Moral und führte es ihrem Gatten zu, wodurch sie fürs erste aller¬
dings ihre Absicht erreichte, dann aber sich ob Kuppelei und Mit¬
schuld an dem Verbrechen der Notzucht, und ihrem Gatten ob des
letzteren Verbrechens wohlverdiente schwere Strafe zuzog. Und doch
ist mit diesem Falle der Gipfel der Verworfenheit eines Weibes nicht
erreicht, wie folgender Fall zeigt:
Die 44jährige Wäscherin Marie F. lebte mit ihren drei außer¬
ehelichen Kindern, darunter dem 17jährigen Franz, der 13jährigen
Johanna und einem 7jährigen Knaben zusammen im gemeinsamen
Haushalte mit dem Vater dieser Kinder, dem 54jährigen Georg H.;
sie bewohnten ein Zimmer, das allen als Schlafgemach diente und
eine Küche, die Marie F. auch zur Ausübung ihres Gewerbes be¬
nutzte. Sie besorgte auch für den 30jährigen Fleischergehilfen Johann
W. die Wäsche, kam infolgedessen mit ihm öfters zusammen und
fand solchen Gefallen an ihm, daß sie trachtete, mit ihm in nähere
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Beiträge zum Kapitel über sexuale Verirrungen.
267
Beziehungen zu treten. Die Ausführung ihres Wunsches, mit ihm
einen gemeinsamen Haushalt zu führen, scheiterte am Widerstande
ihrer Kinder und ihres bisherigen Zuhälters, der auch auf ihren Vor¬
schlag nicht einging, ihr allwöchentlich einmal geschlechtlichen Ver¬
kehr mit W. zu gestatten.
Nun bediente sie sich ihrer 13jährigen Tochter, um den W. ins
Haus zu bringen, hoffend, daß auf diese Weise auch sie mit ihm in
intimen Verkehr treten könnte; sie schilderte dem frühreifen und
trotz seiner Unmündigkeit stark entwickelten Mädchen die Wonnen
fleischlichen Umganges, machte es hierdurch lüstern und wußte in
ihm eine Neigung zu W. zu entfachen, dem sie wieder unter Ver¬
schweigen des Alters ihrer Tochter von deren glühender Sehnsucht
nach ihm erzählte und es so zustande brachte, daß W., der anfänglich
dem Mädchen wenig Beachtung schenkte, sich nun um dieses zu be¬
kümmern begann. Sie lud ihn wiederholt in ihre Wohnung ein und
holte ihn selbst aus Gasthäusern ab. So geschah es auch am 26. De¬
zember ... 11 Uhr nachts. W. war ziemlich angeheitert, wurde von
der Marie F. in die Wohnung gebracht, sie führte ihn direkt zu ihrer
Tochter, die bereits zu Bette lag, half ihm sich halb entkleiden, wor¬
auf er sich vor den Augen der Mutter ins Bett der Tochter legte.
Marie F. verlöschte die Lampe und verließ das Zimmer. W. brachte,
während die Eltern des Mädchens in der Küche arbeiteten, die ganze
Nacht im Bette der Tochter zu und vollzog mit ihr, die bishin noch
mit einem Manne nicht verkehrt hatte, den Beischlaf. Dies wieder¬
holte sich am 31. Dezember, wo sich W. wieder vor den Augen der
Mutter entkleidete und ins Bett der Tochter legte.
Nachher erfuhr W. zufällig, daß die junge F. noch unmündig
sei und die Schule besuche, — er wollte deshalb sofort den Verkehr
mit ihr abbrechen, Marie F. sen. zerstreute aber seine Bedenken, wies
auf die Entwicklung ihrer Tochter hin, erzählte, was natürlich erlogen
war, daß ein Arzt für das Mädchen den Geschlechtsverkehr für not¬
wendig erklärt habe, da es sonst krank würde usw., so daß sich W.
zur Fortsetzung des Verhältnisses entschloß, an dem nun auch das
Opfer mütterlicher Liederlichkeit und Männertollheit Gefallen fand.
Gelegentlich suchte Marie F. sen. den Platz ihrer Tochter einzunehmen,
bevor sie aber ihr Ziel erreichte, sprach sich die Sache herum. Die
schamlose Mutter wurde samt W. gefänglich eingezogen, letzterer zu
3 Jahren, M. F. ob Kuppelei und Beihilfe zum Verbrechen der
Notzucht an einer Unmündigen zu 5 Jahren schweren Kerkers ver¬
urteilt. —
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Xill. R. Eiimer
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6. „Notzucht“ an einem Manne.
Karl Z., der passive Held des zu schildernden Straffalles, war
1879 in einem slowenischen Dorfe geboren, verlor bald seine Eltern,
war infolgedessen schon in der Kindheit auf sich selbst gestellt, genoß
nur spärlichen Schulunterricht und brachte sich als Knecht schlecht
und recht fort.
Seit 1905 diente er in S. einem Weiler in Mittelsteiermark nahe
der Sprachgrenze gegen Süden zu, wird von seinen Dienstgebern als
redlicher und fleißiger Arbeiter geschildert, doch hatte er wenig Um¬
gang mit seinesgleichen; des Deutschen wenig mächtig, Mitglied eines
katholischen Jünglingsvereines, etwas einfältigen Charakters, doch
körperlich wohlgebildet, ging er dem anderen Geschlechte soviel als
möglich aus dem Wege und war deshalb bald die Zielscheibe des
Spottes der jungen Leute und der Nachbarschaft. Da er den
Lockungen loser Mädchen kein Gehör schenkte, wurde gegen ihn ein
Streich geplant, der zur Ausführung kam, als im Weiler ein wandernder
Schleifer mit seiner 19jährigen Zuhälterin sich auf einige Tage niederge¬
lassen hatte, die die ihr zugedachte Rolle ohne vieles Sträuben übernahm.
Die gutmütige Bereitwilligkeit des Z., überall zu Diensten zu
stehen, wo man deren bedurfte, erleichterte die Ausführung. Er
wurde von den Söhnen des Nachbars T. eines Abends eingeladen,
sich im Pferdestalle mit seiner Klarinette einzufinden, um ihnen etwas
vorzuspielen. Er leistete willig Folge, fand aber zu seinem Mißbehagen
im Stalle außer den Nachbarssöhnen, Rudolf T. (30 Jahre alt) und
Franz K. (22 Jahre) und dem Schleifer Franz B. auch noch die 23jäh¬
rige Josefa T., die 18 jährige Aloisia T. und die 19jährige Philomena
K., die Zuhälterin des Schleifers. — Seine Versuche, sich zurück¬
zuziehen, waren vergeblich, so blieb er denn und spielte den Leuten
etwas vor. Das Weitere spielte sich nach seinen Angaben folgender¬
maßen ab:
„Rudolf T. redete der Schleiferin vor, daß ich mir viel Geld
verdient und erspart habe und deshalb zu heiraten wäre; die Schlei¬
ferin rückte dann zu mir herzu und sagte, daß sie mich möchte.
Ich aber ging von ihr weg und sagte, daß ich kein Frauenzimmer
möchte; ich bin nämlich beim Jünglingsvereine. Ich wollte dann
zur Tür hinaus, Josefa T. vertrat mir aber den Weg und hielt mich
fest, dann rief sie die anderen alle herbei. Es kamen sodann alle im
Stalle Anwesenden herzu, auch der Schleifer und die Schleiferin.
Während mich einige festhielten, zog mir Josefa T. die Stiefel, die
Hose, den Rock, das „Leibi“ und schließlich auch das Hemd aus, so
daß ich ganz nackt dastand. Ich wehrte mich, schrie und weinte,
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Beiträge zum Kapitel über sexuale Verirrungen.
269
— es half alles nichts, — ich wurde überwältigt, ich fiel dabei auf
den Boden nieder, dann hoben mich die Leute auf.
Die Schleiferin legte sich unterdessen auf ein Strohlager auf
dem Boden und schob die Röcke bis über die Mitte hinauf, so daß
ihr Unterleib ganz entblößt war. Dann sagte sie „jetzt bringt ihn her.“
„Josefa T. riß unterdessen an meinem Gliede herum, bis es steif
wurde; dann legten sie mich auf die Schleiferin, spreizten meine
Arme auseinander, knieten sich auf mich und hielten meine Füße
fest, so daß ich mich nicht rühren konnte. Dann „leitete“ Josefa T.
mein Glied in die Scheide der Schleiferin. Sie umschlang mich mit
den Armen und mit einem Beine; die anderen drückten heftig auf
mein Gesäß, während die Schleiferin sich wiegend bewegte. Es er¬
folgte nach einiger Zeit ein Samenerguß, worauf die Schleiferin sagte:
„jetzt hab ichs schon drinnen, — weglassen, es hat mir wohl getan,
es ist lustig gewesen“ — dann wurde ich erst freigelassen; man gab
mir meine Kleider, zog mich an und warf mich aus dem Stalle, wobei
mir Rudolf T. erklärte, ich dürfe nichts aussagen, sonst würde ich ge-,
schlagen, — es sei nichts daran, der Pfarrer tue mit der Köchin ebenso.“
Die Beteiligten leugneten zuerst alles ab und gaben nur im
Laufe der Voruntersuchung Einzelheiten zu; Rudolf T., daß er dem
Z. den Rock über den Kopf gezogen, Josefa und Aloisia T. ihm das
Hemd rückwärts aus der Hose gerissen und den Hosenbund ge¬
lockert zu haben, Franz K. will nur das „Hosentürl“ des Z. geöffnet
haben, wobei der Schleifer zugestandenermaßen insofern behilflich
war, als er den Z. währenddessen an den Füßen festhielt. Der
Schleifer gestand auch zu, daß Franz K. und Rudolf T. den Z. zur
Philomena K., die auf einem Strohlager auf dem Boden lag, hin¬
getragen, und daß Aloisia T. dem Z. zugeredet habe, bei der Philo¬
mena zu schlafen, was dieser unter dem Hinweis auf seine Zugehörig¬
keit zum Jünglingsvereine und mit dem Bedeuten, er möge kein
Frauenzimmer, abgelehnt habe.
Die Behauptungen des Opfers dieses Unzuchtaktes wurden aber
wesentlich unterstützt durch die Angaben des 13jährigen August K.
und der 9jährigen Pauline W., Ziehkinder der Besitzer des Gehöftes,
die beim Erscheinen des Z. im Stalle anwesend waren und von den
Leuten bezeichnenderweise während der häßlichen Szene dort belassen
worden sind. Ersterer bestätigt insbesondere, daß Z. von Rudolf und
Aloisia T. und Heinrich K. festgehalten und von Josefa T. ausge¬
zogen, sohin von den 3 Geschwistern T. und Heinrich K. zu der
entblößt auf dem Lager liegenden Schleiferin hingezerrt wurde.
Pauline W. bestätigt außerdem, daß die Genannten den Z. auf die
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XIII. R. Ehmkr
Schleiferin daraufgelegt und ihn dort längere Zeit festgehalten haben,
während er sich vergeblich wehrte und wiederholt ausrief: „ich will nicht“.
Das österreichische Strafgesetz bestraft nur den an einer Frauens¬
person wider deren Willen gewaltsam vollführten Beischlaf als Ver¬
brechen, es konnte die Tat von dem Gesichtspunkte der Unzucht
aus nur als Übertretung des § 516 St.G. behandelt werden, dies aber
mit Grund, da der Vorgang sich mit Rücksicht auf die Anwesenheit
von Kindern als eine gröbliche und öffentliches Ärgernis verursachende
Verletzung der Sittlichkeit und Schamhaftigkeit darstellt.
Außerdem konnte die „Gewaltanwendung“ gegen Z. entweder
vom Gesichtspunkte der Erpressung (§ 98a) oder dem der Freiheits¬
beschränkung (§ 93 St.G.) aus der Ahndung zugeführt werden.
Nun straft § 98 a St.G. allerdings den ob Verbrechens der öffent¬
lichen Gewalttätigkeit mit Kerker von 6 Monaten bis zu einem Jahre,
bei erschwerenden Umständen, insbesondere wenn durch die zugefügte
Gewalt der Mißhandelte durch längere Zeit in einen qualvollen Zu¬
stand versetzt worden ist, mit schwerem Kerker von 1—5 Jahren,
der einer Person wirklich Gewalt antut, um sie zu einer Leistung,
Duldung oder Unterlassung zu zwingen. Das Wesen der Erpressung
liegt aber nicht schon in der Verletzung der persönlichen Freiheit,
sondern in der mittels dieser Verletzung angestrebten Schädigung
eines dem Verletzten zustehenden konkreten Rechtes, dem eine privat¬
rechtliche Bedeutung zukommt.
Ein konkretes Recht, jemandem seine Neigung zu schenken usw.
besteht als solches nicht, es ist ein Ausfluß persönlicher Freiheit, —
und war es daher angemessen, die Tat der Bestimmung des § 93
St.G. zu unterstellen, die den trifft, der jemanden eigenmächig ver¬
schlossen hält oder auf was immer für eine Art an dem Gebrauche
seiner persönlichen Freiheit hindert. Die Anwendung dieser Gesetzes¬
stelle entspricht auch den Maximen der Praxis, die gewaltsame Ent¬
blößung und Betastung einer nicht im § 128 St.G. genannten Frauens¬
person als unbefugte Einschränkung persönlicher Freiheit straft und
auf einen durch Freiheitsentziehung qualifizierten Notzuchtsversuch
(§ 125), wenn dieser als solcher wegen freiwilligen Rücktritt des Täters
von der Vollbringung der Tat nicht bestraft werden kann, die Be¬
stimmung des § 93 St.G. anwendet. —
Sämtliche Angeklagten wurden auch nach dieser Gesetzesstelle
in Konkurrenz mit § 516 St.G. schuldig gesprochen und zu schweren
Kerkerstrafen zwischen 4 und 6 Monaten verurteilt.
Wenn dieser Fall auch kein Unikum darstellt, so dürfte Ähnliches
doch sicher selten genug Vorkommen. —
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XIV.
Orientalische Strafrechtsstudien.
Von
Dr. Ladislaus v. Thöt, Advokat,
Mitglied der kön. spanischen und griechischen Akademien, und des Rats der „SocietA
Internazionale degP Intellettuali a Roma“, Honorar-Präsident der „Alliance Scientifique
Universelle de Paris“, Honorar-Professor der Universität von La Plata, Mitglied des
„Instituto da Ordern dos Advogados de Brezil u , etc.
i.
Die Reform des russischen Strafrechts im XVII. Jahrhundert.')
1. Einleitung.
I. Die erste Periode der Geschichte des russischen Strafrechts
umfaßt die ersten Erinnerungen an das Staatsleben, vorerst die Ver¬
träge der Großfürsten Oleg (911) und Micislaw Dawidovicz mit
den Griechen, welche auch einige Strafbestimmungen enthalten.
Solche finden wir im Olegschen Vertrage hinsichtlich des
Totschlags, des Diebstahls und der Realinjurien.
Die Tötung bestrafte man mit dem Tode; der nächste Verwandte
des Getöteten rächte ihn und, wenn der Verbrecher durch Flucht sich
davor gerettet hatte, so nahm man ihm sein Vermögen, der Frau des
1) Quellen: KoToinuxuHi): „0 Pocciu bt> i^apcTBOBame AaencTH Maxau-
•JOBuua u , 1884. — „Airrbi MoCKOBCKaro rocy^apCTBa“, 1890—1901. — B'feaneB'b:
„Aen^iu no iiCTopiu pyccKaro 3anoHo4aTe.ibCTBa tt . Mockbo, 1888. — B.ta^nMipcKia-
By.j.aHOB'b: „ 063 opi> ucTopin PyccKnro npaßa“, 1900. — Derselbe: „XpiiaroMaTiH
no ncTopia pyccnaro npaea“, 1887—1899. — ^eöo.i bc k i u : „rpa3KAatjcnafl flfiec-
uonocoÖHOCTb no PyccnoMy npaßy 40 KOHi^axrn“, 1903. — ^amTum»: „CTarbu no
ncTopin pyccnaro npaßa u , 1896. — 3arocKnm>: „Hayna HCTopin pyccKaro npaBa“,
1891. — via h re: „,4p eBHoe pyccKoe yro.ioBHoe cy4onpon3B u , 1884. — •leoHTbeß'b
„KoHcneKTb no ncTopin PyccKaro upaßa“, 1903. — IIoö^aohoci^cbi» : „HcTopuno-
jopLuuqecKie aKTbi nepexo^nou 3 iioxh XVII—XVIII., 1887. — PoraaeBH:
„KoHCneKTb no ncTopin pyccnaro npaBa“, 1900. — Ca mokbsicoB it: „H 3 <M'fc 40 Banifl
no ucTopiu pyccnaro npaßa“. Mocnea, 1896. — Derselbe: „UcTopin pyccnaro
npaßa tt , 1878. — B. K. <I>. „KoHCnenTb no ncTopin pyccnaro npaßa tt , 1904. — Xut-
poßo: „ 3 anoH 04 aTe.ibHbie naM/iTHUKii XVI u. XVII CToa^Tin“. Mocnßa, 1905. —
Auüerdem findet man sehr wertvolle Angaben im ausgezeichneten Werke von Pusto-
roslew: „Pyccnoe yroaoBiioe upaßa“, lOpbeB'b, 1908.
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272
XIV. Ladislaus v. Tiiot
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Totschlägers jedoch ließ man soviel, als das Gesetz vorschrieb; heute
würden wir sagen: das Existenzminimum.
Wenn der Verbrecher kein Vermögen hatte, und wenn er ent¬
flohen war, so hielt man die Frau gefangen. —
Wer heimlich stahl, sollte nm das Dreifache gestraft werden.
Eine schwere Geldstrafe legte man auf den, welcher eine Real¬
injurie beging; außerdem befahl man ihm noch, die Kleider herzu¬
geben, wenn er nichts anderes hat, um sie zu bezahlen; zudem mußte
er schwören, daß er nicht bezahlen könne, und daß er niemanden
habe, der ihm in dieser Not ausbelfe.
Der Vertrag von Dawidowicz erwähnt die einzelnen Glieder,
die beschädigt werden können, und waren für jede Verletzung (Auge,
Hand, Fuß, Gelenke der Glieder, Zahn) besondere Strafen vorge¬
schrieben.
Der Vertrag machte einen Unterschied, ob Blut aus der Wunde
floß, oder bloß ein Wundenmal sich zeigte; man berücksichtigte aber
nicht, ob eine Person höheren oder niederen Standes verletzt worden
war. Eine Ausnahme hiervon macht die einem Geistlichen zugefügte
Wunde, denn für eine solche wurde doppelt gezahlt.
Der auf der Tat ergriffene Dieb mußte „auf der Gnade des
Großfürsten stehen“, d. h. man konnte mit ihm machen, was man
wollte.
Der Mann, welcher bei seiner Frau einen fremden Ehebrecher
antraf, konnte eine große Geldstrafe erheben, nämlich zehn Marken.
II. Wladimir der Große hat ein kleines Strafgesetz erlassen,
in welchem er den größten Teil der Bestrafung der Verbrechen den
kirchlichen Behörden überließ. Das Grundprinzip dieses Gesetzes
war die Wiedervergeltung (talio). Die für den Raub und den Dieb¬
stahl bestimmten Strafen waren sehr mild, da nur Geldstrafen am
gedroht waren.
III. Die erste und wichtigste Quelle des alten russischen Rechts
war: die Pyccnaia Ilpau^a des Großfürsten Jaroslaw des Großen (1019
bis 1054). Sie war ursprünglich das Stadtrecht von Nowgorod und
wurde erst später ein ProvinzialrechU)
Die Pyccnaia Ilpat^a enthielt ein systematisches Strafgesetzbuch.
Ihr Grundgedanke war die Komposition. So sehen wir, daß das
Gesetz auf die meisten Verbrechen erst eine Geldstrafe bestimmt
1) Dieses Gesetzbuch war durch Tatyscew in der Handschrift der „New-
gorodschen Jahrbücher“ im Jahre 1783 entdeckt worden. Es war — zum ersten
Mal — durch Schlötzer in Petersburg abgedruckt worden. Weitere Ausgaben
sind von Kieschtenin, Karamsin etc.
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Orientalische Strafrechtsstudien.
273
hatte. Nach dieser Prawda wurde eine Geldstrafe für die Tötung
oder eine einfache oder doppelte Wire bezahlt, wenn sich niemand
fand, der Blutrache übernehmen durfte.
Wer Gewalt mit Gewalt abwehrte, auch wenn er tötete, wurde
nicht mit dem Tode bestraft; aber wer tötete, ohne angegriffen zu
sein, beging eine Tötung.
Auch die Gemeinde bezahlte eine Geldstrafe für eine in ihrem
Bezirke verübte Tötung. Es hieß das Gesetz dzika wire und konnte
die Strafe auch in Baten bezahlt werden, um sie der Gemeinde zu
erleichtern. Es bezahlte diese Strafe entweder die Gemeinde allein,
oder mit dem Verbrecher zusammen, wenn dieser nach Begehung
der Tötung sich wirklich am Orte befand und aus Armut die Kopf¬
strafe nicht bezahlen konnte. Gleichwohl mußte derjenige, welcher
eine Geldstrafe bezahlen wollte, beweisen, daß er nicht absichtlich die
Tötung ausgeführt habe, im Streit oder in der Trunkenheit. Die
Gemeinde sollte, wenn sie wußte, daß der Verbrecher nicht bei
Sinnen sei, ihn vom Verbrechen abhalten, und wenn sie dies nicht
tat, so bezahlte sie mit ihm zusammen die Geldstrafe. Diese Rechts¬
wohltat hatte der Brandstifter von Scheunen und der Mörder nicht;
dem ersten nahm man das Vermögen, und wenn man daraus den
Schadenersatz geleistet hatte, so gab man das übrige dem fürstlichen
Schatz, der Verbrecher selbst aber wurde zur Leibeigenschaft ver¬
urteilt; der zweite wurde mit Frau und Kindern dem Großfürsten als
Leibeigener übergeben.
Jemandem an dem Barte zu zupfen, wurde mit zwölf Marken
gestraft, besonders dann, wenn sich eine Spur am Körper zeigte, und
man Zeugen dafür hatte.
Das Gesetz verordnete, daß man einen auf der Tat ergriffenen
Dieb, welcher sich nicht verteidigt, bei einer Strafe von zwölf Marken,
nicht töten dürfe, sondern ihn binden und an den fürstlichen Hof
einbringen solle. Wenn ein freigeborener Mensch einen Diebstahl
beging, so wurde er dem Großfürsten zur Bestrafung eingeliefert; ein
Zakup, welcher einen Diebstahl verübte, trat in den Stand der
Sklaven über und für einen Sklaven sollte sein Herr entweder be¬
zahlen, oder ihn demjenigen ausliefern, den er bestohlen hat, jedoch
nur ihn selbst, nicht mit Frau und Kindern, außer wenn sie auch an
dem Vergehen teilgenommen hatten.
Die Gemeinde haftete für den Dieb und mußte den Diebstahl
ersetzen, wenn der Bestohlene die Spuren des Diebes bis in das Dorf
verfolgte, ausgenommen, wenn die Spuren an einen öden Ort oder in ein
Wirtshaus führten, dann war die Gemeinde von dem Schadenersätze frei.
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XIV. Ladislaus v. Thöt
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Wer einen geflüchteten Sklaven, der sich gleichsam selbst auf
diese Weise dem Herrn gestohlen hatte, festnahm, erhielt den fünften
Teil seines Wertes znr Belohnung.
Die Dpan^a PyccKaia zählt auf, wie viel für jede Sache gezahlt
werden sollte. Insbesondere erwähnt das Gesetz: Hornvieh, Kleinvieh,
Getreide, und bestimmt besondere Strafen für dieses alles im Belauf
von */2 bis 12 Marken; ebenso viel befiehlt es auch dem Großfürsten
als Strafe zu bezahlen. Hiervon war eine Ausnahme in betreff des
Diebes, welcher Pferde und besonders fürstliche Pferde stahl: ein
solcher kam dafür in die Leibeigenschaft des Großfürsten.
Zu den Schäden zählte die IlpaB^a PyccKaia teils das Heu, Holz,
Herden, teils erwähnt sie noch die Haustiere und wilden Tiere, welche
zur Jagd oder zur Wirtschaft tauglich sind, teils erwähnt sie die
Werkzeuge zur Fischerei, zum Vogelfang und Ackerbau, und befiehlt
eine Strafe wegen ihrer Beschädigung, dem Großfürsten und dem
Beschädigten zu zahlen. Eine besonders hohe Geldstrafe verordnet
sie für die Tötung oder Verwundung eines Pferdes, wie auch für
den Fang eines Bibers. Die Gemeinde zahlte auch eine Strafe gerade
wie für die Tötung usw., wenn es sich zeigte, daß eines ihrer Mit¬
glieder den Schaden zugefügt hatte.
IV. Der Sohn Jaroslaws, Isiaslaw, hat auch einige strafrecht¬
liche Bestimmungen erlassen.
Weitere Hauptquellen des alten russischen Rechts waren: das
rigaische Gesetz (1228), die strafrechtliche Verordnung des Gro߬
fürsten Wassili j 11.(1389—1424), die „y.i 03 Kenie aaKOHOBi“ Ivans III.,
die Strafgesetze von Ivan dem „Schrecklichen“ (1534—1584).
V. Dies war der Zustand der russischen Strafgesetzgebung bis
zur Regierung des Zaren Alexitsch Michailowitsch (1645 bis
1676), der im dritten Jahr seiner Regierung (1647) eine neue Gesetz¬
gebung unter dem Titel „coßopHa B.iociem>a“ erlassen hat
Dieses Gesetz enthielt sehr viele strafrechtliche Bestimmungen.
Die Hauptbestimmungen beziehen sich auf die Gotteslästerung,
Kirchenstörung, die Majestätsbeleidigung, die Unordnungen, die
Fälschung, den Straßenraub, den Diebstahl und den Totschlag.
a) Gotteslästerung und Kirchenstörung.
Wer Gott und seinen Sohn oder dessen Mutter, oder das Kreuz,
oder „die heiligen Lieblinge Gottes“ lästerte, sollte durch alle Mittel
aufs schärfste untersucht, und wenn er für schuldig erklärt worden
ist, am Leben gestraft und verbrannt werden.
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Orientalische Strafrechtsstadien.
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Wenn ein „unordentlicher“ Mensch zur Zeit, in welcher die Messe
gesungen wird, in die Kirche kam, und verhinderte, daß die Messe
vollführt werden könnte, so sollte er in Gewahrsam genommen, die
Sache untersucht und „ohne alle Gnade“ am Leben gestraft werden.
Sollte jemand während der Messe oder eines anderen Kirchen¬
gesanges in die Kirche kommen und dem Patriarchen, Metropoliten,
Erzbischöfe, Bischöfe, Archimandriten, Prioren oder einem anderen
Geistlichen eine Unanständigkeit sagen, wodurch der Kirchengesang
gestört wurde, so sollte ein solcher „unartiger Mensch“ davor öffent¬
lich auf dem Markte mit der Knute geschlagen werden.
Wenn jemand in die Kirche kam und einen andern erschlug
oder ermordete, so sollte er am Leben gestraft werden.
Verwundete er ihn nur und schlug ihn nicht tot, so sollte er
öffentlich auf dem Markte „ohne Barmherzigkeit“ mit der Knute ge¬
straft und auf einen Monat ins Gefängnis geworfen werden. Ferner
sollte er gehalten sein, dem Verwundeten für seine Wunden ein
doppeltes Sühnegeld zu bezahlen.
Wenn ein solcher „unartiger Mensch“ jemanden in der Kirche
schlug, aber nicht verwundete, so sollte er dafür mit taTorra ge¬
züchtigt werden und dem Beleidigten das gewöhnliche Sühnegeld
bezahlen.
Wenn aber einer in der Kirche jemanden mit Worten schimpfte,
und nicht schlug, so sollte er auf einen Monat ins Gefängnis gesetzt
werden und dem Beleidigten die gesetzlichen Sühnegelder erlegen,
„damit andere sich daran spiegeln, und keine Unordnung in der
Kirche anfangen mögen“ *).
ln der Kirche, und wenn die Kirchengesänge gesungen werden,
„soll niemand den Zar oder einen großen Herrn wegen einer Privat¬
angelegenheit treten und bitten, damit dadurch der Kirchengesang in
der Kirche nicht gestört werde“ 2 ).
Sollte aber jemand der Furcht Gottes vergessen, und den Zaren
oder den Patriarchen, oder auch einen anderen Prälaten in der Kirche
während des Gottesdienstes in einer Privatsache ansprechen, so sollte
ein solcher Mensch, solange als es der Zar befiehlt, ins Gefängnis
gelegt werden 3 ).
ß) Die Majestätsbeleidigung.
Erst der Zar Alexitsch Michailowitsch unterschied die Majestäts¬
beleidigungen von den gewöhnlichen Verbrechen und setzte besondere
1) Art. 7, Kap. I. 2) Art. 8. 3) Art. 9.
Archiv für Kriminalanthropologie. 84. Bd. 19
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XIV. Ladislaus v. Thöt
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Strafen darauf. Das Recht bezeichnete im allgemeinen die Majestäts¬
beleidigung durch r V&‘H> (Tat) und durch C.iobo (Wort), ersteres,
wenn man dem Monarchen nach dem Leben strebte, ihn in dem
Hofe des Herrschers erschlug oder verwundete, letzteres, wenn man
ihn mit Worten schmähte usw.
Wenn jemand gegen das Leben und die Gesundheit des Zaren
schlimme Anschläge gemacht hatte und solches von einem anderen
angezeigt, auch bei der Untersuchung wirklich befunden war, daß er
gegen den Zar böses im Sinne gehabt, so sollte er nach Untersuchung
der Sache am Leben gestraft werden 1 ).
Wenn jemand bei der Regierung des Zaren des Moskowitischen
Reichs sich bemächtigen, und selbst dessen Herr werden wollte, und
zu diesem Zweck Truppen warb, oder auch, wenn jemand sich mit
den Feinden des Zaren zusammentat, einen verbotenen Umgang mit
ihnen fortsetzte, und ihnen mit Rat und Tat an die Hand ging,
damit die Feinde des Zaren dadurch in den Stand gesetzt werden
möchten, sich des Moskowitischen Reiches zu bemächtigen, oder diesem
Schaden zu tun, er aber darüber durch jemanden verständigt und der
Verrat wirklich bei der Untersuchung dargetan wurde, so sollte der
Verräter am Leben gestraft werden 2 ).
Wenn jemand eine Stadt verräterischerweise dem Feinde des
Zaren übergab, oder auch fremde Truppen aus anderen Ländern
verräterischerweise in die Stadt des Zaren einließ, sollte er ebenso
am Leben gestraft werden 3 ).
Wenn jemand mit Vorsatz oder aus Verräterei eine Stadt oder
ein Haus anzündete, und darüber entweder gleich auf frischer Tat
oder auch nachher ergriffen und sein Verbrechen klar erwiesen wurde,
so sollte er ohne alle Barmherzigkeit verbrannt werden 4 ). Die Lehn-
und Erbgüter, wie auch die übrigen Güter des Verräters sollten zu¬
gunsten des Herrschers konfisziert werden 5 ). Wenn auch Weiber
und Kinder des Verräters um den Verrat gewußt hatten, sollten sie
gleichfalls am Leben gestraft werden 6 ).
Wenn aber eine Frau um ihres Mannes, oder die Kinder um
ihres Vaters Verräterei nichts gewußt, so sollen sie weder am Leben,
noch am Leibe gestraft, sondern ihnen vielmehr aus den konfiszierten
Lehn- und Erbgütern ein Gewisses zu ihrem Unterhalt, nach der
Gnade des Zaren, zurückgegeben werden 7 ).
Sollte auch ein Verräter Kinder haben, welche vorher schon, ehe
er noch untreu geworden, in ihren besonderen Häusern gelebt, und
1) Art. 1, Kap. II. 2) Art. 2. 3) Art. 3.
4) Art. 4. 5) Art. 5. 6) Art. 6. 7) Art. 7.
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Orientalische Strafrechtsstudien.
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von der Verräterei keine Kenntnis gehabt, auch ihre Habe und Erb¬
güter für sich besonders besessen hatten, so sollten ihnen selbige nicht
genommen werden ! ).
Wenn ein solcher Verräter in dem Moskowitischen Reiche noch
einen Vater, Mutter, leibliche oder Stiefbrüder, Vettern oder andere
Verwandte am Leben hatte, mit welchen er zusammen und bei un¬
geteilten Gütern gelebt hat, so sollte man mit allen Mitteln aufs
schärfste untersuchen, ob sein Vater, Mutter oder Verwandte um
solche Verräterei gewußt haben. Findet sich dann, daß sie davon
gewußt haben, so sollen auch diese am Leben gestraft und ihre
Lehn- und Erbgüter und andere Habe konfisziert werden 2 ). Findet
sich aber bei der Untersuchung, daß sie von der Verräterei keine
Kenntnis gehabt hatten, so sollten sie weder am Leben gestraft, noch
auch ihrer Lehn-, Erb- und anderer Güter beraubt werden 3 ).
Wenn ein Verräter, nachdem er sich in einem anderen Reiche
aufgehalten, in das Moskowitische zurückkam, und vom Zar Ver¬
zeihung seines Verbrechens erhielt, so mußte er sich neue Lehngüter
zu verdienen suchen, und stand es zwar im Belieben des Zaren,
was er ihm von seinen Erbgütern wieder zuwenden will, die vorigen
Lehngüter aber sollten ihm nicht wiedergegeben werden 4 ).
Wenn jemand einen andern wegen eines großen Verbrechens
gegen den Zaren angeklagt hatte, hierüber aber keine Zeugen stellen
oder es ihm sonst beweisen konnte, also kein Mittel vorhanden war,
um hinter die Sache zu kommen, so sollte nach Befinden verfahren
werden, wie es der Zar befahl 5 ).
Wofern aber Knechte oder Bauern ihre Herren einer gegen das
Leben des Zaren angestellten oder sonst vorhebenden Verräterei an¬
klagten und keinen Beweis aufbringen konnten, so sollte solcher
Anklage nicht geglaubt werden. Vielmehr sollte man sie scharf mit
der Knute strafen, und denen, deren Diener oder Bauern sie sind,
ausliefern, ja auch in anderen geringeren Sachen sollte dergleichen
Anklägern kein Glaube beigemessen werden 6 ).
Wenn jemand einen Verräter unterwegs einholt und erschlägt,
oder gefangen zum Zaren bringt, so soll der Verräter — so sagt das
Gesetz — am Leben gestraft werden; derjenige aber, der ihn einge¬
bracht, oder erschlagen hat, soll aus dessen Gütern ein Geschenk
erhalten '•).
Wenn jemand im Moskowitischen Reiche unter einigen Leuten
ein Murren, oder von einer Verschwörung, oder einem schlimmen
1) Art. 8. 2) Art 9. 3) Art. 10. 4) Art. 11. 5) Art. 12.
6) Art. 13. 7) Art. 15.
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Anschlag gegen den Zar hörte, so sollte er es dem Zar oder dessen
Bojaren und nächsten Bediensteten, und in den Städten den Woje-
woden melden 4 ).
Wenn aber jemand ein solches Murren, von einer Verschwörung
oder einem andern schlimmen Anschlag gegen den Zar unter einigen
Leuten hörte, und es nicht meldete, sollte am Leben gestraft werden 2 ).
y) Unordnungen.
Wenn jemand in Gegenwart des Zaren oder an dessen Hof einen
andern mit Worten beschimpfte, und der Beleidigte deshalb klagte,
so sollte der Verbrecher für die Verletzung der dem zarischen Hofe
gebührenden Ehrfurcht zwei Wochen lang im Gefängnis sitzen und
obendrein dem Beleidigten die gewöhnlichen Schimpfgelder bezahlen 3 ).
Wenn jemand im zarischen Hofe einen andern angriff und mit
der Hand schlug, so sollte man ihn auf der Stelle in Haft nehmen,
und ohne ihn daraus zu entlassen, die Sache untersuchen. Wenn
sie dann also befunden wurde, so sollte man den Täter wegen der
Verletzung der Ehre des zarischen Hofes einen Monat lang ins Ge¬
fängnis setzen und anhalten, dem Geschlagenen die gesetzlichen
Schimpfgelder zu bezahlen. Hätte er ihn aber bis aufs Blut geschlagen,
so sollte er ihm die Schimpfgelder doppelt zahlen, und für die Be¬
leidigung der dem zarischen Hofe schuldigen Ehrfurcht sechs Wochen
lang im Gefängnis sitzen 4 ).
Wenn jemand in Gegenwart des Zaren auf einen andern den
Säbel oder ein anderes Gewehr zog und ihn gleich niedermachte,
oder auch so verwundete, daß er daran sterben mußte,'-so sollte der
Mörder dafür am Leben gestraft und aus seinen Gütern des Ermordeten
Schulden bezahlt werden. Wenn aber der Verwundete auch davon
nicht gleich starb, so sollte dennoch der Täter mit Todesstrafe belegt
werden 5 ).
Wer in Gegenwart des Zaren eine Waffe gegen jemand zog,
dem sollte die Hand abgehauen werden, wenngleich er auch niemandem
getötet oder verwundet hatte 6 )
Wenn jemand im zarischen Hofe und nicht in Gegenwart des
Zaren die Waffe gegen einen andern zog, ihn aber nicht verwundete,
so ist er mit Gefängnis von drei Monaten zu strafen. Verwundete
er ihn aber, so sollte er dem Verwundeten die Schimpfgelder nach
seinem Gehalt doppelt bezahlen. Sodann sollte man Kaution
von ihm nehmen, daß er aus demselben Orte, wo die Tat
1) Art. 18. 2) Art 19. 3) Art. 1, Kap. III. 4) Art. 2.
5) Art. 3. 6) Art. 4.
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geschah, ohne Erlaubnis nicht wegreisen wolle, bis der
Verwundete entweder geheilt ist, oder stirbt. Wird er ge¬
heilt, so sollte dem Täter die Hand abgebauen werden; starb er
aber von der Wunde, so sollte der Mörder mit dem Tode gestraft
werden ■).
Wenn jemand im Hofe des Zaren etwas stahl, und solches er¬
wiesen wurde, so sollte er beim ersten Mal mit der Knute gestraft
werden. Beim zweiten Mal sollte er außer der Knute noch mit Ge¬
fängnis von sechs Monaten gestraft werden. Wurde derselbe Dieb
noch zum dritten Mal beim Diebstahl ertappt, so wurde ihm dafür
die Hand abgehauen 2 ).
d) Die Fälschung.
Wenn jemand auf betrügerische Weise einen Brief, als ob diesen
der Zar geschrieben hätte, oder wer in einem echten Briefe des
Zaren, oder auch in anderen Kanzleischriften eigenmächtig ohne des
Zaren Befehl und ohne den Entschluß seiner Bojaren etwas änderte,
oder die Handschrift der Räte, Kanzleibediensteten und Schreiber
nachahmte, so sollte er nach Untersuchung am Leben gestraft werden 3 ).
Ebenso wird gestraft, wer das Siegel des Zaren verfälscht hat 4 ).
Wenn ein Münzmeister kupferne, zinnerne oder stählerne Münzen
machte, oder das Silber mit Kupfer, Zinn oder Blei vermischte und
dadurch dem Schatz des Zaren Schaden geschah, so sollte er am
Leben gestraft und ihm der Hals zugegossen werden 5 ).
Wenn ein Gold- oder Silberschmied Silber oder Gold verarbeitete,
und solches mit Kupfer, Zinn oder Blei vermischte, so sollte er mit
der Knute gestraft werden und dem Eigentümer den Schaden, welchen
er ihm durch Verfälschung dieser Metalle verursachte, wieder er¬
setzen 6 ).
e) Straßenraub und Diebstahl.
Straßenraub, Mord und Einbruch in dem Moskowitischen Bezirk
und in den übrigen Städten, Posaden und Distrikten gehören vor die
Mörderkanzlei 7 ).
Heimlicher Diebstahl und Totschlag in Moskwa gehörten nicht
vor die Mörderkanzlei, sondern vor das Landesgericht 8 ).
War ein Dieb eines Diebstahls überführt, so sollte man ihn
foltern, ob er nicht auch Mordtaten und andern Diebstahl mehr be-
1) Art. 5. 2) Art. 9.
3) Art. 1, Kap, IV. 4) Art. 2. 5) Art 1, Kap. V 0) Art. 2.
7) Art. 1, Kap. XXL S) Art. 2.
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gangen habe. Gestand er nun auf der Folter nichts mehreres, so
sollte er für den ersten Diebstahl mit der Knute gestraft, ihm das
linke Ohr abgeschnitten, aus seinem Vermögen seines Klägers Forde¬
rung bezahlt und er auf zwei Jahre ins Gefängnis gesetzt werden,
wo er alle Arbeit, welche ihm der Zar befahl, in Fesseln zu ver¬
richten hat. Wenn er sich nun losgesessen hatte, so sollte er in eine
Stadt in der Ukraina geschickt, und zu einem Dienste, wozu er
tüchtig sein möchte, gebraucht, ihm auch eine Schrift unter des Diaken
Hand gegeben werden, „daß er vor seine Schelmerei seine Jahre im
Gefängnis ausgehalten hat, und nun freigelassen war“ ')•
War er aber zum zweiten Mal auf dem Diebstahl ertappt, so
sollte er gleichfalls gefoltert werden, ob er keinen Diebstahl mehr
begangen, oder auch jemanden ermordet habe. Bekannte er nun
nichts dergleichen mehr, so sollte man ihn nochmals mit der Knute
strafen, ihm das rechte Ohr abschneiden, und auf vier Jahre Ge¬
fängnis verurteilen 2 ).
Gaudiebe sollten ebenso wie andere Diebe für den ersten Dieb¬
stahl gestraft werden 3 ).
Wenn aber ein Dieb eingebracht, und dreier, vier oder mehr
Diebstähle überführt wurde, so sollte er, wenngleich er auch keinen
Mord begangen, am Leben gestraft und seine Güter seinen Anklägern
zur Bezahlung ihres Schadens gegeben werden 4 ).
Wenn er aber auch nur bei dem ersten Diebstahl einen Mord
begangen hat, so sollte er am Leben gestraft werden 5 ).
Die Straßenräuber sollten im allgemeinen mit dem Tode gestraft
werden. Wenn einige Personen einen solchen Dieb irgendwo sahen
und sich seiner nicht bemächtigten, da sie es doch wohl tun konnten,
und solches bewiesen wurde, so sollten sie jeder 50 Kopeken zur
Strafe geben 6 ).
Kirchendiebe sollten „ohne alle Gnade“ am Leben gestraft und
ihre Güter zur Ersetzung des der Kirche verursachten Schadens ver¬
wendet werden').
Wenn ein Straßenräuber eingebracht wurde, so sollte er gefoltert
werden. Blieb er nun bei der Folter dabei, daß dies sein erster
Straßenraub sei, er auch sonst keinen Mord begangen habe, so sollte
ihm das rechte Ohr abgeschnitten, seine Güter den Klägern für ihren
Schaden gegeben, und er drei Jahre im Gefängnis zu sitzen, und
inzwischen in Fesseln allerlei Fronarbeit zu tun, verurteilt werdeD.
Nach diesem Zeitraum sollte er in eine der Städte der Ukraina, wohin
1) Art. 9. 2) Art. 10. 3) Art. 11.
4) Art. 12. 5) Art. 13. 6) Art. 15. 7) Art. 14.
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der Zar befahl, geschickt, daselbst zu einem Dienste, wozu er sich
schickt, gebraucht, und ihm unter des Diaken Hand eine Schrift ge¬
geben werden, daß er für sein Verbrechen seine Jahre im Gefängnis
ausgehalten habe und nun freigelassen sei!).
Wurde er nun zum zweiten Mal auf Straßenraub ergriffen, sollte
er gleichfalls gefoltert werden, ob er sonst nicht mehr verbrochen.
Wenn er nun auch gleich nichts mehr einbekannte, so sollte er den¬
noch am Leben gestraft und seine Güter seinen Anklägern zur Be¬
zahlung angegeben werden l) 2 ).
Wenn jemand Straßenräuber bei sich verhehlte und nicht zu den
Wojwoden, Kanzleibedienten oder Gerichtsvogten brachte, so sollte er
zehn Rubel zur Strafe, andern zur Warnung, an den Zar erlegen 3 ).
Wenn einige Straßenräuber auf frischer Tat oder in ihren Quar¬
tieren gefangen wurden, und sich auf der Folter vieler Straßenraub¬
taten, Morde und Mordbrennereien für schuldig erklärten, ihre Mittäter
aber noch nicht eingebracht wurden, so sollten sie ein halbes Jahr
im Gefängnis gehalten werden. Wurden nun ihre Mittäter während
dieser Zeit nicht gefunden, so sollten sie hernach ohne weiteren
Verzug am Leben gestraft werden. „Denn länger — so sagt das
Gesetz — als ein halbes Jahr soll man diese Schelmen nicht im
Gefängnis lassen, damit sie während der so langen Zeit nicht Ge¬
legenheit finden, durchzugehen, und in solcher Absicht Unschuldige
fälschlich angeben“ 4 ).
Die Güter der Straßenräuber und Mörder sollten eingeschätzt und
den Klägern zur Bezahlung angegeben werden 5 ).
l) Totschlag und Körperverletzung.
Wenn ein Sohn oder eine Tochter ihren Vater oder Mutter tot¬
schlug, so sollten sie dafür am Leben gestraft werden 6 ).
Wenn ein Sohn oder eine Tochter mit anderer Beihilfe Vater¬
oder Muttermord beging, so sollten auch diejenigen, welche ihnen
geholfen, „ohne alle Gnade“ am Leben gestraft werden 7 ).
Wenn ein Vater oder eine Mutter ihren Sohn oder ihre Tochter
totschlug, so sollten sie dafür ein Jahr im Gefängnis sitzen, und
nach dessen Verlauf in die Kirche kommen und ihre Sünde öffentlich,
daß es jedermann hörte, bekennen; aber am Leben sollen sie nicht
gestraft werden 8 ).
Wenn ein Sohn oder eine Tochter das Christentum vergessen,
und ihren Vater oder Mutter grob anfuhren, oder gar mit der Hand
1) Art. 16. 2) Art. 17. 3) Art. 20. 4) Art. 21. 5) Art. 22.
6) Art. 1, Kap. XXII. 7) Art. 2. 8) Art. 3.
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schlugen, und ihre Eltern darüber klagten, so sollten sie mit der
Knute geschlagen werden 1 ).
Wenn ein Sohn oder eine Tochter ihrem Vater oder Mutter ihr
Gut mit Gewalt abnabmen, und mit Hintansetzung der schuldigen
Ehrfurcht sie von sich jagten und einiger Verbrechen beschuldigen
wollten, oder wenn ein Kind seine Eltern in ihrem Alter nicht er¬
nährte, und ihnen das Nötige nicht darreichte, und die Eltern deshalb
klagten, so sollte das Kind ohne Barmherzigkeit mit der Knute ge¬
schlagen werden 2 ).
Wenn ein Kind seine Eltern gerichtlich belangte, so sollte es nicht
gehört, sondern mit der Knute gestraft und seinen Eltern abgeliefert
werden 3 ).
Wenn jemand einen Bruder oder eine Schwester totschlug, oder
durch einen andern totschlagen ließ, so sollte, wenn die Sache er¬
wiesen wurde, der Täter und sein Anstifter am Leben gestraft werden 4 ).
Wenn ein Knecht seinen Herrn totschlagen wollte und in solcher
Absicht eine Waffe gegen ihn zog, so sollte ihm die Hand abgehauen
werden 5 ). Tötete er ihn aber, so sollte er selbst ohne alle Barmherzig¬
keit sterben 6 ).
Wenn jemand einen andern an seinem Leibe schändete, eine
Hand, Fuß, Nasen, Ohren oder Lippen abschnitt, oder ein Auge aus¬
stieß, und die Sache erwiesen wurde, so sollte ihm ebendasselbe
widerfahren, was er dem andern getan, und aus seinen Erbgütern
und Habe sollte für jedes verstümmelte Glied des Leibes 50 Rubel
genommen und dem Beleidigten gegeben werden 7 ).
Wenn ein solcher Schänder einen andern ins Haus lockte oder
mit Gewalt hineinzog, und mit Prügeln, Knute oder Batoggen schlug,
und die Sache gerichtlich erwiesen wurde, so sollte er mit der Knute
auf dem Markte geschlagen, auf einen Monat ins Gefängnis gesetzt,
und angebalten werden, dem Geschlagenen die für Schimpf und
Lähmung bestimmten Gelder doppelt zu bezahlen 8 ).
Tat aber solches der Knecht eines Herrn, so sollte er auf der
Folter befragt werden, wer ihm solches befohlen habe. Sagte er nun,
daß er es auf seines Herrn oder eines andern Befehl getan, so sollten
beide, der Anstifter und der Täter, auf dem Markte mit der Knute
geschlagen, und auf einen Monat ins Gefängnis geworfen werden.
Der Herr aber, oder wer es ihm sonst befahl, sollte dem Geschlagenen
seinen Schimpf doppelt bezahlen. Falls aber der Knecht anerkannte,
1) Art. 4. 2) Art. 5. 3) Art 6. 4) Art. 7. 5) Art. 8.
6) Art. {». 7) Art. 10. 8) Art. 11.
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daß er es von sich getan, ohne dazu angestiftet zu sein, so sollte er
nach ausgestandener Folter am Leben gestraft werden i ).
Wenn jemand Verwirrung unter den Leuten anrichtete und gegen
verschiedene Personen allerhand frevelhafte Beschuldigungen anbrachte,
so sollte er am Leben gestraft werden 2 ).
Wenn ein Weib ihren Mann tötete oder mit Gift vergab, so sollte
es ohne alle Gnade lebendig in die Erde gegraben werden, und wenn
auch gleich des Ermordeten Kinder oder nahe Verwandte ihre Be¬
strafung nicht begehrten, so sollte man ihr dennoch keine Gnade
widerfahren lassen, sondern sie solange in der Erde halten, bis sie
stirbt 3 ).
Wenn ein Weib, so zum Tode verurteilt ist, schwanger war,
so sollte sie nicht eher, als nachdem sie geboren bat, hingerichtet, bis
dahin aber im Gefängnis oder unter scharfer Wache gehalten werden,
damit sie nicht die Flucht ergreife 4 ).
Wenn jemand in eines andern Haus kam, um der Hausfrau
etwas Übles zuzufügen, oder sie entführen wollte, ihre Bediensteten
aber sie dagegen nicht schützten, sondern vielmehr dem, der also in
das Haus kam, Hilfe leisteten, und die Sache hernach erwiesen wurde,
so sollte sowohl derjenige, der in das Haus kam, als auch die Diener,
so ihm geholfen, am Leben gestraft werden 5 ).
Wenn jemand Ruhmes wegen oder betrunken, oder auch absichtlich
auf einem Pferde auf eines andern Frau ansprengte, sie niederwarf,
und trat, und sie so beschimpfte und lähmte, oder auch, falls sie
schwanger war, verursachte, daß die Frucht von ihr abging, so sollte
er, wenn anders die Frau am Leben blieb, ohne Barmherzigkeit mit
der Knute gestraft und drei Monate lang ins Gefängnis geworfen,
auch angehalten werden, der Frau ihren Schimpf und Lähmung
doppelt zu bezahlen ö ).
War es aber nicht mit Vorsatz geschehen, sondern das Pferd
hätte sich vor etwas gescheut, den Zaum zerrissen und sich nicht
halten lassen, so sollte es nicht für einen Totschlag gehalten werden,
dem Täter auch deswegen keine Strafe widerfahren 7 ).
Wenn jemand auf eines andern Anstiften einen Totschlag beging,
so sollte der Täter sowohl als der Anstifter am Leben gestraft werden 8 ).
Wenn ein Mohammedaner einen Russen mit Gewalt, durch Be¬
trug oder auf andere Weise zu seinem Glauben brachte und beschnitt,
so sollte der Mohammedaner ohne alle Gnade verbrannt werden 9 ).
1) Art. 12. 2) Art. 18. 3) Art. 14. 4) Art. 15. 5) Art. 16.
6) Art. 17. 7) Art. 18. 8) Art. 19. 9) Art. 24.
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Wenn ein Mann oder ein Weib Weiber oder Mädchen ver¬
kuppelte, so sollten sie mit der Knute aufs schärfste gestraft werden l )-
Wenn ein Weib in Hurerei lebte, und ein Hurenkind bekam,
dieses aber selbst ermordete, oder durch jemanden anders erwürgen
ließ, so sollte sie und der auf ihren Befehl das Kind erwürgte, ohne
alle Gnade und Barmherzigkeit am Leben gestraft werden 2 ).
II.
Das serbische Strafrecht.
1. Die Literatur.
Die serbische Strafrechtsliteratur gelangte erst in den letzten
Zeiten zu einer größeren Entwickelung. Das auch heute geltende
und nach dem Muster des preußischen Strafgesetzbuches vom Jahre
1851 hergestellte und im Jahre 1860 verlautbarte Strafgesetz pro¬
duzierte in den ersten Jahrzehnten seines Bestehens nur wenige Lite¬
ratur. Das Gesetz wurde zuerst durch das aus acht Heften be¬
stehende Werk: Die Interpretation des Strafgesetzes des serbischen
Fürstentums, von Zenitsch (Belgrad, 1865—1866) erklärt. Später,
in den siebziger Jahren wurde maßgebend die von Eadowanowitscb
verfaßte serbische Übersetzung des Bernerschen Lehrbuchs. Im Laufe
der späteren Zeiten waren schon mehrere selbständige Werke er¬
schienen. Solche sind von Wesnitsch:
1. „Der zweite kriminal-anthropologische Kongreß“;
2. „Die Untreue“;
3. „Aberglaube und Verbrechen“;
4. „Der vierte Kongreß der internationalen kriminalistischen
Vereinigung“.
Weiter von Milkowitscb:
„Weiße Sklaven“, kriminalsoziologische Studie und
„Der gefahrlose Versuch“.
Außerdem ist noch der ausgezeichnete Kommentar von Petro-
witsch zu erwähnen. Dieses Werk ist aber unvollendet; es be¬
handelt die ersten 15 Paragraphen des serbischen Strafgesetzbuches
auf mehr als 300 Seiten. Endlich erwähnen wir, daß das Lisztsche-
Lehrbuch auch in serbischer Übersetzung (von Wesnitsch, Mar¬
kowitsch und Regneritsch) erschienen ist.
Alle diese erwähnten Werke haben die Ansprüche der theoretischen
und praktischen serbischen Juristen nicht befriedigt, da sie einerseits
nur Kommentare (Zenitsch, Petkowitsch) waren, anderseits
1) Art. 25. 2) Art. 26.
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die ganze Materie nicht erschöpften; die übersetzten Werke aber
(Berner, Bar) bezogen sich auf fremde Rechtsmaterien; endlich
behandelten die anderen Werke (Monographien) nur einzelne Detail*
fragen.
Unter solchen Umständen hatte in der Tat A wakumowitsch,
ehemaliger Rechtsprofessor und der größte serbische Kriminalist, ein
brennendes Bedürfnis befriedigt, als er sein monumentales Werk
unter dem Titel: „Theorie des Strafrechts“ in zehn Heften er¬
scheinen ließ.
Dieses vorzügliche Werk behandelt auf mehr als 1600 Seiten
die folgenden Materien: „Die Lehre der Zurechnungsfähigkeit“, „Die
Selbstverteidigung“, „Die Bestandteile der strafbaren Handlung“, „Der
Versuch". „Die Teilnahme“, „Die Verbrechenskonkurrenz“, „Das
fortgesetzte Verbrechen“, „Der Rückfall“, endlich die Geschichte, die
internationalen Verhältnisse des Strafrechts und die verschiedenen
Geltungen des Strafgesetzes.
Es wäre sehr schwer, von diesem klassischen Werke ein ganz
getreues Bild zu geben; es scheint uns, daß der ausgezeichnete Ver¬
fasser ein Anhänger der klassischen Schule ist; er formuliert aber
deren Dogmen überall selbständig. Er berücksichtigt auch einzelne
ältere Schriftsteller, wie Oppenhoff, Berner, Feuerbach, Luden, Köstlin,
Ortolan, Hölie, Rossi usw.
2. Geschichtlicher Rückblick.
Von der älteren serbischen Strafgesetzgebung haben wir nur ein
Monument: das berühmteste Gesetzbuch des Zaren Duschan.
Dieses Gesetz, welches man aus der Zeit von 1349—1354 datiert,
verdient die Aufmerksamkeit der fremden Kriminalisten im hohen
Maße. Es ist ein treuer Spiegel der älteren serbischen Rechtsauf¬
fassung und enthält sehr viele und interessante Bestimmungen.
Das Gesetz bedroht zuerst die Geschworenen, welche einen Ver¬
brecher ungerecht freigesprochen hatten. Die Strafe war eine schwere
Geldstrafe und der Ehrenverlust; außerdem darf keiner mit einem
solchen Geschworenen in Verwandtschaft treten.
Der Hochverrat wurde vom § 134 des Gesetzes mit Enthauptung
gestraft.
Die Mißhandlung, verübt an einem Menschen, resp. Gewalt gegen
richterliche Behörden wurde an Adligen mit Vermögenskonfiskation,
an Bauern mit Zwangsansiedelung und Brandmarkung gestraft.
Mit dem Tode wurde gestraft, wer zu Kriegszeiten eine Kirche
zerstört oder verbrannt hatte.
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XIX. Ladislaus v. Thöt
Das Gesetz strafte die Erpressung sehr streng, insbesondere, wenn
eine solche^durch Edle an ihren Lehensmännern verübt worden war.
Sie sind iu solchen Fällen auch mit Vermögenskonfiskation gestraft
worden.
Wer seinen Vater, seine Mutter, seinen Bruder, seine Schwester
oder sein Kind ermordet hatte, wurde auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
Wer aber einen Bischof, einen Priester oder einen Mönch er¬
mordete, wurde totgeschlagen oder aufgehängt.
Das Gesetz strafte den Edlen, der einen Bürger geschlagen bat,
mit einer Geldbuße. Wenn ein Bürger einen Edelmann ermordete,
wurden ihm beide Hände abgehauen und außerdem wurde er mit
einer Geldbuße gestraft.
Der aus Unvorsichtigkeit verübte Totschlag wurde mit Geldbuße
gestraft.
Dem Diebe stach man beide Augen aus, und der Oberherr des
Dorfes, in dessen Besitz der Dieb wohnte, wurde gefesselt zum Zar
getragen, der ihm eine Geldbuße auferlegte und ihn auch unter Um¬
ständen wie einen Dieb gestraft hat; der Käuber wurde mit dem
Kopfe nach abwärts aufgehängt; der Einbruch wurde mit Abhauen
der Hand gestraft
Wer ein Haus oder eine Gemeinde angegriffen hat, ist mit dem
Schwert totgestochen worden; wer aber das Dach des Hauses eines
anderen mit Steinen eingeworfen hatte, bezahlte dafür 100 Perpers.
Ein falscher Vertrag wurde konfisziert und vernichtet Der Ver¬
fasser eines falschen Geschenkbriefes aber wurde wie ein Bäuber
gestraft.
Hinsichtlich der Ebrenbeleidigung machte man einen Unterschied
zwischen der Person des Beleidigers und des Beleidigten; wenn ein
Aristokrat einen Edlen beschimpfte oder verhöhnte, mußte er 100
Perpers bezahlen; wenn aber ein Edler einen Aristokrat beleidigte,
mußte er dieselbe Summe bezahlen, erhielt aber außerdem noch fünf¬
undzwanzig Stockschläge.
Ebenso ist die Ehrenverletzung gestraft worden, wenn sie zwischen
Aristokraten, oder Edlen, oder Bürgern verübt worden ist; dagegen
wurden dem beide Hände abgehauen, der den Bart eines Edlen oder
eines Bürgers ausgerissen hat.
Das Gesetz strafte die Körperverletzung mit einer Geldbuße.
Wer einen andern angegriffen hatte, wurde wegen Straßenraubes
mit Vermögenskonfiskation gestraft.
Wer berauscht eine Körperverletzung begangen hatte, verlor seine
halbe Hand und ein Auge.
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Orientalische Strafrechtsstudien.
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Endlich strafte das Gesetz die Feldbeschädigungen mit Geld¬
bußen. —
Diese Gesetzgebung war bis zur Herrschaft der Türken in
Geltung. —
Das erste serbische Strafgesetz datiert aus 1850, welches 1860
durch das heutzutage noch geltende Strafgesetzbuch ersetzt wurde,
welches einige Nachgesetze erhielt.
III.
Die arabische und die türkische Rechtswissenschaft
im allgemeinen.
Das religiöse Rechtssystem der Araber und der Türken beruht
auf verschiedenen Quellen. Diese Quellen sind gemeinschaftlich und
besonders.
Die gemeinschaftlichen Quellen des arabischen und des türkischen
Rechts sind der Qorän und die Tradition.
Der Qorän, El-Qorän, oder Alqorän, will das „Lesen“, das
„ausgezeichnetste Buch“ ausdrücken. Man nennt den Qorän auch
„Buch Gottes“, „teuerstes Buch“, „aus dem Himmel gekommenes
Buch“, „Unterschied zwischen Erlaubtem und Verbotenem“, „Wort
Gottes“, „Das Band“, „Das geweihte Wort“, „Das höchste Gesetz¬
buch“ usw. Er enthält „die Geschichte der Vergangenheit, die Ge¬
setze der Gegenwart und die Warnungen der Zukunft“.
Der Qorän enthält alle Lehren Mohammeds, und nicht nur reli¬
giöse Dogmen und moralische Befehle, sondern er ist ein allgemeines
Gesetzbuch, welches alle Verhältnisse des öffentlichen und privaten
Lebens reguliert.
Der Qorän ist „eine göttliche Offenbarung“, der „treue Geist“ 1 )
hat ihn aus dem Himmel gebracht, um die Wahrheit der dem Qorän
vorausgegangenen Schriften zu bekräftigen 2 ).
Der Rechtgläubige, der den Qorän lesen oder auch nur berühren
will, muß sich vorher waschen. Der Ungläubige aber, der dasselbe
tut (d. h. den Qorän lesen oder berühren will), soll mit dem Tode
gestraft werden. Dieses Buch ist „ewig und wird im siebenten
Himmel, vor Gottes Throne von den Engeln bewacht“.
Die heutige Verfassung des Qoräns ist zum größten Teile von
Abu-Bekr 3 ).
1) Der Archengel Gabriel.
2) Die Sura von „Die Dichter“, V. 192 und 193.
3) G. Sale: Historical et critical observations on the Moohammedenism“.
London, lt>38.
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Die 144 Suren oder Kapitel des Qoräns sind ohne alle Ord¬
nung oder Zusammenhang vereinigt worden. Die ersten Kapitel be¬
stehen aus mehr als zweihundert Versen, während die letzten nur
vier oder fünf Verse haben. Im allgemeinen ist der Qorän ein un-
zusammenbängendes und verwirrtes Buch: Ein wahres Chaos, in
welchem man die Verhältnisse der Propheten, der Juden und anderer
Völker, Parabeln, allgemeine Befehle, Visionen usw., endlich eine
Sammlung von allen Religionen und Glauben findet.
Man kann im Qorän zwei Elemente unterscheiden: das dogma¬
tische: was man zu glauben hat, und das präzeptivische: was man
üben muß. —
Die andere gemeinschaftliche Quelle des arabischen und des
türkischen Rechts ist die Tradition. Diese ist die Sammlung:
1. der Aussprüche und Taten Mohammeds, 2. der Beschlüsse der
lmäme, d. h. der vier ersten Nachfolger Mohammeds, 3. der Beschlüsse
und Entscheidungen, welche in ähnlichen Fällen von den Kalifen
aus dem ersten Jahrhundert der Hedschra ausgegangen sind.
Die Araber und die Türken, welche die Tradition annehmen,
sind Sunniten. Sie haben vier Hauptsekten: die Hanefiten, Scha-
fiiten, Malekiten und Hanbaliten. Alle diese Sekten haben ihre
eigene Gottes- und Rechtslehre, welche die besondere Quelle
ihres Rechtssystems bildet.
Die Araber von Marokko und Algier sind Malekiten, die von
Egypten Schafiiten, die Türken sind Hanefiten, die Araber von
Arabien sind Hanbaliten.
Der Stifter der Hanefiten war Abu Hanifa, der im Jahre 81
d. Hedschra (d. h. im Jahre 700) in Basra geboren ist. Er war
Richter der Vorstadt von Bagdad. Als er sich weigerte, diese Stelle
anzunehmen, wollte ihn der Kalif (Monsur) durch Stockschläge
zwingen und als dies nichts half, ließ ihn der Kalif in den Kerker
sperren. Er ist im Jahre 795 gestorben. Seine theologische und
juristische Lehre enthält das Werk: „Führer in den Zweigen
des Gesetzes“ von Burrhan Eddin Ali. Im X. Jahrhundert hat
Ibrahim Ibn Mohammed sein wohlbekanntes Werk: „Zusammen¬
fluß der Meere“ geschrieben, welches das ganze System der Lehren
von Abu Hanifa umfaßt.
Der Stifter der schafiitischen Sekten war Esch-Schafei, der
im Jahre 204 der Hedschra (820) gestorben ist. Er hinterließ ein
ausführliches Werk der Gesetzgelehrsamkeit, welche Muwatta ge¬
nannt wird.
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Ibn Mälik, der Stifter der malekitischen Sekte, war im Jahre
95 (713) geboren und hinterließ auch ein Werk unter dem Titel:
„Muwatta“.
Ahmed Ibn Hanbal endlich wurde im Jahre 241 (855) ge¬
boren. Er ist der Verfasser eines Mosnid, einer Sammlung von
Überlieferungen, vollständiger als alle vorhergehenden; wie die
arabischen Schriftsteller sagen, soll er eine Million von Überlieferungen
auswendig gewußt haben.
Die erwähnten Werke dieser vier Stifter dienten den späteren
Rechtsgelehrten zum Muster. So entwickelte sich bei den
Arabern eine schafiitische, eine malekitische und eine
hanbalitische, bei den Türken aber eine hanefitische
Rechtsliteratur. Die Araber kennen mehrere Zweige der Rechts¬
und Gesetzeskunde, welche aber mit den Distinktionen der euro¬
päischen Rechtswissenschaft nicht stimmt.
Die Araber betrachten das Familienrecht und die Staatswissen¬
schaft als Zweige der praktischen Philosophie. Hierher gehören:
1. Die Gesetzgebungskunst Sie handelt von den zu einem
Gesetzgeber erforderlichen Eigenschaften; sie lehrt das Bedürfnis der
Menschen, durch Gesetze geleitet zu werden, kennen, und wie diese
Gesetze nach den Erfordernissen der Zeit, des Ortes und der Umstände
geformt werden müssen. Da die meisten Gesetzgeber Propheten
waren, so wird auch hierin von den Erfordernissen und Kennzeichen
des Prophetentums gehandelt').
2. Das Familienrecht handelt von den Verhältnissen, welche
zwischen dem Manne, seinem Weibe, Kindern und Hausgenossen be¬
stehen. Es wacht über die Beobachtung der gegenseitigen Rechte,
und hat das häusliche Glück zum Zwecke.
Die „GesetzWissenschaft“ umfaßt die Rechtswissenschaft und die
Theologie.
Die Teile der Gesetzwissenschaft sind:
1. Die Überiieferungskunde.
Man wird durch diese mit den Reden und Handlungen des
Propheten bekannt. Ihr Zweck ist die zeitliche und ewige Glück¬
seligkeit. Sie teilt sich in zwei Teile:
a) Die Überlieferungserzählung, die bloß von dem Zu¬
sammenhang der Überlieferungen bandelt und den Grad ihrer Glaub¬
würdigkeit in Rücksicht auf ihre Quellen und Stützen untersucht
1) Hadschikhalfe, Bd. I, Einl.
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ß) Die Überlieferung8grundlebre, welche den Sinn der
überlieferten Worte nach den Regeln der Sprachgesetze untersucht
und mit dem Zustande des Propheten zusammenhält.
Die Gesetzes- und Rechtsgrundlehre ist die Wissenschaft,
welche die Religionsgebote und Gesetze aus den vollständigen und
unumstößlichen Beweisen ableitet Ihr Gegenstand sind die Grund¬
festen der Gesetzes- und Rechtswissenschaft, insoweit daraus Gebote
und Pflichten abgeleitet werden können.
Die Zweige der Rechtslehre sind:
a) Die Lehre von den gesetzmäßigen Erbteilen, welche von
der Größe der Erbteile und ihrer Verteilung handelt;
ß) Die gerichtliche Urkundenlehre ist die praktische
Kunst, gerichtliche Protokolle mit den dabei notwendigen Förmlich¬
keiten anzufertigen;
y) Die Lehre von den richterlichen Urteilen und gesetz¬
lichen Befehlen.
<J) Die Fetwakunde ist die historische und gesetzliche Kenntnis
der in streitigen Fällen von verschiedenen Muftis erlassenen und als
Richtschnur angenommenen Fetwas;
e) Die Lehre von den Zufällen und den daraus entstehenden
Schaden;
Z) Die Lehre von den gesetzmäßigen Strafen;
r>) Die Lehre von Kaufverträgen.
IV.
Die arabische Rechtsliteratur.
Die Araber haben eine sehr große und wertvolle Rechtsliteratur.
Die Werke dieser Rechtsliteratur sind entweder Kommentare oder
Sammlungen der gerichtlichen Entscheidungen, oder aber das ganze
Gebiet der Rechtswissenschaft umfassende Werke.
In den Folgenden werden wir einige bessere und klassische
arabische Rechtswerke, nach dem wohlbekannten Werke des Hadschi
Khalfas, aufzählen; die meisten der übersetzten Titel klingen so,
wie die deutschen Werke des 17. und 18. Jahrhunderts. —
Abu Nizär Hasan Ben Säfi: Richter von den Prinzipien
des Rechts.
Mohammed Ben Ibrahim Ibn Ebenus Haschik: Eroberer
der Rechtswissenschaft.
Nejm-ed-dln Abu’lfedhail Bekburs: Dasselbe.
Abu’lkasim Ben Abd-el mir Burzuli: Dasselbe.
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Orientalische Strafrechtsstudien.
291
Abu Isch’ak Ibrahim Ben Mohhammed Schiräzi: Die
Bäder der Prinzipien des Rechts.
Motzaffer-ed-din Ahmed Ben Ali Ben Thal’eb Bagh-
' dädi: Zusammenfluß zweier Meere und zweier Flüsse der Rechts¬
wissenschaft.
Ahmed Ben Mohammed Ben Abi Bekr: Syllogos der
Antworten von Rechtsgelehrten.
Abd-el-Rahmän Bokhäri: Vorzüglichkeiten der Gesetze und
des Islam.
Ibn Teimija: Verbessertes Buch von der Rechtswissenschaft.
Fakhr-ed-din Mohammed Ben Omär Räzi: Summe der
Prinzipien der Rechtswissenschaft.
Borhän-ed-din Ali Ben Abi Bekr Merghinäni: Samm¬
lung der Antworten von Rechtsgelehrten.
Alä-ed-din Ali Ben Ahmed Jemäli: Auserwählte Teile der
Antworten von Rechtsgelehrten.
Abu Schoja: Kompendium der Rechtswissenschaft.
Abu Bekr Mohammed Ben Ahmed: Die spezielle Rechts¬
wissenschaft.
Scherif Ahmed Ben Yahye von YSmen: Schwellendes
Meer der Rechtswissenschaft.
Fakr-el-aimmet Bedi’Ibn Mansür: Umfließendes Meer
der Rechtswissenschaft.
Abu’lmehasfn Abd-el-wähid Ben Ismail Ruyäni: Das
Meer der Sekte der Rechtswissenschaft.
Ein unbekannter Verfasser: Gefährliches Meer der Rechtswissen¬
schaft.
Abu’lhasi Ali Ben Abi Bekr Maryhinäni: Kompendium
des Neulings der Rechtswissenschaft.
Abu’lbarakät Abd-el-rahmän Ben Mohammed Anbäri:
Der Anfang der Richtung der Rechtswissenschaft.
Abu Bekr Ben Säbik: Der Anfang der Rechtswissenschaft.
Abu’lmeäli Abd-el-melek Ben Ali Joweini Nisalucri:
Nachweis der Prinzipien der Rechtswissenschaft.
Häfitz-ed-din Mohammed Ben Mohammed Ben Sche-
häb-Kerderi: Juristische Entscheidungen von Bezzazi.
Abu’lleith Nasr Ben Mohammed Samarkandi: Garten
der geistlichen Mystiker.
Abd-el-rahman: Garten der Rechtswissenschaft.
Hojjet-elisläm Abu Hamid Mohammed Ben Moham¬
med Ghazäli: System der Rechtswissenschaft.
Archiv für Kriminalanthropologie. 34. Bd. 20
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XIV. Ladislaus v. Thöt
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Ein unbekannter Verfasser: System der Rechtswissenschaft.
Pfr Mohammed Ben Musa Bursewi: Wegweiser für Richter.
Mahmud Kunewi: Schatzkammer juristischer Antworten.
Abu Isch’ak Ibrahim Ben Ali Schiräzi: System der
Rechtswissenschaft.
V.
Ein altarabisches Rechtsbuch.
Das südarabische Königreich der Himar'iten, welches eine Zeit¬
lang unter der Regierung christlicher Könige stand, batte ein sehr
interessantes Gesetzbuch, welches aber erst in griechischer Übersetzung
zu uns kam *)•
Der Verfasser dieses Gesetzbuchs war: der heilige Gregentius,
der es im Grunde der heiligen Schrift verfaßte.
Das Gesetzbuch ist in seinem größten Teile ein Strafgesetzbuch,
welches unser Interesse in hohem Maße verdient.
Das erste Kapitel handelt vom Totschlag, von der Hurerei
und der Knabenschänderei (liegt cpövov xai /xoixelag xai ag-
oevoxohiag).
Geschieht ein Mord, so muß man den Täter also gleich so schnell
als möglich vor die höhere Behörde bringen, welche ihn mit dem
Tode bestraft.
Sollte einer bei Sodomiterei ertappt werden, so muß ein solcher
dem Statthalter überliefert werden, damit dieser ihn nach dem Gesetze
behandle; „denn es ist billig, daß solche Leute getötet werden, damit
sie nicht, indem sie leben bleiben, mit dem Schandflecke der Sünde,
welche sie vollbracht, andere reine und unbefleckte Gemüter der
Menschen anstecken, und sich und uns den Zorn Gottes durch ihre
Sünden zuziehen“ 1 2 ).
Das zweite Kapitel spricht von der Zauberei, vom falschen
Zeugnisse und vom Diebstahl (liegt yovxeLag xai xpevdo/uag-
rvgiag xai xheipiag).
Sollte jemand bei Zauberei, oder Giftmischerei, oder Beschwörung
betreten werden, so muß er dem Gerichtshöfe übergeben werden,
damit dergleichen Übeltäter dem Feuer überliefert werden.
1) Herausgegeben von Hammer-Purgstoll unter dem Titel: „Nouoß-faia
t ov Ayiov P^rjyEvriov cbs ix ngooconov tov evoeßiorarov BaXiais (r&v^O/ue^irwv)
AßQa/uiov“. Wien, 1850.
2) . . . . „Slxaiov yäg iaxi dnoxxElvsod'ai xov£ xoiotixovs , iva urj £c5vxe£ xai
aLaouari xrj£ auaqxla£ avxcov, iv* ovros äv eXtmo , uidvcuöi xai äklas duiavrovs
yv%ä£ xai a&ojove &vd'Qc6no)v J xai xrjv ögyrjv xov Qeov irp^juäs xaxeveyxwoiv . a
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Orientalische Strafrechtsstudien.
293
Wer ein falsches .Zeugnis ablegt, dem soll die Zungenspitze ab¬
geschnitten werden.
Die Diebe und ihre Helfershelfer sollen beim ersten Mal fünfzig
Streiche erhalten und es soll ihnen mit glühendem Eisenstempel ein
Zeichen auf die Stirn gedrückt werden; dann aber soll man sie, ihres
Gewandes beraubt, entlassen mit der Mahnung: „Gib Acht auf dich,
Bruder, und stiehl nicht, auf daß du nicht wieder ertappt, einer noch
größeren Strafe verfallest“ x ). Wird der Schuldige in der Folge bei
dem nämlichen Verbrechen betreten 1 2 ), so soll man ihn zum Statthalter
führen; dort sind ihm die Sehnen am linken Fuße zu durchschneiden,
auf daß er, da ihm das Bein zum Gehen lahm gemacht worden,
nicht mehr stehlen kann, wenn er es auch wollte. Hierauf möge er
in das Armenhaus des Königreichs abgeführt werden, wo ihm für
die Zukunft die tägliche Nahrung verabreicht werden soll. —
Das dritte Kapitel enthält die Bestimmungen über die Hurerei
(Ilegi TtOQvelag).
Jeder Mann und jedes Weib soll das liederliche Huren vermeiden.
Ein jeder Mann soll sein Weib haben, und ein jedes Weib soll hin¬
wieder ihren Mann haben. Man hat hierbei durchaus nicht den Grund
zur Entschuldigung, den viele anführen: „Ich bin arm und kann kein
Weib haben“. Darauf aber antworten wir — sagt der Gesetzgeber —
„Willst du dich nicht in gesetzlicher Ehe verbinden, so zwingen wir
dich ja nicht dazu“ 3 ). Im allgemeinen, jeder, welcher in Hurerei
betroffen wird, sei es ein Mann oder ein Weib, soll hundert Schläge
oder Peitschenhiebe empfangen, auch soll ihm das linke Ohr abge¬
schnitten, sein Vermögen eingezogen, er aber freigelassen werden.
Ebendasselbe hat auch ein Weib, das nicht verheiratet ist, wenn
es ergriffen wird, zu erdulden. —
Sollte ein Mann ergriffen werden, welcher kein Weib hat, mit
einem Weibe, welches keinen Mann besitzt, und sie wollten sich
hierauf gesetzlich verbinden, dann soll von jenen, welche sie ergriffen
haben, ein Priester herbeigeholt werden, und man möge sie nach
geschehener Vermählung entlassen, ohne ihnen ein Leid zuzufügen.
Wollten sie sich aber nicht ehelich verbinden, dann sollten sie nach
erfolgter Strafe entlassen werden.
Das vierte Kapitel handelt vom Ehebruch (Ilegl noixelag)^
1 ) d&el<p£, oeavraj, xai /urjxin xleyrjs, iva itrj xgatrj&eis ini uti-
iÄetiOf] r lucogiq*
2) Die früher vorgenommene Brandmarkung macht ihn kenntlich.
3) Ov ßovlf] vouijuco yäucp ngodouilfjoai, ovd' Ar xai rfpels ßid&ouev.“
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Wer bei einem verehelichten Weibe betroffen wird, dem wird
jenes Glied seines Leibes abgeschnitten, mit welchem er die Sünde
begeht; ingleichen wird die linke Brust des Weibes abgescbnitten,
„dafür, daß sie den Mann, der ihr zugehört, verlassen, und mit dem
Teufel in Gemeinschaft getreten ist; denn es ist besser, so spricht
der Herr, daß eines deiner Glieder verloren gehe hiernieden, als daß
dein ganzer Körper jenseits in der Hölle ins Feuer gestoßen werde“ ')•
Ein jeglicher, der da ein Weib besitzt auf rechtliche Weise und
sie verläßt, und mit einer anderen hurt, dem wird das ahgeschnitten,
womit er die Sünde vollführt.
Sollte es sich aber treffen, daß seine Lebensgefährtin sagte: „Ich
kümmere mich nicht um die Sünde meines Mannes, und wenn er
mich auch zehntausendmal binterginge, ich will ihn nicht bestraft
wissen“, — dann soll ein solcher zweihundert Peitschenhiebe be¬
kommen, sein linkes Ohr soll ihm abgeschnitten werden, wenn ihr
Mann ihr hierauf noch beiwohnen will. Sollten sie sich in der Folge
abermals bei derselben Tat „betreten lassen, so haben sie die erste
Strafe zu überstehen, ihr soll die Brust und ihm das Glied abge¬
schnitten werden.
Sollte das Weib bei der nämlichen Tat noch einmal betroffen
werden, dann soll sie gepeitscht und aus der Stadt verwiesen werden;
desgleichen soll ein jeder Mann, der festgenommen und abgestraft
worden ist, wenn er bei demselben Verbrechen nochmals betroffen
wird, aus der Stadt verwiesen werden. —
Das fünfte Kapitel handelt von den Reichen, welche
nach armen Mädchen Verlangen tragen (UsqI nXovoiüv im-
■d-v[xovvTü)v nevofiivac)-
Wenn ein Reicher sich in ein armes Mädchen verliebt, und seine
Eltern nicht einwilligen wollen, dann vereinigt sie das Gesetz und es
haben die Eltern ihrem Sohne die Aussteuer ungeschmälert einzu¬
händigen, so lautet der königliche Befehl.
Dasselbe ist auch bei einem reichen Mädchen zu befolgen, welches
sich in einen armen Jüngling verliebt —
Das sechste Kapitel handelt von den freien Männern,
welche sich mit Sklavinnen vergehen (ITegl iXev&egGiv etc
dovXeiav 7teQi7tucTOviQv).
Ein freier Mann, welcher unverheiratet ist und bei Schändung
1 ) . . . . ,, &v&’ a>v xare/.tne rdv ävSoa TÖr iSiov xai ifiiyrj rtä —aTava. Xvu-
(prufi yäo, qrrjoiv ö KvoioS, iva iv tcüv ftai.mv aov AnoXrjrat ivd'cr, xai // 7 ) 8 ).ov rd
atoua aov %[i ßißaod'rj ixel&ev iv yeivvrj 7ivq[. u
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Orientalische Strafrechtsstudien.
295
einer ihm nicht angehörigen Sklavin ertappt wird, werde ein Sklave
der Herrin oder des Herrn der Magd.
Dasselbe werde auch mit einer freien Frau in Vollzug gebracht,
sollte sie sich „töricht“ genug mit einem Sklaven einlassen, „denn
wer die Glieder Christi zu Gliedern einer Hure gemacht hat, der
verdient auch, daß er in die Sklaverei eines Menschen verfalle, auf
daß er es einsehe, welch ein großes Übel die Sünde ist, und daß es
besser sei, sich gesetzlich zu verehelichen, als ungesetzlich“. Deshalb
befiehlt das Gesetz, daß „ein jeder seine eigene und nur eine Frau
habe, und daß er die verfluchte Hurerei fliehe, durch welche über
die Menschensöhne der Zorn Gottes aus dem Himmel hereinbricht. Wer
aber dieses Gebot Übertritt, hat gehört, welche Strafe ihn erwartet.“
Das siebente Kapitel handelt davon, daß die Eltern ihre
Kinder im Alter von zehn bis zu zwölf Jahren verehe¬
lichen sollen (liegt rov Zevyvelv xä xixva oi yovelg 7tgdg ydfxov
äitö txcHv öixa rj dcböexa).
Alle Eltern sollen ihre Kinder in dem Alter von zehn bis zwölf
Jahren ehelich verbinden, ausgenommen, wenn sie schwach sind.
Der Übertreter dieses Gesetzes hat, wenn er sehr reich ist, sechs
Pfund Geldes an den Vorgesetzten seines Bezirks zu bezahlen; ist es
aber einer aus dem Mittelstände, dann soll er drei, ist er ein Ge¬
ringerer, so soll er die Hälfte, ist er endlich noch geringer als dieser,
so soll er ein Pfund bezahlen, der nach ihm soll sechsunddreißig
Geldstücke, der nach ihm achtzehn, der nach ihm neun, der nach
ihm zwei und ein Dritteil, der nach ihm eines und ein Hundertteil,
der nach ihm die Hälfte zahlen, und keinem soll dafür eine Frist
gegeben werden, sondern sie haben augenblicklich die festgesetzte
Zahlung zu leisten. Das Vermögen desjenigen, der sich hierbei eine.
Zögerung zuschulden kommen läßt, soll konfisziert und er auf könig¬
lichen Befehl aus der Stadt verwiesen werden. Jeder, der diese
Bestimmung Übertritt, wird nach seinem Vermögensstande bestraft.
Das Bußgeld fällt aber dem Bezirksvorsteher und den unter ihm
stehenden Soldaten zu. —
Derjenige, welcher seinen Nächsten bei einer schändlichen und
gesetzwidrigen Handlung antrifft und ihn dem Vorsteher des Bezirks
nicht anzeigt, bekommt, wenn er reich ist, öffentlich zweiundsiebzig
Streiche, ist er arm, so wird er mit vier Geldstücken bestraft, ist er
noch ärmer, mit dreien, ist er noch dürftiger als dieser, mit zweien,
ist er ganz arm, mit einem. —
Das achte Kapitel bandelt von den Kupplern (Tlegi iao -
XQC 07 ZCi)v).
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Einem jeden, der Kuppelei treibt, oder für schändliche Ver¬
mischung mit Knaben und Eunuchen den Mittelsmann abgibt, sei es
nun Mann oder Weib, wird die halbe Zunge ausgeschnitten.
Die, welche ihre Wohnungen zu Aufenthaltsorten der Hurer
machen, und solche Übeltäter aufnehmen und verbergen, sollen ein¬
gezogen, durch den Gemeindevorsteher ihres ganzen Vermögens ver¬
lustig gemacht, aus der Stadt verwiesen werden. Es wird ihnen auch
eine eigenhändige Schrift abgefordert, in der sie versprechen, bei
Todesstrafe, in ihrem ganzen Leben nicht wieder in das Land kommen
zu wollen.
Das neunte Kapitel handelt von jenen, die den Frauens¬
personen auflauern (liegt ödovoxaTotivxwv yvvaixäg).
Jene, die den Frauenspersonen auf lauern und sich mit ihnen
gewaltsam einlassen, sollen als Räuber und Feinde Gottes, wenn sie
durch das Weib eidlich überwiesen werden, gegen hundert Streiche
erhalten, und nachdem man ihnen beide Ohren abgeschnitten, mögen
sie entlassen werden.
Sollten sie jedoch hierauf abermals auf derselben Tat betreten
werden, dann sollen sie gegen zweihundert Streiche empfangen, und
nach konfiszierter Habe verwiesen werden.
Jene, die auf dem Marktplatze oder auf offener Straße herum¬
wandeln und ihre Hände unverschämt nach freien Weibern, der
Hurerei und schändlicher Lust wegen, ausstrecken, sollen, wenn man
sie ergreift und das Weib sie anklagt, siebzig Streiche erhalten, mitten
auf dem Platze, wo das Volk ist; nach konfiszierter Habe sollen sie
mit einem Verweise entlassen werden.
Sollte einer auf derselben Tat wieder betroffen werden, dann
wird ihm die Hand abgehauen „als einem höchst Unverschämten“.
Kein von Gott geschaffener Mensch kann sich in irgend einer
Sache selbst Recht verschaffen, bevor er durch Anfrage, wie das
Gesetz befehle, nicht eine gesetzliche Entscheidung erhalten hat. Wer
aber solches wagt, und irgend einen schlägt oder tritt, oder peitscht,
oder mit einem Stabe schlägt, oder geißelt, sei er im Recht oder
Unrecht, ohne Ermächtigung des Gesetzes, sei es auf dem Markte
oder auf dem Wege, oder zu Hause — ausgenommen jene, welche
sich mit dem Unterricht in den Künsten und Wissenschaften be¬
schäftigen, oder der Herr gegen seinen Diener, der Vater gegen seinen
Sohn oder seine Tochter, und wenn er dieses aus gerechter Veran¬
lassung getan hat, und nicht wie manche Jähzornige, die, während
sie einen Menschen bestrafen wollen, ihn erschlagen — sie sollen sechs¬
unddreißig Geißelhiebe erhalten und wird ihnen eine Zehe von den
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Orientalische Strafrechtsstudien.
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Füßen abgehauen, sie sollen aber nach konfiszierter Habe freigelassen
werden.
Das zehnte Kapitel handelt von den Ehemännern, welche
ihre Weiber schlagen (liegt xov (.iti xvnxelv dvdgag xag i'diag
ywaiKag).
Wer seine Ehefrau schlägt, erhält, wenn er ein Reicher ist, sechs¬
unddreißig Streiche und, nachdem ihm ein Verweis gegeben worden
ist, wird er entlassen. Ist er aber ein Armer, dann wird er an seinem
Vermögen gestraft.
Sollte einer in der Folge sich dasselbe zuschulden kommen lassen
und betreten werden, dann wird er eingezogen, und sein Vermögen
wenn es ein geringes ist, von dem Bezirksvorsteher unter die Soldaten,
die ihm folgen, verteilt; ist aber sein Vermögen beträchtlich, so wird
es in den königlichen Schatz gebracht, und der Schuldige aus der
Stadt verwiesen.
Das elfte Kapitel handelt von den Trunkenbolden und von
jenen, die ihren Tieren schwere Lasten aufladen (liegt
f.te&v6vTbtv y.al x(öv (pogxovvxütv za y.xrjvf] atixtöv cpögxta ßagea).
Wenn jemand übermäßig betrunken auf dem Markte mit un¬
sicherem Schritte umhergeht und von Mauer zu Mauer taumelt, so
muß er ergriffen und eingesperrt werden bis zum andern Morgen,
und hat er seinen Rausch ausgeschlafen, dann wird er hinausgeführt
und erhält sechzig Streiche, nachher wird er mit einem Verweise
entlassen.
Diejenigen, welche ihren Lasttieren allzuschwere Lasten auflegen,
sollen überwacht werden. Sie sollen festgenommen werden und gegen
secbsunddreiBig Streiche erhalten, und nachdem man ihnen einen
Verweis gegeben, entlassen werden.
Das dreizehnte Kapitel 1 ) handelt von den Raufbolden
(liegt fiayoiievföv).
Wenn einige auf öffentlichen Plätzen in einer Rauferei betroffen
werden, so sollen beide Teile, jeder mit vierzig Hieben bestraft werden.
Wenn aber der eine Teil, der geschlagen wird, dem Gesetze
gehorsam, seine Hand nicht aufhebt, so ist dieser Teil als unschuldig
zu entlassen, während der Angreifer, wer es auch immer sei, achtzig
Hiebe erhält, auf zwei Monate in das Arbeitshaus zu Zwangsarbeit
gesperrt, dann aber entlassen werden soll. —
Diejenigen, welche einander schmähen und beschimpfen, sollen
festgenommen und mit vierundzwanzig Peitschenhieben gestraft, dann
aber entlassen werden. —
1) Das elfte Kapitel handelt vom Verkaufen an einem Festtage oder Sonntage.
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XIV. Ladislaus v. Thöt
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Wenn einer den andern mit Reden schmäht, der Beschimpfte
aber aas Furcht vor dem Gesetze schweigt, und sich bei der Behörde
beklagt, so soll der Schmäher achtunddreißig Peitschenhiebe erhalten,
seine Habe eingezogen und er entlassen werden. —
Solche, die beim Spiele betroffen werden, sollen gegen zwanzig
Streiche erhalten und mit einem Verweise entlassen werden.
VI.
Die türkischen Rechtsgelehrten 1 ).
Die türkische Rechtsliteratur hat einen anderen Charakterzug als
die arabische, da diese auch viele spezielle Abhandlungen enthält.
Die ersten Rechtsgelehrten der Türkei haben ihre Werke arabisch
geschrieben. Erst in unserem XV. Jahrhundert finden wir Rechts¬
gelehrte, welche in türkischer Sprache schreiben. Solche waren, unter
der Regierung des Mohammed I.:
Ssarudsche Pascha, Jakub von Karaman. Er war der
Verfasser verschiedener juristischer Kommentare und schrieb auch
geschätzte Randglossen zum Hidäja.
Die Rechtswissenschaft zählte unter Murads II. Regierung
mehrere ausgezeichnete Gelehrte, wiewohl noch nicht so viele und so
bedeutende als unter der folgenden Regierung Mohammed II. Solche
waren: Molla Jekän, Schukrullah, Hamsa. Als Verfasser von
Kommentaren über berühmte juristische Werke zeichneten sich aus:
der Molla Seid Ali, der auch ein juristisches Grundwerk schrieb;
weiter: Mewlana Elias, Mewlana Ibn Minas, Mewlana Kasi, Mewlana
Ali Kodschissäri, Mewlana Mohammed, Mewlana Fethullah und
Mewlana Hosameddin. Jusuf Bali Efendi hinterließ einen Kommentar
zum Hidäja.
Die Rechtsgelehrten, welche unter der Regierung des Moham¬
med II. lebten und schrieben, waren: Molla Kurani, der der
Lehrer des Sultans war; Molla Chosrew, ein geborener Grieche,
dessen zwei Werke, die „Stirnenhaare“ und die „Perlen“, die
Grundfesten der türkischen Rechtswissenschaft sind. Weiter: Chod-
schasade, der Randglossen zum Mokthasar Kuduris schrieb;
Chatibsade, Alaeddin Arabi, Ibn Magnesia, Kastellani,
Chiali, Fenari, Hadschi Baba, Sinanpascha, Mussa-
nifek usw.
1) S. das berühmteste Werk von Taschköpritzade „von den Rechts
gelehrten“.
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Orientalische Strafrechtsstudien.
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Unter Sei im I. finden wir auch viele und vorzügliche Rechts¬
gelehrte; solche waren: Ssarigiirf, der über das islamitische Recht
das Werk „Murtesa“ schrieb; Nigisari, Jusuf Dschnneid.
Dieser verfaßte Randglossen zum juristischen Werk „Ssadresch-
scheriat“, Lntfi Sinenpascha usw.
Unter der Regierung Sulejmans I. lebten: der Mufti Kemal-
paschasade, Ischak Tschelebi, Ghazali. Weiter Molla Ibra¬
him von Haleb, der Übersetzer des im ganzen türkischen Reiche
noch heute benutzten islamitischen Gesetzbuches „Der Zusammenfluß
zweier Meere“; Dselalsade, Nichandschi, Ebulfasl, Baki, Turi, Fet-
ballah, Aarif, Ramasansade. Der berühmteste war Tascbköprisade,
der im Werk von „Schaikakun naamaijet“ die Biographien
von 519 Rechtsgelehrten schrieb. Endlich: Hafiz Adschem,
Bingeli, Chaireddin usw.
Die Rechtsgelehrten der Zeit Murads III. waren: Takieddin,
Gharaseddin, Bojalii Mohammedpascha, Fasil Efendi,
Balisade, Abulkadir und Molla Ilusein, Fortsetzer der Bio¬
graphien Taschköprizades. Weiter: Nischandschi, Ssari¬
giirf, der Randglossen zum Hidäja schrieb; Auf, Mahmud Khalfa,
der über die Klassen der hanefitischen Rechtsgelehrten schrieb;
Penwif Efendi, der Randglossen zum Hidäja verfaßte; ebenso:
Abulasis Efendi und Sinan.
Unter der Regierung Mustafas sind zu nennen: Altiparmak,
Risai Alitschelebi, der zehn große Fetwa-Sammlungen in einem
Auszug brachte. Weiter: Menaw, welcher eine Anzahl juristischer
Werke hinterließ; Karadscha Ahmed, Molla Kafi, Molla Mo¬
hammed Tabibsade.
Die berühmteren Rechtsgelehrten der Zeit von Ibrahim I. waren:
Memekfade, Imamfade, Meukufadschi Kara Abdulla,
Ssanifade, Kudsifade usw.
Im achtzehnten Jahrhundert finden wir eine große Menge von
Rechtsgelehrten, welche insbesondere Sammlungen von richterlichen
Entscheidungen herausgeben. So z. B. der Mufti Abdursahim,
welcher gegen zehntausend Fetwa unter dem Titel: „Netidschetol-
Fetawi“ („Das Resultat der Fetwa“) gesammelt hat. Weiter:
Diirisade Esseid Mohammed Aarif Efendi, der achtzehn¬
hundert Fetwa sammelte. Die Sammlung des Mufti Ali hat fünf¬
tausendvierhundert Fetwa; die des Mufti Mohammed Anpora
(„Fetawii Ankarewi“), Atallah Mohammed Efendi, des
Fikhi Mohammed Efendi („Fetawii Atallah Mohammed Efendi“),
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XIV. Ladislaus v. Thöt
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des Oberetlandrichters Wassaf Abdullab Efendi, waren ebenfalls
bekannt.
Weitere hervorragende Rechtsgelehrten waren: Baldirsade,
Hadschisade Mustafa Efendi, dessen Werk unter dem Titel:
„ Busaatol-hukham fiss-ssik“, d. h. „Die Lehre von der Auf¬
setzung von Urkunden“ erschien. — Las isade, der Verfasser zweier
Werke dieser Gattung: „Melischal-hukkam fi muinil kufat“
d. h. „Zuflucht der Obrigkeiten als Hilfe der Richter“, und Subde-
tess-Ssukuk“, d. h. „Auswahl gerichtlicher Aufsätze“. — Außerdem
sind zu nennen: Mustafa Kodosi, Abdursahman Ben Scheich
Mohammed Ben Suletman. Dieser letztere schrieb ein Werk
unter dem Titel: Medschmaol- enhar fi scherhi multaka el,-
ebhur“, d. i. „Der Sammelplatz der Flüsse in der Erläuterung des
Zusammenflusses der Meere“, das ein weitläufiger Kommentar des
Multeka ist.
VII.
Zwei türkische Strafgesetze.
Die türkischen Herrscher sahen mit der Zeit ein, daß die Be¬
stimmungen des Qoräns und der darauf beruhenden religiösen Rechts¬
wissenschaft den Bedürfnissen des Staatslebens nicht mehr entsprechen
können. So erließen sie verschiedene Gesetze unter der Bezeichnung:
„Chatti scherif“, welche die Bestimmungen des religiösen Rechts
verändert oder ergänzt haben.
Die zwei berühmtesten Gesetzgeber der Türken waren: Mo¬
hammed der Eroberer und Suleiman I. Beide hatten auch
ein Strafgesetzbuch publiziert, welches hier auch besprochen wer¬
den soll.
Das „Kanunnäme Sultans Mohammed des Eroberers“
ist eigentlich ein dreifaches Gesetzbuch, welches 1. von der Rang¬
ordnung der Großen und Stützen des Reiches, 2. von den Reichs¬
gebräuchen und Zeremonien, und 3. von den Geldstrafen der Ver¬
brecher und von den Einkünften der Ämter bandelt
Die wichtigsten Strafbestimmungen dieses Gesetzbuches sind:
Das Gesetzbuch erhebt den Brudermord — bei der Thronfolge —
zum Reichsgesetze. Es sagt: „Die meisten Gesetzgelebrten haben es
für erlaubt erklärt, daß, wer immer von meinen erlauchten Kindern
und Enkeln zur Herrschaft gelangt, zur Sicherheit der Ruhe der
Welt seine Brüder hinrichten lasse; sie sollen danach handeln.“ So
sprach der türkische Gesetzgeber!
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Orientalische Strafrechtsstudien.
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Das Gesetz bestimmte auch das Bußgeld für Totschlag; es
waren 3000 Aspern; im Fall, als ein Auge ausgeschlagen worden
war, ist das Bußgeld 1500 Aspern und für eine Kopfwunde
50 Aspern.
Die übrigen Bestimmungen dieses Gesetzes sind Polizeigesetze.
Eine größere Reform enthielt das Suleimansche Gesetzbuch.
Dieser Sultan verwendete darin eine besondere Sorgfalt auf die Straf¬
gesetze, die in fünf Hauptstücken die Grundlage des Strafrechts des
alten türkischen Reiches bildet.
Das erste Hauptstück bestraft die Hurerei nach Maßgabe des
Vermögens, mit einer Geldstrafe von 1000 Aspern für die Reichen,
von 30 Aspern aber für die Armen.
Die Entführer von Knaben und Mädchen büßen dafür mit dem
Verluste ihrer Mannheit
Wer der Frau oder Tochter eines andern aufpaßt, um sie zu
schrecken und sie küßt, erhält scharfen Verweis und zahlt einen
Asper für jedes Wort und für jeden Kuß; wer desgleichen
mit Sklavinnen tut, kommt um die Hälfte leichter davon, indem er
nur für zwei Küsse oder zwei Worte einen Asper zahlt.
Der Anklage der Verführung soll ohne Zeugen nicht Glaube
beigemessen werden; beschwört der Beklagte das Gegenteil, so erhält
das Weib, oder das Mädchen noch richterlichen Verweis und zahlt
einen Asper.
Der Vater, der die Sklavin seines Sohnes beschläft, unterliegt
keiner Geldstrafe.
Wer sich mit Tieren vergeht, erhält scharfen Verweis und zahlt
einen Asper für jeden Betretungsfall. —
Das zweite Hauptstück bemißt die Strafen für Schimpfworte
und Schläge.
Wenn zwei miteinander im Ernste balgen — sagt das Gesetz —,
so daß der eine den Kragen des andern zerreißt, erhalten beide einen
Verweis und zahlen beide Strafe. Wenn sie einander Bart und Haare
ausraufen, werden beide mit Verweis, der Reiche außerdem mit 20.
und der Arme mit 10 Aspern bestraft.
Wer dem andern auf dem Wege auf paßt, oder gar in seinem
Hause angreift, wenn sie sich dann gegenseitig beim Barte reißen
oder sonst tüchtig schlagen, so wird beiden das Vergehen verwiesen;
aber nur der angreifende Teil zahlt die Geldstrafe.
Wer einem andern beim Barte reißt, oder ihm eine Ohrfeige
gibt, zahlt nebst dem erhaltenen Verweise 20 Aspern, wenn er ver¬
mögend ist, und 10, wenn er arm ist.
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302
XIV. Ladislaus v. Thöt
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Wer dem andern den Kopf blntig schlägt, zahlt 10 Aspern; ist
die Wunde von der Art, daß ein Knochen herausgenommen werden
muß, so zahlt derjenige, welcher dem andern auf diese Weise den
Kopf gespalten, 100 Aspern, wenn er bei Vermögen, 50, wenn er
aus dem Mittelstände und 30, wenn er arm ist.
Für einen Totschlag, wenn nicht das Wiedervergeltungsrecht
ausgeübt wird, zahlt der Mörder 400 Aspern, wenn er einer von den
Reichen, 100, wenn er ein Armer, und 20, wenn er vom Mittel¬
stände ist.
Wer verwundet wurde, und keine Zeugen angibt, soll nicht an¬
gehört werden, es sei denn, daß der Beklagte sonst solcher Streiche
verdächtig ist, oder mit dem Verwundeten in offener Feindschaft
gestanden habe, worüber dem Richter die Erkenntnis zukommt
Wird in einem Viertel der Stadt oder in einem Dorfe ein Er¬
schlagener gefunden, so muß genaue Untersuchung angestellt, der
Mörder ausfindig gemacht und nach Gebühr bestraft werden. Wird
aber bloß ein Leichnam gefunden, ohne Spuren eines gewaltsamen
Todes, so darf niemand beunruhigt werden.
Wer den andern mit Pfeil oder Messer verwundet, zahlt nach
erhaltenem Verweise 200 Aspern Strafgeld, wenn er reich, 50, wenn
er arm, und 100, wenn er vom Mittelstände ist.
Wer dem andern auf dem Wege aufpaßt, und mit Pfeilen nach
ihm schießt, wird mit pfeildurchstocbenem Ohre, so daß der Pfeil
darin steckt, öffentlich herumgeführt.
Wer wider einen andern auf dem Wege lauernd den Säbel oder
das Messer zieht, zahlt schon bloß dafür 50 Aspern, wenn er ver¬
mögend, und 10, wenn er arm ist.
Zahn für Zahn und Auge für Auge! Wenn aber das Vergeltungs¬
recht nicht ausgeübt wird, zahlt der Reiche, welcher einem andern
ein Auge oder einen Zahn ausschlägt, 200, der Mittlere 100, der Arme
50, 40, 30 Aspern.
Für Sklaven zahlen ihre Herren die Hälfte dieser festgesetzten
Strafen. Knaben, die sich balgen und schlagen, zahlen keine Strafe.
Wenn Weiber einander schlagen oder bei den Haaren reißen,
gibt ihnen der Richter, wenn sie nicht unter die Verschleierten, d. h.
unter die Frauen von Stand gehören, einen Verweis, und legt ihnen
für je zwei Streiche einen Asper auf. Sind es aber Frauen von
Stand, so läßt er es bei Drohungen und einer Strafe von 20 Aspern
bewenden. —
Das dritte Hauptstück enthält die Strafen des Weintrinkens,
des Diebstahls, des Straßenraubes und der Plünderung.
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Orientalische Strafrechtsstudien.
303
Wer Wein trinkt, unterliegt der Strafe des Richters, und zahlt
für jeden Trunk einen Asper. Der Türke, der Wein preßt, oder
verkauft, wird vom Richter mit einem Verweise und mit einem Asper
Strafe belegt, je für zweimaligen Betretungsfall.
Wer Gänse, Hühner und Enten stiehlt, wird vom Richter mit
Verweis und einem Asper Strafe belegt für die Handlung des Dieb¬
stahls, ohne dessen Wert, der besonders in Anschlag gebracht wird.
Dem, der ein Pferd, einen Maulesel, Esel oder Büffel stiehlt,
wird die Hand abgehauen, oder er zahlt 200 Aspern, wenn er sie
behalten will.
Dem, der heimlich aus dem Hause oder aus der Scheune des
andern Korn stiehlt, wird die Hand abgehauen; er kann sich aber,
wenn er reich ist, mit 40, wenn er bei mittlerem Vermögen ist, mit
20, und wenn er arm ist, mit 10 Aspern loskaufen.
Der Diebstahl von Kleidungsstücken, oder von einem Turban,
Messer, Vortuch usw. wird mit einem richterlichen Verweise und
einem Asper bestraft. —
Nächste Verwandte, die sich untereinander im Hause bestehlen,
kommen mit einem Verweise davon.
Wer im Zorne dem andern den Turban vom Kopfe reißt,
empfängt einen Verweis und gibt einen Asper.
Diebe, welche Sklaven stehlen, Kaufläden erbrechen oder schon
einige Mal auf kleineren Diebstählen ertappt worden sind, werden
gehangen.
Für den Ersatz eines in der Nähe eines Dorfes begangenen Raubes
haften seine Einwohner insgesamt.
Sind die Diebe Lehensträger, so werden sie zwar verhaftet, aber
vor ihrer Bestrafung muß an die hohe Pforte Bericht erstattet werden.
Falschen Zeugen, Verfälschern und Falschmünzern wird die Hand
abgehauen.
Zweimalige Unterlassung des täglich fünfmal gesetzmäßigen Ge¬
betes und Fastenbruch wird mit einem Asper bestraft
Verleumder und Ohrenbläser sollen zum Ersätze des von ihnen
durch Anschwärzung verursachten Schadens verhalten werden. —
VIII.
Das türkische Gerichtswesen.
Der höchste Richter des Reiches ist der Mufti.
Seine unmittelbaren Unterbeamten sind: 1. der „Scheichul
Islam Kiajasi“, d. h. der Stellvertreter des Mufti in allen politi-
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304
XIV. Ladislaus v. Thöt
sehen und ökonomischen Geschäften; 2. der „Telchissdschi“ d. h.
der Vortragmeister, des Mufti Geschäftsmann an der Pforte; 3. der
„Mektubdschi“, d. h. dessen Kanzler; 4. der „Fetwa Emini“,
d. h. der Direktor der Kanzlei, in welcher die Fetwa ausgefertigt
werden.
Die übrigen höheren Richter sind: die „Ssadri“, d. h. die
Oberstlandricbter der einzelnen Provinzen. Jeder von ihnen hat sechs
Beamte unter sich, welche die Geschäfte .seines Wirkungskreises
schlichten: 1. der „Tefkeredschi", d. h. der Bittschriftmeister;
2. der „Rufmamedschi“, d. h. der Tagebuchführer; 3. der„Mat-
labdschi“, d. h. der Rollenführer der Richterstellen; 4. der „Tat-
bikdschi“, d. h. der Bewahrer der Siegel aller Richter, um deren
Echtheit zu erhärten; 5. der „Kiaja“, d. h. der Stellvertreter, der
mit dem Rechnungswesen beauftragt ist.
Der Richter von Konstantinopel (der „Istainbul Kadisi“) ist
auch ein Richter des ersten Ranges. Unter ihm stehen: 1. der „Un
Kapan Naibi“, d. h. sein Stellvertreter bei den Mehlmagazinen;
2. der „Jagh Kapan Naibi“ d. h. der Stellvertreter für die
Magazine für Öl und Butter; 3. der „Ajak Naibi“, d. h. der Stell¬
vertreter für Gewicht, Maß und Marktpreis.
Hierher gehören auch die Molla der beiden heiligen Städte, der
Molla von Mekka und der Molla von Medina.
Unter den hohen Richtern stehen die Kadi.
IX.
Das armenische Strafrecht.
Die in der asiatischen Türkei wohnenden Armenier sind der
Herrschaft des dort geltenden mohammedanischen Rechtssystems nicht
unterworfen, sondern sie haben eine besondere Gesetzgebung 1 ).
Als ihre Grundlage können wir das alte und das neue Testament
und im allgemeinen die heiligen Schriften der Kirchenväter bezeichnen.
Jedoch finden wir darin auch die Spuren der älteren armenischen
Gesetze.
Das armenische Rechtssystem bietet uns auch das Strafrecht.
Die strafrechtlichen Bestimmungen der armenischen Gesetzgebung
beziehen sich insbesondere auf den Diebstahl, Mord, Körperverletzung
und Ehebruch.
1) Diese Gesetzsammlung war in Konstantinopel (1S6S) in armenischer
Sprache und in einer türkischen Übersetzung herausgegeben.
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Orientalische Strafrechtsstudien.
305
Wenn ein Ungläubiger ein Stück Vieh von einem Landmann
stiehlt, so wird er mit dem Verluste seines Gesichts und
einer Hand bestraft, ins Ausland verbannt und seine Familie nebst
seinem Vermögen der Krone übergeben.
Macht sich ein Christ dieses Verbrechens schuldig, so wird ihm
die gestohlene Sache abgenommen, sein Vermögen konfisziert, seine
Familie aber freigelassen.
Wenn ein Ungläubiger einen Christen vorsätzlich erschlägt, so
muß er hingerichtet werden; war der Mord nicht prämeditiert, so
wird ihm der rechte Arm abgehauen und er zahlt eine Entschädigung.
Übrigens kann für den Mord eines „guten Menschen“ keine Ent¬
schädigung festgestellt werden, „denn er ist das Geschöpf und das
Ebenbild Gottes“.
Wenn ein Christ einen Ungläubigen vorsätzlich erschlägt, so
zahlte 122 Goldstücke; geschah es unvorsätzlich, 61 Goldstücke, von
welcher Summe der dritte Teil den Verwandten des Erschlagenen
zufällt.
Wenn aber ein Christ einen andern Christen erschlägt, so hat er
eine Entschädigung zum Vorteil der Anverwandten des Ermordeten
zu zahlen und wird außerdem mit einer seinem Stande angemessenen
Geldbuße belegt.
Zwar sollte ein Mörder nach dem Gesetze selbst wieder mit dem
Tode bestraft werden, aber haut man ihm einen Arm ab, so hat er
noch Zeit zur Reue.
Ist ein Mörder nicht imstande, eine Entschädigung zu zahlen,
so wird er nebst seiner ganzen Familie zum Vorteil der Anverwandten
des Erschlagenen verkauft.
Für einen nicht prämeditierten Mord erfolgt nur die Hälfte der
gewöhnlichen Entschädigung zum Vorteil der Verwandten, außerdem
zahlt der Mörder eine Geldstrafe, Leibesstrafe aber bekommt er nicht.
Wer aus eigenem Antriebe zur Ausführung eines Diebstahls
schreitet und dabei erschlagen wird, der ist für sich selbst verant¬
wortlich.
Ein Kopfgeld kann von Ungläubigen, nicht aber von Christen
eingetrieben werden.
Wer seine Frau wegen Ehebruch tötet, hat es vor Gericht zu
verantworten, „denn wegen Ehebruch befiehlt Gott, sich zu scheiden,,
aber nicht einen Mord zu begehen“.
Wenn aber eine Frau ihren Mann durch Gift oder auf irgend
eine andere Art tötet, so hat sie in diesem und im künftigen Leben
dafür zu büßen.
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306
XIV. Ladislaus v. Thöt
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Wer das Haus eines andern vorsätzlich anzündet und dabei be¬
troffen wird, der wird ebenfalls verbrannt. Wird er von dieser Strafe
verschont, so haut man ihm eine Hand ab und er zahlt die Hälfte
des durch den Brand verursachten Schadens. Erläßt man ihm auch
das Abbauen der Hand, so muß er den ganzen Schaden ersetzen.
Wenn Vieh bei dieser Gelegenheit umkommt, so hat er das Vier¬
fache, für Getreide und Heu das Doppelte zu ersetzen, desgleichen
auch für Kleidungsstücke und andere Sachen, jedoch muß dabei das
Vermögen des Angeklagten berücksichtigt werden.
Wenn ein Weltlicher oder Geistlicher einen Toten bestiehlt und
im Betretungsfalle seine Tat nicht eingesteht, so ist er mit dem Tode
zu bestrafen.
Gesteht er aber sein Verbrechen, so wird er nicht der Todesstrafe
unterworfen, sondern nur von der Kirche ausgeschlossen und zu einer
lebenslänglichen Kirchenbuße verurteilt.
Wenn jemand durch ein falsches Zeugnis unschuldig mit dem
Tode bestraft wird, so muß der Meineidige eine fünfjährige Buße tun
und ein Jahr Kranke pflegen.
Wird jemand durch falschen Zeugen nicht zum Tode, sondern
zu einer Geldstrafe verurteilt und der Meineidige in der Folge ent¬
deckt, so muß dieser allen dadurch entstandenen Schaden ersetzen
und außerdem sich der oben vorgeschriebenen Buße unterwerfen.
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Zur Verteidigung der Graphologie. 1 )
Von
Frau Magdalena Thumm-Kintzel in Gr.-Lichterfelde.
Herr Medizinalrat Dr. Näcke hat im „Archiv für Kriminalanthro¬
pologie und Kriminalistik“, Band 33 Heft 1 j-i unter dem Titel „Grapho¬
logische Randglossen“ eine Reihe von Angriffen gegen die Grapho¬
logie veröffentlicht. Da der Herr Verfasser mich persönlich auf forderte,
event. eine Erwiderung zu schreiben, gibt mir dies eine willkommene
Gelegenheit zur Antwort.
Die beiden ersten Punkte des Aufsatzes lassen sich folgender¬
maßen zusammenfassen:
1. „Was ist Charakter, was eine bestimmte Eigenschaft?“
2. „Wer kennt den sogen. Charakter eines Nebenmenschen gut
genug, um ihn mit Sicherheit zeichnen zu können?“ zwei Fragen, die
von dem Verfasser als unbeantwortbar bezeichnet werden.
Hierauf sei zunächst gesagt, daß die Fähigkeit, den Charakter
eines Nebenmenschen zu erkennen, seine Eigenschaften scharf zu
definieren, dem einen mehr, dem andern weniger gegeben ist, daß
sie ein Talent ist, etwa wie die Kunst der Diagnostik beim Arzte.
Der begabte Diagnostiker vermag eine Krankheit zu erkennen, die
ein weniger begabter nicht sieht. Ebenso vermag ein begabter
Menschenkenner bestimmte seelische Eigentümlichkeiten zu sehen und
in Begriffe zu kleiden, wo einem nicht in dieser Richtung Veranlagten
alles in Nebel zerrinnt Welch gewaltige Arbeit im Erkennen und
Definieren von menschlichen Eigenschaften schon geleistet wurde,
dafür haben wir in der Sprache ein unauslöschliches Dokument.
Welch scharfe Beobachtungsgabe, welch schlagende Begriffsbildung
gehörte dazu, um z. B. Worte zu formen wie „hochmütig“, „nieder¬
geschlagen“, „eigennützig“ 4 „zugeknöpft“, „wankelmütig“, „versteckt“
und zahlreiche andere. Aus der Lebendigkeit der Anschauung heraus
1) Dieser Titel stammt von Unterzeichnetem. Frau Thumm-Kintzel hatte
ihm die folgende Arbeit mit der Bitte übersandt, ihre Veröffentlichung in diesem
Archiv bei Herrn Prof. H. Groß zu befürworten, was geschehen ist
Dr. P. Näcke.
Archiv für Kriminalanthropologie. 34. Bd. 21
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Original from
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308
XV. Thumm-Kintzel
wurde hier ein Wort geprägt, das in sich selbst bereits das Bild der
jeweiligen Eigenschaft uns deutlich vor Augen führt Und was
unsere Vorväter zu leisten imstande waren, sollte das uns so völlig
versagt sein, die wir die Früchte ihrer Arbeit in der Sprache in
Händen haben, die wir soviel reicher ausgestattet sind als jene, die mit
stammelnden Worten dem Gesehenen, Gefühlten erst Form geben
mußten?
Gewiß, sie hatten auch wieder viel vor uns voraus. Der moderne
Mensch ist im Gegensatz zu seinen einfacheren Vorfahren ein höchst
kompliziertes Geschöpf, das — oft herausgerissen aus der ihm ange¬
messenen Sphäre — die Eigenschaften seines Charakters nicht in
angeborener Richtung rein und frei entwickeln kann, sondern dessen
ererbte Eigenschaften durch tausend Dinge in ihrer Entwicklung ge¬
hemmt und ihrer Richtung verschoben werden. So finden wir bei
ihm nur selten klare Farben, reine Töne, sondern meist Mischfarben
und Übergangstöne, die schwer, zu analysieren sind. Nur müh¬
sam lassen sich da oft in dem wirren bunten Knäuel von Eigen¬
schaften (an dem nicht zuletzt auch die unnatürlichen Rassenmisebungen
schuld sind) einzelne Fäden auseinanderhalten und nach Farbe und
Form sondern.
Aber doch gibt es auch heut noch Typen, gibt es „eitle Gecken“,
„Nörgler und Krakehler“, „Schwächlinge“, „Verschwender“, „Egoisten“,
„Schwindler“, „Leichtfüße“, „Pedanten“ und im Gegensatz zu ihnen
einfache, friedliche tüchtige, selbstlos-liebevolle, verläßliche, geniale
Naturen, gibt es Heißblütige und Kaltherzige, Unbesonnene und Be¬
sonnene usw. Wir alle kennen Menschen, die bestimmte Eigenschaften
in ihrem Charakter zu klarster Entfaltung gebracht haben, ja bei denen
oft bis ins Kleinste hinein alle andern Eigenschaften sich dem Ge¬
samtbilde harmonisch angliedern und einen sogenannten Typus bilden.
Zu solchen Typen gehört z. B. eine große Anzahl der chronischen
Verbrecher, wie sie von Staatsanwalt Dr. Erich Wulffen in seinem klassi¬
schen Werke „Psychologie des Verbrechers“ (Verlag Langenscheidt,
Groß-Lichterfelde 1908) so anschaulich geschildert wurden. Zu solchen
Typen gehören ferner viele Geisteskranke, besonders die Paranoiker.
Wie die handschriftlichen Zeichen instinktiven Täuschens und
Betrügens bei Fälschern und Hochstaplern, die Zeichen der Habgier
und Schwäche bei Dieben, die Zeichen für das Gewalttätige, rück¬
sichtslos Brutale bei Einbrechern und Raubmördern sich am leichtesten
erforschen lassen, so ist die Handschrift des Paranoikers mit Größen¬
wahn geradezu klassisch für Eitelkeit, Dünkel, Sichselbstanpreisen
und naiven Egoismus. Nirgends finden wir solche Auswüchse dieser
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Zur Verteidigung der Graphologie.
309
Zeichen wie gerade bei ihm. Und dasselbe gilt für die handschrift¬
lichen Zeichen der Rechthaberei, des Streitens und Querulierens beim
paranoischen Querulanten und für die Zeichen des Ängstlich - Mi߬
trauischen, des zaghaften Zauderns beim paranoischen Verfolgungs¬
wahn. Und wie die handschriftlichen Züge der Manie und Melan¬
cholie die gegensätzliche Stimmungslage so anschaulich zum Ausdruck
bringen, das ist wohl den meisten Psychiatern bekannt; auch könnte
man in ähnlicher Weise die Hysterie, die Epilepsie, den Alkoholismus
und manch andere Erkrankungsformen der Psyche heranziehen.
Hier also müssen wir mit unseren handschriftlichen Studien ein-
setzen, an solch klassischen Fällen muß unser Blick sich bilden und
schärfen und Sicherheit der Diagnose gewinnen. Haben wir uns an
solchen Typen das Bild einer handschriftlichen Geste scharf eingeprägt,
dann werden wir es auch in schattenhafterer Form und in Ver¬
schmelzung mit andern Gesten der Handschrift wiederzuerkennen
vermögen und dürfen uns dann auch an kompliziertere Handschriften
heranwagen. Auch der erfahrene Arzt verzweifelt nicht an der
Möglichkeit einer Diagnose, wenn die Fülle von oft gegensätzlichen
Symptomen fast verwirrend erscheint. Auch für ihn ist es oft un-
gemein schwer, aus einer Komplikation von Symptomen ein reines
Bild der Krankheit darzustellen, auch er sucht sich zunächst für
Studienzwecke klassische Fälle, wagt sich dann aber auch an Kom¬
plikationen des Krankheitsbildes heran. Genau so verfährt der ver¬
nünftige Graphologe.
Es ist also wohl schwer, aber keineswegs unmöglich, auch einen
komplizierten Charakter richtig zu erkennen und seine Eigenschaften
zu definieren.
So können wir jetzt zu Punkt 3 in den Ausführungen des Herrn
Medizinalrat Dr. Näcke übergehen. Er lautet: „Die vieldeutige Wurzel
der meisten sogen. Eigenschaften sind eine dritte kaum zu über¬
windende Schwierigkeit für den Graphologen. Ein Zeichen für eine
bestimmte Eigenschaft zu finden, ginge daher kaum an, es müßten
eben mehrere Zeichen sein.“
In der Tat ist das Bild vieler Eigenschaften ein höchst viel¬
farbiges. So kennen wir z. B. schon heute sechs ganz verschiedene
handschriftliche Zeichen für allerlei Arten der Eitelkeit: als Spiegel¬
eitelkeit, als sich überhebender Dünkel, als höhnische Arroganz, als
sich anpreisende Eigenliebe, als sich zierende Affektiertheit, — und
viele andere harren noch der Erforschung. Sie alle haben aber zu¬
nächst eine Einheit der Form durch das was sie als eitel stempelt, —
sind anderseits aber differenziert durch ihre Verbindung mit einer
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XV. Thumm-Kintzkl
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oder mehreren andern Eigenschaften, die die Form des Zeichens —
diesen Nebeneigenscbaften entsprechend — variiert. Es sind aber
gerade diese Verknüpfungen, diese vielfach verschlungenen Wurzeln
der Eigenschaften ein Kriterium für die Zuverlässigkeit des jeweiligen
Zeichens insofern, als nur das Zeichen sich passend in das Gesamt¬
bild einfügt, das wirklich am richtigen Platze steht, wirklich richtig
gedeutet wurde. Steht es an verkehrter Stelle, so ruft es sogleich
wildeste Widersprüche hervor. Wie ich an anderer Stelle sagte:
„Der Komplex der handschriftlichen Zeichen ist wie ein Mosaikbild,
wo jedes Steinchen durch Besonderheiten der Form oder Farbe auf
einen bestimmten Platz angewiesen ist, wenn die Harmonie des Ganzen
gewahrt bleiben soll. Es läßt sich nur dann sinngemäß in das Ge¬
samtbild einfügen, wenn es da steht wo es hingehört (d. h. richtig
gedeutet wurde), steht es dagegen an verkehrter Stelle, so ruft es
sogleich Reibungen hervor, es entstehen Widersprüche mit andern
Zeichen, die einen Irrtum verraten.“
Ähnlich vielfarbig wie die Eitelkeit ist die Lüge, für die wir
sieben ganz verschieden zu deutende handschriftliche Zeichen schon
heute kennen, ferner die Willensschwäche, die intellektuelle Begabung
usw. Die verschiedenen Wurzeln einer Eigenschaft sind im Schrift¬
bilde also ebenso mannigfaltig, lassen sich hier aber festhalten, messen,
analysieren, — und das ist der große Vorzug der Graphologie. Es
sei auch hervorgehoben, daß hier die ersten Schritte die schwersten
waren. Hatte man nur einige wenige handschriftliche Zeichen richtig
gedeutet, nur wenige Eigenschaften an den rechten Platz gestellt, so
lassen sich die nachfolgenden sehr viel leichter um sie herum
gruppieren.
Das aber kann ich rücksichtslos unterschreiben, daß — wie Herr
Medizinalrat Dr. Näcke sagt — jeder Graphologe ständig Änderungen
an seinem System vornehmen, ständig umlemen und weiterforschen
müßte. Wir sind gewiß hier nur ganz im Anfänge der Forschung
und werden — wie auch der Mediziner, vor allem der Psychiater —
niemals ein Ende erreichen. Doch wollen wir zufrieden sein, wenn
es uns vorläufig gelingt, in großen Strichen die Menschen voneinander
zu sondern und das zarte, vielverschlungene Gewebe einer mensch¬
lichen Seele wenigstens in seinen Grundlinien darstellen zu können.
Und das vermögen wir schon heute und dieser bescheidene Anfang
soll uns zu weiterem Forschen ermutigen.
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XVI.
Dunkle Linien in der Schrift und verwandte Erscheinungen.
Von
A. Delhougne, Mülhausen im Elsaß.
Mit 4 Abbildungen.
„Je klarer der Schriftsachverständige sich die Ent¬
stehung der Handschrift im einzelnen vorstellen kann,
desto besser und leichter wird er die willkürlichen und
unwillkürlichen Schriftveränderungen und deren Ursachen
herausfinden, m. a. W. die Handschrift analysieren, phy¬
siologisch zergliedern und ihre Merkmale (Schrifteigentüm-
lichkeiten, Schreibgewohnheiten) nachweisen können. Darin
liegt das ganze Geheimnis der Handschriftenvergleichung“.
Dr. jur. Hans Schneickert.
Dieses Geheimnis ein wenig zu lüften ist der Zweck der folgenden
Zeilen. — Nachdem ich in Band 32 S. 56 ff. eine erste Darstellung
über Entstehung dunkler Linien in der Schrift gegeben habe, will
ich dieses Mal die dunklen Linien und die verwandten Dinge etwas
eingehender besprechen. Dies erscheint um so angezeigter, als manche
Leser den Wert und die Wichtigkeit dieser Realerscheinungen nicht
erkannt haben. Es mag dies darauf zurückzuführen sein, daß für
die Beobachtung dieser Linien wesentliche optische Schwierig¬
keiten vorhanden sind. Denn mit dem gewöhnlichen in den opti¬
schen Geschäften vorrätigen Lupen material von enormer Größe
und Glasdicke, das nicht einmal chromatisch korrigiert ist und ge¬
waltige Figurenverzerrungen nach den Rändern aufweist, erblickt
man nur ausnahmsweise eine besonders starke Linie. Auch die Ver¬
größerung reicht meist nicht aus. — Mit dem Mikroskope aber
sind diese leichten, je nach dem Individuum verschiedenen, oft nur
gering eingeritzten Linien, zumal im dunkeln oder schwarzen Unter¬
gründe so wenig wahrzunehmen, wie etwa die Linienbildungen auf
einem Damasttischtuche, die durch gleichlaufende Kreuzungen und
Übereinanderschiebungen der Fäden entstehen; unter dem Mikroskope
sieht man hier nur Gespinstfasern, dort nur Papierfasern und die¬
jenigen, welche nicht zu mikroskopieren gewohnt sind, können sich
vielleicht eine Vorstellung davon machen, wenn sie hören, daß bei
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312
XVI. A. Delhoügne
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Einstellung des Mikroskopes auf die Oberfläche eines Striches
mit einer modernen Tinte, die von der nachträglichen Oxydation des
Eisenoxydulsalzes herrührende schwarze, oft bloß schiefergrauschwarze
Färbung der Papierfasern sichtbar wird; — bei Einstellung auf den
Rand derselben Linie aber erblickt man zuweilen die zum Auffärben
benutzten Farbstoffe: (früher Indigo, später Teerfarbstoffe, wie Phenol¬
blau u. dergl.). Das Beste, was man sich für die Beobachtung dieser
Linien wünschen möchte, wären große Lupen mit starker Vergröße¬
rung, chromatisch und aplanatisch korrigiert. — Eine ziemlich gute
Lupe ist schon die sog. Frauenbofersche Lupe, bestehend aus zwei
plankonvexen Gläsern, wie sie häufig von Rouleauxstechern, Gra¬
veuren und Molettestechern benutzt wird. Sie hat eine Apertur bis
zu 50 mm, aber gewöhnlich nur 4—6fache Vergrößerung. — Von
Cylinderlupen, Coddington-, Brewster- und ähnlichen Lupen will ich
gar nicht sprechen; die Konstruktion der besten von ihnen läuft darauf
hinaus, daß durch Einschnitte rings herum die Randstrahlen abge¬
schnitten werden sollen. — Am brauchbarsten habe ich die St ein-
heilschen aplanatischen Lupen gefunden, die aus einer ungleich¬
bikonvexen Crownglaslinse mit zwei angekitteten Flintglasmenisken
bestehen. Sie haben ein sehr ebenes farbenreines Gesichtsfeld und
eine gute Korrektion der Bilder. Ich bediene mich solcher aplana-
tischen Lupen von Ernst Leitz in Wetzlar, die dort zu 10 M. das
Stück zu haben sind. — Doch bat
Nr.
62
bei
8i
mal.
Vergrößerung 20
mm
Gesichtsfeld
11
63
11
10
11
11
15
ii
»
17
64
17
12
11
11
12
ii
11
11
65
11
16
11
71
10
V
ii
11
66
11
20
11
H
3,5
11
11
71
67
11
30
11
11
2
11
11
11
68
11
40
11
11
1
11
11
Nach den eigenen Angaben des Fabrikanten „eignen sich die
starken Aplanate Nr. 64—68 nur für Stative mit Zahn und Trieb.“
Da aber manche dieser Linien erst bei 16 maliger Vergrößerung
sichtbar werden (Nr. 65), so wird man begreifen, daß ein im Mikro¬
skopieren und Lupieren wenig oder gar nicht geübter Richter, der
die Erläuterungen des Sachverständigen nachzuprüfen hat, mit so
kleinen Gläschen wohl gar nichts sehen wird.
Eine derartig korrigierte Lupe mit wesentlich größerem Ge¬
sichtsfelde (als vorher angegeben) herzustellen, ist der Firma Ernst
Leitz so wenig möglich als derjenigen von Carl Zeiß in Jena
Letztere Firma liefert aplanatische Lupen nach Steinheil zu
18 M. das Stück oder als Einschlaglupe zu 21 M.
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Original fram
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Dunkle Linien in der Schrift und verwandte Erscheinungen.
313
Nr. 9 und 10 haben bei 6 mal. Vergrößerung 36 mm Gesichtsfeld
>» 10 „ 12 „ „ 1 0 „ „ 15 „ „
Außerdem liefert Carl Zeiß in Jena noch anastigmatische
Lupen mit vierlinsiger Konstruktion, die nach Angabe des Fabri¬
kanten „selbst bei starken Vergrößerungen noch in allen Teilen eines
verhältnismäßig großen Sehfeldes eine gute Abbildung geben und dabei
einen überraschend großen freien Objektabstand besitzen.“ Sie kosten
22 M., als Einschlaglupe 25 M., als Doppellupe 42—48 M. Es hat
Nr. 1005 bei 16facher Vergrößerung 10 mm Gesichtsfeld
,, 1010 ,, 2 0 „ ,, 8 „ ,,
„ 101 5 „ 2 7 ,, „ 6 >> n
Verantlupen mit l 2 /s— 3 '/ 2 facher Vergrößerung, Chevalier- oder
Brückesche Lupen mit Objektiv und Ocular (ähnlich wie holl. Fern¬
rohr), ebenso stereoskopische Lupen (zweiäugig) wie die binokulare
Handlupe nach Eilhard Schultze scheinen mir wegen der geringen
Vergrößerung (4 mal) und der größeren Belästigung beim Untersuchen
wenig geeignet.
Es liegen also bedeutende optische Schwierigkeiten für die Be¬
obachtung dieser Linien und das Absuchen ganzer Schriftstücke vor.
Ich habe selbst „Sachverständige“ gefunden, die behaupteten, sie
sehen nichts. Anderseits habe ich in bestimmten Fällen meine eigenen
Beobachtungen durch den im Mikroskopieren sehr erfahrenen Vorsteher
des städtischen chemischen Untersuchungsamtes zu Mülhausen i. Eis.,
Herrn Dr. Gronover, verifizieren lassen und gerade dieser Herr war
es, der mich veranlaßte, an Herrn Prof. Dennstedt vom Hambur-
gischen Staatslaboratorium zu schreiben.
Wenn ich nun in meiner ersten Darlegung sagte, daß man die
meisten der hierhin gehörigen Fälle schon bei Verfolgung des Meyer-
scben Prinzips über Schriftrinne und überstehenden Band hätte auf¬
klären können, so ist es andererseits das Verdienst Soenneckens schon
im Jahre 1881 auf den Gang und die Beobachtung der Federbein¬
linien aufmerksam gemacht zu haben. Freilich geschah dies nicht
in der Absicht Schriftidentifikationen vorzunehmen, sondern lediglich,
um die Unmöglichkeit darzutun, mit den heute üblichen spitzen
Schreibfedern die sog. eckigspitzen deutschen Schriftbuchstaben so
nachzubilden, wie die Kupferstecher und Lithographen im Verein mit
den Kalligraphen sie vorschrieben. So weist er in seinem Werke:
„Das deutsche Schriftwesen und die Notwendigkeit seiner Reform“
v. Friedr. Sönnecken, Bonn-Berlin 1881 nach, daß die spitzen sog.
deutschen Schriftfiguren aus der Benutzung abgestumpfter Federn
ohne Druckanwendung hervorgegangen sind und erläutert dies
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314
XVI. A. Delhocune
auch an vergrößerten Figuren, um die entstehenden „Trugformen“
zu zeigen, die sich wirklich spitz nnr mit breitspitzigen Federn
schreiben lassen. Man vergleiche auf der Soenneckentafel die „Trug-
formen“ 1—6 mit 7 und 8.
Es wird sofort ersichtlich, daß die „geschätzten spitzen elastischen
Scbreibfedem“ an Stelle der spitzen Formen rundliche verlangen.
Die dabei zutage tretende Beobachtung der Federbahnen, wie über¬
haupt der ganzen Schriftzüge ist aber weder von der Didaktik des
Schreibens noch von der Schriftvergleichung genügend gewürdigt
worden. Die maßgebenden Pädagogen beschränkten sich meist darauf,
ihre Schüler verständnislos die eigenen Schriftfiguren schematisch
nachmalen zu lassen, was teilweise dahin ausartete, selbst ganze Schul¬
inspektionsbezirke nur z. B. in Steilschrift unterrichten zu lassen —,
eine Formensklaverei, die von der Psychologie und der Physiologie
des Schreibens keine Ahnung hat und nur an die Pedanterie im
Reiche des Zopfes erinnert.
Bei der Schriftvergleichung ist die Beobachtung der Federbein¬
linien — wenn nicht ganz, so doch teilweise — wahrscheinlich auch
schon von früheren Sachverständigen geübt worden. Dafür sprechen
ihre Angaben über den „Federstrich“ seit Raveneau (1656). —
Wer sich hierfür weiter interessiert, der lese in A. Bertilion, la
comparaison des Gcritures et l’identification graphique oder die betr.
deutsche Übersetzung in Dr. jur. Hans Schneickert, Bedeutung
der Handschrift im Zivil- und Strafrecht S. 123 nach. — Aus dem
Kapitel (X) geht hervor, daß die Sachverständigen früherer Zeit ebenso
wie Adolf Henze ihr Geheimnis sorgfältig gehütet haben; ferner,
daß auch Bertillon sehr wohl die verschiedenen Einflüsse der Körper-
Arm-, Hand- und Fingerhaltung („ob der Druck vom Zeigefinger
oder vom Daumen ausgehe“) gekannt hat. — Jedoch blieb es
Dr. Georg Meyer Vorbehalten, einen entscheidenden Schritt weiter
zu gehen.
Das eben erwähnte Werk Soenneckens ist aber noch in anderer
Hinsicht wichtig. Bei der Aufzählung der Literatur erwähnt er S. 26
auch Wolfgang Fuggers „Formular manncherley schöner schrieff-
ten“ vom Jahre 1553. Darin mahnt Fugger auf Bogen c, Blatt II:
„Merck auch/ das du die federn zwischen den fingern nit hin
vnn herweltzest/ oder etwan verwendest/ sonder/ wie du sie
erstmals fassest vnnd aufsetzest/ also füre sie vnuerruckt fort/ dann
die federn bringts selbst mit sich / wo der Buchstab dick oder dünn
sein sol.“ — Geht hieraus nicht schon hervor, daß alle Schreiblehrer
mit ihren allgemeinen und besonderen Vorschriften die Individua-
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Dunkle Linien in der Schrift und verwandte Erscheinungen.
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lität der persönlichen Eigenart nicht zu unterdrücken im¬
stande waren?
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Dieses Wälzen und Wenden des Federhalters und die dadurch
bedingte Registrierung haben wir aber als unbewußtes individuelles
Merkmal neben anderen Dingen in den späteren Erläuterungen zu
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XVI. A. Delhoüokb
beachten. Da ich seit Fugger keinen Schriftsteller kenne, der dieses
Drehen und Wälzen erwähnt — wenn man nicht Berdllons „Druck
vom Zeigefinger oder dem Daumen" dahin auslegen will —, so er¬
scheint es doppelt wichtig, einen so alten Gewährsmann anzuführen
gegenüber solchen, die eine derartige Manipulation der Feder nicht
beobachtet haben. Ebenso sind auch die Soenneckenschen Demon¬
strationsfiguren für den Sachverständigen sehr lehrreich, wenn auch
im praktischen Schreibgebrauch die Spitzen abgerundete oder abge¬
stumpfte Ecken bei der Vergrößerung zeigen.
Halten wir nun Bundschau im Handschriftenmaterial, so sehen
wir nach dem Vorgänge der alten Schreiblehrer des 16. und 17. Jahr¬
hunderts und ihren Vorschriften zunächst solche Handschriften, die
dadurch entstehen, daß nur die leiseste Berührung oder minimale An¬
näherung an das Papier den Adhäsionstintentropfen geläufig
weiterführt, ohne die Spur einer Federspaltung sichtbar zu hinter¬
lassen. Dies kann sowohl durch breitspitzige Gänse- und Bohrfedem,
durch ebensolche Stahlfedern (Bundschriftfedern), durch Kugelspitz-
und ähnliche Federn, wie auch durch gewöhnliche spitze Federn,
Stylographs, Glasröhrchen, Holzspähne, ja selbst mit der umgekehrten
Feder geschehen. Eine so entstandene reine Adhäsionsschrift
ist übrigens selten. Die meisten Handschriften zeigen Druckspuren
der Feder (Pressionsschrift) in dunkeln Linien und Färbungen
verschiedenster Art und das trotz aller didaktischen Schulvorschriften
älterer und neuerer Zeit Wenn es zwar den Pädagogen gelingt nach
den notwendigen allgemeinen Schulvorschriften eine Durchschnitts¬
figur zu erzielen, so sollte doch das Bestreben darauf gerichtet sein,
mehr eine individuellschöne als eine schablonenmäßig schöne Schrift
zu erzielen. (Wer sich für wirklich schönes Schreiben interessiert, den
verweist ich auf Langenbruck: Die Handschrift, Hamburg, L. Voß,
1895, S. 3, 97 u. s. f.; ebenso auf Preyer, Solange Pellat u. a.)
Die einfachste Form dunkler Linien sind die Bandlinien oder
Grenzlinien, welche durch das Eindringen der auseinandergespreizten
Federbeine in das Papier und das dadurch bedingte stärkere oder
schwächere Einfärben der Papierfasern am Bande der Schrifbahn ent¬
stehen. — Vor allem ist der Auffassung entgegenzutreten, als ob solche
Einzeichnungen im wesentlichen vom Tintenmaterial abhängig wären.
Zwar färben klarfließende Tinten vorzugsweise die Fasern, während
pappige Tinten, Bußtinten, Tusche und dergl. nur an der Papierober¬
fläche haften und verhältnismäßig wenig in die Fasern eindringen.
Aber derartige Einzeichnungen sind in erster Hinsicht durch das schrei¬
bende Individuum, sodann auch durch das Schreibinstrument bedingt.
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Dunkle Linien in der Schrift und verwandte Erscheinungen. 317
Die echten Randlinien bieten dem Beobachter schon mancherlei
Verschiedenheiten dar. So geben sich Individualerscheinungen da¬
durch kund, daß bei der einen Handschrift der gleichmäßig starke
Druck auf die beiden Federbeine bei gewöhnlicher Haltung des
Federhalters gleichstarke Randlinien hervorruft; bei andern
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XVI. A. Delhougne
Handschriften zeigt sich ein stärkerer Druck an der rechten oder
an der linken Seite; bisweilen zeigt er sich anch für ein und das¬
selbe Individuum abwechselnd mit Vorwiegen von Rechts- oder
Linksdruck, welcher von den unbewußten Innervationsbewegungen
herkommt.
Für diese Drehbewegung des Federhalters vergleiche man Fug¬
gers Schreibvorschrift von 1553 u. a.
In dieser Gruppe findet der Sachverständige schon viele gute
Anhaltspunkte, besonders um wirklich oder angeblich ähnliche Schrift¬
züge (z. B. von Geschwistern) voneinander zu scheiden. Denn wenn
wir es im allgemeinen als nicht zu schwer bezeichnen können, die
Schriftzüge eines anderen figürlich („lithographisch-ähnlich“) nachzu¬
malen, so ist es sehr häufig möglich zu konstatieren, daß der Ano¬
nymus oder Fälscher nicht auch eine scheinbar so geringfügige Sache,
wie die Kantenstellung des Federhalters nach rechts oder links, die
Hand-, Arm- und Körperstellung bei der verschiedenen Winkelhöhe
und dergl., d. h. überhaupt die plastische Struktur der Schrift richtig
erfaßt und wiederzugeben vermag. Vielmehr ganz von der Absicht
befangen, eine äußerliche figürliche Darstellung der betr. Schrift¬
vorlage möglichst getreu zustande zu bringen, zeichnet er unwillkür¬
lich die weniger augenfälligen Schreibgewohnheiten seiner eigenen
Handschrift als sichere Identitätsspuren mit hinein.
Bei der Beobachtung der Randlinien können aber auch optische
Täuschungen dadurch entstehen, daß man die Tintenanhäufung am
Rande, besonders rechts und rechtsunten, häufig als Federbeinlinien
ansieht. Dies kommt daher, weil durch die Tintenfeuchtigkeit sich
das Papier ausdehnt und durch minimale ^Hebungen innerhalb der
Schriftbahn die Farbstoffe am Rande abgelagert werden (cfr. Anilin¬
tinten mit metallischem Glanz); gleichzeitig setzt das oft hart geleimte
Papier an der Grenze von Feuchtigkeit und Trockenheit größeren
Widerstand entgegen, während bei wenig geleimten oder stark sau¬
genden Papieren (Fig. 33) die Flüssigkeit über die direkt berührten
Linien hinausläuft. Diese letztere Erscheinung kommt besonders bei
Kunstdruckstrich = matt oder halbglanz (Flaschenetikettpapier und
gewisse Sorten billiger Ansichtspostkarten) vor, wo bei genauer Beob¬
achtung die schönsten Kurvengänge der Federbeinlinien beobachtet
werden können (Fig. 34). Andererseits werden durch pappige Tinten
oft in der Nähe des gefärbten Randes liegende Federbeinlinien über¬
deckt. Aus übertriebener Vorliebe für eine deutlich abstechende sofort
schwarze Tinte beraubt sich mancher des besten Sicherheitsmittels
gegen Fälschungen, während unsere modernen Tinten gerade an den
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Dunkle Linien in der Schrift und verwandte Erscheinungen. 319
Rißstellen der Federbeinlinien in die Papierfasern eindringen und un¬
sichtbare Eisenoxydulsalze ablagern, deren Spuren selbst nach mecha¬
nischem Radieren unter Anwendung gewisser Chemikalien oft noch
entwickelt werden können.
Man beachte noch die dem Rande meist folgenden Linien mit
Strichpunkten in Fig. 71, ferner die überstarken Randlinien bei 38
und 39; Fig. 39 mit starkem Rechtsdruck.
Eine wichtige Beobachtung ist auch die, daß die an den Haar¬
strichstellen liegenden Ereuzungspunkte der Federbein¬
linien eben durch das gewohnheitsmäßige Nachlassen des Druckes
verschwinden, die Pressionsschrift also streckenweise in reine Adhäsions-
schrift übergeht, wodurch ihre Randzeichnung ins Unbestimmte ver¬
wischt erscheint, bis eine neue Druckwelle wieder eine neubeginnende
Registrierung veranlaßt. — Wo wir also in Schlaufen und Ecken
Kurvenübergänge der Federbeinlinien ganz oder teilweise eingezeichnet
finden, auch wo nahestehende Linienteile durch Adhäsion des Tinten¬
tropfens und zusammengeflossene Tinte überragt werden (Schlaufen-
und Eckenverlauf) (Fig. 58), dürfen wir diese Dinge als individuelle
Zeichen auch in der Schriftanalyse der näheren Beachtnng würdigen.
Damit kommen wir zu den schwierigsten Erscheinungen dieser
Art, den eigentlichen dunkeln Linien, den Transversal¬
linien.
Sie entstehen, indem bei relativ niedriger Haltung des Feder¬
halters innerhalb der durch den Adhäsionstropfen weitergeführten
Bahn die Federbeinlinien in die Papieroberfläche Gravuren, Ritzen
oder auch geradezu Risse einzeichnen. Nach der in Bd. 32 S. 60/61
vorgenopamenen Einteilung zerfallen die hierhin gehörigen Linien in
zentripetale und zentrifugale Linien.
A. Zentripetale Linien zeigen sich nur bei Abstrichen und
gruppieren sich in
1. Stellungstransversalen und
2. Torsionstransversalen. ’
Erstere hängen nur vom Projektionswinkel des Federhalters zur
Papieroberfläche ab und entstehen, sobald dieser Winkel so klein wird,
daß der Adhäsionstropfen eine andere, größere Bahn beschreibt als
die Federbeine. — Stellungstransversalen haben daher die
regelmäßige Federstellung, d. h. mit gleichmäßigem Druck auf beide
Federbeine, gleichviel ob die Richtung des Federhalters von unten,
rechtsseitwärts oder auch in allen sonst möglichen Richtungen der
Schriftrose liegt. Man beachte die Figuren 1—5, wobei der längere
Pfeil jedesmal die Richtung des Federhalters angibt. Auch wird
inan bei derartigen Scbreibversucben nicht immer an der sog. Innen-
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XVI. A. Delhougxe
seite, d. b. der schreibenden Hand zugerichtet gerissene Bandlinien
finden; es kommen mitunter auch ganz glatt verlaufende Schein¬
linien vor.
Sehr ähnlich und leicht mit den vorstehenden zu verwechseln
sind die Torsionstransversalen mit Kantenstellung der Feder
nach rechts (Fig. 6, 7, 39) oder nach links (Fig. 8—10). Ent¬
sprechend den bei den Bandlinien gemachten Erläuterungen zeichnen
sie hiernach rechts oder links stärkere Federbeinlinien in die durch
den Adhäsionstropfen verbreiterte Schriftbähn. Naturgemäß wiegt
die Drehung nach rechts bei den meisten Individuen vor und die
Torsionen nach links sind selten. Doch findet man Transversal-
scbreiber, bei denen man die Bekonstruktion der Zeichen nicht zuwege
bringt, ohne (wie Fugger klagte) mit dem Federhalter zu drehen
und zu wälzen. So zeigt der Schreiber der Fig. 42—60, welche den
Unterschriften einer Person entnommen sind, meistens Bechtsdrehung;
in den Schlußparaffen aber Linksdrehung, was man an den ent¬
sprechend gestellten Möndchen, welche den ungefähren Durchschnitt
der Feder angeben sollen, ablesen wolle. Zur Bemerkung diene noch,
daß diese Schlußparaffe relativ viel Ähnlichkeit mit derjenigen in
Fig. 21 hat; aber die Schreiberin dieser letzten schrieb die in Fig. 16
bis 21 dargestellten zentrifugalen Spreiztransversalen, von denen
gleich nachher die Bede sein wird.
Hier, wie überhaupt bei diesen Beobachtungen gilt die Begel,
daß der Sachverständige sich in der Analyse mehr von dem Ergebnis
der praktischen Schreibversuche wie von den theoretischen Erläu¬
terungen führen lassen soll.
B. Zentrifugale Transversalen entstehen durch Spreizen
der Federbeine nach aufwärts, also mit aufwärtsgleitendem oder
gespanntem Druck; auch bei i^nen sind Torsionen (entgegen meiner
ersten Beobachtung) möglich; wir unterscheiden deshalb (wie bei A):
1. Stellungszentrifugale Linien.
2. Torsionszentrifugale Linien.
Man vergleiche zum Unterschiede die Figuren 13—20, 23 u. 26
mit 24 und 25. Sie unterscheiden sich im wesentlichen durch die
an gewissen Stellen (ev. auch an anderen Buchstaben) hervortretende
Begistrierung von Rechts- oder Linksdruck infolge der Kantenstellung
rai} gleichzeitiger Spreizstellung der Feder. Je nach dem Neigungs¬
winkel und dem Schreibmaterial (starksaugendes oder feuchtes Papier)
können sie eine oder zwei Schriftrinnen zeigen. — Als gemeinsames
Merkmal kann man beobachten, daß infolge von Automatismus zahl-
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Dunkle Linien in der Schrift und verwandte Erscheinungen.
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reiche Transversalanschläge auch in zentripetaler Richtung in ihrem
Gefolge erscheinen können (man vergl. die Fig. 13, 14, 19, 20; auch
23—25). Es wird ersichtlich sein, daß sich bei diesen Bewegungs¬
erscheinungen ganz andere Individualrekonstruktionen vor dem Auge
des Sachverständigen ergeben wie unter A.
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Zu den zentrifugalen Bewegungserscheinuugen gehören
auch die mehr oder weniger starken Gabelspitzen („Kuhhömchen“)
an den oberen Teilen mancher Schriftfiguren (Fig. 26—28, 40, 70),
welche dadurch entstehen, daß bei einer gewissen schon vorhan¬
denen oder dort erst eintretenden Spreizstellung der Federbeine
ein kleiner Stoß nach aufwärts und wieder abwärts geführt wurde,
ohne den Tintenverlauf zwischen den Spitzen zu bewerkstelligen.
Dies wird begünstigt, wenn der Tintentropfen eine andere Adhäsion
von der Feder zum Papier leichter findet, also bei relativ geringem
Projektionswinkel des Federhalters an der entgegengesetzten Seite.
Daß hierbei wieder mancherlei Variationen eintreten können, daß
gleichzeitig auch Transversalbildungen entstehen können, ist klar
(Fig. 26); ebenso daß dies wieder eine große Ausbeute an Individual¬
erscheinungen bietet. — Optische Täuschungen können auch
hier wieder Vorkommen, wie Fig. 30 dartut. Das betreffende Wort
hieß „quatre“; es ist klar, daß die äußerliche Ähnlichkeit mit einer
echten Gabelspitze leicht den Irrtum hervorrufen konnte, daß die
Schreiberin dieselbe Person sei, welche auf einem zwischen Text und
Datum freien Zwischenraum einen Zusatz gemacht hatte, in welchem
mehrere echte Gabelspitzen registriert waren. Das r der ersten Person
in der nebengestellten Form hat zu seiner Herstellung zwei zentri¬
fugale Einzelbewegungen nötig gehabt, die zufällig so nahe
nebeneinander zu stehen kamen, daß man sie bei flüchtiger Be¬
obachtung für eine Gabelung halten könnte; der betr. Fälscher schrieb
echte Gabelspitzen. — Man sieht hier wiederum, wie wichtig solche
Bewegungsrekonstruktionen werden können, wenn man von ihnen auf
das betreffende Individuum schließen soll. Da helfen keine mecha¬
nischen Vergleiche mehr.
Noch interessanter als die gewöhnlichen Gabelspitzen, die sich
bei i, u und dergl. besonders bemerkbar machen, sind diejenigen mit
ausgesprochener Kantenstellung nach rechts, wie bei Fig. 40. Die
Kimme liegt dabei mehr rechts, während bei Fig. 70 neben ganz
anderen Erscheinungen mehr Linksdruck (wenn auch nicht in so
starkem Maße wie bei Fig. 40 nach rechts) abzulesen ist
C. Unechte Transversalen können entstehen, wenn durch
zufällig anwesenden Schmutz in der Tinte scheinbare Adhäsions¬
bahnen weitergeführt werden, innerhalb deren die Federspitzen
registrieren. Auch von Säure angefressene „ausgeschriebene“
Federn können unechte Linien dieser Art hervorrufen. Durch die
Säure mancher Tinten wird nämlich die meist nur äußerlich ge¬
härtete Rinde der Feder weggeätzt und wir haben dann statt der
federnden Spitzen nur Weichstahl.
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Dunkle Linien in der Schrift und verwandte Erscheinungen. 323
Machen wir also bei der Schriftanalyse die Beobachtung, daß
die Federbeine nicht mehr zusammmengeklappten, sondern wie zwei
auseinanderstehende Zirkelbeine weitergeführt worden sind, so dürfen
wir je nach Umständen vermuten, daß mit einer verrosteten, nie ab¬
gewischten Feder geschrieben wurde. So fand ich einst in einem
Gefängnisregister, in dem die Ablieferung gewisser Gegenstände beim
Eintritt und deren Wiederempfang beim Austritt durch Namensunter¬
schrift der Häftlinge bescheinigt war, ganze Seiten mit solch ver¬
blüffenden Erscheinungen. Es war klar und meine Erkundigungen
haben es bestätigt, daß der Gefängniswärter nur selten eine neue
Feder einsteckte und die einmal in Gebrauch genommene ruhig bin-
rosten ließ. Solche Linien innerhalb der Schriftbahn sind also
unechte Transversalen, weil sie mit dem schreibenden
Individuum selbst nichts zu tun haben. Man kann sie auch zu den
künstlichen Linien (D) rechnen, jedoch nur, wenn anzunehmen ist,
daß sie mit Bewußtsein oder Absicht hervorgerufen worden sind.
Andere unechte Transversallinien sind solche, die durch
zufälliges Nebeneinandertreten von gepreßtem Auf? und
Abstrich entstehen. Ein solches Beispiel haben wir in Fig. 22.
Beim Abstrich kam das linke Federbein genau in die Bahn des
rechten Federbeins beim Aufstrich; man beachte auch den Einschnitt
oben am Köpfchen, der hier eine ganz andere Ursache hat, als die
ähnlichen Einschnitte bei den Soenneckenschen Figuren 2, 3, 4 und t>
oder den Gabelspitzen Fig. 26—28, 70 u. a.
D. Als künstliche Linien dieser Art bezeichne ich solche
die nur vom Schreibmaterial abhängig sind und bei denen man in
gewissem Sinne auch dessen absichtliche Benutzung voraussetzen
kann. — Ich erwähne da zuerst Zentrallinien.
Zentrallinien. Sie entstehen beim gewöhnlichen Schreiben,
'wenn man statt der zweispitzigen eine dreispitzige Feder nimmt,
welche wie gewöhnliche zweispitzige drei Spitzen in der einen
Schreibspitze vereinigt. (Man denke nicht an Rundschriftfedern!)
Die erste Feder dieser Art, die ich kennen lernte, war John Mitchells
extra fine 063; ähnlich sind die sog. Notenfedem Nr. 521 und 523
von Brause & Co. in Iserlohn (Westfalen), die letzte Nr. als Über¬
schlagfeder, um größern Vorrat an Tinte zu führen; doch sind
Brauses Federn nicht so spitz. Bei regelmäßigem Schreiben zeichnet
das Mittelbein zwischen den beiden Randlinien eine Zentrallinie ein
(Fig. 31), die ich deshalb so benenne, weil sie bei regelmäßiger
Federhaltung von rechts und links gleich weit entfernt bleibt. Auf
glattem satinierten Papier zeichnen sich nun fortlaufende Linien ein;
Archiv für Kriminalanthropologie. 84. Bd. 22
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auf leicht gekörntem rauhen Papier entstehen aber Strich- oder Punkt¬
reihen (Fig. 41), die, wie ich nachweisen könnte, schon ganz erfahrenen
Leuten unverständlich blieben, die auch den bei Fig. 42, 43, 59 ein¬
gezeichneten (dort wohl nervösen Einflüssen zuzuschreiben!) sehr
ähnlich sein können. — Dabei ist es nun Aufgabe des Sach¬
verständigen unter Beobachtung aller in Betracht kommenden Umstände
die richtige Diagnose zu stellen; denn der Fall wird nicht ausbleiben,
in welchem die Fälscher sich darin versuchen werden, die individuell
vorhandenen Transversalen durch ähnliche Linien künstlich zu er¬
setzen; doch hege ich wohl die Hoffnung, daß auch solche Fälle
zum Schaden der Fälscher genügend aufgeklärt werden können.
Eine weitere interessante Schreibübung, die man zwar vorab als
Spielerei bezeichnen kann, weil ich eine direkte praktische Verwertung
zu eventuellen Fälschungszwecken heute noch nicht voraussehe, ist
das Schreiben von Doppeltransversalen (Fig. 32). — Sie ent¬
stehen, ähnlich wie die einfachen, durch Drehen bei tiefgehaltenem
Federhalter, indem sich zwei Federbeine der dreispitzigen Feder
in die vom Adhäsionstropfen gefärbte Tintenbahn eingravieren.
Zu den künstlichen Linien dieser Art kann man auch die durch
Schreiben auf Kunstdruckstrichpapier matt oder halbglanz
rechnen, weil manchmal der Verlauf der Tinte sichtbar wird, also
kein ganz unfreiwilliges Registrieren entsteht. Die Oberfläche des
Papiers wird bekanntlich durch die Federbeine abgehobelt, sodaß sich
bei vorsichtigem Ablöschen die Federfurchen glänzender abheben,
während rechts und links sowie dazwischen dunklere Färbungen er¬
folgen. (Siehe Fig. 34.) Sodann rechne ich hierzu noch das Schreiben
mit Stylograph8. Preyer sagt zwar in seiner Psychologie des
Schreibens (S. 21), daß die besonders in England üblichen Glas-
röhrcben, die mit ihrem kapillaren Ende ohne Druck leicht über
das Papier gleiten, keine Haar- und Grundstriche liefern; S. 172 sagt'
er ferner, daß „niemand mit dem Glasröhrchen oder dem stylo-
graphischen Stifte (Kapillarröhrchen mit Nadel) Grund- und
Haarstriche richtig verschieden machen kann.“ Trotzdem ist man
imstande, bei Tiefstellung (niedrigem Projektionswinkel des Stylographs)
auch bei rundschriftartiger Haltung dunkle Linien in die Schriftbahn
einzuzeichnen. Bei dieser Haltung zeichnet nämlich das kapillare
Metallröhrchen in die von der federnden Nadel und dem Adhäsions¬
tropfen beschriebene Bahn mittelst des Randes scheinbare Federbein¬
spuren ein, die den Nichtwissenden in helle Verzweiflung bringen
können. So ist Fig, 68 mit Stylograph (niedrig!) geschrieben, Fig. 67
aber mit gewöhnlicher Feder. — Für die Analyse der Schriftbilder
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Dunkle Linien in der Schrift und verwandte Erscheinungen. 325
ist es wichtig zu beachten, daß die Feder hin und wieder auch
umgekehrt gehalten wird, also wie ein einspitziges Schreib¬
instrument wirkt, um z. B. nach dem mechanischen Radieren wenig
Tinte ins Papier einlaufen zu lassen; es können also gegebenenfalls
auch Versuche zur Feststellung nach dieser Art in Betracht kommen. —
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(Von den drei h in Fig. 69 besonders das mittlere.) Endlich ist be¬
sonders für anonyme Schreiben die Umbildung derartiger
Erscheinungen aus Kurrentschrift (Spitzfederschrift)
z. ß. in Rundfederschrift zu beachten, wobei trotz der
Schwierigkeiten evidente Individualspuren nachweisbar sein können. —
(Vergl. Fig. 29, sie war nicht anonym.)
Besondere Aufmerksamkeit in der Beobachtung ist bei sämt¬
lichen Transversalbildungen auch dem Papiermaterial zuzuwenden.
So ergeben sich auf gerauhtem (nicht satiniertem) Papier statt fort¬
laufender Linien Linienreihen (Fig. 41), ähnlich den telegraphischen
Schriftzeichen, die bei geripptem, tiefgerillten Papier, solchem mit
Leinen oder Drahtgeflechtpressung wieder entsprechend anders aus-
fallen können. (Fig. 35 ohne dunkle Linien). Natürlich kommen
infolge nervöser Einflüsse solche Erscheinungen auch auf satiniertem
Papier vor. (Fig. 42, 43, 59.)
Ferner ist für Fälscbungsnachweise zu beachten, daß nicht jedes
Überfahren eines nassen Striches deutlich die Fließrichtung ablenkt.
Dies bängt auch von der Intensität und dem Feuchtigkeitsgrade des
I. und II. Striches ab. So kann man beobachten, daß durch Über¬
fahren noch feuchter Linien in kreuzender Richtung die Adhäsions¬
tropfen seitwärts auf die angeweichte Bahn des I. Striches ausfließt
und auch, daß bei Überfahren in der gleichen Richtung oft nur
Spuren an den Papierrippen Zurückbleiben. Diese Strichlein können
somit Realbeweise von Übermalen und also in gewissen Fällen
Fälschungszeichen sein.
Ein ganz besonderer Wert für die Analyse und den Identitäts¬
nachweis kommt auch den meist oberflächlich oder gar nicht be¬
achteten Federspaltungen ohne Tintenverlauf zu. Sie ent¬
stehen wohl meist bei ausgehender Tinte, können aber auch von
angerosteten Federn, durch Nichtbeachtung im Dämmerlichte, auch
durch allzu intensive Beschäftigung mit dem Inhalte des Ge¬
schriebenen entstehen. Grade das Letzte gibt ihnen einen psycholo¬
gischen Wert, weil wir dann annehmen können, daß keine Scbrift-
verstellung vorliegt. Aber nicht bloß das gewohnheitsmäßige Ent¬
stehen bei gewissen Erregungszuständen ist es, was ^ ihren hohen
individuellen Wert ausmacht, sondern die Tatsache, daß uns dadurch
oft die evidenteste Demonstration der Analyse der
Schriftstruktur für das Auge der Richter (ohne Gläser) ermöglicht
wird. — Nimmt man bei ihnen noch passende Gläser zu Hilfe, so
kommen so drastische Fälle vor, daß z. B. bei Linksdruck (auf die
linke Federkante) das rechte Federbein für das bloße Auge gar nicht
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Dunkle Linien in der Schrift und verwandte Erscheinungen.
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sichtbar registriert bat, während bei Benutzung des Glases die feine
Randlinie sofort wabrgenommen wird. Kann es ein besseres Mittel
geben um ein hartnäckiges Nichtsehen (-wollen) zum Aufgeben zu
bringen? — Mit vollem Recht glaubeich daher auch diese unsicht¬
bar registrierten Linien zu den dunkeln Linien zählen zu
dürfen, weil ihre Existenz „in Dunkel gehüllt“ ist
Auch der in meinem ersten Aufsatz erwähnten Übergänge
aus Matt- in Vollfärbung und umgekehrt ist hier Erwähnung zu
tun. Ich sagte dort, daß man bei Verfolgung der Federbahnen
solche Übergänge auch ohne beginnende Federspaltung oft strich-
scbarf wahrnehmen könne, ohne eine wesentliche Verbreiterung der
Schriftbahn zu beobachten. Ähnliche Beobachtungen habe ich in¬
zwischen auch bei Rundschrift gemacht. Fig. 37 gibt ein Beispiel
wieder, wo nur die durch die weiterlaufende Kurve ab- und zu¬
nehmende Breitenveränderung wabrzunehmen ist. — Diesen Matt-
und Vollfärbungen kann aber mitunter ein relativ hoher individueller
Wert beigemessen werden, wenn das Auftreten dieser Erscheinung
rhythmisch an derselben Stelle erfolgt. — Dies war bei der
betr. Schreiberin von Fig. 37 bei jedem S der Fall, das ich auf der
sehr charakteristischen Postkarte fand.
Ein anderes rhythmisches Beispiel bieten Fig. 61 —66, von denen
Fig. 62 die natürliche und Fig. 61 'die entstellte Handschrift eines
Qolzspalters wiedergibt, der behauptete, nicht schreiben zu können
und der sich bei der letzten Figur von einem Herrn die Hand führen
ließ, welcher selbst auf mehreren Textseiten keine einzige Matt¬
färbung aufwies. Andere Vergleichsstücke lagen bei der Unter¬
suchung nicht vor, und, daß ich mit meiner Behauptung, er sei der
Schreiber der ersten Unterschrift, recht hatte, zeigte sich sowohl bei
der Vorlage von Standesamtsurkunden im Verhandlungstermin wie
auch durch seine völlig unglaubwürdigen Aussagen, z. B. daß er die
Geburtsurkunden seiner Kinder im Standesamtsregister nicht unter¬
schrieben habe. (Nebenbei interessant mag es sein, daß sein Sqhn
die nervöse Registrierung von Matt- und Vollfärbungen in erhöhtem
Maße aufwies. — Vererbung unbewußter Schrifteigentümlichkeiten.) —
Hier war es die rhythmische Übereinstimmung der Mattfärbung zu
Anfang des B (Fig - 63, 64) und am Aufstrich des 2. t (Fig. 65, 66),
wenn auch figürliche Veränderungen Vorlagen, die mich wesentlich
(nicht allein) zu meinem Urteile bestimmten.
Aber nicht bloß die Rhythmik bei den Matt- und Vollfärbungen
verdient eine besondere Beachtung, sondern auch die Rhythmik
der Transversallinien.
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So konnte ich konstatieren, daß manche Personen nnr bei be¬
sondere! Überlegen, eine z. B. nnr im Datum Transversalen schrieb. —
Bei den Fig. 42—60 war mir in einer Untersuchung die Tatsache
interessant, daß der Schreiber, welcher eine Unterschrift abgeleugnet
hatte, den Flammenstrich des J niemals (Fig. 50, 51) den des B
aber immer mit einer Transversale (oben oder unten) schrieb.
(Fig. 42, 43, 52, 54, 60.) Ferner hatte er die Gewohnheit entweder
bloß beim s des Vornamens „Joseph“* und nicht im s des
Familiennamens eine Transversallinie zu schreiben. Ließ er dagegen
den Vornamen fort, so fand sich die Transversale regelmäßig im s
des Familiennamens u. s. f. — Soll man nach einem hier nicht zu
wiederholenden figürlichen Vergleich mit entsprechender Begründung
der betr. Veränderungserscheinungen annehmen, daß eine Gegenpartei
in freier Komposition der Schriftformen so wichtige Re¬
gistrierungen, zu deren Feststellung große optische Schwierig¬
keiten vorhanden sind, bloß zufällig hineingeschrieben haben
soll? — An so exakte Zufälle wird man nicht recht glauben, man
wird vielmehr annehmen müssen, daß tiefer gelegene seelische Ein¬
flüsse unbewußt die rhythmisch-automatische Auslösung gewisser
Muskel-Innervationen veranlassen. — Je mehr man in der Tat diesen
unbewußten Registrierungen aufmerksam folgt, um so klarer wird
auch die Bedeutung der seltsam'en Erscheinungen und desto sicherer
kann man die Prinzipien darauf anwenden, welche man überhaupt
der Rhythmik menschlicher Individualerscheinungen beimißt. — Mit
Bezug hierauf gibt Dr. Erwin Axel eine interessante Anregung in
seiner „Graphologischen Prinzipienlehre“ (Grapholog. Monats¬
hefte 1904 S. 21). Er spricht dort von dem gleichen proportionalen
Größenverhältnisse der Kurz-, Mittel- und Langbuchstaben bei
Schriften ein- und derselben Person und sagt: „Sie (die Proportionen)
weisen uns unmittelbar nicht auf die Triebkräfte, sondern auf einen
individuellen Rhythmus hin, der auch in sonstigen Körper-
fuqktionen wahrgenommen wird und weit mehr als die Intensitäten
organisch gebunden scheint“. — S. 22 ibidem: „Wie sehr auch
bekanntlich der Druck (bei Versuchen mit der Kräpelinschen Schrift¬
wage) von Augenhlick zu Augenblick wechselt und gar für ver¬
schiedene Schriftstücke zumal sensibler Personen die allerverscbieden-
sten Durchschnittswerte annimmt, in der Art der gegen das Papier
gerichteten Bewegung ist gleichwohl und zwar hinsichtlich ihrer un¬
bewußten Vibrationen ein individueller Rhythmus anzu*
treffen, der allem Anschein nach nur wenig variiert.“ — Sodann:
„Die Graphologie (wir sagen die gerichtliche Schriftvergleichung)
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Dunkle Linien in der Schrift und verwandte Erscheinungen.
329
sollte sich gewöhnen auf die Analyse der Proportionseigen-
tümlichkeiten das Hauptgewicht zu legen.“
Eine ähnliche Äußerung über rhythmisch-automatische Aus¬
lösungen des Nerven- und Muskelapparates gibt J. Depoin, Präsident
der graphologischen Gesellschaft in Paris, in einem Vortrage über
„Les obstacles au libre jeu des forces psychiques dans l’Gcriture“
(La Graphologie, Mars 1908 Nr. 3 p. 993), wo er sagt, daß im Augenblicke
des Schreibens ein unbestimmtes Allgemeinwollen unter Zu-
rückdrängung des sekundären Willens nach bekannten Mustern zu
schreiben, dem schreibenden Gliede eine Art Zwangsidee auf er¬
legt und den Nerven- und Muskelapparat so rhythmisch-auto¬
matisch schreiben läßt, wie der Jahrmarktschreier zur Belustigung
der Jugend mittelst seiner Drähte die Puppen des Kasperltheaters be¬
wegt. — Er spricht dann noch von der Notwendigkeit, daß die
Leitungsdrähte (Nerven), welche diesen Automatismus bedingen, in
gutem Zustande sein müssen u. s. f. — Wenn wir also das „Gesetz
rhythmisch-automatischer Proportionen oder tiefergefaßt
des individuellen Rhythmus“ bei den der Willkürlichkeit ent¬
zogenen dem bloßen Auge nur selten wahrnehmbaren und dem
Schreiber noch seltener zum Bewußtsein kommenden Erschei¬
nungen in dunklen Linien, in Matt- und Vollfärbungen und der¬
gleichen Tatsachen, zumal bei äußerlich variablen Formen anwenden,
so ist hiermit auch der wissenschaftliche Beleg für den hohen Wert
von Identitätsnachweisen auf Grund der Beobachtung:
rhythmischer Erscheinungen erbracht.
Zur Vervollständigung der hierhin gehörigen Erscheinungen
der innern Schriftstruktur gehört auch eine kurze Erwähnung
der Schrift mit Blei-, Färb- und Kopierstiften u. dergl. —
Es ist sofort begreiflich, daß sie ein so hochempfindliches Regi¬
strierungsmittel wie die spitze (d. h. nicht allzustumpfe) Feder mit
moderner Tiute nicht darstellen können, weil viele Einzeichnungen,
welche durch die Feinheit des Muskelgefühls und Muskeldrucks so¬
wie die Federspaltung mit den zwei (ev. drei) federnden Spitzen be¬
dingt sind, verloren gehen.
Man beachte, daß die deutsche Postscheckordnung vom
6. Nov. 1908 mit Ausführungsbestimmungen in anerkennenswerter
Weise dreimal die Ausfüllung „mit Tinte“ (oder „nur mit Tinte“)
verlangt und von der Prüfung der Echtheit der Unterschriften
spricht. — Auch sonst werden Postanweisungen, Einschreib- und
Wertsendungen mit Aufschriften durch Stift zurückgewiesen, während
Eintragungen durch Druck oder die Schreibmaschine zugelassen
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330
XVI. A. Delhoügne
sind. — Der Unfug des Unterzeichnens mit Kopierstiften, welcher
sogar schon bei Bankhäusern vorkommt, sollte Überall zurückgewiesen
werden.
Nun hat Busse (Bohn u. Busse, Fall Rothe, Geisterhandschriften
und Drohbriefe in d. Graphol. Monatsh. 1902 S. 18) den Versuch
gemacht, Unterschiede von Bleistift strichen mit der rechten und
linken Hand an Abschrägungen nach rechts und links am Anfänge
und Ende der Striche festzustellen. — Aber Dr. Georg Meyer hat
bereits [in Graph. Monatsh. 1904 S. 30, wo auch Beobachtungen über
rechts- und linkshändige 1 ) Tintenscbrift niedergelegt sind] dieses Zeichen
als nicht sehr verläßlich erkannt und dies auch begründet — Sonst
liegen noch vor die Beobachtungen von Prof. Dennstedt und Voigt¬
länder in ihrem Nachweis v. Schriftfälschungen, Blut, Sperma u. s. f. —
Braunschweig bei Friedr. Vieweg u. Sohn 1906 S. 72, wo sie von
den in der gebrannten Graphitmasse enthaltenen, harten scharfkantigen
Tonpartikelchen sprechen, welche zur Härtung der Masse dienen und
beim Schreiben die starkglänzendeu, perlschnurartigen parallelen
Rillen hervomifen. Dies ist besonders wichtig bei Vermutung von
Bleipausen, (cfr. ebenda S. 112.)
Weiche Bleistifte, Bunt-, Fett- und Kopierstifte lassen meist nur
an den Unebenheiten des Papiers mikroskopische Anhäufungen er¬
kennen, die wie bei Kreideschrift auf nichtglatte rauhe Flächen an
der einen Seite stärker, an der andern aber mehr im Verlauf auf-
getragen erscheinen. Dies kann bisweilen zur Aufklärung dienen,
indem die Seite der schroffem Anhäufung die Richtung des Striches
zur verlaufenden angibt. (Man beachte Schneewehen auf Sturzäckern
und dergl. Der Vergleich mit Feilenstrich, wo Schrägschnitt ist,
wäre falsch.)
Andere Erscheinungen wie dunklere Linien und dergl. kommen
hier bloß zufällig durch Kantenstellung, Abbrechen oder zufällige
Materialvetschiedenheiten vor. — Bei Untersuchung von überein¬
anderliegenden Bleistiftstrichen behufs Feststellung der früher oder
später geschriebenen Schriftzüge macht man am besten systematisch
geordnete Versuche mit verschiedenen ßleistiftnummera und benutzt
zur vergleichenden Beobachtung das Mikroskop, ähnlich wie bei ent¬
sprechenden Fällen für Tinten- oder beiderlei Schrift. — Man beachte
noch das Schreiben mit Blei- und andern Stiften auf gekörnter Unter¬
lage, oder Tuchpressung, wie auch Blei- und Lackmuspapierpausen
1) Für linkshändige Schrift vergl. noch: Archiv für gerichtliche Schrift¬
untersuchungen u. v. G. von Dr. G. Meyer u. Dr. H. Schneickert Heft I S. 60. —
Leipzig bei Joh. Ambros. Barth 1907.
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Dunkle Linien in der Schrift und verwandte Erscheinungen. 331
in sog. Durchschreibebüchern. — Mit der Pinselschrift der Chinesen
liegt es wohl ähnlich, wie mit unserer Bleistiftschrift, obwohl es auch
hier nicht ausgeschlossen erscheint, daß man wie bei der Malerei die
»ureigene Pinselführung des Meisters“ wiederfinden kann.
Inwieweit nach diesen Darlegungen die moderne Behandlung
der Schriftexpertise, die von mechanischer Vergleichung lithographischer
Figuren nach Längen- und Breitenausdehnung weit abweicht, deren
nutzbare Ergebnisse aber nicht außer Acht läßt, die auch die ernst- -
zunehmenden Lehren der Graphologie bezüglich gewisser Ver
änderungserscheinungen in Betracht ziehen muß (ohne auf die spe¬
kulativen Ideen derselben zu achten), den Anforderungen der
Kriminalistik bezüglich der Verwertung der Realien
— hier zunächst mit Rücksicht auf die innere Schriftstruktur, ge¬
gebenenfalls aber auch unter Zuhilfenahme der chemischen und photo¬
chemischen Untersuchung — gerecht zu werden vermag, inwieweit
ihr Weg ein naturwissenschaftlicher ist, inwieweit auch eine
gewisse Individualrekonstruktion aus den figürlichen Ähn¬
lichkeiten und Verschiedenheiten und den ähnlichen oder verschiedenen
Tatsachen der Bewegungstendenzen in rhythmischer Sta¬
bilität möglich erscheint, das muß ich dem Urteil sachverständiger
Kritiker überlassen. — In jedem Falle ist zu hoffen, daß die Beob¬
achtungen der dunkeln Linien und der verwandten Erscheinungen
noch manche wissenswerte Tatsache zutage fördern wird.
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XVII.
Zur forensischen Würdigung der Bissverletzungen.
Von
Gerichtsarzt Dr. Marx und Medizinalrat Dr. Pfleger in Berlin.
(Mit 4 Abbildungen).
Anf dem großen Übungsplätze der Berliner Garnison, dem Tempel¬
hofer Felde, wurde am 7. Januar 1908 die Leiche der 40 Jahre alten
Antonie G. aufgefunden. Die Leiche lag auf dem Bücken, beide
Brüste waren von Kleidern entblößt, im Munde der Getöteten stak ein
schmutziges Tuch, so zwar, daß die Unterlippe über den zahnlosen
Unterkiefer vollkommen in den Mund hineingelegt war. Das Tuch
war etwa S cm tief in den Mund eingeführt, die Zungenspitze war
dadurch nach oben und etwas seitlich nach hinten geschlagen. Die
Schuhe waren der Getöteten ausgezogen und standen neben der Leiche.
Geld wurde bei der Getöteten nicht vorgefunden.
Die Leiche selbst wies folgende wesentliche Veränderungen auf:
An der linken Halsseite sah man in Kehlkopfhöhe seitlich vor dem
Kopfnickermuskel eine 12 mm lange, schwach bogenförmige, ober¬
flächliche, blaßrote Hauteintrocknung in genau senkrechter Stellung,
von 1mm Breite; die Konkavität des Bogens sah nach der Mittellinie
des Halses. Darüber waren noch drei weitere, ähnliche Hautvertrock¬
nungen, in schräger Linie bis zum Kinn angeordnet
Die rechte kleine Schamlippe zeigte oben einen fast unmittelbar
neben dem Kitzler beginnenden unregelmäßig gestalteten Substanz¬
verlust, der in seinem Grunde mit frischem Blut belegt war und beim
Auseinanderhalten seiner Ränder eine Breite von 3 cm aufwies.
Samenfäden fanden sich in der Scheide nicht.
Um zunächst die Ergebnisse der inneren Besichtigung vorweg
zu nehmen, so zeigten sich die freien Lungenränder gebläht, sämt¬
liche Herzhöhlen waren reichlich mit dunklem, flüssigen Blut gefüllt,
der rechterseits vom Brustbein zum Kehlkopf ziehende Muskel zeigte
mehrere Blutaustritte, unter der Keblkopfschleimhaut sah man unter¬
halb der Stimmbänder zwei Stecknadel kopfgroße Blutaustritte, beide
obere Schildknorpelhörner waren nahe ihrem Ursprung quer ge¬
brochen und an den Bruchrändern mit frischem Blut belegt.
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Zur forensischen Würdigung der Bißverletzungen.
333
Es konnte demnach keinem Zweifel unterliegen, daß der Tod
der Antonie G. durch Erwürgen erfolgt war, und es war ebensowenig
zweifelhaft, daß geschlechtliche Motive die Tötung veranlaßt hatten.
Diese Annahme wurde zur absoluten Gewißheit durch den außer¬
ordentlich merkwürdigen Befund an den Brüsten der Getöteten. Die
Verletzungen, welche sich hier vorfanden, werden am besten durch
die beigefügten Photographien (Fig. 1 und 2) illustriert. Wir geben
indessen auch die Beschreibung dieser Verletzungen in dem Wortlaut
wieder, den wir in das Obduktionsprotokoll diktiert haben.
„Nach innen von der rechten Brustwarze sieht man an¬
nähernd in einer Kreislinie von 4 cm Durchmesser angeordnet
teils hellrote, teils mehr braunrote oberflächliche Bauteintrock¬
nungen. Diese Kreislinie zeigt deutlich, voneinander ge¬
schieden, einen oberen und einen unteren Abschnitt, die in
der Höhe der Brustwarze durch einen etwa l cm großen
freien Zwischenraum voneinander geschieden sind.
Während sich die Eintrocknungen der unteren Kreishälfte
fast ununterbrochen aneinanderschließen, zeigen sich zwischen
den Eintrocknungen der oberen Kreishälfte Zwischenräume in
unregelmäßiger Anordnung.
Die linke Brustwarze zeigt an ihrer Unterseite eine frische
Blutbetrocknung, nach deren Entfernung man am Ansatz der
Warze und in der Warze selbst mehrere quergestellte, unregel¬
mäßig gestaltete, mit etwas unglatten Rändern versehene, bis
zu V» cm lange oberflächliche Substanz Verluste sieht.
Die Oberseite der Warze zeigt ähnlich gestaltete, etwa
I mm tiefe quergestellte Substanzverluste, die denjenigen an
der Unterseite der Warze fast zu entsprechen scheinen.
Von dem oberen Ansatz der Brustwarze laufen senkrecht
nach oben 6 parallele, bis zu* 6 cm lange, kaum 1 cm breite,
ganz oberflächliche braunrote Hauteintrocknungen.“
Wir waren keinen Augenblick im Zweifel darüber, daß es sich
hier um nichts anderes handeln konnte als um Verletzungen, die
durch ein menschliches Gebiß hervorgerufen waren, und bei der
merkwürdigen Anordnung der Bißspuren mußten wir uns sagen, daß
sie noch am ehesten zur Entdeckung des Täters führen konnten.
Wir lösten daher die Brüste der Leiche ab und konservierten sie in
natürlichen Farben und natürlicher Spannung.
Es wurde uns nun wehige Tage nach der Tat, die nach dem
Ergebnis der Ermittelungen zweifellos am Abend des 6. Januar ge¬
schehen sein mußte, ein Mann vorgeführt, der der Tat aus hier nicht
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334
XVII. Marx und Pfleger
näher zu erörternden Gründen verdächtig erschien. Auf unsere Ver¬
anlassung setzte sich der Vertreter der Staatsanwaltschaft mit dem
Direktor des zahnärztlichen Instituts der hiesigen Universität, Professor
Williger, in Verbindung. Dieser nahm von dem Gebiß des Mannes
einen Gipsabdruck, die danach gefertigten Gipsabgüsse wurden von
uns gemeinsam nnt Professor Williger mit den Bißspuren an den von
uns asservierten und konservierten Brüsten verglichen. Das Gebiß
des Verdächtigten war kräftig entwickelt, wies starke, breite Zähne
Fig. 1. Rechte Brust.
auf, es fehlte der linke obere Eckzahn; vom ersten oberen linken
Backzahn war nur ein Wurzelstumpf vorhanden. Für die Vergleichung
war die Spur an der rechten Brust der Getöteten am vorteilhaftesten
zu verwenden, weil hier das ganze Gebiß fast vollkommen zum
plastischen Abdruck gekommen war. Vor allem waren hier die Zahn¬
bögen auf das beste angedeutet. Es erwies sich nun sehr bald, daß
dieser Mann als Täter nicht in Frage kommen konnte: die Zahnbögen
in der Bißspur wiesen eine erheblich stärkere Krümmung auf als die
Zahnbögen des uns vorgeführten Mannes; der in Betracht kommende
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Zur forensischen Würdigung der Bißverletzungen.
335
Schneidezalm aus dem Oberkiefer des Verdächtigten war mehr als
1 mm breiter als der entsprechende Schneidezahnabdruck in der Bi߬
verletzung. Endlich war in der Bißspur eine Schürfung vorhanden,
der in dem Gebiß des Verdächtigen eine Lücke entsprach.
Wir gaben darauf in Gemeinschaft mit Professor Williger unser
Gutachten dahin ab, daß die an den Büsten der Getöteten Vorge¬
fundenen Bißspuren unmöglich von dem Gebiß des verdächtigen
Mannes hervorgerufen sein konnten.
Fig. 2. Linke Brust.
Es war in diesem Falle noch ein anderer Umstand nicht ohne
Interesse. An dem Bock des Verdächtigten ließ sich an der Vorder¬
seite Menschenblut nachweisen. Über die Herkunft dieser Flecken
konnte der Mann keine rechte Auskunft geben. Es meldete sich dann
die Gattin eines Malers, dem der Verdächtigte Modell gestanden hatte,
und zwar zu dem Bilde eines Wilddiebes. Der Verdächtigte hatte
dabei den Körper eines Rehes über den Schultern getragen, bei dieser
Gelegenheit hatte ihn einer der Hufe des Rehes an der Wange verletzt.
Blutstropfen aus dieser Verletzung hatten die Flecken auf der vorderen
Seite des Rockes verursacht.
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336
XVII. Marx und Pfleger
Einige Tage, nachdem der zuerst Verdächtigte aus der Haft ent¬
lassen war, wurde uns ein zweiter Mann vorgefübrt, von dessen
Gebiß wiederum durch Professor Williger ein Gipsabdruck hergestellt
wurde. Dieses Gebiß zeigte eine ganze Reihe von nicht alltäglichen
Besonderheiten. Im Oberkiefer fehlte links und rechts der erste
Mahlzahn. Der zweite rechte Schneidezahn stand gaumenwärts
zurück, der linke Eckzahn lippenwärts vor. Unten fehlten rechts der
erste und zweite Mahlzahn, links der erste Mahlzahn. Vom zweiten
linken Mahlzahn standen nur noch die Wurzeln. Professor Williger
wies darauf hin, daß der Biß dieses Mannes gewisse Eigenarten habe,
er benutzte beim Beißen und Kauen mehr als gewöhnlich die Schneide¬
zähne, infolgedessen waren die Schneidezähne breit abgeschliffen und
besonders die Kanten der oberen Schneidezähne sehr scharf ausgeprägt.
Die beigegebenen Figuren 3 und 4 zeigen Photographien der Gips¬
abgüsse des Ober- und Unterkiefers.
Wir versuchten dann wiederum in Gemeinschaft mit Professor
Williger durch Vergleichung der Gipsabgüsse mit den Bißwunden an
den Brüsten die Identitätsfrage zu entscheiden und konstatierten als
das Ergebnis dieses Versuchs folgendes:
1. Bißwunden an der rechten Brust:
Die Bögen der Bißverletzungen, oberer wie unterer, ließen
sich mit den Bögen des Gebisses des Z. (des zweiten Be¬
schuldigten) vollkommen zur Deckung bringen. —
Die Entfernung von der linken äußersten bis zur rechten
äußersten Verletzung stimmt überein mit der Entfernung der
in Betracht kommenden Zähne des Unterkiefers voneinander,
nämlich von der Spitze des ersten linken Prämolarzahnes bis
zur Kante des rechten Eckzahns, dessen Eindruck, der Stellung
des Zahnes korrespondierend, etwas aus der Bißreihe herausfällt.
Ferner entspricht bei richtigem Aufeinanderpassen die
breite Schürfung in der oberen Bißreihe, nach Breite und
Lage, der Schneide des linken äußeren Schneidezahnes, der
durch das Vorspringen des linken Eckzahns besonders wirk¬
sam tätig sein konnte. Daneben liegen zwei punktförmige
Schürfungen, deren Abstände den Spitzenabständen des in
Betracht kommenden Eckzahnes entsprechen. Unterhalb der
Warze befindet sich dann noch eine Schürfung, die vom
zweiten Prämolarzahn gesetzt sein muß, und die von den
letztgenannten Schürfungen dieselbe Entfernung aufweist, die
zwischen dem letztgenannten und dem linken oberen Eckzahn
besteht.
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Zur forensischen Würdigung der Bißverletzungen.
337
Nach rechts hin ist in der Bißreihe ein freier Zwischen¬
raum" deutlich, der sich zwangslos durch das Zurückstehen
des rechten äußeren Schneidezahnes ergibt.
2. Bißwunden an der linken Brust:
Die Bißwunden sind hier durch die Gebißteile vom linken
Eckzahn bis zum rechten mittleren Schneidezahn des Ober¬
kiefers bewirkt. Die
Entfernungen von
Bißwunden und Zäh¬
nen stimmen jeweils
überein. Insbeson¬
dere besteht die Über¬
einstimmung zwi¬
schen ider scharf be¬
grenzten Schürfung
und der Schneiden¬
breite des oberen
linken (mittleren)
Schneidezahns.
Nach alledem
gaben wir unser Gut¬
achten dahin ab:
Es sprichtnichts
gegen die Annahme,
daß die Bißwunden
an den Brüsten der
G. von dem Gebiß
des Z. herrühren.
Die vergleichende
Untersuchung hat
vielmehr eine weit¬
gehende Überein¬
stimmung Zwischen Fig. 3 u. 4. Gipsabdrücke des Gebisses des Täters,
den Bißwunden an
den Brüsten der G. und dem mit besonderen Eigentümlichkeiten
behafteten Gebiß des Beschuldigten ergeben.“
Die Messungen wurden mit dem Zirkel vorgenommen. An der
oberen Bißwunde an der rechten Brust war der Zahnbogen zweimal
ausgeprägt, weil der Täter hier zunächst zugebissen hatte und dann
mit den Zähnen nach unten geglitten war. In beide Spurenbögen
paßte der Gipsabguß des Oberkiefers genau hinein. Infolge des
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338
XVII. Marx und Pfleger
Gleitens der Zähne hatte sich die Breite eines Schneidezahnes voll¬
kommen ausgeprägt Nach Lage der Spur konnte hier nur der zweite
linke obere Schneidezahn in Betracht kommen, und Spur und Kanten¬
breite des Zahnes zeigten genau die gleichen Maße.
Wir konnten nach alledem natürlich oder, besser gesagt, trotzalledem,
uns nur dahin aussprechen, daß nichts der Annahme entgegenstehe, daß
die Bißwunden an den Brüsten der Getöteten von dem Gebiß dieses
zweiten uns vorgeführten Mannes herrttbrten. Es war ja immerhin denk¬
bar, daß noch ein zweites ähnliches Gebiß irgendwo auf der Welt existierte.
Nach Ansicht des Professors Williger waren aber die Besonderheiten
dieses Gebisses so auffallende und auch seltene, daß etwa nur ein
Wunder zwei ebenso beschaffene Gebisse in dem Umkreis der als Täter
in Betracht kommenden Personen nebeneinander hätte schaffen können.
Es war klar, daß das Ergebnis unserer Untersuchung ein außer¬
ordentlich schwerwiegendes Belastungsmoment gegen den Verdächtigten
abgeben mußte. Aber darüber hinaus lag noch eine Fülle ander¬
weitigen Belastungsmaterials vor. Der Verdächtigte, ein gefürchteter
und berüchtigter Zuhälter, war kurz vor der Tat in der Nähe des
Tatorts unter verdächtigen Umständen gesehen worden. Er war
Epileptiker. Kurz vor der Tat hatte-er einer Zeugin gegenüber ge¬
droht, er würde „eine Notzucht machen“. Der Versuch, sein Alibi
zu erweisen, konnte als mißlungen gelten. In den Kreisen der Dirnen
und Zuhälter war er als „Beißer“ bekannt Man wußte, daß er beim
Geschlechtsakt sich gern in die Brüste seiner Partnerin festbiß, daß
er gelegentlich auch in die Geschlechtsteile selbst hineinbiß. Ob die
Verletzung an der Schamlippe mit den Zähnen oder mit den Fingern
gemacht war, ließ sich nicht entscheiden, jedenfalls war die ganze
Tat nach ihrem brutalen Charakter gerade einem Epileptiker von der
Verkommenheit des Verdächtigten durchaus zuzutrauen.
Der Angeklagte leugnete die Tat bis zuletzt. Er wurde wegen
Notzucht mit Todeserfolg zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt und trat
seine Strafe alsbald an.
Die ganze Tat, mehr aber noch das Milieu, aus dem die Tat
gewissermaßen herausgewachsen war, war in kriminalistischer, mehr
noch in kriminalanthropologischer Beziehung von außerordentlichem
Interesse. Das Bild, welches die Schwurgerichtsverhandlung von dem
Treiben der Zuhälter und Dirnen entwarf, war geradezu grotesk und
erschütternd zugleich. Es würde sich wohl lohnen, bei anderer Ge¬
legenheit dieses Bild auszumalen. Hier, wo es nur darauf ankam,
zu zeigen, wie Bißspuren an einer Ermordeten zur Entdeckung des
Täters beitrugen, ist nicht der Baum zu weiterer Darstellung.
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Kleinere Mitteilungen.
Von Prof. Dr. P. Näcke.
1 .
Seltsamer Selbstmordversuch. Dr. East gibt im Journal of Mental
Science, 1909, S. 324 folgenden merkwürdigen Fall kund. Ein Häuer, 55 Jahre
alt, füllte sich den Mund mit Schießpulver und brannte es an, um den
Kopf zu zersprengen. Es mißlang und er ward in die Irrenanstalt gebracht,
wo er 36 Stunden nach seiner Aufnahme verstarb. Seine Lippen waren
bei der Aufnahme dick geschwollen und verschorft, die geschwollene Zunge
füllte fast den ganzen Mund aus, der geschwollene weiche Gaumen verdeckte
fast ganz den Racheneingang, die Mundschleimhaut war verschorft, mit
blutigen Stellen. Eis bestand starker Speichelfluß, der aus dem Munde floß,
die Atmung war behindert, es zeigte sich Husten mit Auswurf von blutigem
Schleime aus der tracheotomierten Wunde. Patient war erregt, unruhig,
zeigte aber, daß er die gesprochenen Worte verstand. Er schlief wenig.
Es waren Anzeichen einer Lungenentzündung da. Patient wurde immer
schwächer und starb. Bei der Sektion zeigte sich die Mundschleimhaut
in weitem Umfange ulzeriert, zugleich mit zahlreichen grauen Flecken auf
Zunge, weichem Gaumen und Rachen. Die Schleimhaut der Epiglottis und
Umgegend war sehr geschwollen, weshalb man eben die Tracheotomie ge¬
macht hatte. Die Lungen waren luftleer, im Zustande der roten Hepa¬
tisation, die inneren Organe überhaupt blutüberfüllt und das Blut halb¬
flüssig und dunkel, wie bei Vergiftungen. — Das Anfüllen des Mundes
mit Pulver ist bekanntlich viel seltner, als mit Dynamit. Noch seltner,
daß der Versuch mißlingt, wie oben, obgleich der Tod doch nach 36
Stunden infolge von Lungenentzündung erfolgte. Hier wie bei ähnlichen
Fällen handelt es sich meist um Bergleute oder Steinbrecher. Der Tod
ist fast ein sicherer. Vor einigen Jahren ereignete sich in Deutschland — wo
ist mir nicht mehr erinnerlich — der merkwürdige Fall, daß man in einem
Walde abgerissene Glieder gefunden hatte und weit entfernt davon zer¬
sprengte Knochenteile mit weitverspritzter Gehirnmasse. Es fragte sich, ob
Mord oder Selbstmord. Man fand endlich eine zerrissene Dynamithülse
mit aufgedrucktem Namen der Fabrik. Damit war der Selbstmord so gut
wie sicher gestellt.
2 .
Resultate der Besserungsanstalten. Vor mir liegt folgende
Notiz aus dem „Dresdener Anzeiger“ vom 29. Juli 1909:
„Erziehungsergebnisse in der Besserungsanstalt Bräunsdorf. In einem
Vortrage über Bilder aus Bräunsdorf und der Fürsorgeerziehung gab der
Archiv für Kriminalanthropologie. 34. Bd. 23
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340
Kleinere Mitteilungen.
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Bräunsdorfer Anstaltsgeistliche, Herr Pastor Guderlev, folgende sehr be¬
merkenswerte Zahlen bekannt: Unter den wegen Verwahrlosung nach
Bräunsdorf gebrachten Knaben waren 35 Proz. Söhne von Trinkern. 66 Proz.
aller Bräunsdorfer Zöglinge haben sich später im Leben gut bewährt und
sind als gebessert zu betrachten; von den übrigen sind 10 Proz. psycho¬
pathisch minderwertig und nur 20 Proz. sind rückfällig geworden, aber nicht
so schlecht wie früher. Je früher ein sittlich gefährdetes Kind nach
Bräunsdorf kommt, um bo größer seien die Besserungserfolge.“
Das klingt ja sehr einladend, scheint mir aber doch entschieden
optimistisch gefärbt zu sein. Die meisten Autoren sind ja wohl jetzt der
Ansicht, daß diese Besserungsanstalten mehr Brutanstalten für
künftige Verbrecher sind, was nicht schwer einzusehen ist. Die
Kinder entstammen meist dem traurigsten Milieu, sind sehr oft, viel¬
leicht sogar meist Nachkommen von Säufern, Verbrechern oder Minder¬
wertigen aller Art ohne richtige Zucht aufgewachsen, zum großen Teile
mit bösen, ungezähmten Trieben behaftet. Sie werden nun in Besserungs¬
anstalten gesperrt, wo gleiche Elemente Zusammenkommen. Glaubt man
wirklich, daß hier viel Erfreuliches zu erzielen sein wird? Wer noch nicht
ganz verdorben ist, wird es hier nur zu leicht und die äußere, strenge
Zucht der Anstalt verdeckt meist nur den Morast. Obige Resultate der
Anstalt in Bräunsdorf (bei Freiberg in Sachsen) sind daher wohl mit einem
Fragezeichen zu versehen. Man muß erst 10, 20 Jahre warten, ehe man
halbwegs von Resultaten sprechen kann. Über Psychopathen kann nur
ein Arzt, speziell der Psychiater urteilen. Wenn bloße Verwahrlosung vor¬
liegt, mag die Anstalt gut sein. Leider ist dies gewiß nur selten der Fall.
Wenn die amerikanischen Reformatories im allgemeinen bessere Resultate
erzielen als unsere Anstalten, so mag das Material ein anderes sein, vor
allem aber die ganze Erziehung. Übrigens werden ihre vortrefflichen Re¬
sultate in Amerika selbst zum Teil angezweifelt. Mit den Besserungs¬
anstalten mag es sich bei uns wie mit den Heimen für gefallene Mädchen
verhalten, die in theologischer Beleuchtung wunderbare Erfolge haben, in
praxi aber das aufgewendete Geld kaum verlohnen. Für die meist schon
verdorbenen Kinder, wie sie in die Anstalten in der Regel kommen,
wäre die Erziehung in einer braven Familie das Beste, die freilich schwer
zu finden ist. Sonst werden die Erziehungsresultate in den
Besserungsanstalten hauptsächlich von der Art des Mate¬
rials abhängen, viel weniger von der Erziehung, so mächtig
ist in diesen Fällen oft das angeborene Element. Und ob bloße Ver¬
wahrlosung vorliegt — die allerdings günstigste Bedingung für eine er¬
folgreiche Behandlung — das kann eigentlich nur der Arzt entscheiden
und dann auch bloß nach genauer, besondere psychiatrischer Untersuchung
und eingehender Erhebung der Anamnese.
3.
Unempfindlichkeit durch Suggestion oder Ekstase. Ich
habe schon früher einmal geschrieben, daß es merkwürdig ist, wie die
weniger entwickelten Völker oft große Schmerzen ertragen können, aber
auch höher gebildete, wie die Chinesen. Im ersteren Falle könnte man wohl
annehmen, daß die Psyche im allgemeinen weniger entwickelt ist, also auch
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Kleinere Mitteilungen.
341
weniger fühlt. Die Suggestion durch Nachahmung, Tradition, weil es z. B.
als unehrenhaft gilt, Schmerz zu äußern, dürfte seltner der Grund dafür
sein. Merkwürdig ist das große Ertragen von Schmerz bei den Chinesen,
wo kaum von Suggestion die Rede und die Rasse im ganzen ziemlich
feig ist. Die Verbrecher lassen sich ruhig hinschlachten, obgleich die besser
Situierten ihren Henkern durch ihre Verwandten Geld geben lassen, um
Opiuradosen vorher zu erhalten und dadurch quasi hinüberzuschlummern.
Ja Mattignon, der die Chinesen genau kennt, wollte sie deshalb geradezu
alle als hysterisch bezeichnen, was sicher viel zu weit gegangen ist. Die
Unempfindlichkeit vieler Verbrecher, die Lombroso fälschlicherweise als so
charakteristisch hinstellt, beruht offenbar auch meist auf geringer Empfind¬
lichkeit dem Schmerze gegenüber, wie ja unsre untern Stände oft genug dies
zeigen, was also nicht etwa als starker Wille angeführt werden kann. Be¬
kannt ist ferner, daß die Hexen im Mittelalter oft die furchtbarsten Martern
ohne Murren aushielten. Teils liegt dann auch die obige Erklärung nahe,
zumal sie sich meist aus den unteren Schichten rekrutierten, teils mag
vielleicht hin und wieder durch Einreiben einer anästhesierenden „Hexensalbe“
die Empfindlichkeit abgestumpft sein. Manche waren ferner sicher hysterisch
und so analgetisch. Auch spielt die Suggestion wohl in gewissen Fällen mit,
obgleich Stoll l 2 ) sie gewiß viel zu weit ausdehnt. Schon Graf Spee in
seiner Contio criminalis (Stoll S. 425) will nicht an die von den Hexen¬
richtern behauptete Anästhesie und Analgesie glauben, was freilich wieder
über das Ziel hinausschießt. Gewöhnlich ging es so zu, daß die Hexen
anfangs Schmerz empfanden, bald aber dagegen sich abgestumpft zeigten.
Reizung der Nerven erzeugt erst Schmerz, Überreizung dann Lähmung und Be¬
wußtlosigkeit, also Gefühllosigkeit. Das zeigt sich auch gut beim Knuten
(Stoll, S. 428). Hier verfallen die Geknuteten oft in Bewußtlosigkeit, da¬
mit in Schmerzlosigkeit und ebenso wird es wohl auch bei dem Zuschauer
gewesen sein, der dann geknutet wurde und das Bewußtsein verlor (Stoll,
S. 428). Hier brauchen wir kaum Suggestion anzunehmen, die aber in
andern Fällen vielleicht vorlag. Dagegen liegt letztere Erklärungsweise
nahe bei den ekstatischen und so unempfindlich gewordenen Menschen,
z. B. den Konvulsionärinnen (Stoll, S. 496). Hier entsteht die Empfind¬
lichkeit nicht durch Überreizung, sondern durch oft — aber nicht immer —
suggestiv erzeugtes Konzentrieren der Gedanken auf einen kleinen Kreis,
wodurch die andern Nerven wie gelähmt erscheinen. Man darf also die
Rolle der Suggestion bei der Anästhesie nicht zu hoch bewerten!
4.
Trinken von Blut zum Wahrsagen. Blut ist bekanntlich ein
besonderer Saft, der zu allerlei abergläubischen Praktiken und Ingredienzen
in alter und neuer Zeit gebraucht wurde und noch wird. Eine der merkwürdig¬
sten geheimen Eigenschaften desselben beruht aber im Wahrsagen nach
dem Genuß rohen Blutes. Stoll -’) berichtet, daß in Argos im Tempel
1) Stoll: Suggestion und Hypnotismus in der Völkerpsychologie. Leipzig,
Veit, 1904.
2) Stoll: Suggestion und Hypnotismus in der Völkerpsychologie. Leipzig,
Veit, 1904, p. 305.
23*
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des Apollo Deiradiotes die wahrsagende Frau durch Trinken von Lamm-
blut in Ekstase geriet. Im Tempel der Ge Eurysternos in Achaia wurde
dagegen Blut als Keuschheitsordal bei der Wahl einer Priesterin an¬
gewandt. Hier liegt also ein andrer Zweck vor. Was für eine angeb¬
liche Macht mag aber wohl dem Blut innegewohnt haben, um solche
Taten zu vollbringen;'' Ich glaube, das Gemeinsame' liegt hier, wie auch
vielleicht bei Anwendung desselben in andern abergläubischen Praktiken,
im Glauben an die animistisebe Belebung des Blutes. Hier war
allein die Seele oder wenigstens ein Teil derselben, die dann das angeblicheWunder
verrichtete. Die Ekstase kam wohl so zustande, daß die Priesterin in dem
(»tauben an diese Wunderkraft sich berauschend, — wahrscheinlich aber
noch unter Mithilfe verschiedener anderer Umstände — in Verzückung
geriet und dann „in Zungen sprach“, d. h. in abgerissenen Worten, die
von dritter Seite gedeutet wurden. Beim Ordal wurde die Blutseele quasi
zum Richter, wie eine Gottheit angerufen und der tiefe Glaube daran ließ
meist die Wahrheit sagen. Diese animistische Seite des Blutes sehen wir
auch bei manchen Naturvölkern, die teils das Blut des Feindes trinken,
teils gewisse Organe desselben verzehren, um die Seele des Getöteten in
sich aufzunehmen und so noch stärker, tapferer etc. zu werden.
5 .
Über Echopathie. Unter diesem Namen versteht Stoll ’) die
Eigenschaft meist Nervöser, daß sie nicht bloß Schmerzen anderer an ihren
eigenen Gliedern durch Autosuggestion empfinden, „sondern daß auch ent¬
sprechende objektiv wahrnehmbare Veränderungen an ihrem Körper auf-
treten und zwar wiederum hauptsächlich im Bereiche des Gefäßsystems“.
Er bringt nun einen prägnanten Fall, wo die Betreffende eine Frau antraf,
die über heftigen Schmerz in der Achsel klagte; sie bedauerte dieselbe und
bald darnach empfand sie gleichen Schmerz an gleicher Stelle. Dieselbe
Person bekam auch Warzen an der Hand, sobald eine damit behaftete
Hand sie nur berührte! Der Pfarrer soll gesagt haben, sie sei völlig ge¬
sund gewesen. Ich glaube es nicht. Wenn die Tatsachen wirklich wahr
sind — ich müßte sie erst gesehen oder durch einen Arzt attestiert haben —
so handelt es sich wohl nur um eine Hysterische. Sonst kenne ich augen¬
blicklich keinen hierhergehörigen Fall. Etwas anders steht es mit der „ein¬
gebildeten Schwangerschaft“, die wohl hauptsächlich bei hysterischen
Frauen vorkommt, aber bisweilen auch bei anscheinend gesunden
Männern. So kenne ich einen sehr kräftigen jüngeren Pfarrer, der
allerdings durch Überarbeitung nervös ward, welcher bei der Schwan¬
gerschaft seiner Frau jedesmal Heißhunger, Übelkeit etc., kurz die
inolimena der Schwängern aufweist. Dieses durch Autosuggestion auf dem
Wege des Mitleids. Mit den sog. Stigmatisationen steht es wohl ähnlich.
Die meisten Stigmatisierten waren Hysterische, andere einfache Betrüger.
Ob wirklich durch ekstatische Versenkung in die Leiden Christi die Blut¬
stellen Christi auf autosuggestivem Wege entstehen können, wird von vielen,
und wohl mit Recht, bezweifelt. Immerhin wäre es nicht ganz unmöglich.
1) Stoll: Suggestion und Hypnotismus in der Völkerpsychologie. Leipzig.
Veit, 1904, p. 525.
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Auffallend ist nur, und das spricht sehr gegen die Möglichkeit, der Um¬
stand, daß aus neuer Zeit bei scharfer ärztlicher Untersuchung etc. solche
Fälle nie wieder vorkamen und schwerlich wieder kommen werden. Blut¬
schwitzen, aber nicht an den Stellen von Christi Malen, könnte wohl ein¬
mal Vorkommen, doch schwerlich durch Autosuggestion. Es soll dies öfter
bei Geisteskranken zu beobachten sein. Ich habe das nur ein einziges
mal gesehen und zwar bei einem schweren Katatoniker, auf dessen Stirn
und Gesicht bei zwei Gelegenheiten richtige Blutstropfen aus den Haut¬
poren drangen. Dies dauerte einige Tage. Man wird also bei allen Ge¬
schichten über Eehopathie sehr skeptisch sein und nur genauen ärztlichen
Untersuchungen trauen müssen. Wenn sicherlich auch besonders das
Gefäßsystem durch Auto- und Heterosuggestion unter Umständen zu be¬
einflussen ist, so darf man doch nicht zu viel verlangen und wenn es z. B.
gelungen sein soll die Menstruation durch Suggestion hier und da zu regeln,
so glaube ich kaum, daß es durch Autosuggestion möglich ist.
6 .
Konjekturalethnologie, — anthropologie, überhaupt Kon-
jekturalwissenschaft. Stoll *) zählt zu der „Konjekturalethnologie“
unter anderm auch die Frage nach dem „Ursprung der Familie“. Er hält
die berühmte „Hordenehe“ (Hetärismus), die Blutsverwandtenehe etc. nicht
nur für ganz unbewiesen, sondern für sehr unwahrscheinlich. Er scheint
überhaupt die „Konjekturalethnologie“ für sehr überflüssig zu halten. Was
nun den Hetärismus anbetrifft, so finde ich diese Hypothese durchaus nicht
widerlegt, wie ich andernorts 2 ) zeigte. Mag man auch das Menschengeschlecht
von einem oder, was wahrscheinlicher ist, von mehreren Paaren abstammen, und
an verschiedenen Orten entstehen lassen, so kommt man, glaube ich, absolut
nicht um den Hetärismus herum, d. h. also um einen Zustand, wo anfäng¬
lich hauptsächlich Blutsverwandte geschlechtlich promiscue verkehrten. Erst
später kann sich daraus eine Zeit- und noch später eine Art Dauer-Ehe
ergeben haben. Einen andern Modus kann ich mir gar nicht vorstellen.
Aber lassen wir diese These, die natürlich nie stricte bewiesen werden
kann. Es fragt sich, ob es erlaubt ist, in irgend einer Wissenschaft
noch über die wirklich gegebenen wissenschaftlichen Daten konjektureil
hinauszugehen, um sich ein Ganzes, eine Entwickelung und eventuell ein
Weltbild zu konstruieren. Ich glaube es sicher und halte es sogar für
nötig, daß der Forscher auch über das Gegebene hinausgehe,
nach dem warum, woher und weshalb frage, aber freilich nie
das Erdachte als Wirklichkeit hinstelle. Diese Hypostasierung er¬
fordert allein schon das Kausalitätsgefühl und kann unter Umständen sogar
heuristischen Wert erlangen. Ich bedaure bloß die Gelehrten, die z. B. bloß
darnach fragen, was sie im Mikroskope sehen und für das Transzendentale,
auch in der Entwickelung, kein Verständnis haben.
1) Stoll: Suggestion und Hypnotismus in der Völkerpsychologie. Leipzig,
Veit, 1904, p. 5SO.
2> Nücke: Die Uranfänge der menschlichen Gesellschaft. Die Umschau,
1907, 17. Aug.
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i.
Heilung der Warzen durch Suggestion. Darüber berichtet
ausführlich Dr. Stoll 1 ), soweit es die verschiedenartigen abergläubischen
Praktiken anbetrifft. Auf Seite 547 schreibt er nun abschließend: „Auf
jeden Fall aber beweist die suggestive Zugänglichkeit eines anscheinend so
sehr der Peripherie angehörigen Leidens, wie die Warzen, aufs neue den
intensiven Einfluß, welchen die normale Psyche auf die Vorgänge der
vegetativen Lebens- und Körpergewebe ausübt.“ Das bestreite ich bis
auf wissenschaftlichen Gegenbeweis durchaus und kein Chirurg wird
dies gewiß zugeben. Es handelt sich in allen solchen Fällen von Ver¬
sprechungen usw., um reine Koinzidenzen, und Stoll selbst sagt, wie
häufig diese und andere Vornahmen nicht von Erfolg begleitet sind und
wie oft gerade das Volk das post hoc ergo propter hoc verwechselt. Jeder,
der Warzen an den Händen hatte, weiß, daß sie von selbst vergehen.
Eine Einwirkung der Auto- nnd Heterosuggestion auf das Gefäßsystem ist
bis zu einem gewissen Grade zuzugeben und sicher gelingt es manchen
— ich selbst sah einmal solches — stark blutende Wunden durch „Ver¬
sprechen“, d. h. also auf autosuggestivem Wege zu stillen. Bei den Warzen
würde aber eine momentane Blutunterbrechung nichts nützen, nur eine
länger andauernde Anämie; diese ist jedoch kaum autosuggestiv zu erzeugen
und anders wäre ein Verschwinden nicht gut denkbar. Es ist bedauerlich,
daß ein so klarer Kopf, wie Stoll, der außerdem Mediziner ist, solchen
Aberglauben noch unterstützt. Das einzige Mittel der Vertilgung ist allein
die Entfernung durch Abbinden, Ätzen, Ausschneiden. Die Ätiologie der
Warzen ist ganz unklar, doch scheint sie auf irgend einer Infektion zu be¬
ruhen, wie allein schon das Ergriffensein einander berührender Stellen der
Finger an der Innenseite zu beweisen scheint, und das Übertragen durch
Berührung von einer Person zur anderen.
8 .
Echte und falsche Epilepsie. Man weiß, daß es verschiedene
Zustände gibt, die der Epilepsie gleichen, und daß manchmal sogar der be¬
obachtete Anfall nicht ohne weiteres die Diagnose sichert, geschweige denn,
wenn es sich um berichtete Fälle, namentlich aus der Völkerkunde handelt.
Stoll-) berichtet, daß zu den Schamanen speziell sehr erregbare, nervöse
Personen gewählt werden, die „zu epiieptiformen Anfällen geneigt sind oder
es durch psychische Dressur werden, denn es ist keineswegs gesagt, daß
es sich dabei stets um mehr oder weniger psychopathisch veranlagte Indi¬
viduen handle“. Nun, wenn diese an sich schon „sehr erregbar nervös“
sind, so nenne ich sie bereits psychopathisch, erst recht, wenn ja Ekstasen
und gar epileptoide Anfälle auftreten, wie das ja auch in den verschiedenen
Konvulsionsepidemien zu beobachten war, namentlich bei Kindern. Das alles
sind also keine nervengesunde Personen. Bei Erwachsenen dürfte es
sich sogar meist um Hysterische, latente oder offenkundige Epileptiker
handeln, bei denen die Ekstase usw. Anlaß zu einem Anfall gibt. W'ie
!) Stoll: Suggestion und Hypnotismus in der Völkerpsychologie. Leipzig,
Veit, 1904, p. 543 ss.
2i Stoll: Suggestion und Hypnotismus in der Völkerpsychologie. Leipzig,
Veit. 19 o 4 , p. 21.
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soll man nun einen wirklichen epileptischen Anfall von einem bloßen
epileptoiden unterscheiden? Man müßte genau die Person und zwar längere
Zeit hindurch beobachten, was bei geschichtlichen Personen natürlich nicht
angeht, und von etwaigen Vergiftungserscheinungen absehen, die leicht eine
Verzückung Vortäuschen. Mohammed wird von den Psychiatern — im
Gegensatz zu Stoll — meist als Epileptiker angesehen, ebenso scheint
Pauli Bekehrung ein epileptischer Anfall mit Halluzinationen gewesen zu
sein. Von den Ekstatischen überhaupt geraten bloß sehr wenige in
einen epilepsieartigen Anfall, trotz gleicher nervöser Erregung. Das spricht
doch sehr dafür, daß Ekstatische mit Anfällen wirklich epileptische, resp.
hysterische Anfälle hatten und nicht bloß epileptoide, besonders wenn sie
sich öftere wiederholten.
9.
Aufhören von Verbrechen durch suggestiv erzeugte Ideale.
Stoll') beschreibt sehr schön das Milieu, in dem der erste Kreuzzug zustande
kam. Es heißt dann dort: ..Die allgemeine Gärung nahm alle Geister derart
in Anspruch, daß selbst der in jenen Zeiten der politischen und öffentlichen
Unsicherheit so häufige Diebstahl, Straßenraub und Mordbrennerei ohne
irgend welches Dazutun der Obrigkeit aufhörte. “ Selbst „Diebe und Räuber
kamen aus ihren Schlupfwinkeln herbei, um ihre Gewalttaten zu beichten
und zu deren Sühne das Kreuz zu empfangen . . Leider sagt uns Stoll
nicht, wo es geschah und in welchem Umfange. Ich kenne keinen ähn¬
lichen Fall, und selbst die Zeit des größten Enthusiasmus für eine große
Idee, wie z. B. die der französischen Revolution, der Freiheitskriege, der
Reformation usw. hat nicht vermocht, die Verbrechen zu verhindern, Ob
überhaupt Gewohnheitsverbrecher imstande sind wirkliche Ideale so tief zu
empfinden, daß sie von weiteren Verbrechen ablassen, ist mir mehr als
fraglich. Viele werden solche Zeiten sogar als gute Gelegenheiten ausnützen.
Daß dies auch damals sicher nicht andere war, zeigt der Bericht Stolls
(S. 359), wonach bereits in der Armee Peters des Einsiedlers der Janhagel
sich sehr ^unbequem breit machte, und in den Rhein- und Moselgegenden
eine Schar Kreuzfahrer ihr begegnete, die wahre Straßenräuber waren.
Und später (S. 362) wird berichtet, daß in die Schar des ersten Kinder¬
kreuzzuges sich Diebe einschlichen, die die armen Pilger beraubten. Die
obige Notiz von einem Aufhören der Verbrechen dürfte jedenfalls auf
keinen Fall der Wirklichkeit entsprechen, selbst wenn ja einige Verbrecher
von der neuen Idee so begeistert gewesen sein sollten, daß sie von weiteren
Untaten abstanden oder latente Verbrecher sich ruhig verhielten. Niemand
hat davon etwas verspürt, daß IS70, wo doch eine nationale Begeisterung
durch das ganze deutsche Volk ging, die Verbrechen oder nur gewisse
Arten derselben zessiert hätten; wahrscheinlich haben sie überhaupt nicht
einmal an Zahl abgenomraen.
10 .
Über die „Hörigkeit“. Das Wort ist wohl zuerst von dem be¬
kannten Psychiater v. Krafft-Ebing in dem Sinne aufgestellt worden, um das
abnorm suggestive Abhängigsein des Einen vom Andern zu bezeichnen. In
1) Stoll: Suggestion und Hypnotismus in der Völkerpsychologie. Leipzig.
Veit, 1904, p. 3f>s
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leichtem Grade ist es physiologisch und schon das Verhältnis von Lehrer
und Schüler könnte oft vielleicht so bezeichnet werden. Doch meint man
damit offenbar nur die sinnlose Abhängigkeit, die dann zu den abscheu¬
lichsten und gefährlichsten Handlungen führen kann. Das wohl sicher
nur bei psychopathisch Passiven und ein Auswuchs ist hier die erotische
Ekstase, die wir S. 347 berühren werden. In dem großen Werke von St oll über
Suggestion und Hypnotismus in der Völkerpsychologie (Leipzig, Veit, 1009)
finden sich mehrfache Beispiele hierfür, zum Beweise, daß dieser patho¬
logische Zustand eine gewisse Rolle spielt, die noch größer wird, wenn
man auch den Masochismus hinzurechnen will. Das in der Geschichte so
unheilvoll klingende: „oü est la femme“ ist nur ein anderer Ausdruck für
die Hörigkeit, die das Band der Liebe, der Sympathie zwischen Mann und
Frau oder Mann und Mann voraussetzt. So stand z. B. der König Don
Juan II. von Castilien (1406—54) so unter der Hörigkeit seines „Con-
destable“ Alvaro de Luna“, daß er sich sogar von ihm vorschreiben ließ,
wann er seiner Frau oder einer Geliebten beiwohnen sollte oder nicht
(Stoll, 1. c., S. 391)! Ganz ähnlich — auch in puncto amoris, handelt
Ludwig IX. gegenüber seiner willensstarken Mutter Bianca von Castilien
(Stoll, S. 393). Fast immer ist der passive Teil pathologisch weich, oft nervös,
der andere herrisch, despotisch. Am gräßlichsten zeigt sich die Hörigkeit
in den sadistisch-masochistischen Handlungen. Nicht immer, aber wohl
meist, hat die Hörigkeit eine sexuelle Basis und das Verhältnis wird dann
auch leicht sexuell ausgenutzt. Eine besondere Art der Hörigkeit ist die
sogenannte „Faszination u , wobei als Hauptsuggestivmittel der Blick die
unheilvolle Rolle spielt (Prozeß Czinski!). Bei nicht wenigen Verbrechen ist
die Triebfeder in letzter Instanz in einem Hörigkeitsverhältnisse zu suchen,
daher ist letzteres forensisch sehr wichtig, und wenn ein solches festgestellt wird,
hat auch der Psychiater mifzureden, da der passive Teil wohl stets mehr
oder weniger abnorm ist. Mildere Fälle von Hörigkeit sieht man nicht
allzuselten bei Eheleuten. So kenne ich z. B. eine junge Frau, die ihre
Eltern fast völlig vergißt, wenn ihr Mann gegenwärtig ist; sie hängt förm¬
lich an seinen Lippen und folgt sklavisch seinen Befehlen. Hier ist Liebe
und Furcht die Ursache, oft ist es nur das Eine oder Andere. Noch weniger
ausgeprägt sind die Fälle, wo z. B. für die Ehefrau der Mann die höchste
Autorität darstellt, und was er sagt und tut, ist recht; die Kritik schweigt
hier ganz. Ich kenne auch solche Fälle. Die Hörigkeit verlangt fast stets
einen starken, energischen und einen schwachen, passiven Teil. Ein gut
Teil masochistischen Empfindens ist dabei gewiß mitwirkend. Auch bei
Freundschaftsbündnissen sieht man öfter milde Formen von Hörig¬
keit. So kenne ich z. B. zwei junge Damen von zirka 20 Jahren. Die
Eine, sehr energisch, selbstwillig, ist merkwürdigerweise ganz unter dem
Banne der andern, gehorcht ihr auf das Wort usw. Bei homosexuellen
Verhältnissen ist dies fast noch häufiger der Fall. Endlich kann es auch
zwischen Eltern und Kindern, unter Geschwistern und zwischen Lehrer und
Schüler (Bourgets disciple!) zu einem Hörigkeitsverhältnisse kommen, das
bis zur pathologischen Grenze gedeihen kann und auf Liebe, Ehrfurcht,
Autorität, Furcht usw. beruht, oder auf einzelnen dieser Eigenschaften.
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347
11 .
Schwängerung in erotischer Ekstase. Stoll 1 ) macht die
wichtige Bemerkung, daß es Frauen gäbe, „und ihre Zahl ist vielleicht
nicht klein“, die durch bloßes Anstreifen mit dem Geliebten, durch
Händedruck oder Kuß in eine Art von Somnolenz geraten, in eine erotische
Ekstase, die der Hypnose sehr ähnlich sieht, mit völliger Abulie, in welcher
sie leicht verführt werden können. „Es ist wahrscheinlich, daß mancher
von einer unehelichen Konzeption gefolgte Sündenfall in solchen Momenten
stattgefunden hat“ und dabei können es normale, willenskräftige,
„wenn auch stark reagierende Naturen“ und ethisch vollwertige sein. Dieser
Modus, der als der Gipfelpunkt der sogenannten Hörigkeit zu bezeichnen
wäre, ist also sozial sehr wichtig und den Verführer trifft dann weniger
Schuld, wenn sich die Frau hingibt, hier freilich auf gewisser pathologischer
Basis, denn bei absolut gesunden Nerven dürfte Ähnliches kaum passieren,
außer vielleicht bei langem Brautstande. Solche Fälle können also in den
besten Familien Vorkommen und bei moralischem Hochstande. Ein ausge¬
zeichnetes Beispiel hierfür sehen wir in Anna Karenina, wohl Tolstois
größtes Werk und ein Seelengemälde von unvergänglicher Schönheit und
Tragik. Noch akuter sind die Fälle von sogen, „coups de foudre“ von
Fdrd, wo eine Frau plötzlich einen Fremden sieht, sich sterblich in ihn
verliebt, ohne, wie im vorigen Falle, ihn näher zu kennen, und
auch sofort verführt werden könnte. Das ist dann wohl erst recht patho¬
logisch. Eine Reihe von Tragödien im Einzel- und im Eheleben hat diese
erotische Ekstase zum Hintergrund. Es sind dann die „unbegreiflichen“
Fälle, die freilich für den Psychologen klar genug sind und die vor allem
der Jurist kennen muß. Auch in den unteren Schichten mag Ähnliches
Vorkommen, obgleich gewiß seltener, da der Vorgung schon sehr verfeinerte
Nerven voraussetzt, die hier gewöhnlich fehlen. Doch kenne ich einen
solchen Fall bei einem sehr sittlichen Mädchen des Volkes, die am Ende
ihres etwa 2 jährigen Brautstandes doch ihren erotischen Gefühlen einmal
zum Opfer fiel. Gefragt, wie sie das nur habe tun können, und ob sie nicht
etwa verführt worden sei, verneinte sie es und meinte, sie wüßte selbst
nicht, wie es gekommen sei: „es war ein großes, unaussprechliches gegen¬
seitiges Verlangen.“ Es war also eine erotische Ekstase eingetreten, mit
Wegfall aller sonstigen Hemmungen.
12 .
Beiträge zum „Zungenkusse“. Über diese ekelhafte und sexuell
höchst erregende Art des Kusses habe ich früher schon in diesem Archive
ziemlich Ausführliches gebracht. Nun lese ich bei Stoll 2 ), daß bei den
Königsberger „Muckern“ unter dem edlen Pastor Ebel ein Zeremoniell,
der „Seraphinenkuß“, eine große Rolle spielt, „eine der niedersten Bordell¬
praxis entlehnte ars osculandi, die darin bestand, daß sich die Gläubigen
verschiedenen Geschlechts mit den Zungenspitzen berührten“. Die Erregung
1) Stoll: Suggestion und Hypnotismus in der Völkerpsychologie. Leipzig,
Veit, 1904, p. 516.
2) Stoll: Suggestion und Hypnotismus in der Völkerpsychologie. Leipzig,
Veit, 1904 p. 505.
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ist so stark, daß dagegen die zweite Praktik der Mucker, um sieb zi läutern
und der Heiligkeit entgegenzuführen, nämlich daß in ihren Versammlungen
Frauen versteckte Reize entblößten, um durch deren häufigen Anblick die
Männer so sich abhärten zu lassen, daß sie nicht mehr sinnlich erregt
würden, welche Methode S t o 11 als noch schlimmer als die erste bezeichnet,
mir noch harmloser erscheint. Jedenfalls verdient Ebel durchaus das
Epitheton eines „geistlichen Schweinigels“, das ihm Stoll gibt. Er scheint
es in der Tat usque ad finem amoris haben kommen zu lassen, wie gewiß
auch in diesem Muckerkreise der Geschlechtsakt oft genug das beabsichtigte
oder unbeabsichtigte Ziel der Gläubigen gewesen sein mag. Offener trieb
es allerdings noeh ein anderer wollüstiger Schwärmer, Henry James Prince,
der (Stoll, 1. c., S. 509) in offener Versammlung seiner Gläubigen ein
schönes Mädchen deflorierte, als eine gottesdienstliche Handlung! Er hatte
also seine Gemeinde in eine noch größere Hörigkeit gebracht als der
famose Ebel!
13.
Die Päderastie als Kult- oder Ritualhaudlung. Wie alles
eigentlich für den Kultus mißbraucht wurde, so geschah es auch mit den
sexuellen Dingen, wie die alte und neue Zeit hinreichend zeigt. In vielen
Kulten, besonders aber in den Mysterien, Festen aller Art, ward die Un¬
zucht geduldet, ja sogar gefordert. So ist es nicht zu verwundern, daß
es auch, wenngleich selten genug, mit der Päderastie geschah. Man fand
im Altertum Spuren davon iu alten Inschriften von Thera'). Einen
weiteren Beleg bietet der berüchtigte Prozeß gegen die Templer. Es heißt
dort in dem Geständnisse des Templers Jehan de Cassanhas (Stoll 1 2 ), wo
der Aufnahmeritus des Näheren beschrieben wird: „Dann überreichte ihm
der erwähnte Präzeptor einen Leibgurt und erlaubte ihm, wenn sich der
Stachel des Fleisches bemerklich machte, sich mit den Brüdern fleischlich
zu vermischen.“ Damit ist gesagt, daß es ihm nur erlaubt sei, daß es
also nicht gefordert ward, wie die Feinde der Templer sagten. Stoll
hat nun dafür, glaube ich, eine etwas gesuchte Erklärung. Er hält das
bloß für einen „Ausfluß des eigentümlichen, inversen Symbolismus, mit dem
die Phantasie der damaligen Zeit den vermeintlichen Teufelskult ausstattete.“
Dieser sollte in allem den christlichen Kult nachahmen, aber verkehrt, so
z. B. statt des Bruderkusses den Afterkuß, statt des Keuschheitsgelübdes die
Päderastie usw. Die Aufnahmezeremonie bei den Templern riecht allerdings
sehr nach Teufelskult. Bei der nahen und langen Berührung mit dem Oriente
liegt es aber vielleicht näher, anzunehmen, daß die Päderastie absichtlich
eingeführt ward, da bei andern Teufelskulten dies Moment fehlt. Die reichen
Templer hatten gewiß in der letzten Zeit dieser sexuellen Aberration gefrönt.
14.
Der Afterkuß. Man weiß, daß im Hexenglauben der Teufels-
sabbath und das Küssen des Afters des Teufels durch die Hexen eine
1) Näcke: Über Homosexualität in Albanien. Jahrbuch für sexuelle Zwischen¬
stufen etc. IX. 190$.
2) Stoll: Suggestion und Hypnotismus in der Völkerpsychologie. Leipzig,
Veit, 1904, p :-tS2, HS3.
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große Rolle spielte, was Stoll auf einen „inversen Symbolismus“ zurück-
führen will, wo also statt des christlichen Bruderkusses der teuflische After¬
kuß als Gegenstück auftritt. Und so sehen wir denselben auch bei den
Aufnahmezeremonien der Templer figurieren (Stoll ')• Ähnliches findet sich
aber auch in andern Kulten hie und da, wo vom Teufel nicht die Rede ist.
Eine andere Erklärung scheint mir dann hier, aber vielleicht auch dort, näher
zu liegen. Man wollte damit offenbar die größte Demut, Hingabe an das höhere
Wesen bezeugen, die auch vor dem Ekelhaftesten nicht zurückscheut, es sogar
als hohe Gnade ansieht. Ähnliche Machinationen kommen ja auch in der
Bordellpraxis und im sadistisch - masochistischen Verkehre vor. Mancher
pervers Veranlagte (renifleur) könnte dadurch sogar auch neue sexuelle
Lust gewinnen auf dem Wege des Geruchs! Interessant ist eine Notiz
Stolls (S. 304), wonach Origines das Orakel der Pythia einem bösen
Geist zuschreibt, welcher der Priesterin, wenn sie über der kastalischen Höhle
sitzt, in den After fährt und sie so anregt! Das war so recht der zelotische
Geist, der in allem Heidnischen nur Teufelswerk sah Es sollen aus einem
Felsspalt jener kastalischen Höhle Dämpfe aufgestiegen sein, welche nach
Stoll (S. 302) die Ekstase der Pythia auslösten, und zwar wirkten sie, wie
er meint, suggestiv. Wieso suggestiv? Weil es so wirken sollte, wie die
Reute, also auch die Pythia meinten? Man müßte zunächst an gewisse
betäubende Dämpfe denken, z. B. von Schwefel oder Kohlensäure, aber
nach der Aufdeckung von Delphi durch die französischen Archäologen,
wobei auch, soviel ich weiß, jene kastalische Höhle gefunden ward, ist von
Dämpfen usw. nicht die Rede. Vielleicht war es aber im Altertume so,
da die Quellen usw. bisweilen ihre Natur umändern oder mit der Zeit ver-
siechen. Jedenfalls bietet gerade das Pythiaorakel der interessanten Probleme
genug dar.
15 .
Handlangerdienste der Kirche bei Verschlechterung der
Rasse. In der Politischen Anthropologischen Revue 1900, S. 23(1, ist
folgendes zu lesen: „. . . dem Grauenvollen zu steuern, das in der Preis¬
gabe gesunder Weiber an hitzige Syphilitiker und Deliranten liegt. Der¬
gleichen stempelt Staat, Gesellschaft und Kirche zu Verbrechern, wie ich
es denn in Niederschlesien erlebt habe, daß die Kirche die Ehe eines
Idioten mit einem gesunden Weibe segnete und sogar dafür gesorgt hatte,
daß am Altäre eine Nebenperson erschienen war, die für den zum Sprechen
unfähigen Bräutigam das „Ja“ zu sagen hatte.“ Eheverbote gibt es da¬
gegen bei uns kaum, soweit nicht Entmündigung vorliegt, und sie
würden, wie ich früher darlegte, auch wenig nützen, da dann doch
außereheliche Kinder gezeugt würden, was noch schlimmer wäre.
In solchen eklatanten Fällen, wie oben, sollten aber Kirche und Staat,
wenn sie auch nicht die Macht haben, die Ehe zu verbieten, sie
wenigstens durch Vorstellung der damit verknüpften Gefahren zu hindern
suchen. Die Idioten kommen bei außerehelicher Schwängerung kaum in
Frage. Solche Heiraten geschehen nur aus selbstsüchtigen Zwecken der An¬
gehörigen, oder auch, um die Idioten zu versorgen, wie ich einen Fall
1 1 Stoll: Suggestion und Hypnotismus in der Völkerpsychologie. Leipzig,
Veit, 1U04, p >2.
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kenne. Beides ist natürlich höchst verwerflich. Daß aber auch der gesunde
Teil der Eheleute ein trauriges Opfer der Ehe wird, ist klar, da von einer
„inneren Gemeinschaft“ nicht mehr die Rede ist. Ich fürchte jedoch, daß
es kaum je gelingen wird, das Verantwortlichkeitsgefühl der Menge so zu
heben, daß sie bei Eheschließung an die Qualität der Nachkommenschaft
denkt. Dazu ist sie viel zu egoistisch und der Egoismus wird nie auszu¬
rotten sein. Und selbst, wenn es gelingen sollte, einige wenige zu be¬
kehren, so macht das nicht viel aus. Es bleibt also, meine ich, in solchen
krassen Fällen nichts weiter übrig, als die obligatorische Kastration
durch Vasektomie einzuführen. Freilich auch ein Zukunftstraum, aber doch
ein realisierbarer. Solange das nicht möglich ist, bleibt nichts anderes
übrig, als solche Idioten, Geisteskranke usw., die in Familien leben, obli¬
gatorisch entmündigen zu lassen, um so wenigstens einigermaßen einen
Riegel vorzuschieben.
16 .
Penis-Fraktur als Racheakt. Frakturendes männlichen Gliedes
sind an sich abnorm selten. Anders scheint es nach einem interessanten
Berichte von Dr. Lipa Bey 1 ) im Orient, wo eine große libido zu großen
Exzessen führt und die Erektion durch allerhand innere und äußere Mittel
befördert wird. Verfasser sagt bez. der libido der Araber in Ägypten im
allgemeinen: „Das heiße Klima, die geistige Untätigkeit, die Üppigkeit in
der Nahrung, das Faulenzen der Araber und die Vielweiberei in den musel¬
männischen Ländern — alle diese Umstände zusammen erhöhen den
sexuellen Trieb und Sinn des Orientalen dermaßen, daß schließlich sein
ganzer Geist nur von dem einen Gedanken beseelt wird, seine geschlecht¬
liche Lust soviel wie möglich häufig und gründlich zu befriedigen . . .“
Daher die Menge von Aphrodisiaca und besonders erhöht das Haschisch-
Rauchen, die libido und die Erregbarkeit des Gliedes, was nach ihm die
große Unzahl der Haschisch-Raucher erklärt. Verf. teilt zunächst zwei
beobachtete Fälle mit. Interessanter fast ist aber der dritte über den er
mit folgenden Worten berichtet:
„Ein dritter mir bekannter Fall von Penis-Fraktur war vor nicht langer
Zeit in Kairo, ein Racheakt eines jungen türkischen Fräuleins auf Anraten
ihres eigenen Vaters und Bruders, dem ein gewesener arabischer Polizei¬
offizier, ein bekannter, belästigender Don Juan, zum Opfer fiel. Er hatte
die sonderbare Manie, Liebesbriefe in die geschlossenen Coupes der türkischen
und arabischen Damen zu werfen, die er beschwor, in seine Garconniere
zu kommen, um ihnen vertrauliche und sehr wichtige Mitteilungen zu
machen. Sonderbarerweise gelang ihm dieser Trick in den meisten Fällen,
da es sich um verheiratete Damen handelte, deren Sucht, „etwas zu er¬
leben“, mit dem Besuche in einer Garconniere befriedigt war. Anders war
es mit diesem keuschen, türkischen Fräulein, die den Brief ihrem Bruder
übergab, der im Einverständnisse seines Vaters dem Mädchen riet, den
jungen Don Juan in das Palais zu einer bestimmten Stunde einzuladen
und im gegebenen Momente ihm seine männliche „Carriere“ zu brechen.
Die zarte Hand dieser reinen Jungfrau vollbrachte die Justiz, „um ihn für
andere unschädlich zu machen“, wie sich ihr greiser Vater ausdrtickte und
1) Arztl. Rundschau, Nr. 30, 1900: Die Penis-Frakturen bei den Arabern.
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um sein Mütchen auf unerlaubte Schäferstunden zu kühlen, wie sich das
Fräulein bei ihrer Einvernahme für ihre Tat entschuldigte. Die Affäre
dürfte in diesen Tagen ihr gerichtliches Nachspiel finden, sobald der ver¬
unglückte Held aus der Spitalsbehandlung entlassen wird. Die Täterin
wird bloß zu einem Schadenersätze in Geld verurteilt, das durch ihres
Vaters großen Reichtum keine geringe Summe ausmachen dürfte, wozu
auch der erschwerende Umstand nach der orientalischen Auffassung sich
hinzugesellt, daß ein von einer zarten Frauenhand gebrochener Penis fast
unbezahlbar ist, da er nicht wie ein gebrochenes Herz leicht ausheilt/ 4
Die kolossale Geilheit der Orientalen ist ja nichts Neues und sicher
hat ihr die Polygamie Vorschub geleistet. Nicht weniger aber auch das
Gebot Mohammeds, der den Beischlaf gleichsam als religiösen Kult hin¬
stellte, den die Frauen zu fordern haben. Übrigens ist bez. Ägyptens,
woher der obige Bericht stammt, noch zu erwähnen, daß Araber, resp.
Türken nur als Fellachen etc. im Delta, in Unterägypten wohnen, kaum
mehr südwärts. Die große Masse von Fellachen sind eben Nachkommen
der alten Ägypter, aber auch mohammedanisch. Ob sie bezüglich der libido
auch so leistungsfähig sind, wie ihre arabischen Brüder, weiß ich nicht,
doch leisteten bereits die alten Ägypter in Venere ganz Erkleckliches, man
denke z. B. nur an die Orgien in Bubastis, und so wird es wohl auch
jetzt noch sein. Aufgefallen ist mir der kolossale Kinderreichtum derselben.
An unserm mitgeteilten Falle ist aber noch interessant, mit welcher Selbst¬
verständlichkeit die keusche, türkische Dame den Brief des Seladons ihrem
Bruder übergibt und auf dessen und ihres Vaters Rat den Verliebten usque
ad portas gelangen läßt, um ihm dann in der entscheidenden Sekunde sein
Glied zu brechen. Für unsere Anschauungen ein etwas sehr ungewöhn¬
liches und kurzes Verfahren. Ein solches scheint aber in dem dortigen
Lande der Verliebten nichts Seltenes zu sein, wie die orientalische Auf¬
fassung vom gebrochenen Penis durch zarte Frauenhand beweist. Mir ist
ein solcher Racheakt aus Europa nicht bekannt und deshalb eben schien
mir jene Mitteilung erwähnenswert.
17 .
Die Entwickelungsfähigkeit der Neger. In diesem Archiv,
Bd. 33, S. 179 habe ich nicht nur die Verschiedenartigkeit der Neger
überhaupt betont, sondern auch ihre geistige Inferiorität im allgemeinen.
Zu diesen Bemerkungen hatte mich ein gedankenreicher Aufsatz der Frau
Augusta Moreira aus Rio de Janeiro im Globus inspiriert. Ich konnte ihr
nicht in allem beitreten und führte dies weiter aus. Auf diese Mitteilung
hin hat mir nun Frau Moreira kurz darauf erwidert und sucht ihren Stand¬
punkt ausführlicher zu begünden. Da es sich hier um eine wichtige psycho¬
logische Frage, insbesondere auch für uns, die wir nun Kolonien haben,
handelt, so glaube ich, die Hauptstellen aus dem bedeutenden Briefe dieser
Dame hier wiederholen zu dürfen, in der Annahme, daß auch dieser da¬
mit ein Dienst geleistet wird, wenn ihre jedenfalls aus langjähriger Er¬
fahrung und scharfer Beobachtung gewonnenen Eindrücke hiermit bekannt
werden! ')
1) Ich habe am Stil und an den Ausdrücken nichts geändert und nur die
neuere Orthographie beobachtet. Die Dame schreibt im ganzen ein flottes Deutsch.
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„. . . Sie meinen, daß die Neger es niemals bis zur Höhe der Euro¬
päer bringen. Ich glaube, daß dies aucli so sein wird, weil zu erwarten
ist, daß die Europäer in ihrem Progreß nicht stehen bleiben werden, auf
die Neger wartend .... Daß der Fortschritt nicht nur von der Rasse
abhängt, beweist die Tatsache, daß 2 Völker derselben Rasse, eines von
ihnen fortschreitet und das andere nicht, oder eines auf eine Weise und
das andere auf ganz andere Weise progressiert. So z. B. der Engländer,
obgleich theoretisch germanisch schritt fort und erlangte einen sehr ver¬
schiedenen Grad der Zivilisation als der Deutsche, Däne, Holländer, Flam-
menge oder Schwede. Außerdem müssen wir noch mit einer Reihe von
oft sehr unvermuteten Umständen rechnen, welche ein Volk schnell empor¬
heben. So z. B. gab der Krieg mit Transvaal, welcher England verpflichtete,
große Einkäufe von Tieren und Wolle in Argentinien zu machen, dieser
großen südamerikanischen Republik einen großen ökonomischen und kon¬
sekutiven Impuls nnd diente zur Ausnützung der öffentlichen Instruktion
und zum Wohle des Volkes. . . . Ich glaube also viel mehr an den
Wert des Volksfaktors als an den Rassenfaktor selbst, weil die Völker
schon so sehr gemischt sind, daß es nicht möglich ist, sie als eine ver¬
schiedene Gruppe anzusehen. Die Frage der möglichen Gehirnentwicklung
der Neger kann in Afrika nicht so gut studiert werden wie hier in Bra¬
silien. Hier hat man niemals das Aufhalten dieser Entwickelung im 1-1.
Lebensjahre beobachtet. Wir haben hier schwarze Advokaten, Ärzte, Inge¬
nieure, Lehrer etc., welche dieses Alter passierend in der Schule bleibend,
die Schwierigkeiten des Studiums auf Seite der Weißen besiegten ünd in
der Gesellschaft gute Stellungen erreichten, trotz der unzähligen Schwierig¬
keiten, welche sie auf ihrem Wege betreffs des Vorurteils der Farbe be¬
gegneten. Dieses Prinzip des Aufenthaltes der mentalen Entwickelung im
14. Jahre ist nur eine Legende, welche sich von Buch zu Buch verbreitet
hat, ohne ein gründliches Examen. Eis gibt solche Fälle bei Negern wie
bei Weißen und hat Juliano ') gefunden, daß dies sehr oft nur Fälle
leichter Form der dementia praecox sind, namentlich hervorgerufen durch
die übermäßige Anreizung der Gehirnfunktionen, um die Schwierigkeit des
überladenen Programmes der Schule zu besiegen. Ich will noch bemerken,
daß die Fehler der Neger in gleicher Lage mit denen der Weißen schwerer
wiegen, also mehr auffallen. Deshalb ist unter ersteren eine größere Ge¬
hirnanstrengung erforderlich als bei letzteren. — ... Es gibt keine Fälle
von Zivilisation, welche sich ohne fremde Influenz entwickelten . . . Sie
erwähnen nur noch von den amerikanischen Negeruniversitäten. Erstens
sind diese nicht so alt wie der Weißen und nicht so gut ausgestattet.
Zweitens haben diejenigen der Weißen, trotz guter Ausstattung keine
außergewöhnliche Arbeit geliefert im Verhältnis zur Nummer ihrer Ar¬
beiter und der Vollkommenheit ihrer Installationen. Hat z. B. die anglo-
amerikanische Bevölkerung von Canada schon einen außerordentlichen Ge¬
lehrten von Wert hervorgebrachtV Diese Rasse degeneriert in der Kälte
Nord-Amerikas??? Die Konditionen des Milieu sind noch nicht solche, daß
sie Arbeiten größeren Wertes begünstigen. — Was die Berüchtigung der
1) Der Ehegatte der Dame, Dr. Jul. Moreira, der ausgezeichnete Direktor
der großen Irrenanstalt zu Rio de Janeiro und geschätzte Gelehrte.
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Neger durch ihre libido anbetrifft, so muß dieses noch besser analysiert
werden. Nach Brasilien sind Neger derselben Völker gekommen, wie in
Nord-Amerika, aber hier . . . gibt es keine analogen Fälle wie die in
Nord-Amerika vorkommend erwähnten. Frau Frida Freiin v. Bülow
schreibt nichts in ihrem Artikel „Das farbige Element in Deutsch-Ostafrika 14 ,
welches uns berechtigt, das Vorurteil von Nord-Amerika betreffs des
Sexuallebens der Neger zu verallgemeinern. Ich kenne protestantische
Neger und Pastoren sowie katholische Priester, deren Leben das muster¬
hafteste ist. Dieses zeigt wieder den Wert der Bildung der Menschen. Zum
Gegenteil muß ich noch erwähnen, daß die Geschichte von Nord- und Süd-
Amerika beweist, daß die weißen Entdecker nicht nur die Denker waren,
wie Sie mir schreiben. Es gibt noch heute in Nord-Amerika viele un¬
zähmbare tribus wegen des libidinösen furor der Entdecker. Und die
Millionen Gesichter der Mischlinge, sie sind doch gewiß nicht nur das
Produkt des libidinösen Negers, sondern das des starken libidos der Weißen,
welche den Schwarzen das Recht absprechen, nur für sich eine Frau zu
besitzen. Was nun die Mischlinge anbetrifft, so sind die Vorurteile nicht
weniger in der Wissenschaft verbreitet. Die Frage des Charakters der
Mulatten hängt von den guten oder schlechten Eigenschaften der Eltern
ab. Sehr oft gibt es auch trotz des schlechten Charakters des weißen
Vaters einen musterhaften Sohn mit allen Prinzipien der christlichen Moral.
Ich zitiere z. B. den bekannten Boeker-Washington. Zwichen ihm und
seinem weißen Vater ist der Sohn gewiß ohne Hesitation mehr wert. . . .
Unglücklicherweise laufen diese falschen Propositionen durch die Welt von
Buch zu Buch. . . . Ich hoffe, daß eines Tages ein Forscher erscheinen
wird, welcher diese Fragen gerecht und wissenschaftlich untersucht, ohne
Vorurteils-Ideen. Man wird dann sehen, daß Tiedemann, Quatrefages und
andere recht hatten, wenn sie der Bildung und nicht der Rasse die jetzige
Superiorität der Weißen über die Neger zuschrieben. . . .“
Man sieht jedenfalls, daß die Neger keinen besseren Advokaten hätten
annehmen können, als die Briefschreiberin. Trotzdem hat sie mich in
meinen Ansichten nicht bekehrt. Ich muß vor allem mit den meisten
neueren Anthropologen dabei bleiben, daß jeder Rasse in der
Hauptsache ein Maximum der Entwickelungsfähigkeit
gegeben ist; darüber geht es nicht hinaus, wenn nicht
günstige Rassenmischung eintritt. Es sind schon eine Reihe
von Negergehirnen abgebildet und untersucht worden. Schon der
Laie erkennt auf den ersten Blick, daß die meisten Negergehirne
äußerlich viel einfacher, gröber gebaut sind, als das der
Weißen und dem wird wohl auch der mikroskopische Befund, speziell die
wahrscheinlich verringerte Zahl der Ganglienzellen der grauen Masse ent¬
sprechen. Doch liegen hierüber, soviel ich weiß, noch keine Untersuchungen vor. ' )
Das Mulattengehirn wird dem der Weißen nahekommen, wie
auch die geistigen Eigenschaften. Halten wir nun daran fest, daß
der Durchschnitt der Neger geistig unter dem Niveau der Arier steht.
1) Der berühmte holländische Anthropolog Kohlbrugge beistreitet dagegen
ganz entschieden, daß das Gehirn des Negers schlechter ausgestattet sei als das
des Europäers.
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so ist damit selbstverständlich nicht gesagt, daß so und so viele Neger
nicht über den Durchschnitt gehen und in ihrem Berufe so tüchtig sein
können, wie die Weißen. Dies scheint speziell in Brasilien der Fall zu
sein, vielleicht noch mehr, als in Nord-Amerika, in dessen Norden sicher viel
weniger Mulatten sitzen, als dort. Je mehr aber weißes Blut in den
Negern rollt, um so mehr nähert sich der geistige Habitus dem der Arier.
Ich möchte auch glauben, daß der Charakter der Mulatten oft sehr zu un¬
recht als schlecht hingestellt wird. Das Milieu ist gewiß meist daran
schuld. Uns fehlen alle statistischen Untersuchungon über die Psyche
der Mulatten, noch mehr über die der Zambos, d. h. der Mischlinge von
Negern und Indianern, die wohl geistig unter den Mulatten stehen, während
die Mestizen, d. h. Mischlinge von Indianern und Weißen über den Mu¬
latten noch stehen müßten. Auch hier fehlen statistische Untersuchungen.
Besser daran sind wir bezüglich der Entwickelung der Negerkinder in den
Schulen. Wenn die meisten europäischen Lehrer in gemischten Schulen Af¬
rikas etc. die Wahrnehmung machen, daß der Neger bis etwa zur Pubertät
geistig seine weißen Mitschüler überragt, um dann aber fast plötzlich zu-
rüekzubleiben, so muß das wohl wahr sein, selbst wenn wir darüber z. Z.
keine vergleichenden Zahlen besitzen. Mag auch wirklich ein Teil der
Neger einer wirklichen dementia praecox verfallen, was ja auch bei uns in
den Schulen nicht gar so selten ist, so ist bei den übrigen höchstens von
einer „physiologischen“ dementia praecox zu reden, wenn man diese bar¬
barische Wortzusammenstellung vorzieht, d. h. die Gehirnleistung hat in
der Pubertätszeit ihr Maximum erreicht und bleibt nun stehen. Bei den
Negern Brasiliens, die, wie gesagt, wohl alle mehr oder weniger mulattisiert
sind, tritt dies natürlich nicht oder viel seltner ein, ebenso bei gewissen
intelligenten und reineren Negerstämmen Afrikas.
Höhere Anstalten, Universitäten etc. hat es für Neger in den Ver¬
einigten Staaten Nordamerikas schon seit ziemlicher Zeit gegeben. Etwas
wirklich Produktives entstand dort aber nicht, was selbst eine geringere Aus¬
stattung der Laboratorien etc. nicht erklärt. Es ist eben im ganzen
eine nur rezeptive Rasse! Ich weiß nicht, ob es dort Lehrbücher gibt,
die von Negern geschrieben sind und selbst diese Bücher sind noch kein
Beweis für Produktivität! Gewiß haben die Anglo-Amerikaner an ihren
hohen Schulen und bei der Opulenz ihrer Laboratorien wissenschaftlich
und künstlerisch verhältnismäßig nicht allzuviel geleistet, aber es ist doch
nicht zu unterschätzen und z. B. in Psychologie, Chirurgie etc. wird dort
viel und gut gearbeitet. Die Saat ist noch jung, die Mischungsverhältnisse
sind oft ungünstige etc., was diesen relativ geringen Fortschritt zum Teil
erklärt. Das Milieu ist selbstverständlich auch mit in Betracht zu ziehen,
aber überall blickt doch bei näherem Zusehen das Endogene, das Ange¬
borene durch, wenn es sich auch nicht in Zahlen fassen läßt. Ob ohne
günstige Mischung das Negerhirn fortschreiten wird, ist wohl möglich, doch
gehen sicher solche Veränderungen so langsam vor sich, daß man für
historische Zeiten fast eine Konstanz annehmen möchte, wenn nicht fremdes,
höheres Blut einen mächtigen und schnellen Impuls zur Höherentwickelung
gibt. Auch das Gehirn der Weißen hat sich in historischen Zeiten wohl
kaum sichtlich weiter entwickelt, wenngleich einzelne Befunde dagegen zu
sprechen scheinen. Was endlich die größere libido der Neger anbetrifft,
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so scheint diese festzustehen. Die Kriminalstatistik zeigt, daß fast stets die
Neger in Nordamerika mehr sexuelle Delikte begehen als die Weißen, ab¬
solut und relativ, sicher kein bloßer Zufall. In Brasilien mag es anders
sein, eben weil mehr Mulatten da sind und mehr Gebildete wahr¬
scheinlich, da Bildung wohl immerhin eine gewisse Hemmung verleiht.
Daß unter den Conquistadores viele Bestien, Psychopathen etc. waren, die
die Neger für vogelfrei erklärten und ökonomisch und sexuell mißbrauchten,
ist gewiß wahr. Es war eben meist der Abschaum der Heimat! Das er¬
klärt aber nicht die wohl sicher größere libido der Neger in Afrika und
anderswo, wie sie viele Reisende bezeugen und welche phylogenetisch er¬
klärlich ist. Man wird wohl also nach wie vor die Neger als minder¬
wertige Rasse betrachten müssen, deren Vermischung mit den Weißen im
Interesse der Letzteren durchaus zu verhindern ist.
18.
Die Art der Fürsorgezöglinge. Es war schon ein großer Schritt
nach vorwärts, als man die undisziplinierbaren oder verwahrlosten Kinder
auf Antrag der Eltern oder der Behörden einer geregelten familiären oder
besser noch in den meisten Fällen wenigstens anstaltlichen Fürsorge übergab
und man erzielte leidliche Erfolge, trotzdem gerade diese Zöglinge Kandidaten
für Verbrechen aller Art sind. Woher kommt das? Einfach, weil die Mehr¬
zahl davon mehr minder schon Psychopathen sind und nur eine geringe
Zahl bloß Verwahrloste. Das haben bereits mehrfache Untersuchungen gezeigt.
Jetzt erst wieder die von Direktor Dr. Kluge in Potsdam '), in dessen
Anstalt 1908 25 männliche und 12 weibliche Fürsorgezöglinge aufgenommen
wurden und zwar meist der Beobachtung auf ihren Geisteszustand halber.
Von den 22 männlichen fder jüngste 9, der älteste 15 Jahre) waren 7
Debile mit moralischem Defekt, 5 Imbezille mit moralischem Defekt (man
beachte, daß Kl. mit vollem Rechte das Wort Moral insanity nicht an¬
wendet!), 6 Psychopathen und 1 Epileptiker. Unter den 14 weiblichen
(8—19 Jahre) 6 Debile und moralisch Minderwertige, 1 Infantile, l hyste¬
risch Entartete etc. Kurz fast alle durch die Bank waren Psychopathen
oder mehr minder Entartete. Dann ist es freilich kein Wunder, daß sie
sich schwer oder gar nicht erziehen ließen und antisozial waren. Sicher
sind es auch Kandidaten einer späteren Psychose. Und doch waren die
Resultate in der Anstalt recht gute. Interessant insbesondere ist der Fall
einer 16jährigen Infantilen, die wegen Ungehorsams, Herumtreibens, Betteins,
Betrügens, Unsittlichkeit mit 12 Jahren in Fürsorgeerziehung kam. Sie
zeigte sich hier schwer erziehbar, log, war bösartig, aber intelligent und
„später gesellte sich als Gipfel aller Inferiorität (? Näcke) eine geradezu
schrecken erregende „Gefräßigkeit“.“ Sie aß sogar Hühner- und Schweine¬
futter heimlich. Sie versuchte die Austaltsschwestern zu vergiften, welche
sie oft gezüchtigt hatten. Zur Beobachtung kam sie zu Dr. Kluge. Es
zeigte sich, daß sie körperlich und geistig infantil geblieben war. Unter
guter Kost und Erziehung reifte sie schnell heran und zeigte sich bald
fast ganz normal. Trotzdem sie also bei der Tat stark minderwertig ge-
1) Verwaltungsbericht der Brandenburgischeu Provinzialanstalt für Epilep¬
tische etc. zu Potsdam für 1908 etc.
Archiv für Kriminalanthropoiogie. 34. Bd. 24
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wesen war, ward sie doch vom Berliner Jagendgerichtshofe zu 1 Jahr Ge¬
fängnis verurteilt, aber sie wurde weiter der Anstaltspflege überlassen. Dr.
Kluge wünscht mit Recht, daß für die geminderte Zurechnungsfähigkeit
auch eine besondere prinzipielle Berücksichtigung im Strafprozeß und Straf¬
vollzug verlangt werde, daß ferner defekte und abnorme Jugendliche früh¬
zeitig von Psychiatern untersucht und letztere bei der Erziehung und
Unterbringung gehört werden sollen. Sehr wichtig für die Besserung ist
aber insbesondere folgende Bemerkung Kluges: Es kommt darauf an, daß
die Zöglinge ihren eigenen Zustand mit dem der noch Kränkeren ver¬
gleichen und so allmählich sich zu korrigieren lernen. Bloßes Moralisieren
nützt nichts! „Diese eigene Kritik, diese selbstgewollte Schulung und Dis¬
ziplinierung aber ist der Angelpunkt, um den sich alle Bestrebungen, diese
„Unverbesserlichen“ in die Höhe und auf ruhige Bahnen zu bringen,
drehen müssen. Und es kann getrost gesagt werden, daß überall, wo diese
Einsicht von Selbstkorrektur sich hier nicht erreichen ließ . . . ., auch
jede Hoffnung aufgegeben war, diese Abnormen dem sozialen Leben wieder¬
geben zu können“. Diese Letzteren muß man dann einfach in der An¬
stalt weiterbehalten. — Ich meine, die Jugendgerichte haben allein schon
das Gute, daß sie viel mehr als sonst abnorme Jugendliche einer psy¬
chiatrischen Untersuchung und Beobachtung, und damit auch einer sachgemäßen
Unterbringung und Erziehung zuführen und damit das Heer der Verbrecher
und Geisteskranken vermindern helfen.
19 .
Neueres über Linkshändigkeit. Die Linkshändigkeit ist nicht
bloß physiologisch interessant, sondern auch praktisch im Leben, nicht am
wenigsten für den Juristen bei Fahndung auf Verbrecher und weil nach
Lombroso etc. unter Letzteren mehr Linkser sein sollen, als bei den Normalen.
Nun hat neuerdings Stier an 300 linkshändigen Soldaten sehr interessante
Untersuchungen angestellt. Stier ') hält die Linkshändigkeit nicht für eine
anatomische, sondern für eine psychomotorische Eigentümlichkeit. Um sie zu er¬
kennen, hält er am besten Versuche mit Peitschenknallen, Kartenmischen, Ein¬
fädeln und alle Handhabungen mit dem Messer, besonders das Brotschneiden.
Nur die Mehrzahl der Linkser — nicht alle! — haben im linken Arme
größere Kraft und größeren Umfang, ebenso sehr wie alle Rechtser im
rechten Arme. Die Linkser stammten mindestens zur Hälfte aus Familien,
wo Linkshändigkeit überhaupt häufig ist, und Männer sind doppelt so oft
davon betroffen wie Frauen. Wichtig ist, daß auch in der Ge¬
schicklichkeit das linke Bein das rechte meist übertrifft, was für
das funktionelle Überwiegen der rechten Hirnhälfte spricht. So werden
auch einige Anomalien der Schrift von Linksern erklärt. Häufig ist Stottern.
Es zeigte sich ferner, daß in der Armee die Linkser weniger brauchbare
und weniger gute Soldaten sind als die Rechtser, daß sie sehr selten Unter¬
offiziere oder Gefreite, mehr als sonst als dienstunbrauchbar entlassen und
gerichtlich bestraft werden, so daß in einem Festungsgefängnis nicht 4,6 o/ 0 ,
wie in der Truppe, sondern 14% Linkser sich fanden.
1) Stier: Erkennung und Bedeutung der Linkshändigkeit. Vortrag. Itef.
im Neurolog. Zentralblatt 1909, p. 613.
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Soweit Stier. Bei den Linksern überragt also funktionell die rechte
Hemisphärenhälfte und ist wahrscheinlich auch die schwerere, während es
sonst die linke ist. Aber weshalb? wird man fragen. Die neueste Hypo¬
these ist die, daß es mit der Geburtslage Zusammenhängen soll, und das
hat Vieles für sich. Andere wollen es mit der anomalen Lage der einen
Hauptschlagader begründen. Jedenfalls ist der Grund noch nicht sicher
und vielleicht gibt es deren sogar verschiedene. Hierbei sehe ich von falscher
Erziehung oder krankhaft bedingter Linkshändigkeit natürlich ab. Das Er¬
kennen geschieht auf verschiedene Weise. Man weiß, daß der Rechtser
beim Anziehen seiner Beinkleider zuerst mit dem rechten Beine in das
rechte Hosenbein fährt — bei den Frauen ist charakteristischerweise, wie
H. Ellis anführt, das Umgekehrte der Fall — der Linkser fährt dagegen
zuerst in das linke Hosenbein. Neulich habe ich bei unserm Dienstmädchen,
das Linkserin ist, eine merkwürdige Beobachtung gemacht, die ich sonst
nie erwähnt fand. Wenn es früh die geputzten Stiefel in den An-
kleideraum bringt, so geschieht es fast stets so, daß rechts der linke und
links der rechte Stiefel zu stehen kommt. Auch gibt es latente Fälle
von Linkshändigkeit, die bloß bei gewissen Hantierungen sich kund¬
geben. So erzählte mir kürzlich ein Kollege, daß ein früheres Haus¬
mädchen von ihm alles mit dem rechten Arme ausführte und nur, wenn
sie mit scharfen Messern zu tun hatte, den linken gebrauchte. Wir sahen
oben, wie oft vererblich die Linkshändigkeit ist. Freilich ist dann etwaiges
Nachahmen nicht auszuschließen! Nach Stiere Beobachtungeu scheinen die
Linkser nervöser, geistig minderwertiger zu sein als die Rechtser, was so
manches erklärt. Doch dies ist ein Punkt, der noch spezieller psychiatrischer
Nachuntersuchung bedarf.
20 .
Medianität, Linkshändigkeit und Homosexualität. Wieder¬
holt habe ich schon dargelegt, daß sich z. Z. noch nicht sicher sagen läßt,
ob die Homos nervöser, entarteter sind als die Heteros. Mir und ver¬
schiedenen andern schien es nicht der Fall zu sein. Hier könnten nur
genaue Untersuchungen und zahlenmäßige Belege an großem Material ent¬
scheiden. Kürzlich hat nun Stier in Berlin geschrieben, unter den Homos
seien, sagte man, mehr Linkshänder als sonst, und da nach ihm unter den
Linksern auch mehr Nervenstörungen herrechen, so würde das für eine
größere nervöse Anlage der Homos sprechen. Die Frage ist aber eben
nur die, ob wirklich unter ihnen mehr Linkser sind, was ich vorläufig nicht
glaube. Auch würde es für ihre größere Nervosität sprechen, wenn wirk¬
lich unter ihnen mehr Medien sein sollten, als sonst. So waren nach
Freimark ') die bekannten Medien Slade, Bastian, Eglington,
Bernhard, wahrscheinlich auch Home, homosexuell. Ist es schon schwer,
Sicheres über die Sexualität einer bestimmten Person zu erfahren, so ist
dies bei den Medien wahrscheinlich noch schwieriger, und da die meisten als
Betrüger oder sich selbst Betrügende erkannt sind, ihren Aussagen noch
weniger Vertrauen zu schenken. Daß Medien überhaupt, wenn es nicht
einfache Betrüger sind, meist Psychopathen und damit oft mit allerlei
1) Freimark: Okkultismus und Sexualität. Leipzig, 1909, p. 43.
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sexuellen Abnormitäten behaftet erscheinen, ist wohl a priori anzunehmen,
wofür schon der Umstand spricht, daß so viele Hysteriker darunter
sind. Damit ist aber noch lange nicht gesagt, daß auch mehr Homo¬
sexuelle darunter sein müßten.
21 .
Vom Alpdrücken. Jeder kennt das unangenehme Gefühl des Alp¬
drückens, das auf Atembehinderung beruht. Es sind schwere, unangenehme
Träume, aus denen man erschreckt und oft schweißbedeckt auf wacht. Das
klassische Vorbild ist das eines auf der Brust liegenden und erdrücken¬
den großen, haarigen Tieres, wie Wolf, Bär etc. Man hat diese Träume
experimentell erzeugt, indem man eine wollene. Decke nahe unter die Nasen¬
öffnung brachte. Dadurch trat Atembehinderung ein und der periphere
Beiz des Kitzelns seitens der wollenen Decke erzeugte die Idee eines großen
Tieres mit einem Pelze. Häufiger noch ist der Traum, daß man in einen
Abgrund stürzt oder, wenn man die Treppe hinabeilt, diese plötzlich ab¬
bricht, oder das Bett zusammenkracht etc. Der physiologische Vorgang ist
im ganzen stets derselbe. Das geistige Milieu spielt aber sicher auch eine
Bolle. Im Mittelalter traten gewiß oft Teufel etc. auf, die sich einem auf die
Brust warfen. So lese ich bei Frei mark ') folgendes: „Auch die Elben
und Alpe der deutschen Sagen sind Incubi und Succubi. Den vom Alp
Befallenen erscheint es zuweilen, als ob ein Mann oder ein Weib sie zum
Beischlafe auffordere, sie sehen sie ohne weiteres ihr Bett besteigen, um
irgend einen Streich auszuführen. Sinnliche Träume werden noch heute
vielfach als Alpminne bezeichnet. 6. So viel ich mich auch speziell mit der
Traumpsychologie beschäftigt habe, so ist mir bisher in unsern Zeiten ein
solcher Alptraum nicht bekannt geworden. Natürlich sind sinnliche, also
Beischlafs-Träume, sehr häufig, aber derart, daß der Koitus erzwungen
wurde und dabei Suffokationserscheinungen, also der echte Alpdruck, ent¬
stehen, davon hörte ich nichts. Wohl konnte einmal einer Frau der er¬
träumte Koitus schmerzhaft sein, aber das ist dann immer noch kein
Alpdrücken.
22 .
Das angeblich Ä hnlich-Werden zwischen den Gesichtern
von Eheleuten und zwischen denen im hypnotischen Rapport
Stehenden. Ich habe schon einmal darauf hingewiesen, daß die Behaup¬
tung, Eheleute würden, in Liebe verbunden, mit der Länge der Zeit im
Gesichte einander oft merkwürdig ähnlich, wohl zu den Fabeln gehört und
ich selbst kenne keinen sichern hierher gehörigen Fall. Daß gewisse
äußerliche Angewohnheiten, tics, gewisser Tonfall in der Stimme etc., der
Gang, das Sprechen, selbst die Art des Denkens etc. eine gewisse äußer¬
liche Ähnlichkeit erlangen können, gebe ich gern zu, und zwar nur auf
dem Wege der Suggestion und Nachahmung. Daß aber das Gesicht als
solches mit seinen Weich- und Knochenteilen auch ähnlich werden sollte,
ist physiologisch unmöglich. Ein langes Gesicht des einen Gatten wird
sich nicht dem kurzen des andern anbequemen usw. Nun soll aber Ähn¬
liches bei in hypnotischem Rapport Stehenden der Fall sein. Ich lese
1) Freimark : Okkultismus und Sexualität (Leipzig 1909), p. 344.
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hierbezüglich bei Freimark ’) folgendes: „Du Prel gedenkt in einem
Aufsatze über Die odische Individualität des Menschen einer
Somnambulen Kerners, deren weiches und dünnes Haar Rauhigkeit und
Dicke wie das Kerners erhielt, nachdem sie sich längere Zeit ihr Haar mit
Kerners Waschwasser gewaschen hatte. Donatos Somnambule Lu eile,
die er jahrelang in öffentlichen Vorstellungen magnetisierte, wurde ihm
schließlich so ähnlich, daß man beide für Geschwister hielt. Dem gleichen
Vorgang begegnet man bei ganz ineinander aufgehenden Eheleuten. Du
Prel sagt erklärend: „Bei jeder magnetischen Heilung überträgt der Magne¬
tiseur seine Lebenskraft, also seine eigentliche Essenz auf den Magnetisierten. “
In der Tat können wir uns in Ansehung der obigen durchaus nicht ver¬
einzelt dastehenden Vorkommnisse der Ansicht nicht verschließen, die eine
Übertragung auf einstweilen okkultem Wege annimmt.“ Nun, ich bin ab¬
solut nicht der Ansicht Freimarks. Man weiß, der gute Kerner war ein
Arzt, aber ein Romantiker und Phantast. Daß das weiche und dünne
Haar seiner Somnambule rauh und dicht ward, wie das seinige, ist wohl
nur ein Suggestions-, vielleicht Illusionsvorgang, da solches meines Wissens
bisher nie beobachtet wurde und nur einige Male nach Haarausfall das
neue anders auftrat, als das vorige. Und daß gar das Wunder durch
Waschen mit Kerners Waschwasser erfolgt sein sollte, ist doch ein mehr
als naiver Schluß. Auch die Ähnlichkeit zwischen Donato und der Lucile
kann nur, wie ich oben ausführte, auf gewissen Äußerlichkeiten beruhen, nie
und nimmer aber auf die Weichteile und das Gesichtsskelett sich beziehen.
Wenn Du Prel eine Übertragung der „Lebenskraft“ des Magnetiseurs
auf den Magnetisierten zur Erklärung jener Tatsachen anführt, so sind das
eben okkulte Ansichten, die heute wohl schwerlich ein Naturwissenschaftler,
resp. Arzt, unterschreiben wird. Mit solchen Schlagworten wie „Lebens¬
kraft“, „Essenz, Od tt etc. kann man eben nur Laien imponieren.
23.
Vergraben von Exkrementen und einiges andere Skato-
logische. Man weiß, daß im Aberglauben die Exkremente eine nicht
unwichtige Rolle spielen. Ich erinnere hier an den Gebrauch derselben
als Ingredienz zu verschiedenen Zauber- und Heilmitteln, ferner an
den wenig appetitlichen, aber interessanten grumus merdae, den beson¬
ders Hellwig kennen lehrte und wozu auch ich an dieser Stelle Beiträge
lieferte. Es gibt aber noch eine andere, bisher wohl fast unbekannt ge¬
bliebene Verwendung des Kotes, auf die ich bei der Lektüre von Frei¬
mark 1 2 ) stieß. Nach Livingstone suchen die ostafrikanischen Ondonga den
ihnen Verhaßten durch gewisse Zauberhandlungen unschädlich zu machen
und sprechen über einen jenem gehörigen Gegenstand die Verwünschung
aus. Damit ihnen das nun nicht selbst begegne, „vergräbt jeder sein Eigen¬
tum, der über Land geht und befürchtet, daß es zu Zauberzwecken mi߬
braucht wird. Auch die Exkremente werden nach der Entleerung aus dem
gleichen Grunde von ihnen sofort mit Sand bedeckt und verebnet.“ Hier
geschieht das Verscharren des Kotes also aus Aberglauben. Man wird liier-
1) Freimark: Okkultismus und Sexualität (Leipzig 1909), p. 51.
2) Freimark: Okkultismus und Sexualität (Leipzig 1909.*, p. 225.
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bei an das Verscharren desselben seitens der Katzen erinnert, das angeb¬
lich ursprünglich aus hygienischen Gründen geschehen sein soll, was mehr
als unwahrscheinlich ist. Die Naturvölker und unsere niederen Schichten,
die im Freien den Kot absetzen, geben sich nie die Mühe, denselben durch
Verscharren unkenntlich zu machen. Appetitlicher ist es dagegen, wenn
man von dritter Seite zur Üefäkation auf Aborten aus Gewinnsucht gerade¬
zu eingeladen wird. So geschieht es z. B. in China, wo der Dünger rar
und sehr geschätzt wird. Die findigen Leutchen bauen nun an den Wegen,
wo Reisende verkehren, Aborte zur Benutzung, um dann den Dünger zu
verwerten. Ähnliches sah ich auch in einem Tale Tvrols. Es ist ferner
merkwürdig, daß Kinder, die bekanntlich mit dem Akte des Urinierens und
mit dem Urine selbst allerlei Allotria treiben, das viel weniger mit dem
Kote tun. Er erscheint ihnen offenbar zu unappetitlich, da ihr Geruchs¬
organ oft sehr entwickelt ist.
24.
Onanie aus Aberglauben. Früher schon habe ich kurz darge¬
stellt, daß die Motive zu dieser häßlichen Handlung sehr verschieden sein
können, auch abergläubische. Freimark (I. c. S. 267) bemerkt bezüglich
Letzterer folgendes: „Will einer sich gegen jeden Zauber fest machen, so
muß er sich selbst befriedigen und sprechen: So wie ich mir selber zum
Genuß verhalf, so soll mir das Glück in der Welt umher zukommen und
niemals soll mir ein Frauenzimmer etwas antun können!“ Die Praktik ge¬
schieht also hier weniger zur Gewinnung des Samens, der ja zu so manchen
Zaubermitteln der Sexualmagie gebraucht, meist aber beim Beischlafe gewonnen
wird. Um sich Annehmlichkeiten zu verschaffen, bildet der Magyar nach
Freimark (1. c. S. 273) das sog. „Glücksei“. „Der Mann nimmt ein Ei,
macht eine Öffnung und läßt das Eiweiß behutsam herausfließen. Dann
träufelt er ins Ei durch die kleine Öffnung hindurch etwas von seinem
Sperma, worauf die Öffnung mit Gips oder Wachs verschlossen und das
Ei unter eine schwarze Bruthenne gelegt wird. Nach 21 Tagen wird das
Ei steinhart und alles, was man damit berührt, bringt dem Besitzer großen
Nutzen.“
2F).
Instinkt, Verstand und Nachahmung. Unter diesem Titel
habe ich an dieser Stelle, Bd. XX, 368, darauf hingewiesen, daß vieles,
was bei Tieren als reine Verstandesoperation erscheint, sicher nur Instinkt
ist. Leider geschehen hier immer noch Vermengungen beider Begriffe.
So las ich bei dem sonst so klaren und verständigen Stoll i ) folgendes:
„Auch die Murmeltiere werden nicht einfach von einer Kältestarre über¬
fallen, sondern bereiten sich längere Zeit durch Herrichtung einer beson¬
deren Winterhöhle auf den Winterschlaf vor, es ist also hier auch ein
psychisches, autosuggestiv wirkendes Moment tätig, die Erweckung der
Schlafidee im Gehirn der Tiere“. Das klingt sehr rührend, ist aber jeden¬
falls falsch! Die Idee, daß es schlafen müsse, liegt ihm sicher fern, wie
dem Vogel die des Nestbaus. Hier ist es sicher nur reiner, vererbter
1) Stoll: Suggestion und Hypnotismus in der Völkerpsychologie. Leipzig,
Veit, 1904, p. 89.
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Instinkt, welcher tätig ist. Schön allein der Umstand, daß wenn man das Murmel¬
tier warm hält, es niemals an den Winterschlaf denkt, spricht gegen eine
verstandesmäßige Operation. Daß der ganze Vorgang kompliziert ist und eine
Reihe anscheinend verstandesmäßiger Handlungen in sich schließt, verschlägt
nichts, und wir wissen, daß Instinkte sehr oft höchst kompliziert sind.
Vielleicht spielt auch die Nachahmung bei jungen Tieren eine Rolle, doch
ließe sich diese experimentell ausschließen. Dexler >), wohl z. Z. der
beste Kenner der Tierpsychologie, sagt mit Recht, daß „die überwiegende
Menge der tierischen Bewegungen . . . zweifellos nur auf vererbten In¬
stinkten, verbunden mit Akkomodationsvorgängen verschiedener Art basieren“.
Man kennt z. B. das Verscharren des Kotes seitens der Katzen. Darwin
hat, wenn ich nicht irre, behauptet, es geschähe aus hygienischen Gründen!
Sicher ist das falsch, aber weshalb diese offenbar verstandesgemäße Hand¬
lung eintritt, wissen wir nicht.
26.
Die Prostituierte im Irrenhaus. Iwan Bloch macht in seinem
Aufsatze: Jst die Prostitution ein notwendiges Übel? (die neue Generation,
1909, S. 224) die Bemerkung, „daß Prostituierte in Irrenanstalten das
leidenschaftliche Interesse der ehrbaren Insassinnen erregen und stets den
Mittelpunkt eines Kreises bilden, der sich sehr rasch um sie bildet und sie
hauptsächlich nach ihren sexuellen Erlebnissen ausfragt“, wie Psychiater
berichtet hätten. Nun, nach meinen Erfahrungon kann ich dies nicht be¬
stätigen. In Großstädten, namentlich Berlin, wo sich viel mehr Dirnen im
Irrenhause, als auf dem platten Lande, wie z. B. in Hubertusburg befinden,
mag es ja so sein, wenn auch gewiß selbst da nicht durchgängig. Sonst
ist es allgemein bekannt, daß in den meisten Landesanstalten Dirnen sehr
selten sind. Dies kann verschieden interpretiert werden. Entweder sie
sterben in jüngeren Jahren als andere und daher die geringere Zahl, oder
sie neigen weniger zu Psychosen, oder aber sie heiraten und ihre frühere
Vergangenheit ist dann unbekannt. So mag manche weibliche Irre
unsrer Anstalten früher Dirne oder Kellnerin etc. gewesen sein, was unbe¬
kannt blieb. Immerhin sind das auch bei uns gewiß nur wenig Fälle.
Wo das Dirnentum aber feststand, habe ich nie gehört, daß hier ein
Kristallisationspunkt der Gesellschaft sich gebildet hätte, auch las ich dies
noch nie. In Gefängnissen ist es gewiß anders. Ein weiteres interessantes
Moment ist, daß meist — so auch bei uns und ebenso in Gefängnissen etc. —
Erkrankungen ehemaliger Dirnen an Dementia paralytica sehr selten sind,
was Hübner zwar bestreitet, aber er stützt sich auf Berliner Material, welches
sicher nicht für die Allgemeinheit gilt. Eine Parallelerscheinung ist ja auch
die so seltene Paralyse bei Männern im Gefängnisse, trotzdem wohl die
meisten syphilitisch waren. Es scheint, als ob gewisse Entartete weniger
paralytisch würden und zeigt eben von neuem, daß außer der Lues noch
für die Entstehung der Krankheit ein anderes Moment wichtig ist, nämlich
eine bestimmte, uns freilich z. Z. noch unbekannte anatomische und
meist angeborene Gehirndisposition.
1) Dexler: Beiträge zur Psychologie der Ilaussäuger. Abd. a. d. Deutsch.
Tierärztl. Wochenschrift, 1908.
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27.
Platonische Prostituierte oder die „demi-vierges“ in
praxi. Ganz neuerdings hat man in Berlin eine merkwürdige Spezies der
Prostitution entdeckt. Iwan Bloch schreibt hierüber (Ist die Prostitution
ein notwendiges CbelV Die neue Generation, 1909, S. 179 und speziell
1S4): „Es gibt sogar eine Prostitution ohne Geschlechtsverkehr. Neuer¬
dings hat sich z. ß. in Berlin ein Gewerbe dieser Art gebildet, dem Mädchen
von meist jugendlichem Alter obliegen. Sie lauern an den Bahnhöfen
reichen Provinzialen auf, denen sie sich als Begleiterinnen und Führe¬
rinnen durch Berlins Vergnügungen anbieten, lassen sich von diesen frei¬
halten und beschenken, indem sie auf ihre geschlechtlichen Instinkte speku¬
lieren und geben ihnen dann meist am selben Tage noch den Laufpaß,
ohne sich jemals auf geschlechtliche Beziehungen einzulassen." Wahr¬
scheinlich hat dies Institut schon länger geblüht, aber man ist erst jetzt
darauf aufmerksam geworden, da es offenbar zum Glück nicht all¬
zu häufige Vorkommnisse sind, für die aber wohl jede Großstadt einen
günstigen Boden abgibt, trotzdem mir aus andern Weltstädten hierüber
nichts bekannt ist. Man begreift das Raffinierte dieser „platonischen“
Prostitution. Diese Mädchen genießen das Leben nach allen Richtungen,
haben ihre sexuelle Befriedigung, doch ohne sich sexuell einzulassen.
Es sind also echte „demi-vierges“, nur daß diese von Marcel Prövost ge¬
prägte klassische Bezeichnung vorwiegend höhere Stände zu betreffen
scheint, dort aber mehr niedere. Jene lassen sich mehr durch Abenteuer
alier Art, durch Lektüre, Theater, Variete, Freundinnen und Freunde
sexuell erregen, denken dabei aber weniger andere aufzuregen oder gar
dafür Entgelt zu nehmen. Bei den Berlinern dagegen handelt es sich vor¬
wiegend um sexuelle Erregung der Partner und zwar gegen Entgelt, wo¬
bei sie nebenher auch sexuell sich befriedigen, aber äußerlich als ehrbare
Mädchen und physische Jungfrauen gelten können. Vielleicht wirkt im ge¬
heimen auch ein sadistischer Zug. Es mag ihnen Freude machen, die
Begierde des Andern anzufachen und auf ihrer Höhe unbefriedigt zu lassen.
Es wäre interessant zu erfahren, ob es sich hier auch vorwiegend um
psychisch minderwertige Personen handelt, wie es nach Müller (Die
Psyche der Prostituierten. Neurol. Centralbl. 1908, S. 992) bei den ge¬
wöhnlichen Dirnen meist der Fall sein soll, was ich allerdings bestreite,
da ich hier die Verführung, die Not und das Milieu für die Hauptsachen
halte. Übrigens ist ein gewisser Grad von demi-vierge-Tum oft genug im
gewöhnlichen Brautstande vorhanden, wo lange allerlei sexuell anregende
Berührungen geschehen, man sich aber vor dem Letzten scheut. Freilich ge¬
schieht dies meist halb- oder gar unterbewußt und ist daher, wenn eine
gewisse Grenze nicht überschritten wird, kaum zu beanstanden.
28.
Eine charakterologisch wichtige Art von Lüge. Im33.Bd.
dieses Archivs hat uns Nerlich (S. I45ss) den hochinteressanten Fall der
Grete Beier ausführlich mitgeteilt. Sie hat nach ihm verschiedene erwor¬
bene moralisch-ethische Defekte aufgewiesen, sie hat „(S. 172) oberfläch¬
liche religiöse Anschauungen, vertritt laxe Auffassungen über das Wesen
der Gesetze und die Pflichten andern Menschen gegenüber und neigte ziir
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Lüge und zum Betrug. Diese letztgenannte Neigung ist eine so außer¬
ordentlich starke, daß man sich unbedingt die Frage vorlegen muß, ob
Grete Beier nicht etwa den sog. pathologischen Lügnern zuzurechnen ist.
Man muß jedoch diese Frage nach reiflicher Überlegung verneinen, weil
ihr Hang zur Lüge nicht angeboren ist. . . . Zweifellos ist also Gr. B.
moralisch minderwertig.“ Verf. meint also, daß die B. sehr zu Lüge und
Betrug neigt. Wenn wir nun ihre Geschichte durchnehmen, so sehen wir
nicht eine Spur an ihr von Lüge oder Betrug, bis zum Bekanntwerden
mit ihrem Verführer und Geliebten, den sie sicher bis zuletzt ethisch
weit überragt. Erst in der Abtreibungsgeschichte gebraucht sie
wohl die erste Lüge und nun verlangt diese konsequent in
ihrer Lage und im weiteren Verlaufe weitere Lügen und
Betrügereien aller Art. Wer A sagt, muß auch B sagen und dies
gilt auch hier. Solche Fälle sind aber in foro sehr häufig und es fragt
sich, ob wir es in diesen dann wirklich mit Lügnern zu tun haben.
Ich verneine es und rechne die Lügen dann den Notlügen
zu, die sicherlich den gewöhnlichen Lügen moralisch nicht
gleich stehen. Die Beier war also meiner Meinung nach keine eigent¬
liche Lügnerin und keine gewöhnliche Betrügerin. Jeder Verbrecher fast
lügt so lange, bis die Beweise ihn erdrücken, dann gibt er ,das Lügen
meist auf, wie auch die B. Deshalb wird der Richter aber nicht glauben,
der Betreffende sei im gewöhnlichen Leben ein Lügner gewesen.
Auch die Betrügereien der Gr. Beier sind eigentlich altruistische wie ihre
Lügen. Der Begründung der „oberflächlichen religiösen Anschauungen“
dadurch, daß die an Gott etc. Glaubende später durch Gespräche mit
ihrem Bräutigam ihren kindlichen Glauben aufgab, kann ich nicht bei¬
pflichten. Wenn jemand durch Nachdenken, Sichaussprechen etc. seinen
alten Glauben aufgibt, so ist er noch lange nicht „oberflächlich“ religiös, in
vielen Fällen wird er sogar mehr nach Wahrheit gestrebt haben als der
naiv Glaubende. Kurz man sieht, wie sehr vorsichtig man in der
Bewertung der moralischen Qualitäten eines Menschen sein,
wie man jeden Fall von allen Seiten betrachten muß!
Der obige interessante Gerichtsfall hatte, wie ich höre, in der Dresdener
psychiatrisch-forensischen Vereinigung Anlaß zu einer höchst anregenden Dis¬
kussion gegeben. Es ist sehr schade, daß diese, die verschiedene neue
Gesichtspunkte etc. ergab, nicht mit abgedruckt worden ist. Es sollte
übferhaupt jeder Vortrag mit der sich anschließenden Debatte veröffent¬
licht werden. Nur so gewinnt man einen weiteren Horizont. Ich hörte
von sehr kompetenter Stelle, die selbst die ganzen Akten der Beier
in Händen gehabt hat, daß doch hier wohl ein Fall von verminderter Zu¬
rechnungsfähigkeit vorliege. Für mich liegt der schwierige Kern in der
Psychologie der B. in folgendem. Ich kann es verstehen, daß sie aus
wahrer Liebe zu M. log, betrog allenfalls noch, daß sie schließlich auch so¬
gar ihren Bräutigam nach kurzem Schwanken tötete. Daß sie aber darnach
bis fast zuletzt absolut ruhig, heiter war — auch wo sie sich am wenig¬
sten beobachtet glaubte — und scheinbar nie, außer vor ihrem Ende, Ge¬
wissensbisse empfand, das verstehe ich nicht. Freilich war sie die Selbst¬
beherrschung selbst, aber daß diese einen so hohen Grad erreichen sollte,
um alle inneren Gefühle bis zuletzt zu maskieren, will mir nicht recht ein-
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leuchten. Mir erscheint die Sache so monströs, daß auch ich mich in
diesem Falle wahrscheinlich für verminderte Zurechnungsfähigkeit aus¬
gesprochen haben würde. Bis zum Eintritt der Pubertät ging noch alles
gut, dann kam die Geschichte mit dem Geliebten. Die Pubertätszeit selbst
wirkte vielleicht deletär mit ein, die libido war stark entwickelt und die
Moral konnte so allmählich tiefer sinken. Außerdem war doch wohl wahr¬
scheinlich ein einigermaßen vorbereiteter Boden da, weil die Mutter nervös,
beschränkt und moralisch sehr minderwertig war, der Vater vielleicht auch.
Grade der Fall Beier ist sehr instruktiv für den großen, hier wahrscheinlich
sogar Ausschlag gebenden Einfluß des Milieus.
29.
Die gemütliche Abstumpfung der Geisteskranken. Wer
lange mit Irren zu tun hatte, dem fällt es auf, wie bei den Meisten und
zwar schon sehr bald nach Anfang der Erkrankung die gemütliche
Seite gelitten hat, eher in der Regel sogar als die intellektuelle. Und da¬
bei lasse ich die Idioten, die Stuporösen, schwer Deliranten etc. noch ganz
beiseite und spreche nur von denen, die noch zugänglich sind, dem Laien
sogar oft als gesund erscheinen. Wiederholt machte ich darauf aufmerk¬
sam, daß Freundschaftsbündnisse und Revolten im Irrenhause große Selten¬
heiten sind. Keiner kümmert sich gewöhnlich um den andern. Es ist ihm
gleichgültig, ob einer aus seiner Stube versetzt wird oder ein neuer Insasse
eintritt, wenn er nur nicht in seinen Kreisen gestört wird. Dagegen hängt
er oft zäh wie Katzen am Lokale selbst und ist von einer Versetzung häufig
sehr unangenehm berührt. Ob sein Stubengenosse wegstirbt, ist ihm meist
gleich. Ihm hinter der Bahre zu folgen, fällt ihm nicht ein! Auch Un¬
glücksfälle anderer berühren ihn kaum. Natürlich gibt es auch hier Aus¬
nahmen. Eine hübsche Illustration für das geschilderte Verhalten der
Meisten gibt uns d’Almado, der nach einem Referat im Neur. Centralbl.
1909, S. 381 über seine Beobachtungen an Irren während des schrecklichen
Erdbebens in Messina berichtet. Darnach nahmen unter 105 chronischen
Irren im Irrenhause zu Catania nur 2 das 40 Sekunden andauernde Erd¬
beben wahr; die übrigen blieben alle ganz indifferent. Leider ist aus dem
Referate nicht zu ersehen 1. welcher Art die Kranken waren, 2. was
das „wahrnehmen“ bedeutet. Wahrscheinlich soll damit gesagt werden,
daß die Zwei dadurch affiziert wurden, die übrigen Kranken zwar auch das Erd¬
beben „wahrnahmen“, aber nicht darauf reagierten. Es ist klar, daß wenn
unter den Kranken sehr viele Idioten waren, die Sache nicht besonders auf¬
fallen würde. Sonst aber immerhin, da ein so langandauerndes Erdbeben
die meisten noch leidlich „vernünftigen“ Geisteskranken doch wohl er¬
schrecken würde, wenn auch sicher nicht so wie Geistesgesunde. Das¬
selbe wird wahrscheinlich auch beim Ausbruche eines Feuers stattfinden,
obgleich mir hier nähere Daten fehlen.
30.
Weiteres zur Graphologie. Zu derselben Zeit, als im 33. Bd.
’;2 H. mein Aufsatz: Graphologische Randglossen erschien, veröffentlichte
Frau Thumm-Kintzel in der von ihr mitredigierten, höchst interessanten und
dem Psychologen und Juristen sehr zu empfehlenden graphologischen Zeit-
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schrift: „Der Menschenkenner“ (Leipzig, Otto Wigand, jäbriih 12 H., 6 M.)
einen Artikel in Nr. 10 und 11, l'J09, über die Shakespeare-Bacon-Frage.
Wer sich für den unsterblichen Dichter wirklich interessiert, muß auch diese
bedeutsame Arbeit kennen. Ihr ist es gelungen — und ich glaube, sie
hat vollkommen recht — den Nachweis durch graphologische Schriftvergleichung
zu führen, daß 1. die 5 mehr oder weniger beglaubigten Shakespeare-
Unterschriften identisch mit der Handschrift von des Dichters Testament
sind, das man von einem andern geschrieben glaubte und 2., daß die
Handschrift Bacons davon toto coelo verschieden ist. Damit ist die berühmte
Shakespeare-Frage zugunsten des Dichters wohl entschieden. Insoweit
stimme ich der Verfasserin vollkommen bei, weniger aber bez. der Cha¬
rakterdeutungen. Man sehe die Blütenlese der Eigenschaften auf S. 241,
die sie herausliest, darunter auf S. 239. „Deutliche konkave Schriftlinien“:
„Brünetter Typus“. In meiner Arbeit skizzierte ich nur die mir unüber¬
windlich erscheinenden Schwierigkeiten bez. der graphologischen Deutungen.
Wenn bisher kein Psycholog eine absulut sichere Definition von Affekt,
Stimmung, Eigenschaften aller Art etc. geben kann, so wird es sicherlich
auch Frau Thumm nicht können, ebensowenig wie meine übrigen Bedenken
beseitigen. Der beste Beweis für das so sehr Subjektive der Graphologie
oder wie manche es jetzt lieber nennen: Graphonomie, ist, daß fast jeder
Grapholog sein eigenes System hat und es eventuell ändert. Manche
Graphologen verschließen sich auch nicht der Wahrheit. So hat Ravens¬
burg kürzlich ein Lehrbuch der wissenschaftl. Graphologie herausgegeben,
wo in Nr. 10 (S. 263) das „Menschenkenner“ besprochen wird. Verf.
hält es (nach dem Referat) für unwahrscheinlich, „daß konventionelle, abstrakte
Begriffe, wie Hochmut, Egoismus, Eitelkeit ihre sichtbaren Zeichen in der
Handschrift“ haben sollen. Damit hat er wohl sicher recht! Wie wir
sahen, will die Graphologie aber sogar auch auf anthropologisches Gebiet
übergreifen, also, wie wir oben sahen, z. B. aus der Handschrift den
„brünetten Typus“ herauslesen, vielleicht auch einmal die Dolichocephalie
und verschiedenes andere. Wer nun weiß, wie schwer schon der Begriff
„blond, brünett“ objektiv darzustellen ist, wird solche Übergriffe zurück¬
weisen müssen. Damit diskreditiert man nur die Graphologie, die gewiß
einen wahren Kern hat. Es scheint mir, daß ihr Gebiet mehr auf die Er¬
forschung des Einflusses des Gemütes, der Affekte, Stimmungen etc., cet. par.,
gerichtet sein sollte, als auf die der rein abstrakten und konventionellen
Begriffe, wie z. B. die der Eigenschaften, die z. T. rein in der Luft hängen.
Man muß nie zuviel verlangen wollen: jede Methode hat ihre Grenzen!
Ob es selbst solche äußerliche Dinge, wie Rhythmen und Metren des
Druckes und der Strichlänge in den Handschriften von Dichtern und
Musikern gibt, wie Frau Thumm-Kintzel (1. c. Nr. 10, S. 257)
angibt, erscheint mir zweifelhaft. Dichter, Künstler, Gelehrte, Irre haben
gewiß einige Charakteristika der Handschrift, aber nur sehr vage und in
concreto nur mit Vorsicht zu gebrauchende. Bez. der Irren habe ich
schon früher dargelegt, wie vorsichtig wir in der Beurteilung ihrer Hand¬
schriften sein müssen. Selbst echte Paranoiker brauchen gegen früher
absolut nichts Besonderes in ihrer Schrift aufweisen. Endlich will ich noch
speziell darauf aufmerksam machen, daß die Unterscheidungsmerkmale der
Graphologen bez. ein und derselben Handschrift, oft so subjektiver Natur
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sind, daß ein anderer recht gut einmal anderer Meinung sein kann. Sie
hantieren gern mit relativen Ausdrücken wie: hoch, niedrig, fein, stark etc.
Übrigens habe ich grade nach Niederschrift dieser Zeilen einen Brief
eines Kollegen erhalten, der warm für die Graphologie eintritt. Er schreibt
mir unter anderem, mit Bezug auf meine Arbeit: „. . . Mau weiß jetzt
längst, daß durchaus nicht irgend eine Eigenschaft ihr ganz bestimmtes
eigenes Zeichen in der Handschrift hat, sondern daß ein und dasselbe
Zeichen in verschiedenen Handschriften — und eventuell zu verschiedener
Zeit auch in ein und derselben Handschrift — in Verbindung mit den
übrigen Zeichen die allerverscliiedenste Deutung erhält. Grade das, was
Sie als Hauptunmöglichkeit gegen die Graphologie anführen, ist zu ihrer
sicheren Grundlage geworden, indem nämlich die „Eigenschaften“ von Gra¬
phologen aus ihren Wurzeln entwickelt werden. Die richtige Deutung einer
Handschrift ist aber — eben weil sie nicht, wie Sie meinen, auf ein¬
deutige einzelne Kriterien für bestimmte Eigenschaften sich stützen
kann — ungeheuer schwierig und ist, nach meiner Überzeugung, überhaupt
nicht für den nächst besten erlernbar. Aber es gibt graphologische Genies,
und ich kenne eins (Hans Busse in München), das tatsächlich mit, nach
meiner Erfahrung, unfehlbarer Sicherheit aus der Handschrift ein außer¬
ordentlich detailliertes Charakterbild des Schreibers entwirft . . ., es ist im
allgemeinen erwünscht und erforderlich, als Material für ein Urteil minde¬
stens 20 Zeilen, mit Tinte geschrieben, zu erhalten, wenn irgend möglich
2—3 solche Schriftproben und zwar ... völlig zwanglose, wie auch sorgfältige,
nicht eigens für den Graphologen geschrieben; außerdem sind Namens¬
unterschrift und einige Kuvertadressen erwünscht. Auch Mitteilung über
Geschlecht und Alter des Schreibers sind erwünscht.“
Der Ehrlichkeit und des Interesses halber teile ich Obiges mit. Das
Meiste davon war mir wohlbekannt, auch die Meisterschaft Busses. Es ist
sicher ein Fortschritt, daß es nicht ein bestimmtes Zeichen für eine be¬
stimmte Eigenschaft gibt, sondern eventuell mehrere, je nach den „Wurzeln“,
Motiven. Aber gerade auch hier sehe ich viel Subjektives. Jeder, der
sich streng prüft, wird sehr oft nicht sicher angeben können, weshalb er
dieses oder jenes getan hat, d. h. also, das Motiv oder die Motive — meist
sind es wohl immer mehrere — ist ihm ganz oder teilweis unbekannt ge¬
blieben. Und nun will es der Graphologe sicher sagen, bez. einer Reihe
gleicher oder ähnlicher Handlungen? Immerhin mag es sein, daß manche
förmlich intuitiv den Charakter durchschauen können, doch läßt sich diese
Intuition nicht oder kaum lehren und ist noch schwerer zu begreifen.
3t.
Einige Bemerkungen zum Aufsatz M. Thumm-Kintzel: „Zur
Verteidigung der Graphologie“ auf Seite 307. „Audiatur altera pars“
heißt es sehr richtig und dies gilt nicht am wenigsten für wissenschaftliche
Dinge! Daher habe ich der Ehrlichkeit halber eine Verteidigerin der Gra¬
phologie, die ich persönlich kenne und hochschätze und deren System mir
unter den mir bekannten das wissenschaftlichste zu sein scheint, zur Aus¬
sprache in dieser Zeitschrift Hm. Prof. Groß bestens empfohlen, zumal ihre
Ausführungen geistreich und anregend sind. Sie wird es mir aber wohl
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gestatten hier auf einiges, das sie anführt, kurz zuriiekzukommen, da ich
anderes in einer kleinen Mitteilung bringen werde.
Frau Thumm-Kintzel vermeidet anfangs den „Charakter“ und die
„Eigenschaften“ scharf psychologisch zu definieren, weil sie es ebensowenig
zu tun vermag, als bisher irgend ein Psycholog oder Ethiker. Sie sagt
nur später, daß die „Eigenschaften“ nicht eins, sondern mehrere Zeichen
besäßen, je nach den Wurzeln, denen sie entspringen. Wer abjr sagt ihr,
daß sie die Wurzeln oder ihre Kombinationen erschöpft hat? Ich führte
früher schon an, daß selbst der ehrlichste Selbstbeobachter die Motive seines
Handelns oft nicht oder nur ungenügend kennt, daß ferner dieselbe Eigen¬
schaft fortwährend bei ihm in ihren Entstehungsbedingungen schwanken
kann. Oft ist das Handeln nur Schein. Ich denke hierbei z. B. an den
häufigen Fall, daß jemand als geizig gilt, weil er sparsam ist. Überall
sind Übergänge ins Normale und Pathologische nnd das Schlimmste hierbei
ist, daß diese Grenze rein subjektiv ist! Jener Sparsame kann im Geheimen
wohltun, für Kunst, Wissenschaft etc. viel Geld ausgeben und doch spar¬
sam sein. Wie soll man ihn nennen? Nun wird Frau Thuram sagen, daß
hier neben dem Grundzeichen des Geizes resp. der Sparsamkeit noch die
des wohltätigen Sinnes und der Kunstfreude vorhanden sind. Dann wäre
es ein schwer lösliches Konglomerat von Qualitäten! Man stelle sich vor,
manche Eigenschaft hätte 10, 20 Wurzeln und wäre mit andern ver¬
bunden: wer soll garantieren, daß hier die Eigenschaft, die ja fortwährend
in ihren Wurzeln wechseln kann, rein herausgeschält sei? Das müßte ein
Genie ohne Gleichen sein, der solches vermöchte! Deshalb kann ich nicht
recht daran glauben und müßte im Falle des Zutreffens einer Charakteri¬
stik an einen reinen Zufall oder an eine schwer verständliche Intuition
glauben, die ja manche auch bez. der Physiognomik besitzen sollen, die
aber, wenn wirklich vorhanden, kaum erlernbar und daher — zum Glücke,
wie ich in meiner früheren Arbeit darlegte! — auch nur wenig nutzbringend
sein könnte.
Wenn Frau Thuram zum Beweise der Definierbarkeit der Eigen¬
schaften sich auf die Sprache beruft, so verkenne ich keineswegs deren
hohen psychologischen Wert. Aber man darf ihn nicht überschätzen und
der Psycholog von Beruf wird nur sehr bedingt seine Waffen dem
Sprach-Arsenale entnehmen, wie ja auch alle Sprüchwörter, trotz ihrer Be¬
deutung, mehr oder weniger hinken und darin den Bauernregeln
gleich sind.
Frau Thumm hebt weiter die charakteristische Handschrift der ver¬
schiedenen Geisteskranken hervor und das mag gewiß für manche anhaltende
und ausgeprägte Fälle gelten. Aber wie viele gibt es, die in allen
Farben schillern, Übergänge zeigen, die verschiedensten Zustandsformen
aufweisen und namentlich am Anfänge sicher keine oder kaum charakteristische
Schriftzüge haben? Ich sah mehr als einen Paralytiker, der, auch außer¬
halb der Remission, nicht die sog. paralytische Handschrift aufwies, wenig¬
stens längere Zeit hindurch. Wir treffen immer und immer wieder Fälle-
wo wir nicht sicher sind, ob es sich wirklich um Paralyse handelt
und wo wir dann als ultima ratio zur Serodiagnostik greifen,
nicht aber zur Schrift, die eventuell nichts Besonderes zeigt. Oder aber
wir haben einen paralyseähnlichen Fall, auch bez. der Schrift vor uns,
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und doch zeigt die mikroskopische Hirnuntersuchung, daß hier keine
typische, eigentliche Paralyse vorlag. Ich glaube auch nicht, daß
in jedem Falle von Größenideen bei Paranoia oder dem. para¬
noides sich für Größenvorstellungen charakteristische Zeichen vorfinden
werden u. s. f. Wie wichtig, auch prognostisch, wäre es, wenn wir sicher
durch die Schrift erführen, ob es sich um eine einmalige Melancholie resp.
Manie oder um den 1. Anfall eines manisch-depressiven Irrsinns oder um
einen solchen der dem. praecox handelte. Hier wird uns die Graphologie
wohl auch in concreto stets im Stiche lassen!
Das Unvollkommene der Methodik gibt schließlich Frau Thumm selbst
zu, indem sie sagt, daß jeder wissenschaftliche Graphologe sein System
ändert und vervollkommnet. Ich fürchte nur, daß diese aufsteigende Linie
eine das Ziel nie erreichende sein wird!
Damit aber Frau Thumm nicht glaubt, daß ich mich Tatsachen
gegenüber verschließe, werde ich einige Schriftproben an sie und an je¬
mand anders zur Beurteilung schicken und werde dann vielleicht später
einmal die Resultate nebst Corollarien meinerseits hier mitteilen.
Übrigens wäre es gewiß lehrreich, einen Fragebogen an bekannte
Fach-Psychologen abzusendeu und ihre Meinung bez. der psychologischen
Möglichkeit oder Unmöglichkeit einzuholen. Ich glaube bestimmt, die
meisten wenigstens würden sich meinem Verdikte anschließen. Genau so
meine ich, wie der Mathematiker die Unmöglichkeit der Quadratur des
Kreises oder der Physiker die des perpetuum mobile nachweisen kann,
müßte es dem Psychologen gelingen, die Möglichkeit oder Unmöglichkeit
der graphologischen Deutekunst (Graphonomie) nachzuweisen.
32.
Bedeutende Gedächtnisleistungen. In dem interessanten Ar¬
tikel von Dr. Hennig über die „Geisterschriften“ spiritistischer Medien in
der vorzüglichen graphologischen Zeitschrift „Der Menschenkenner“, 1909,
S. 244 ss. sind einige bemerkenswerte Fälle großer Gedächtniskraft mitge¬
teilt. Verf. stellt zunächst die Verwandtschaft des Traumzustandes mit
Hysterie dar und sicher dürften die meisten Medien, wenn nicht gemeine
Schwindlerinnen, Hysterische sein. Verf. sagt dann weiter (S. 248),
„Alle wunderbaren Schriftzeichen, die ihnen im Wachzustand je zu Gesicht
gekommen sind, werden im Trancezustand als „Geisterschrift in unbekannter
Sprache“ reproduziert und es ist dabei zuweilen erstaunlich, mit welcher
photographischen Treue das Unterbewußtsein die Erinnerung an fremdartige,
komplizierte Schriftzeichen zu bewahren vermag.“
So malte z. B. ein Medium, Helene Smith, die des Arabischen absolut
unkundig war, ein arabisches Sprüchwort im Trancezustand ziemlich getreu
nach, als angebliche „Geisterschrift“, wobei sich herausstellte, daß sie vor
Jahren einmal das Sprüchwort arabisch aufgeschrieben gesehen hatte.
Man denke, vor Jahren, ohne Kenntnis der schwierigen Schriftzeichen und
gewiß ohne damalige Absicht, es einmal später zu verwerten! Ein andermal
kopierte dasselbe Medium ziemlich getreu die Unterschriften zweier Männer,
die schon längst verstorben waren, deren Handschrift sie irgend einmal ge¬
sehen hatte. Sie gab vor, daß ihr Geist in sie gefahren sei und nun das
diktiert hätte. Gerade aus der nicht absoluten Ähnlichkeit der Schrift-
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Kleinere Mitteilungen.
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ziige würde ich entgegen des Yerf.’s Meinung glauben, daß hier ein Beweis
gegen den Spiritismus vorläge. Denn wenn ein wirklicher Geist die Hand
regiert, so müßte man doch wohl annehmen, daß er auch seine Handschrift
genau innehält. Übrigens passierte es demselben Medium doch, daß es die
Handschrift der Marie Antionette und des Cagliostro ganz falsch im Trance
wiedergab, was einen gegen einen wirklichen Trancezustand einnehmen
muß. Sie hatte wahrscheinlich die betreffenden Handschriften gar nicht
gesehen! Wir sehen jedenfalls, daß unter Umständen gewisse unbedeutende und
unbeachtete Gesichtseindrüoke jahrelang latent bleiben können, um gelegent¬
lich wieder emporzutauchen und das bezieht sich wahrscheinlich nicht bloß
auf Eindrücke des zentralen, sondern auch des „peripheren“ Sehens, Hörens
etc. Gerade diese peripheren, also nicht oder nur unklar zum Bewußtsein
gekommenen spielen z. B. im Traume eine große Bolle, vielleicht auch im
Alltagsleben und manche barocke, unerwartete Assoziationen mögen sich
darauf aufbauen. Noch mehr sind sie vielleicht im pathologischen Geistes¬
leben und im Fieberdelirium von Bedeutung. Bez. des „peripheren“
Hörens erinnere ich mich einer Geschichte, wonach eine ältere und unge¬
bildete Frau im Fieberdelirium oder somnambulen Zustande, wenn ich
nicht irre, lange lateinische oder griechische Sätze vorbrachte. Es ergab
sich, daß sie vor langen Jahren Pfarrers-Köchin gewesen war und ihren
Herrn öfters Latein oder Griechisch hatte laut lesen hören, was sich ihr, ohne
daß sie es beabsichtigte, teilweis von selbst einprägte. So erklärt sich
einfach manches Wunder von „in fremden Zungen Reden“ u. s. f.
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Besprechungen.
1.
Otto Groß: Über psvchopatische Minderwertigkeiten. Wien und Leipzig,
Braumüller, 1909. 122 S.
Bisher wurden die Minderwertigkeiten hauptsächlich klinisch dargestellt,
besonders vorzüglich durch Koch. Psychologisch sie zu verstehen, gab man sieh
nur wenig Mühe außer bei Birnbaum und was man hierüber in den gangbaren
Lehrbüchern findet, ist mit Ausnahme von Wernicke ziemlich oberflächlich. Verf.
versucht nun diese Lücke auszufüllen und der Versuch ist großartig ausgefallen.
Seit Wernicke dürfte wohl kaum eine so tief eindringende psychologische
Studie erschienen sein. Aufgebaut wird das Ganze auf Wernicke’s Sejunktions-
lehre, Antons Kompensationslehre, die Groß’sche Ideogenität und vor allem
auf die Freud'scheu Theorien. Es ist unmöglich den reichen Gehalt in
einem Referate wieder zu geben. Jeder sollte die ausgezeichnete Studie
lesen, freilich ist dies ein schweres Stück Arbeit und nicht für jeden geschaffen.
Außerdem geht Verf. wohl zu einseitig für Freud’sche Ideen ins Feuer.
Daß Ref. bez. einzelner Punkte nicht gleicher Meinung ist, wie Verf., ist bei
der Weite des Thema’s klar, s. z. B., wenn Verf. Genie oder Desequilibration
in engen Zusammenhang bringt. Dr. P. Näcke.
2 .
Stockis: Recherches sur le Diagnostic Mödico-Legel de la mort par
submereion. Annales de la Sociötd de m£d. lög. de Belgique 1909.
In dieser ganz ausgezeichneten und eingehenden, sich auf eigene Tier¬
experimente und Erfahrungen gründenden Arbeit, der ein großes Literatur¬
verzeichnis angehängt ist, untersucht Verf. genau alles, was mit dem
Ertrinkungstode zusammenhängt, namentlich, was die Diagnose einer solchen
bestätigen kann. Der Nachweis des Plankton in der Lungenflüssigkeit kann
nicht absolut sicher beweisen, ob dasselbe intra oder post mortem hinein¬
gelangte. Allein sicher als Reaktion während des Lebens ist nur der Nach¬
weis (durch Corvin und Stockis) von „kristallinischem Plankton“ d. h.
Eindringen von Mineralkristallen mit der Ertrinkungsflüssigkeit in die Herz¬
höhlen. Der Nachweis geschieht durch das Polarisations-Mikroskop. Negatives
Verhalten schließt allerdings nicht sicher diese Todesart aus.
Dr. P. Näcke.
3.
R. Sommer: Klinik für psychische und nervöse Krankheiten. IV. Bd. 1. 4.
Halle, Marhold, 1909; 3 M.
Bostroem gibt eine lange Abhandlung über die Benennung optischer
Eindrücke bei Geistesgesunden und Geisteskranken mit dem wenig er-
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Besprechungen.
371
mutigenden Resultate, daß die experimentelle Psychologie bei Irren bisher
noch wenig Brauchbares lieferte. Becker behandelt die Simulation von
Schwachsinn an der Hand eines Beispiels und zeigt die großen möglichen
Schwierigkeiten. Dr. P. Näcke.
4.
Aronsohn: I. Oswald Alving. Eine pathologische Studie zu Ibsens
„Gespenstern“. Halle, Marhold, 1909. 39 S. 1 M.
Verf. will einzelne patholog. Gestalten Ibsens psychiatrisch untersuchen,
hauptsächlich um den Darstellern eine richtige Direktive zu geben und dieser
Grund rechtfertigt wohl allein,. glaubt Ref., das Unternehmen. In feiner
Weise zeigt Verf., daß Oswald Alving an ererbter Paralyse litt und wie
dezent der Dichter die Krankheit schilderte. Dr. P. Näcke.
5.
Wilhelm: Die rechtliche Stellung der (körperlichen) Zwitter, de lege lata
und de lege ferenda. Halle, Marhold, 1909. 70 S. 1,50 M.
Hauptsächlich für Juristen von Bedeutung. Eigentliche Zwitter mit
getrennten Hoden und Eierstöcken gibt es beim Menschen nicht, also solche,
die beide geschlechtliche Funktionen in einer Person vereinigen. 5 Fälle
dagegen sind bekannt, wo Hoden- und Ovarialgewebe vereinigt waren.
Außerdem gibt es solche, bei denen weder Hoden noch Ovarien da sind,
neutrius generis, die aber, wie Ref. bemerken will, in vivo nie sicher
zu entdecken sind. Verf. untersucht nun eingehend das Verhältnis des
Zwitter zum Zivil- und Strafrecht und macht endlich ansprechende Vor¬
schläge. Bei erheblichen Mißbildungen der Genitalen sollte das Kind als
„zwitterhaft“ zunächst angemeldet, ihm aber das Recht eingeräumt werden,
nach erlangter Großjährigkeit die Wahl zu haben für das männliche
oder weibliche Geschlecht sich zu entscheiden und zwar nach Beibringung
eines ärztlichen, sachverständigen Gutachtens. Dr. P. Näcke.
6 .
Busch an: Menschenkunde. Ausgewählte Kapitel aus der Naturgeschichte
des Menschen 8.—10. Tausend: Stuttgart, Strecker. (Ohne Jahres¬
angabe) 266 S.
Verf. will in diesem gut und reich illustrierten Werke eine Anthropologie
geben, die wissenschaftlich und zugleich populär sein soll, wie es bisher
eine solche nicht gab. Und jeder wird zugeben müssen, daß er seine Auf¬
gabe glänzend löste, mit höchstem pädagogischem Geschicke und in
schöner Sprache. Er verfügt nicht nur selbst über eigene große Er¬
fahrungen, sondern beherrscht auch, wie kaum ein Zweiter, die riesige
Literatur. Heutzutage ist es nicht zuletzt für den Juristen nötig etwas vom
physischen Menschen, der mit dem psychischen so eng zusammengehört,
zu wissen, denn das Recht wurzelt doch in letzter Instanz in der organischen
Materie. So sei ihm denn dies schöne Buch wärmstens empfohlen. Nach
einem kurzen Überblick, nach einem solchen über Darwins Lehre, über
Befruchtung und Vererbung folgen die anthropologischen Untersuchungs¬
methoden. Im speziellen wurde dann die äußere Form des Menschen mit
Archiv für Kriminalanthropologie. 34. Bd. 25
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Besprechungen.
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den Wachstumsgesetzen etc., die beiden Geschlechter und endlich die spezielle
Anthropologie der einzelnen Körperteile, die des Geschlechtslebens, der
Entstehung der Geschlechter, die Kastration etc. abgehandelt, alles nach
dem neuesten wissenschaftlichen Standpunkt. Daß bei einem so riesigen
Materiale der Kritiker in einzelnem nicht immer gleicher Meinung ist wie
der Verfasser, der sich mit Recht nicht scheut, seine eigene Ansicht zu
entwickeln, ist selbstverständlich, tut aber dem Ganzen keinen Abtrag. So
ist z. B., um nur Eines herauszuheben, Verfassers Ansicht über Homosexualität
sicher keine richtige. Dr. P. Näcke.
7.
Havelock Ellis, Mann und Weib. 2. deutsche Aufl., nach der 4. eng¬
lischen. Herausgegeben von Kurelia, Würzburg, Kabitzsch 1909.
556 S. 6 M. 2., Das Geschlechtsgefühl, deutsche Ausgabe. 2. ver¬
mehrte und verbesserte Aufl., übersetzt von Kurella, Würzburg,
Kabitzsch, 1909, 390 S. 4 M.
Beide Werke, wahre Standard works, sind schon früher an dieser
Stelle eingehend besprochen worden. Es ist erfreulich, daß sie eine 2. deutsche
Auflage erleben durften, die sie wohl verdienen. Das 1. größere Werk
ist z. T. ziemlich verändert, neues zugefügt, anderes weggelassen worden,
und der Herausgeber hat selbst Noten angehängt. Trotz neuer Tatsachen
hat Verf. auch noch keine fundamentalen Merkmale von Mann und Weib
unterscheiden können und er hütet sich wohl, vom „physiologischen“ Schwach¬
sinn der Weiber zu reden, ist vielmehr in der Frauenfrage sehr liberal und
verlangt statt Diskussion große Versuche anzustellen, zu welchen Be¬
rufen sich Männer mehr eignen, als Frauen. Er hält es für unnötig,
„übereifrig vor einer Versündigung gegen die Natur zu warnen“. Gegen
manche Punkte könnte man wohl Einwendungen machen. Das Ganze ist jeden¬
falls ruhiger und kritischer geschrieben als das bekannte Buch von Lombroso
über das Weib oder die Broschüre von Moebius über den physiologischen
Schwachsinn des Weibes. Das 2. Werk, durch neues Material stark ver¬
mehrt, ist für die normale und pathologische Sexualität höchst wichtig, nicht
weniger durch verschiedene Appeudices. Prof. Dr. P. Näcke.
8 .
Sommer: Klinik für psychische und nervöse Krankheiten. IV. Bd. 2. H. Halle,
Marhold, 3 M.
Becker erzählt zunächst einen interessanten Fall von simuliertem
Schwachsinn. Er zeigt, wie wichtig in solchen Fällen das wörtliche Steno¬
gramm im Protokolle ist. Konsequent läßt sich Schwachsinn zwar simulieren,
doch decken ihn namentlich psychophysische Reaktionsmethoden bald auf,
ebenso Fragen nach dem „Lebenswissen“. Knauer macht an der Hand
einer Geschwulst und eines Abszesses des linken Schläfenlappens scharf¬
sinnige Untersuchungen über die Wortstörungen und entwickelt eine
Theorie zu ihrem Verständnisse. Hier interessiert uns besonders die Notiz,
daß unser willkürliches Handeln, wie Lesen, Schreiben und Erkennen un¬
gewöhnlicher Objekte sehr von der „inneren“ Sprache abhängt.
Prof. Dr. P. Näcke.
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Besprechungen.
373
9.
W. Camerer: Philosophie und Naturwissenschaft. 2. Aufl. Stuttgart,
Frankh. 158 S. 2 M.
In überaus klarer und fesselnder Weise schildert Verf., ein Arzt, erst
die Geschichte der Philosophie, soweit sie für den Naturforscher von Belang
ist, sodann das Seelenleben im Lichte der heutigen Naturwissenschaft, wobei
er sich zum Wundt’schen Parallelismus zu entscheiden scheint, endlich entwickelt
er die Begriffe: Kraft, Stoff, Atom etc. in der neuesten Beleuchtung
u. z. Z. mit originalen Ideen. Da er so gut wie keine Voraussetzungen
macht, ist sein kleines Werk jedem gebildeten Laien verständlich und
bestens zu empfehlen. Prof. Dr. P. Näcke.
10 .
Odebrecht: Kleines philosophisches Wörterbuch. Berlin-Schöneberg, „Hilfe“,
83 S., 1,50 M.
Auch ohne sich speziell mit Philosophie zu beschäftigen, stößt man
doch fortwährend auf mehr oder minder der Philosophie entnommene ter-
mini technici. Es gibt nun hierfür zwar mehrere größere Wörterbücher, die
aber dem flüchtigen Leser schon zu viel Mühe und Zeitverlust bereiten.
Da füllt obiges kleine Büchlein eine erhebliche Lücke aus.
Prof. Dr. P. Näcke.
11 .
Becher: Der Darwinismus und die soziale Ethik. Leipzig, Barth, 67 S. 2M.
Auch eine Gabe zum 100. Geburtstage Darwins. Es ist bewunderungs¬
wert, wie hier ein Philosoph tief in die Naturwissenschaften sich versenkt
und ein überzeugter Sozialethiker neuester Richtung wird, indem er zeigt,
daß Darwins Lehre nicht, wie oft behauptet wurde, zu rücksichtslosem
Egoismus führt, sondern das Verantwortlichkeitsgefühl in der Gatten wähl
im Hinblick auf eine gesunde Nachkommenschaft heben muß. Er zeigt mit
Recht, daß die natürliche Zuchtwahl allein bitter wenig leistet. Das Ganze
ist so klar, flüssig und überzeugend geschrieben, daß es ein wahrer Genuß
ist, es zu lesen. Prof. Dr. P. Näcke.
12 .
Joos: De „kuische Priesterschaar“ in de negentiende eeuw. Amsterdam,
Buys, 1906.
Sammlung einer langen Liste von unkeuschen resp. kriminellen
katholischen Priestern, um von neuem das Unsinnige des Zölibats dar¬
zulegen. Dr. P. Näcke.
13 .
Platen: Het „Hofschandaal“ te Berlijn. s’Gravenhage, Overvoorde.
Im Anschluß an die letzten Berliner Skandalprozesse bringt Verf. die
vielen Namen aus hohen und höchsten Kreisen, welche in jüngster Zeit in
Deutschland speziell mit der Homosexualität in Verbindung gebracht wurden,
vor, um das Unsinnige des § 175 klarzulegen. Dr. P. Näcke.
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Besprechungen.
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14.
Freimark: Okkultismus und Sexualität. Leipzig, Leipziger Verlag (1909),
431 S.
In klarer Sprache und mit großem Geschick hat es Verf. verstanden
sein schwieriges Thema zu behandeln. Nach einer Einleitung bespricht er
die Sexualität der Priester, Zauberer und verwandter Charaktere, den Ge¬
schlechtskult, die Sexualraystik und -magie, das Hexenwesen, das Inkubat
und Sukkubat, endlich die sexuell-okkulten Volksgebräuche. Trotzdem
über die mysthisch-sexuellen Gebräuche schon viel geschrieben ward, ist
diese geschickte Zusammenstellung nicht überflüssig, da sie manches
Neue enthält und interessante Gedanken anregt. Nur eine böse Achilles¬
ferse hat das Ganze: unter Okkultismus wird hier nicht bloß an ein Her¬
einziehen einer höhern Macht in das menschliche Getriebe gedacht, sondern
das Wort vor allem im medianistischen, spiritistischen Sinne gefaßt und
die ganze, für die Kulturgeschichte ziemlich überflüssige lange Einleitung gilt
ihrer Verherrlichung. Nun sind aber die meisten Medien als Betrügerinnen
oder Selbstbetrogene erkannt. Männer wie Zöllner, Fechner, Crookes waren
ihre Opfer, von Leuten ä la Lombroso gar nicht zu reden. Wäre Verf.
Naturwissenschafter, speziell Mediziner, so würde er sicher über den Okkul¬
tismus anders denken. Dr. P. Näcke.
15 .
Stockis: 1., Quelques recherches de police scientifique. Annales de la Soc.
de Möd. lög. de Belgique 1908.
2., La dömonstration ä l’audience de l’identitö de 2 empreintes
digitales. Ibidem.
In Nr. 1 bespricht Verf. zuerst die Photographie am Tatorte. Die metrische
Phot, nach Bertillon ist hier am besten. Die autochrome Wiedergabe ist für
Wunden wichtig. Unter Umständen ist die ,,Wiederbelebung“ des Gesichts
Toter nach Minovici nützlich. Die Hautleisten der Handballen sind noch
wenig studiert und doch sehr wichtig. Verfasser untersucht sie. Der
Daumenballen hat meist nur parallele Leisten, der Kleinfingerballen zeigt
noch mehr Varietäten. Wichtig ferner sind die Spuren von Stoffen,
Strümpfen etc. Man kann das Gewebe, die Faser, die Zeichnung etc.
erkennen. Durch dünne Kautschukhandschuhe erkennt man noch daktylos¬
kopisch die Fingerleisten, auch auf Glas, nicht aber mit Lederhandschuhen.
Verf. sah noch nie, daß Verbrecher sich der Handschuhe bedienten, um
keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Um Zahneindrücke z. B. in einem
Apfel abzuformen, empfiehlt Verf. ein Gemisch von Walrat, hartem Paraffin,
Talk und Eosin, desgl. für Fußabdrücke und Wunden. Um die Zähne
abzudrücken, ist Modellierwachs am besten. Fußabdrücke (oft durch die
Zeugen verwischt) kann man auf einer darübergelegten Glasplatte mit Fett¬
stift umzeichnen und damit findet man dann weitere Fußspuren. Bei
Schriftdokumenten ist die Photographie sehr gut, speziell die mikrographische.
Scharlachrot bringt sehr gut die Speichelschrift zum Vorschein.
In Nr. 2 identifizierte Verf. 2 Verbrecher nach den Abdrücken der
Handballen. Wichtig sind diese, wenn die Finger fehlen oder unvollkom¬
men sind. Hier bespricht Verf. alle vorkommenden Schwierigkeiten. Zur
Demonstrierung vergrößere man die Bilder, aber nur 4—5 mal; oft ist es
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gut, 2 durchsichtige aufeinander zu legen, um zu sehen, ob sie miteinander
stimmen, noch besser aber sie mit dem Stereoskop zu betrachten. So läßt
sich das Ganze auch vor Gericht am besten demonstrieren.
Dr. P. Näcke.
16 .
Abels: Alte und moderne Einbrecher. Aus dem „Bayrischen Kurier“ vom
30., 31. März und 1. April 1909. Separatabdruck.
Nach Verf., der die Gaunerwelt und ihre Tricks sehr genau kennt,
teilen sich die modernen Gauner scharf in „Aristokraten“ und „Plebejer“,
Erstere sind meist Ausländer und oft hochgebildet. Es gibt Gesellschaften
von Taschendieben, Hochstaplern und sogar förmliche Einbruchs-Aktien¬
gesellschaften mit Statuten, Direktoren, Advokaten, Agenten etc. Es gibt
jetzt deren 3 und zwar die amerikanisch-englische mit dem Sitz in London,
die französisch-italienische in Paris und die orientalische in Konstantinopel
und Kairo. Für uns ist am gefährlichsten die 1. Gruppe, die der „Konti¬
nentalbande“. Die Einbrecher sind durchweg Techniker und Ingenieure mit
elegantem Auftreten. Sie arbeiten rasch und nehmen bloß das Wertvollste.
Nichts war bisher sicher vor ihnen. Sie schmelzen Löcher in die Tresors mit
dem elektrischen Strome, mit dem Fouchebrenner, wandten flüssige Sprengstoffe
au, nicht aber Thermit. Dagegen schützt man sich durch fast nahtlose
Schränke, Entwickelung von giftigen Gasen beim Einbruch, durch elektrische
Alarmapparate, durch das sogenannte Bajonettsystem und Sperrvorrichtungen,
alles Mittel, die zurzeit das Aufbrechen von ganz modernen Panzerschränken
so gut wie unmöglich machen. _ Dr. P. Näcke.
17.
Hans Fuchs: Eros zwischen euch und uns. Berlin, Eckstein. 261 S.
Wer der irrigen Ansicht ist, daß die Homosexualität sich nicht als
tragischer Stoff zu Romanen oder Dramen verarbeiten ließe, dem sei das
obige feinsinnige, gedankenvolle und schön geschriebene Buch bestens zur
Lektüre empfohlen. Der Leser wird die volle Tragik eines Homosexuellen,
sein Alleinsein im Leben, seine Sehnsucht nach Freundschaft und Licht
und seine schweren Konflikte mit der anders gearteten Menschheit, die ihn
nicht versteht, begreifen. Er wird Mitleid fühlen mit dem Helden und
allen, die ihm gleich geartet'sind. Er wird sich freuen, daß er nicht zu
jenen Unglücklichen gehört, er wird sich aber auch über das vorliegende
Kunstwerk freuen. Dr. P. Näcke.
18.
Darwin, seine Bedeutung im Ringen um Weltanschauung und Lebens¬
wert. 6 Aufsätze. Berlin, 1909. Verlag der „Hilfe“. 123 S. IM.
Ein köstliches Buch zum Andenken an den 100. Geburtstag Darwins!
Bö Ische behandelt: Darwins Vorgänger; Apel: Darwinismus und Philo¬
sophie; Wille: Wie die Natur zweckmäßig bildet; E. David: Darwinis¬
mus und soziale Entwickelung; Penzig: Darwinismus und Ethik, und
Fr. Naumann: Religion und Darwinismus. Fast alle sind aus Vorträgen
an der „Freien Hochschule Berlins“ entstanden und aus allen kann man
viel lernen, wenn man vielleicht auch im einzelnen hie und da nicht beistimmt.
Der erste und der letzte Aufsatz erscheinen dem Ref. als die gelungensten und
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namentlich der Essay von Fr. Naumann ist geradezu klassisch zu nennen
und sehr gedankenvoll. Dr. P. Näcke.
19 .
Ab.els: Hoteldiebe. Feuilleton der Münchener Neuesten Nachrichten
vom 8. Mai 1909.
Unter diesem Titel hat Verf. interessante Daten gebracht, die hier
kurze Erwähnung finden mögen. Hoteldiebe haben an Zahl sehr zuge¬
nommen, ebenso die Eisenbahndiebe. Sie „arbeiten“ meist einzeln und be¬
sonders im Winter und Hochsommer, wenn alles reist. Sie sind elegant
gekleidet, sprachgewandt, verkehren nur in ersten Hotels, Luxuszügen etc.
und sind vielfach feine Gesellschafter. Selten brechen sie in Zimmer ein oder
betäuben gai ihre Opfer. Nachts geht der Dieb auf Gummischuhen, in
schwarzem oder grauem Trikot mit schwarzer Maske, öffnet Schloß und
Riegel und rafft schnell alles Wertvolle zusammen. Selten, wie gesagt,
finden Chloroformbetäubungen statt, die am Schlafenden schwer
durchführbar sind. Die meisten derartigen Attentate sind hy¬
sterische Erfindungen! Am meisten wird das „Zufallsgeschäft“ ge¬
pflogen, wie es namentlich der berüchtigte Manolescu ausführte. Eine besondere
Sorte der Hoteldiebe sind die Juwelenräuber und die, welche in den Tresors
der Hotels einbrechen. Die Juwelenbande verfolgt ihr Opfer oft monate¬
lang, bis ihr der Coup gelingt. Eine solche gefährliche Bande waren die
„Rivieradiebe“ Leutner, Hornschuh und Genossen. Noch gefährlicher als die
Hoteldiebe sind aber die Diebinnen, weil sie erfolgreicher sind.
Dr. P. Näcke.
20 .
Ettinger: Das Verbrecherproblem etc. Bern, 1909. Erster Teil. 218 S.
Verf. — offenbar ein Jurist und ausgeprägter Sozialist — bespricht
tiefgründig, in schöner Sprache, bei scharfer Kritik und großer Belesenheit
die kriminal-biologische Schule bez. des Verbrechens, analysiert sehr fein
und richtig namentlich die Lehren Lombrosos, die er sämtlich glänzend
ad absurdum führt und von ihnen nichts, rein gar nichts übrig läßt- Auch
Ferri wird genau studiert, der aber schon zu des Verf.’s eigener Ansicht?
daß der Urquell des Verbrechens in der Gesellschaft liege, den Übergang
bildet, eine Ansicht, die sicher einseitig erscheint. Das Ganze ist glänzend
geschrieben und jedem angelegentlichst zu empfehlen.
Dr. P. Näcke.
21 .
Dr. H. Brunswig: Explosivstoffe. Mit 45 Fig. i. T. u. 56 Tafeln.
177 Seiten. Preis geh. 8.— Verlag Johann Ambrosius Barth,
Leipzig, 1909.
Die nach physikalisch-chemischen Gesichtspunkten übersichtlich geord¬
nete, ungemein klar geschriebene Abhandlung enthält eine umfassende Zu¬
sammenstellung der wichtigsten Fachliteratur. Im ganzen genommen, ist
das ungeheuere, kritisch gesichtete Material entsprechend seiner Wichtigkeit
mehr oder minder eingehend, aber immer mit aller Sachkenntnis durchge-
arbeitet. Besondere Sorgfalt legte Verfasser auf den theoretischen Teil,
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der ganz hervorragend durchgeführt ist, worunter der allen Anforderungen
wohl genügende praktisch» Teil immerhin etwas gelitten hat. Eine Inhalts¬
übersicht und ein ganz ausgezeichnetes Namen- und Sachregister gestatten
momentanes Nachschlagen. Als wertvolles Orientierungsmittel
verdient die gediegene, leider das Geschichtliche nur streifende Publikation
alle Anerkennung. A. Abels-München.
22 .
Dr. E. Kedesdy: Die Sprengstoffe. Darstellung und Untersuchung
der Sprengstoffe und Schießpulver. Mit 81 Abbildungen im Text.
283 Seiten. Preis Mk. 4,20. Verlag Dr. Max Jänecke, Han¬
nover, 1909.
Fast aus jeder Zeile der Hauptkapitel:
Nitrozellulose — Nitroglyzerin — Dynamit
spricht der auf wissenschaftlicher Höhe stehende, in der Praxis geschulte
Fachmann, der eine ihm durchaus vertraute Materie mit aller Sachkenntnis,
Sorgfalt und Liebe bearbeitete.
Dies kann man von den Abschnitten:
Schießpulver — Pikrinsäure — Ammonsalpetersprengstoffe —
Rauchloses Pulver — Knallquecksilber
im allgemeinen nun leider nicht behaupten. Wenn auch durchschnittlich
sachgemäß besprochen, weisen doch diese Kapitel Lücken, besonders Un¬
deutlichkeiten in Anordnung und Inhalt des Stoffes auf. Sehr knapp z. B.
sind die Chloratsprengstoffe bedacht; bei den Sprengkapseln S. 224 ist die
wichtige elektrische Zündung mit 2 Zeilen abgetan. Neben mehreren nicht
einwandfrei gewählten Zusammenstellungen, Überschriften, — so hätte der
Titel des Buches wohl richtiger „Explosionsstoffe“ gelautet — wäre das
mangelhafte Inhaltsverzeichnis zu beanstanden. Das „Laboratorium“ ent¬
hält manch wertvollen Wink; die sich ihm anschließenden „Sicherheitsvor-
schriften und Gesetze“ bilden den Schluß.
Gegen die Vorzüge der drei genannten Teile fallen die Flüchtigkeiten
der übrigen weniger in die Wagschale. Ich möchte daher die mit instruk¬
tiven Abbildungen, nicht aber mit Literaturangaben versehene, im ganzen
wertvolle Publikation angelegentlichst empfehlen.
A. Abels-München.
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Preisaufgabe
der Juristischen Gesellschaft in Berlin.
Die Juristische Gesellschaft hat in der Sitzung vom 19. Mai 1909
nachstehende Preisaufgabe ausgeschrieben:
Der strafrechtliche Schutz jugendlicher Personen.
Auf Grand einer eingehenden rechtsvergleichenden Dar¬
stellung sind Vorschläge für die Gesetzgebung zu machen.
Die Bedingungen sind folgende:
I. Die Ablieferung der Arbeit, in deutscher Sprache abgefaßt, erfolgt
bis einschließlich den 1. Juli 1910 bei dem Schriftführer der Juristischen
Gesellschaft Justizrat Dr. Seligsohn zu Berlin NW, Prinz-Louis-
Ferdinand-Straße 1.
Der Name des Verfassers ist in verschlossenem Umschlag beizufügen
und auf den Umschlag ist das Motto der Arbeit zu setzen.
II. Zur Ausübung des Amtes als Preisrichter werden fünf Mitglieder
der Juristischen Gesellschaft, von denen zwei der juristischen Fakultät
hiesiger Universität angehören müssen, in der Sitzung vom Juni 1910 ge¬
wählt. Die Preisrichter beschließen nach Stimmenmehrheit.
III. Die Verkündigung des Beschlusses der Preisrichter und des Ver¬
fassers der gekrönten Preisschrift erfolgt in der Sitzung vom April 1911.
IV. Der Ehrenpreis für die gekrönte Preisschrift beträgt zwei¬
tausend Mark.
Die Einhändigung des Preises aus der Kasse der Juristischen Gesell¬
schaft erfolgt, nachdem der Verfasser ein gedrucktes Exemplar der Arbeit
bei der Gesellschaft eingereicht hat. Erklärt jedoch der Verfasser vor Rück¬
gabe des Manuskriptes, daß er das Verlagsrecht an der Arbeit der Juristischen
Gesellschaft überlasse, so erfolgt unmittelbar nach Abgabe dieser Erklärung
die Einhändigung des Preises an denselben.
Berlin, den 19. Mai 1909.
Der Vorstand der Juristischen Gesellschaft.
Dr. 0. Gierke.
Druck von J. B. Hirschfeld in Leipzig.
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