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ARCHIV
FÜE
KRIMINAL - ANTHROPOLOGIE
UND
KRIMINALISTIK
MIT EINER ANZAHL VON FACHMÄNNERN
HERAUSGEGEBEN
VON
Prof. Dr. HANS GROSS
SIEBEIUIDDBEISSIG-STEE BAU).
LEIPZIG
VERLAG VON F. C. W. VOGEL
1910.
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Inhalt des siebenunddreissigsten Bandes.
Erstes und zweites Heft
ausgegeben 9. Juni 1910.
Origin al-Arb eiten.
I. Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II. Von Kurt Boas ... 1
II. Über die Entzifferung von Schriftzeichen auf verkohlten und ver¬
brannten Papieren. Von Nie. Teclu.115
III. Einiges über Hoteldiebe (rats düiotel). Von Professor Dr. R. A. Reiss 122
IV. Über Werkzeugspuren und ihre Konservierung. Von Dr. jur. Erich
Anuschat.182
V. Der österreichische Strafgesetzentwurf. Von Alfred Amschi. . 139
VI. Über Kleiderfetischismus, anknüpfend an einen seltenen Fall von
Unterrocks-Fetischismus. Von Medizinalrat Prof. Dr. P. Näcke . 160
In Vertretung. Von Hans Groß.176
Kleinere Mitteilungen.
a. Von Prof. Dr. P. Näcke.
1. Merkwürdiges Motiv zum Kindesmord.179
2. Ist der menschliche Foetus ein Mensch?.179
3. Schwere sadistische Verbrechen. 180
4. Der Handteller als eratogene Zone.180
5. Vorsicht vor dem post hoc ergo propter hoc!.181
6. Ärztliche Zwangsuntersuchungen.182
7. Homosexualität und Psychose.183
8. Merkwürdige Folgen des Erdbebens.184
9. Merkwürdiges Zeugnis für den engen Zusammenhang von Grau¬
samkeit und Wollust.184
b. Von Hans Groß.
10. Mißbrauch von Visitkarten. 185
11. Eine neue Masse zum Abformen.186
12. „Kleine Mitteilung“ zu „La mort douce“.187
Bücherbesprechungen.
Von Prof. Dr. P. Näcke.
1. Roth u. Gerlach. Der Banklehrling Karl Brunke aus Braun¬
schweig .187
2. A. Pick: Initialerscheinungen der zerebralen Arterioskle¬
rose usw. 187
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IV
Inhaltsverzeichnis.
Seite
3. Metschnikof: Studien über die Natur des Menschen, eine
optimistische Philosophie.. . 187
4. Windscheid: Die Diagnose und Therapie des Kopfschmerzes 190
5* Binet-Sangle: La folie de Jesus.190
6. H. Stadelmann: Ärztlich-pädagogische Vorschule auf Grund¬
lage einer biologischen Psychologie.190
7. Neutra: Briefe an nervöse Frauen.191
8. Bing: Kompendium der topischen Gehirn- und Rückenmarks¬
diagnostik .191
9. Sommer: Klinik für psychische und nervöse Krankheiten . 191
10. Cimbal: Taschenbuch zur Untersuchung nervöser und psychi¬
scher Krankheiten usw.191
11. Westermarck: Ursprung und Entwicklung der Moralbegriffe 192
12. G raf: Zinken und Zeichen der Zigeuner.192
13. St oll: Zur Kenntnis des Zauberglaubens, der Volksmagie und
Volksmedizin in der Schweiz.J.93
14. A. Marie: Essai d’anthropologie psyehiatrique ...... 193
15. Sommer: Klinik für psychische und nervöse Krankheiten . 193
16. G. Tamme: 365 Gedanken. Alltägliches und Nichttägliches. 194
17. Allfeld: Der Einfluß der Gesinnung des Verbrechers auf die
Bestrafung.194
18. Kornero Novarro: Ensayo de una Filosofia feminista . . 194
Von H. Pfeiffer.
19. Uhlenhuth-Weidanz: Praktische Anleitung zur Ausführung
des biologischen Eiweißdifferenzierungsverfahrens usw. ... 195
Von H. Groß.
20. Wilhelm Urban in München. Kompendium der gerichtlichen
Photographie.197
21. Dr. Josef Reinhold: „Die Chantage“.198
22. Dr. Joh. Lazarus: „Das Unzüchtige und die Kunst“ . . . 198
23. Dr. M, Liepmann: Die Beleidigung.198
24. P. Pollitz: „Die Psychologie des Verbrechers“.199
25. Dr. W. Mittermaier: „Kritische Beiträge zur Lehre von der
Strafrechtsschuld“.199
26. Dr. Samuel Ettinger: „Das Verbrecherproblem in anthropo¬
logischer und soziologischer Beleuchtung“.200
27. Verhandlungen des ersten Deutschen Jugendgerichtstages (15. bis
17. März 1909). 200
28. Martin Berndt: „Der Richter“.200
29. Hugo Friedländer: Kulturhistorische Kriminalprozesse der
letzten 40 Jahre.201
30. Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch.201
31. Prof. Dr. Schumburg: „Die Geschlechtskrankheiten, ihr
Werden, ihre Verbreitung, Bekämpfung und Verhütung“ . . 201
32. J. Köhler und A. Ungnad: Hammurabis Gesetz .... 201
33. Dr* Roth und Dr. Gerlach: Der Banklehrling Karl Brunke
aus Braunschweig . ..202
34. Dr. Friedrich Leppmann: „Der Gefängnisarzt“ .... 202
Zeit Schriften schau.
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Inhaltsverzeichnis.
Y
Seite
Drittes und viertes Heft
ausgegeben 1. Juli 1910.
Original-Arb eiten.
VII, Psychopathische Verbrecher. Von Frey Svenson.209
VIII. Totschlag, verübt zur Beseitigung eines Hindernisses bei Ausführung
einer strafbaren Handlung, nach § 214 des Deutschen Reichsstraf¬
gesetzbuches. Von Justizrat Dr. Schwarze.262
IX. „Experimentaljurisprudenz 44 . Von Dr. Kurt Hiller.288
X. Beitrag zur Psychologie des Kindesmordes. Von Margarete Meier 313
Kleinere Mitteilungen.
Von Gerichtsassessor Dr, Albert Hellwig.
1. Fahrlässige Brandstiftung aus Aberglauben ...... 376
2. Befangenheit als Verdachtsgrund. 377
3. Moderne Ehebruchbänder.379
4. Der Strick des Erhängten . ..384
Zeitschriften sch au.
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I.
Forensisch-psychiatrische Kasuistik.
Von
Kurt Boas in Rostock i. M.
ii.
I. Über den Ausdruck des religiösen Gefühls bei Verbrechern.
Das obige Thema ist in Breslers verdienstvoller Zeitschrift für
Religionspsychologie von zwei Praktikern, Kl ee m an n') und H el 1 w i g 1 2 ),
behandelt worden. Die beiden Arbeiten, die sich vielfach ergänzen,
geben ein interessantes zusammenfassendes Bild über das reli¬
giöse Gefühl des Verbrechers und verdienen an dieser Stelle eine
kurze Besprechung.
I.
Gleichsam als Leitsatz stellt Kleemann seinen Ausführungen
den Satz voran, daß die Verbrecher wohl ihre besondere Religion auf¬
weisen, „aber auf alle Fälle Religion besitzen.“ Dafür spricht die
Aufmerksamkeit bei der Predigt, der frische Kirchengesang und das
Ergriffensein der Teilnehmer bei der Abendmahlsfeier. Mögen dabei
auch andere Momente im Spiel sein — z. B. der Kontrast des stumpf¬
sinnigen Zellenaufenthaltes und geistiger Anregung in der Kirche, das
Verlangen nach Gemeinschaft mit anderen Menschen, momentane
Rührung usw. — „ohne Religion können die Rechtsbrecher nicht
sein, auch der rabiateste und scheinbar abgestumpfteste unter ihnen
nicht.“
Die spezifische Religion des Verbrechers läßt sich nicht in einen
Satz fassen, sondern nur aus einer Gruppe charakteristischer Er¬
scheinungen extrahieren und zu einem einigermaßen klaren Gesamt¬
bild zusammen stellen. Besondere Beachtung in dieser Hinsicht ver¬
dienen die Gaunersprache 3 ), die Tätowierung, die Piktographie und
1) Kleemann, Die Religion der Verbrecher. Zeitschrift f. Religionspycho-
logie 1907, Bd. I, S. 498—508.
2) Hellwig, Religiöse Verbrecher. Ebenda 1908, Bd. II, S. 385—411.
3) Näheres bei Kleemann, Die Gaunersprache. Dies Archiv 1908, Bd. XXX,
S. 236.
Archiv für Kriminalanthropologie. 37. Bd. 1
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2
I. Kt'Kr Boas
die stabilen Redewendungen der Verbrecher, die Kleemann im
einzelnen auf ihre Beziehungen zur Religion untersucht.
1. Das religiöse Moment in der Gaunersprache.
Die Verbrecher haben einen eigenen Wortschatz, der dem Rot¬
welsch, der allgemeinen Vagabundensprache, nahe verwandt ist. Sie be¬
dienen sich ihrer im Gespräch untereinander. Über die Entstehung
lassen sich nur Hypothesen aufstellen. Es stehen sich zurzeit zwei
mit besonderer Schärfe gegenüber. Die eine nimmt an, daß sie
Gaunersprache sei, die andere, besonders von Lombroso x ) und Groß 1 2 )
vertretene Anschauung erblickt darin eine Berufssprache, gerade so
wie es einen besonderen Seemanns- Jäger- usw. jargon gibt. Ihre
Entstehung hat, wie die Lombroso sehe Theorie vom geborenen
Verbrecher besagt, psychologische, physiologische und anthropologische
Gründe.
Die Religiosität des Verbrechers muß, wenn die Gaunersprache
wirklich mit dem Wesen und Begriff des Verbrechers unauslöslich
verbunden ist, ihre Spuren in seiner Sprache hinterlassen, wofür Klee¬
mann eine Reihe von Beispielen gibt. Der Anstaltsgeistliche wird
nie anders als mit schwarzer Gendarm bezeichnet werden. Kirche heißt
im Verbrecherjargon „Winselwinde“ ,Vaterunser „Himmelslied“, Predigt
„Langeweile“. Wenn der Verbrecher es auf Raub der Opferstöcke
absieht, wird er sich in der Regel dahin ausdrücken, „er wolle dem
Jäckel (kl. Jakob) die Eingeweide ausnehmen“. Ganz falsch wäre
es nach Ansicht des Verfassers, aus der aus diesen Äußerungen her¬
vorgehenden Verachtung der kirchlichen Institutionen den Verbrechern
jede Religion abzusprechen. Er pflichtet Lombroso darin bei, daß
sich in den Bezeichnungen der italienischen Gaunersprache Gott = der
erste Mai und Seele = „die Unvergängliche“ der religiöse Sinn des
Verbrechers dokumentiere. Auf die religiösen Verbrecher, die meist
leicht zu erkennen sind, trifft Spurgeons Wort zu, sie hätten bedeutend
mehr Furcht vor dem Prediger als vor Gott.
2. Das religiöse Moment in der Tätowierung.
Indem ich betreffs meiner Anschauungen über die Sitte der
Tätowierung auf das an anderer Stelle 3 ) Gesagte verweise, gebe ich
1) Boas, Lombrosos Theorie vom geborenen Verbrecher. Dies Archiv
1908, Bd. XXXII, S. 168-175.
2) Groß, Handbuch für Untersuchungsrichter. 5. Aufl., München 1908.
3) Boas, Über die Sitte und Bedeutung des Tätowierens bei Prostituierten.
Dies Archiv 1910 (demnächst erscheinend).
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II.
3
hier lediglich Kleemanns Anschauungen wieder, ohne mir dieselben
in einem Punkte zueigen zu machen. Im allgemeinen läßt sich über
das Tätowieren sagen, daß es ein Charakteristikum der rohen Natur¬
völker ist. Wenn es erfahrungsgemäß so häufig bei Verbrechern vor¬
kommt, so schließt Lombroso 1 ) daraus auf den atavistischen Typus,
der im Verbrecher zum Ausdruck kommt. Da das Tätowiren eine
schmerzvolle Operation darstellt, so nimmt Klee mann an, daß es
gewichtige Anschauungen sein müssen, die den betreffenden Menschen
über alle Schmerzempfindung hinwegsetzen lassen. Unter den Täto¬
wierungszeichen religiösen Charakters werden beobachtet: das Kreuz
allein oder in der Verbindung: Anker, Kreuz und Herz, letzteres bei
vielen mit Unterschriften versehen wie: Kühe sanft. Oftmals sind
die Symbole direkt ersetzt durch die Worte: Glaube, Liebe, Hoffnung.
Auch Heiligenbilder kommen nicht selten vor. Kleemann hatte
Gelegenheit in zwei Skizzenbücher eines Verbrechers, der selbst
Tätowierer ist, einen Einblick zu nehmen, die eine reiche Material¬
sammlung enthält, darunter auch zahlreiche religiöse Motive wie:
1. Der Engel mit der Posaune.
2. Am Grabe einer Mutter. Ein Mädchen liegt am Grabe. Auf
dem Kreuze stehen die Worte: Hier ruht in Gott. Ein Engel hält
dem Mädchen das Kreuz entgegen.
3. Ein Engel mit Bibel und Schwert. Darunter Weltkugel und
Schlange.!
4. Der Gedanke an das Unendliche: Eine nackte Frauengestalt,
vor einer Sphinx ruhend, schaut in den gestirnten Himmel.
Aus dieser Aufzählung geht hervor, daß religiöse Vorstellungen
dem Verbrecher keineswegs fremd sind. Zum Teil sind es spezifisch
christliche Anschauungen, die darin zum Ausdruck kommen, zum
Teil heidnische und nichtchristliche. Einen besonderen Platz nimmt
auch die Vergänglichkeit, das Wechselspiel zwischen Leben und Tod
ein. All dies spricht keineswegs [gegen den Altruismus des Ver¬
brechers, zeigt allerdings auch zugleich, daß die Verbrecher nicht mit
Notwendigkeit auf dem Boden der christlichen Lehren zu stehen
brauchen. Lombroso hat das zutreffende Wort geprägt: Man könnte
sagen, der Verbrecher habe und schnitte in sein eigenes Fleisch das
Vorgefühl seines Todes.
Klee mann macht zuletzt auf den von Lombroso 3 ) hervor¬
gehobenen bemerkenswerten Wortkomplex der französischen Gauner-
1) Boas, 1. e.
2) Lombroso, Der Verbrecher. 1887.
3) Lombroso, Neue Verbrecherstudien. Halle 1907.
1 *
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4
I. Kurt Boas
spräche aufmerksam: „Dieu protege la Canaille — le diable maudit
les bonnetes hommes.“ Lombroso erblickt darin „eine Art rudimentärer
Eeligiosität, wie sie etwa ein Wilder hat.“ Allerdings eine sonderbare
Vorstellung, Gott als den Beschützer der Verbrecher zu reklamieren!
3. Das religiöse Moment in der Piktographie.
Der Verbrecher liebt es nicht nur seinen Körper mit Bildern (die
man dann eben Tätowierungen nennt) zu verzieren, sondern auch
sonst auf allerlei Gefäße, Geräte, die Zellenwand, Papierstückchen und
dergl. mehr Bilder und Zeichnungen anzubringen, die oftmals religiösen
Charakters sind. So erwähnt z. B. Lombroso 1 ) einen Fall, wo
ein Analphabet durch eine anscheinend mit Hilfe von Zellengenossen
angefertigte Stickerei „die Unschuld Josefs“ darstellend seine Unschuld
zu beweisen suchte. Klee mann selbst hat zwei Stechgemälde ge¬
sehen: Petri Fiscbzug und Christus vor Pilatus. Ein besonders hoher
Grad von Eeligiosität darf naturgemäß beim Künstler nicht vorausgesetzt
werden, aber er ist auch andererseits nicht unreligiös zu nennen.
A. Das religiöse Moment in den stabilen Redewendungen.
Hier ist oft schwer das ursprüngliche religiöse Gefühl von der
Heuchelei zu trennen.
Biblischen Eedewendungen begegnen wir öfter. So meinte einer,
dessen Unschuld sich herausstellte: Mein Gebet hat geholfen. Ein
Eückfälliger meinte in unzweifelhafter Anlehnung an 2. Tim. 3,16:
„Mein Hiersein im Gefängnis dient mir nur zur Lehre, zur Strafe,
zur Besserung. Ein Bettler sagt in Anlehnung an ein Wort Christi:
(Math. 8,20): Ich weiß nicht, wo ich mein Haupt hinlegen soll. Ein
mehrfach bestrafter Mensch hofft: Gott wird mich bis zu meinem Ab¬
gang behüten. Einer schreibt in sein Bibliotheksbuch:
Wer Freiheit nicht zu schätzen weiß,
Muß dieses Haus betreten,
Hier lernt er schon nach kurzer Zeit
Für seine Freiheit beten.
Ein Verbrecher schreibt, um seine Braut zu trösten: Was Gott
tut, das ist wohlgetan, eine alte Kupplerin ergibt sich in ihr Schicksal
mit dem Gedanken: Was der liebe Gott einem auferlegt, das muß
man natürlich tragen. Gott trägt die Schuld daran, meint die Ver¬
brecherlogik.
1) Lombroso, 1. c.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II.
5
Ein anderer Gedankenkreis, der ebenfalls recht nahe liegt, be¬
schäftigt sich mit Gott, der das Sauere süß, das Schwere leicht
machen kann:
„Sitzt Du hinter Kerkergittern
In der stillen Einsamkeit,
Klage laut und weine bitter,
Klage Gott Dein Herzeleid“.
Auch das Leiden Christi, das man jetzt in persona durchkosten
muß, gewährt manchem einen Trost.
Auch primitive egoistische Ideen, Revanche-Ideen, wie man sie
nennt und denen man noch heute vielfach begegnen kann, kommen
vor. So meinte eine Gefangene: „Der liebe Gott wird mir helfen
nach meinem Abgang.“ Als man ihr entgegnete: „Der liebe Gott
hilft schon, Sie müssen das Gute wollen, meinte sie: „Ich will wirk¬
lich, sonst wäre ich auch vorigen Sonntag nicht zum heiligen Abend¬
mahl gewesen.“
II.
Während Kleemann in seiner Abhandlung den religiösen Aber¬
glauben von vornherein ausschaltet, macht ihn Hellwig 1 ), der den
Lesernd ieser Archivs durch zahlreiche an dieser Stelle erschienene
Aufsätze kriminal-anthropologischen und kriminalistischen Inhalts rühm-
lichst bekannt ist, zum Gegenstand interessanter Ausführungen.
Hören wir zunächst seine Ansicht über die Religiosität des Ver¬
brechers. Er sagt (S. 368):
„Im allgemeinen ist ja natürlich richtig, daß ein wahrhaft reli¬
giöser Mensch in der Regel, wenn ihn nicht andere zwingende Um¬
stände, z. B. große Not, Jähzorn usw. dazu bestimmen, ein Verbrechen
nicht begehen wird. Hier erweist sich die Religion in der Tat also
als ein Verbrechen hindernder Faktor!“
Im weiteren führt Hellwig aus, wie gewisse Lehren der
katholischen Kirche und der protestantischen Orthodoxie geradezu zu
Verbrechen anreizen können, so die Bestärkung des Glaubens an
Hexen 2 ), Besessene 3 ) und anderes. Ebenso bestärken kirchliche In¬
stitutionen wie die Fragestellungen bei der Ohrenbeichte, der Gedanke
an die spätere Sündenvergebung nach der Beichte und das Abla߬
wesen den verbrecherischen Hang, indem sie die natürlichen sittlichen
1) 1. c.
2) Hellwig, Verbrecher und Aberglaube. Aus Natur- und Geisteswelt.
Bd. 212. Leipzig 1908. B. G - Teubner.
3) Hellwig, Zur Psychologie und Therapie der Besessenheit. Kosmos 1907.
S. 229.
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I. Kurt Boas
Hemmungen ausschalten. So nimmt es kein Wunder, daß die Geist¬
lichkeit auch heute noch den Aberglauben bestärkt.
Auch bei Hellwig begegnen wir der Anschauung von Klee¬
mann, daß der Verbrecher in seiner antisozialen Tätigkeit und
Parasitismus nichts Unehrenhaftes sieht, sondern seinem Berufe nach¬
zugehen vermeint und daß er in Gott seinen Beschützer erblickt.
Verfasser führt eine Stelle aus einem Eoman von Dostojewski
an, die von der religiösen Inbrunst sibirischer Sträflinge handelt, mit der sie
Wachskerzen u. dgl. für die Kirche opfern: „Alle die, welche sich
auf Unrechte Weise ihr Brot verdienen, vertrauen auf die Hilfe
Gottes.“
In vielen Ländern werden Heilige als Beschützer der Verbrecher
verehrt, wofür Hellwig zahlreiche kulturgeschichtlich interessante
Belege bringt, auf die hier nicht eingegangen werden kann. Öfter
wird uns auch berichtet, daß Verbrecher aus Dankbarkeit für ihre
Rettung aus Verfolgershand ihr Leben fortan dem Heiligen dienst
weihen.
Ihre antisoziale Tätigkeit motivieren Verbrecher öfters damit, daß
sie sich als Gottesgeißel ausgeben. Oft kehrt in Gebeten wieder,
Gott möge sie eine Hütte finden lassen, wo es viel zu stehlen gibt.
Ein Räuber stellt sich als Instrument der Vorsehung mit folgenden
bombastischen Worten hin: „Nicht wir sind es, die Rache üben,
sondern die Hand Gottes ist es; denn Gott bedient sich oft wenig
würdiger Menschen, um seinen göttlichen Willen auszuführen.“ Der
Zynismus der Verbrecher kann sich so weit versteigen, daß sie nach
einem gelungenen Verbrechen zur Ehre Gottes, in dem sie ihren Be¬
schützer erblicken, eine Messe lesen lassen! Das Haupt einer weit¬
verzweigten internationalen Diebesbande, eine verschlagene Frauens¬
person, meinte in einem bei ihr beschlagnahmten Briefe: „Das Geschäft
war sehr schlecht, aber Gott wird weiter helfen.“ Hellwig erblickt
darin mehr als eine frivole Gotteslästerung. Vielmehr kommt ein
starkes Vertrauen auf Gottes Schutz bei der Ausführung von Ver¬
brechen zum Ausdruck.
Bevor der Verbrecher ans Werk geht, verrichtet er oft noch ein
Gebet, wofür Hellwig eine Reihe interessanter Beispiele anführt.
So führte z. B. ein des Mordes angeklagter Pfarrer den plötzlichen
Tod eines ihm verhaßten Menschen darauf zurück, daß Gott sein
Gebet erhört habe. Unter den Kartenschlägerinen und Wahrsagerinnen,
die aus ihrer „Kunst“ einen Beruf machen, finden wir zahlreiche
eifrige Kirchenbesucherinnen und Betschwestern. Zuweilen treibt die
Religiosität des Verbrechers die seltsamsten Blüten. So wenn z. B.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II.
7
ein Dieb seine Verhaftung mit dem Unterlassen eines Gebetes erklärt,
oder ein Bandit stets zwei Gebete bei sich trug (quasi als Talis-
mann) unter dem Titel „Glorreiche Erscheinung der aller heiligsten
Jungfrau von Montenero zum Tröste der Frommen“. Dies Gebet
sollte, wie eine umseitige Be merkung besagt, den Betenden vor seinen
Verfolgern schützen. Noch eigentümlicher mutet das Verhalten eines
Briganten an, der bei einem Schmause nach einer wohlvollbrachten
Tat seinen Zechgenossen zurief, sie dürften Mittwochs kein Fleisch
essen, ob sie denn in die Hölle kommen wollten! Das Messelesen
und Tragen von Madonnenbildern als Amulett ist eine in Italien weit
verbreitete Erscheinung.
Ein Vatermörder gab als Motiv an, der Teufel hätte seinen
Vater im Genick. Er habe vorher um einen schmerzlosen Tod für
seinen Vater gebetet, auch ein Sterbekreuz für seinen Vater genommen.
Er will unter dem Einflüsse dieser Zwangsvorstellungen die Tat be¬
gangen haben. (Knauer 1 )). — Eine Brandstifterin rief, als sie aus
Bache die Hütte des Geliebten angezündet hatte, aus: „Gott und die
heilige Jungfrau mögen das Übrige tun.“ Hellwig führt noch eine
Reihe von Beispielen an, unter denen hier noch eines seinen Platz
finden möge. Eine Frau, deren Mann von ihrem taubstummen Bruder
auf Anstiftung ihrer Mutter und unter ihrer stillschweigenden Billigung
ermordet und dann von allen zusammen zerkocht und den Schweinen
zum Fräße vorgeworfen worden war, behauptete, sie hätte damals
im Schlafzimmer gebetet, als ihr taubstummer > Bruder mit dem Gewehr
hinauseilte, um ihren Gatten zu erschießen, und während der Unter¬
suchungshaft äußerte sie sich zu einem Gefangenenaufseher dahin, es
habe ihr sehr leid getan, daß sie den Leichnam ihres Gatten vor
dem Zerkochen im Schweinekessel nicht noch mit Weihwasser be¬
sprengt habe. (Nemanitsch 2 ))
Daß Heiligen — besonders Madonnenbilder vielfach als Talismane
getragen werden, nimmt nach dem Obengesagten weiter kein Wunder.
Sonderbar dagegen mutet es an, wenn* uns in Schriften aus dem
Mittelalter berichtet wird, die Verbrecher glaubten sich durch Tragen
des Evangeliums Johannis gegen Verfolger gefeit. Noch seltsamer be¬
rührt es uns, wenn wir hören, daß sich ein Brigant eine kleine Statue
des heiligen Antonius in seine Brust einheilen ließ und von der Güte
dieses Talismans absolut überzeugt war. Auch das Einheilen von
1) Knauer. Vatermord aus’Homosexualität und Aberglauben. Dies Archiv
Bd. XVII, S. 214.
2) Nemanitsch, Ein zerkochter Ermordeter. Dies Archiv Bd. VIII
S. 333.
■J
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I. Kurt Boas
Hostien, wie man es z. B. von Fra Diavolo berichtet, gehört keines"
wegs zu den Seltenheiten.
Amulette erhalten ihre Wirksamkeit, wenn sie gestohlen werden.
So klärte sich z. B. der Diebstahl einer wertvollen Madonnenstatuette,
die in einem kostbaren Behälter verschlossen war, zum allgemeinen Er¬
staunen dahin auf, daß ein Brigant sie zu sich gesteckt hatte, in der
Hoffnung, sie werde ihm fortan Erfolg und Schutz bei allen seinen
Spitzbübereien gewähren. Auf den kostbaren Behälter hatte es der
Dieb gar nicht abgesehen. Der Verbrecher trennt sich nur schwer
von seinem Talisman. Um ihn dahin zu bringen, muß man ihm,
wie es Leal 1 ) bei den Gefangenen in Bahia tat, vorgeben, der neue,
den man ihnen gebe, sei noch weit kräftiger und wirksamer, als der
alte. Übrigens schlagen gewissenlose Sakristane aus diesem Aber¬
glauben Kapital, indem sie den Gefangenen pages de rnissel für
schweres Geld verkaufen. Außer Madonnenbildern kommen als
Amulette auch Gebete und Beschwörungen religiösen Inhalts vor. So
teilt z. B. Leal 2 ) eines mit, das er bei den Gefangenen in Bahia fand
und u. a. folgenden Wortlaut hat: „So werde ich, M., alles was ich
will, tun, jetzt an diesem Tag (oder in dieser Nacht oder in dieser
Stunde) mit Hilfe der drei Personen der Dreieinigkeit immerdar.
So soll es sein. Jesus.“ Unter zwei weiteren Amuletten, die Hell-
wig aus der Arbeit Leals mitteilt, ist das eine davon besonders be¬
merkenswert, weil darin die Überzeugung ausgesprochen wird, das
Gebet stamme aus dem. Grabe Jesu und habe eine so große Kraft,
„daß derjenige, der es bei sich trägt, keines plötzlichen Todes stirbt,
nicht an Schlagfluß, nicht an Wahnsinn, nicht an einer Wunde, nicht
im Gefängnis, nicht an einem Herzleiden. Wenn sich eine Frau, die
kurz vor der Entbindung steht, dies Gebet um den Hals hängt, so wird
sie die Geburt glücklich beenden.“
Oft sind Verbrecherkneipen, Bettstellen usw. mit Amuletten dieser
Art verziert. Es wird uns berichtet, daß eine Bande Heiligenbilder in
Wäldern und Höhlen aufstellte, wo sie sich häufig aufhielt und vor
ihnen eine ständig brennende Lampe aufstellte.
Einen kulturhistorisch äußerst bemerkenswerten Aberglauben
stellen die sog. „Himmelsbriefe“ dar, die den Besitzer vor allerlei
Ungemach beschirmen sollen. Man sagt dem Himmelsbrief nach, daß
er besonders gegen Blitzschlag und Verwundung im Kriege schützen
soll. Man sollte es kaum für möglich halten, daß es in den Kriegen
1) Leal, La religion cliez les condanmes ä Bahia. Archives d’anthropologie
criminelle 1899, Bd. XIV, S. 608.
2) 1. c. S. 609 ff.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II.
9
1864 und 1870 zahlreiche Soldaten, ja sogar Offiziere gegeben hat,
die mit einem Himmelsbrief ausgerüstet, in den Krieg zogen. Da die
Himmelsbriefe aber ganz allgemein gegen jede Art von Gefahr schützen, so
nimmt es weiter kein Wunder, daß bei Verbrechern so oft Himmels¬
briefe gefunden werden, die z. B. u. a. folgenden Inhalt haben: „Sie
werden keines plötzlichen Todes sterben und auch nicht ohne ge¬
beichtet zu haben; in den Hütten wird es keinen Verräter geben, sie
werden frei sein vor Feinden und falschen Zeugen.“
Die bemerkenswerte Tatsache, daß der Verbrecher selten einen
Meineid schwört, erklärt sich nach Hellwig (S. 349) weniger aus Furcht
vor der zu gewärtigenden Zuchthausstrafe, als aus religiösen Motiven.
Es lassen sich nun in allen Ländern mystische Meineidszeremonien
nach weisen, durch die gewerbsmäßige Verbrecher und andere Leute,
deren Anschauungen gleichfalls auf primitiver Stufe stehen, es ver¬
hindern zu können glauben, daß die Strafe für den Meineid sie trifft,
daß sie trotz des falschen Schwures keine Sünde begehen. Über diese
Sitte hat Hellwig 1 ) bereits eine stattliche Reihe von Arbeiten publi¬
ziert. Bekannt ist die unter dem Namen „Blitzableiterzeremonie“ be¬
kannte Manipulation, die kurz gesagt darin besteht, daß man durch eine
besondere Stellung der linken Hand während der Schwurzeremonie, be¬
sonders indem man die Finger abwärts nach unten spreizt, die
Meineidsstrafe somit in die Luft abzulenken versucht. Damit sind
verwandt das „Abschwören“ und die Sündenbockidee, über die Einzel¬
heiten bei Hellwig nachzulesen sind. Andere Anschauungen über
den Eid bei Verbrechern sind noch folgende: Ein Meineid schadet
nicht, wenn man dem Buchstaben nach die Wahrheit sagt (die be¬
kannte jesuitische Auffassung vom Meineide!); ein Falscheid, der
von einem Angehörigen der anderen Konfession abgenommen wird,
ist kein Meineid, ebenso wenn man Worte aus der Eidesfomel
wegläßt 2 ).
1) Hellwig, 1. Mystische Zeremonien beim Meineid. Gerichtssaal. 1905.
Bd. LXVI, S. 79/105. 2. Weiteres über mystische Zeremonien beim Meineid.
Ebenda 1906, Bd. LVII1, S. 346/602. 3. Mystische Meineidzeremonien. Dies
Archiv Bd. XXX, S. 380 ff. 4. Eid und Aberglaube, zwei praktische Fälle. Dies
Archiv Bd. XXXI, S. 97. 5. Aberglaube bei Meineid. Monatsschrift f. Kriminal¬
psychologie und Strafrechtsreform 1905. Bd. II, S. 511. 6. Mystische Meineids¬
zeremonien. Archiv f. Religionswissenschaft 1909. S. 46—66. 7. Verbrechen
und Aberglauben. Aus Natur- und Geisteswelt. Bd. 212. Leipzig 1908,
B. G. Teubner.
2) Vgl. auch die Abhandlung von Hopfner, Der § 51 des D. St. G. B. u.
das Stottern. (Therapie der Gegenwart 1908, ßd. XLIIX, S. 364), deren Be¬
sprechung aus meiner Feder in kurzem in diesem Archiv erscheinen wird.
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I. Kurt Boas
Sodann geht Hellwig auf die Frage der Tätowierung ein
(Seite 400 ff). Mehrere von ihm mitgeteilte Statistiken mögen hier in
übersichtlicher Tabellenform an dieser Stelle wiedergegeben werden.
Häufigkeit religiöser Motive bei Tätowierungen.
Autor
Material
Der Tätown
religiöse Motive
3rung zu Grunde liegende
Motive
Liebesmotive | Rachemotive
Lombroso *)
N. N. (ein italienisch. Autor)
De Blas io 2 )
2480 Täto¬
wierungen
149 Täto¬
wierungen
238 Täto¬
wierungen 3 )
248
22
40
Angaben fehlen
30 33
58 37
Den Tätowierungen liegen die seltsamsten Bilder zugrunde:
Heilige mit dem Jesuskinde, einfache Kreuze mit Strahlen, Sakramente,
Rosenkränze, Madonnenbilder und Buchstaben der Heiligen. Fast
niemals fehlte das V oder das VV (d. h. viva er soll leben).
Lombroso 4 ), Ferri 5 ) und Jäger 6 ) haben auf die Häufigkeit
religiöser Motive als Grundlage der Tätowierung hingewiesen. Sie
scheinen zu bewecken, den Schutz des Himmels anzurufen oder auch
in Gefahren als Schutzmittel zu dienen, d. h. sie entsprechen den
Amuletten und sind ein getreuer Begleiter des Verbrechers bei Tag
und Nacht, können ihm auch nicht entrissen oder gestohlen werden.
Hellwig geht dann auf den Einfluß der kirchlichen Institutionen
Beichte u. dgl. auf den religiösen Verbrecheraberglauben ein. Gewiß
ist, daß die mit der Beichte verbundene Absolution für viele Ver¬
brecher als Anreizung zur Begehung neuer Verbrechen wirkt. Aller¬
dings kommt es auch vor, daß Geistliche auf den Beichtling in dem
Sinne zu wirken suchen, daß er sich selbst den Behörden stellt.
Allein dieser Fall ist relativ selten, da der Priester bei Strafe der
Exkommunikation zur Wahrung des Beichtgeheimnisses verpflichtet ist.
1) Lombroso, zit. nach Ellis, Verbrecher und Verbrechen. Leipzig 1894
S. 172.
2) DeBlasio, Ulterioriricherche intorno al tatuaggio dei camorristi Napole-
tani. Archivio de psichiatria. 1894, Bd. XV, S. 510 ff.
3) Unter 4817 Verbrechern.
4) Lombroso, Nuovi studi sul tatuaggio nei criminali. Archivio di psichi¬
atria 1887. Bd. VIII, S. 10.
5) Jaeger, Tätowierungen von 150 Verbrechern mit Personalangaben. Dies
Archiv 1905. Bd. XXI, S. 167.
6) Ferri, II sentimente religioso negli omicidi. Archivio di psichiatria. 1884.
Bd. V, S. 280.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II.
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Der spanische Verbrecher weiß sich dadurch zu helfen, daß er
sich eine sog. „Kreuzzugsbulle“ kauft, die dem Inhaber Vergebung
der Sünden sichert. Eine solche Bulle kostet heutzutage 1 Peseta
und 15 Centesimo, also ungefähr 83 Pfennige. Hierfür wird man der
Ersatzpflicht für 14 gestohlene Pesetas los und ledig! Gewiß ein
einfaches Geschäft. Es bedarf keiner näheren Erörterung, daß bei der
Leichtigkeit, mit der man sich solche Bullen verschaffen kann, damit
ein schwunghafter Handel getrieben wird.
Vor Begehung eines Kirchenraubes pflegt der italienische Verbrecher
noch ein Gebet zu verrichten, in dem er betont, er handele nicht aus
Verachtung, oder um die Heiligen zu erzürnen, sondern aus Mangel.
Ein Mörder machte sich Gewissensbisse darüber, daß er sein Opfer
nicht noch habe die letzte Beichte ablegen lassen. Vielfach kommt
es vor, daß schwere Verbrecher Sonntags in die Kirche gehen uud die
Gelegenheit gleichzeitig zum Plündern der Taschen benutzen, indem
sie ein künstliches Gedränge erzeugen. Von 500 von Marro unter¬
suchten Verbrechern waren 26 Proz. regelmäßige Kirchenbesucher und
25 Proz. gingen wenigstens gelegentlich zur Kirche.
Dieses kurze Referat zeigt bereits die hohe wissenschaftliche und
kulturgeschichtliche Bedeutung der H e 11 w i gschen Arbeit. Ihre
eingehende Lektüre sei hiermit jedem wissenschaftlich denkenden und
arbeitenden Kriminalisten, aber auch dem Psychiater, der diesen
Fragen Interesse entgegenbringt, warm ans Herz gelegt.
Literatur.
1. De Blas io, Ulteriori richerche intorno al tatuaggio dei camorristi Napole-
tani. Archivio di psichiatria 1894. Bd. XV, S. 510 ff.
2. Boas, Lombrosos Theorie vom geborenen Verbrecher. Dies Archiv
1908. Bd. XXII, S. 168—175.
3. Boas, Über die Sitte und Bedeutung des Tätowierens bei Prostituierten.
Dies Archiv 1910 (demnächst erscheinend).
4. EUis, Verbrecher und Verbrechen. Leipzig 1894. S. 172.
5. Ferri, II sentimento religioso negli omicidi. Archivio di psichiatria 1884.
Bd. V, S. 280.
5a. Hans Groß, Handbuch für Untersuchungsrichter. 5. Aufl. München 1908.
6. Heilwig, Verbrechen und Aberglauben. Aus Natur und Geistes weit.
Bd. 212. Leipzig 1908. B. G. Teubner.
7. Heilwig, Zur Psychologie und Therapie der Besessenheit. Kosmos 1907.
S. 229.
8. Heilwig, Mystische Zeremonien beim Meineid. Gerichtssaal 1905.
Bd. LXVI, S. 79/105.
9. Heilwig, Weiteres über mystische Zeremonien beim Meineid. Ebenda
1906. Bd. LXVIII, S. 346/602.
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1. Kurt Boas
10. Hellwig, Mystische Meineidszeremonien. Dies Archiv Bd. XXX, S. 880 ff.
11. Hellwig, Eid und Aberglaube, zwei praktische Fälle. Dies Archiv
Bd. XXXI, S. 97.
12. Hellwig, Aberglaube bei Meineid. Monatsschrift f. Kriminalpsycho¬
logie und Strafrechtsreform. 1905. Bd. II S. 511.
18. Hellwig, Mystische Meineidszeremonien. Archiv f. Religionswissen¬
schaft 1900. S. 46—66.
14. Hellwig, Religiöse Verbrecher. Zeitschrift f. Religionspsychologie
1908. Bd. II, S. 885-411.
15. Ja eg er, Tätowierungen von 150 Verbrechern mit Personalangaben.
Dies Archiv 1905. Bd. XXI, S. 167.
16. Kleemann, Die Gaunersprache. Dies Archiv 1908. Bd. XXX,
S. 236.
17. Kleemann, Die Religion der Verbrecher. Zeitschrift f. Religions¬
psychologie 1907, Bd. I, S. 498 — 508.
18. Knauer, Vatermord aus Homosexualität und Aberglauben. Dies Archiv
Bd. XXVII, 8. 214.
19. Leal, La religion chez les condamnes ä Bahia. Archives 1 d’anthro-
pologie criminelle 1899, Bd. XIV, S. 608.
20. Lombroso, Der Verbrecher 1887.
21. Lombroso, Heue Verbrecherstudien. Halle 1901.
22. Lombroso, Nuovi studi sul tatuaggio nei criminali. Archivio di
psiehiatria 1887. Bd. VIII, S. 10.
23. Nemanitsch, Ein zerkochter Ermordeter. Dies Archiv Bd. VIII,
iS. 333.
II. Zmn Kapitel cler Eisenbalmfrevel (§ 315 St.G.B.) nebst
anhangs weisen allgemeinen Bemerkungen über Oemeingefälir-
liclikeit Geisteskranker.
In einer ans der Rostocker Psychiatrischen Klinik hervorgegan¬
genen Arbeit berichtet v. Sydow 1 ) über drei Fälle von Eisenbahn¬
frevel durch Geisteskranke, die eines gewissen forensischen Interesses
nicht entbehren und darum hier kurz im Auszuge mitgeteilt seien.
1. Es handelt sich um einen 29jährigen Arbeiter, der sechs Vor¬
strafen erlitten hat und zwar 1 Woche Gefängnis wegen fahrlässiger
Brandstiftung, 1 Tag Haft wegen Betteins, wegen desselben Vergehens
nochmals 1 Woche 10 Tage Haft nebst Überweisung an die Landes¬
polizeibehörde, ferner wegen Vergehens gegen § 315 2 ) 3 Jahre
1) v. Sydow,* Über Eisenbahnfrevel durch Geisteskranke. Inaugural-
Dissertation Rostock 1909, 31 Seiten.
2) § 315 St.G.B. lautet: Wer vorsätzlich Eisenbahnanlagen, Beförderungs¬
mittel oder sonstiges Zubehör dergestalt beschädigt oder auf der Fahrbahn durch
falsche Zeichen oder Signale .oder auf andere Weise solche Hindernisse bereitet,
daß dadurch der Transport in Gefahr gesetzt ist, wird mit Zuchthaus bis zu
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II.
13
Gefängnis und 4 Jahre später wegen desselben Ver¬
brechens im Rückfälle 8 Jahre Zuch thaus nebst den üblichen
Nebenstrafen. Jetzt wird ihm wieder ein Verbrechen gegen § 315
St.G.B. zur Last gelegt. Der Anklage liegt folgender Tatbestand zu¬
grunde :
Am 7. November 1899 fuhr ein Zug von Gü. nach M. Das
letzte Ende vor der Station Ga. fuhr er wegen Verspätung und da
hier die Bahn ein Gefälle von 1 :100 hat, mit der höchstzulässigen
Geschwindigkeit von 30 km in der Stunde. Plötzlich gab die Maschine
auf dem letzten nördlich der Station Ga. gelegenen Übergang eines
Feldweges einen Ruck, der sich dem ganzen Zuge mitteilte. Der
Zug fuhr trotzdem ohne weitere Störung in den Bahnhof ein. Bei
der sofort angestellten Untersuchung fand man ein Schwellenstück im
Gewicht von 20 kg zwischen den Schienen in die Gleisbettung ein¬
gewühlt; zum Teil war es zersplittert. Der Täter stellte sich bereits
am Abend der Tat in der Person des Angeklagten und legte ein
volles Geständnis ab. Die Erhebungen über sein Verhalten vor der
Tat ergaben, daß er sich um 6 Uhr beim Dorfschulzen als obdachlos
gemeldet und ihn um Unterstützung angegangen habe. Dieser habe
ihn an den Krug verwiesen. Über diese Abweisung sei er so er¬
grimmt gewesen, daß er sich schimpfend entfernte und äußerte, er
wolle ihm einen Schabernack spielen, an den er sein Lebtag denken
solle. Soweit die objektiven Erhebungen.
Der Angeklagte selbst gab an: Er sei im November aus der
Strafanstalt in S. (wo er die 8 Jahre Zuchthaus wegen Eisenbahn¬
frevels verbüßte) entlassen worden und habe sich dann nach Mecklen¬
burg gewandt. Vermutlich ist es ihm schlecht ergangen: der Arbeits¬
verdienst aus der Strafanstalt, den er sich in den 8 Jahren seiner
Haft erarbeitet hatte, war bald dahin und es war ihm als Zucht¬
häusler schwer, Stellung zu finden. Am 7. November kam er nach
Ga. und schildert die dortigen Vorgänge genau so wie der Schulze.
Angetrunken sei er nicht gewesen. Erbittert über die schlechte Be¬
handlung seitens des Dorfschulzen und in seiner Ratlosigkeit sei ihm
der Gedanke eines Eisenbahnattentates gekommen. Bei der voraus¬
sichtlich entstehenden Verwirrung hatte er es auf Beraubung des
Postwagens abgesehen, dessen reicher Inhalt ihm über die Geldver¬
legenheiten hinweghelfen sollte. Er habe eine an einer Hecke liegende
10 Jahren bestraft. Ist durch die Handlung eine schwere Körperverletzung ver¬
ursacht worden, so tritt Zuchthausstrafe nicht unter 5 Jahren und wenn der Tod
eines Menschen verursacht worden ist, Zuchthausstrafe nicht unter 10 Jahren oder
lebenslängliche Zuchthausstrafe ein.
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14
I. Küet Boas
Eisenbahnschwelle aufgehoben und sie quer über die Schienen gelegt.
Dann habe er sich in ein nahes Tannengebölz begeben und die Ankunft
des Zuges erwartet. Als er sah, daß ihm der Erfolg versagt war,
habe er sich nach P. begeben, wo er sich am gleichen Abend selber
der Behörde stellte. Wegen seines sonderbaren Gebarens bei seinen
Vernehmungen wird er zur Beobachtung seines Geisteszustandes in
die Rostocker Psychiatrische Klinik eingeliefert.
Aus den Akten über sein dortiges Verhalten sei hier einiges
Wenige mitgeteilt: Großer schlanker Mann in schlechtem Ernährungs¬
zustände und von mäßig entwickelter Muskulatur. Anfangs lag Pat.
fast regungslos im Bett ohne Interesse für die Umgebung. Mürrischer
Gesichtsausdruck und mürrische Sprache. Über sein Vorleben gibt
er an: Beide Eltern seien an Tuberkulose gestorben, er selbst habe
als Kind nie an Krämpfen gelitten, habe aber erst mit 8 (!) Jahren
sprechen gelernt und sei dann erst eingeschult worden. Mit 14-Jahren
konfirmiert, dann in Stellung bei einem Schlächter, der gleichzeitig
sein Vormund war. Dann ging er auf die Wanderschaft Während
derselben schwere Lungen- und Nierenentzündung. In der Strafhaft
chronische Nierenentzündung, die ihn für 2 Jahre ans Bett fesselte.
Von dem letzten Eisenbahnfrevel weiß er nichts. Er kann sich die
Anklage nur so erklären, daß der Staatsanwalt von seinem Vormund
bestochen sei, der ihm böse gesinnt sei. Nach einer Erklärung für
seine Tat gefragt, kann er kein Motiv angeben. Meint, es sei schade,
daß kein Unglück dabei passiert sei, dann wäre es mit ihm aus ge¬
wesen, er wolle nicht mehr leben, da er doch ständig krank sei.
Während der Beobachtungszeit hat er oft Visionen und Halluzi¬
nationen. Er meint wiederholt den Besuch des Staatsanwalts in der
Nacht empfangen zu haben, der ihm ein Geständnis erpressen wollte.
Als man ihn auf die verschlossenen Türen aufmerksam machte, kann
er sich sein Kommen nicht erklären. Es müsse aber doch möglich sein.
Tag darauf bezeugt er wieder dasselbe. Die Stimmung ist meist
apathisch-gereizt. In der nächsten Zeit ist er unzugänglicher und
verschlossener. Auf Befragen gibt er an, er sehe jetzt den Staats¬
anwalt nicht mehr. Allmählich wird sein Betragen freundlicher. Auf
seinen Vormund ist er plötzlich besser zu sprechen und meint, er sei
früher sein Freund gewesen. Später äußert er, wenn er herauskomme,
werde er es genau wieder so machen. Er sei durch Schuld seines
Vormundes krank geworden. Zusammenfassend äußert sich das Gut¬
achten dahin: Sch. ist geistig nicht völlig normal, aber nicht geistes¬
krank. Daher fehle der Anwendung des § 51 R.St.G. jegliche Unterlage.
Abgegeben wurde dies Gutachten auf Grund folgender Erwägungen:
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. 1J.
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1. Sch. behauptet, sich an nichts zu erinnern, nachdem er ein
Geständnis abgelegt und dies in zwei Vernehmungen aufrecht erhalten
hatte. Einen Erinnerungsverlust anzunehmen liegt mangels jeden
ätiologischen Momentes fern.
2. Die Sinnestäuschungen, die Sch. in der ersten Zeit seiner Be¬
obachtung in der Anstalt vorgebracht hat, sind offenbar simuliert.
Wirkliche Sinnestäuschungen lösen gewaltige Affektstöße aus und
beherrschen dauernd den ganzen Ideenkreis, während bei Sch. auch
nicht die mindeste Einwirkung auf sein äußeres Verhalten zu beob¬
achten ist.
3. Wenn Sch. einmal äußert, das Einschreiten des Staatsanwalts
sei auf eine lntrigue seines Vormundes zurückzuführen, so konnte
man wohl im ersten Moment an eine Verfolgungsidee denken. Da
dieselbe aber sich nicht stabil festsetzt, sondern nur einmal wieder¬
kehrt, so ist damit der beste Beweis geliefert, daß keine Verfolgungs¬
idee vorlag.
4. Endlich war sein Benehmen ein ganz verschiedenes, je nach¬
dem er sich den Ärzten oder den Assistenten gegenüber befand.
All diese Züge verraten den plumpen Simulanten und einen ge¬
wissen Grad von Urteilsschwäche, den wir als pathologisch be¬
zeichnen müssen. Für diesen Urteilsdefekt spricht die Rückfälligkeit
des Sch. nach drei Wochen, sein frühzeitiges Inkonfliktgeraten mit
dem Strafgesetzbuch. Alles in allem muß man bei ihm eine gewisse
Minderwertigkeit annehmen, die aber nicht zur Exkulpierung auf Grund
des § 51 St.G.B. Veranlassung gibt.
Auf Grund dieses Gutachtens wurde Sch. zu 7 Jahren Zuchthaus
verurteilt und in das Zuchthaus zu D. eingeliefert. Anfangs führt er
sich dort unauffällig und ordnungsgemäß. Wiederholt äußerte er,
wenn er wieder rauskomme, werde er es ebenso machen, nur wolle
er es diesmal mit einem Schnellzug versuchen. Oftmals meinte er „er
müsse zu seiner Louise“ oder „seine Louise rufe ihn“. Manchmal
schien er damit eine Frauensperson zu meinen, manchmal eine
Lokomotive. Zuletzt wurde er so laut und unbotmäßig, daß er in
die Tobsuchtszelle gebracht werden mußte. Der Gefängnisarzt nahm
den akuten Ausbruch einer schon lange latent bestehenden Haft¬
psychose an und ordnete seine Rücküberweisung an die Rostocker psy¬
chiatrische Klinik an. Im Gegensätze zu seinem ersten Anstalts¬
aufenthalt zeigt Sch. diesmal große innerliche Unruhe. Es hält ihn
nicht im Bett. Er müsse heraus, um einen Zug zur Entgleisung zu
bringen, womöglich einen Schnellzug, im Notfälle schließlich auch
einen anderen. Dabei weiß er ganz genau, daß er sich strafbar macht.
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1. Kurt Boas
Er könne aber manchmal nicht anders; er stehe unter einem unwider¬
stehlichen Trieb. Dieser innere Trieb habe sich bei ihm seit einem halben
Jahre zur fixen Idee herausgebildet. Sch. wird an eine andere Anstalt ab¬
gegeben mit der Diagnose „Paranoia“. Sein Zustand und seine Wahn¬
idee, er müsse Eisenbahnfrevel begehen, ist immer stärker ausgeprägt. Oft¬
mals ist er so erregt, daß er kaum im Bett zu halten ist. Er steht
daher im Wachsaal unter ständiger Bewachung. Er ist dauernd straf -
vollstreckungsunfäbig und lebenslänglich als gemeingefährlicher
Geisteskranker zu internieren.
2. Es handelt sich um einen 30jährigen Strumpfwirker, der drei¬
mal vorbestraft ist und zwar wegen Verbrechen gegen § 242 zwei¬
mal mit je zwei und vier Wochen Gefängnis, sowie siebzehnmal
wegen Betteins und zweimal wegen Obdachlosigkeit mit Haft und
Korrektionshaft. Jetzt liegt gegen ihn eine Anklage wegen Verbrechens
gegen § 315 vor, dem folgender Tatbestand zugrunde liegt. Am
18. November 1903 fand ein Bahnwärter auf einer viel passierten
Strecke über den Schienen liegend einen ca. 80 Pfund schweren Pfahl,
der eine gußeiserne Warnungstafel trug. Dieser Pfahl hatte an einem
in der Nähe befindlichen Bahnübergang gestanden und war dort aus
der Erde gerissen. Die an dem Pfahl befindliche Tafel hatte sich
beim Zusammenstoß wahrscheinlich in die Gleisbettung gebohrt und
es hätte somit leicht ein schweres Unglück entstehen können. Der Täter
stellte sich der Behörde freiwillig in der Person des mittel- und ob¬
dachlosen Angeklagten. Er gab gleichzeitig an, er leide an Epilepsie
und wäre drei Jahre in einer Epileptikeranstalt gewesen. Dann sei
er unter die Hofgänger gegangen, aber niemand hätte ihn wegen
seines Zustandes behalten. Am Tage vor der Tat will er zwei An¬
fälle erlitten haben. Gegen Abend sei er in einem Dorfe in der Nähe
der Attentatsstelle angekommen, der Krugwirt habe ihn jedoch abge¬
wiesen. Das hätte ihn so in Wut versetzt, daß er den Plan gefaßt
hätte, den ersten besten Zug zur Entgleisung zu bringen. Die Folgen
will er sich nicht klar gemacht haben. Später widerrief er das Ge¬
ständnis, gab aber dann die Tat wieder zu mit der Modifikation, er
habe vorher keinen Anfall erlitten, aber nach Begehung der Tat.
Die Ermittelungen in der Epileptikeranstalt zu W. bestätigten seine
Angaben. Danach litt L. seit 1891 an Epilepsie, sei für den Dienst
in der Armee und der Marine untauglich. Zuletzt hat sich das Krank-
keitsbild der Dementia epileptica, worin die Epilepsie gar nicht so selten
übergehen kann, herausgebildet. Infolgedessen erklärten ihn die Anstalts¬
ärzte für unzurechnungsfähig im Sinne des Gesetzes und gemeingefähr¬
lich krank und beantragten die Einleitung des Entmündigungsverfahrens
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II. 17
gegen ihn. Dasselbe wurde von der Staatsanwaltschaft
abgelehnt, woraus ihr ein schwerer Vorwurf zu machen ist, und
so ließ man L. frei umherlaufen. Der Gefängnisarzt, der ihn beob¬
achtete, konstatierte eine nicht unwesentliche Besserung oder Stillstand
seiner Krankheit und gab demzufolge sein Urteil dahin ab, daß:
1. L. bei Begehung der Tat keinen epileptischen Anfall er¬
litten habe,
2. er somit nicht unter dem unmittelbaren Zwange eines solchen
Anfalls gehandelt habe,
3. er zu den geistig entarteten, nicht ganz vollwertigen 1 ) Menschen
gehöre, daß aber bei ihm keine Störung der Geistestätigkeit vorhanden
sei, durch welche die freie Willensbestimmung ausgeschlossen sei.
Die psychiatrische Beobachtung im Gefängnis zu R. kam zu
denselben Resultaten wie die der Anstaltsärzte zu W., L. wurde
der Schutz des § 51 zugebilligt, und er zugleich in die psychiatrische Klinik
zu R. übernommen. Mit 18 Jahren will er den ersten Anfall erlitten
haben, der durch das Erschrecken über einen Schuß, der nachts im
Walde fiel, ausgelöst war. Viel gewandert, (Wandertrieb der Epileptiker
im Dämmerzustand! Auffallend ist, daß er beim ersten Anfall nachts
einen Wald durchwanderte). In der Anstalt wechselndes Benehmen.
Bald ist er ruhig und freundlich und geht seiner Arbeit nach, bald
ist er mürrisch, schlägt seine Mitkranken, verleumdet seine Wärter
und legt die Arbeit nieder. Zuletzt entwich er aus der Anstalt, wurde
aber ergriffen und anderweitig interniert.
3. Es handelt sich um einen 50jährigen unbestraften Kuhfütterer,
der eine schwere Eisenbahnschwelle über die Schienen legte. Das
Hindernis wurde jedoch rechtzeitig bemerkt und der Zug zum Stehen
gebracht. Man sah den Täter über die Geleise laufen, er wurde vom
Zugführer gestellt, lief dann weg,' wurde aber zwei Tage darauf in
G. verhaftet. Im Gefängnis machte er auf den ersten Blick den Ein¬
druck eines höchst schwachsinnigen Menschen. Seine Eltern sind an
Blutspeien gestorben. Er selber war stets gesund und hat nie Krämpfe
gehabt, ln der Schule schlecht. Soldat ist er nicht gewesen. Wurde
dann Tagelöhner. Es wird berichtet, er habe einmal Schafe ins
Wasser gejagt. Nach Zeugenaussagen hat Sch. oft tagelang seine
Stellung verlassen; als man ihn dann zur Rede stellte, gab er an, „er
habe Fahrten gemacht“. Wegen einer solchen Fahrt habe er seine
letzte Stellung verlassen müssen; er soll damals zu einer Frau ge¬
äußert haben, er wolle seinem Dienstherrn das Vieh haus anzünden.
1) [Epileptische] psychopathische Konstitution (Ziehen).
Archiv für Krimmalanthropologie. 37. Bd. 2
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18
I. Kurt Boas
Nach den Motiven zu seiner Tat befragt, gibt er an, „aus Fahrten
gehandelt zu haben“. Er bereut die Tat jetzt, gelobt Besserung und
bittet um Entlassung. Die Intelligenzprüfung zeigte, daß Sch. äußerst
beschränkt ist. Er kann nicht mehr lesen und schreiben, und das
Rechnen will ihm auch nur schwer gelingen. Auch sonst macht er
durchaus den Eindruck eines Imbezillen, sodaß das Gutachten auf
Exkulpierung nach § 51 plädierte. Das Gericht schloß sich an. In
die Anstalt überwiesen fällt er durch seinen ausgesprochenen blöden
Gesichtsausdruck und seine typischen Spitzohren auf. Im übrigen ist er
freundlich und mit seinem Schicksal zufrieden. Arbeiten tut er gar
nicht. Es bandelt sich wahrscheinlich um Epilepsie mit sekundärer
Demenz. (Dementia epileptica.)
Ich möchte nicht wie v. Sydow die Krankheit der beiden ersten
Patienten allein für ihr antisoziales Handeln verantwortlich machen,
sondern auf einen Punkt hinweisen, der mir in seiner Arbeit nicht
recht gewürdigt zu sein scheint: die Ungunst der sozialen Ver¬
hältnisse, unter denen dem aus dem Zuchthaus bzw. aus der Epi¬
leptikeranstalt Entlassenen ein Fortkommen schlechterdings unmöglich
gemacht wurde. Ja, ich möchte soweit gehen zu behaupten, daß es
nicht die Krankheit war, die ihnen den unseligen Plan eingab, sondern
die schroffen Abweisungen, die auch den Geisteskranken in Wut zu
versetzen geeignet sind. Diesen ätiologischen Konnex hat m. E. nach
v. Sydow nicht recht zur Geltung gebracht.
Und die praktische Nutzanwendung! Wir sehen und lernen
immer wieder daraus, daß wir mit der Prophylaxe des Verbrechens
noch immer in den allerersten Anfängen stehen. So lange nicht so
elementare Hemmnisse im Fortkommen eines Strafgefangenen oder
eines kriminell Geisteskranken beseitigt werden, werden solche Ele¬
mente noch viel Schaden stiften und es fragt sich noch, wer schuldiger
ist, wenn sie kriminell werden: die Gesellschaft oder sie selbst.
Zum Schluß einige kurze Bemerkungen über eine ebenfalls aus
der Rostocker psychiatrischen Klinik hervorgegangene Arbeit von
Eichstedt 1 ), die sich ganz allgemein mit der Gemeingefährlichkeit
geisteskranker Elemente beschäftigt. Zunächst sei über eine inter¬
essante soziale Einrichtung in Mecklenburg-Schwerin berichtet. Der
Staat besitzt ein großes Gut, Schwarzenhof, unter Verwaltung des
Landarmenverbandes, auf dem auch entlassene, früher gemeingefähr-
1) Eichstedt, Zur Frage der Gemeingefährlichkeit bei Geisteskranken.
Inaugural-Dissertation Rostock 1909, 28 Seiten.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II.
19
liehe Geisteskranke mit ihren Familien zusammenwohnen und -arbeiten
können. Der zuständige Kreisarzt ist nur verpflichtet, sich monatlich
oder auf Anruf nach dem Befinden der Geisteskranken umzusehen,
um einen erneuten Ausbruch der Krankheit rechtzeitig merken zu
können. Außerdem sind Vorkehrungen getroffen, daß an alle Be¬
wohner von Schwarzenhof kein Alkohol verkauft wird, um dadurch
namentlich bei Epileptikern einen neuen Ausbruch der vielleicht sonst
wieder auftretenden Krämpfe zu verhüten. Eine Einrichtnng, die sich
nach den bisherigen Erfahrungen recht bewährt hat und jedenfalls
einer Empfehlung wert scheint! Im folgenden berichtet Eichstedt
über einen Epileptiker, der unter der Einwirkung des Alkohols sich
allerlei Verbrechen zu schulden kommen ließ. Er wurde in drei
Irrenanstalten beobachtet mit dem übereinstimmenden Resultat, daß
bei völliger Alkoholentziehung die Anfälle völlig sistierten. Nach der
Entlassung siedelte er sich mit seiner Familie in Schwarzenhof an,
und es steht zu hoffen, daß er sich unter ständiger Beobachtung des
Kreisarztes und Enthaltung vom Alkohol keiner antisozialen Handlung
mehr schuldig machen wird.
Vielleicht ist diese Methode der Isolierung antisozialer Elemente
geeignet, die Kastration '), zu der sich manch einer nicht ohne weiteres
verstehen wird, zu ersetzen. Jedenfalls scheint mir eine gewisse Ga¬
rantie dafür geboten zu werden, daß die Bewohner von Schwarzenhof
von ihrem antisozialen Treiben ablassen.
III. Forensisch-psychiatrische Bemerkungen über
Dementia senilis.
Einleitung.
Inhaltsangabe und Begrenzung des Themas.
Über die forensische Bedeutung der Dementia senilis liegen
bereits eine größere Reihe von Arbeiten vor, von denen ich hier nur
die Monographie von Bresler 1 2 ), ferner die Zeitschriftenaufsätze von
Aschaffenburg 3 ) und A. Leppmann 4 ), nenne, die zum Teil
1) Näeke, Die ersten Kastrationen aus sozialen Gründen auf europäischem
Boden. Neurologisches Centralblatt 1909 u. dies Archiv 1908 Bd. XXXII S. 343.
Siehe auch Julius burgers Entgegnung auf Näckes Aufsatz im Neurologischen
Centralblatt 1909.
2) Bresler, Greisenalter und Kriminalität. Juristisch-psychiatrische Grenz¬
fragen Bd V, Heft 2 -3, 1907.
3) Aschaffenburg, Münchener medizinische Wochenschrift, 1908.
4) A. Leppmann, Die forensische Bedeutung des Greisenalters. Molls
Zeitschrift f. Psychotherapie und medizinische Psychologie, Bd. I, Heft 3, 1909.
2 *
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20
I. Kurt Boas
für die nachfolgenden Studien verwertet wurden. Somit lag also
kein Bedürfnis vor, diesen allgemein gehaltenen Ausführungen über
die Psychopathologie und Kriminalität Senildementer eine weitere
Studie folgen zu lassen.
Die Frage war auch nach der Seite hin zu einem gewissen Ab¬
schluß gelangt, als Aschaffenburg u. a. überzeugend nach¬
wiesen, daß besonders zwei Gruppen von Rechtsbrechern unter den
Senildementen stark vertreten sind: die Eigentumsverbrecher
und die Sittlichkeitsverbrecher (siehe unten). Die Behandlung der
senildementen Eigentumsverbrecher bot kein besonderes forensisch¬
psychologisches Interesse dar; die der Sittlichkeitsverbrecher scheint
in einer vor kurzem erschienenen Studie von G ö r i n g *) zur Genüge
gewürdigt zu sein.
Somit war eine Beschränkung auf die seltener vorkommenden
Delikte von selbst gegeben, und ich beschloß, aus der reichen Aus¬
wahl das kriminalistisch und psychologisch reizvollste Kapitel: die
Mordtaten, herauszugreifen und monographisch zu bearbeiten.
Muß allein schon die Seltenheit dieser Fälle einiges Interesse er¬
wecken, so schwebte mir gleichzeitig noch ein anderes Ziel vor Augen,
nämlich die Vergleichung der Mordtaten Senildementer mit Paralytiker¬
morden, über die ich im Anschluß an einen Fall von Steudemann 1 2 )
in dem nächstfolgenden Abschnitt des Archiv ausführlich berichten werde.
Bei der Sammlung der einschlägigen Kasuistik hat mir die
Dissertation von Buch 3 ), der selbst über einen einschlägigen Fall
berichtet, wertvolle Dienste geleistet.
Nach Fertigstellung des kasuistischen Teiles ergab sich die Not¬
wendigkeit, den medizinischen Teil der Arbeit etwas ausführlicher als
es für gewöhnlich dem Rahmen dieses Archivs entspricht, auszu¬
gestalten. Ich glaube, daß dadurch die Darstellung des Krankheits¬
bildes, sowie die differential-diagnostische Abgrenzung gegen die ihm
wesensverwandte Dementia paralytica an Klarheit entschieden gewonnen
hat. Endlich mußte auch in die Darstellung der Symptom enkomplex der
Dementia arteriosclerotica, die sich zuweilen nach cerebraler Arterio¬
sklerose einzustellen pflegt, sowie die leichteren psychopathologischen
Erscheinungen bei der cerebralen Arteriosklerose einbezogen werden.
1) Gö ring, Zur Beurteilung geisteskranker Sittlichkeitsverbrecher. Inaugural-
Dissertation Bonn 1908.
2) Steudemann, Ein Paralytiker als Mörder. Inaugural-Dissertation Frei¬
burg i. Br. 1909.
S) Buch, Ein Beitrag zur Lehre der senilen Geistesstörungen und ihrer fo¬
rensischen Bedeutung. Inaugural-Dissertation Kiel 1908.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II.
21
I.
Mordtaten bei Senildementen sind bisher nur in spärlicher Zahl
beobachtet worden 1 ). Einer der ersten einschlägigen Beobachtungen
dürfte wohl von D e s p i n e 2 ) herrühren. Es handelte sich um einen
Mord der eigenen Tochter durch den 67 jährigen Vater, der früher
als ganz normal geschildert wurde, seiner Familie immer ein getreuer
Ernährer gewesen war und als sittenreiner Mann in der Stadt einen
geachteten Namen trug. Seit einigen Jahren hatte sich in seinem
Wesen ein vollständiger Wandel vollzogen. Er war ein Geck und
Wollüstling ohne jedes Schamgefühl geworden. Obwohl glücklich
verheiratet, hatte er außerehelichen Verkehr mit einer 26jährigen
Frau, schrieb derselben unzüchtige Briefe. Außerdem hielt er sich
noch eine Maitresse. Seine Libido war enorm gesteigert, er hatte in
den letzten Jahren mit 20 jungen Weibern verkehrt.
Der Anklage wegen Mord, deretwegen er sich vor Gericht zu ver¬
antworten hatte, lag folgender Tatbestand zugrunde. Eines Tages
überraschte er seine Tochter mit einem heimlichen Liebhaber. Er er¬
stach sie mit einem Messer, aber nicht aus sittlicher Entrüstung, sondern
aus Eifersucht. Dann schoß er auf den Liebhaber, ohne ihn tödlich zu
verletzen. Hierauf verrichtete er bei der sterbenden Tochter ein
Gebet und sagte, indem er sich an dem Anblick ihres geöffneten
Busens weidete, „es war doch ein schönes Weib, eine schöne Maitresse.“
Nach Ausführung der Tat zeigte er nicht die geringste Reue. Eben¬
so nahm er seine Verurteilung zu lebenslänglichem Zuchthaus ge¬
lassen auf.
Der ganze Lebenswandel dieses Mannes deutet auf einen krank¬
haften psychichen Zustand hin, den wir als Dementia senilis bezeichnen
und dessen Symptomenkomplex wir uns kurz einmal ins Gedächtnis
zurückrufen wollen.
II.
Wenn wir von Altern 3 ) und Altersschwäche reden, so denken
wir in erster Linie an die augenfälligsten Erscheinungen bei Greisen,
der Rückbildung ihrer körperlichen Funktionen. Die Elastizität, die
Frische des Körpers hat einem Er schlaff ungszu stand Platz gemacht,
der die körperliche Leistungsfähigkeit stark reduziert. Weniger in
die Augen springend sind die psychischen Alterserscheinungen, die
1) Näcke, Greisenalter und Verbrechen. Dies Archiv 1909, Bd. XXXIII
S. 356.
2) Despine, Psychologie naturelle. Bd. II S. 598.
3) Lorand, Das Altern. Leipzig 1909.
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22
I. Kukt Boas
sich meist noch in physiologischen Grenzen halten. Die geistige Assi¬
milationstätigkeit ist ebenso wie die körperliche Säftebildung behindert
und tritt z. B. dadurch charakteristisch zutage, daß sich greise Individuen
den neuen zeitgenössischen Ideen nicht mehr anpassen, sich mit ihnen
nicht befreunden können und sie daher schonungslos verwerfen.
Dieser Zustand der oft bis zum Marasmus senilis sich steigern kann,
ist in gewissen nicht genau zu präzisierenden Grenzen als physiologisch
zu bezeichnen. Daneben kann es zu ausgesprochenen Zuständen von
seniler Demenz kommen, die auf feinste organische Läsionen (Schwund
der Ganglienzellen, Untergang der Assoziationsfasen u. dergl. mehr),
zurückzuführen sind, in ihren Details aber noch einer gründlichen
pathologisch-anatomischen Erforschung entbehren. Nur ein Zustand
ist uns seiner Ätiologie nach genauer bekannt und als selbstständiges
Krankheitsbild wohl allgemein anerkannt: die Dementia arterio¬
sclerotica, auf die wir in diesem Zusammenhang kurz einzugehen
nicht umhin können. Unter den oben erwähnten körperlichen Er¬
scheinungen des Alterns nimmt wohl die Arteriosklerose, d. h. die
Verkalkung der Arterien einen besonderen Platz ein. Besonders gilt
dies von der Arteriosklerose der großen Schlagarterien, so daß man
Arteriosklerose lange Zeit mit „Herzarterienverkalkung“ identifiziert
hat. Genauere Studien haben an anderen Organen das Bestehen
ganz ähnlicher Läsionen ergeben, z. B. im Gebiet des Pfortadersystems
oder der Magenarterien. Wenn man von Dementia arteriosclerotica
spricht, so meint man wohl in erster Linie die psychischen Begleit¬
erscheinungen der Herzarteriosclerose, dann aber in zweiter Linie die
Sklerose der Gehirnarterien, wie sie in ausgeprägten Fällen auch
für den Laien in durchaus unverkennbarer Weise in die Erscheinung
tritt, indem man eine deutliche Verhärtung oder Schlängelung der
Schläfen (Art. temporalis) konstatieren kann.
Während wir betreffs der somatischen Erscheinungen sowie der
pathologisch-anatomischen Befunde auf die lichtvolle Darstellung
Picks 1 ) kurzweg verweisen, müssen wir mit einigen Worten auf die
psychischen Ausfallserscheinungen bei der Dementia arteriosclerotica
einzugehen, die Pick 2 ) in folgendem Symptomenkomplexzusammenfaßt:
„Ein gelegentlich sehr rasch einsetzendes Versagen des geistig
Schöpferischen, der Konzeptionsfähigkeit für neue Gedanken, Kopf¬
schmerzen, Gedächtnisschwäche, vor allem in beruflichen Dingen,
1) Pick, Initialerscheinung der cerebralen Arteriosklerose und kritische
Erörterung ihrer Pathogenese. Sammlung zwangloser Abhandlungen aus dem Gebiete
der Nerven- und Geisteskrankheiten Bd. VIII, Heft 8, Halle 1909. Marhold.
2) 1. c. S. 22.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II.
23
rasche geistige, aber auch körperliche Ermüdbarkeit, Schwindel, dazu
treten noch Alkoholintoleranz, in einzelnen Fällen stärkere amnestische
Erscheinungen; vereinzelt Erschwerung des Wortverständnisses*)
(psychische Schwerhörigkeit; Alzheimer); von sonstigen Er¬
scheinungen, namentlich praktisch bedeutsam ist das oft schwere
Krankheitsgefühl, das gepaart mit der Furcht „blödsinnig“ zu werden,
die Kranken zuweilen zum Selbstmord treibt.“
Windscheid hat behauptet, daß besonders intensive geistige
Arbeit zur cerebralen Arteriosklerose disponiere. Pick kann sich dem
nicht anschließen und meint, es gäbe bei der cerebralen Arteriosklerose
keine nach der Berufsarbeit differenzierte Disposition, der Symptomen-
komplex fände sich in gleicher Weise bei geistig hochstehenden In¬
dividuen wie bei den einer mechanischen Arbeit nachgehenden Fabrik¬
arbeitern. „Wenn auch von einzelnen der Größten (Newton, Kant)
bekannt ist, daß sie im hohen Alter senil dement geworden sind, so
kann doch nicht gesagt werden, daß bei geistigen Arbeitern mehr als
bei anderen die Symptome der Arteriosklerose besonders frühzeitig
auftreten oder besonders intensiv erwiesen wären. Es spielen da ge¬
wiß andere Momente mit, und als eines derselben muß der Affekt
bezeichnet werden; die ruhige Gelehrtenarbeit erhält meist auch das
Gehirn jung; dagegen sehen wir, ähnlich wie auch bei der Paralyse die
mit aufreibenden Affekten gepaarte Arbeit selbst der mittleren Jahrzehnte
ihre besonderen Schädlichkeiten an den Cerebralgefässen entfalten. 2 )
Das, was beiden, dem geistigen und dem körperlich Arbeitenden
gemeinsam ist, die Elementarerscheinung, wie Pick sich ausdrückt,
ist „die nach Fülle und Tempo überragende Elastizität der intellek¬
tuellen Anpassung.“ Die Abnahme derselben als Initialerscheinung
der Arteriosklerose scheint Pick auch beim gewöhnlichen Arbeiter
deutlich nachweisbar zu sein: „die Angehörigen solcher Kranken selbst
finden es bald heraus, wo der Haken sitzt, daß die Kranken bei irgend
welcher selbst geringfügigen Modifikation ihres Pensums zunehmend
mangelhaft und langsam sich darein zu finden wissen, alsbald ver¬
sagen, insbesondere mit der Aufmerksamkeit, und nicht selten es selbst
beklagen, daß es nicht so „wie früher ist“.
Wenn wirklich die Initialerscheinungen bei geistig hochstehenden
Individuen früher hervorzutreten scheinen, so hat das nach Pick
seinen guten Grund darin, daß die Lebensstellung und Lebensführung
namentlich im Gebiete des Ethischen begreiflicherweise leichter und
früher Anlaß zum Hervortreten auch geringfügiger Defekte gibt.
1) Siehe weiter unten bei Besprechung der Arbeit von Lieske.
2) 1. c. S. 23. Anmerkung.
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I. Kurt Boas
Diese Beobachtung und Erklärung ist zweifellos richtig. Es läßt sich
als Analogon der geistige Verfall geistig hochstehender Persönlichkeiten
bei Dementia paralytica anführen. Wenn ein gefeierter Schriftsteller
oder Künstler, der niemals Zoten liebte, plötzlich viel über sexuelle
Dinge spricht, so fällt das seiner feinfühligen Umgebung natürlich
ganz anders auf als z. B. inmitten eines Proletariermilieus, wo eine
Zote die andere gibt. So kommt es, daß der ethische, ja selbst der
Intelligenzdefekt bei sozial niedrigstehenden progressiven Irren anfangs
manchmal übersehen wird. Das ist aber keinsewegs die Regel. So
ist z. B. ein deutlicher Intelligenzdefekt bei Kellnern, deren unstabiler
Beruf gewissermaßen schon als solcher (von den luetischen Infektionen
ganz abgesehen) zu Dementia paralytica disponiert, schon im Initialstadium
nach zu weisen: er äußert sich in vollständigem Versagen beim Rechnen.
Eine schwere Schädigung erfahren bei der cerebralen Arterio¬
sklerose namentlich die Affekte: „schon frühzeitig vermisse ich bei
unseren Kranken die Ansprechbarkeit der Affekte, oder noch besser
gesagt, die Modulationsfähigkeit derselben, was in einer der Umgebung
besonders auffallenden Stumpfheit der gemütlichen Reaktion hervor¬
tritt ; dem widerspricht nicht, daß wir sehen, wie ein Affekt bei
solchen Individuen, einmal angeregt, wohl leicht selbst ins Maßloße
ansteigt, aber unschwer einzudämmen ist.“ Damit hängt nach Pick
weiterhin die Nachdauer, namentlich depressiver Stimmungen, die
Weinerlichbarkeit der vorzeitigen Seniums zusammen, ebenso die
egozentrische Einengung des Gefühlslebens.
Pick 1 ) nimmt weiterhin eine Wechselwirkung zwischen Gemüts-
shok, wie er sich ausdrückt und Arteriosklerose an, indem diese
beiden Noxen sich gegenseitig fördern.
Über den Verlauf des Symptomenkomplexes äußerst sich Alz¬
heimer dahin, daß die Dementia arteriosclerotica,, da keine tieferen
Veränderungen der Glia vorliegen, keine besondere Tendenz zur Pro-
gresion zeige, daß sie oft lange Zeit hindurch stationär bleibe.
Wenn wir den Symptomenkomplex der Dementia arteriosclerotica
mit dem der Dementia senilis vergleichen, so würden wir bei beiden
Ähnlichkeiten begegnen, so daß wir die Dementia arteriosclerotica als
eine Abart oder senile Form der Dementia senilis bezeichnen können,
eine senile Geistesstörung, bei der besonders die Arterien ergriffen
sind. Wenn, wie wir unten hören werden, z. B. Hellmann 2 ) die
Dementia senilis von der Dementia arteriosclerotica unterscheidet, so
1) 1. c. S. 26.
2) Hellmann, Differentialdiagnose zwischen arteriosklerotischen Geistes¬
störung und progressiver Paralyse. Inaugural-Dissertation Freiburg i. B. 1905.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II.
25
hat das im Grunde keine innere Berechtigung. Wir sind vielfach ge¬
wohnt, das Senium in recht laienhafter Weise nach der Zahl der zu¬
rückgelegten Jahre zu bezeichnen. Ein 70jähriger ist für viele, nur
weil er 70 Jahre alt ist, eo ipso senil. Wissenschaftlich kann natür¬
lich nicht das Alter an sich, sondern lediglich die Alterserscbeinungen-
als Kriterium in Frage kommen.
Von der ätiologisch leicht abzugrenzenden Form der Dementia
arteriosclerotica wollen wir hier absehen, und die Dementia senilis
zum Gegenstand forensischer Betrachtungen machen. Wenn wir das
Charakteristische im Krankheitsbilde hervorheben wollen, so müssen
müssen wir an dieser Stelle der ausgeprägten Gedächtnis¬
schwäche gedenken, die wir, wie z. B. bei der Epilepsie, wohl auch
als retrograde Amnesie zu bezeichnen pflegen. Ihr Wesen besteht kurz
gesagt darin, daß dem Patienten die Ereignisse der letzten Zeit rasch
entfallen, während ihm seine Jugenderlebnisse gut geläufig sind und
ihm vor Augen stehen. Daß dieser Zustand im Leben peinliche
Situationen für den Kranken schafft, liegt auf der Hand und braucht
hier nicht des Näheren erörtert zu werden. Der bestehende Merkdefekt
kann in manchen Fällen sogar einen Intelligenzdefekt vortäuschen, so
wenn Patienten Schreiben und Lesen vollständig verlernen. Dieser Merk¬
defekt äußert sich in einer für die Umgebung des Kranken oft recht
peinlich werdenden Flut von Fragen, die nicht bloß der Ausfluß einer
kindischen Geschwätzigkeit sind. Bei dem Bestehen eines Merkdefektes
nimmt es weiter nicht wunder, daß so oft Sinnestäuschungen auftreten.
Von großer psychiatrischer und forensischer Bedeutung ist die
Prüfung der Merkfähigkeit, die Schneider 1 ) undLieske 2 )
in einer Reihe von Associationsversuchen an Greisen ausgeführt haben.
Lieske operierte an zwei Wortreihen, die aus je 50 zwei- und
viersilbigen abstrakten und konkreten Worten bestanden, wobei darauf
geachtet wurde, daß dieselben mit dem unmittelbar vorhergehenden
keine Association bildeten. Die Experimente wurden an 15 Personen,
von denen 11 Insassen des Kölner Invalidenhauses waren, 2 der
psychiatischen Klinik in Köln als stationäre Kranken und 2 zur
momentanen Beobachtung angehörten, vorgenommen. Das durch¬
schnittliche Alter betrug 84 Jahre.
Die Ergebnisse sind in den Tabellen I—III, die der Arbeit von
Lieske entnommen sind, zusammengestellt.
1) Schneider, Über Auffassung und Merkfähigkeit bei Altersblödsinn.
Psychologische Arbeiten von Kräpelin 1900. Bd. III, Heft 3.
2) Lieske, Beitrag zur Untersuchung der Merkfähigkeit im hohen Greisen-
alter. Inaugural-Dissertation Rostock 1907, 38 Seiten.
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Tabelle I (nach Lieske).
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II. 27
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I. Kurt Boas
Die forensischen Konsequenzen, die sich aus diesen
psychologischen Assoziationsversuchen ergeben, liegen auf der Hand
namentlich hinsichtlich der Eidesfähigkeit. L 1 e s k e ') äußert sich
darüber wie folgt-:
„Ferner unterliegt es keinem Zweifel, daß eine Eidesleistung ein
Ereignis ist, das in seinem ganzen feierlichen Zeremoniell dazu ange¬
tanist, die meist unselbständigen und ängstlich vorsichtigen Senildementen
in einen aufregenden Zustand zu versetzen, der ihrer Merk-, in diesem
Falle besser Erinnerungsfähigkeit unter Umständen schweren Abbruch
tun muß. Es wäre nun die Pflicht, nicht nur der juristischen Über¬
legung, sondern auch der Humanität, die Senilen von Forderung einer
Eidesleistung zu befreien, zu der sie schon aus rein physiologischen
Gründen nicht mehr imstande sind und die sie oft genug mit dem
Meineidsparagraphen in Kollision gebracht hat und unter Umständen
noch bringen wird.“
Wenn diese Forderung bei den Juristen auf geharnischten Wider¬
stand stoßen wird, so ist dies von ihrem Standpunkt aus sehr be¬
greiflich. Aber die Versuche L i e s k e s werfen doch ein interessantes
Licht auf die Merkfähigkeit Seniler. Wenn hier nur ein Durchschnitts¬
wert von 75 Proz. richtiger Antworten erhalten wurden, so wirft diese
Zahl ein interessantes Schlaglicht auf die Eides- und Zeugnisfähigkeit
Seniler. Juristen haben dies bereits erkannt und wissen sich in Fällen,
wo eine derartige Vernehmung in foro nicht zu umgehen ist, dadurch
zu helfen, daß sie die Vereidigung aussetzen. So verfuhr z. B. das
Landgericht in G., das von der Vereidigung einer altersschwachen
erblindeten Zeugin mit dem Hinweis darauf Abstand nahm, daß die
Zeugin die einzelnen Vorgänge, namentlich ihrer Zeitfolge nach, nicht
mehr zu unterscheiden vermochte und wegen dieser Geistesschwäche
leicht etwas beschwören würde, was nicht der Wahrheit entspräche, „da
sie dies eben nicht mehr genau zu unterscheiden vermag.“ (Lieske 2 ).)
Andere Staaten (Schweden Finnland) haben diesen Tatsachen
Rechnung getragen und in ihren Gesetzbüchern genaue Normen der
Eidesfähigkeit gegeben. Lieske hält es mit Recht für wünschens¬
wert, daß eine Eidesfähigkeit an eine obere Grenze, die etwa mit
75 Jahren anzusetzen wäre, und eine untere (19 Jahren) gebunden
wäre, und erinnert an den von Groß ausgesprochenen Satz: „Im
Greisenalter kommen beide Geschlechter wieder zusammen, wie sie in
der Kindheit waren. Sie beobachten und besprechen die Dinge meist
nach dem Lose, welches ihnen im Leben zuteil geworden ist, häufig
1) 1. c. S. 29. 2) 1. c. S. 27.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II.
29
aber weiter b inausgehend, als es den Tatsachen entspricht, verbittert
oder versöhnend. Nicht zu vergessen ist bei diesen Leuten, daß sie
fremden Einflüssen fast ebenso zugänglich sind, wie die Kinder.“
Von der größten Wichtigkeit besonders in der forensischen
Praxis ist der ethische Defekt, der Schwund jeden moralischen
Gefühls, den wir in diesem ausgesprochenen Maße unter allen Geistes¬
krankheiten wohl nur noch bei der Dementia paralytiea l ), der allge¬
meinen progressiven Paralyse der Irren, antreffen. Auch hier kann
man zweckmäßigerweise von einem Untergang der Persönlichkeit
sprechen. Es bedarf nur des bloßen Hinweises auf die hohe Zahl
senildementer Individuen unter den Sittlich keitsverbrechern, die sich
teils auf normale Sexualbetätigung beschränken, teils aber auch per¬
verser Natur sind. Wegen der physiologischen Impotenz des Alters
kommt es meist zu Handlungen, die in das zuletzt genannte Gebiet
fallen.
Während wir Gedächtnisschwäche, Halluzinationen (Visionen und
Akoasmen) und ethischen Defekt als Kardinalsymptome aufstellen
wollen, die die Diagnose „Dementia senilis“ sichern, kann weiterhin
eine Reihe von Beiwerk hinzutreten, z. B. neurasthenische Symptome
leichte Erregbarkeit, Weinerlichkeit usw. Ferner gibt es Perioden,
relativer Klarheit alternierend mit traumhafter Benommenheit, sogen.
Remissionsstadien von kurzer oder längerer Dauer. Beinahe typisch
ist das Mißtrauen solcher Kranken, das auch in ihren Halluzinationen
eine große Rolle spielt. Vereinzelt treten Perioden tiefster Melancholie
auf, die im Suieidversuch ihren Abschluß finden.
Die Prognose ist in allen Fällen infaust. Nur vereinzelt werden
jahrelange Remissionen beobachtet.
III.
Soviel über das Krankheitsbild der Dementia senilis, deren fo¬
rensische Beurteilung wir im folgenden studieren wollen. Die Krank¬
heit bevorzugt gewisse Kategorien von Verbrechen, was mit dem
ethischen und Intelligenzdefekt zusammenhängt. Folgende Gruppen
werden namentlich beobachtet:
1. Sexualdelikte;
2. Diebstähle;
3. Fahrlässige Brandstiftung;
4. Körperverletzungen;
1) Siehe weiter unten.
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i. Kurt Boas
5. Falsche Bezichtigungen;
6. Mordtaten;
7. Betrug;
8. Meineid *)•
Dazu kommt die wichtige zivilgerichtliche Frage der Testier-
und Dispositionsfähigkeit der an Dementia senilis leidenden Kranken.
Eine exakte Diagnose wird intra vitam in den seltensten Fällen
zu stellen sein, da der Nachweis feinster arteriosklerotischer organischer
Läsionen sich uns meist entzieht, so daß uns nur in den psychischen
Erscheinungen der Kranken ein Anhaltspunkt gegeben ist. Charak¬
teristisch ist die Art des Vorgehens senildementer Krimineller, die
Plumpheit und Unvorsichtigkeit, mit der sie zu Werke gehen. Ferner
die absolute Indifferenz, die sie nach Begehung der Tat an den Tag
legen.
Bei dieser Beschreibung drängt sich unwillkürlich ein Vergleich
mit der Dementia paralytica auf, über die wir auch an dieser Stelle
bei Erwähnung einer Mordtat das Wesentlichste gesagt haben, hierauf
aber in diesem Zusammenhänge noch einmal kurz zurückkommen
wollen. Beide Krankheiten haben zunächst das gemeinsam, daß sie
beide einen Untergang der Persönlichkeit zur Folge haben, eine Er¬
scheinung, die wir in gleich intensiver Weise bei keiner anderen
Geisteskrankheit beobachten. Bei Epilepsie, gewiß einer schweren
Krankheit, von den relativ seltenen Fällen der Dementia epileptica
abgesehen, kann die Intelligenz und der moralische Standpunkt absolut
normal, die Intelligenz sogar konzentriert sein. Bei Dementia praecox
kann man von einem Untergang der Persönlichkeit erst recht nicht
reden, weil eine solche niemals vorhanden war. In ihrem psychischen
Symptomenkomplex stimmen Dementia paralytica und Dementia senilis
auch sonst mehrfach überein. Schon der wenig charakteristisch ein¬
setzende Beginn beider Krankheiten, der dem Unerfahrenen leicht
eine Neurasthenie vortäuscht, ist ihnen beiden gemeinsam. Wenn ein
Paralytiker im Initialstadium zum Arzt kommt, so klagt er bzw.
seine Angehörigen über einen Merkdefekt, den wir bereits auch als
Kardinalsymptom der Dementia senilis kennen gelernt haben. Endlich
tritt bei beiden Krankheiten ein Defekt der Kritik und der Ethik auf,
der es oft zu Zoten und zu Sittlichkeitsverbrechen kommen läßt. Bei
beiden Krankheiten wird eine pathologisch gesteigerte Libido, mit der
freilich die fast stets geschwächte Potenz nicht Schritt halten kann,
beobachtet. Auch Visionen und Akoasmen treten bei beiden Krank-
1) Siehe darüber das oben (Seite 28) Gesagte.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II.
31
beiten auf, dagegen fehlen bei Dementia senilis die für Dementia para-
lytica geradezu typischen Größenideen. Bei der Dementia senilis fallen
ferner die paralytische Sprach- und Schreibstörung, schließlich auch
der paralytische Anfall, der dem Krankheitsbilde seinen Namen ver¬
liehen hat, weg.
Im vorstehenden ist die Differentialdiagnose zwischen Dementia
paralytica und Dementia senilis in großen Zügen und in ihren augen¬
fälligsten Abweichungen skizziert. Wir können aber nicht umhin in
eine nähere Besprechung dieser psychiatrisch und wohl auch forensich
wichtigen differential-diagnostischen Momente einzutreten, die in erster
Linie für die ganze Beurteilung der Sachlage, die Stellung der Prognose
dann aber auch für die Begutachtung in foro von äußerster praktischer
Bedeutung ist. In neuerer Zeit hat besonders Hell mann 1 ) die
Differentialdiagnose zwischen der speziellen Form der senilen Geistes¬
störung, der pathologisch-anatomisch gut charakterisierten Dementia
arteriosclerotica und der Dementia paralytica erörtert, indem er seinen
Betrachtungen den Fall einer 42jährigen Patientin zugrunde legt,
deren Krankengeschichte uns hier nicht interessiert. Wesentlich ist
für uns hier nur, daß Hellmann 2 ) in Übereinstimmung mit meinen
obigen Ausführungen drei differentialdiagnostische Momente nennt, die
ihm von erheblicher Bedeutung erscheinen, nämlich:
a) die Demenz,
b) die Sprachstörung,
c) die organischen Symptome beider Krankheitsformen.
Wenden wir uns zunächst der Demenz zu, so ist sie das beiden
Krankheiten gemeinsame psychische Hauptsymptom, das ihr den
Namen gibt. Es besteht bei beiden Krankheiten eine dauernde
Apathie, die in allen Registern auftritt von leichten psychischen Schlaff¬
heitszuständen bis zu den allerschwersten Hemmungserscheinungen.
Daneben oder vielfach als typischen Folgezustand sehen wir eine patho¬
logische Gedächtnisschwäche, die in den psychologischen Versuchen
von Lieske 3 ) und Schneider 4 ) in erschwertem Finden von Sach-
bezeichnungen, häufigem Klebenbleiben an einmal gefundenen Aus¬
drücken und rascher Ermüdbarkeit (die, wie oben bereits erörtert, so
oft die Fehldiagnose „Neurasthenie“ im Prodromalstadium der Dementia
paralytica verursacht), in die Erscheinung tritt. Dieser Zustand macht
gelegentlich kürzere oder längere Zeit anhaltenden Remissionen Platz.
Endlich ist die Urteilsfähigkeit dauernd gehemmt, es besteht ein aus-
1) Hellmann, Differentialdiagnose zwischen arteriosklerotischer Geistes¬
störung und progressiver Paralyse. Inaugural-Dissertation Freiburg 1905.
2) 1. c. S. 16. 3) 1. c. 4) 1. c.
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I. Kurt Boas
gedehnter Defekt der Kritik, der sich in einer vollkommenen Verkennung
der realen Tatsachen, in erster Linie des Krankheitszustandes äußert.
Immerhin bestehen in den psychischen Veränderungen bei
Dementia arteriosclerotica und Dementia paralytica gewisse feine Unter¬
schiede. Die Dementia arteriosclerotica trägt keinen progressiven
Charakter, der den Verlauf der Paralyse so typisch gestaltet, sondern
es treten nur einzelne Symptome mehr und mehr in den Vordergrund
des Symptomenkomplexes, sei es nun die erschwerte oder völlig auf¬
gehobene Gedankenassoziation, sei es ein heftiges Klebenbleiben.
Hell mann betont ferner, daß die psychischen Ausfallserscheinungen
bei Dementia arteriosclerotica stets isoliert bleiben im Gegensatz zur
Dementia paralytica, wo sie allgemein und diffuser auftreten. Diese
psychischen Ausfallserscheinungen und die Art ihres Auftretens scheinen
an die körperlichen Symptome, die bei beiden Krankheiten gleich¬
zeitig mit den psychischen Alterationen einhergehen, gebunden. Sie
treten isoliert bei der Dementia arteriosclerotica nur dann auf, wo ein
neuer Gehirnherd thrombotisch erweicht ist, worunter wir einen relativ
langsam ablaufenden Prozeß zu verstehen haben, bei der Dementia
paralytica dagegen allgemeiner und diffuser je nach der relativ größeren
Häufigkeit der paralytischen Parästhesien. Einen weiteren Unter¬
schied erblickt He 11 mann darin, daß die Dementia arteriosclerotica
nur gewisse genau umschriebene Nervenbezirke außer Funktion setzt
(z. B. auch das links gelegene Sprachzentrum), während die Dementia
paralytica gleichzeitig ein Werk der Zerstörung an allen psychischen
Funktionen beginnt.
Nach alledem scheint es ein Ding der Unmöglichkeit, eine
Differentialdiagnose zwischen Dementia arteriosclerotica und Dementia
paralytica lediglich nach dem vorhandenen Intelligenzdefekt zu stellen,
da sich die oben erwähnten feinen Unterschiede leicht verwischen.
Der einzig wirklich greifbare Unterschied ist in dem Verlauf gegeben,
der aber für eine Differentialdiagnose von relativ wenig Wert ist, da
wir zunächst eine sichere Diagnose stellen und erst in zweiter Linie
eine übrigens je nach der Schwere des Falles variable Prognose ab¬
geben inüssen.
Hell mann kommt dann zu einem weiterem Hauptsymptom der
Dementia paralytica, dem ethischen Defekt, und meint, er fehle bei der
Dementia arteriosclerotica, sein Vorkommen spreche also „immer noch
genügend“ für Dementia paralytica.
Diese fast apodiktisch ausgesprochene Behauptung, die sich auf
einen vom Verfasser beobachteten Fall stützt, bedarf einer starken
Einschränkung. Wenn man Dementia senilis gleich Dementia arterio-
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II.
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sclerotica setzen darf — und die pathologisch anatomischen Sektions¬
befunde an solchen Gehirnen geben uns dazu ein gewisses Recht —
so müssen diese beiden Formen des „Altersblödsinns“ auch in ihren
wesentlichsten Symptomen übereinstimmen. Nun haben wir oben
bereits gehört, daß sich neben dem gewöhnlichen Intelligenzdefekt bei
Dementia senilis ein Defekt auf ethischem Gebiet äußert und haben
als Beweis dessen die hohe Zahl Seniler unter den Sittlichkeitsver¬
brechern hervorgehoben. Wir haben weiterhin diesen ethischen Defekt
bei der Form der Dementia senilis, die mit ausgeprägtem arterio¬
sklerotischen Cerebralerscheinungen einbergeht, kennen gelernt bezw.
werden davon in dem unten mitzuteilendem Fall von Buch 1 ) noch
hören. Aus diesen Beobachtungen geht m. E. zur Genüge hervor,
daß der ethische Defekt bei Dementia arteriosclerotica keineswegs
eine Ausnahmeerscheinung darstellt, sondern zu den Alltäglichkeiten
gehört.
Kann man also dem Fehlen eines ethischen Defektes keine
differentialdiagnostische Bedeutung in dem Sinne zusprechen, daß sie die
Diagnose „Dementia arteriosclerotica“ sichert, so hat neuerdings Pick 2 )
nicht einmal den von Hell mann hervorgehobenen progredienten
Charakter der Dementia paralytica gegenüber der Dementia arterio¬
sclerotica anerkannt bezw. bestehen lassen. Er äußert sich in dieser
Frage wie folgt:
„Im allgemeinen gilt für die Paralyse der frühzeitige Schade, den
der Kern der Persönlichkeit genommen, im Gegensätze zur zerebralen
Arteriosklerose; demgegenüber möchte ich dem Empfinden Ausdruck
geben, daß jetzt die atypischen Paralysen (und zwar nicht bloß die
Lissauersche Form) häufiger werden, bei denen bis tief hinein
in den geistigen Verfall die Individualität sich intakt
erhält.“
Mithin gibt auch Pick zu, daß es wenigstens bei gewissen Formen
der Paralyse keinen Untergang der Individualität (die sich aus der
individuellen Intelligenz und Ethik aufbaut) gibt, ebensowenig wie
bei der Dementia arteriosclerotica.
Auf wie unsicherer Basis die Stellung einer Diagnose lediglich
vom Gesichtspunkt der Demenz ist, geht noch besonders daraus
hervor, daß auch ältere Neurastheniker arteriosklerotisch werden und
dann leicht eine Dementia arteriosclerotica vortäuschen können. (Pick.)
1) Buch, Ein Beitrag zur Lehre der senilen Geistesstörungen und ihrer
forensischen Bedeutung. Inaugural-Dissertation Kiel 1908.
2) 1. c. S. 28/29.
Archiv für Kriminalanthropologie. 87. Bd 3
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34
I. Kubt Boas
Daß sich Hellmann all dieser Schwierigkeiten nicht bewußt
wird, geht aus folgendem Satz hervor, der zu dem Vorkommen von
Sprachstörungen überleitet:
„Erheblich größere differentialdiagnostische Schwie¬
rigkeiten bietet nun ein anderes auffallendes Symptom“ usw.
Nach der dann von Hellmann gegebenen Schilderung will mir
scheinen, als ob die Sprachstörung eher eine Differentialdiagnose er¬
möglicht als der Intelligenzdefekt und der ethische Defekt. Die
Kranke, die Hell mann beobachtete, sprach, „als ob sie Klöße im
Munde hätte“, also eine Form von artikulatorischer Sprachbehinderung,
die weniger beim Hersagen einzelner Worte als vielmehr bei längerem
Sprechen deutlich in die Erscheinung tritt und die man als Dysarthrie
bezeichnet hat. Ferner war bei der Kranken eine motorische Aphasie
zu konstatieren, d. h. der teilweise Verlust des Wortgedächtnisses.
In den Fällen, mit denen wir uns im folgenden zu beschäftigen
haben werden, hat sich nichts von alledem gefunden, was etwa auf
ein häufigeres Vorkommen von Sprachstörungen hindeuten könnte.
Auch Pick äußert sich in seiner eingangs erwähnten Arbeit nicht
darüber. Wir haben daher das Auftreten einer Sprachstörung bei der
Patientin Hellmanns als einen Nebenbefund, oder wenn man will,
als atypisch aufzufassen. Ist aber eine solche vorhanden, so tragen
sie keineswegs etwa zur Erleichterung der Differentialdiagnose bei.
Hellmann selbst sagt, daß sich die Kombination von Dysarthie und
Aphasie, zweier im Grunde vollständig wesensverscbiedener Sprach¬
störungen, bei Dementia arteriosclerotica und Dementia paralytica
finden kann, indem sich bei letzterer die „literarische Ataxie“, das
Silbenstolpern, mit mehr oder weniger ausgeprägten Erscheinungen
aphasischen oder paraphasischen Charakters verbinden kann. Ein
Unterschied freilich besteht zwischen der Sprachstörung des Paraly¬
tikers und des an Dementia arteriosclerotica Leidenden: sie ist in der
Prognose gegeben, indem Hell mann meint, die Sprachstörung bei
Dementia arteriosclerotica trage stationären Charakter, die bei Dementia
paralytica dagegen progredienten und einen sich von Anfall zu Anfall
verschlechternden, doch auch hier lassen sich sehr schlecht Grenzen
ziehen, da es auf der anderen Seite Paralytiker mit sehr geringem
Silbenstolpern gibt.
Der markanteste Unterschied auf körperlichem Gebiet ist wie
bereits oben hervorgehoben in dem „paralytischen Anfall“ gegeben,
nicht etwa in dem Sinne, als ob er nur für die progressive Paralyse
charakteristisch wäre und bei Dementia arteriosclerotica fehlte. Es
liegt im Wesen einer jeden arteriosklerotischen Erkrankung, welch
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II.
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ein Organ sie auch immer befallen möge, daß dabei langsam vor sich
gehende apoplektische Insulte statthaben, die immer eine rechtsseitige
Hemiplegie zurückzulassen pflegen. Tritt eine solche bei zerebraler
Arteriosklerose auf, so können wir nach Hell mann fast immer eine
thrombotische Herderweichung in der Gegend der inneren Kapsel der
linken Seite annehmen. Der paralytische Anfall bietet ein ganz anderes
Bild dar. Der Anfall überrascht explosionsartig den Kranken. Teils
sind sie apoplektiformen, teils epileptischen Charakters. Es treten
dabei Lähmungserscheinungen ein, die aber ebenso rasch wie der An¬
fall selbst kam, wieder abklingen. Es ist also in der Verschieden¬
artigkeit des Einsetzens der Anfälle ein gewisses differentialdiagnostisches
Kriterium gegeben. Auch die psychischen Folgeerscheinungen eines
zerebral-arteriosklerotischen und eines paralytischen Anfalls kontrastieren
auffällig. Wenn wir die psychischen Ausfallserscheinungen als deren
wichtigste wir den Defekt der Intelligenz und den Defekt der Ethik als
beiden Krankheiten gemeinsam kennen gelernt haben, sowie das
Hauptsymptom der Dementia paralytica, das Verhalten der Sprach¬
störung, unmittelbar nach einem Anfall untersuchen, so finden wir bei
Dementia arteriosclerotica den Status quo ante, während wir eine
deutliche Verschlimmerung der paralytischen Symptome von Anfall
zu Anfall konstatieren können, sodaß wir auch hier wie bei den oben
besprochenen Symptomen dem progressiven Charakter der Dementia
paralytica gegenüber dem mehr stationären der Dementia arteriosclerotica
begegnen.
Die Untersuchung der Sehnenreflexe ist differentialdiagnostisch
so gut wie wertlos, da in dem Initialstadium der Dementia arterio¬
sclerotica und dem Prodromalstadium der Paralyse meist eine Steige¬
rung der Sehnenreflexe, woraus dann oft auf Neurasthenie geschlossen
wird, beobachtet wird. In einem späteren Stadium der Paralyse frei¬
lich sind die Sehnenreflexe nicht mehr auslösbar (auch nicht mittels
der Jendrassikschen Kunstgriffes), was durch die Degeneration der
Hinterstrangbahnen zu erklären ist, die zu einer Unterbrechung des
Reflexbogens führt. Bei der Dementia arteriosclerotica finden wir
nach Ablauf eines Anfalls eine deutliche Herabsetzung der Sehnen¬
phänomene.
Von größter Wichtigkeit ist der Pupillenbefund, der auch in dem
von He 11 mann mitgeteilten Fall sich als ausschlaggebend erwies und
die Diagnose „arteriosklerotische Psychose“ sicherte. Bei Dementia
paralytica beobachten wir eine absolute Pupillenstarre, die als Früh¬
symptom der Paralyse zu gelten hat. Wenn wir von Pupillenstarre
reden, so ist das im Grunde eine ungenaue Bezeichnung; wir ver-
3*
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I. Kürt Boas
stehen darunter in erster Linie die reflektorische Pupillenstarre, in
zweiter Linie das Auftreten von Pupillendifferenzen. Die reflektorische
Pupillenstarre kann entweder total sein, oder aber es besteht nur
Pupillenträgheit. Nichts von alledem findet sich bei Dementia arterio-
sclerotica. Bei den Kranken Hellmanns wurde folgender Pupillen¬
befund in der Klinik erhoben:
Pupillen mittelweit, beide gleich, reagieren auf Licht,
Akkomodation, Konvergenz und konsensuell. Im Anfall,
während die Kranke im tiefen Coma liegt und selbst auf Nadelstiche
keine Reaktion zeigt, sind die Pupillen vorübergehend sehr eng und
lichtstarr. Sehr bald erweitern sich die Pupillen wieder und zeigen
einige Zeit noch Pupillenträgheit. Bei öfters wiederholten Prüfungen
läßt sich keine Pupillendifferenz feststellen, die Pupillen sind mittel¬
weit, reagieren wieder prompt auf Lichteinfall.
Dieser für Paralyse atypische Befund widerspricht entschieden
der Diagnose „Paralyse“.
Im übrigen trennt Hellmann 1 ) die Dementia senilis von der
Dementia arteriosclerotica. Wir haben oben diese beiden Krankheits¬
bilder nahezu identifiziert. Dies bedarf doch einer gewissen Ein¬
schränkung, als wohl bei Dementia senilis fast stets gleichzeitig eine
Sklerose der Hirnarterien besteht. Andrerseits besteht doch ein ge¬
wisser Altersunterschied, da die Arteriosklerose nicht mit Notwendig¬
keit an ein hohes Alter gebunden ist. Es gibt schon 40 bis 50jährige
Arteriosklerotiker und wenn bei ihnen psychisch als Folge oder Be¬
gleiterscheinung eine Dementia auftritt, so können wir sie nicht gut
als „Dementia senilis“ qualifizieren. Nur so ist es noch zu verstehen,
daß Hell mann einen Unterschied zwischen den beiden eben ge¬
nannten Formen der Dementia konstruiert.
Auf seine weiteren Erörterungen einzugehen erübrigt sich. Es
kam mir nur darauf an, zu zeigen, wie nach dem damaligen Stand
der Wissenschaft eine Differentialdiagnose fast unmöglich erscheint.
Erst das von Wassermann inaugurierte und nach ihm benannte
Wassermann sehe Verfahren, die sog. Serodiagnostik, hat uns in den
Stand gesetzt, in komplizierten Fällen die Diagnosestellung wesentlich
zu erleichtern. Bekanntlich ist es Wassermann gelungen, mit Hilfe
der Serodiagnostik eine Blutreaktion zu finden, die beim Syphilitiker
prompt positiv, beim Nichtluetiker negativ ausfällt. Die Richtigkeit
dieser Probe ist bei 75 Proz. ca. aller Untersuchungen gefunden worden
Und nur gewisse Infektionskrankheiten, wie Framboesia und Schar¬
lach, geben gleichfalls eine positive Reaktion.
l) 1. c. S. 26.
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37
Nun besteht bekanntlich ein naher ätiologischer Konnex zwischen
Lues und Paralyse, und so nimmt es kein Wunder, daß die Wasser¬
mann sehe Reaktion bei einer großen Zahl von Paralytikern eben¬
falls positiv ausfällt. Wir haben daher in dem Ausfall der Wasser¬
mann sehen Reaktion eine gewisse diagnostische Handhabe. Es kommt
also darauf an, zu untersuchen, ob der positive Wassermann auch
bei Dementia senilis gefunden wird. Obgleich systematische Unter¬
suchungen darüber nicht vorhegen, glaube ich doch, daß der Befund
serodiagnostisch im allgemeinen ein negativer sein wird. Dennoch
bestehen zwei Möglichkeiten:
1. Kann der ganz seltene Fall eintreten, daß sich ein Mann in
älteren Jahren mit Lues infiziert und es im Anschluß daran zu einer
Lues cerebri kommen kann.
2. Kann sich ein Mann in älteren Jahren, der sich bereits im
Frühstadium der Dementia senilis befindet, mit Lues infizieren. Dieser
Fall besteht nicht nur in der Theorie, sondern ist auch aus dem
Grunde ganz gut denkbar, weil ihn seine gesteigerte Potenz oft in
die Hände von Dirnen fallen lassen wird.
3. Kann eine klinisch latente Syphilis bestehen, die keine Er¬
scheinungen macht, aber doch positiven Wassermann gibt.
Trotzdem diese Möglichkeiten gegeben sind, scheint mir doch der
Wassermann sehen Reaktion ein hoher Wert zuzukommen, gerade in
den Fällen, wo es sich um die Differentialdiagnose: Dementia senilis
oder Dementia paralytica? handelt. Freilich ist zu betonen, daß wir
von einem absolut sicheren differentialdiagnostischen Kriterium weit
entfernt sind.
Auch die Kriminalität des Paralytikers, die wir erst kürzlich an
einem von Steudemann' 2 ) berichteten Mordfalle ausführlich erörtern
konnten, weist mit der des Senildementen mannigfache Ähnlichkeiten
auf. Komplizierte Verbrechen, die Überlegung erfordern, sind bei
beiden Krankheiten ausgeschlossen, ebenso Verbrechen, die ein gewisses
Maß von Energie erfordern. Daher kommt es, daß gerade Mordtaten
bei Paralytikern und Senildementen zu den eminenten Seltenheiten
gehören. Alle anderen oben genannten Verbrechen, in erster Linie
Sexualdelikte und Diebstähle, die keine Überlegung oder Energie zur
Voraussetzung haben, kommen häufiger vor. Ihre Ausführung ist
durch die nämlichen Eigentümlichkeiten charakterisiert, wie die bei
1) Steudemann, Ein Paralytiker als Mörder. Inaugural-Disscrtation Frei¬
burg i. B. 1909.
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I. Kurt Boas
Dementia senilis: Plumpheit, keine Verwischungen der Spuren, An¬
zeichen, die schon einem psychiatrisch vorgebildeten Kriminalisten vom
Fach sagen müßten, daß hier ein Geisteskranker als Täter in Be¬
tracht kommt.
IV.
Außer dem eingangs berichteten Fall von Despine sind uns
noch folgende kasuistische Fälle aus der Literatur bekannt *)•
Zingerle 1 2 ) berichtet über einen 66jährigen Mörder, der des
Mordes an seiner Schwiegertochter im akuten Verwirrungszustande
der senilen Demenz angeklagt war. Die Krankheitssymptome be¬
standen bereits mehrere Monate und äußerten sich in abnormer Ängst¬
lichkeit, Verwirrungszuständen und Stimmungswechsel. Einmal tat er
die gänzlich unmotivierte Äußerung: „Hier werden alle erschlagen
und verbrannt“. Mit seiner Familie, mit der er früher stets im besten
Einvernehmen gelebt hatte, hatte er in letzter Zeit öfters Streitigkeiten.
Ohne daß solche vorhergegangen waren, ging er einmal mit der Spitz¬
hacke auf seine Schwiegertochter los und erschlug sie. Nach der Tat
äußert er: „Jetzt werden wir alle erschlagen werden“. Zwei Tage
darauf erzählte er ruhig den Hergang der Tat, meinte dann aber
wieder, der Teufel müsse ihn verwirrt haben. Stiert oft vor sich hin.
Im Gefängnis redet er viel von Feuer und Totschlag. Nach einem
Monat ist er wieder klarer, bereut seine Tat und fragt nach der er¬
mordeten Schwiegertochter. In großer Angst habe er das Verbrechen
begangen, es habe alles um ihn ringsumher gebrannt. Einen eigent¬
lichen Grund für seine Tat vermochte er nicht anzugeben. Er meinte,
er solle erschlagen werden und habe seine Schwiegertochter vorher
erschlagen müssen.
Bei der Aufnahme war Patient völlig unorientiert, glaubte, er sei
im Himmel. Weiß nicht, wie lange er in der Anstalt ist. Weiß nicht,
wo er ist, meint aus dem Grabe erstanden zu sein. Stimmen flüstern
ihm zu, er solle gebraten und aufgegessen werden. Er ist weinerlich
ängstlich, auf Fragen gibt er verworrene zusammenhangslose Ant¬
worten. Gedächtnis ist sehr schwach. Intelligenz sehr schwach.
„Die Woche hat 40 Tage.“ Rechenexempel werden falsch gelöst.
Die Verwirrtheit ist in ihrer Intensität wechselnd. Körperlich sind
Erscheinungen von Arteriosklerose zu konstatieren.
1) Siehe auch Nachtrag Seite 48.
2) Zingerle, Über Geistesstörungen im Greisenalter. Jahrbuch f. Psy¬
chiatrie und Neurologie 1899 Bd. XVIII.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II.
39
Bresler 1 ) gibt folgende Beobachtungen in seiner Arbeit, (zit.
nach Buch 2 )):
Anstalt
Be¬
richts¬
jahr
Alter
Ge¬
schlecht
Verbrechen
Diagnose
Urteil
München
1895
—
m.
Mord der Ehe¬
frau
Seniler Potator
Frei¬
sprechung
Bayreuth
1901
64
m.
Mordversuch an
der Ehefrau
Dementia seni¬
lis
Frei¬
sprechung
Hildesheim
1893
1
60
m.
Mord der Ehe¬
frau
Wahnidee der
Untreue
Suicid während
der Beobach¬
tung
Brieg
1893
78 :
w.
Aufforderung z.
Ermordung
des Sehwieger-
i sohnes, von
dem sie mi߬
handelt wor¬
den war.
Senile u. kon- i
stitutionelle
Minderwertig¬
keit
Frei¬
sprechung
y.
Ganz neuerdings hat nun Buch 3 ) aus der Kieler Psychiatrischen
Klinik einen hierhergehörigen Fall berichtet, der im folgenden aus¬
zugsweise mitgeteilt sei. Es handelt sich um den 1839 geborenen
Bentner P., der in die Klinik zur psychiatrischen Begutachtung wegen
eines an seiner Ehefrau begangenen Mordes eingeliefert wird.
Folgender Tatbestand lag der Anklage zugrunde:
Am Morgen des 5. November ist einigen Leuten aus der Nach¬
barschaft schon das unruhige Wesen des Angeklagten aufgefallen.
Er war unruhig und aufgeregt und beklagte sich über die Aufdring¬
lichkeit seiner Nachbarn. Er erklärte den Leuten, er wolle mit seiner
Frau allein sein und sagte zu denen, die im Hause zu tun hatten:
„Wenn ihr was zu tun habt, macht es jetzt, nun kommt kein Mensch
mehr rein“.
Am selben Morgen kam auch die Halbschwester seiner Frau zu
derselben zu Besuch, doch auch dieser verbot er den Zutritt ins
Haus. Beunruhigt durch das sonderbare Benehmen des Schwagers
bestellte diese sofort telephonisch den Arzt. Sie erwartete denselben
1) Bresler, Greisenalter und Kriminalität. Juristisch-Psychiatrische Grenz¬
fragen. Bd. V Heft 2—3, 1907.
2) Lothar Buch, Ein Beitrag zur Lehre der senilen Geistesstörungen und
ihrer forensischen Bedeutung. Inaugural-Dissertation Kiel 1908, 38 Seiten.
3) 1. c.
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40
I. Kurt Boas
bis 11 Uhr. Derselbe konnte jedoch erst nachmittags herauskommen.
Der Arzt untersuchte den P. und erklärte ihn für geisteskrank, ver¬
schrieb ihm Medizin und fuhr dann wieder fort. Dann verschloß und
verriegelte P. sein Haus und machte die Fensterläden zu. Die Frau
ist im Laufe des Tages noch einmal am Fenster gesehen worden.
Vor dem Hause liefen die Leute in großer Menge zusammen und
hörten wiederholt laute Stimmen aus dem Hause dringen, einmal
vernahmen sie unter anderem, daß die Frau ihren Mann bat, ihre
Verwandten ins Haus zu lassen. P. hat auf alle Bitten erwidert:
Morgen früh zwischen 8 und 9 Uhr sollten die Leute wiederkommen,
da würde er sie hereinlassen. Dann verzogen sich die Leute all¬
mählich wieder, als es drinnen ruhig wurde. Ein Versuch, die Tür
zu erbrechen und gewaltsam ins Haus einzudringen, ist nicht ge¬
macht worden.
Gegen 6 Uhr abends hörten Kinder aus der Nachbarschaft Ge¬
schrei aus dem Hause dringen. Da erst eröffnete man das Haus ge¬
waltsam. Als man eintrat, sah man P. auf den Boden laufen. In
der Wohnstube waren einzelne Blutstropfen am Boden zu sehen. An
der Diele vor derselben lagen Unterhosen, Kragen und Nachthemd
des P., alles stark mit Blut besudelt. In der Küche findet sich am
Boden eine einzige große Blutlache, dabei blutige Lumpen. Auf dem
Tische daselbst steht ein Gefäß mit Blut. Der Umhang der Frau be¬
findet sich auf einem Stuhle daneben. Die Leiche fand man im Keller.
Nach der Tat fand man den Mann fast unbekleidet auf dem
Boden, sich ein Messer nahe an den Hals haltend. Bei der Festnahme
soll er sich nicht gewehrt haben, machte jedoch noch den Versuch,
ein Rasiermesser zu sich zu stecken.
Er äußert sich bei der Vernehmung: „Ich mußte es ja doch, sie
klopfen schon, es waren ja zwei Männer, die wollten ihr doch was;
ich mußte ja doch!“
Als er nach der Tat gefragt wurde, meinte er: „Ich habe ihr
die Kehle abgeschnitten, ich mußte es ja doch, denn von vorn und
hinten sind sie ja gekommen. Man wollte sie doch wegbringen nach
Fr. Ich mußte es ja doch tun“.
Wahrscheinlich hat P. vorher Streitigkeiten mit seiner Frau in
Geldangelegenheiten gehabt. Denn Frau S., die Schwägerin des
Mannes, hatte noch am Morgen des Mordtages zwei Sparkassenbücher
im ungefähren Werte von 1000 Mark von der Frau erhalten, die er
ihrer Ansicht nach wahrscheinlich gesucht. Beim Abgeben dieser
Sparkassenbücher hatte die Ermordete noch gesagt: „Nimm die Bücher
mit, sonst nimmt er die auch noch weg“.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II.
41
Im Frühjahr hatte der Mann das Haus gekauft, dazu 5000 Mark
auf der Sparkasse gekündigt, aber das Geld schließlich doch stehen
lassen, dafür aber das Geld seiner Frau abgehoben.
In der Familie des P. soll vor etwa 8 Jahren schon einmal eine
Frau wegen Mordversuches zu Zuchthaus verurteilt worden sein.
Nach dem Bericht eines Verwandten hat sich vor längerer Zeit ein
Bruder des P. in einem Anfall von Wahnsinn durch Erhängen das
Leben genommen — er glaube ins Armenhaus zu müssen und hinter¬
ließ dabei ein Vermögen von 15000 Mark. Ferner sind zwei Nichten
in plötzlicher Geistesstörung ohne nachweisbare Ursache durch Suicid
geendet. Ein zweiter Bruder des P. ist im vorigen Jahre in O. ge¬
storben, wo er als geiziger Sonderling lange Jahre gelebt haben soll.
Sonst ist anamnestisch nicht viel mehr zu erfahren. Nach Aus¬
sage desselben Verwandten soll P. in seiner Jugendzeit viel unter
Angstträumen und Schlaflosigkeit gelitten haben. Die Verwandten
wollen auch in der letzten Zeit keinerlei Anzeichen von Geistesstörungen
wahrgenommen haben. Die Frau soll an Blutandrang im Kopfe und
Schwindelgefühl gelitten haben. Im Frühjahr hatte sie einen Schwindel¬
anfall durchgemacht und war infolgedessen teilweise gelähmt und sehr
schwerhörig. Sie wird als zänkisch und mißtrauisch geschildert.
Wegen einer entlaufenen Adoptivtochter soll es häufig zu Streitigkeiten
zwischen den beiden Eheleuten gekommen sein. Beide, P. und seine
Frau, sollen sehr geizig gewesen sein und soll es oft Zwistigkeiten
wegen pekuniärer Angelegenheiten gegeben haben.
P. soll stets als ein guter, nicht jähzorniger Mann bekannt ge¬
wesen sein, der sich früher nie habe etwas zuschulden kommen lassen.
Nach Bericht des Kreisarztes hat P. die Frau dadurch getötet,
daß er ihr mit einem nicht sehr scharfen Taschenmesser den Hals
bis auf die Wirbelsäule durchschnitten, ihr außerdem über beide Puls¬
adern geschnitten und dabei die rechte durchtrennt habe. Dann hat
er sie in den Keller geworfen. Eine Nachbarin erzählte, daß ihr das
sonderbare Wesen des P. in den letzten Tagen vor der Tat auf ge¬
fallen sei. Unruhig sei er umhergelaufen und habe geäußert, man
werde ihn nun bald fortbringen. Zwei Tage vor der Tat soll er den
Stationsvorsteher gebeten haben, zu seinem Schutze per Telephon Jäger
von Ratzeburg kommen zu lassen. Er wurde zwei Stunden nach
Ausführung der Tat örtlich und zeitlich vollkommen unorientiert ge¬
funden. Er wußte nicht, daß er im Gefängnis war. Auch Monat
und Jahr konnte er nicht angeben. Der ganze Vorgang seiner schreck¬
lichen Tat war anfangs seinem Gedächtnis entschwunden. Erst als
ihm der Arzt von dem Leichenfund erzählte, fing er an, sich derselben
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42
I. Kubt Boas
etwas zu erinnern. Er erklärte, daß er seiner Frau in den Hals ge¬
schnitten habe.
Als er nach dem Grunde für die Ausführung der Tat gefragt
wird, berichtet er, Verwandte aus 'H. seien dagewesen und hätten
Geld von ihm haben wollen. Da er nichts herausgeben wollte, habe
ihn seine Frau dazu überreden wollen. Seine Verwandten, auch die
aus dem Orte, seien oft vor das Haus gekommen, um ihn heraus¬
zulocken, um dann sein Haus aufmachen lassen zu können. Seine
Frau habe ihnen durch Klopfen am Fenster ihr Einverständnis zu
verstehen gegeben, jedoch habe er die Tür zugehalten, um die Ver¬
wandten nicht einzulassen. Gefragt, ob ihn die Tat nicht reue, ant¬
wortete er: sie reue ihn nicht; sie tue ihm nicht leid; seine Frau habe
ja den Mund nicht halten können.
P. soll bei der Unterredung zuweilen auf eine bestimmte Stelle ins
Zimmer gestiert, oft den Zusammenhang im Gespräche verloren haben
und unvermittelt von einem Punkte auf einen anderen übergesprungen
sein. Dies war das Verhalten des Patienten am Abend des Mordtages.
Am 7. November soll er dann immer noch geistesabwesend ge¬
wesen sein. Den Arzt, den er schon mehreremals gesehen, erkennt
er nicht wieder. Starrt ins Leere, ohne auf an ihn gestellte Fragen
zu antworten. Weiß an diesem Morgen nichts von seiner Tat, meint
seine Frau wäre in Fr.
In den nächsten Tagen soll er dann unruhig geworden sein.
Ist den ganzen Tag über in der Zelle umhergelaufen, hat nachts wenig
geschlafen, erzählte, seine Frau wäre vom Nachtwächter kastriert und
nachher vor den Kopf geschlagen worden. Meinte immer noch, seine
Frau wäre in Fr.
Am 11. November wurde er in die Kieler Psychiatrische Klinik
gebracht. Ärztlicherseits war in R. die Diagnose auf halluzinatorische
Verrücktheit gestellt.
Aus dem Aufnahmebefund v. ll.Nov. der Kieler Psychiatrischen
Klinik, den Buch in allen Einzelheiten mitteilt, sei nur das wichtigste
hervorgehoben Pupillen mittelweit, reagieren auf Lichteinfall, wenn
auch träge. Konvergenzreaktion positiv, ebenfalls träge. An der
Zunge und den Händen leichter Tremor. Kniephänomene positiv. Rom¬
berg negativ. Hautreflexe meist nur schwach auslösbar. An den
anderen Organen deutliche Alterserscheinungen.
Patient gibt auf Befragen zu, seine Frau getötet zu haben und
motiviert seine Tat damit, daß sie leidend war. Er macht einen
ängstlichen Eindruck. Bei allen Fragen schließt er die Augen, muß
sich lange besinnen.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II.
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Auf Fragen nach dem Datum gibt er verworrene Antworten, Aus¬
künfte über seine Person gibt er richtig an. Einfache Rechenexempel
(3 X 6 = 7) kann er nicht lösen. Um sein Begriffsvermögen zu prüfen,
fragt man ihn, was Nadelstiche sind? 1 ) Er antwortet: „Ein Instrument“.
Als er die Zunge zeigen soll, schiebt er nur die Lippen rüsselförmig zu.
Wehrt sich heftig gegen passive Bewegungen.
Anfangs verhielt er sich unruhig, mußte aber, als er fortwährend
aus dem Bett heraus wollte, isoliert werden.
Er brüstet sich mit seiner Teilnahme am Krieg 1870/71. Über
seine Frau machte er die verschiedensten Angaben. Einmal meinte
er, sie sei etwas verrückt, dann erzählt er, sie habe als Freudenmädchen
viel Geld verdient. Dann wieder, sie sei ihm wiederholt fortgelaufen,
er habe sie öfters deswegen eingesperrt, „damit sie keine dummen
Dinger mache“.
12. XI. Örtlich und zeitlich ist Patient zum Teil orientiert. Er
weiß wohl, daß er im Krankenhaus ist, aber nicht wo. Monat und
Jahr gibt er richtig an, weiß dagegen nicht, seit wann er in der An¬
stalt ist. Rechenexempel löst er heute besser wie gestern. Nach der
Frage, ob er unter den Mitpatienten Bekannte hätte, deutete er auf
einen Jungen und einen anderen Kranken hin, der bei S. gedient
hätte. Tagsüber klar, nachts ruhig.
13. XI. Als er nach seiner Tat gefragt wird, gibt er an, der
Nachtwächter habe es mit dem Beil getan und säße dafür schon im
Gefängnis. Seine Frau sei immer „fahnenflüchtig“ gewesen, darum
habe er sie eingesperrt. Seine Frau sei in den Keller gepurzelt, da
sie stark und dick war, da habe ihr dann der Mann eins mit dem
Beile gegeben. Seit 14 Tagen hätten die Leute in sein Haus dringen
wollen. Junge Leute hätten ihn im Hause eingeschlossen. Er habe
Stimmen gehört: Der Nachtwächter schlägt einen tot für Honig.
Hier höre er keine Stimme. Abends gibt er zu, seine Frau unter
Beihilfe eines Nachbars getötet zu haben. Das Messer sei hier. Sie
wollte Geld von ihm haben. Als er gefragt wird, ob er einmal geistes¬
krank war, meint er: „Zuletzt geworden durch den kommenden Ärger.
Mußte doch Essen kochen, Frau konnte doch nicht“. Auf die Frage
1) Gegen diese Art von Intelligenzprüfung muß man einwenden, daß sie
an den Patienten entschieden zu hohe Anforderungen stellt. Selbst der Gebildete
wird sich oft über den Zweck der Fadelstichprüfung, die bekanntlich zur Prüfung
der Sensibilitätsverhältnisse vorgenommen wird, nicht klar sein. Die Antwort
des Pat., der Nadelstich sei ein „Instrument“, ist daher gar nicht übel. Trotzdem
sollte man von der Stellung solcher Fragen, die doch ein gutes Maß Intellekt und
Beobachtungsvermögen voraussetzen, absehen. Boas.
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44
I. Kuet Boas
des Arztes, ob er ihn schon gesehen habe, meinte er: „Sie waren
doch da. Sind der Barbier von R. J ) Sie können schröpfen“. Den
anwesenden Oberarzt nennt er mit richtigem Namen. Er glaubt in
Fr. zu sein. Später erzählte er, er wolle nach M. wegen Geld. Man
habe bei ihm zu Hause die Tür aufgebrochen, er habe es vorgestern
gesehen, als er mit dem Gendarm vorbeigekommen sei ' 1 2 ). Sagt dann
geheimnisvoll zum Arzt: „Das übrige wird doch besorgt, sie sind ja
alle vereidigt, damit die Brauerei an das Geld nicht heran kann“.
Schreibt außerdem einen konfusen Brief.
14. XI. Er erzählt, Leute hätten vor seinem Hause gestanden und ihn
und seine Frau nicht herauslassen wollen. Deshalb habe er um Schutz
durch Ratzeburger Jäger gebeten. Stimmen habe er nicht gehört,
seine Frau habe immer an das Fenster geklopft. Seine Frau sei
krank im Kopfe gewesen. Jetzt sei sie tot, der Nachtwächter habe
ihr mit einem Beile den Schädel eingeschlagen.
16. XI. Pat. ist ruhig. Erzählt Geschichten aus seiner Jugend.
Es solle ein Gesuch für ihn an die Regierung in Sch. eingereicht
werden. Gibt zu, seine Frau in die Kehle gestochen zu haben; der
Nachtwächter aber habe sie erst völlig getötet.
17. XI. Erzählt, 20—30 junge Leute hätten das Haus umstellt
und die Frau nicht herausgelassen, sonst hätte er sie nach Sch. ge¬
bracht. Sie habe nicht zu Hause bleiben wollen, sondern fort gewollt.
Hätte er ihr nicht den Hals abgeschnitten, würde sie ihn angegriffen
und geschlagen haben. Er sei doch immer ein schwacher Mann ge¬
wesen und habe Angst vor ihr gehabt. Wenn sie aufgeregt werde,
steige ihr das Blut zu Kopfe und sie macht Skandal, schlägt nach
ihm mit dem Stocke. Einen Schlaganfall habe sie auch schon ge¬
habt (s. oben S. 41). Er habe früher zugreifen müssen, sie in eine
Irrenanstalt zu bringen. Im Krankenhause zu R. wolle man sie nicht
haben. 1905 sei die Frau in der Anstalt H. gewesen für 4—6 Wochen.
Wegen des hohen Preises habe er sie zurückgeholt. Sie war „ohn¬
mächtig“ und wurde elektrisiert. Es war ein Bad für Kalt- und
Warmwasser. Eine Baronin mit ihrem Sohne war auch da. Es gab
auch Sonnenbäder. Jetzt habe die Frau zur Schwester gewollt. Da-
1) Diese Antwort ist so zu erklären, daß die Barbiere wie die Ärzte weiße
Mäntel tragen. Außerdem mag eine gewisse Ähnlichkeit zwischen P.s Barbier
und dem Arzt tatsächlich bestanden haben. Boas.
2) Ein typisches Beispiel für die retrograde Amnesie des Senildementen.
Zwei tatsächliche Geschehnisse, die zeitlich getrennt auseinander liegen, werden
durcheinander geworfen. So entsteht die „Verworrenheit" des Kranken, die in
diesem Falle nichts weiter ist als ein ausgeprägter Merkdefekt. Boas.
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Forensisch psychiatrische Kasuistik. II.
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mit waren die Leute draußen vor der Tür nicht einverstanden ge¬
wesen. Dann hätte man ihn im Käfig gehabt. Ihn aber ließ man
auch nicht heraus. Aber besser wäre es gewesen, er hätte seine Frau
gehen lassen.
Der Ortsvorsteher habe ihn mit Totschlag bedroht 1 ). Der Nacht¬
wächter sei hereingekommen, als die Leute draußen die Tür auf¬
schlugen. Die Frau wäre schon in den Keller gepurzelt und er hätte
sie in den Hals geschnitten, damit sie nicht schreien sollte. Er habe
das so im Wirrwarr und Wahn getan, habe sie nicht mit dem kleinen
Messer töten können. Er sei durch das aufgeregte Benehmen der
Frau verwirrt worden. Er habe ihr immer nachgegeben, aber ohne
Erfolg. Der Nachtwächter muß dann hereingegangen sein und mit
dem Beil die Frau erschlagen haben. Es habe denselben über eine
Gartenplanke springen sehen. Der Frau wäre Stirn und Nase ge¬
spalten gewesen. Das habe er nicht getan. Auch das Blut sei erst
nachher von der Beinmachefrau B. in den Topf getan. Die Bauern
aus S. hätten die Frau nicht aus dem Hause gelassen, um ihn zu ärgern,
weil er Äußerungen über die Meierei getan haben sollte, als hätte die
Gesellschaft Betrug verübt. Die Frau habe mit der Schwester nach
den anderen Leuten gehen wollen. Er habe aber die Frau nicht
herauszulassen gewagt, weil neben derselben alle anderen Leute aus
S. standen, die ihn nicht herauslassen wollten und die Tür geschlossen
hatten. Der Zorn der Dorfbewohner gegen ihn bestände seit 2—3
Wochen.
Der Maurermeister 0. habe sich von seinem Geld von der Spar¬
kasse geholt. Er habe das Sparkassenbuch plötzlich vermißt.
Bei der ersten klinischen Vorstellung am 14. XI. ist er über Zeit
und Ort wieder orientiert, gibt Datum, Jahreszahl und seinen Namen
richtig an. Weiß, daß er sich im Krankenhaus befindet. „Mitunter
geht einem der Kopf dabei weg durch das Sinnen und Grübeln.“
Auf Befragen, worüber er grüble, meint er: „Ja mit meiner Frau."
Als er aufgefordert wird seine Tat zu berichten, erzählt er. Seine
Frau ist tot, das Blut sei ihr ins Gehirn gestiegen. Sie sei nerven-
1) Auch der Kranke Despines äußerte (siehe oben), er solle erschlagen
werden, darum hätte er vorher seine Tochter erschlagen müssen. Eine bemerkens¬
werte Analogie. Im übrigen ist es auffallend, mit welch phantastischem Beiwerk
der Kranke die mysteriöse Geschichte mit dem Nachtwächter aussehmückt. In
den ersten Tagen registriert er bloß die Beihilfe desselben bei der Mordtat, ohne
nähere Einzelheiten oder gar Erklärungen zu geben, bis er dann eine ihm plau¬
sibel erscheinende Geschichte erfunden hat, um sich auf Konto des Nachtwächters
zu entlasten. Die schwachen Punkte seiner Rechtfertigung, die dem Normalen
sofort in die Augen springen, kommen ihm gar nicht zum Bewußtsein. Boas.
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I. Kurt Boas
leidend gewesen. Sie habe hinausgewollt. Es seien junge Leute
draußen gewesen, die wollten sie nicht herauslassen. Die Leute habe
er nicht gekannt, sie wären aus anderen Ortschaften gewesen. Was
sie wollten, wisse er nicht. Er habe aber alles gesehen, wisse aber
nicht, was es zu bedeuten habe. Abholen wollten sie dieselbe nicht.
Einmal habe er gehört, daß drei Dachpfannen herausgenommen
wurden. Die Schwester seiner Frau, die auch dagewesen, hätten die
Leute nicht hereinlassen wollen, dieselben hätten die Tür abgeschlossen,
er habe nicht helfen können. Das sei Freiheitsberaubung. Die Frau
sei wahnsinnig gewesen, habe immerzu gerufen: „Helfe mir.“ Er
habe sie dann in die Küche „hineingeschubst“ und ihr die Kehle an¬
geschnitten. Der Nachtwächter hätte ihr dann den Kopf abgeschlagen.
Habe nichts mit ihr anfangen können. Sie habe immer „gegröhlt.“
Er sei auf dem Boden gewesen, um nachzusehen, ob Leute auf dem
Boden wären.
Bei der zweiten klinischen Vorstellung am 18. XI. gibt er folgen¬
des an: Seine Frau sei krank gewesen, habe an Blutandrang im
Kopfe gelitten. Seit 14 Tagen wären Leute vor das Haus gekommen,
die erst abends wieder fortgingen. Was sie gewollt hätten, könne er
nicht sagen. Ob sie Geld wollten, wisse er nicht. Die Frau sei am
5. XI. gestorben, „er habe ihr ein bißchen an der Kehle getan“. Als
er auf dem Wagen gesessen, kam der Nachtwächter und sagte zu
ihm: „Du bist ein feiger Kamerad“ und habe dann der Frau den
Best gegeben. Der Arzt sei vorher dagewesen *), habe seine Frau
1) Auch diese Angabe ist, wie die Anamnese (siehe oben) zeigt, richtig
und wird hier nur vom Pat. in anderem Zusammenhang herangezogen. Im
übrigen ist hier der Ort, auf das Verhalten des Arztes hinzuweisen, das schärfste
Kritik herausfordert und zum mindesten als grobe Fahrlässigkeit bezeichnet
werden muß. Mag er Hausarzt des P. gewesen sein oder nicht, es hätte ihm der
eigentümliche Zustand des P. auffallen müssen. „Geisteskrankheit“ ist keine wissen¬
schaftliche Diagnose. Der Arzt begnügt sich mit Verordnung eines Schlaf¬
mittels (!!), anstatt Anordnungen zur genauen Überwachung des P. zu geben,
wodurch das Unglück verhütet worden wäre. Wenngleich auch eine Überführung
in ein Krankenhaus vielleicht noch nicht mit absoluter Notwendigkeit indiziert
war, so hätten doch primitive Maßregeln zu des Pat. und seiner Familie Schutz
getroffen werden müssen. So gibt z. B. Ziehen den in seiner Einfachheit so
beherzigenswerten Rat, einen Geisteskranken mit akuter Psychose niemals allein
zu lassen, sondern ihn durch zwei handfeste Männer bewachen zu lassen. Würde
z. B. in diesem Falle diese Maßnahme befolgt sein, so wäre es schwerlich zu dem
Verbrechen gekommen. Da werden immer wieder Vorschläge zur Bekämpfung
der Gemeingefährlichkeit Geisteskranker gegeben, wo selbst Ärzte der einfachsten
Situation nicht Herr sind und versagen! Mir ist in diesem Fall nicht zweifelhaft,
wer hier mehr Schuld auf sein Haupt geladen hat, der geisteskranke Patient oder
der psychiatrisch ungenügend vorgebildete Arzt. Boas,
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II.
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in die Irrenanstalt schicken wollen. Er habe seiner Schwägerin das
Haus nicht verboten. Das Blut habe anderen Tags die Schuhmächers-
frau in den Topf getan. Es seien gleich junge Leute hereinge¬
kommen, noch ehe die Frau tot war. Er habe keinen Menschen ge¬
habt, die Frau fortzubringen. Als er auf dem Wagen gesessen (d. h.
als er nach dem Gefängnis gebracht wurde) sei der Nachtwächter im
Garten gewesen. Die Bauern aus S. seien zu dumm. Drei „Damens“
hätten ihm auch noch nachgeguckt.
VI.
Aus der Epikrise oder besser Gutachten, das Buch in extenso
mitteilt, sei hier zwecks Vermeidung von Wiederholungen nur das
Wesentli ch ste h ervorgeh oben.
Daß bei Pat. eine Dementia senilis vorhanden ist, darüber lassen
die körperlichen und geistigen Symptome wohl kaum im Zweifel.
Es besteht eine gewisse Heredität, indem ein Bruder des Pat. gequält
durch Verarmungsvorstellungen Selbstmord beging, ebenso zwei
Nichten in einem Anfall von „plötzlicher Geistesstörung“. Ein anderer
Bruder des Pat. ist als Sonderling und Geizhals verschrieen. Es ist
die Annahme nicht von der Hand zu weisen, daß diese Heredität
einen günstigen Nährboden für die jetzige Erkrankung des Pat. ab¬
gegeben hat. Schon als junger Mensch wird er als nervös und von
nächtlichen Angstträumen (Pavor nocturnus) gequält geschildert. Bis
einige Tage vor der Tat bot er ein durchaus normales Verhalten dar.
Dagegen fiel Nachbaren in der allerletzten Zeit sein sonderbares Be¬
nehmen auf. Er äußerte, man werde ihn bald fortbringen; er erbat
sich vom Stationsvorsteher Ratzeburger Jäger zu seinem Schutze und
ähnliche gänzlich unmotivierte Äußerungen und Handlungen.
Die körperlichen Erscheinungen deuten auf eine allgemeine
Arteriosklerose hin, an der auch das Gehirn beteiligt ist. Letztere
tritt zutage in zumeist körperlichen Ausfallserscheinungen (Kopf¬
schmerzen), vor allem aber in psychischen Alterationen, die mit den
physiologischen Alterserscheinungen des Gehirns nichts mehr zu tun
haben. Sie äußern sich in einem Defekt der Kritik, eines Merkdefekts,
einer Interesselosigkeit für die Dinge, die um ihn her gehen, und in
einem ethischen Defekt, der durch Aufhebung der sittlichen Regungen
und Hemmungen die Mordtat veranlaßt hat. Außerdem besteht zu¬
weilen leichte Hemmung.
Bei dem starken Intelligenzdefekt ist es nicht verwunderlich, daß
er bei Rechenexempel oft versagt. Allerdings ist er hier dem Stimmungs¬
wechsel stark unterworfen. Sein Merkdefekt läßt ihn Personen ver-
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I. Kurt Boas
kennen, mit denen er täglich zu tun; andrerseits glaubt er in Mit¬
patienten frühere Bekannte zu sehen. Besonders stark tritt der Merk¬
defekt in den Erzählungen über seine Bluttat zutage. Anfangs vermag
er sich derselben überhaupt nicht zu entsinnen, später erfindet er —
vermutlich unter dem Einfluß von Visionen — die Geschichte mit
dem Nachtwächter, dem er eine ganz merkwürdige Rolle bei der
Tat zuerteilt. Er (Pat.) gibt zu, ihr einen Messerstich versetzt zu
haben, als der aber, nicht gleich den Tod herbeiführte, habe der
Nachtwächter die Frau vollständig getötet, nachdem er sie vorher
„kastriert“ habe. Alles angeblich auf Anordnung des Ortsvorstehers.
Wahrscheinlich ist jedoch die Geldaffäre (s. oben) mit im Spiele
gewesen.
In typischer Weise sind bei P. Verfolgungsideen und Visionen
aufgetreten, Akuasmen dagegen weniger. Er glaubt, daß Bauern —
ihm ganz unbekannte Leute — in sein Haus eindringen wollen.
Seine Frau wollen sie nicht herauslassen. Der Ortsvorsteher droht
ihm an, ihn ermorden zu lassen. Er spricht von Freiheitsberaubung
und dgl. mehr.
Alles in allem eine Dementia senilis in fortgeschrittenem Stadium.
Würden selbst all die geschilderten Symptome nicht so manifest in
die Erscheinung treten, so deutet doch die ganze Art, wie P. den Mord
ausführte, allein schon auf eine geistige Erkrankung hin. Man kann
sagen, daß P. gar nicht ungeschickter hätte zu Werke gehen können.
Er lenkt vor Begehung der Tat die allgemeine Aufmerksamkeit auf
sich, er versucht gar nicht, die Spuren des Verbrechens zu beseitigen,
sondern führt die Verfolger selber auf die Spur, indem er einen Topf
mit Blut sammelt und ihn auf den Tisch stellt. Auch die Natur der
schweren Körperverletzung, die P. der Frau beibringt, ist auffallend.
Die Tat selbst ist in einem Anfall von akuter Paranoia geschehen.
Infolgedessen kam das Gutachten zu dem Schluß, daß P. bei Be¬
gehung der Tat geisteskrank war und demnach nach § 51 R.St.G.B.
zu exkulpieren sei. Auf Grund dieses Gutachtens erfolgte Frei¬
sprechung.
Nachtrag.
Als die vorstehende Arbeit bereits abgeschlossen war, kam mir
noch eine kurze Notiz Näckes 1 ) zu Gesicht. Näcke betont eben¬
falls die Seltenheit von Morden und Attentaten bei Psychosen im
Greisenalter. Zugleich berichtet er über einen im „Alienist and Neu-
1) Näcke, Greisenalter und Verbrechen. Dies Archiv 1909, Bd. XXXIII,
S. 356.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II.
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rologist 1909 S. 91“ mitgeteilten Fall. Ein 84jähriger Greis tötete
in der Eifersucht im Hause seine 83jährige Frau, versuchte dann sich
selbst zu entleiben und verletzte sich dabei lebensgefährlich. Näcke
bemerkt dazu: „Es ist leider nicht gesagt, ob diese Eifersucht patho¬
logisch war oder nicht und ob der Täter sonst krankhafte psychische
Symptome darbot“. Mir selbst scheint der Fall dem von Despine 1 )
analog zu sein, wo auch die Eifersucht als Folge der gesteigerten
Libido neben der eigentlichen Dementia senilis die Mordtat auslöste.
Näcke erklärt sich mit Recht diese Eifersucht aus zwei Ursachen:
entweder aus gesteigerter Libido (meist, nicht immer bei geschwächter
Potenz), wie sie physiologischerweise, besonders aber bei Dementia
senilis vorkommt, und chronischem Alkoholismus 2 ).
Literatur.
1. Boas, Begehung von Mordtaten durch einen Paralytiker, nebst all¬
gemeinen Bemerkungen zur Kriminalität des Paralytikers. Vgl. folgende Arbeit.
2. Bresler, Greisenalter und Kriminalität. Juristisch-Psychiatrische Grenz¬
fragen, Bd. V Heft 2—S, 1907.
3. Buch, Ein Beitrag zur Lehre der senilen Geistesstörung und ihrer fo¬
rensischen Bedeutung. Inaugural-Dissertation Kiel 1908, 38 Seiten.
4. Despine, Psychologie naturelle. Bd. II, S. 598.
5. Hell mann, Differential diagnose zwischen arteriosklerotischer Geistes¬
störung und progressiver Paralyse. Inaugural-Dissertation Freiburg i. B. 1905
30 Seiten.
6. Lieske, Beitrag zur Untersuchung der Merkfähigkeit im hohen Greisen¬
alter. Inaugural-Dissertation Rostock 1907, 40 Seiten.
7. Näcke, Greisenalter und Verbrechen. Dies Archiv 1909, Bd. XXXIII,
S. 356.
8. Pick, Initialerscheinungen der cerebralen Arteriosklerose und kritische
Erörterung ihrer Pathogenese. Sammlung zwangloser Abhandlungen aus dem
Gebiete der Nerven- und Geisteskrankheiten 1909, Bd. VIII, Heft 8.
9. Schneider, Über die Auffassung und Merkfähigkeit bei Altersblödsinn.
Kräpelins psychologische Arbeiten 1900, Bd. III, Heft 3.
10. Steudemann, Ein Paralytiker als Mörder. Inaugural-Dissertation Frei¬
burg i. B. 1909.
11. Zingerle, Über Geistesstörungen im Greisenalter. Jahrbuch für Psy¬
chiatrie und Neurologie 1899, Bd. XVII.
1) 1. c.
2) Vgl. Boas, Alkohol und Unzurechnungsfähigkeit. Monatsschrift für
Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 1908, Bd. IV, S. 698.
Archiv für Kriminalanthropolo^ie. 37. Bd.
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I. Kurt Boas
IT. Kasuistische Beiträge zum Kapitel der Mordtaten.
Einleitung.
Im folgenden soll eine Reihe kasuistischer Mordfälle Besprechung
finden, die in ihren besonderen Nebenumständen nicht gerade zu den
Alltäglichkeiten gehören und darum ein gewisses Interesse beanspruchen
dürften. Bemerkenswert ist vor allem die Ätiologie der Mordfälle,
die im ersten Falle durch eine Dementia paralytica, in den beiden
anderen } ) durch reichliche Exzesse in baccho gegeben ist, dann aber
auch durch die besonderen Begleiterscheinungen, die be¬
sonders in dem ersten Fall des Paralytikers so außerordentlich charak¬
teristisch, beinahe typisch und dem ganzen Krankheitsbild so konform
in die Erscheinung treten. Nicht minder interessant dünken mir die
beiden anderen Fälle, obwohl ihr Zustandekommen geklärt sein dürfte.
Immerhin ergeben sich doch auch hier eine Reihe von praktisch¬
forensisch wichtigen Punkten, die mir ihre ausführliche Mitteilung
berechtigt erscheinen lassen.
T.
Begehung von Mordtaten durch einen an Dementia
paralytica Erkrankten.
Im ersten Fall handelt es sich um eine von Steudemann'-)
aus der Freiburger Psychiatrischen Klinik (Direktor: Geh. Rat Prof.
Dr. Ho che) mitgeteilte Beobachtung.
In der Einleitung erörtert Verf. die Kriminalität des Paralytikers,
auf die ich in einer späteren Arbeit noch zurückzukommen gedenke.
Die relativ hohe Häufigkeit der Kriminalität bei progressiver Paralyse
(sive Dementia paralytica) erklärt sich Steudemann:
1. aus dem der eigentlichen Krankheit vorangehenden Latenz —
sog. Promodromalstadium der Dementia paralytica;
2. aus dem Defekt der Kritik;
3. aus dem Verluste der ethischen Gefühlstöne.
Die beiden letzten Faktoren, die den Untergang des Charakters
und der Persönlichkeit der an progressiver Paralyse Erkrankten be¬
dingen, bringen es mit sich, daß sich die Kriminalität mit geringen
Ausnahmen auf gewisse Kategorien beschränkt, unter denen an
1) Dieselben sollen in einer demnächst erscheinenden zweiten und dritten
Mitteilung besprochen werden.
2) Steudem ann, Ein Paralytiker als Mörder. Inaugural Dissertation
Freiburg i. Br. 1909, 34 Seiten.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II. 51
erster Stelle Sittliehkeitsverbrechen und Diebstahl und Betrug zu
nennen sind.
Die Vergehen, die der Paralytiker im Prodromalstadium begeht,
haben in bezug auf ihre Ausführung etwas ungemein Charakte¬
ristisches. Der Paralytiker stellt die Tat in typischer Art und Weise
an, die seine Ergreifung ungemein erleichtert. Er geht z. B. in einen
Laden, nimmt in aller Gemütsruhe einen Gegenstand an sich und zieht
damit, ohne sich dabei etwas zu denken, davon. Wird ihm die Tat
auf den Kopf zugesagt, so leugnet er ganz einfach mit dreister Stirn,
bis irgend eine auffällige Handlung das Bestehen einer geistigen
Störung unzweifelhaft ergibt. So stritt z. B. ein paralytischer Dieb
beim Verhör auf dem Polizeirevier den Diebstahl einer Wurst ab,
zog dann in einem Augenblick, wo er sich nicht beobachtet glaubte,
das Gestohlene hervor, und führte das mit Manöver in so unver¬
schämt-naiver Weise aus, daß der Polizeileutnant sofort das Vorliegen
einer Geistesstörung erkannte und seine Einweisung in eine Anstalt
beantragte, wo dann das Vorliegen einer Dementia paralytica kon¬
statiert wurde.
Eine Reihe charakteristischer Vergehen, die dem Paralytiker und
nur diesem eigene sind, erwähnt Obersteiner 1 ). Er erzählt uns
von einem Paralytiker, der längere Zeit Fiaker fuhr und als er
die Fahrt bezahlen sollte, in Lachen ausbrach und nicht einsehen
konnte, daß man dafür bezahlen müsse. Oder der Paralytiker begeht
eine Wechselfälschung in der plumpesten, jedem nur halbwegs vor¬
sichtigen Bankbeamten in die Augen fallenden Weise und präsentiert
den falschen Wechsel an der Bank, um ihn auszulösen.
Der prägnante Stempel wird dem paralytischen Verbrecher oder
besser Verbrechen aufgedrückt durch den Verlust der Kritik, der
bei allen Handlungen des Kranken hervortritt. Hierhin gehören die
Vorstellungen des größten Reichtums, der großen Stellung, der großen
Pläne usw.
Ganz in den Kreis dieser Vergehen gehören die fahrlässigen
Handlungen, z. B. die Brandstiftung, die beim Paralytiker
gar nicht selten Vorkommen. Der Paralytiker raucht eine Zigarre und
steckt sie versehentlich in die Westentasche, ohne sich der Folgen
bewußt zu sein.
Besonders schlimm pflegen sich Alkoholexzesse des Para¬
lytikers (im Prodromalstadium natürlich) zu rächen. Der Paralytiker
geht in ein Vergnügungslokal, trinkt mehrere Schoppen und begeht
1) Obersteiner, Die progressive allgemeine Paralyse. 2. Aufl. Wien. 1908.
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dann Ruhestörungen. Oder er belästigt Frauenspersonen mit unmo¬
tivierten, unzüchtigen Anträgen.
Dies führt uns zur Sexualität des Paralytikers und zu
seinen Ausschreitungen.
Der Defekt der Kritik erklärt auch die zuweilen bei Paralytikern
vorkommenden Verstöße gegen die Sicherheit des Lebens.
So werden z. B. oft nach Eisenbahnunglücken Anklagen gegen die
Schuldigen erhoben. Der Lokomotivführer erklärt, er habe das Signal
nicht gesehen. Untersucht man dann den Augenzustand, so kann
man bisweilen Abducens- oder Oculomotoriuslähmungen konstatieren,
die eine Initialerscheinung der progressiven Paralyse und der ihr
ätiologisch wesensverwandten Tabes dorsalis sind und sehr wohl
das Übersehen des Signals zu erklären vermögen. — Ärzte verstoßen
gegen die Sicherheit der ihnen anvertrauten Menschenleben, indem sie
eine kritiklose Behandlung einleiten, die oft zum Tode des Patienten führt.
Endlich wären seltenere Verbrechen zu nennen. So berichtet
z. B. Cramer über einen Fall von Verleitung zum Meineid bei
einem Paralytiker und Berze 1 ) über einen Fall von schwerer
Verleumdung im Initialstadium der Krankheit.
Den auffallend hohen Prozentsatz der Sexualdelikte bei Para¬
lytikern 2 ) erklärt S teudemann mit Recht aus der gesteigerten Libido.
Wie ich 3 ) es bereits an anderer Stelle in diesem Archiv für die Dementia
praecox sive hebephrenica formuliert habe, wie es auch ohne Ein¬
schränkung für die Dementia paralytica gilt, erlöschen die höheren
sog. ethischen Gefühlstöne (Pflicht, Reinlichkeit usw.), werden die
niederen (Hunger-, Sexualtrieb) niemals aufgehoben, sondern eher ver¬
stärkt in die Erscheinung treten. Nur so z. B. sind die scheußlichen
Sittlichkeitsverbrechen eines paralytischen Vaters an seiner eigenen
Tochter zu erklären, wovon an anderer Stelle 4 ) in diesem Archiv be¬
richtet wurde.
Die Potenz des Paralytikers kann herabgesetzt bezw. sogar ganz
aufgehoben sein, was aber begreiflicherweise noch lange nicht Sitt-
lichkeitsverbrecben ausschließt. So hören wir z. B. bei Wach holz 5 )
1) Berze, Handbuch derärztlichenSachverständigentätigkeitvonDittrich.
Bd. 8, Teil I. S. 175.
2) Vgl. auch Göring, Zur Begutachtung geisteskranker Sittlichkeitsver¬
brecher. Inaugural-Dissertation Bonn 1908, 184 S.
3) Boas, Zur Genese der Homosexualität. Pies Archiv 1909. Bd.XXXV S. 210.
4) Boas, Kasuistische Beiträge zu den Sexualdelikten. I. Ätiologisches,
Anatomisches und Statistisches zu den Sexualdelikten. Dies Archiv Bd.XXXV S.213.
5) Wachholz, Zur Lehre von den sexuellen Delikten Vierteljahrsschrift
für gerichtliche Medizin 1909. Bd. XXXVIII. S. 64.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II.
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von einem jungen Kellner, der sich seiner Impotenz bei seinen jungen
Jahren vor erwachsenen Mädchen schämte und dem daher 13 bis
14jährige Kinder als Opfer seiner Wollust dienten.
Wenn man eine Analyse der ^Sittlichkeitsdelikte des
Paralytikers geben will, so kommen nach Berze 1 ) alle Abstufungen
vor. Wir beobachten Verletzungen des Schamgefühls durch Exhibi¬
tionismus, plumpe Belästigungen weiblicher Personen, derbe unver¬
mittelte unanständige Anträge, Notzucbtsversuche, allerdings milderer
Art, weil der Paralytiker durch seine geminderte Kritik nicht mit der
Eoutine des geborenen Sittlichkeitsverbrecher — und daß es solche
gibt, daran ist nicht zu zweifeln — zu Werke geht.
Kommt also bei der eingangs erwähnten Kategorie der Eigen¬
tumsvergehen (Diebstahl und Betrug) mehr der Verlust der Kritik als
auslösender oder das Vergehen begünstigender Faktor ins Spiel, so
gibt für die Sittlichkeitsverbrechen der Verlust der höheren ethischen
Gefühlstöne entscheidenden Ausschlag. In dieser verhängnisvollen
Kombination, die in Einzelfällen mehr oder minder ausgeprägt, mehr
zum Überwiegen des einen oder des anderen Faktors neigen kann,
bedingen sie den Untergang der Persönlichkeit und des Charakters,
und" bedingen des weiteren eine Reihe von Verbrechen. Zur allge¬
meinen Orientierung diene noch die Angabe von Kaes' 2 ), der nach
dem Material der Friedrichsberger Anstalt ermittelte, daß 8,9 Proz.
aller Paralytiker mit dem Strafgesetzbuch in Konflikt kommen.
Wenn ich also das bisher Gesagte noch einmal kurz resümieren
darf, so ist die Kriminalität des Paralytikers charakterisiert durch
folgende Vergehen und Verbrechen.
1. Am häufigsten Diebstahl in den verschiedensten
Formen. Der Paralytiker legt mit Vorliebe „Sammlungen“ aller
möglichen Dinge an (Fahrscheine, Hosenknöpfe und dergl. Unsinniges
mehr) und sucht mit Aller Macht in den Besitz dieser Dinge zu
kommen, oft auf kriminellen Wegen, weswegen Obersteiner 3 )
treffend von kriminellem Sammeltrieb, ich möchte sagen Sammelwut
spricht, der ihn sogar in den Ruf eines Kleptomanen bringen kann.
Cramer verfügt über eine einschlägige Beobachtung eines Menschen,
der als Kleptomane bekannt war und sich im weiteren Verlauf als
Paralytiker entpuppte.
1) Berze, 1. c.
2) Kaes, Statistische Betrachtungen über die Anomalien der psychischen
Funktionen bei der allgemeinen Paralyse. Allgemeine Zeitschrift f. Psychiatrie
Bd. L11I.
3) Obersteiner, 1. c.
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2. Vergehen gegen die Sittlichkeit (Verletzungen des
Schamgefühls, plumpe Belästigungen weiblicher Personen, derbe un¬
vermittelte Anträge, Notzuchtsattentate).
3. Betrügerische Handlungen kleinen und großen
Styls. (Zechprellereien, Fiakerfahrten ohne Bezahlung, Wechsel¬
fälschungen.)
4. Fahrlässige Vergehen (Brandstiftungen).
5. Ruhestörungen bei Alkoholexzessen.
6. Vergehen gegen die Sicherheit des Lebens. (Trans¬
portgefährdungen.)
7. Seltenere Vergehen und Verbrechen:
a ) Meineid und Verleitung zum Meineid.
ß) schwere Verleumdungen.
y) Morde, schwere Körperverletzungen.
Am seltensten kommen Morde beim Paralytiker zur Beobachtung,
weswegen nur ein äußerst spärliches Material in der Literatur nieder¬
gelegt ist. Steudemann zitiert nur zwei Fälle von Marandon
de MontyelO auf die wir weiter unten noch zu sprechen kommen
werden und erwähnt dann noch eine Arbeit von Villard 2 ) ; ohne diese
jedoch im Texte zu nennen. Ich weiß daher nicht, ob ihr eine von
einem Paralytiker begangene Mordtat zugrunde liegt. Augenschein¬
lich sind Steudemann die Arbeiten von Camusset 1 2 3 ) und Baker 4 )
entgangen. Camusset erwähnt einen Fall von Muttermord durch
den paralytischen Sohn im Dämmerzustand (paralytischen Anfall?)
Baker teilt sogar eine ganze Reihe von Mordtaten seitens Paralytiker
mit Siemerling 5 ) teilt außerordentlich eingehend einen Fall von
schwerer Körperverletzung seitens eines paralytischen Kellners mit.
Warum kommen Morde beim Paralytiker so selten vor im Ver¬
gleich zu den anderen zahlreichen Verbrechen? Steudera ann macht
dafür in erster Linie die Furchtsamkeit und Feigheit des Kranken
verantwortlich, der seinen Zorn lieber an leblosen Dingen ausläßt.
Ich glaube, daß diese (übrigens nicht neue Erklärung) viel für sich hat.
Ich gehe nun im folgenden zur Wiedergabe des von Steude¬
mann berichteten Falles über und halte mich dabei eng an seine
Darstellung.
1) Marandon de Montyel, Annales d’hygiene publique 1888.
2) Villard, Annales d’hygiene publique 1889.
3) Camusset, Annales medico-psycholog'iques 1883.
4) Baker, General paralysis and crime, Journal of mental Sciences 1904. Vol.L.
5) Siemerling, Handbuch der gerichtlichen Medizin von Schmidtmann.
3. Aufl. Bd. III, S. 338.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II.
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Am 6. März 1908 abends zwischen 7 und l l j-i Uhr ging der
stellungslose S. M. auf der Landstraße der Stadt F. zu, von der er
etwa noch eine halbe Stunde entfernt war. Er trug einen mit Platz¬
patronen geladenen Revolver bei sich, und als der ihm vollständig
unbekannte A. B. auf seinem Rade an ihm vorbeigefahren war, feuerte
er auf diesen zwei Schüsse ab. Ferner begegnete ihm ein Mann namens
S., der ihm „guten Abend“ zurief. M. erwiderte nichts. Als beide
aneinander vorüber waren, gab M. einen Schuß auf S. ab. Dieser
drehte sich um und rief: „Was ist denn das?“ M. gab darauf drei
weitere Schüsse ab und lief davon in den Wald hinein. Als er auf
die Straße zurückgekehrt war, begegnete ihm ein Dritter, den er fragte,
w t o der Weg nach G. ginge. Er erhielt die Antwort, da käme er
gerade her. Ohne jede Erwiderung feuerte M. zwei Schüsse auf
den Mann ab und lief davon.
Sonntag den 8. März nachmittags gegen 1 Uhr traf M. den 73jährigen
P. F. beim Steinbruch im hinteren Immental, wo dieser beschäftigt
war. F. legte einen Bengel') den er zum Unterstützen eines Schutz¬
daches brauchte, auf einen Steinhaufen. M., der aus dem Steinbruch
kam, fragte: „Gehört der Bengel dir?“. F. bejahte und blieb vor
dem Steinhaufen stehen. M. lief weg und machte sich mit den Händen
zu schaffen, doch konnte F. nicht sehen, was er tat, da M. ihm den
Rücken zudrehte. Nach kurzer Zeit kam dieser zurück und fragte,
wohin die vor ihm liegende Straße führe. F. antwortete: „Auf den
Schloßberg“. Dorthin wolle er, sagte M. Darauf ging F. weiter,
M. folgte ihm, blieb dann aber zurück und feuerte, als F. ca 20 Schritte
gemacht hatte, von hinten her aus einer Entfernung von 8—-10 Schritt
vier scharfe Schüsse auf F. ab. Ein Schuß traf diesen in den Rücken
die Kugel blieb vorn in der linken Brustseite stecken. Eine zweite
Kugel blieb an der rechten Schulter im Rockkragen stecken und ver¬
ursachte dort einen roten Fleck, eine dritte durchbohrte den Hutrand.
Ein Herr und eine Dame, die auf F.s Hilferufe herbei eilten, sahen M.
den Wald hinaufflüchten. Sie standen etwa 80 Schritt vom Tatorte
entfernt. F. wurde in das Diakonissenhaus gebraucht. Er erlag der
Verletzung.
Um 1 /id Uhr kam M. — nach Aussage der Frau Bo., bei der
er wohnte — zurück, und schloß sich in sein Zimmer ein, wie er es
auch sonst tat. Er hatte die Wohnung nach 12 Uhr verlassen. Um
Va4 ging er wieder fort.
Gegen 5 Uhr verübte er auf dem Schloßberg in der Nähe des
Feldbergblickes ein Attentat gegen den Musketier G. und die in dessen
1) Pfahl.
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Begleitung befindliche F. M. Aus seinem Revolver feuerte er sechs
scharfe Schüsse rasch nacheinander von hinten her aus etwa 8 bis
10 Schritt Entfernung auf die beiden ab. Die F. M. wurde von den
ersten drei Schüssen getroffen, so daß sie bewußtlos zu Boden sank
und nach kurzer Zeit verschied. G. erhielt einen Schuß durch die
Mütze und einen in den rechten Oberschenkel. M. war den beiden
vorher begegnet, ohne eine Bemerkung zu machen. Nach den Schüssen
eilte G. auf den Täter zu. Dieser ergriff die Flucht, verlor dabei
aber seinen Hut. Als er ihn wieder aufheben wollte, holte G. ihn
ein, warf ihn zu Boden und kniete auf ihn. Mit Hilfe eines herbei¬
geholten Mannes wurde er festgehalten, bis die Schutzleute erschienen
und ihn abführten. Den Revolver hatte er bei seiner Flucht weg¬
geworfen.
Von dem Vorleben des M. ist folgendes bekannt. Er wurde am
3. Mai 1871 außerehelich geboren. Sein Vater ging nach Amerika,
ohne sich um Mutter und Kind zu kümmern. Bis zu seinem 15. Lebens¬
jahre besuchte M. eine Privatsschule. Dann kam er zu seinem späteren
Schwager, der eine Metzgerei betrieb, in die Lehre. Später fing er
mit seinem Bruder und diesem Schwager zusammen ein eigenes Ge¬
schäft an: sie importierten amerikanisches Fleisch und Schmalz nach
der Schweiz. Das Geschäft ging anfangs gut. Mit 27 Jahren heiratete
M. die Schwester seines Teilhabers, eine hübsche, gebildete Witwe,
die Tochter eines Fabrikdirektors in B., die ihm eine 9 ^ jährige
Tochter mit in die Ehe brachte. M. lebte mit seiner Frau die ersten
Jahre sehr glücklich, er schien sie aufrichtig zu lieben und war sehr
zärtlich. Kinder gingen aus der Ehe nicht hervor, angeb¬
lich, weil die Frau seit der ersten Geburt ein Unterleibs-
leiden hatte. — Allmählich verschlechterte sich das Geschäft; vor
4 Jahren trat der Schwager aus, da das Geschäftsgebaren des M.
und seines Bruders unreell war. Zwei Jahre später geriet er in Kon¬
kurs durch Schuld des Bruders, der große Summen verspielt haben soll.
Seit diesem Konkurs war M. verändert. Zunächst fiel
seiner Frau auf, daß ihn immer heftig fror, besonders an Füßen und
Beinen. Er mußte doppelte Wäsche tragen und sich nachts im Bett
auf alle mögliche Weise einhüllen. Während er früher ein guter
Fußgänger gewesen war, wurde sein Gang jetzt schwerfällig;
er ermüdete leicht und fühlte sich schwach auf den
Beinen. Auch die Hände wurden zitterig; seine Schrift war
früher weit besser gewesen.
Bald zeigte sich auch geistige Schwäche. Es schwanden
ihm oft die Gedanken, so daß er nach kurzer Zeit nicht mehr wußte
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II.
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was er gesagt oder getan hatte. Z. B. schrieb er einen Brief, warf
ihn in den Papierkorb und fragte kurze Zeit nachher seine Frau, wo
der Brief geblieben sei. Er ließ seine Schlüssel liegen und konnte
nicht angeben, wo sie waren. Wenn er etwas erzählte, blieb er plötz¬
lich stecken oder berichtete dasselbe zweimal. Früher konnte er gut
rechnen; jetzt war er darin sehr unsicher. Seine Briefe waren öfters
vollständig ohne Zusammenhang..— Da ihm sein Schwiegervater bei
dem Konkurs nicht mit Geldmitteln an die Hand ging, ließ er schon
vor der Konkurseröffnung eine Broschüre, in der er dessen Familie
verunglimpfte, in 1000 Exemplaren drucken. Auf eine beim Gericht
erstattete Anzeige wurde die Broschüre konfisziert und er erhielt vier
Tage Gefängnis. Das hielt ihn nicht ab, alle möglichen anderen
Leute zu verleumden i). So sagte er den Kindern seiner Halb¬
schwester, ihre Mutter unterhalte ein unerlaubtes Verhältnis und Ähn¬
liches mehr 2 ). Ferner schrieb er zahlreiche verleumderische Briefe
und fälschte dabei auch die Unterschrift seiner Frau. Viel¬
fach erlog er Geschichten, die er selbst zu glauben schien, wenn auch
für andere seine Lügen und ungeheuren Übertreibungen sehr
durchsichtig waren. Eine besondere Freude machte ihm das Pro¬
zessieren, das in praktischer Beziehung oftmals wertlos, war.
So hatte er bisweilen 20—30 Prozesse gleichzeitig schweben,
meist 'Verleumdungsklagen gegen andere.
Bald trat auch seine außerordentliche Labilität der Stimmung
zutage. Gegen seine Frau, die er sonst mit Zärtlichkeiten über¬
häuft hatte, wurde er gewalttätig, rechthaberisch und grob. Er
bedrohte sie oft mit dem Revolver. Auch an leblosen Gegenständen
ließ er seine Wut aus, z. B. zerschlug er einen Stuhl und ein anderes
Mal vier Zuckerhüte, die seinem Hauswirt gehörten, und warf sie
einem Pferde vor. Obwohl er kein Vermögen mehr besaß, kaufte
er alle möglichen unnützen Dinge. Er wurde außerordent¬
lich eitel, putzte sich fortwährend und parfümierte sich, daß es ein
Ekel war. Zur Arbeit hatte er keine rechte Lust mehr, unstet
versuchte er bald dies, bald jenes. So schaffte seine Frau auf sein
Verlangen eine Holzspaltemaschine an, dazu fehlte ihm aber die
1) Vgl. auch den oben (S. 52) erwähnten Fall von Berze.
2) Ich glaube, daß es nicht ganz richtig ist, wenn Steuclomann dies für
Verleumdung hält, meine vielmehr, daß es sich bloß um eine Zote handelt, wie sie
beim Paralytiker oft vorkommt. So habe ich z. B. einen Paralytiker gesehen,
dessen Mutter es aufgefallen war, daß er seiner jugendlichen Schwägerin den
Unterschied zwischen einer trächtigen und einer nicht trächtigen Kuh klar ge¬
macht, was er nach Meinung der Mutter sonst früher nie fertig gebracht hätte!
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I. Kukt Boas
Geduld zum Holzspalten. Ferner wurde er plötzlich sehr religiös.
Er schickte seine Frau in die Kirche, wenn er auch selbst wie
ein Heide fluchte. .In gewisser Beziehung wurde er auf¬
fallend feinfühlig, so daß er sich z. B. sehr ärgern konnte, wenn
in seiner Gegenwart zweideutigen Witze erzählt wurden. Als sich in
einem Restaurant ein Gast einige Bemerkungen mit einer Kellnerin
erlaubte, ging M. erregt fort. Seiner Schwester verübelte er es sogar,
daß sie mit einem fremden Mann sprach und beschuldigte sie deshalb
unerlaubter Beziehungen 1 ). Außerordentlich eifersüchtig wurde
er seiner Frau gegenüber, doch nicht auf Männer, sondern auf
seine Stieftochter und namentlich auf das Pferd und den Hund seiner
Frau. Diese Tiere hat er öfters in eifersüchtiger Wut geschlagen 2 ).
Dann wurde er in manchen Dingen außerordentlich kleinlich;
so hielt er sich z. B. darüber auf, wenn ihn anderer Leuten Dienst¬
boten seiner Meinung nach nicht freundlich grüßten. Er war stets
feige, so daß es ihm schon schrecklich war, nur vom Militär reden
zu hören 3 ). In den letzten Wochen, die er mit seiner Frau verbrachte,
wagte er kaum mehr noch auszugehen, meist stand er auch noch im
Haus vor seinem Pult, in dem ein .geladener Revolver lag.
Auch die körperlichen Erscheinungen mehrten sich in der
letzten Zeit. Seit etwa einem halben Jahre war M. impotent. Seit¬
dem trat häufig Doppelsehen auf, auch sollen ihm die Buchstaben
verschieden groß erschienen sein. Ferner litt er an S ch w i n d el (Vertigo),
es war ihm als hätte er Wein getrunken. Oft hatte er starke Kopf¬
schmerzen, Druck im Kopf, sowie Gliederschmerzen. Manchmal ver¬
wechselte er plötzlich ohne erkennbare Ursache die Farbe und wurde
mit einem Male blaß oder rot 4 ); auch traten auffallend starke Schwei߬
ausbrüche auf. Sein Appetit war eigentümlich stark, trotzdem
magerte er ganz bedeutend ab. Dabei machte sich ein gesteigertes
Schlafbedürfnis geltend. Oft schlief er am Tisch, oder während
seine Frau auf seinen Wunsch Klavier vorspielte, ein. Auffällig war
weiterhin sein starrer Blick und eine zeitweise auftretende Verzerrung
des Gesichts.
Im September 1907, also etwa 6 Monate vor der Tat, verließ
1) Das nämliche finden wir beim Eifersuchtswahn des Alkoholikers, der in
jedem Menschen, der mit seiner Frau spricht, einen Ehebrecher wittert.
2) Diese Regung kann man auch anders deuten, entweder als sadistische
Neigung oder aus der Freude am Zerstören (Zerstörungswut).
3) Dabei hat er gedient.
4) Paralytischer Anfall?
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II.
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M. die Stadt Basel und wandte sich nach F., um irgend eine Stellung
zu suchen, während seine Frau in B. zurück blieb.
Im Anfang seines Aufenthaltes in F. scheint eine Remission ein¬
getreten zu sein, wenigstens fiel er durch seinen Geisteszustand nicht
auf. Er unternahm öfters Reisen nach benachbarten Städten, um
Stellung zu suchen. Bald aber verschlimmerte sich sein Zustand
wieder. Zuerst traten Wahnideen betreffs seiner Frau auf. So er¬
zählte er bei Bewerbung um eine Stelle, er habe aus seiner Ehe mit
ihr ein Kind. Nachdem sein Geschäft in Konkurs geraten war, sei
die Frau Kassiererin im Stadtgarten zu F. geworden. Ein anderes
Mal betraf die Wahnindee die musikalischen Fähigkeiten seiner Frau.
Er erzählte von einem Musikfest, bei dem ein Professor seiner Frau
telegraphiert habe, sie solle vor dem Großherzog spielen. Er sei mit
ihr hingefahren, und sie habe dann so gespielt, daß der hohe Herr
ihr persönlich gratuliert hätte; auch hätte sie einen Preis von 2000 Mk.
behommen. Ferner habe seine Frau dem Großherzog anläßlich einer
Denkmalsenthüllung in L. eine Tafel mit dem deutschen und schweize¬
rischen Wappen überreicht. Darauf habe ein Diener sie nachher zum
Festessen geladen. Der Großherzog habe seine Frau selber an ihren
Platz geführt und neben ihr gesessen. Einige Zeit nachher hätte er
ihnen noch sein Bild gesandt. Die Wahnidee, daß seine Frau wegen
ihres Klavierspiels vom Großherzog ausgezeichnet worden sei, kehrt
mit wechselnden kleinen Zusätzen in der folgenden Zeit immer wieder.
Wegen seiner häufigen Abwesenheit befürchtete seine Wirtin in
F., er möchte ohne Bezahlung davongehen, sie sagte ihm deshalb,
er möge sich ein anderes Zimmer suchen. Kurz darauf ging er wieder
fort und als die Frau ihm nachlief und ihn zur Rede stellte, drohte
er, er lege Hand an sie, wenn sie nicht zurückginge. Einen geistig
abnormen Eindruck machte er ihr nicht; hingegen hielt man ihn auf
dem Lilienhof, wo er am 6. Februar als Pferdewärter eintrat, durchweg
für geisteskrank. Dort fiel er zunächst dadurch auf, daß er bei der
Gendarmerie die telegraphische Anzeige machte, seine kurz vorher
gekaufte Bluse sei ihm gestohlen worden. Während seine Arbeits¬
genossen die Sache zunächst für einen Ulk hielten, fiel dem Gendarm
gleich M.s Geisteszustand auf. Nicht lange nachher zeigte er an,
zwei Strolche hätten ihn in einem Hohlwege überfallen und seiner
Barschaft beraubt, als er von Einkäufen aus einem Nachbarort zu¬
rückgekehrt sei. In beiden Fällen handelte es sich offensichtlich um
Wahnideen, denn seinen Angaben lagen keinerlei Tatsachen zugrunde.
Überhaupt war er sehr ängstlich und trug seit dem angeblichen Über¬
fall stets einen Revolver in der Tasche. Neben den Verfolgungsideen
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I. Kukt Boas
zeigten sich auch bald Größenideen: er habe sehr reiche Verwandte —
sein Schwager habe als Stallmeister mehr als 1000 Pferde unter sich
gehabt — seine Frau besitze ein eigenes Automobil. M.s allgemeines
Betragen war die ganze Zeit hindurch höchst sonderbar. Wurde er
wegen schlechter Arbeit getadelt, sagte er „Dank sehön“.
Einmal sprang er nachts um 1 /al Uhr aus dem Bette und fiel
in der Aufregung über seinen Schloßkorb. Als man ihn fragte, was
los sei, antwortete er, es sei schon 1 / 2 7 und er hätte seine Pferde noch
nicht gefüttert. Trotz aller Einwände steckte er Brot und eine Flasche
Wein zu sich und ging fort. Nach 10 Minuten kam er wieder und
sagte, sein Zimmergenosse hätte eine andere Uhr, die er nicht ver¬
stände. Einige Zeit nach seinem Eintritt als Pferdewärter blieb er
ohne Angabe von Gründen von den Mahlzeiten weg. Auf Befragen
sagte er, er möchte sich selbst beköstigen. Später klagte er seiner
Frau und anderen gegenüber, das Essen sei ungenießbar gewesen.
Ebenso beschwerte 1 ) er sich über den Birnenmost, der von der Ver¬
waltung als freiwillige Gabe ' 2 ) gereicht wurde. Er ließ das Getränk
chemisch untersuchen und reichte eine Anzeige bei der Staatsanwalt¬
schaft ein, in der Meinung, er könne eine bedeutende Entschädigung
— vielleicht 1000 Mark — beanspruchen Die Wahnidee von
seinen Ansprüchen gegen die Verwaltung des Lilienhofs kehrt
in der Folgezeit immer wieder, schließlich gesellt sich sogar
eine ausgesprochene Verfolgungsidee dazu. So schreibt er wenige
Tage vor der Mordtat an den Anwalt seiner Frau, er führe einen
Prozeß mit dem Lilienhof wegen 5000 Mark; man habe ihn mit
Wein vergiften wollen.
Auch Erinnerungsfälschungen zeigten sich während seines Auf¬
enthaltes auf dem Lilienhof. So gab er dem Verwalter an, er habe
bei der Kavallerie gedient; in Wirklichkeit war er Infanterist. Wieder¬
holt spricht er später von Schießübungen, die er während seines Auf¬
enthaltes auf dem Lilienhof mit einem Knecht im Walde abgehalten
haben will; es hat aber niemand mit ihm derartige Übungen unter¬
nommen.
Ende Februar wurde er wegen Unbrauchbarkeit aus seiner Stellung
entlassen. Er ging nach F. zurück, seiner früheren Hauswirtin fiel
es jetzt auf, daß er außerordentlich aufgeregt war. Er wohnte nun
in einem Gasthause. Eines Morgens ging er sehr zeitig weg und
hinterließ einen Brief, er müsse nach B., seine Frau sei krank. Dem
1) Beginnender Querulantenwahnsinn.
2 ) Alkoholfreies Getränk zur Bekämpfung der Bier- und Weinpest.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II.
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Briefe lagen 10 Mark zur Begleichung seiner Schuld bei. Indessen
kam er schon nach zwei Stunden — einer Zeit, in der er unmöglich
in B. gewesen sein konnte — zurück.
Am 2. März 1908 mietete er bei dem Schutzmann B. ein Zimmer,
ging aber gleich, nachdem er gemietet hatte, weg und kam erst am
nächsten Mittag wieder. Auf Befragen erklärte er, er habe sich ander¬
weitig amüsiert. Auf den Anmeldebogen schrieb er zwei verschiedene
Geburtsdaten. In seinem Zimmer herrschte große Unordnung. Als
man ihm dies vorhielt und sagte, es könne nicht geduldet werden,
antwortete er, er wolle es sich merken. Auf dem Leih hause, wo er
am 4. März Kleider versetzte, fiel er nicht auf. An demselben Tage
kündigte B. ihm das Zimmer, weil die Unordnung darin unerträglich
war. M. ging fort um sich eine andere Wohnung zu suchen und
kam nach einiger Zeit zurück, um sich seine Sachen zu holen. Auf
die Frage, ob er ein Zimmer gefunden habe, erwiderte er, es sei
überall zu teuer. Er habe 200 Mark gehabt, die habe er aber ver¬
liehen. Dann ging er und mietete bei der Ehefrau Bo. Hier fiel er
von vornherein durch sein eigentümliches Wesen auf. Er schloß sich
z. B. stets in seinem Zimmer ein. Sehr aufgeregt erzählt er von
seinen Erlebnissen, besonders, daß ihm der Verwalter auf dem Lilien¬
hof 2000 Mark geben müsse. In der Nacht kam er nicht nach Hause.
Am folgenden Morgen traf ihn der Mann der Bo. auf der Straße.
Diesem sagte er, er habe ein Zimmer bei einem Postschaffner von
dem Aussehen Bo.s gemietet, könne aber die Wohnung nicht wieder¬
finden. Bo. gab ihm Bescheid. Seine Kleider waren schmutzig, als
wenn er im Freien übernachtet hätte. Er schloß sich in sein Zimmer
ein, ging aber bald nachher wieder fort.
Am 5. März wurde er in einem Restaurant als Kasserolier ein¬
gestellt und trat am folgenden Tage seinen Dienst an, wohnte aber
nicht dort, sondern behielt seine Wohnung bei der Bo. bei. Er ar¬
beitete zunächst, w r as ihm zugewiesen war. Als aber der Direktor
des Restaurants einige Stunden später nach ihm sah, saß er müßig
an einem Tische und erklärte auf Befragen, er könne nicht arbeiten,
er müsse zum Rechtsanwalt wegen eines Prozesses mit dem Verwalter
auf dem Lilienhof, wenigstens 3 Stunden habe er da zu tun. Weiter
erzählte er, er habe sein ganzes Vermögen verloren. Auch sprach
er von der angeblichen Auszeichnung seiner Frau durch den Gro߬
herzog. Alles, was er vorbrachte, machte den Eindruck, als sei er
geistig nicht normal. Man erklärte ihm, wenn er so oft zum Rechts¬
anwalt gehen müsse, könne man ihn nicht brauchen, worauf er sich
mit seiner Entlassung einverstanden erklärte und fortging. Was er
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dann im Laufe des Nachmittags getan hat, ist nicht bekannt. Am
Abend desselben Tages beging er das Attentat gegen die drei Männer
auf der Landstraße. Gegen 10 Uhr klingelte er bei dem Schutzmann,
von dem er wenige Tage vorher weggezogen war. Als man ihn
fragte, was er wolle, ging er ohne Antwort wieder fort. Am folgen¬
den Tage erschien er nochmals und wollte in sein Zimmer, in der
Meinung, daß er dort noch wohne. Er fiel durch sein eigentümliches
Wesen auf. Die nächste Nacht scheint er in seinem Zimmer bei der
Bo. verbracht zu haben. Dann folgt der Tag, an dem er den P. F.
verletzte und später die F. M. tötete. Unmittelbar nach der Tat war
er nach den Zeugenaussagen trotz der am Kopfe erlittenen Ver¬
wundung bei voller Besinnung. Bei seiner Festnahme leistete er nicht
den geringsten Widerstand. Einem Zeugen machte er den Eindruck
eines Betrunkenen. Er war in keiner Weise aufgeregt, seine Gesichts¬
farbe war nicht besonders blaß und seine Augen verrieten weder Er¬
schrockenheit noch Unruhe.
Wir wollen uns nun seinen eigenen Angaben zuwenden. Sie
sind lückenhaft und voll von Widersprüchen. Manches, was er bei
der ersten Vernehmung aussagt, ist ihm später offenbar aus dem Ge¬
dächtnis geschwunden. Einige Tatsachen, die er anfangs zugegeben,
bestreitet er später. Auch über die zeitliche Aufeinanderfolge der
Dinge ist er nicht völlig klar. Bei der Vernehmung am Tage nach
der Tat gibt er seine Personalien richtig an mit Ausnahme des Ge¬
burtsjahres. Er meint, er sei 1878 geboren, während er in Wirklich¬
keit 1871 geboren ist. Die Auskunft über die Vorstrafen verweigert
er. Weiter sagt er aus, daß er bis vor zwei Monaten auf dem
Lilienhof gewesen sei; in Wirklichkeit wurde er dort etwa eine Woche
vor der Tat entlassen. Am Tage der Ermordung der F. M. will er
am Vormittag in seinem Zimmer gewesen sein und die Zeitung ge¬
lesen haben. Es habe nichts darin gestanden, was ihn aufgeregt
hätte. Sein Frühstück habe er sich selbst zubereitet. Gegen 11 Uhr
sei er weggegangen und habe in einer Wirtschaft 1 Wein ge¬
trunken. Dann sei er nach dem Bahnhof gegangen, habe dort aber¬
mals einen 1 /i 1 Wein getrunken und mit einem Kellner gesprochen.
Zum Mittagessen sei er wieder nach Hause gegangen, habe es selbst
zubereitet und hinterher bis 2 Uhr Zeitung gelesen. Er wisse es be¬
stimmt, daß er vorher nicht wieder ausgegangen sei. Das Verbrechen
gegen den Arbeiter im Steinbruch, das er gegen 1 Uhr beging, stellt
er wiederholt ganz entschieden in Abrede. Er wisse nichts davon,
daß er im Immental oder am Schloßberg war und auf einen alten
Mann geschossen habe. Das sei einfach nicht wahr. Man dürfe
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ihn nicht für einen unanständigen Menschen halten. Er habe erst
gegen 4 Uhr die Wohnung wieder verlassen, um spazieren zu gehen.
Die Zeitung habe er mitgenommen und wahrscheinlich unterwegs
fortgeworfen, nachdem er sie gelesen hatte. Den geladenen Revolver
habe er in der dazugehörigen Tasche zu sich gesteckt; warum, wisse
er nicht, er habe keine Gedanken gehabt. Er sei sich bewußt, daß
er im Walde auf eine Dame geschossen habe, die mit einem Soldaten
ging, könne aber nicht sagen, warum. Die Frau sei an ihm vorbei¬
gegangen und als sie einige Schritte entfernt war, habe er den Re¬
volver auf sie abgefeuert. Ob sie umgefallen sei, wisse er nicht. Er
sei nach der Tat davongelaufen, den Revolver habe er wahrscheinlich
verloren. Es sei möglich, daß ihm ein Landjäger nachgelaufen sei,
gesehen habe er keinen. Plötzlich habe er einen Schlag bekommen
und nach kurzer Zeit seien mehrere Personen um ihn gewesen, die
ihn auf einige Bureaus und schließlich ins Gefängnis gebracht hätten.
An Einzelheiten vermag er sich nicht zu erinnern, kann auch keine
Beschreibung der Örtlichkeit geben. Zeitweilig ist er der Meinung,
er habe die Mordtat am Vormittag begangen.
Um ein Beispiel zu geben, wie verworren und widerspruchsvoll
seine Angaben sind, sei das angeführt, was er über den bei der Tat
gebrauchten Revolver aussagt. Zuerst meint er, er habe ihn aus B.
mitgebracht und besitze ihn schon seit längerer Zeit. Als man ihn
wiederholt befragte, antwortete er, er habe die Waffe vor drei Wochen
für 7 Mark gekauft, wisse aber nicht wo. Er habe noch etwa zehn
Kugeln dazu bekommen. Ein anderes Mal wieder, nachdem er seine
Erlebnisse in den letzten Wochen erzählt hat, gibt er bestimmt an, er
sei während seiner Beschäftigung auf dem Lilienhof einmal nach F.
gefahren und habe sich dort einen Revolver nebst einer Schachtel
mit 25 Patronen in der Burse (einem bestimmten Geschäftshause) ge¬
kauft. Als Grund hierfür gibt er an, er sei auf dem Lilienhof von
Strolchen angefallen worden (vgl. oben).
Über die nächste Umgebung der Stadt F., in der er mehrere
Monate lebte, weiß er nicht den geringsten Bescheid. Seine Wahn¬
idee, daß seine Frau auf den Konservatorien zu Genf und Leipzig
Musik studiert habe, bringt er auch bei der Vernehmung wieder vor.
Ebenso gibt er wieder an, daß ein jetzt zehnjähriges Mädchen aus
der Ehe mit ihr entsprossen sei. Seine Angaben über seine Ver¬
wandten, das früher von ihm betriebene Geschäft, den Konkurs und
den ersten Aufenthalt in F. entsprachen im wesentlichsten den Tat¬
sachen; nur meint er fälschlich, sein Schwiegervater sei Millionär.
Er weiß auch richtig anzugeben, wo und bei wem er gewohnt hat.
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64
I. Kurt Boas
Ausführlich erzählt er vom Lilienhof, ungefähr wie oben bei Gelegen¬
heit seines Aufenthaltes daselbst berichtet worden ist, nur sagt er hier,
daß er gegen die Verwaltung des Gutes eine Klage wegen Lohn¬
forderung — nicht wegen Verfälschung des Birnenmostes — erheben
wolle. Über seine Rückkehr nach F., die verschiedenen Leute, bei
denen er wohnte, seine Beschäftigung als Kasserolier und seine Ent¬
lassung weiß er gut Bescheid. Dagegen weiß er nicht zu sagen, wo
er sich am 6. herumgetrieben hat, er habe aber an diesem Tage be¬
stimmt auf niemanden geschossen. Er gibt zu, daß er in der folgenden
Nacht nicht nach Hause gekommen ist, schließlich sei er in einen
offenen Hof in der Nähe des Bahnhofs gegangen und habe dort auf
Stroh übernachtet.
Wenn man seinem Gedächtnis Anhaltspunkte bietet, wird die
Erinnerung deutlicher. Den Musketier G. glaubt er bei der Konfron¬
tation wiederzuerkennen. Genauere Angaben macht er, als er der
Leiche gegenübergestellt wird. Auf Befragen erklärt er, er könne
sich erinnern, daß eine ähnlich gekleidete Frauensperson gestern nach¬
mittag mit einem Soldaten an ihm vorübergegangen sei, während er
auf einer Bank auf dem Schloßberge die Zeitung gelesen habe. Ob
es die Ermordete sei, wisse er nicht bestimmt, sie sei aber ähnlich
gekleidet gewesen. Er habe das Unterhaltungsblatt der B.er National¬
zeitung gelesen, die ihm von seiner Frau regelmäßig zugeschickt würde.
Darin hätte ein Aufsatz über die in den letzten Jahren ermordeten
gekrönten Häupter gestanden, mit Abbildungen (in Wirklichkeit ent¬
hielt das Blatt keine Bilder). Er erinnere sich, daß u. a. auch der er¬
mordete König von Serbien und seine Frau abgebildet gewesen seien.
Eine Erklärung für seine Tat vermag er nicht zu geben. „Ich
kann nicht begreifen, daß ich einen solchen Entschluß fassen konnte,
jemanden zu erschießen, ich glaube, daß ich krank bin. Ich glaube
auch, daß ich die Frau treffen 1 ), aber nicht, daß ich sie erschießen
wollte. Ich habe die Frau mein Lebtag nie gesehen. Weiter vermag
ich keine Auskunft zu geben.“ Als man stärker in ihn dringt, wes¬
halb er die Tat vollbracht habe, gibt er an: „Ich wollte die Frau
nicht erschießen. Ich war einfach nicht zurechnungsfähig, anders
kann ich mir die Sache nicht vorstellen“. Bei einem weiteren Ver¬
hör äußert er, er habe sich selbst bei der Polizei stellen wollen 2 ).
1) Mangels aller anderen Beweise könnte man vielleicht an Eifersuchtswahn
denken. Er gönnte dem Soldaten das Mädchen nicht. Vielleicht war auch seine
„Feinfühligkeit“ im Spiel. B.
2) Vielleicht, um bei der Strafausmessung mildernde Umstände zu erlangen.
B.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II.
65
Als man ihm dies vorhält und genauere Auskunft fordert, antwortet
er: „Ieh habe gedacht, ich muß mich revanchieren und mich stellen.
Ich wußte nicht, daß die Dame tot ist. Ich habe sie noch nicht ge¬
sehen. Ich habe mich ganz müssen verwundern, daß ich das ge¬
macht habe. Ich habe jedenfalls wieder einen Anfall bekommen und
nicht gewußt, was ich tue. Fragen sie doch den Advokaten K. in
B., den Vormund meiner Frau, der hat mir schon gesagt, daß es mir
ein wenig im Hirne fehle. Ich bin sonst nie gewalttätig gewesen,
noch nie. Ich möchte ins Spital verbracht werden, weil meine Auge
verschlagen ist, sodaß ich nichts mehr sehe 1 )- Wenn ich morgens
im Gefängnis aufstehe, geht mir alles im Kreise herum. Das ist aber
nur wegen der schweren Schläge, die ich bei meiner Festnahme be¬
kam. Sonst habe ich nur hie und da an Kopfweh gelitten wie die
meisten Leute“. Als man ihn fragt, was er sich beim Anblick der
Leiche gedacht habe, erwidert er: „Wenn ich bei Verstand gewesen
wäre wie heute, hätte ich es nicht getan. Ich habe nie etwas
Schlechtes getan“.
Der Strafbarkeit seiner Handlung ist er sich bewußt, was schon
daraus hervorgeht, daß er während seiner Vernehmung plötzlich ganz
unvermittelt fragt, ob er einen Rechtsanwalt bekommen könne. Auf
die Frage: „Zu welchem Zwecke?“ antwortet er: „Jeder Arbeiter hat
einen“. Später sagt er auch ausdrücklich: „Ich weiß, daß das, was
ich gemacht habe, strafbar ist“.
Nach Eröffnung des Haftbefehls verlangt er selbst, man möchte
ihn in eine Irrenanstalt zur Untersuchung bringen. Später äußert er:
„Ich möchte selbst untersucht werden mit rötlichen Strahlen 2 ), damit
ich weiß, wie das Hirn ist; es ist vielleicht ganz unnormal“. Er wird
denn auch einige Tage nach der Verhaftung in die psychiatrische
Klinik überführt.
Über seinen bisherigen Geisteszustand macht er bei der
Aufnahme folgende Angaben: Nervenkrankheiten seien in seiner
Familie nicht vorgekommen; er stamme überhaupt aus gesunder Fa¬
milie. Von Krankheiten habe er früher einmal Lungenentzündung durch¬
gemacht. Seit zwei Jahren sei er nervenleidend. Er habe zweimal
(vor 2 und l ‘/2 Jahren) nachts im Bett Anfälle von der Art epi¬
leptischer gehabt, habe dies aber auf Wunsch seiner Frau, die es geheim¬
halten wollte, keinem Arzte gesagt. Seine Frau bestreitet das ganz ent¬
schieden. Ferner habe er seit dieser Zeit — wie die Frau bestätigt —
15 kg an Gewicht verloren.
U Sehstörung des Paralytikers (Pupillenstarre).
2) Eine für den Paralytiker außerordentlich charakteristische Redeweise. B.
Archiv für Kriminal an thropologie. 37. ßd. 5
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I. Kurt Boas
Eine venerische Infektion stellt er durchaus in Ab¬
rede 0* Seine Wahnidee von seinem eigenen Kinde bringt er auch
jetzt wieder vor. Tatsächlich war seine Frau von ihm nie gravid.
Getrunken habe er stets sehr mäßig.
Die körperliche Untersuchung ergibt: Er ist hager, aber
genügend genährt. Das Fettpolster ist anscheinend reduziert, die Haut
etwas schlaff. Er hatte eine Glatze. Fieber ist während der Beob¬
achtung nie aufgetreten. Oberhalb des linken äußeren Augenwinkels
sieht man eine noch rote, nicht schmerzhafte Narbe — sie stammt
von dem Schlag, den er bei seiner Festnahme empfing. Der Schädel
ist nicht klopfempfindlich.
Der Gesichtsausdruck ist etwas stupid. An den Zähnen, dem
Gaumen und den Rachenorganen findet sich nichts Abnormes, ebenso
an den Bauchorganen.
Der Thorax ist lang und schmal; die untere Lungengrenze steht
etwas tief. Über dem linken Oberlappen hört man ziemlich reich¬
liches mittelblasiges Rasseln, über dem rechten vereinzeltes Knistern.
Die Perkussion ergibt nichts Bemerkenswertes. Die Herztöne sind
leise und rein; die Herztätigkeit ist regelmäßig.
Am Penis dicht neben dem Frenulum sieht man eine kleine,
wohl sicher von einem Ulcus herrührende, leicht eingezogene, etwas
glänzende Narbe 1 2 ).
Der Urin ist frei von Eiweiß und Zucker. Die Motilität ist in¬
takt, der Gang etwas langsam. Das Rombergsche Phänomen ist nicht
vorhanden. Auch bei seinen Bewegungen zeigt sich keine Ataxie.
Die Berührungssensibilität ist normal; ebenso der stereognostische und
Lagesim. Dagegen ist die Schmerzempfindliehkeit fast am ganzen
Körper herabgesetzt, das Kältegefühl aber deutlich erhöht.
Nervendruckpunkte sind nicht nachzuweisen. Die Gesichts¬
innervation ist symmetrisch. Die Zunge wird gerade hervorgestreckt,
weicht aber im ganzen etwas nach rechts ab. Häufig zeigen sich
fibrilläre Zuckungen.
1) Leider wurde in diesem Fall die Wassermann-Neißer-Brucksche
Reaktion nicht angestellt, die nach Plaut u. a. bei progressiver Paralyse im all¬
gemeinen positiv ausfällt. Ferner ist es möglich, daß M. von seiner Frau infiziert
ist, von der es heißt, sie habe nach der ersten Geburt ein Unterleibsleiden be¬
kommen. Für die Tatsache, daß einer der Ehegatten luetisch infiziert war, spricht
die Sterilität der zweiten Ehe. Bei der Entstehung der Krankheit hat bei M.
zweifellos auch das psychische Trauma (der Konkurs und seine Folgen) mit¬
gespielt. B.
2) Das spricht für sich.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II.
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Die Sprache ist im allgemeinen ziemlich langsam. Das
Nachsprechen von Paradigmen fällt etwas schwer; doch zeigen sich
nicht gerade typische Störungen.
Die Sehnenreflexe sind mit Ausnahme des Achillessehnenreflexes
ziemlich lebhaft, aber nicht abnorm gesteigert, ebenso die Haut-,
Schleimhaut- und Periostreflexe.
Die Pupillen sind verschieden weit, die rechte weiter als die linke.
Die Lichtreaktion ist beiderseits weniger prompt und ausgiebig als
die Konvergenzreaktion. Häufig tritt Entrundung der Pupillen auf,
besonders links.
Die Lumbalpunktion ergibt sehr starke Lymphocytose. Am
nächsten und übernächsten Tage treten sehr heftige Kopfschmerzen auf.
Im Verlauf der weiteren Beobachtung treten öfters Anfälle auf.
Der Patient liegt am Boden, mit Armen und Beinen um sich schlagend
und stark grimassierend. Die Bewegungen zeigen nicht den Charakter
klonischer Zuckungen. Der Kranke ist zunächst nicht zu fixieren;
er stöhnt und jammert. Die Sehnenreflexe sind sehr lebhaft. Eine
Prüfung der Pupillenreaktion ist unmöglich, weil bei jedem Versuch
die Augäpfel stark nach innen gerollt werden.
Allmählich wird der Patient ruhiger, bricht in Tränen aus, klagt
über Kopfschmerzen und verlangt Wasser zu Umschlägen. Der erste
Anfall tritt in der Nacht ein und dauert etwa zehn Minuten. Am
Morgen erinnert sich der Kranke an den Anfall, kann aber keine
Einzelheiten angeben. Der zweite Anfall dauert ca. fünfzehn Minuten;
ihm folgt ein tiefer Schlaf. Bei einem weiteren Anfall zeigt sich
starke Hyperalgesie am ganzen Körper, während sonst die Schmerz¬
empfindung stark herabgesetzt war (s. oben).
Psychisch bietet M. bei der Aufnahme in die Anstalt folgendes
Bild: Er ist ruhig und geordnet; über Ort und Zeit in der Haupt¬
sache orientiert. Fast ununterbrochen liegt er zu Bett und fühlt sich
dabei ganz behaglich. Sinnestäuschungen treten bei ihm nicht auf,
sind auch früher nicht vorhanden gewesen.
Sein Alter gibt er auf 33 Jahre an und fügt hinzu, er sei 1871
geboren. (Das Geburtsjahr stimmt.) Später sagt er, er sei bald 30 Jahre,
ein anderes Mal 37 oder 38 Jahre Als seinen Geburtstag gibt er
an: „ungefähr den 3. oder 4. Mai. (Er ist am 3. Mai geboren.)
Die Intelligenz hat stark gelitten: Auch bei den einfachsten
Eechenaufgaben versagt er oft. Einige der an ihn zur Intelligenz¬
prüfung gerichteten Fragen seien angeführt, um ein Urteil über diesen
Punkt zu ermöglichen und zugleich seine Ausdrucksweise zu kenn¬
zeichnen.
5 *
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I. Kurt Boas
Welche Staaten liegen am Bodensee?
„Die Schweiz nnd Lindau und Konstanz und Säckingen; da ist
eine große Kirche, 1000 Jahre alt.“
Wer war Napoleon?
„Ein Franzos, König oder Kaiser. Er hat viel Krieg geführt
nnd hat sich ausgebildet im Krieg. Er war einer von den tüchtigsten
Militärs.“
Wer war Bismarck?
„Ein Deutscher in Berlin, ein militärischer Vorgesetzter.“
Wann ist Weihnachten?
„Etwas vor Dezember oder Neujahr.“
Welches ist der Unterschied zwischen einem Fluß und einem See?
„Der Fluß läuft, und der See läuft auch ein wenig.“
Welcher Unterschied besteht zwischen einer Kiste und einem Korb?
„Eine Kiste kann man zunageln, einen Korb zunähen.“
Die rückläufige Assoziation vollzieht sich nie fehlerlos. Der Ge¬
dankengang ist langsam, einförmig, schwer beweglich und unlogisch.
Gegen Einwände ist der Kranke ganz hilflos. Auch das Gedächt¬
nis hat sehr gelitten, so hat er z. B. sein Militärjahr, seinen
Hochzeitstag, ja sogar den Namen seines Bruders vergessen. Die
Merkfähigkeit ist ebenfalls unter normal.
Die Stimmung des [M. ist im allgemeinen stumpf-euphorisch.
Ganz unvermittelt und grundlos schlägt sie aber plötzlich für wenige
Augenblicke bald nach dem einen, bald nach dem anderen Extrem
um, sodaß er hell auflacht oder heftig weint. Einen Grund dafür
vermag er selbst nicht anzugeben. Sehr leicht gelingt es, ihn zu erregen,
wenn man es beabsichtigt, doch ebenso leicht, ihn wieder abzulenken
und zu besänftigen. In der Hauptsache ist er ziemlich interesselos,
nur kümmert er sich um sein Äußeres i). So verlangt er wiederholt
eine Bürste, um seine Kleider reinigen, Wichse, um seine Schuhe zu
putzen, Nadel und Faden, um einen kleinen Riß an seinem Rock aus¬
bessern zu können. Er liest ziemlich viel; alles, was ihm in die
Hände fällt, ist „sehr interessant“. Ganz unvermittelt fängt er an
Geschichten von Dritten zu erzählen, vermag aber nachher nicht zu
sagen, warum er es getan hat.
Ethische und ästhetische Defekte sind nicht nachzu¬
weisen. Von seiner Familie spricht er mit großer, fast übertrieben
erscheinender Zärtlichkeit. Einmal fängt er bitterlich zu weinen und
1) Im allgemeinen pflegt der Paralytiker gerade umgekehrt seine Toilette
zu vernachlässigen. B.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II.
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zu jammern an, nachdem er einen Brief seiner Frau gelesen. Bei
einer anderen Gelegenheit äußert er sehr niedergeschlagen: „Es wird
wohl alles (die Mordtat usw.) in die Zeitung gekommen sein, da will
sie nichts mehr von mir wissen“ -
Über seinen Lebenslauf gibt er an, seine Schulbildung sei un¬
genügend gewesen. Begabung habe er nur für Zeichnen und für Re¬
ligion *) gehabt. Deshalb wäre er am liebsten Maler oder doch
wenigstens Pfarrer geworden, man habe ihn aber gezwungen, Metzger
zu werden. Er sei dann dabei geblieben, bis er ein eigenes Geschäft
angefangen habe. Darauf spricht er ausführlich über die Größe seines
früheren Geschäftes und über die schweren Verluste, die er dadurch
erlitten, daß sein Bruder in Monte Carlo große Summen verspielte.
Bei dieser Gelegenheit berichtet er auch in etwas überschwänglichen
Ausdrücken von dem Reichtum und der hervorragenden Stellung
seines Schwiegervaters. Von den erwähnten Gedankengängen läßt er
sich nur mit Mühe und auf kurze Zeit abbringen. Er erzählt wieder
von seinem Konkurs und seiner Stellungslosigkeit. Seine Konflikte
mit dem Strafgesetze durch geschäftliche Dinge gibt er ohne weiteres
zu, wenn er sie auch etwas anders darstellt als die Akten, dagegen
leugnet er entschieden das im letzten Jahre erfolgte Schicken ver¬
leumderischer Briefe und die deshalb erlittene Bestrafung. Die Wahn¬
idee, daß seine Frau Klaviervirtuosin sei, bringt er ausführlich vor,
nachdem er kurze Zeit vorher im Gefängnis angegeben hat, sie sei
Kassiererin im Stadtgarten. Diese Ideen, sowie die Größenideen über
den Reichtum seines Schwiegervaters blassen im Laufe der Beob¬
achtung mehr und mehr ab.
Im Januar (unrichtig!) sei er als Pferdeknecht auf dem Lilien¬
hof eingetreten, habe die Stelle aber wegen ungenügender Kost auf¬
gegeben, sei nach F. gegangen, um hier eine andere zu suchen. Er
habe sich viel bemüht, auch einmal als Kasserolier zu arbeiten ange¬
fangen, sei aber bald wieder entlassen worden. Die einzelnen Daten
weiß er nicht genau anzugeben, auch wirft er offenbar die Reihen¬
folge der Ereignisse durcheinander. Man hat häufig den Eindruck,
als ob sich die Dinge in seinem Gedächtnis überstürzten, und Über¬
sprungenes dann plötzlich wieder auftauchte.
Die Ereignisse am Tage des Mordes gibt er sehr detailliert an,
genau wie zu den Akten. Er bestreitet absolut den Angriff auf die
1) Diese letztere Angabe ist stark in Zweifel zu ziehen. Sie ist vielleicht
durch M.s letzthin aufgetretene Religiosität zu erklären. Zudem kann er doch von
Begabung für Religion nicht gut reden. Es kann sich auch einfach um eine
Größenidee, freilich viel kleineren Stils wie gewöhnlich, handeln. B.
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I. Kxjet Boas
drei Männer auf der Landstraße und behauptet auch jetzt, zur Zeit
der Verletzung des F. in seiner Wohnung gewesen zu sein. Die Er¬
mordung der Dame dagegen gibt er ohne weiteres zu, doch fehlt
offenbar auch hierin die klare Erinnerung. Auf diesbezügliche Fragen
antwortet er immer wieder, er wisse, daß er die Dame erschossen
habe; man habe sie ihm ja vor der Sektion gezeigt, und ihm gesagt,
die habe er erschossen. Er erinnert sich, wie er auf einer Bank saß
und in der B.er Nationalzeitung einen Artikel über die Ermordung
gekrönter Häupter während der letzten Jahre las, gibt auch wiederum
an, es seien Bilder bei dem Artikel gewesen, was nicht der Fall war.
Dann seien ein Herr und eine Dame an ihm vorübergegangen. Be¬
stimmtes über ihr Äußeres kann er nicht angeben. Er versichert
immer wieder aufs neue, er habe sie früher nie gekannt oder auch
nur gesehen. Seine erste deutliche Erinnerung ist dann, daß der Soldat
ihn zu Boden warf, auf ihn kniete, ihn mit Hilfe anderer Männer
festhielt und ihn an der Stirn verletzte, sowie am linken Arme sehr
stark drückte. Auch an seine Abführung ins Gefängnis, das Verhör
und die Konfrontation erinnert er sich.
Seine Urteilsfähigkeit ist im allgemeinen schwach. Im besonderen
fehlt ihm jede Einsicht in seine Lage. Die gegen ihn erhobene An¬
klage kümmert ihn kaum. Er spricht immer sehr viel von seinem
Prozeß, meint aber damit nicht das gegen ihn eingeleitete Verfahren,
sondern dasjenige, das er gegen den Lilienhof anstrengen will. Die
Verwaltung dort müsse ihm 1000 Mark und Beköstigung auf 3 Monate
bezahlen; außerdem werde sie schwer — vielleicht mit einer Million —
wegen Nahrungsmittelfälschung ') bestraft werden. Er habe ja vom
Untersuchungsrichter feststellen lassen, daß der verabreichte Birnen¬
most für Menschen ungenießbar sei. Über diese Angelegenheit schreibt
er auch mehrere Briefe an hiesige und auswärtige Rechtsanwälte. Die
Mordaffäre erwähnt er darin nie. Außerdem kümmert ihn noch sehr
der Verbleib seiner Pfandscheine über die auf dem Leihhause versetzten
Gegenstände. Zwingt man ihn an den Mord zu denken, so kommen
ihm die Tränen, er verzerrt sein Gesicht, krümmt sich, schlägt sich an
den Kopf und stößt laute Schreie aus. Doch das dauert nur einen
Augenblick, dann ist er ruhig, gibt auf fernliegende Fragen ganz affektlos
Antwort oder bringt auch wohl selbst das Gespräch auf andere Dinge.
Auf die Frage, welche Strafe ihm bevorstehe, bleibt er die Ant¬
wort schuldig oder er sagt, er kenne als Schweizer die deutschen
1) Im Hintergründe (Unterbewußtsein) dieses Gedankenganges steht wohl die
Vorstellung, man wollte ihn durch vergiftete Nahrungsmittel beseitigen. • B.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II.
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Gesetze nicht. Er hofft, die Strafe ganz oder doch teilweise
wegzubringen, indem er die 1000 Mark, die er vom Lilien¬
hof bekomme, „dem Herrn, welchem er die Dame er¬
schossen habe, gebe; vielleicht könne auch seineFrau noch
etwas darauf legen zum A bmachen, damit die Sache
ausgeht"
Als man ihn fragt, warum er die Tat begangen habe, meint er:
„Ich bin doch gottesfürehtig. Alle Abende und alle Morgen bet ich
für mich und meine Frau. Aber warum ich geschossen habe, weiß
ich nicht; ich habe die Dame doch nicht gekannt“. Auf die Frage,
ob er denn vielleicht krank sei, gibt er zur Antwort: „Ich muß krank
sein, denn sonst hätte ich das nicht getan. Und ich bin krank, weil
mich der Soldat so geschlagen hat“. Daß er den Schlag erst nach
der Tat empfing, kümmert ihn dabei nicht. Auch später versichert
er immer wieder, er hätte bei gesundem Verstände sicher auf niemanden
geschossen. Der Erwähnung des Mordes sucht er stets auzuweichen.
Öfters bricht er in Tränen aus, wenn man davon spricht.
Über den Zweck seines Aufenthaltes in der Anstalt gibt er an,
sein Geisteszustand solle „kontrolliert“, sein Gehirn mit rötlichen
Strahlen durchleuchtet werden.
Während der weiteren Beobachtung nimmt die geistige Schwäche
immer mehr zu. Die Stimmung ist andauernd sehr labil, doch herrscht
eine demente Euphorie vor. Die Größenideen verblassen allmählich;
allerdings taucht noch einmal eine neue auf. Durch die Lektüre einer
Zeitschrift über Kaninchenzucht angeregt, entwirft der Kranke einen
großen Plan über Anlage einer Zuchtanstalt für Kaninchen, Enten,
Gänse und Hühner, den er nach seiner Entlassung verwirklichen will.
Bei einem Besuche seiner Frau spricht er von allerlei ganz unwichtigen
Dingen; seine Verbrechen erwähnt er überhaupt nicht. Er wünscht,
daß die Frau ihr Haus in einer bestimmten Art photographiere, ihm
Schuhe genau nach seiner Anweisung berrichten lasse, wöchentlich
zweimal mit dem Pferd ausfahre usw. Als sie ihn wiederbesucht,
ist er sehr aufgeregt darüber, daß nicht alle seine Wünsche erfüllt
sind und schließt daraus, sie wolle sich von ihm scheiden lassen.
Ein paar Stunden lang ist er deshalb deprimiert und weint zeitweise,
ist aber später wieder guter Dinge. — Er liest viel, doch ohne Ver¬
ständnis, und schreibt zahlreiche Briefe an Rechtsanwälte und Ver¬
wandte, worin er von allem Möglichen spricht, nur nicht von dem
gegen ihn schwebenden Verfahren. Das Interesse an der Durch¬
führung des Lindenhofprozesses verringert sich stetig. Sein ganzes
Benehmen wird kindisch, die Urteilsschwäche nimmt immer mehr und
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I. Kurt Boas
mehr zu und die Gedankengänge werden immer zerfahrener. Da¬
gegen ist die Orientierung exakter. So gibt er jetzt sein Alter richtig
an und kennt sein Geburtsjahr, freilich nicht sicher den Geburtstag.
Bei der Verlegung auf die allgemeine Abteilung fürchtet er sieb zu¬
erst vor den Mitpatienten, nach und nach wird er mit seiner neuen
Umgebung etwas vertrauter.
Nach Abschluß der gesetzlichen Beobachtungsdauer wird er ins
Untersuchungsgefängnis zurückgebracht. Er befindet sich bis zuletzt
in gehobener Stimmung und ist voll guter Hoffnung für die Zukunft.
Über seine Rückkehr in die Anstalt nach Einstellung des gegen
ihn schwebenden Verfahrens ist er sehr erfreut, dann das Essen sei
hier besser als im Gefängnis. Außerdem wisse er, daß er nur noch
14 Tage hier zu bleiben habe und dann auf freien Fuß gesetzt werde.
Sein körperlicher und psychischer Zustand ist unverändert. Er spricht
viel von seinem Plane einer Kaninchenzuchtanstalt. Im ersten Jahre
werde er damit 3000 Franken, in jedem folgenden das Doppelte der
vorjährigen Einnahme verdienen. Seine Stimmung ist dement¬
euphorisch, sein ganzes Wesen läppisch. Es fehlt ihm jedes Urteil,
besonders über sich und seine Lage.
Soweit die Geschichte dieses Mordfalles, der Steudemann noch
ein paar epikritische Betrachtungen zugibt, auf die ich hier kurz noch
eingehen möchte. Steudemann nimmt in diesem Falle Dementia
paralytica auf der Basis einer luetischen Infektion an, die er in den
Residuen eines alten Ulcus durum gegeben sieht. Damit ist wohl die
Diagnose „metasyphilitische Geistesstörung“ sichergestellt, wohl aber
drängt sich die Frage auf: Handelt es sich um eine Dementia para¬
lytica oder um die gummöse oder vaskuläre Lues cerebri? Schließlich
wäre auch noch differential-diagnostisch an die gar nicht so seltenen
Zustände zu denken, die das klinische Bild der progressiven Paralyse
Vortäuschen und als solche imponieren und die man daher mit dem
Namen „Pseudoparalyse“ belegt hat. Ich will hier nicht die Frage
entscheiden, um welche der drei in Frage kommenden Erkrankungen es
sich hier handelt, was sich wegen der von den verschiedenen Autoren
beliebten Dehnbarkeit der betreffenden Krankheitsbegriffe ja sowieso
erübrigt.
Wie außerordentlich schwierig sich oft die Differentialdiagnose
zwischen Lues cerebri und progressiver Paralyse stellen läßt, da pro¬
gnostisch und forensisch davon das Schicksal des Kranken
abhängt, zeigen mehrere von Göring 1 ) berichtete Fälle:
1) Göring, Zur Begutachtung geisteskranker Sittlichkeitsverbrecher. In-
augural-Dissertation Bonn 1908, S. 109.
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Im ersten Falle handelte es sich um einen 43jährigen geschiedenen
Backofenbauer, der sich mehrfach gegen § 176,3 vergangen hatte. Aus
der Vorgeschichte ist hervorzuheben, daß seine Mutter zwei Suicidversuche
gemacht hat. Er selbst ist vorbestraft, darunter dreimal wegen Vergehens
gegen § 176,3, einmal gegen § 175,2. Jetzt ist er wegen Vornahme un¬
sittlicher Handlungen an einem Kinde angeklagt. Potus und luetische
Infektion werden zugegeben.
Die Anstaltsbeobachtung ergab: Schlechter Ernährungszustand. Linke
Pupille weiter als rechte. Reaktion auf Lichteinfall beiderseits wenig aus¬
giebig. Patellarreflexe fehlen. Anästhesie der unteren Extremitäten.
Gang unsicher. Romberg positiv. Incontinentia urinae. Psychisch: sehr
stumpf und unorientiert. Antwortet auf alle Fragen: „Ich weiß nicht“.
Klagt über intensive Kopfschmerzen. 12 Tage nach der Aufnahme Anfall,
der nach seinen Beschreibungen als epileptiform angesehen werden muß,
kein Bettnässen, kein Zungenbiß. Am nächsten Morgen Amnesie. Akoasmen.
Glaubt die Stimmen seiner Eltern zu hören.
Keine Erinnerung an die Straftat. Weint viel. Intelligenzprüfung fällt
sehr schlecht aus. Eine ihm zum Behalten aufgegebene Zahl hat er nach
10 Minuten vergessen. Sprache sehr stotternd und abgehackt, aber nicht
typisch paralytisch; Schrift undeutlich, unsicher, kaum leserlich. Im Lumbal¬
punktionssekret massenhafte Lymphocyten.
Diagnose: Taboparalyse (Entwicklung des jetzigen Leidens kann un¬
möglich in kurzer Zeit vor sich gegangen sein). Daher war Patient bei
Begehung der Tat bereits krank. Dazu kommt Alkoholexzeß kurz vor der
Tat. Es sind hier die Bedingungen des § 51 St.G.B. gegeben.
Außer Verfolgung gesetzt.
Nach 6 Wochen dasselbe Bild; nach weiteren 6 Wochen auf Jodkali¬
behandlung deutliche Besserung. Nach 4 Monaten arbeitsfähig, nach weiteren
L1 Monaten entlassen.
Pupillenbefund während der ganzen Aufenthaltsdauer sehr wechselnd.
Patellarreflexe fehlen stets. Noch immer Analgesie der unteren Ex¬
tremitäten, wenngleich in geringerem Maße Romberg negativ. Intelligenz
mäßig. Gedächtnis und Merkfähigkeit ziemlich gut. Die korrigierte Diagnose
lautete jetzt auf Lues cerebrospinalis -+- Tabes.
Einen ähnlichen Fall teilt Wille 1 ) mit, bei dem die Sektion zwei
Gummata in der ersten linken Scheitelwindung feststellte. Trotzdem wurde
der Patient als zurechnungsfähig erklärt. In dem Gutachten gab Wille
an, es seien wohl Symptome, die 'auf eine organische Hirnaffektion hin¬
deuten, vorhanden, der Patient simuliere aber Erscheinungen von Geistes¬
und Gedächtnisschwäche. Nach Jodkali trat Besserung ein, der Kranke
behauptete aber von der Tat nichts zu wissen.
Auch in dem Falle von Göring wurde einen Augenblick an
Simulation gedacht, dieser Verdacht aber nach dem ganzen Krankheits¬
verlauf und Benehmen des Pat. wieder fallen gelassen. Sagt doch
Mendel, gewiß ein kompetenter Fachmann, ein Geistesgesunder könne
1) W ille, Ein Fall von fraglicher Simulation. The medico-legal Journal.
Ref. Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie Bd. XVIII, Literaturheft.
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74
I. Kurt Boas
nicht einen Tag einen Paralytiker simulieren, ohne aus der Rolle zu
fallen. Auf jeden Fall ergibt sich aus den beiden oben mitgeteilten.
Fällen, daß oft die Therapie die definitive Bestätigung der Diagnose:
Lues eerebri bringt. Tritt nach einer spezifischen anti¬
luetischen Kur (von Hg-Kuren ist bei dem nervösen Zustande
der meisten Kranken abzuraten. Es empfehlen sich Jodkalikuren)
eine Besserung des objektiven Befindens ein, so spricht
das sehr für Lues eerebri, indem das Jodkalium die
Gummata zum Schwinden bringt.
Vergleichen wir die beiden Fälle mit dem Steudemanns, so
wird uns nicht entgeheu, daß sie in vielen Einzelheiten übereinstimmen.
Wir finden ästhetische und kinästhetische Abnormitäten, wir beob¬
achten Kältehyperästhie, Tremor, Romberg, Parese der Beine, Ver¬
schlechterung der Schrift, starke Herabsetzung der Merkfähigkeit, all¬
gemeine Intelligenzschwäche. Wir finden in bezug auf das Verhalten
der Lumbalflüssigkeit beide Male massenhafte Lymphocyten, wir
beobachten Stimmungswechsel, Arbeitsunfähigkeit, Anfälle usw. usw.
Auch die Impotenz des paralytischen Mörders paßt sehr gut hierher.
Leider ist in dem Fall Steudemanns das Experimentum crucis, die
Jodkalikur, unterblieben. Wenn Steudemann sagt, der Täter wurde
auf Grund der hervorstechendsten Symptome als Paralytiker erkannt
und als solche Ungleichheit der Pupillen, Trägheit, der Lichtreaktion,
fibrilläre Zuckungen, Hypalgesie und Kältebyperästhesie, sowie
Lymphocytose der Cerebrospinalflüssigkeit nennt, so muß ich ihm auf
Grund des Falles von G ör in g entgegenhalten, daß sich diese Symptome
ebenso gut bei der Lues cerebrospinalis wie bei der prognostisch
infausten Dementia paralytica finden. Ich bin natürlich weit entfernt,
die Diagnose Steudemanns bezw. seines Chefs, Prof. Hoche, an¬
zuzweifeln. Das wäre nur durch persönliche Beobachtung zu ermög¬
lichen. Aber die Diagnose „Dementia paralytica“ scheint mir doch
nicht mit so absoluter Sicherheit gegeben, wie Steudemannes dar¬
stellt. Das ist aber, wie gesagt, Ansichtssache.
Daß die Krankheit schon zur Zeit der Begehung der ersten Straf¬
taten aufgetreten ist, möchte Steudemann verneinen.
Interessant sind die Gründe, welche Steudemann für die Ver¬
brechen des M. anführt. Es hat immer etwas Mißliches, sich in den
Gedankengang eines Geisteskranken hineinzuversetzen. Ja wenn
die Sache so einfach wäre, wie bei der manischen oder melan¬
cholischen Wahnbildung, wo das Krankheitsbild lediglich durch
positive bezw. negative Gefühlstöne beherrscht wird? Ziehen be¬
tonte einmal mit vollem Rechte in einer Vorlesung, er könne jeden
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II.
75
Gedankengang eines Irren mitdenken, nur nicht den eines Para¬
lytikers und eines Hebephrenen.
Steudemann deutet den ersten Mordversuch gegen den alten
Mann im Gehölz als einfache Abwehr. Er glaubt sich durch seinen
Bengel bedroht und schoß darauf. Er hat die Tat noch mit einer
gewissen Überlegung ausgeführt. Auffallend ist die Sicherheit und
Ruhe bei der Tat, die daraus hervorgeht, daß von den vier abgegebenen
Schüssen nur ein einziger fehl ging. Man kann wohl den ersten Mord¬
versuch sehr wohl als von einer Verfolgungsidee diktiert erklären.
Der zweite Mordversuch ist ebenfalls durch Verfolgungs- und
Vergiftungsideen bedingt. Die Angst ist es, die ihn veranlaßte, sich
einen neuen Revolver zuzulegen und ihn stets bei sieh zu tragen die¬
selbe Angst, die ihn auch bewog, sich stets im Zimmer einzuschließen.
Der dritte Mordversuch steht mit Sicherheit mit der Zeitungs¬
lektüre in ursächlicher Beziehung. Dieselbe scheint seine Phantasie
außergewöhnlich in Anspruch genommen zu haben. Dazu tritt die
permanente ängstliche Erregung, die ihm die Waffe gegen ein fried¬
lich daherkommendes Liebespaar in die Hand drückte. Ob dabei
seine Furcht vor dem Militär (oder besser bunten Rock) eine Rolle
spielte, wie Steudemann annimmt, oder vielmehr eine plötzliche
Aufwallung von Sinnlichkeit, möchte ich dahin gestellt sein lassen.
Die Ausführung ist stereotyp. Immer macht er sich an Leute
von denen er sich bedroht fühlt, von hinten heran und knallt sie
nieder. Aber nicht plump und ohne Überlegung. Gerade das scheint
mir auch gegen Dementia paralytica zu sprechen. Erleichtert wurde
die Ausführung durch den Genuß von V 2 .I Wein am Mordtage, der
auch die letzten Hemmungen sozusagen „hinunterspülte“. Mit Recht
weist Steudemann auf die Alkoholintoleranz des Paralytikers hin.
Das Angstmotiv überträgt Steudemann auch auf die Angriffe
gegen die drei Männer auf der Landstraße und erklärt sie mit dem
Hereinbrechen der Dunkelheit und dem Vorbeifahren mit einem Fahrrad.
Aber für alle Handlungen M.s gibt es noch eine Erklärungs¬
möglichkeit: sie als Schießübungen eines Schwachsinnigen auf be¬
wegliche Dinge anzusprechen. Ich glaube mit Steudemann, daß
diese letztere Erklärung mehr für sich hat, als die erstere, die zu dem
Wesen dnr Dementia paralytica nicht recht paßt. Genau so wie wir oben
vom paralytischen Arzt berichtet haben, er mache allerlei falsche Ein¬
griffe und Prozeduren, so gilt dies auch für den paralytischen Kutscher
oder Schützen. Für diese Auffassung scheint Steudemann auch die
Auffassung M.s zu sprechen, er habe die Dame nur treffen, nicht aber
erschießen wollen. Ich möchte auf diese Äußerung nicht viel geben.
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76
I. Kurt Boas
Im Vergleich mit den Fällen aus der Literatur findet Steude-
mann mehrfache Abweichungen:
1. Handelt es sich in der Literatur stets nur um einen Mordfall.
2. Ist niemals ein tödlicher Ausgang festzustellen.
Steudemann erwähnt zwei Fälle von Marandon de
Montyel '), bei denen eine Wahnidee das Motiv der Tat bildet und
der Schwachsinn ganz zurücktritt. Es handelte sich um einen bis
dahin nicht auffälligen Mann, der sich bei der Heirat eines Freundes
erbot, diesem für die Hochzeitsnacbt seine Genitalien zu leihen. Zu¬
nächst hielt man diese Äußerung für einen unpassenden Witz. Als
der Paralytiker seinen Freund nach einigen Wochen wiedertrifft, be¬
klagt er sich bitter, daß jener ihm das Geliehene noch nicht zurück¬
gegeben habe. Diese Klage wiederholt er mehrmals und schließlich
fordert er sein Eigentum sehr energisch zurück. Er wird natürlich
ausgelacht. Voller Wut lauert er nun seinem Freunde mit einer
Flinte auf, verletzt ihn aber glücklicherweise nicht schwer. Zum Ent¬
stehen der Wahnidee hatte wesentlich beigetragen, daß der Kranke
seine Impotenz bemerkte. Deutliche Zeichen der Geisteskrankheit fehlten
vor der Tat. Steudemann betont mit Recht die Ähnlichkeit des
Verbrechens mit dem eines Paranoikers und nimmt an, der Kranke
habe die Tat im Initialstadium der progressiven Paralyse begangen,
als die Demenz noch latent war. Im zweiten Fall von Marandon
de Montyel handelte es sich um Begebung eines Mordversuches
durch einen Paralytiker zur Verdeckung eines mißglückten Betruges 1 2 3 ).
Der Täter will sein Opfer mit einer Schnur, die er ihm um den Hals
legt, erdrosseln, entfernt aber nicht einmal ein dickes Tuch, das den
Hals schützt, und legt den Strick so lose an, daß die Haut kaum ge¬
quetscht, geschweige denn die Luftröhre zugeschnürt wird. Be¬
merkenswert ist die große Ruhe nach der Tat. Der Täter geht in
ein Cafe, ißt und trinkt und spielt seine gewohnte Partie Domino,
ohne irgendwie aufzufallen. Im dritten Falle ist der Kranke schon
mehrere Tage vor Begehung der Tat, mit einer Sense bewaffnet, um
das Haus einer ihm bekannten Frau herumgestrichen. Eines Abends
tritt er ein, grüßt die Bewohner und setzt sich zu ihnen, ohne an
ihrer Unterhaltung teilzunehmen. Plötzlich erhebt er sich, ergreift
1) Marandon de Montyel, Annales d’Hygiene publique 1888.
2) Vielleicht kommt auch die Eifersucht und die sinnliche Erregung über
die Annehmlichkeiten der Brautnacht, die der Freund demnächst auskosten wird,
in Betracht. Das ist m. A. ganz gut denkbar.
3) Diese Betrugsaffäre wird sicherlich auch schon während der Erkrankung
sich abgespielt haben.
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Forensisch psychiatrische Kasuistik. II.
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seine Sense und schlägt damit einen der Dasitzenden auf den Kopf.
Einen anderen, der diesem zu Hilfe kommt, verletzt er an der Hand.
Als Grund gibt er einfache Notwehr an, wirft den Verletzten auch
Brandstiftung vor. Ein anderes Mal weiß er für seine Tat keinen
Grund anzuführen, indessen hat es nach seinen Äußerungen den An¬
schein, als ob er gegen sein Opfer einen — übrigens durchaus un¬
gerechtfertigten — Haß gehegt hat.
Zum Schluß macht Steudemann darauf aufmerksam, daß die
Mehrzahl der Mordfälle von Paralytikern in den späteren Stadien der
Krankheit sich ereignen (von 4 Fällen drei), während nur einer die
Tat im Prodromalstadium beging.
Y. Kasuistische Beiträge zum Kapitel der Sexualdelikte.
Psychosen und Neurosen als Folgezustände von Sittlich¬
keitsattentaten nebst Vorschlägen über eine Enquete
zur Feststellung ihrer Häufigkeit.
Den Spätfolgen der Notzucht ist bisher in der Literatur wenig
Beachtung geschenkt worden, v. Krafft-Ebingß erwähnt, daß
rohe Verletzung der Geschlechtsehre (Notzucht) als Ursache des Irre¬
seins in Frage kommen könne. An anderer Stelle 1 2 ) erwähnt er
Kohabitationspsychosen im Anschluß an den ersten Beischlaf. In
diesen Fällen bestand entweder schon vor der Ehe eine Psychose,
von der man durch die Ehe Heilung erhoffte, oder es war eine
Deflorationspsychose, schließlich nennt er psychisch-traumatisch Psy¬
chosen, die durch die Brutalität und rücksichtlose Agression des Ehe¬
mannes zum Ausbruch kamen.
Des weiteren beschreibt v. Kraff t-Ebing 3 ) folgenden Fall von
Geisteskrankheit nach diesem Notzuchtsattentat.
Die 18 Jahre alte Magd L., erblich nicht belastet, früher gesund,
noch nicht menstruiert, wurde mit 14 Jahren das Opfer eines Atten¬
tates. Als sie sich vom ersten Schrecken erholt hatte, fühlte sie sich
unbehaglich, wie wenn ihre eine schwere Krankheit bevorstehe. Sie
empfand Mattigkeit, Unfähigkeit zur Arbeit, Kopfweh und quälenden
Druck in der Gegend (stenocardische Beschwerden), allmählich traten
hysterische Krankheitszeichen auf; mit 17 Jahren wurde die Diagnose
auf Hysteroepilepsie gestellt. Neun Monate später machten sich die
1) v. Kraff t-Ebing, Lehrbuch der Psychiatrie. 7. Aufl. 1903. S. 163.
2) Ebenda S. 187.
3) v. Krafft-Ebing, Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie.
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I. Kurt Boas
ersten Anzeichen einer psychischen Störung bemerkbar. Mit den
Phasen psychischer Depression verband sich Praekordialangst, auf
deren Höhe Taedium vitae und Antrieb zum Zerstören auftrat. Im
weiteren Verlauf traten Gehörs- und Gesichtshalluzinationen hinzu
(Akoasmen und Visionen). Dabei mehrten sich die hysterischen Anfälle.
Nach mehrmonatiger Beobachtungszeit trat eine Veränderung des
Krankheitsbildes ein. Über den weiteren Verlauf liegen keine näheren
Angaben vor.
Schlock ow 1 ) erwähnt nur kurz, daß psychische Insulte in Form
von hysteroepileptischen und melancholischen Zuständen, besonders
bei Kindern gelegentlich Vorkommen.
Etwas eingehender werden die psychischen Traumen nach Sitt¬
lichkeitsdelikten in der gerichtlich-medizinischen Literatur behandelt.
v. H o ff m an n 2 ) gibt folgendes an: Bei Erwachsenen können infolge
des mit gewaltsamer Erzwingung des Beischlafes verbundenen heftigen
Affekts und der Angst, sowie infolge der durch den Verlust der Ge¬
schlechtsehre gesetzten gemütlichen Depression neuro- und psycho¬
pathische Zustände eintreten. Besonders leicht kann es zu Melancholie
und sowie zu Hysterie und hysterischer Epilepsie kommen, etwa schon
bestehende Psychosen erleichtern die Prädisposition zu geistigen Er¬
krankungen 3 ).
Hab er da 4 ) äußert sich folgendermaßen: Ausnahmsweise kommt
es bei disponierten Personen zu schweren nervösen und psychischen
Störungen im Anschlüsse an ein Stuprum, wobei die psychische Auf¬
regung bei dem Akte selbst, namentlich der Schreck, sowie die De¬
pression infolge der Schande eine Bolle spielen, v. Krafft-Ebing 5 )
hat mehrere Fälle mitgeteilt, in denen Geisteskrankheit auf ein Not¬
zuchtsattentat gefolgt war, desgleichen Maschka 6 ) einen Fall von
Nervosität und Schreckhaftigkeit bei einem genotzüchtigten Mädchen,
welche Zustände allerdings nach 6 Wochen in Heilung übergingen,
von ihm aber als „wichtiger Nachteil an der Gesundheit“ begutachtet
wurden. In einem von uns untersuchten Falle wurde eine Steigerung
der schon früher bestehenden Nervosität behauptet. Auch Zustände
1) Schlockow, Roth-L epp mann, Der Kreisarzt. 6. Auflage. Berlin.
1906. S. 150.
2) v. Hoff mann, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin 7. Aufl. 1895. S. 160.
3) Derselbe Passus findet sich wörtlich in der 9. Aufl. 1903. S. 153!
4) Haberda, Schmidtmanns Handbuch der gerichtlichen Medizin. Bd. I.
S. 253, 1905.
5) v. Krafft-Ebing, Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin. 1874.
N. F. Bd. XXI, S.”53.
6) Maschka, Handbuch, Bd. III. S. 161.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II.
79
von Hysterie können auftreten, desgleichen, wie eine Beobachtung von
v. Krafft-Ebing ') lehrt, Chorea. Außer dem Nachweise des Be¬
standes der betreffenden nervösen oder psychischen Erkrankung kommt
es wesentlich darauf an, festzustellen, daß tatsächlich ein ursächlicher
Zusammenhang bestehe, was aus den zunächst aufgetretenen Er¬
scheinungen und dem zeitlichen Ablauf der krankhaften Störungen
zu erschließen sein wird, allerdings nur dann, wenn die betreffende
Person vorher erwiesenermaßen von solchen Zuständen frei war
Vorsicht ist hier sehr angezeigt, denn es kommen vielfach bewußte
und unbewußte Lügen vor.“
Und in einer Fußnote zitiert Hab er da des weiteren einen Fall
von Sch äff er 1 2 ). Es stellte sich nämlich bei der genotzüchtigten
20jährigen Person noch am Tage des mit rücksichtloser Brutalität
und mit Wurge.n ausgeführten Attentates Bluthusten ein, der dann in
vierwöchentlichen Pausen sich noch zweimal wiederholte, indes die
früher regelmäßige Menstruation fast völlig versiegte. Diese vika¬
riierenden Menstrualblutungen führt Sc h äf f er auf angioneurotischeZu¬
stände infolge des Schreckaffekts zurück.
Das wäre im großen und ganzen die recht spärliche Ausbeute,
die wir in der Literatur vorfinden. Neuerdings hat Schlottmann 3 )
die Kasuistik um zwei weitere Fälle bereichert, die hier mitgeteilt
seien.
I. Wilhelmine R., 22 Jahre alt. unehelich geboren, ledig, keine
erbliche Belastung nachweisbar, entwickelte sich als Kind körperlich
und geistig in normaler Weise. Sie hat alle Klassen der Volksschule
durcbgemacht, faßt leicht auf und lernte fleißig. Nach erfolgter Kon¬
firmation trat sie mit 16 Jahren einen Dienst als Gänsehüterin an,
wurde später Hausmädchen und am 24. Oktober 1904 Leuteköchin
auf einem Gutshofe. Sie galt allgemein als ein anständiges, ordent¬
liches und fleißiges Mädchen.
Am 11. März 1905 wurde die R., als sie abends in dem sog.
Leutezimmer das Essen der Knechte abräumen wollte, von diesen
anfangs durch unsittliche Redensarten belästigt, darauf gewaltsam
entblößt und an die Genitalien gegriffen. Zur Ausübung der Not¬
zucht kam es indessen nicht. Nach diesem Ereignis ist sie häufig der
Gegenstand des Spottes der Knechte und Mägde gewesen.
1) v. Krafft-Ebing, Wiener klinische Wochenschrift. 1899. Nr. 48.
2 ) Schaffer, Über vikariierende Blutungen und ihre Folgen. Vierteljahrs¬
schrift für gerichtliche Medizin. 1900. 8. Folge. Bd. XIX.
8) Schlottmann, Schreck (Notzuchtsversuch) und Geistesstörung. Inaugural-
Dissertation. Rostock 1906.
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I. Kurt Boas
Etwa 3 Wochen nach diesem Vorfall begann die R., die bis dahin
fleißig und regelmäßig gearbeitet hatte, nachlässig zu werden. Arbeiten,
die sie bisher täglich verrichtet hatte, konnte sie nicht mehr in der¬
selben Zeit und in derselben Weise leisten wie früher. Gleichzeitig
machten sich bei ihr Zeichen von Erregung bemerkbar, so daß sie
auch nachts keine Ruhe finden konnte; dabei war sie leicht weiner¬
lich gestimmt und jammerte häufig, „ihre Mutter müsse sterben“.
Am 12. April wurde die R. von ihrem Arbeitsgeber entlassen und
zog zu ihrer Mutter, bei der sie sich einige Tage vollkommen ruhig
verhielt. Dann traten plötzlich die Zeichen von Erregung in ver¬
stärktem Maße wieder hervor; sie fing an zu singen, redete oft von
ihrer Heirat, von ihrer Unschuld usw. Am nächsten Tage mußte
sie, da sie fortwährend zum Hause hinausdrängte, mit Gewalt zurück-
gehalten werden. In der folgenden Nacht fand sie keine Ruhe, sang
andauernd und verließ häufig ihr Bett. Nahrung hatte sie in den
beiden letzten Tagen nicht mehr zu sich genommen.
Am 17. April erfolgte die Aufnahme der Kranken in die psychia¬
trische Klinik zu Rostock-Gehlsheim (Direktor: Prof. Dr. Schuch -
hardt); sie zeigte auch hier ein sehr erregtes Wesen.
Die Kranke ist ein mittelgroßes kräftig gebautes Mädchen von
mittlerem Ernährungszustand. Die körperliche Untersuchung bietet
außer einer geringen Steigerung den Sehnenreflexe keine Besonder¬
heiten dar.
Bei der psychischen Exploration zeigt es sich, daß die Kranke
örtlich und zeitlich nicht orientiert ist, dagegen vermag sie über ihre
eigene Person einige richtige Angaben (Geburtsort, Tag, Alter) zu
machen. Auch den Notzuchtsversuch beschreibt sie anschaulich und
wahrheitsgetreu. Auf alle weiteren Fragen gibt sie mit lächelnder
Miene unverständliche, völlig verwirrte Antworten, dabei sich selbst
durch unmotiviertes, gellendes Lachen unterbrechend. Sich selbst über¬
lassen singt sie unausgesetzt.
Im ganzen zeigt die Kranke eine rein ausgesprochene heitere
Stimmung, die nur vorübergehend bei der Erwähnung des unsittlichen
Attentates für kurze Zeit in eine weinerliche übergeht. Sie bleibt
im allgemeinen motorisch ziemlich ruhig, relativ wenig Gestikulationen.
Bei sehr eindringlichen Fragen ist die Kranke zu einzelnen ent¬
sprechenden Fragen zu konzentrieren.
Sie wird mit dauernder Bettruhe behandelt. Prolongierte Bäder
wirken etwas beruhigend, genügender Schlaf wird durch Injektion
von Morphium und Hyoscin erzielt. Der Appetit war leidlich gut.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II.
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Am Ende der ersten Krankbeitswoche, in deren Verlauf sieh der
geistige Zustand der ß. nicht veränderte, tritt wiedervon selbst ge¬
nügender Schlaf ein.
In den nächsten Monaten änderte sich das Krankheitsbild nicht
wesentlich; Zeichen gesteigerter Erregung *) wechseln mit ruhigeren ab.
Anfang September wird ein Abklingen der psychischen Erregung
deutlich bemerkbar. Der Kranke fängt an, für ihre Umgebung und
die Außenwelt Interesse zu bekunden, sie schreibt zwei völlig geord¬
nete Briefe an ihre Mutter und beschäftigt sich mit Handarbeiten.
Am 8. September steht sie zum ersten Male auf. Bereitwillig gibt
sie jetzt auf die an sie gerichteten Fragen korrekte Antworten; es
fehlt jede ßückerinnerung an den Beginn der Krankheit; dabei besteht
aber vollkommene Krankheitseinsicht. Sie gibt zu, während der
Krankheit häufig Stimmen, die sie verfolgten, gehört und mitunter
auch Visionen gehabt zu haben.
Im Laufe des Oktobers nimmt die Besserung stetig zu. Die
Kranke ist dauernd in der Küche beschäftigt. Im Zimmer verhält sie
sie sich geordnet mit anderen Kranken und liest eifrig Zeitung.
Am 13. November wird sie als geheilt aus der Anstalt entlassen.
Epikrise.
In dem vorliegenden Falle handelte es sich um eine nach einem
sexuellen Trauma aufgetretene Psychose. Nach den angestellten Er¬
mittelungen ist weder erbliche Belastung noch psychopathische Kon¬
stitution bei der Kranken nachweisbar, woraus zunächst hervorgeht, daß
die vorliegende geistige Erkrankung nur äußeren Ursprungs ist. Da
auch kein körperliches Trauma vorliegt, so ist mit Sicherheit anzu¬
nehmen, daß der psychische Insult des Schreckens, der durch den
Angriff auf die Geschlechtsehre gesetzt wurde, den ätiologischen Faktor
für die Erkrankung repräsentiert.
Was die Form der Psychose betrifft, so stehen hier neben dem
akuten Beginn daneben die Halluzinationen von seiten des Gehörs und
Gesichts (! Verf. meint augenscheinlich Auge und versteht unter Ge¬
sichtshalluzinationen lediglich den Sitz der Visionen. Jedenfalls ist
der Ausdruck Gesichtshalluzination entschieden zu beanstanden. B.),
sowie die hochgradige Verworrenheit im Vordergrund. Daneben
finden sich Anomalien der Stimmung und zwar meist heiterer Fär¬
bung, die indessen jeglichen Affekt vermissen lassen (= Hyperthymie
vom griechischen xf-v^iög und vrteg. B.). Bei Zusammenfassung dieser
1) Hängt vielleicht mit der Periode zusammen. B.
Archiv für Kriminalanthropologie. 87. Bd. 6
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I. Kurt Boas
Krankheitserscbeinungen kommt man daher zu dem Schluß, daß es
sich in diesem Falle um einen Zustand akuter halluzinatorischer
Verworrenheit der Amentia (Meynert) gehandelt hat. (Ich
meinerseits möchte in diesem Falle die Diagnose auf manisch-depres¬
sives Irresein (oder besser depressives-manisch-depressives Irresein)
stellen mit besonderem sexuellen Einschlag, welchem Umstand Schlott-
mann in der Epikrise nicht gerecht wird. Wir beobachten ein
psychisches Trauma, darauf eine kurze depressive Phase und dann
eine ausgesprochene maniakalische Stimmung der Kranken, der
wiederum eine depressive Phase folgt. B.)
II. Anna N., 38 Jahre alt, ledig, erbliche Belastung nicht nach¬
weisbar, war als Kind stets gesund, lernte leicht und hat die Volks¬
schule gut durchgemacht. Nach der Konfirmation hatte sie mehrere
Stellen als Dienstmädchen inne.
Nach den Angaben der Mutter wurde die N. im Alter von 19 Jahren
von einem Manne zu vergewaltigen versucht. Die Ausführung der
Tat gelang nicht. Als die N. sich vom ersten Schrecken erholt hatte,
verfiel sie in Krämpfe, die sich in der nächsten Zeit wiederholten.
Im Laufe der Jahre nahmen Häufigkeit und Heftigkeit der
Krämpfe, die mit Bewußtseinsverlust einhergingen, mehr und mehr
zu, so daß auch in der Zwischenzeit das Sensorium oft nicht frei war.
Am 3. Februar 1900 wurde die Kranke in die psychiatrische
Klinik zu Rostock aufgenommen.
Schon während des Eisenbahntransportes und sogleich nach der
Aufnahme stellte sich ein krampfartiger Zustand ein: Kopf zurück¬
gebogen, Augen weit geöffnet, Pupillen übermittelweit, Cornealreflex
vorhanden, Respiration angehalten, Puls verlangsamt.
Die Kranke ist nach dem Anfall völlig benommen. Abends
wiederholen sich diese Zustände mehrmals, dabei große motorische
Unruhe, fortwährendes Hin- und Herwerfen im Bett. Schlaf wird
nach einer Sulfonalgabe von 1 g erzielt.
In den beiden nächsten Tagen ähnliche Krampfzustände, einmal
ein 5 Minuten währender Schreikrampf. Große Unruhe, wirft sich
aus dem Bett, schlägt mit großer Gewalt mit dem Kopf mehrmals
auf den Fußboden, bricht plötzlich in heftiges Weinen aus, gibt auf
Fragen nur zögernd und spärlich Auskunft, wobei es sich zeigt, daß
die Kranke weder über Ort und Zeit noch über ihre eigene Person und
die Ereignisse der letzten Tage orientiert ist.
Am nächsten Morgen ist die Kranke ruhiger und weniger be¬
nommen; sie gibt etwas besser Auskunft über ihre Krankheit und
den erlittenen Unfall. Auch zeitlich erweist sie sich als orientiert.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II. 83
Die Patientin ist mittelgroß, zart gebaut, in mäßigem Ernährungs¬
zustände, trägt seit ihrem 21. Lebensjahre wegen einer leichten Läsion
der Lendenwirbelsäule ein Gipskorsett. Es bestehen keine Lähmungs¬
erscheinungen. Die Pupillen sind etwas weit, gleich konzentrisch,
reagieren prompt auf Lichteinfall nnd Convergenz. Die Reflexe weisen
nichts Besonderes auf, kein Fußklonus. Bei Prüfung der Sensibilität,
die durch die etwas unsicheren Angaben der Kranken erschwert wird,
ergibt sich, daß leichtere Nadelstiche an den unteren Extremitäten
nicht empfunden werden. Nur in der Kniegegend besteht beiderseits
normale Empfindlichkeit, ebenso an den oberen Extremitäten. Die
Conjunctivae bulbi sind vollkommen anästhetisch, die Berührungs¬
empfindlichkeit der Rachenschleimhaut ist herabgesetzt.
In der nächsten Zeit werden nur wenige leichtere Anfälle be¬
merkt, denen nach Angabe der Kranken stets ein epigastrischer Schmerz
vorangeht.
Nach drei Wochen steht die Kranke zum ersten Male auf und
beschäftigt sich mit Handarbeiten.
Am 24. März tritt morgens wieder ein heftiger Anfall auf, in
deren Verlauf es gelingt nachzuweisen, daß auch auf tiefe Nadel¬
stiche an den unteren Extremitäten keine Reaktion erfolgt; nach dem
Anfall, der eine volle Stunde dauerte, kommt es zu einem benommenen
traumhaften Zustand, in dem die Kranke bis zum nächsten Mittag
verharrt.
In den nächsten Monaten bessert sich das Befinden, nur noch
vereinzelt treten leichtere Anfälle auf.
Am 28. Juli 1900 wurde die N. als gebessert mit der Diagnose
„Hysterisches Irresein“ entlassen.
Am 8. November 1900 zweite Aufnahme.
In den letzten Wochen sind erneute Krampfanfälle mit Bewußt¬
seinsstörungen und tobsüchtiger Erregung aufgetreten.
Patientin befindet sich einem Zustande stärkerer Erregung, singt
lacht und spricht vor sich hin, ohne auf die an sie gerichteten Fragen
zu antworten. Sie verdreht die Augen, reißt den Kopf hin und her,
verfolgt aber unausgesetzt die Bewegungen des untersuchenden Arztes.
Nachts verläßt sie oft ihr Bett und tobt umher.
Die Anfälle, die jetzt stets durch einen Schrei eingeleitet werden,
lassen außer den beschriebenen Erscheinungen deutliche klonische
Zuckungen in beiden Armen erkennen.
Die Erregung ist in wenigen Tagen fast ganz abgeklungen; die
Anfälle werden weniger an Zahl. Die Kranke steht auf und beschäf¬
tigt sich wie früher.
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I. Kurt Boas
Am 16. Juli 1901 erfolgt die Entlassung.
Am 26. August macht sich eine dritte Aufnahme notwendig
wegen hochgradiger Erregung und mehrfacher, allerdings wenig-
energischer Suicidversuche *), die in oberflächlichen Hautritzen am Hand¬
gelenk bestanden.
Die Kranke trägt ein sehr erregtes Wesen zur Schau, ist sehr
unlenksam, beständig außer Bett; man sollte ihr die Türe öffnen, sie
fortlassen, damit sie ins Wasser gehen könne usw. Dies alles wird
ohne jeglichen Affekt hervorgebracht. Nachts ist sie sehr unruhig.
Anfälle treten im Laufe ihres Aufenthaltes verhältnismäßig selten und
leicht auf und lassen denselben Charakter wie früher erkennen.
Da allmählich wieder größere Ruhe eingetreten ist, wird die N.
am 1. Mai 1902 als ungeheilt entlassen.
Am 12. Mai 1902 vierte Aufnahme.
Patientin war seit ihrer Entlassung zu Hause dauernd erregt, hatte
einen Tobsuchtsanfall und häufig Krämpfe.
Körperlich ist die Kranke nicht wesentlich verändert. Sie ist
freundlich und verhält sich ruhig, ißt indes sehr wenig und schläft
nachts ungenügend.
Am nächsten Morgen tritt plötzlich Stimmungswechsel ein; sie
ist ärgerlich verstimmt, antwortet nicht, bricht in Tränen aus, stöhnt
fortwährend und wälzt sich im Bett unruhig hin und her; dazu kommt
ein Anfall von 25 Minuten Dauer, der ganz dieselben Erscheinungen
wie früher zeigt.
In den nächsten Monaten zeigt sich keine wesentliche Veränderung
im Krankheitsbilde. Abgesehen von den Anfällen, die hin und wieder
auftreten, kommt die Kranke mit häufigen Klagen über Leib- und
Kopfschmerzen, Urinbeschwerden usw. Bald singt sie, pfeift, ist heiter
und freundlich, bald verstimmt, weinerlich, schlägt ohne Grund und
zerstört. Heute arbeitet sie oder geht mit anderen Kranken spazieren,
morgen legt sie sich wieder für längere Zeit ins Bett.
Dieser ewige Stimmungswechsel hält auch noch in den nächsten
Jahren an.
Im Jahre 1905 nehmen die Anfälle bedeutend an Zahl ab, es
werden nur 9 Anfälle im Laufe dieses Jahres beobachtet. Die Stimmung
ist durchweg freundlich, mitunter etwas läppisch. Auf diesem Stand¬
punkt bleibt der jeweilige Zustand der Kranken bis zum April 1906,
wo die Beobachtungen abgebrochen wurden.
Schlottmann nimmt in diesem prognostisch außerordentlich
einfachen Fall hysterisches Irresein an und zwar bestand zuerst die
1) Dieselben sind wohl als Ausfluß ihrer Zerstörungswut aufzufassen. B
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II.
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Neurose die allmählich in die Psychose überging. Mit Recht macht
er sich die Anschauungen Freuds 1 ) und Breuers von der spezifisch¬
sexuellen Ätiologie der Hysterie zu eigen. Es ist sehr wohl denkbar,
daß hier das psychische sexuelle Trauma die Hysterie ausgelöst hat.
Zum Schluß gestatte ich mir noch eine kleine Anregung zu
geben, von der ich annehme, daß sie vielleicht auf fruchtbaren Boden
fällt. Geistesstörungen nach Sexualdelikten gelten heute als ein sel¬
tenes Vorkommnis, so daß man gewiß ein Recht hat, sich zu fragen,
wie oft und unter welchen Bedingungen es zu solchen Spätfolgen
kommt. Bisher hatte man sich nur mit der Hymenuntersuchung der
Opfer solcher Attentate beschäftigt, allenfalls auch mit der Zurech¬
nungsfähigkeit der Täter. Aber ein systematischer Versuch, einmal
nachzuforschen, was aus den armen Opfern geworden ist, fehlt voll¬
ständig. Ich glaube fest daran, daß diese Enquete einen weit häu¬
figeren Prozentsatz von Geistesstörungen im Anschluß an Sexualdelikte
zutage fördern würde als bisher angenommen wurde. Zugleich würde
eine solche Enquete auch lehren, wie viele geschändete Mädchen der
Prostitution anheimfallen usw. Alles in allem möchte ich eine solche
Enquete warm befürworten. Sie würde kaum mit allzu großen
Schwierigkeiten verbunden sein.
VI. Zu den perversen Zwangshandlungen jugendlicher
Individuen.
Vor kurzem habe ich in einem in diesem Archiv erschienenen
Beitrag 2 ) zur Ätiologie und forensischen Behandlung der Homosexu¬
alität den Fall eines jugendlichen an Dementia praecox leidenden
Homosexuellen, bei dem der anfangs bisexuelle Trieb allmählich ver¬
kümmerte, mitgeteilt. Ich habe seither dieser Frage dauerndes Interesse
zugewandt und bin bei meinen diesbezüglichen Literaturstudien auf einen
ähnlichen Fall gestoßen, den Ziehen 3 ) in neuerer Zeit beobachtet
hat. Bei der Spärlichkeit derartiger Beobachtungen dürfte ein ge¬
naueres Eingehen auf den betreffenden Fall gewiß von Interesse sein:
1) Siehe L. W. Weber, Die Freudsche Hysterielehre. Medizinisch-Natur¬
wissenschaftliches Archiv, 1909, Bd. II S. 285.
2) Boas, Forensisch-psychiatrische Kasuistik. I. Kapitel VI. Einige Be¬
merkungen zur Genese der Homosexualität, insbesondere der Fälle in foro
Dies Archiv, 1909 Bd. XXXV, S. 210.
3) Ziehen, Zur Lehre von den psychopathischen Konstitutionen. Charite-
Annalen 1908, Bd. XXXII, S. 126.
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I. Kurt Boas
X. Y., einziger Sohn, 9^2 jährig (bei der ersten Untersuchung).
Mutter nervös, sonst angeblich unbelastet. Entwicklung vollständig
normal. Sehr gut veranlagt. Ist in der Schule jetzt als Primus ver¬
setzt worden. Stets sehr prüde Etwas altklug. Wenig Freunde.
Den Eltern fiel in letzter Zeit öfter ein grundloses Erröten auf
Auf Befragen gab er endlich an, daß er abends den Finger in den
After einführt und dabei Lust empfindet. Im Alter von 4 Jahren
spielte er schon besonders gern „Schweineschlachten“. In der letzten
Zeit denkt er sich Instrumente aus, um den „Tieren den Kot hinten
herauszuholen“. Überhaupt interessiert er sich für den After und für
den Kot von Pferden und Kühen. Auch seine Träume haben ent¬
sprechenden Inhalt. Zuweilen kommt ihm auch der Gedanke, daß
nackte Menschen sich gegenseitig als Klosett benutzen 1 ).
Er selbst gibt zu, daß die ersten Aftergedanken ihm vor 3—4
Jahren gekommen sind, und zwar damals stets im Bett „durch Lange¬
weile, wenn ich nicht einschlafen konnte.“ Er sagt selbst: „Erst
jetzt sind sie mir unangenehm, früher habe ich mich darüber gefreut,
ich Schlaukopf.“ Sie kommen jetzt schon lange „auch gegen seinen
Willen.“ Jetzt muß er zuweilen auch in der Schule an die Gedanken
denken. „Es ist eigentlich kein Gedanke“, fügt er hinzu, „sondern
nur ein Bild“, das er mit geschlossenen Augen bald bunt, bald nur
gedruckt sieht. Neuerdings bezieht sich die Vorstellung, vorwiegend
auf Menschen, früher namentlich auch auf Pferde und Elephanten.
Die erste Einführung des Fingers in den After fand ebenfalls
schon vor Jahren statt, jedoch erst nach Auftreten der Gedanken:
„Ich war neugierig und wollte nachsehen, wie das ist!“ Die Ein¬
führung war ihm angenehm. Seit einem Jahre ist sie nicht mehr
erfolgt.
Masturbation hat angeblich niemals stattgefunden. Die sexuellen
Vorstellungen und Gefühle scheinen noch ganz unentwickelt zu sein.
Bemerkenswert ist, daß die Vorstellung jetzt namentlich an be¬
stimmte optische Eindrücke 2 ) anknüpft. So löst das Bild eines King¬
kampfes in der „Illustrierten Zeitung“die Vorstellung aus, daß „die sich
so etwas gegenseitig machen“. Hat er einen Bleistift in der Hand,
1) Es verdient in diesem Zusammenhänge wohl erwähnt zu werden, daß
auch in dem bekannten Eulenburgprozeß dem Nebenkläger v. Moltke — ob mit
Recht weiß ich nicht — die Äußerung in den Mund gelegt wurde, er betrachte
die Frau lediglich als Klosett. Indem ich an die jedenfalls auffallende Identität
beider Äußerungen erinnere, möchte ich die Vermutung äußern, daß es sich hier
vielleicht um die Lesefrucht eines in jeder Hinsicht frühreifen Knaben handelt.
Boas.
2) Man hat solche Individuen wohl auch als visuels“ bezeichnet. Boas.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II.
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so kommt ihm „das Gefühl, den Bleistift in den After stecken zu
müssen“. Weiterhin knüpften die Vorstellungen an den Anblick der
Trambahnpferde an. Auch wenn er den mit ihm auf meine Veran¬
lassung erzogenen Knaben sich entkleiden sah, stellten sie sich ein.
Namentlich sind es auch bestimmte Worte, welche zu seinem „Ärger“
die Vorstellung auslösen z. B. das englische Wort „after“ (nach) und
das deutsche Wort „öfter“. „Gladius“ erinnert ihn an Kämpfer und
weckt daher ebenfalls die Zwangsvorstellung; ebenso erinnert ihn
„rex“ an „Friderieus“ und für letzteres Wort muß er dann „Aftericus“
setzen. Ausdrücklich gibt er an, daß ihm mitunter „auch gegen
seinen Willen“ ein gemeines „Wort“ ohne Objektvorstellung, z. B.
„Hinterer“ einfällt, bald dreimal an einem Tage, bald auch während
eines Tages gar nicht.
Angst ist mit den Vorstellungen nie verbunden, sondern nur Ärger.
Es besteht volles Krankheitsbewußtsein. Willkürliche Unterdrückung
wird versucht, gelingt aber in der Regel nicht oder nur in beschränk¬
tem Maß.
Auf Höhen wird dem Knaben leicht schwindelig. Der Schlaf
ist ab und zu mangelhaft. Früher Anfälle von Pavor nocturnus.
Die Intelligenz steht etwas über dem Durcbschnitt.
Körperlicher Befund:
Jn erster Linie Kryptorchismus, d. h. Ausbleiben bzw. UnVoll¬
ständigkeit, des Descensus testiculorum. (Ziehen schneidet die Frage
nicht an, ob ein etwaiger therapeutischer d. b. operativer Eingriff hier die
normale Sexualität zum Erwachen bringen würde! An eine solche Mög¬
lichkeit könnte man immerhin denken. Boas.)
Kniephänomene schwach auszulösen. Leichte choreatische Insta¬
bilität der gespreizten Finger. Zeitweise auch Neigung zu tierähnlichen
Grimassieren und Blinzeln, wohl eine Folge der bei ihm bestehenden
Conjunctivitis. Nach schweren Träumen soll zuweilen ein stunden¬
langes Zittern der Hände aufgetreten sein.
Hören wir Ziehens Ausführungen und epikritische Bemerkungen
zu diesem Fall:
„Zu diesem gehören namentlich bestimmte, wegen ihrer Konse¬
quenzen praktisch sehr wichtige Zwangsvorstellungen sexuellen In¬
halts, die später zur Entwicklung perverser Sexualgefühle Anlaß geben
können. Ich gebe zunächst ein Beispiel, welches allbekannt ist, aber
meines Erachtens noch nicht stets richtig gedeutet wird. Ein Knabe
sieht, wie ein Mitschüler — oder wie in einem meiner Fälle — ein
Tier durch Schläge auf die Steißgegend gezüchtigt wird, und wird
später zum Sadisten oder Masochisten. Ich habe wiederholt Gelegen.
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I. Kurt Boas
heit gehabt in solchen Fällen die psychologische Entwicklung des
Sadismus bzw. Masochismus in vertrauenswürdiger Weise nachträg¬
lich feststellen oder selbst bei den Patienten verfolgen zu können. In
vielen — durchaus nicht in allen Fällen — ist das bezügliche Er¬
lebnis, d. h. der Anblick der Züchtigung auf die Steißgegend weder
als solches noch in der Erinnerung von sexueller Erregung begleitet,
wohl aber bleibt das Erinnerungsbild stark gefühlsbetont und über¬
wertig. Diese Überwertigkeit ist fast stets auf eine angeborene (here¬
ditäre) psychopathische Konstitution zurückzuführen. Die Kinder
haben auch meistens dieser Vorstellung gegenüber ein ganz aus¬
gesprochenes Fremdgefühl. Alle Kriterien einer echten Zwangsvor¬
stellung sind also gegeben. Die Vorstellung tritt in. der Regel nur
sporadisch, jedenfalls in sehr wechselnder Häufigkeit auf. Erst viel
später erwachen die sexuellen Gefühle und Vorstellungen. Diese sind
an sich normal, verknüpfen sich nun aber mit jener überwertigen Er¬
innerung und schlagen nun eine perverse Richtung ein. Daß es zu
dieser Verknüpfung kommt, ist bei dem Inhalt des überwertigen Er¬
innerungsbildes sehr begreiflich. Die Sensationen der Steißgegend
werden auf die Genitalgegend übertragen. Es gibt also eine dritte
nicht seltene, wenn auch bisher meistens übersehene Entstehungsweise
der perversen Sexualgefühle: außer der abnormen sexuellen Veran¬
lagung und außer der Ausschaltung der normalen Sexual Vorgänge
durch Übersättigung und Internierung kann auch eine ursprünglich
sexuell neutrale Obsession zu sexuellen Perversitäten führen. Mit der
Assoziation der Sexualgefühle an die überwertige Vorstellung geht
dann in der Regel auch das Fremdgefühl verloren. Damit ist der
Zwangscharakter erreicht und hei ungenauer Anamnese wird eine ab¬
norme sexuelle Anlage vorgetäuscht. Man sollte mit der Annahme
abnormer sexueller Anlagen, auch wenn die abnormen Vorgänge
bis in die Kindheit zurückzureichen scheinen, also noch viel vorsichtiger
sein. Es ist uns höchst zweifelhaft, ob es eine angeborene
Veranlagung zu Masochismus oder Sadismus gibt. Nur
für die konträre Sexualempfindung 1 ) scheint uns der
Nachweis der gelegentlich angeborenen Anlage wirklich
erbracht. In allen Fällen ist jedenfalls auch an die Möglichkeit der
von mir eben geschilderten obsessiven Genese zu denken.“
Zu dem eben mitgeteilten Fall bemerkt Ziehen im besonderen:
„Es handelt sich hier unzweifelhaft um eine obsessive psycho¬
pathische Konstitution. Es ist nur bemerkenswert, daß die ersten
Vorstellungen noch nicht von Fremdgefühl und Krankheitsbewußtsein
1) = Homosexualität B.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II. 89
begleitet waren. Auch die Überwertigkeit scheint nicht von Anfang
an bestanden zu haben. Jetzt sied alle Merkmale: Überwertigkeit,
Fremdgefühl und Krankheitsbewußtsein gut ausgeprägt. Dabei treten
die Vorstellungen so sporadisch auf, daß nicht von einem obsessiven,
Irresein, sondern nur von einer obsessiven psychopathischen Konstitution
die Rede sein kann. Ätiologisch betrachtet kann der Zustand wohl
nur als eine hereditäre psychopathische Konstitution betrachtet werden,
obwohl die Nachforschungen in dieser Richtung nur ein dürftiges
Resultat (Nervosität der Mutter) ergeben haben. Die Gefahr, welche
nach meinen Erfahrungen einem solchen Kinde droht, liegt nicht nur
in der Weiterentwicklung der obsessiven Vorstellungen, sondern
namentlich auch in dem Hinzutreten sexueller Gefühle und Vor¬
stellungen zu den obsessiven Vorstellungen. Erwacht die Sexualität,
bevor die obsessiven Vorstellungen sich verlieren bzw. ihre Über¬
wertigkeit eingebüßt haben, so tritt fast stets die oben gekennzeichnete
ungünstige Weiterentwicklung ein: der obsessive Charakter ver¬
schwindet, aber das Sexualleben schlägt einen perversen Weg ein.“
Neben der interessanten rein psychiatrischen Seite des Falles
kommt hier auch noch eine nicht minder interessante forensische Be¬
deutung hinzu. Wenn es, wie Ziehen mit Recht zum Schlüsse seiner
Ausführungen betont, zum Verschwinden der Zwangsideen und zur
Führung eines perversen Lebenswandels kommt, so entsteht die Frage,
welche forense Komplikationen und Konsequenzen in diesem Falle
eintreten können? Es sind hier meines Erachtens drei Möglichkeiten
gegeben, von denen Ziehen nur zwei angibt:
1. Masochistischer Trieb;
2. sadistischer Trieb;
und 3. Sodomie.
Wir wollen im folgenden jede dieser drei Eventualitäten gesondert
betrachten.
1. Treten bei dem Patienten nach Erwachen der normalen Sexuali¬
tät und ihrer Verdrängung perverse Lustgefühle masochistischer Natur
auf, so dürften sich kaum daraus forensische Konsequenzen ergeben.
2. Anders dagegen liegt die Sache im zweiten Fall, wo der
Sadismus den Patienten leicht in Konflikt mit dem Strafgesetzbuch
bringen kann.
3. Schließlich ist die Annahme sodomitischer Handlungen zu
erwägen, da die Phantasie des Patienten sich vornehmlich mit dem
After von Kühen und anderen Tieren beschäftigt. Auch auf diesem
Wege könnte es zu sittlichen Verfehlungen kommen, die das Straf¬
gesetzbuch mit schweren Strafen ahndet.
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I. Kurt Boas
Der neue Fall von Ziehen sowie der frühere zeigen, auf wie
außerordentlich mannigfaltige Weise perverse Sexualgefühle entstehen
können. Sie legen uns die unabweisbare Pflicht auf, uns gegebenen¬
falls ihrer zu erinnern und solche obsessive Ideen wie oben geschildert
zur Erklärung heranzuziehen. Das Schicksal des Kranken hängt in
solchen Fällen einzig und allein von einer genauen Anamnese ab.
Literatur.
1. Boas, Forensisch-psychiatrische Kasuistik. I. Kapitel VI. Bemerkungen
zur Genese der Homosexualität, insbesondere der Fälle in foro. Dies Archiv 1909.
Bd. XXXV S. 210.
2. Ziehen, Zur Lehre von den psychopathischen Konstitutionen. Charite-
Annalen 1908 Bd. XXXII S. 126.
VII. Ein eigenartiger Fall von Sturzgeburt nebst Würdigung
seiner forensischen Seite und der einschlägigen Literatur.
I.
Die Berliner „Vossische Zeitung“ brachte am 24. Juli in der
Spalte „Polizeiliche Nachrichten“ folgende unscheinbare Notiz, die
den Sachverhalt ganz im Dunklen läßt:
„Ein neuer Weltbürger erblickte am Donnerstag früh auf der
Damentoilette des Potsdamer Bingbahnhofes das Licht der Welt. Die
in Friedenau wohnhafte Mutter hatte sich auf dem Wege zur Charite
befunden, um dort Aufnahme nachzusuchen. Jetzt wurden Mutter
und Kind der Charite zugeführt.“
Ein glücklicher Zufall fügte es, daß Herr Geh. Bat Prof. Bumm
Direktor der Frauenklinik der Kgl. Charite, die Frau in seiner
Vorlesung über geburtshilflich - gynäkologische Klinik vorzustellen
Gelegenheit nahm, wobei die folgenden für den Kriminalisten nicht
minder wie für den Mediziner wichtigen und interessanten Tatsachen
zutage gefördert wurden.
Es handelt sich um eine 19 jährige ledige Erstgebärende. Die
letzte Begel hatte sie nach ihrer Angabe Anfang Oktober vorigen
Jahres. Die Schwangerschaft verlief bei ihr durchaus normal.
Letzten Mittwoch bemerkte sie den Eintritt der ersten Wehen, die ihr
aber keine allzu großen Schmerzen bereiteten. Mittwoch abend legte
sie sich frühzeitig ins Bett und verbrachte eine ruhige Nacht, bis sie
gegen l /2 5 Uhr früh mit heftigem Stuhldrange erwachte. Sie ging
auf das Klosett, da aber trotz wiederholten Pressens kein Stuhl ab¬
ging, dachte sie, daß möglicherweise die zu erwartende Geburt mit
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II.
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im Spiele sei, ging- auf die Bahn und fuhr von Friedenau nach Berlin,
um sich in die Charite aufnehmen zu lassen. Unterwegs während
der Fahrt steigerten sich die Schmerzen und nahmen wiederum den
Charakter des Stuhldranges an, was sie zwang, alsbald nach ihrer
Ankunft in Berlin das Bahnhofsklosett aufzusuchen. Dort gebar sie
unter Assistenz der Klosettfrau ein lebendes Kind. Dasselbe fiel in
das Klosettbassin und wurde von der Klosettfrau herausgezogen. Die
ganze Geburt vollzog sich von 1 /- 2 5 (Eintritt der ersten Wehentätigkeit)
bis >/2'7 Uhr, so daß hier eine Sturzgeburt im wahren Sinne des
Wortes vorliegt.
Die Untersuchung in der Klinik ergab Unverletztheit der Mutter
und des Kindes. Insbesondere war kein Dammriß, wie er selbst bei
Kliniksgeburten oft nicht zu vermeiden ist, zu entdecken, auch der
Blutverlust war unerheblich.
Es konnte sich nun die Frage aufdrängen: Liegt hier etwa der
Versuch einer kriminellen Beseitigung der Frucht vor, die nur durch
das Hinzukommen der Klosettfrau vereitelt wurde? Prof. Bumm
glaubt diese Frage in diesem Falle durchaus verneinen zu müssen,
da sich für diese Annahme auch der geringste Anhaltspunkt nicht
finden läßt. Die Mutter und die ganze Art ihrer Erzählung machen
einen absolut glaubwürdigen Eindruck. Mit besonderer Schärfe
w t endet sich Bumm gegen die Anschauung, wie er sie einmal von
einem beamteten Gerichtsarzt gutachtlich hat äußern hören, daß Sturz¬
geburten bei Erstgebärenden 1 ) unter allen Umständen kriminell sein
müßten. Unerfahrenheit und unglückliche Umstände spielen eine große
Bolle bei den Sturzgeburten, die für die Mutter manchmal ein ge¬
richtliches Nachspiel haben können. Oft läßt sich eine Entscheidung
nur nach dem Grundsatz: In dubio pro reo fällen.
Wir werden im folgenden eine Beihe von forensen Fällen 2 ) von
Sturzgeburten anführen, bei denen die Entscheidung: Kindsmord oder
Sturzgeburt oft nur mutmaßlich gestellt werden konnte. Auf jeden
Fall werfen Fälle wie der geschilderte und die im folgenden zur Be¬
sprechung gelangenden ein interessantes Schlaglicht auf die Genese
1) Siehe auch Fall XXVIII der Kasuistik (Sturzgeburt einer 19 jährigen
Erstgebärenden).
2) Als Kuriosum sei hier weiter eine Zeitungsnotiz erwähnt, die mir bald
nach der ersten in die Hände fiel. Es wurde nämlich aus Leipzig bei Gelegen¬
heit der Feier des 500jährigen Bestehens der Universität berichtet, daß mitten
im Festzuge eine junge Leipzigerin einem Kinde das Leben gegeben habe.
Leider waren mir nähere Nachrichten nicht zugänglich. Es dürfte sich aber aller
Wahrscheinlichkeit nach ebenfalls uin eine Sturzgeburt gehandelt haben, die eines
komischen Beigeschmacks nicht entbehrt!
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92
I. Kurt Boas
mancher Kindsmorde, die in Wirklichkeit nichts anderes sind als Sturz¬
geburten i).
Einen dem unsrigen in vielen Punkten ganz analogen Fall hat vor
kurzem Herzog beschrieben. Dieser Umstand möge die etwas aus¬
führlichere Mitteilung dieses Falles an dieser Stelle rechtfertigen.
Herzog wurde in der Nacht zu einer Frau gerufen, die bei
seiner Ankunft auf einem niedrigen Stuhl saß, sich mit dem Ausdruck
und Ausrufen starken Schmerzes den Leib hielt und sich vor Weh
krümmte. Die Frau gab an, sie könne nicht mehr stehen: „Ach
Gott, ich kann ja nicht mehr stehen! ich kann ja nicht! ich kann ja
nicht auf! ich halts nicht aus! Ach Gott! aber da kommts! Plötzlich
hörte der Arzt einen leichten dumpfen Fall, dann ein Stimmchen und
als er den Kock der Frau ein wenig lüftete, lag auf dem Fußboden
ein kräftiges, schätzungsweise acht Pfund schweres Bübchen. Bei
der Sturzgeburt war ein Dammriß entstanden, der genäht werden
mußte.
Herzogs) ermittelte nun folgendes: Es handelte sich um eine
34jährige Il-Para. Dieselbe war stets etwas nervös und kränkelte. Mit
10 Jahren menstruiert. Mit 25 Jahren Heirat, ein Jahr später Geburt
eines lebenden Kindes, das sie angeblich wegen Nervosität nicht stillen
durfte. Seitdem ging es ihr besser, nur klagte sie über unregelmäßige
Periode, die oft monatelang ausblieb. Die Schwangerschaft hatten der
Arzt, ihre Familie und sie selbst vollständig verkannt ebenso den Geburts¬
akt, was bei einer geistig normalen Zweitgebärenden mehr wie auf¬
fällig ist. Als Momente, die hier erklärend in Frage kommen könnten,
nennt Verf. vor allem 1. die Autosuggestion der Frau, die schon als
Kind echte hysterische Anfälle gehabt hatte. Als ihr Mann den letzten
Koitus vollzieht, hat sie Schmerzen, setzt den Beischlaf aus und wiegt
sich nun in der Hoffnung, es könne ihr nichts passiert sein, obgleich
ihr von einer Hebamme der Gedanke einer Geburt nahegelegt ist,
was sie aber in Betracht des Umstandes, daß die Menses schon jahre¬
lang sich nicht regelmäßig bei ihr einstellen, nicht weiter beachtet.
Eine Leibeszunahme hat sie wohl im Herbst bemerkt, aber auf ihre
chronische Verstopfung zurückgeführt, in welcher Annahme sie ein¬
mal dadurch bestärkt wurde, daß ihr Abführmittel Erleichterung
verschafften und zweitens dadurch, daß sie von jeher schon
1) Die ältere Literatur über die forensische Bedeutung der Sturzgeburten
findet sich bei Unger. Der Kindsmord. Handbuch der gerichtlichen Medizin von
Schmidtm ann 3. Aull. Bd. II S. 533.
2) Herzog, Verkennung der Schwangerschaft und der Geburt bei einer
Zweitgebärenden. Ärztliche Sachverständigen Zeitung 1909 Nr. 5.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II.
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einen sehr starken Leib hatte. Hinzu kam, daß sie wegen ihrer
regen Tätigkeit im Geschäft wenig zum Nachdenken kam und so von
dem Faktum vollständig überrascht wurde. Hierzu kam, daß sie am
Vorabend der Geburt heftige Leibschmerzen bekam, die natürlich als
Wehen zu denken sind, der Frau aber, die sich durch den kalten
Plattenfußboden des Ladenlokals eine Erkältung zugezogen hatte, sehr
wohl als Leibschmerzen imponieren konnten. Um diese zu lindern nahm
sie auch Kamillentee. An der Aufrichtigkeit und Zuverlässigkeit der
Angaben der Eheleute zu zweifeln steht Verf. keinen Augenblick an.
Im Anschluß daran stellt Herzog noch einige epikritische Be¬
trachtungen an. Was zunächst die Verkennung der Schwangerschaft
und der Geburt betrifft, so sieht das Preußische Gesetz vor, daß
„wenn die Frucht bereits die 30. Woche erreiche, die Ausrede, daß
die Mutter von ihrer Schwangerschaft nichts gemerkt habe, nicht mehr
gelten kann“.
In der Tat müssen Frauen doch das monatelange Ausbleiben der
Regel bemerken. Seltene Ausnahmen, die man in der Literatur beob¬
achtete, sind:
a) Schwängerung im bewußtlosen Zustand (z. B. in der Trunkenheit)
b) bei Schwachsinnigen und Geisteskranken, die sich des Ernstes
der Situation nicht bewußt sind
c) bei sehr jugendlichen oder schon im Klimakterium stehenden Frauen.
So habe ich z. B. mehrfach Fälle gesehen, die den Frauen als
Gravidität imponierten und sich nachher bei der gynäkologischen
Untersuchung als Myome entpuppten. So erinnere ich mich z. B.
lebhaft eines Falles, den ich in der Bummscben Klinik gesehen habe.
Es handelte sich um eine 59 jährige Frau, die mehrfach geboren hatte.
Die Regel hatte jahrelang bei ihr sistiert, war aber plötzlich wieder auf¬
getreten. Die Frau glaubte deutlich Kindsbewegungen die ihr von den
früheren Geburten her bekannt waren zu fühlen und Kindstöne zu hören.
Der Leibesumfang entsprach etwa dem einer Frau im 9. Monat der
Gravidität. Die Frau war, bevor sie die Klinik aufsuchte, bei mehreren
Ärzten gewesen, die sie trotz des hohen Alters für gravid erklärten und
ihr die Niederkunft in 3—4 Wochen vorhersagten. Als diese nicht nach
6 Wochen eintrat, wurde die Frau doch stutzig und suchte einen Arzt
auf, der gleichfalls die Diagnose auf „verzögerte“ Gravidität stellte.
Die Untersuchung in der Klinik ergab unzweifelhaft das Vorhanden¬
sein eines Myoms.
Umgekehrt habe ich einen Fall bei einer 27 jährigen Frau ge¬
sehen, der unter der Flagge eines „Uterus myoimatosus“ segelte und
als Abort nachträglich in der Klinik erkannt wurde.
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I. Kukt Boas
Die Verkennung der Schwangerschaft ist selten, immerhin ist sie
bereits beobachtet. So berichtet Haberdai) von einem Dienst¬
mädchen, das bei einem Arzt bedienstet war und ohne sein Wissen
niederkam, und einem Mann, der eine Frau ehelichte, mit ihr ehe¬
lichen Verkehr hatte, bis sie ihm nach den ersten sechs „Flitterwochen“
ein ausgetragenes Kind schenkte.
Verkennung der Geburt kommt nach Herzog in folgen¬
den zwei Fällen vor.
a) bei schmerzloser Entbindung (z. B. bei der Tabes).
b) bei schweren Ohnmachts-, urämischen und epileptischen Zu¬
ständen.
Einen ähnlichen noch weit merkwürdigeren Fall berichtet Ha¬
berda. Auf dem Heuboden eines Bauerndorfes war ein Kind er¬
würgt aufgefunden worden. Man ermittelte, daß bei dem betreffenden
Bauern eine Schnitterin bedienstet gewesen war, deren schwangerer
Zustand beim Dienstantritt aufgefallen war, von der man aber nicht
wußte, daß sie schon geboren hatte. Es gelang die Person festzu¬
nehmen. Sie gab den Kindesmord auch zu. Beim Verhör ergab sich,
daß sie unter den Schnittern einen Liebhaber hatte, mit dem sie
während der Erntezeit intimen Verkehr gepflogen hatte und mit ihm
zusammen den Dienst verlassen hatte. Er wurde wegen Verdacht
der Mitschuld verhaftet und war nicht wenig erstaunt, als er bei der
Konfrontation hörte, seine Geliebte sei schwanger gewesen. Obgleich
er ihr beigewohnt hat, will er von einer Schwangerschaft nie etwas
bemerkt haben! Da er bis unmittelbar vor der Geburt und nach
derselben mit dem Mädchen Beziehungen unterhalten hat, ohne weder
vorher noch nachher Veränderungen konstatiert zu haben, muß man
Verkennung der Gravidität und Geburt annehmen, was nicht unglaub¬
haft erscheint, da der Bauer bei den Gerichtsverhandlungen einen
äußerst stupiden Eindruck machte.
*
II.
Kasuistik von 32 Fällen aus der Literatur
(nach Fromm eis Jahresbericht 1900—1907).
1. Kunze (1)
Die Frau verlor das Kind im Stehen, ohne sich niederzukauern.
Nach Hervorstürzen überließ sie, obwohl sie keinen Grund hatte das
Kind zu töten und das auch keineswegs wollte, infolge eines durch
1) Haberda, Schmidtmanns Handbuch der gerichtlichen Medizin,
Bd. 1 S. 325
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II.
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den psychischen Shok hervorgerufenen lethargischen, fast kataleptisch
zu nennenden Zustandes das Kind vollkommen sich selbst, so daß
dasselbe, wenn es zufällig in ungünstigen Verhältnissen geboren worden
wäre, sicher zugrunde gegangen wäre. Es handelt sich um eine
II-Para mit engem Becken. Kind und Mutter blieben unverletzt.
2. Witthauer (2)
Sturzgeburt in einen Nachteim er (!), in dem das Kind ertrank.
Die Frau hatte wie in unserem Falle durch Einnahme eines Abführ¬
mittels heftigen Stuhldrang und gebar, bevor noch der Arzt eintraf.
3. Osterloh (3)
Sturzgeburt auf einer steinernen Treppe. Sturz des Kindes.
Fraktur beider Scheitelbeine. Absichtliche Verletzung ist auszuschließen.
Tod 10 Stunden nach Krankenhausaufnahme.
4. Defranceschi (4)
Sturzgeburt mit Abreißung der Nabelschnur, Ohnmacht der Mutter
und Tod des Kindes. In seinem Gutachten spricht sich Verf. dahin
aus, daß im Moment des Durchtritts des Kindes eine Ohnmacht
seitens der Mutter sehr wohl Vorkommen mag, die die Entbundene
verhindert, dem Kind die notwendige Hilfe angedeihen zu lassen. Im
vorliegenden Fall erscheint dem Verf. diese Möglichkeit durchaus,
gegeben.
Im Anschluß daran sei bemerkt, daß Lindstädt (5) 36 Fälle
von Gravidität und Geburt bei geistig zurückgebliebenen Personen
beschrieben hat. Verf. führt mehrfach Fälle an, wo Frauen in voller
Unkenntnis nicht nur über ihre Schwangerschaft überhaupt und deren
Beginn, sondern auch über den Beginn der Geburt sein können. Aus
letzterem Grund können sie von der Geburt überrascht werden und für
etwaige dem Kinde hierdurch zustoßende Nachteile deshalb nicht ver¬
antwortlich gemacht werden.
5. Kob (6);
I. Die Kindesleiche wurde im Wasser bei 10° Kälte gefunden
mit Zeichen des Erfrierungstodes. Die Kindesleiche war bei der Auf¬
findung noch völlig frisch, man bemerkte sogar Blutspuren in der
Nähe. Der Begutachter nahm in diesem Falle Kindsmord an.
II. Sturzgeburt in eine fast leere Abortgrube. Erstickungstod
des Kindes. Kotmassen in den Luftwegen.
6. Vullien (6)
Sturzgeburt in den Abort einer Gebäranstalt. Auf Hilferuf der
Gebärenden war der Kopf bereits geboren,' die Schultern traten sofort
heraus. Eine absichtliche Sturzgeburt auf dem Klosett war auszu¬
schließen, da sich die Frau spontan in die Anstalt begeben hatte.
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I. Kubt Boas
7. Cohn (7)
Klosettgeburt einer Tabeskranken. Bei der vollkommenen
Anästhesie bei der Tabes erscheint es nicht ausgeschlossen, daß die
Wehen als Stuhldrang gedeutet wurden und so die Geburt in das
Klosett erfolgte.
Mir scheint diese Deutung nicht zwingend. Denn wie unser
Fall und auch der Witthauers zeigen, kommen selbst bei der nor¬
malen nicht tabischen Frau Verwechselungen des Wehenpressens mit
Stuhldrang häufig genug vor. Die Frauen haben das Gefühl, als
wenn ihnen eine dicke Masse abgehen will, die sie als Kotballen deuten.
Viel näher liegt die Annahme, für die Klosettgeburt im 7. Falle die
Incontinentia alvi, wie sie neben der Incontinentia urinae fast
regelmäßig bei Tabes besteht, verantwortlich zu machen.
Auch Placzek(9) macht auf den rapiden Verlauf von Geburten
bei Rückenmarkskrankheiten aufmerksam und teilt einen von ihm
beobachteten Fall von Querschnittläsion des Rückenmarks mit voll¬
kommener Schmerzlosigkeit mit. Bei der forensischen Bedeutung der
Sturzgeburt müsse daher immer an eine Untersuchung des Nerven¬
systems gedacht werden. Über schmerzlose Geburten berichten ferner
Wolff (26) (l Fall), Irwing (27) (6 schmerzlose Geburten bei ein
und derselben Frau!), Trevos Roper (2 schmerzlose Geburten bei
einer Frau), Spurway (28) (2 Fälle), Young (29) (1 Fall), Lam-
binon (34), Roß (35) (1 Fall), Brocksmit (36), Winters (37)
(i Fall), Scott (38) (1 Fall), Benedict (39) (2 Fälle).
8. Schwarzwild (10)
Klosettgeburt. Die Mutter hatte die Nabelschnur hart an der
Vulva mit einem Messer abgeschnitten. Dann wollte sie angeblich
das Kind aus dem Klosett befreien; als ihr dies jedoch nicht gelang,
suchte sie es herunterzustoßen und brachte ihm, um dies zu erleichtern,
tiefe Schnitte an Hals und Brust bei. Verurteilung.
9. Fialowski (11)
Sturzgeburt in den Abort. Tod des Kindes an Erstickung. Die
Angaben der Entbundenen wurden, da auch das Kind äußere Ver¬
letzungen erkennen ließ und ihr Becken weit war, für glaubhaft er¬
klärt, und es erfolgte Freispruch. Auch an kriminellen Abort konnte
nicht gedacht werden, da das Kind völlig ausgetragen war.
10. Cohn (12).
Die Mutter gab an, die Frucht sei plötzlich aus den Genitalien
hervorgetreten und mit dem Kopf gegen den Rand der Bettstelle ge¬
stoßen. Das erste Gutachten nahm Kompression des Schädels zwischen
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II.
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den Händen oder den Schenkeln zwecks Tötung des Kindes an.
Cohn hält dagegen den von der Mutter angegebenen Erklärungs-
modus für immerhin denkbar.
11. H a n a s (13).
Sturzgeburt bei Zwillingen. Der herbeigerufene Arzt fand die
Frau im Begriff zu Bett zu gehen, während aus ihrer Vulva ein Kind
hing. Bei der Entfernung der Nachgeburt fanden sich zwei Nabel¬
schnüre vor und das erstgeborene Kind lebend im Klosett. Die Mutter
hatte nicht bemerkt, daß es mit dem Fruchtwasser ausgestoßen
worden war.
12. Rogina (14).'
Tiefer Ohnmachtszustand im Augenblick der Geburt des Kopfes.
Die Patientin war sich des Zustandes nicht bewußt. Straffe Um¬
schlingung der Nabelschnur um den Hals und schwere Uterusblutung
hätte zum Tode des Kindes geführt, wenn nicht Hilfe zur Stelle ge¬
wesen wäre.
13. Freund.
Geburt eines Kindes, in einem Abort. Schwere Fraktur. Patientin
hatte früher schon einmal eine Sturzgeburt in seiner Klinik durch¬
gemacht, sodaß Verf. Disposition der Frau für Sturzgeburten annimmt
und sie exkulpiert wurde.
14. D ey (15).
Unter 6288 Geburten 70 präcipierte, darunter 22 wirkliche Sturz¬
geburten, davon vier auf dem Abort.
Kiproff (16) hat Sturzgeburten bei allen möglichen Zuständen
gesehen, z. B. im natürlichen, hypnotischen und narkotischen Schlafe,
im Alkoholrausch, in der Lethargie, Synkope, Ohnmacht, Koma oder
Scheintod, im apoplektischen Koma, bei Paraplegie, Tabes, Hysterie
und im Zustande der Bewußtlosigkeit.
15. Cuillet (17).
Eine Geburt auf dem Bidet, eine Entbindung beim Ankleiden
drei Entbindungen im bewußtlosen Zustand, davon einmal im Alkohol¬
rausch, fünf Entbindungen während des Schlafes und sechs Ent¬
bindungen während des Harn- und Stuhldranges.
16. Rayner und Stuart (18).
Klosettgeburt mit Exitus der Mutter. Der Kopf des Kindes
war durch die Klosettöffnung hindurchgetreten und konnte nur sehr
schwer daraus entfernt werden. Die Mutter wies beiderseits schwere
Cervix- und Uterusrisse auf. Wäre sie nicht bei der Geburt gestorben,
so wäre auf Grund des Lokalbefundes mit Wahrscheinlichkeit Kinds¬
mord angenommen worden.
Archiv für Kriminalanthropologie. 37. Bd. 7
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I. Kurt Boas
17. Kornfeld (19).
Abortgeburt. Tod des Kindes an Erstickung durch Aspiration
von Fäkalien oder durch die Winterkälte. Ein Trauma und Heben
einer schweren Last war voraufgegangen. (In krimineller Absicht?)
Es wurde Sturzgeburt angenommen.
18. Federschmidt (20).
Abortgeburt. Die Wehen traten in Gestalt heftiger diarrhoischer
Kolikschmerzen auf und wurden darum zuerst verkannt. Das Kind
hatte beim Hineinfallen in die Grube gelebt und war dann durch
dort befindliches Sägemehl, Fäkalien und flüssige Jauche erstickt,
wie die Lungenprobe mit Sicherheit ergab. Fahrlässige Tötung war
also ausgeschlossen.
19. We i n d 1 er (21).
Sturzgeburt mit Abreißen der Nabelschnur und nachfolgendem
Ohnmachtsanfall. Die Mutter hielt die Wehen für Stuhldrang. Enges
Becken.
20. Rühle (22).
Sturzgeburt des ersten Zwillings mit Abreißen der Nabelschnur
im Stehen. Geburt des zweiten Zwillings nach 6 Tagen.
21. Moser (23).
Sturzgeburt des ersten Zwillings beim Kauern auf einem Eimer
zum Zweck der Defäkation. Das Kind wurde mit knapper Not vor
dem Anschlägen bewahrt.
22. Szybowski (24).
Geburt im Stehen mit Abreißen der Nabelschnur.
23. Kjelsberg (25).
Geburt in der Bewußtlosigkeit. Die Geburt wurde noch nicht
erwartet.
24. Renshaw. .
Fall von schmerzloser Geburt. Fall des Kindes auf die Diele.
Abreißung der Nabelschnur.
25. Schwabe (30).
Angebliche Sturzgeburt auf dem Abort. Die Mutter gab an, nach
dem Erwachen aus der Ohnmacht unter einstündigen angestrengten
Bemühungen, während deren sie wiederholt Ohnmachtsanfälle gehabt
haben will, den festgeklemmten Kopf wieder herausgezogen zu haben.
Das tote Kind wurde in einem Mülleimer versteckt aufgefunden. Die Sek¬
tion ergab lufthaltige Lungen und die Zeichen des Erstickungstodes usw.
Versuche mit Kinderleichen ergaben an dem betreffenden Klosett, daß
die Kinder beim Hinunterstürzen sich nicht mit dem Kopf fest¬
klemmten, sondern erst, als sie gewaltsam hineingedrückt worden
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II.
99
waren, sehr schwer zu entfernen waren. Es wurde daher angenommen,
daß die Sturzgeburt in den Abort erfolgte und daß das Kind hier
erstickte, oder vielmehr im Spülrohre ertrank, ferner daß die Ange¬
schuldigte zuerst den Kopf hineindrückte, um das Kind zu beseitigen
und es danach wieder mit vieler Mühe herauszog, als es sich schon
id agone befand, wofür das Fehlen von Druckspuren und Verletzungen
am Halse sprach. Da die Mutter beim Erwachen aus der angeblichen
Ohnmacht, deren Möglichkeit zugestanden wird, das Kind für tot
halten konnte, wird zum mindesten grobe Fahrlässigkeit angenommen.
26. Koch (31).
27 Sturzgeburten. Darunter eine Eisenbahnklosettgeburt. Zwei
Kinder waren tot, eins asphyktisch. Ohnmächten während der
Geburt wurden nie beobachtet.
27. Va u t h r i n (32).
61 Sturzgeburten. Heredität spielt eine große Rolle. Die Sturz¬
geburten können in jeder Stellung, auch im Stehen eintreten. Geburt
in einen Toiletteneimer oder in den Abort ist wegen' Mißdeutung der
Wehenäußerungen möglich. Schädelfrakturen des Kindes kommen vor,
aber sehr selten.
28. Ruppanner (33).
Sturzgeburt bei einer 19jährigen Erstgebärenden. Frühgeburt.
Die Mutter hatte von der bestehenden Gravidität keine Kenntnis!
29. N. N. (40).
Sturzgeburt einer Erstgebärenden nach Konsultation des Arztes.
Kopfverletzung des Kindes durch Kontusion.
30. Tipier. (41).
Sturzgeburt im hystero-epileptisehen Zustand. Psychischer Zu¬
stand vorher normal. Geburt in aufrechter Stellung in ein Becken.
Erst nach 5 Tagen kehrte das Bewußtsein wieder. Die Frau wußte
nichts von einer Geburt.
31. Tuckey (42).
[Sturzgeburt bei einem Kind mit Hydreneephalocele.]
32. Laugier. (43)
II-Para. War 5 Tage lang verstopft und hielt die Geburtswehen
für Darmschmerzen.
33. Herzog.
Siehe oben S. 92 ff.
34. Unser Fall.
Siehe oben S. 90 ff.
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I. Kurt Boas
III.
Ergebnisse und Schlußfolgerungen.
Auf Grund der mitgeteilten Fälle aus der Literatur wollen wir
nun noch einmal das Material überblicken und zwar nach folgenden
Gesichtspunkten:
a) Ort und Gelegenheit der Sturzgeburt.
ß) Natur der Wehentätigkeit.
y) Leibliches Schicksal von Mutter und Kind.
ö) Entscheidung ob Sturzgeburt oder Kindsmord.
Forenser Ausgang.
1. Fassen wir zunächst Ort und Gelegenheit der Sturz -
gebürt ins Auge, so ergibt sich folgendes: Am häufigsten
wurden Geburten auf der Abortgrube beobachtet, näm¬
lich in 13 von 33 Fällen, dann folgen , 3 Geburten im
Stehen, 2 auf dem Nachteimer, 2 im Zustande der Ohn¬
macht, je 1 auf einer steinernen Treppe, ins Wasser,
gegen die Bettstelle, auf dem Bidet, beim Ankleiden und
auf die Diele. 5 mal fehlen nähere Angaben.
2. Fast immer kehren zwei Angaben stereotyp wieder.
Entweder hatten die Mütter den Stuhldrang für Wehen¬
schmerzen angesprochen oder es handelte sich um eine
schmerzlose Geburt. Ein typisches Beispiel für die erste
Möglichkeit bietet Fall 6, wo sich eine Abortgeburt in
der Gebäranstalt abspielte, wo man gewiß nicht an eine
Beseitigung des Kindes denken kann. Als Beispiel für
die zweite Möglichkeit ließe sich Fall 7 heranziehen, wo
bei einer Tabeskranken die Geburt ohne Schmerzen ab¬
lief. In einigen seltenen Fällen wußte die Mutter nichts
von einer bestehenden Schwangerschaft (wie man dieser
Angabe gegenüberzustehen hat, siehe oben), in anderen
wurde sie erst später erwartet. Mehrmals wird von meh¬
reren präzipitierten Geburten bei ein- und der selben Frau
gesprochen und dies als familiäre Disposition gedeutet.
3. Das Schicksal von Mutter und Kind war im all¬
gemeinen befriedigend. Todesfall der Mutter kam nur
einmal zur Beobachtung. Todesfälle des Kindes kamen
häufiger vor. Dammrisse bei der Mutter und Asphyxie
des Kindes sind nicht selten.
4. Die Mehrzahl der Fälle hatten ein forensisches
Nachspiel, das in den meisten Fällen die Mutter exkul-
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II.
101
pierte. Immerhin kam das Gericht zweimal zu Verur¬
teilungen auf Grund des Tatbestandes, einmal war der
Ausgang zweifelhaft und wurde nach dem Grund¬
satz in dubio pro reo entschieden.
5. Bei der forensischenEntscheidung,ob Kinds¬
mord oder Sturzgeburt vorliegt, sind folgende
Punkte von besonderer Bedeutung.
Differentialdiagnostisehe Punkte.
a. Für Kindsmord sprechen zahlreiche Verletzungen an dem Kinde.
b. Zu berücksichtigen ist die Beschaffenheit des Aborts, seine
Öffnung, Klappe usw., um die Möglichkeit etwaiger mehrfacher
Verletzungen beim Sturz durch Bohr und Klappe zu ermitteln.
c. Untersuchung der im Abort gefundenen Blut-, Meconium und
Vernixspuren.
d. Lungenschwimmprobe zur Entscheidung der Frage, ob das Kind
lebend oder tot in die Grube gelangte.
e. Für eine Sturzgeburt spricht, wenn beim Kinde sich die Nabel¬
schnur zerrissen oder noch im Zusammenhänge mit der Placenta
vorfindet. Ist die Nabelschnur abgeschnitten, so verliert die
Angabe jeden Glauben *).
f. Untersuchung der Beckenverhältnisse bei der Mutter. Ein
Mißverhältnis zwischen Kindeskopf und Becken spricht im all¬
gemeinen gegen die Annahme einer Sturzgeburt oder einer
Überraschung durch dieselbe 1 ).
Literatur.
1. Kunze, Ein Fall von Sturzgeburt. Centralbl. f. Gynäkologie 25>
149, 1901.
2. Wittliauer, Ein Fall von Sturzgeburt. Münchener med. Wochenschrift
48, 837, 1901.
3. Osterloh, Schädelbruch infolge von Sturzgeburt. Verhandl. der
deutschen Gesellschaft f. Gynäkologie. 9. Versammlung Leipzig 1901 p. 189.
4. Defranceschi, Kindsmord oder zufälliger Erstickungstod des Kindes
während der Ohnmacht der Mutter? Ärztliche Sachverständigen-Ztg. 7, 437, 1901.
5. Lindstädt, Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett geistig zurück¬
gebliebener Personen. Inaugural-Dissertation Marburg 1899.
6. Kob, Kindsmord oder Sturzgeburt? Vierteljahrsschrift für gerichtliche
Medizin. 3. Folge 24, 67, 1902.
1) Schlockow, Roth-Leppmann, Der Kreisarzt, 6. Auflage, Berlin 1906,
S. 128ff.
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102
I. Kurt Boas
7. V u 11 i e n, Accouchement precipite dans les latrines Bulletin med. de
l’Höpital frangais de Tunis. Ref. Annales d’hygiene publique et de medecine
legale. 3 Serie Tome 48, 465, 1902.
8. Cohn, Eine Geburt bei vorgeschrittener Tabes dorsalis. Zentralbl. für
Gynäkologie 26, 421, 1902.
9. Placzek, Ein Beitrag zur Frage der Sturzgeburt. Vierteljahrsschrift für
gerichtliche Medizin. 3. Folge 26, 42, 1903.
10. Schwarzsehild, Über präcipitierte Geburten und ihre Folgen. In¬
augural-Dissertation München 1903.
11. Fialowski, Verbrechen der Fruchtabtreibung. Sturzgeburt. Ein¬
stellung des Verfahrens. Pester med.-chir. Presse 36, 614, 1900.
12. Cohn, Sturzgeburt oder Kindsmord. Vierteljahrsschrift für gerichtliche
Medizin 19, 301, 1900.
13. Hands, A case of sudden and unexspected delivery of twins. Medical
Record 58, 69, 1900.
14. R ogina, Ohnmacht während der Geburt, ein Beitrag zur Kenntnis der
mildernden Umstände des Kindesmordes. Ref. Centralbl. f. Gynäkologie 25,
164, 1900.
15. Dey, Die präcipitierten. Geburten der Marburger Entbindungsanstalt.
Inaugural-Dissertation Marburg 1903.
16. Kiproff, Contribution ä l’etude des accouchements par surprise. These
de Paris 1903/04 Nr. 35.
17. Cuillet, Le medecin legiste et l’accouchement precipite. These de Paris
1904/05 Nr. 604.
18. Rayner und Stuart, A fatal case of precipitate labour. Lancet 1905
Bd. I p. 644.
19. Kornfeld, Motiviertes Gutachten über die Todesursache der Kinder der
unverehelichten M. X. Friedrichs Blätter f. gerichtliche Medizin 56, 241, 1904.
20. Federschmidt, Ein gerichtlich-medizinischer Fall von Sturzgeburt.
Münchener med. Wochenschrift 52, 121, 1905,
21. Wcindler, Eine Sturzgeburt. Centralblatt für Gynäkologie, 29,
1127, 1905.
22. Rühle, Zur Pathologie und Therapie der Zwillingsgeburten. Monatsschrift
f. Geburtshilfe u. Gynäkologie 22, 425, 1905.
23. Moser, Ein Fall von Sturzgeburt des einen Kindes bei Zwillings¬
schwangerschaft. Vierteljahrsschrift f. gerichtliche Medizin. 3. Folge 29,
174, 1905.
24. Szybowski, Abreibung der Nabelschnur bei einer Geburt in aufrechter
Stellung. Ref. Monatsschrift f. Geburtshilfe und Gynäkologie 22, 852, 1905.
25. Kjelsberg, Heimliche Geburt. Ref. Centralblatt f. Gynäkologie 29,
1/44, 1905.
26. Wolff, Über schmerzlose Geburtswehen. Archiv f. Gynäkologie 78,
402, 1906.
27. Irving, Painless labour, British medical Journal Voll, 737, 1906.
28. Spurway, Painleß labour, British medical Journal Voll, 1020, 1906.
29. Young, Painless labour, British medical Journal Vol 1, 859, 1906.
30. Schwabe, Kindsmord oder fahrlässige Tötung oder Tod des Kindes
ohne Verschulden der Mutter? Ärztliche Sachverständigen Zeitung 12, 260, 1906.
31. Koch, Über Partus praecipitatus. Inaugural-Dissertation Freiburg 1905.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II. 108
32. Vauthrin, Contribution ä l’etude des accouchements rapides d’apres
une statistique faite ä la maternite de Nancy. These de Nancy 1906/07 Ni\ 29.
33. Ruppanner, Eine Sturzgeburt mit Verletzung der Vulva. Gynäkologische
Rundschau 1 , 412, 1907.
34. Lambinon, Schmerzlose Geburten. Ref. Centralblat f. Gynäkologie 32,
360, 1907.
35. Roß, Painless labour. New York medical Journal 85, 376, 1907.
36. Winters, Painless labour. New-York medical Journal 85, 377, 1907.
37. Brocksmit, Painless labour. New York medical Journal 85, 376, 1907.
39. Scott, Schmerzlose Geburt. British medical Journal 2, 1577, 1906.
39. Benedict, Painless labour. New York medical Journal 85, 569, 1907.
40. N. N., Of medico-legal interest Lancet 1, 1738, 1907.
41. Tissier, Spontane Abreibung der Nabelschnur. LeScalpel 13.Oktoberl907.
42. Tuckey, Obstetrics rareties in general practice. Lancet 2, 1789, 1907.
43. Laugier, Annales d’Hygiene publique 25, 381.
Nachträge.
1. Zu Abhandlung I. Über den Ausdruck des religiösen
Gefühls bei Verbrechern.
Im . Anschluß an die Arbeit von Hellwig sei noch an die
nach Niederschrift erschienene Monographie Wulffens 1 ) über den
Sexualverbrecher erinnert, die gleichfalls einige Beiträge zu obigem
Kapitel bringt,. Wulffen macht mit Recht auf den Zusammen¬
hang der Ohrenbeichte mit der Häufigkeit von Sexualdelikten seitens
katholischer Geistlicher aufmerksam. Er erwähnt ferner weitere
interessante Einzelheiten über die in dem Aufsatz von Hellwig be¬
reits kurz erwähnte „Bulla de la Cruzada“, deren Erwerb jedem
Ablaß sichert und zwar nicht nur bei Holzdiebstählen, Gelddieb¬
stählen, Richterbestechungen, Fälschung von Nahrungsmitteln usw.,
sondern auch bei Sexualdelikten. Für den Ausdruck religiösen Ge¬
fühls gibt Verf. noch ein recht prägnantes Beispiel: Die italienische
Prostituierte, besonders die neapolitanische, stellt das Bild der Jung¬
frau neben ihr Bett und betet dabei ihren Rosenkranz ab!
In seinen interessanten Beiträgen zur Psychopathologie und Kri¬
minalität des Weibes ist Mönkemöller 2 ) auch auf die Frage des
religiösen Gefühls bei weiblichen Kriminellen eingegangen. Wenn
sich in der Korrektionsanstalt eine gewisse Religiosität breit macht,
so führt er das auf die Abwechslung in dem monotonen Anstalts-
1) Wulffen, Die Sexualverbrecher. Berlin und Groß-Lichterfelde 1910.
Dr. P. Langenscheidt.
2) Mönkemöller, Psychiatrie und Seelsorge in der Frauenkorrektionsanstalt.
Zeitschrift für Religionspsychologie 1907. Bd. I S. 145.
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104
I. Kurt Boas
leben zurück. Ferner hat er die psychologisch feine Beobachtung
gemacht, daß hier ein gewisser unterbewußter sexueller Einschlag
zutage tritt. Die durch das unzüchtige Gewerbe verbunden mit
Alkoholexzessen meist sinnlich stark erregte Korrigendin fühlt sich zu
dem einzigen Manne, mit dem sie nicht nur ausschließlich in dienst¬
liche Berührung kommt, sexuell hingezogen. So sonderbar es klingen
mag, ist er oft im stillen die heimliche Sehnsucht ihrer Lustgefühle
gerade aus diesem Grunde empfiehlt Mönkemöller von spontanen
Besuchen der Geistlichen abzusehen und zu warten, bei die Korrigendin
selbst die Tröstungen der Religion erbittet.
2. Zu Abhandlung If. Zum Kapitel der Eisenbahnfrevel
(§ 315 St. G. B.) nebst anhangsweisen allgemeinen Be¬
merkungen über Gemeingefährlichkeit Geisteskranker ist
zu dem letzteren Anhang noch ein Vorschlag zu erwähnen, den Wey-
gandt i) in letzter Zeit gemacht hat. Er empfiehlt in ähnlichem Sinne
wie Eichstedt 1 2 ) und wie es bereits praktisch in Mecklenburg-Schwerin
durch geführt ist, Anweisung eines bestimmten Wohnsitzes unter schär¬
ferer Aufsicht, also gewissermassen eine Stellung unter Polizeiaufsicht,
oder die Deportation in unsere Kolonien. Es liegt auf der Hand, das
Imbezille im Trubel der Großstadt der Gefahr, kriminell zu werden in
ungleich höherem Maße ausgesetzt sind als in einsamen, dabei klimatisch
gesunden Gegenden. Weygandt glaubt, daß mit der Zunahme des
Weltverkehrs die herkömmliche Abneigung gegen die beträchtliche Ent¬
fernung der Deportierten immer mehr schwinden wird.
3. Zu Abhandlung III. „Forensisch-psychiatrische Be¬
merkungen über Dementia senilis“ sei hier kurz noch ein
Fall nacbgetragen, der sich vor kurzem hier in Rostock abgespielt
hat. Ein Mann, Alkoholiker, hatte seine Frau, die nervenkrank war
und schon mehrere Suicidversuche begangen hatte, unter Beihilfe
seiner Schwiegermutter, die die Unglückliche hielt, erschossen. Diese,
eine 83 jährige Frau, ist jetzt zur Beobachtung ihres geistigen Zu¬
standes in der hiesigen Psychiatrischen Klinik interniert. Es muß
jedenfalls mit der Möglichkeit eine Dementia senilis gerechnet werden.
Vielleicht komme ich bei späterer Gelegenheit auf den Fall, der den
Geschworenen bei der nächsten Session vorgelegt werden soll, zurück.
4. Der AbhandlungIV. „Kasuistische Beiträge zum Kapitel
der Mordtaten. 1. Begehung von Mordtaten durch einen
1) Weygandt, Die Imbezillität vom klinischen und forensischen Stand¬
punkt. Deutsche medicinische Wochenschrift 1910 Nr. 46 S. 2011.
2) Eichstedt, Zur Frage der Gemeingefährlichkeit bei Geisteskranken.
Inaugural-Dissertation Rostock 1909.
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Foren sis ch - p sy ch i atri sch e Kasuistik. II.
105
an Dementia paralytica Erkrankten sind noch eine Reihe er¬
gänzender allgemeiner Bemerkungen über die Kriminalität der Pa¬
ralytiker beizufügen.
W. Lange*) hat über die während eines Zeitraumes von 4 Jahren
in einem groben Münchener Krankenhause aufgenommenen Paraly¬
tiker — 383 an der Zahl —- berichtet und ihren etwaigen Konflikten
mit dem Strafgesetzbuch besondere Aufmerksamkeit geschenkt.
Unter 259 paralytischen Männern waren vorbestraft, aber nicht
bestraft nach der Erkrankung : 16 = 6,17 Proz. Vorbestraft und
nach der Erkrankung bestraft waren 2 = 0,77 Proz. Die Be¬
strafung erfolgte in dem einen Falle vor der Erkrankung 13 mal
wegen Körperverletzung, Unterschlagung, Beleidigung oder groben
Unfug. Einige dieser Vergehen mögen aber auch schon in die
Krankheitszeit hineinfallen. Sicher trifft das zu bei einer Be¬
strafung wegen Zechprellereien mit 4 1 / 2 Gefängnis. In dem anderen
Falle lag Vorbestrafung wegen Vergehens gegen die persönliche Frei¬
heit vor; nach der Erkrankung erfolgte ein Sittlichkeitsdelikt gegen
zwei kleine Mädchen, das mit 8 Monaten Gefängnis bestraft wurde.
Nicht vorbestraft, aber nach dem Beginn des Leidens bestraft war
unter den Männern kein Fall.
Unter 124 paralytischen Frauen waren 3 == 2,40 Proz. vor¬
bestraft, aber nicht nach der Erkrankung bestraft. Der erste Fall
betraf eine 43 jährige Prostituierte, die wegen zahlreicher sittenpoli¬
zeilicher Kontraventionen oftmals vorbestraft war und wegen ähnlicher
Vergehen nach der Erkrankung eine 12 tägige Haftstrafe verbüßt
hatte. — Der zweite Fall betraf eine 35 jährige Ehefrau, die 13 mal
wegen Diebstahls, gewerbsmäßiger Unzucht, Landstreicherei, Kuppelei
oder Betrug mit Haft oder Gefängnis bestraft gewesen war und
nach der Erkrankung eine 3 tägige Haftstrafe wegen gewerbsmäßiger
Unzucht zu verbüßen hatte. — In dem letzten Fall handelte es sieb
um eine 43 jährige Ehefrau, deren erster Mann in der Irrenanstalt
gestorben war und die nach dem Beginn des Leidens wegen mehrerer
Diebstähle zu insgesamt 16 Monaten Gefängnis verurteilt wurde.
Mönkemöller 2 ) berichtet über den Fall einer Vagabundin
und Dirne, die in einem ziemlich vorgeschrittenen Stadium der Paralyse
zur x4ufnahme gelangte, nachdem sie sich in letzter Zeit fast aus-
1) W. Lange, Über die Paralytiker im Krankenhause 1. J. zu München aus
den Jahren 1899—1908. Inaugural-Dissertation München 1904 S. 16 ff.
2) Mönkemöller, Korrektionsanstalt und Landarmenhaus. Ein soziolo¬
gischer Beitrag zur Kriminalität und Psychopathologie des Weibes. Leipzig 1908.
J. A Barth. S. 105.
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I. Kurt Boas
schließlich der Unzucht zugewandt hatte, (was wohl unstreitig dem durch
die Krankheit gesetzten ethischen Defekt zuzuschreiben ist. B.). Früher
unbestraft wurde sie in der Zeit zwischen ihrem 38. und 42. Lebensjahr
(also dem exquisiten Alter des Auftretens der Paralyse. B.) 32 mal
wegen liederlichen Umhertreibens, Betteins, Landstreichens, Bruchs der
polizeilichen Ausweisung bestraft. Zuletzt verfiel sie gerichtlicher
Ahndung, weil sie sich zu Unrecht das Adelsprädikat angemaßt
hatte. (Es ist nicht unwahrscheinlich anzunehmen, daß dies Delikt
auf eine Größenidee, wie sie für Paralyse ungemein charakteristisch
sind, zurückzuführen ist; dafür spricht auch das folgende. B.) Ihren
Vater, der Waldarbeiter war, ließ sie zum Ziegeleibesitzer avancieren.
Innerhalb weniger Wochen gab sie vier verschiedene Geburtstage an.
Auf Befragen erkannte sie eine Strafe an, die sie überhaupt nicht er¬
litten hatte. Die Charakteristik hebt hervor, daß sie seit Jahren an
zunehmender Geistesschwäche gelitten hat.
Die Kranke bot also das ausgesprochene Bild der dementen
Form der Dementia paralytica, die jahrelang latent geblieben war.
Der Fäll ähnelt auffallend dem oben erwähnten von Lange 1 ), scheint
also offenbar einen gewissen oft vorkommenden Typus darzustellen.
Ziehen 2 ) erwähnt ganz kurz einen Fall, in dem ein paralytischer
Kutscher anständige Damen, die sich in seinen Wagen setzten, zum
Coitus aufforderte.
Schließlich sei hier noch wegen seiner Seltenheit ein Fall von
Urkundenfälschung seitens eines Paralytikers berichtet,
der erst während der Verbüßung der ihm zudiktierten Zuchthaus¬
strafe als solcher erkannt wurde:
R. G., Pferdehändler aus S., 34 Jahre, wird aus dem Lazarett
des Zuchthauses zu X. in die Irrenanstalt Y. zur Begutachtung seines
Geisteszustandes übergeführt. In dem Überweisungsschreiben des
Gefängnisarztes heißt es, daß G. Ende März in die Strafanstalt zur
Verbüßung einer gegen ihn wegen Urkundenfälschung verhängten
Strafe eingeliefert sei. Während der Untersuchungshaft habe er zwei
Tobsuchtsanfälle erlitten, die den behandelnden Ärzten als Symptome
hochgradigster Neurasthenie imponiert hätten. Geisteskrankheit wurde
von ihnen nicht angenommen.
Bei der Aufnahme in die Strafanstalt wurde kein nennenswerter
objektiver Befund erhoben und auch keine Heredität festgestellt.
G. wurde zur Gemeinschaftsarbeit herangezogen, hatte aber eine
Schlafzelle für sieh. Anfangs führte er sich unauffällig. Am 12. Tage
1) 1. c.
2) Ziehen, Psychiatrie. 3. Aufl. Leipzig 1908 S. 109.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II.
107
der Internierung behauptete er ohne Grund im Arbeitsraume, andere
Gefangene hätten ihm das Arbeitszeug fortgelegt. Er führte auch
sonst so verkehrte Reden, daß er in seine Zelle gebracht werden
mußte. Am folgenden Tage bat er sich vom Rendanten zur Ein¬
leitung einer Privatklagesache wegen Kostenvorschuß gegen seinen
Bruder einen Briefbogen aus, den er auch erhielt. Als der Aufseher
das Schriftstück zur Weitergabe abholen wollte, gab er an, er habe
den Briefbogen zerrissen; sein Bruder sei bei ihm gewesen und
hätte mit ihm alles geregelt. Man versuchte es darauf bei G. mit
der Einzelhaft. Er arbeitete jedoch nichts und wurde daher zur
Beobachtung seines Geisteszustandes auf die Lazarettabteilung verlegt.
Dort legte er sich auf das Fasten und gab erst nach Drohungen,
man werde' ihn mit der Schlundsonde füttern, seinen Widerstand
gegen die Nahrungsaufnahme auf. Psychisch bot er ein wechselndes
Bild: manische Phasen wechselten in unregelmäßigen Turnus mit
depressiven ab, lichte Momente mit Zeiten völliger Desorientiertheit.
Da die somatischen und psychischen Erscheinungen dem Gefängnis¬
arzte nicht als Simulation 1 ) imponierten, ordnete er G.’s Verbringung
in eine Irrenanstalt an, der auch von der Direktion der Strafanstalt be¬
reitwillig Folge gegeben wurde.
Bei der Aufnahme in die Anstalt Y. wurde folgender körper¬
licher Befund erhoben: großer kräftig gebauter Mann in leidlichem Er¬
nährungszustand! Leichter Tremor der Hände und Zunge, Sensibliität
intakt. Pupillen gleich, mittelweit, auf Lichteinfall und Akkomodation
prompt reagierend. Reflexe lebhaft. Sprache undeutlich, leicht ver¬
waschen, aber langsam.
Berichtet über seine Vergangenheit mit großen Lücken. Er sei
geboren am 26. Nov. 1872 in S., habe dort die Schule besucht, sei als
Meierlehrling, alsdann bei einem Schlächter in der Lehre gewesen
und schließlich auf die Wanderschaft gegangen. Im Jahre 1892 habe
er geheiratet und in S. einen Pferdehandel angefangen. Er habe
etwa 5500 Mk. Kapital und Kredit bei seinen Lieferanten gehabt.
Die Ehe war angeblich unglücklich und wurde schließlich geschieden.
G. hält sich für den nichtschuldigen Teil, obgleich das Gericht die
Kinder der Frau zugesprochen hat und bleibt auf Vorbehalt dabei.
Er ist später eine zweite Ehe eingegangen. Krankheiten will er nie
durchgemacht haben. Namentlich stellt er Alkoholismus und Lues
entschieden in Abrede. Er habe zwei Kinder aus erster Ehe, die
bisher bei der Frau waren; jetzt aber habe der Großherzog an
1) Der begleitende Aufseher des Zuchthauses gab freilich an, er hielte die
Krankheit G’s für Simulation.
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108
I. Kurt Boas
ihn telephoniert und ihm die älteste Tochter abgekauft, die sei jetzt
im Schweriner Schloß. Das sei gewesen, als er in der Zelle war.
In der Darstellung der Lebensschicksale fällt eine große Zusammen-
hanglosigkeit auf. Er weiß die Jahresdaten der beiden Eheschließungen
nicht anzugeben, auch über die Gründe und Zeit der Scheidung ist
nichts näheres zu ermitteln. Rechnen und Schulkenntnisse leidlich.
Im folgenden einige Details über den weiteren Verlauf:
1906- 10. Mai: Hält sich für unschuldig. Geht auf die Sinnes¬
täuschungen in der Strafhaft nicht ein.
17. Mai: Halluzinationen. Telephonische Verhandlung mit einem
Schlächtermeister W. Wundert sich, daß dieser soviel Pferde
kaufen will.
18. Mai: Morgens leugnet er die gestrigen Halluzinationen ab.
Dieselben treten mittags wieder auf.
28. Mai: Hat 10 000 Pferde verkauft.
5. Juni: Hört jetzt weniger Stimmen.
14. Juni: Flüstert inseine Hand hinein, als ob er telephonieren wollte.
18. Juni: Es sei ihm telephonisch mitgeteilt worden, er besäße
mehrere Grundstücke.
25. August: Gewalttätigkeiten und tätlichen Angriff gegen seine
Wärter. Auf Befragen gibt er schließlich zu, die Stimmen, hätten es
ihm befohlen.
Dauernd viel Halluzinationen.
20. November: Mehrere paralytische Anfälle. Ebenso am
28. November: Mehrere Anfälle.
8. Dezember: Halluziniert etwas.
1907.. 3. Januar: Gibt auf Befragen an, es werde ihm noch
immer telephoniert. Über den Inhalt der Gespräche macht er keine
Angaben.
10. Januar: Weiß nicht, wie lange er in der Anstalt ist, sei nicht
bestraft, macht über Untersuchungs- und Strafhaft zeitlich verwirrte
Angaben.
19. Januar: Paralytischer Anfall.
14. März: Nicht orientiert: sei in St., hat keine Vermutung über
die anderen Kranken. Es sei November. Weiß nichts von seiner
Verurteilung.
27. März: Ruft den Arzt an sein Bett. Man wolle ihn totschlagen,
die ganze Umgebung sei daran beteiligt. Dabei ziemlich affektlos.
4. Mai: Verkennt die Ärzte.
16. Mai: Exitus. '
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II.
109
Wenn wir das Wesentliche über den Fall kurz zusammenfassen,
so handelt es sich um eine Dementia paralytica mit atypischem 1 )
Verlauf oder um eine Pseudoparalyse. Die Anamnese ist außerordent¬
lich dürftig. Die amtlichen Erhebungen und die persönlichen An¬
gaben des Kranken lassen uns über die Entstehungsursache und
ebenso über den Krankheitsbeginn gänzlich im Stich. Man wird je¬
doch nicht fehlgehen, die beiden in der Untersuchungshaft erlittenen
von den Ärzten als neurasthenische Tobsuchtsanfälle qualifizierten An¬
fälle als echte paralytische zu deuten. Das Krankheitsbild täuschte damals
Neurasthenie vor: kurz der Kranke stand damals noch im Prodromal¬
stadium, das dann während der Haft rapide Fortschritte machen und
insofern etwas mit der Haftpsychose gemeinsam hat als Verfolgungs¬
ideen und paranoische Zustände aufgetreten sind. Es ist natürlich
sehr schwer jetzt retrospektiv zu beurteilen, ob die Urkundenfälschung
in die Latenzzeit der Paralyse fiel. Darüber kann ich mich ohne
Vorliegen der Akten natürlich nicht äußern. Die Mitteilung bezweckt
nur, den Einfluß der Haft auf eine beginnende Paralyse darzutun.
Es ist m. E. hier ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Einwir¬
kung der Haft und Geisteskrankheit nicht erwiesen.
Sief er t 2 ), dem gewiß reiche Erfahrungen, als Leiter einer
psychiatrischen Beobachtungsstation an einer großen Strafanstalt zur
Seite stehen, hat unter 83 Haftpsychosen nur 4 mal Paralyse
angetroffen und ist der Ansicht, daß die Strafhaft als solche niemals
echte paralytische Prozesse erzeugt, ja ihr Entstehen nicht einmal mit
Sicherheit begünstigt. Überhaupt kommt die Paralyse unter der
Verbrecherwelt seltener vor als unter der freien Bevölkerung. Die
Gründe dafür sind nicht leicht einzusehen. Entsteht auch die Para¬
lyse nicht unter der deletären Einwirkung der Strafhaft, so ist doch
nicht zu leugnen, daß sie den tödlichen Ausgang ungemein fördert.
Zum Schluß sei noch an Ben neck es 3 ) Untersuchungen über
die bei Militärpersonen vorkommenden Delikte erinnert und einzelne
Fälle aus seiner interessanten Kasuistik herausgegriffen. Ein para¬
lytischer Unteroffizier machte sich eines Wachvergehens schuldig,
indem er seinen Posten im Wachanzuge verließ und auf der nahen
1) Es fehlen z. B. die expansiven Größenideen. Auch der körperliche Be¬
fund ist nicht typisch.
2) Siefert, Über die Geistesstörungen der Strafhaft mit Ausschluß der
Psychosen der Untersuchungshaft und der Haftpsychosen der Weiber. Halle
1907. S. 173. Carl Marhold.
3) Bennecke, Die Art der Delikte bei den einzelnen krankhaften Geistes¬
zuständen Heeresangehöriger. Sommers Klinik für psychische und nervöse Krank¬
heiten. Halle 1909. Bd. III S. 75.
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I. Kukt Boas
belebten Straße, sich mit Frauenzimmern unterhaltend, unbekümmert
auf und ab lief. Ein anderer entwendete in plumper Weise eine
Ziehharmonika. Ein Sergeant der Landwehr richtete nach der Ent¬
lassung einen beleidigenden Brief an seinen ehemaligen Kompagnie¬
chef. Die typische Schriftstörung deckte die Paralyse auf. Andere
Fälle betrafen Mißhandlung Untergebener, Unpünktlichkeit und Nach¬
lässigkeit, Verletzung der Standesehre (bei einem Offizier!) Ein
22 jähriger Soldat hatte sich der Achtungsverletzung und des Unge¬
horsams vor versammelter Mannschaft schuldig gemacht und war im
Hinblick auf mehrere Vorstrafen zu mehrmonatlichem Gefängnis ver¬
urteilt worden. Die psychiatrische Beobachtung im Lazarett ergab
das unzweifelhafte Bestehen einer Paralyse die bis dahin unter
der Flagge „Schwachsinn“ gesegelt war. Im ganzen sind von
Benneckes 13 paralytischen Militärpersonen 8 in forense Konflikte,
6 in gerichtliche, 2 nur in disziplinäre gekommen. Vorbestraft war
niemandf).
5. Zu Abhandlung V. „Psychosen und Neurosen als Folge¬
zustände von Sittlichkeitsattentaten, nebst Vorschlägen
über eine Enquete zur Feststellung ihrer Häufigkeit“.
Die Frage der psychischen Folgezustände nach Notzuchtsdelikten
steht in engstem Zusamenhange mit der anderen, welche Modifika¬
tionen die Ausführung der Sittlichkeitsattentate heute gegen früher
durchgemacht hat, eine Frage, die jüngst von Driesmans 1 2 ) in einer
Weise behandelt wurde, die zu einer Polemik in mehr als einem
Punkte herausfordert. Der Verfasser trägt in diesem mehr feuilletonistisch
als wissenschaftlich gehaltenen Artikel Ansichten vor, die mir einer
wissenschaftlichen Kritik nicht Stand zu halten scheinen und dringend
einer Korrektur bedürfen. Verfasser ist kurz gesagt der Ansicht,
daß die „Sittlichkeitsverbrechen“ (Warum in Anführungszeichen? B.)
der alten Zeit in der Tat kindliche Spielereien gegenüber
den zynisch raffinierten Ausgenießungen unserer Tage sind“. Hören
wir die Begründung des Verfassers: „Wir meinen vielmehr, daß diese
(sc. abscheulichen Perversitäten) durch unsere Prüderie mit großge¬
zogen sind“. Dann heißt es weiter: Über der ganzen modernen
Gesellschaft schwebt daher ein Hauch von moral insanity“.
Man kann gegen solche übertriebene Verallgemeinerungen, die ab¬
solut unbewiesen sind, und mißbräuchliche Anwendung des an sich
1) Vgl. auch Beim ecke, Die Paralyse im Unteroffizierstand. Monatsschrift
für Psychiatrie uud Neurologie 1907 Bd. XXII Ergänzungs-Heft S. 5.
2) Driesmans, Sittlichkeitsverbrechen in alter und neuer Zeit. Sexual¬
probleme 1910 Bd. VI S. 177.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II.
111
schon irreführenden Begriffes moral insanity ü nicht entschieden genug
Front machen und nur Näekes 1 2 ) wiederholt ausgesprochenem
Wunsche sich anschließen, daß dieser Begriff möglichst rasch aus der
psychiatrischen Nomenklatur verschwinde — Mönkem öller 3 ) nennt
sie spöttelnd einmal die gute alte moral insanity — da er nicht zur
Bezeichnung eines bestimmten Krankheitszustandes dient und besonders
in den Köpfen der Laien z. B. bei Driesmans eine bedenkliche
Verwirrung angerichtet hat. So hat Verfasser an anderer Stelle aus¬
geführt: „Die Erfahrung liefert eine Menge Beispiele von sittlichen
Charakteren, will sagen auf dem sexuellen Gebiet Enthaltsamer, welche
in vorgerücktem Alter die Opfer von unbegreiflichen sexuellen Ver¬
irrungen wurden. Wie die katholischen Priester und ähn¬
liche Kategorien zeigen, ist das Zölibat am meisten der
moral insanity ausgesetzt“ usw. Ich will hier das Zitat abbrechen,
um die Geduld der Leser nicht länger auf die Probe zu stellen. Sa-
pienti sat. Man sollte wirklich bei Driesmans die Kenntnis der
Tatsache voraussetzen, daß es sich bei der moral insanity um
einen angeborenen Zustand von moralischem Irresein oder Amo-
ralität 4 ) handelt, keineswegs aber um (z. B. durch sexuelle Enthaltsam¬
keit) erworbene Eigenschaften. Will man den Begriff der moral
insanity 5 ), als einen erworbenen Zustand deuten, so fällt damit die
ganze Lombrososche Theorie vom geborenen Verbrecher in sich
zusammen.
Und zum Schluß: Womit beweist Driesmans die Tendenz der
modernen Sittlichkeitsverbrecher bei der Vergewaltigung ihrer Opfer
mit allem Zynismus, dessen sie fähig sind, vorzugehen? Mit einem ein¬
zigen Falle, der seiner Ansicht nach in seiner Brutalität bisher einzig und
allein dastehen dürfte: dem eines Musikdirektors, der von seinen Opfern
die Ausstellung einer schriftlichen Erklärung verlangte, er hätte auf
ihren Wunsch und mit ihrem Willen die Unzüchtigkeiten mit ihnen
begangen. Man kann nicht scharf genug dagegen protestieren, daß
1) Vgl. Friedländer, Über die Bewertung der Imbezillität und der soge¬
nannten Moral insanity in praktischer und forensischer Hinsicht. Monatsschrift
f. Psychiatrie und Neurologie 1909. Bd. XXV S. 310.
2) Näcke, Lombrosos Theorien vom geborenen Verbrecher. Sep. Abdr.
aus diesem Archiv 1908 Bd. XXXIII S. 178.
3) Mönkemölier, Korrektionsanstalt und Landarmenhaus. Leipzig 1908.
J. A. Barth. S. 103.
4) Haymann, Zur Lehre vom geborenen Verbrecher. Inaugural-Disser-
tation Freiburg i. B. 1907.
5) Berze, Über die sogenannte Moral insanity und ihre forensische Bedeu¬
tung. Dies Archiv Bd. XXX.
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112
I. Kurt Boas
aus diesem Fall, der meines Wissens wiederholt vorgekommen ist,
Verallgemeinerungen gezogen werden. Die Beweisführung, die Ver¬
fasser in diesem Aufsatze sich zu geben anschickt, ist m. E. verfehlt.
Es bleibt daher ein bisher unbewiesenes, wenn auch recht wahr¬
scheinliches Faktum, daß, wie übrigens auch alle anderen Delikte,
die Sexual vergehen an Roheit und Brutalität zugenommen haben.
Einzelne kasuistische Fälle beweisen nichts. Wenn man für diese
Anschauung beweiskräftiges Material beibringen will, so muß in erster
Linie gerade an die besprochenen psychischen und last not least auch
moralischen Schädigungen der Opfer solcher Sittlichkeitsattentate er¬
innert werden. Die oben (S. 85) vorgeschlagene Enquete wird uns,
denke ich, in unseren weiteren Forschungen um ein gutes Stück
fördern. Mit solchen laienhaften Ausführungen wie die Driesmans,
die von wenig Kritik und forensisch-psychiatrischer Schulung zeugen,
ist der Kriminalistik herzlich wenig gedient.
Wir hätten dann noch im Anschluß an unseren auf Seite 77
der vorliegenden Arbeit gebrachten Ausführungen auf eine der psy¬
chischen Folgeerscheinungen der Notzuchtsattentate analoge Erschei¬
nung einzugehen, nur daß sie sich in legalen Grenzen bewegt und
daher nicht vor das Forum der Justiz, wohl aber der Moral gehört.
Eine solche stellt das sogen, „nuptiale Irresein“ (Hochzeitsirresein vom
lateinischen nubere = heiraten) dar. Näcke ') erwähnt in seinem licht¬
vollem Aufsatze diese Form und bemerkt, es müsse schon eine ge¬
wisse Disposition zu dieser Art von Geisteskrankheit bestehen, die
sich im Anschluß an die nicht geahnten Geheimnisse der Braut¬
nacht einstelle. Er erwähnt eine Arbeit von Dost 1 2 ), in der es heißt:
„Ist die vielleicht besonders empfindlich und prüde angelegte
Frau ganz ahnungslos, was ihrer in der Hochzeitsnacht wartet, so
ist vorauszusehen, daß sie Schreck und Abscheu erfassen wird, wenn
sie einen vielleicht noch in roher und gewaltsamer Weise ausgeführ¬
ten Coitus über sich ergehen lassen muß. Sie wird darüber entsetzt
sein, daß der bisher schwärmerisch geliebte und als hohes Ideal ver¬
ehrte Bräutigam plötzlich sich so verwandeln und zur Bestie berab-
sinken konnte“.
Näcke ist ebenfalls der Ansicht, daß aus solchem Anlaß — also
sowohl bei illegalen Notzuchtsattentaten wie bei legaler Ausübung
der ehelichen Pflicht — Nervosität und Hysterie entstehen können,
1) Näcke, Sexuelle Aufklärung. Die Zukunft 1910. Bd. XVIII Nr. 2B S. 312.
2) Dost, Zwei Fälle von Irrsinn in unmittelbarem Anschluß an die Ver¬
heiratung (Nuptiales Irrsinn). Allgemeine Zeitschrift f. Psychiatrie 1902 Bd L. IX
S. 876 ff.
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Forensisch-psychiatrische Kasuistik. II. 113
am häufigsten kommt nach Obersteiner x ) das manisch-depressive
Irresein vor.
6. Zu meiner in Bd. XXXV (1909) S. 226 erschienenen Arbeit
„Über einen Mord- und Suicidversuch in der Menstrua¬
tion“ ist noch eine Arbeit von Burger 2 ) nachzutragen, die mir
zwar dem Titel nach bekannt war (siehe Nachtrag zu vorstehender
Arbeit ebenda S. 248), aber mir damals noch nicht im Original vor-
lag. Im wesentlichen stimmen wohl seine Ausführungen mit der
von mir gegebenen Darstellung überein. Er geht auch auf die
forensische Bedeutung der Menstruationspsychosen ein und erwähnt
mehrere Fälle aus der Literatur, die mir entgangen sind. Er zitiert
einen Fall, in dem eine wegen Kindesmord zum Tode verurteilte
Frau, als sich bei ihr während mehrerer Menstruationstermine jedes¬
mal die Zeichen tiefster Melancholie fanden, freigesprochen wurde 3 * ).
Bei Waarenhausdiebinnen hat Legrand du Saulle festgestellt,
daß 35 von den 56 in flagranti ertappten Diebinnen zur Zeit der
Begehung der Tat ihre Periode hatten. In Übereinstimmung damit
meint Gudden 1 ) daß bei Waarenhausdiebstäblen weitaus überwiegend
die Fälle von Hysterie gewesen seien und zwar seien die Diebstähle
fast stets unter dem Einfluß des Menstruationsprozesses begangen
worden. Die mit der Menstruation verbundenen Störungen äußerten
sich hauptsächlich neben der bekannten Reizbarkeit bald in heftigen
Angstzuständen und innerer Unruhe, bald in Wandertrieb, Schwindel
und vorübergehender Benommenheit. Bei einigen Patientinnen war
die Erinnerung an das Reale von Anfang an getrübt. Gudden hat
eine Anzahl von Fällen während der folgenden Menstruationstermine 5 )
beobachtet und konnte häufig 1—2 Tage vor Eintritt der Blutung 6 )
1) Obersteiner, Über Psychosen in unmittelbarem Anschlüsse an die Ver¬
heiratung (nuptiales Irrsein). Jahrbücher f. Psychiatrie und Neurologie 1902 ßd.XXII
S. 313.
2) Burger, Beiträge zur Kasuistik des sogenannten menstruellen Irreseins.
Inaugural Dissertation Bonn 1909. S. 17 ff.
3) Ritzigs Zeitschrift f. Kriminalrechtspflege.
/ 4) Gudden, Die Zurechnungfähigkeit bei Warenhausdiebstählen. Viertel¬
jahrsschrift f. gerichtliche Medizin 1907 Bd. XXXII S. 64.
5) Infolgedessen empfiehlt es sich in Irrenanstalten, Frauengefängnissen und
Korrektionsanstalten die Menstruationstermine und die psychischen Anomalien
zu dieser Zeit regelmäßig tabellarisch zu verzeichnen.
6) Daraus geht in Übereinstimmung mit Reib old (Über Menstruationsfieber,
menstruelle Sepsis und andere während der Menstruation auftretende Krankheiten
infektiöser resp. toxischer Natur. Deutsche medicinische Wochenschrift 1906
Nr. 28—29; Über die Wechselbeziehungen zwischen dem Ovulationsvorgang
inkl. der Menstruation und inneren Krankheiten. Münchener med. Wochenschrift
Archiv für Kriminalanthropologie. 37. Bd. 8
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114
I. Kubt Boas
vasomotorische Störungen in Form von beschleunigtem, unregelmäßigem,
selbst aussetzenden Puls konstatieren. Die Frauen waren bis auf eine
noch unbestraft. Gudden kommt nach seinen Erfahrungen zu der
Überzeugung, daß die bei psychopathischen oder sonstwie nervösen
oder hysterischen Personen infolge des Menstruationsprozesses häufig
sich einstellende Alteration der Vorstellungs-, Willens- und Gemüts¬
sphäre, sehr leicht durch die äußeren Eeize, wie sie in einem Waaren-
haus unwillkürlich ausgelöst werden, jähe Steigerungen erleiden
können, welche die Zurechnungsfähigkeit ausschlössen. Da solche
Exazerbationen tatsächlich nicht selten seien, so müsse man bei den
während der Menstruation begangenen Diebstähle, wenn die Vor¬
geschichte genügende pathologische Anhaltspunkte ergibt, Unzurech¬
nungsfähigkeit annehmen. Nach den übereinstimmenden Erfahrungen,
die überall gemacht worden seien, stehe es fest, daß das weibliche
Geschlecht beim Warenhausdiebstahl ganz unverhältnismäßig gegen¬
über dem männlichen prävaliere. Die einzige Erklärung sei in dem
Hereinspielen krankhafter Elemente zu suchen.
Beachtenswert ist schließlich, daß Burger 1 ) Vorüberschätzung
der Periode in der Ursachenlehre der Geisteskrankheiten warnt und
Vorsicht bei der Stellung der Diagnose „menstruelles Irresein“ an¬
empfiehlt, womit er denselben Standpunkt wie Salerni 2 ) und
Kötscher 3 ) vertritt.
Endlich wäre noch die ausführliche Bearbeitung des Themas
durch Pilcz 4 ) zu nennen, der u. a. einen von Krieger berichteten
Fall von Suicid während eines menstruellen melancholischen Zustandes
kurz erwähnt, und eine kurze Notiz bei E. Meyer 5 ).
Im übrigen hoffe ich bereits in nächster Zeit über einen weiteren
Mord- und Suicidversuch während der Menstruation, der dem früher
berichteten in manchen Stücken ähnlich, an dieser Stelle berichten
zu können.
1909 Nr. 38—39) u. a. hervor, daß die psychischen Alterationen in die praemen-
struelle Zeit fallen und der Ovulation, nicht dem eigentlichen Menstruationsvor¬
gang, der das Sekundäre ist, zuzuschreiben sind. (Siehe meine Arbeit Bd.
XXXV (1909) S. 244.
1) 1. c. S. 41.
2) Salerni, Policlinico Mai 1906. Bef. Münchener medicinische Wochen¬
schrift 1906. S. 1973.
3) Sexualprobleme 1910 S. 240 ff.
4) Pilcz, Die periodischen Geistesstörungen. Jena 1901 (Literatur!)
5) E. Meyer, Die Ursachen der Geisteskrankheiten. Jena 1907.
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II.
Über die Entzifferung von Schriftzeichen auf verkohlten
und verbrannten Papieren 1 ),
Von
Hie. Teelu.
Bekanntlich verkohlt oder verascht das Papier, wenn es durch
Feuer zerstört wird, je nachdem es der Hitze allein, oder auch gleich¬
zeitig der Einwirkung der Luft ausgesetzt ist. Da das Papier im
wesentlichen aus einer chemischen Verbindung von Kohlenstoff,
Sauerstoff und Wasserstoff, der sogenannten Cellulose besteht, so ist
sein Rückstand, wenn es ohne Zutritt von Luft erhitzt wird, haupt¬
sächlich der nicht flüchtige Kohlenstoff, weshalb seine Verkohlung
eintritt, während die gleichzeitige Einwirkung der Luft, die Ver¬
brennung des Kohlenstoffs und Wasserstoffs zu farblosen, flüchtigen
chemischen Verbindungen verursacht. Nur, weil das Papier nicht
aus reiner Cellulose besteht, sondern auch mineralische Stoffe enthält
hinterläßt es bei der Verbrennung Asche, indem die ersteren als solche
oder gebunden mit Sauerstoff und einer entstehenden Sauerstoff-
Kohlenverbindung, als grauweißer,leichtzerfallender und nicht flüchtiger
Rückstand zur Abscheidung kommt.
Ein an der Luft entflammtes Papierblatt hinterläßt meistens einen
mehr oder weniger eingeschrumpften verkohlten Rückstand, der an
seinem äußersten Rande verascht ist; weniger Unebenheiten zeigt ein
verkohltes Blatt mit größerem Gehalt an mineralischer Substanz und
manchesmal geht die Blattform der Probe ganz verloren, wie dies
1) Die Anregung zu Untersuchungen in dieser Richtung bot vor 21 Jahren
die Entzifferung der Identitätsmerkmale von 67 Stück verkohlten österr. Staats¬
schuldverschreibungen zu je 1000 Gulden, welche sich in Antwerpen nach einer
Dynamitexplosion in einer eisernen Kasse vorfanden.
Studien über einschlägige Arbeiten finden sich in: Baumert, Lehrbuch 1906,
Bd. II S. 119 als Anhang von M. Dennstedt und F. Voigtländer, ferner in der
Abhandlung von J. Habermann, Zeitschrift für analytische Chemie, 1909, Jahrg. 48
Heft 12 S. 729, und Hans Groß, Hdb. f. Untersuchungsrichter, 5. Aufl. pag. 577ff.
8 *
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II. Nie. Teclu
beispielsweise das Seidenpapier zeigt, welches gar nicht oder nur
vorübergehend verkohlt. Aber auch stärkere Papiere bieten die
gleiche Erscheinung, wenn sie nahezu aus Cellulose bestehen, wie die
Fließ- und Filtrierpapiere; der Rückstand der an der Luft ent¬
flammten Papiere hängt im allgemeinen von ihrer Stärke, Dichte und
stofflichen Beschaffenheit ab und bei größeren Mengen übereinander
gelagerten Papierblättern, auch von der Richtung und Intensität der ein¬
gedrungenen Luft in das erhitzte Material.
Um dieser Frage, bezüglich der Beschaffenheit des Brand¬
rückstandes, der Papiere näher treten zu können, erschien es zweck¬
mäßig, die zerstörende Wirkung der Hitze und der Hitze im Vereine
mit der Luft, d. h. die Ergebnisse der trocknen Destillation und jene
der Verbrennung des Papiers, gesondert einzuleiten und die hierbei
auftretenden Erscheinungen zu prüfen. Die zu diesem Zweck ver¬
wendeten Behelfe waren folgende:
Die trockene Destillation wurde zwischen zwei je 1 mm dicken
Eisenplatten von entsprechender Größe *) ausgeführt, innerhalb wel¬
chen das Papierblatt, von beiden Seiten mit je einem weißen, nicht
zu dünnen Blatte Saugpapier eingebetet ward 1 2 ). Das Erhitzen geschah
auf einem eisernen Dreifuße vermittelst Leuchtgas, durch die unter¬
gestellte Flamme eines Heizbrenners, während verhältnismäßig
kurzer Zeit 3 ).
Um die Verbrennung zu bewerkstelligen, war der Vorgang ein ähn¬
licher, mit dem Unterschiede, daß statt Eisenbleehplatten, feinmaschige
Eisendrahtnetze in Verwendung kamen, welche durch Klemmen 4 ) an¬
einander befestigt werden konnten und das Saugpapier wegfiel.
Endlich diente noch eine Versuchsanordnung zu diesen Arbeiten,
welche darin bestand, die Probe zwischen der Eisenplatte und dem
obenauf liegenden Drahtnetze 5 ), die aneinander geklemmt sind, erhitzen zu
können, um somit eine Art von unvollkommener Verbrennung zu bewirken.
1) Die Größe der Eisenplatten richtet sich nach jener des Untersuchungs¬
materials.
2) Das Saugpapier verhindert das Ankleben der Probe an den Eisenplatten*
8) Die Zeitdauer des Erhitzens bei allen diesbezüglichen hier erwähnten
Versuchen ist relativ, da sowohl der Gasdruck als die Papierqualität und die
Beschaffenheit der Druck- und Schriftzeichen variiert; sie beträgt nur wenige
Minuten und manchesmal auch nur Bruchteile einer Minute.
4) Die Klemmvorrichtung besteht aus entsprechend gebogenen Eisenblech¬
streifen.
5) Das Drahtnetz, welches die Probe bedeckt, hat den Zweck, das Ent¬
flammen und Einschrumpfen der letzteren, zu verhüten und das Zuströmen der
Luft zu mäßigen.
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Über die Entzifferung von Schriftzeichen usw.
117
Mit Hilfe dieser Yersuchseinrichtungen konnten die verschiedensten
Arten von Schreib- und Druckpapier ohne Schwierigkeit derart ver¬
kohlt oder unvollkommen verbrannt, sowie eingeäschert werden, daß
man in allen Fällen, Blätter von tadelloser Form und gleichartiger
Qualität erhielt.
Dieser Vorgang diente weiter auch dazu, die verschiedensten
Papiere mit den stofflich mannigfaltigsten Schrift- und Druckzeichen
versehen, der Untersuchung zu unterziehen, um zu ermitteln, auf
welche Weise und bis zu welcher Grenze, die Entzifferung erschlossen
werden kann.
Hierbei ergab sich die Tatsache, daß durch die trockene
Destillation sowohl als auch durch die Verbrennung, die Schrift und
Druckzeichen meist nur verändert und nicht zerstört werden und
selbst jene, welche weniger widerstandsfähig sind, durch die unvoll¬
kommene Verbrennung, in ihrer ursprünglichen Beschaffenheit er¬
halten werden können, weshalb die angeführten Versuchs verfahren
die Entzifferung nicht nur möglich machen, sondern, wenn das Un¬
tersuchungsmaterial intakt ist, mit Sicherheit erreichen lassen. Die
wichtigsten Stoffe unserer Druck- und Schriftzeichen verändern sich
nämlich durch die trockene Destillation und durch die Verbrennung
meistens nicht nur in ihrer stofflichen Beschaffenheit, wo sie in helleren
Farben erscheinen, sondern es wird auch gleichzeitig die Oberfläche
der Druck- und Schriftzeichen eine andere. Sie verliert ihre Glätte,
wird rauh und rissig und erstere werden oft schon dadurch dem
freien Auge sichtbar, besonders, wenn sie Reliefform i) annehmen, doch
können sie oft nur mehr mit der Lupe aufgefunden werden und sind
unter Umständen überhaupt nicht zu sehen; durch physikalische und
chemische Behelfe gelingt es aber ausnahmslos, sie sehr deutlich
sichtbar zu machen.
Bei Druckschriften beispielsweise, die verkohlen, sind die Druck¬
zeichen selten unsichtbar. An den Stellen, wo das Papier bedruckt
war, ist durch die Hitze eine optische Verschiedenheit zwischen Druck¬
schrift und dem verkohlten Papier eingetreten. Man kann den Ober¬
flächenunterschied an diesen Stellen noch ganz besonders dadurch
steigern, daß man das betreffende verkohlte Blatt in einen entsprechenden
Behälter, etwa aus Glas oder Porzellan legt und mit einer möglichst
optisch dichten Flüssigkeit, mit Wasser oder besser mit 10% Glyzerin¬
lösung übergießt. Die hierdurch hervorgerufene Wirkungistauffallend.
Das Objekt erscheint unter der Flüssigkeit dem Auge näher und die
1) Diese Erscheinung tritt bei der trocknen Destillation auf, wenn mehrere
Papierblätter aneinanderliegen.
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II. Nie. Teclu
Druckzeichen somit größer, die hierbei zum Teil reflektierten Licht¬
strahlen erhöhen ihre Belichtung, so daß sie sehr deutlich gekenn¬
zeichnet, sichtbar werden. Überraschend günstige Erfolge der Ent¬
zifferung erzielt man selbst in solchen Fällen, wenn mit Zuhilfenahme
der Lupe die Druckzeichen nicht mehr aufzufinden sind, sobald man
die Probe der unvollkommenen Verbrennung aussetzt. Auffallend ist
hierbei die Erscheinung, daß das porösere Material des verkohlten
Blattes viel eher, als die Druckzeichen eingeäschert wird, wodurch
sich letztere äußerst scharf und tief schwarz von dem hellergefärbten
Untergrund des eingeäscherten Blattes abheben.
Bei der Einäscherung eines bedruckten Papierblattcs ist auf der
Asche die Druckschrift auch einigermaßen sichtbar, da sie sich meist
durch gefärbte Oxyde jener Metalle kundgibt, welche im Firnisse
der Druckfarben, wenn auch nur in geringen Mengen enthalten ist.
Ähnlich verhält sich bei diesem Verfahren auch der Stampiliendruck.
Kennzeichnende Bückstände hinterlassen auch die verschiedensten
Stifte, wobei die Schrift des Graphitstiftes, wenn nicht außergewöhnlich
gesteigerte und andauernde Hitze einwirkt, metallisch glänzend, so¬
wohl bei der Verkohlung, als auch bei der Einäscherung des Papiers,
äußerst scharf begrenzt auftritt.
Bezüglich der Tintenschrift ist der Umstand besonders be¬
merkenswert, daß diese meist Eisenverbindungen enthält, welche bei
der trockenen Destillation reduziert, bei der Einäscherung oxydiert
werden; die Entzifferung der Schrift, welche dem Reduktions¬
prozeß ausgesetzt war, kann in verschiedener Weise durchgeführt
werden. Der erwähnte physikalische Vorgang führt hier nur selten
zum Ziele, dagegen gelingt es auf chemischem Wege die befrie¬
digendsten Resultate zu erzielen. Es sind da jene chemischen Re¬
aktionen die vorteilhaftesten, welche durch ihre Wirkung die
Schriftzeichen von ihrem Untergrund möglichst abheben, sie nament¬
lich schwarz, rot oder weiß erscheinen lassen. Kann man auf einem
verkohlten Blatte, das beschrieben war, beispielsweise selbst mit der
Lupe keine Schriftzeichen mehr erkennen, dann gelingt es meistens
durch Übergießen der Probe mit einer schwach mit Salzsäure ver¬
setzten Lösung von gelben Blutlaugensalz die Entzifferung zu be¬
wirken, da sich auf den Schriftzeichen Berlinerblau niederschlägt und
dieses auf dem braunen Untergrund schwarz erscheint. Die Reaktion
tritt meist schneller und schärfer auf, sobald die Probe vorher 2—3
Stunden in einer Lösung von übermangansaurem Kalium gelegen war
Die auf dem verkohlten Blatte unsichtbaren Schriftzeichen können
aber, so wie dies bei der Druckschrift erwähnt wurde, auch durch die un-
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Über die Entzifferung von Schriftzeiehen usw.
119
vollkommene Verbrennung in der ursprünglichen schwarzen Schrift
erhalten werden, welche Erscheinung gleichzeitig erkennen läßt, daß
die Entzifferung von Tintenschriften nicht unbedingt von ihrem Eisen¬
gehalt abhängig ist. Die verschieden abgetönten, rötlichgefärbten
Schriftzeichen ergeben sich aus den, auf dem verkohlten Blatte un¬
sichtbaren, ebenfalls durch die unvollkommene Verbrennnng, aber nach
etwas längerem Erhitzen. Um die Schriftzeichen weiß zu erhalten
sind sie vorerst, nachdem früher erwähnten Vorgänge, in roter Farbe
herzustellen und hierauf das verkohlte Blatt in eine 25% Lösung
von Wasserstoffsuperoxyd etwa 12 Stunden der Ruhe zu überlassen.
Die Probe wird nachher, ohne gewaschen zu werden, an der Luft
trocknen gefassen. Man erhält auf diese Weise unveränderlich blei¬
bende Schriftzeichen, die selbst in ihren feinsten Details scharfe Kon¬
turen auf weisen. Bei diesem Prozesse wirkt das Wasserstoff¬
hyperoxyd auf das Oxyd des Eisens reduzierend, indem sich wahr¬
scheinlich ein weißes, zum Teil entwässertes Eisenhydroxydul bildet i).
Auf diesem Gebiete hat der Chemiker einigen Spielraum, um mit
Hilfe der mineralischen Bestandteile der Schriftzeiehen und der ent¬
sprechenden chemischen Reaktionen, solche chemische Verbindungen
hervorzurufen, welche in ihrer Färbung mit dem braunen Untergrund
den verkohlten Papier möglichst kontrastieren, damit die Schrift¬
zeichen in wirksamster Weise zum Ausdruck gelangen.
Im alltäglichem Leben kommt es nicht selten vor, daß Wert¬
papiere, Dokumente aller Art, Briefe und dergleichen Schriften, ab¬
sichtlich oder unabsichtlich der verheerende Wirkung des Feuers aus¬
gesetzt werden, und bei wichtigeren Schriftstücken, die auf diese
Weise zerstört werden, besteht in manchen Fällen, das dringende
Bedürfnis, die Entzifferung der auf diesen vorhanden gewesenen
Schrift- oder Druckzeichen ausfindig zu machen. Solchen Unter¬
suchungen begegnet man gewöhnlich mit nicht geringem Mißtrauen.
Die Zweifel sind indessen nur dann berechtigt, wenn die Blattform
des Untersuchungsmaterials stark gelitten hat und es unmöglich wird
von dieser eine größere Oberfläche der Prüfung zu unterziehen.
Wenn auch in solchen Fällen die Schrift- und Druckzeichen noch so
deutlich sichtbar sind, oder sichtbar gemacht werden können, so ist
die mühevolle Arbeit des Zusammenstellens der kleinen Teilchen des
so leicht zerfallenden Prüfungsmaterials, oft nicht aufzubringen, um
die Entzifferung mit Erfolg vorzunehmen.
1) Mit besonderer Vorsicht läßt sich die weiße Schrift auch durch die unvoll¬
kommene Verbrennung erhalten, wenn nur sehr kurze Zeit, etwa 10—20Sekunden, er¬
hitztwird. Die Untersuchung dieser Verbindung wird einer späteren Zeit Vorbehalten.
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120
II. Nie. Teclu
Bei Bränden sind die Papiere sehr selten in geschlossenen
Bäumen der Hitze allein, wie etwa in eisernen Kassen ausgesetzt, in
denen sie nur verkohlen können, vielmehr geht ihre Zerstörung meist
in unseren Hausöfen, oder an sonstigen Orten vor sich, wo die Luft
Zutritt hat und hier werden sie fast ausnahmslos teils verkohlt und
teils eingeäschert. In den allermeisten Fällen sind da von vornherein
die eingeäscherten .Rückstände kaum einer weiteren Untersuchung
zugänglich, da sie gewöhnlich zu Staub zerfallen; es ist hauptsächlich
das verkohlte Material, welches zu diesem Zwecke herangezogen
werden kann. Dieses zeigt an seiner Oberfläche oft große Ver¬
schiedenheit. Man findet Blätter, welche gar keine Schrift- oder
Druckzeichen aufweisen, auf anderen erscheinen letztere erhaben,
oder sie sind braunrot, rot, gelblichrot oder gelb gefärbt, manches¬
mal treten sie auch weiß auf. Auch weisen sie nicht selten bedeu¬
tende, für die Untersuchung sehr hemmende Unebenheiten auf. Man
trachtet sie daher vor allem zu glätten und ihre Elastizität zu erhöhen.
Einigermaßen gelingt dies durch Belassen der Proben durch 3—4 Stunden
in einer etwa 20 proz. Glyzerinlösung, Abtrocknen derselben mit
Filtrierpapier, worauf sie zwischen Glasplatten in der Zeitdauer von
etwa 24 Stunden einer größeren Belastung ausgesetzt werden. Weiter
muß bei diesen Proben festgestellt werden, ob sie nur auf einer
Seite, oder auf beiden bedruckt oder beschrieben sind und endlich,
ob zu deren Entzifferung der physikalische, oder der chemische Vor¬
gang einzuhalten ist. Wie früher erwähnt, können die bedruckten
Proben zunächst auf physikalischem Wege entziffert werden. Waren
die verkohlten Blätter nur auf einer Seite mit Druckzeichen versehen,
was, wenn selbst die Lupe darüber keinen Aufschluß geben kann,
d urch eine Vorprüfung an einer Stelle der verkohlten Probe, erkannt
w erden kann, dann ist es geboten, in folgender Weise vorzugehen.
Man bestreicht mit Hilfe eines Pinsels einen Karton, besser eine
Glasplatte oder eine solche aus Celluloid von entsprechender Größe
mit Chloroform, legt auf die bestrichene Stelle Guttaperchapapier,
das hierdurch anklebt,, dann bestreicht man, wie früher, das Gutta¬
perchapapier mit Chloroform und klebt auf dieses das verkohlte Blatt,
beziehungsweise die zu diesem gehörenden Bruchteilchen mit den
Druckzeichen nach oben gewendet. Diese Art das Fixieren des
U ntersuchungsmaterials zu bewerkstelligen eignet sich besonders zum
bequemen Hantieren mit den Proben und für den etwaigen Trans¬
port ; in dieser Zurichtung können sie mittelst des physikalischen Ver¬
fahrens entziffert werden, wenn nicht zwingende Gründe vorhanden
sind, die schwarze Druckschrift, wie früher erwähnt wurde, mit Hilfe
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Über die Entzifferung von Schriftzeichen usw.
121
der unvollkommenen Verbrennung hervorzurufen. Schwieriger ge¬
staltet sich der Vorgang, wenn die verkohlten Blätter auf beiden
Seiten zu entziffern sind und demnach von jeder Seite frei der Be¬
trachtung zugänglich sein sollen. Für diesen Fall dienen mit Vor¬
teil zwei gleichgroße, rechteckige Messingrahmen, von welchen der
eine der Länge nach, der andere nach der Breite, auf je einer Seite
mit Kupferdrähten in Abständen von 5—10 mm versehen sind und
zwar derart, daß wenn die Drahtseiten dieser Rahmen aufeinander
gelegt werden, durch die querlaufenden Kupferdrähte Quadratfelder
entstehen, deren Seite 5—10 mm lang sind. Zwischen diesen Drähten
werden dann die verkohlten Blätter gelegt, um von beiden Seiten
der früher erwähnten Prüfung unterzogen zu werden i). Bei Behand¬
lung der Proben mit Flüssigkeiten, welche Kupfer, Messing oder das
angewendete Lot angreifen, wird der Rahmen durch Vergoldung
geschützt.
Auch für den Fall daß die verkohlten Blätter beiderseitig be¬
druckt wären, kann das Verfahren der unvollkommenen Verbrennung
angewendet werden.
Die verkohlten Blätter, auf denen sich Schriftzeichen befinden
können in derselben Art fixiert werden, aber nur für den Fall, als
sie mit flüssigen chemischen Agentien zu behandeln sind. Die un¬
vollkommene Verbrennung sowohl als auch die Verbrennung zum
Zwecke der Entzifferung, wird in derselben Weise durchgeführt, wie
bei den Druckschriften.
In manchen Fällen empfiehlt es sich, die Ergebnisse der Ent¬
zifferung durch photographische Aufnahmen festzuhalten, letzteres
auch aus dem Grunde, weil die braune Farbe der verkohlten Blätter,
von den Farbstoffen der oft sehr verschiedenartigen Schrift und Druck¬
zeichen, durch photographische Behelfe nicht selten, noch weiter von¬
einander getrennt und die Deutlichkeit der Entzifferung noch mehr
gesteigert werden bann.
Aus der hier erörterten Methode ergibt sich schließlich, daß die
Entzifferung von Druck- und Schriftzeichen auf verkohlten Papieren
innerhalb verhältnismäßig weitgesteckter Grenzen durch verläßliche
und präzise Ergebnisse, ohne Aufwand besonders kostspieliger Mittel,
ausführbar ist; ausschlaggebend ist aber hierbei die möglichst unbe¬
schädigte Form des Untersuchungsmaterials.
Wien, Chemisches Laboratorium der Wiener Handels-Akademie,
im Februar 1910.
1) Die Größe der Rahmen richtet sich nach dem Untersu'chungsmaterial; sie sind
aus Messingstäbchen zusammengelötet. Die Dicke des Kupferdrahtes beträgt 0.2 mm.
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III.
Einiges über Hoteldiebe (rats d’hötel).
Von
Professor Dr. B,. A. Heiss, Lausanne.
(Mit 3 Abbildungen.)
In der letzten Nummer des Archivs hat Abels einige in¬
teressante Bemerkungen über Hoteldiebe veröffentlicht. Da jedoch
einige seiner Angaben mit den Erfahrungen der Praxis nicht ganz
stimmen, möchte ich sie in folgendem richtig stellen und noch
einige persönliche Erfahrungen hinzufügen.
Zuerst möchte ich bemerken, daß der von Abels angezweifelte
Artikel im „Bulletin höbdomadaire de Poliee criminelle“, das von
der Süretö generale des französischen Ministerium des Innern heraus¬
gegeben wird, erschien. Dieses Bulletin ist ein Polizeiblatt, das in
der „Imprimerie administrative“ in Melun (im Zentralgefängnis!)
gedruckt wird und kostenlos nur an die verschiedenen Staats¬
anwälte, Polizei- und Gendarmerieorgane verschickt wird. Im
Handel ist diese Publikation nicht zu haben. Die im Bulletin
veröffentlichten Bemerkungen sind also nur für Polizeibeamte be¬
stimmt gewesen und absolut nicht für das Publikum. Sie sind auch
gar. nicht das Produkt eines reklamebedürftigen Privatdedektivs,
sondern das des, wie Herr Abels sehr richtig sagt, „wohl be¬
rufensten Kenners auf diesem Gebiete“ Commissaire principal de la
Süretö genörale, Herrn Söbille und das eines seiner besten Spezialisten,
Herrn Benoit. Allein diese Konstatierung genügt wohl schon zu
zeigen, daß der betreffende Artikel absolut ernsthaft zu nehmen ist
und nur in der Praxis bestätigte Dinge enthält. Immerhin ist es
interessant auf die einzelnen Punkte einzugehen. Ich stütze mich
hierbei auf meine eigenen Erfahrungen, die ich in mehreren Hotel¬
diebsaffären habe sammeln können, denn unsere Schweiz wird ja
recht gerne von diesen Spezialisten heimgesucht.
Zuerst muß man die Hoteldiebe in zwei Klassen einteilen: die
bei Tag und in unverschlossenen Zimmern arbeitenden und die bei
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Einiges über Hoteldiebe (rats d’hötel). 123
Nacht mit besonderen Türöffnern arbeitenden. In der ersten Klasse
haben wir wieder die Unterabteilung der Diebe, die nur offen
daliegende Pretiosen sich aneignen und so dem erschwerten Dieb¬
stahl aus dem Wege gehen (Manulescu!), und die, die Koffer,
resp. Handtaschen usw. erbrechen resp. aufschneiden. Die der
zweiten Hauptklasse angehörenden Diebe arbeiten nicht immer nur
hei Nacht, sondern sie verschmähen es auch nicht, wenn sich ihnen
die Gelegenheit bietet, sich bei Tage in offenstehende Zimmer oder
Bäume, von denen sie wissen, daß sie momentan verlassen sind,
zu begehen und da alles, was ihnen wertvoll erscheint mitzunehmen.
Tagshoteldiebe arbeiten vorzugsweise während der Mahlzeiten, d. h.
zwischen 1 und 2 und 7*/2 und 9 Uhr, Zeiten, zu denen sie wissen,
daß die Gäste lunchen resp. dinieren und das Hotelpersonal ent¬
weder im Speisesaal beschäftigt ist oder selbst speist. Auch
zwischen 4 und 5 Uhr nachmittags ist eine güte Arbeitszeit für die
Spezialisten, denn da sind die Gäste der großen Palasthotels, die ja
bekanntlich mit Vorliebe von den Hoteldieben besucht werden, beim
„Five o clock Tea“ und hei der Zigeunermusik und die Damen haben
schon einen Teil ihrer „Schmuckrüstung“ hierzu angezogen und die
übrigen Pretiosen, nur zu oft in ihrem Zimmer offen stehen gelassen.
Manulescu hat ganz recht, wenn er in seinen, übrigens zum
großen Teil recht romanhaften Memoiren, die Sorglosigkeit und
Unordentliehkeit der „voyageurs des trains de luxe“ als die Vor¬
sehung der Diebe bezeichnet. Hinzugeftigt soll noch sein, daß
gerade zu den obenerwähnten Stunden die Etagenaufsicht durch das
Personal weniger streng ist, da gerade zu der Zeit eine große Zahl
davon in den untern Officeräumen durch den Five o clock Tea,
Dinervorbereitung, usw. immobilisiert ist.
Bemerkt sei hierzu noch, daß international arbeitende Hotel¬
diebe oft durch Geldsummen sich in großen Hotels Angestellte
(namentlich Zimmermädchen) bestechen, die ihnen die reichen Gäste,
„bei denen etwas zu machen ist“, angeben. Solche Fälle sind schon
öfters vorgekommen und der Untersuchungsrichter oder Polizei¬
kommissar tut gut, sie nicht aus dem Auge zu lassen.
Es ist ganz richtig, wenn es in dem französischen Bulletin
heißt: Wenn der Dieb allein ist, so bezahlt er am Abend seine
Hotelrechnung und zeigt seine Abreise für den Morgen mit dem
ersten Zug an. Nur ein Beispiel hierzu:
Der sehr geschickte und unserer und der französischen Polizei
wohlbekannte Hoteldieb R. kommt im Sommer 1908 abends 8 Uhr
in eines unserer großen Hotels, nimmt ein Zimmer und schreibt
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124
III. R. A. Reiss
sich unter dem Namen „Chevalier aus Bruxelles“ auf dem Kontroll-
zettel ein. Er bittet, ihn am anderen Morgen um 5 Uhr zu wecken,
da er den Frühzug nach Paris (6 Uhr 37) nehmen will. Seine
Rechnung, das Frühstück inbegriffen, zahlt er auch gleich am
Abend. Chevalier, alias R., fährt auch richtig mit dem Zuge am
anderen Morgen ab und ein Gast zeigt um 7 Uhr im Bureau des
Hotels an, daß ihm im verschlossenen Zimmer, während er schlief,
aus einem Portefeuille, das in der Brusttasche seines Rockes neben
seinem Bett lag, 6000 Franken gestohlen wurden. Sofort benach¬
richtigt, habe ich deutlich die Kratzspuren des „ouistiti“ an dem
im Schlosse steckenden Schlüssel konstatieren können. Natürlich
hat der Dieb auf der nächsten Station den Pariser Expreßzug ver¬
lassen und ist in einer ganz anderen Richtung weitergefahren.
Das Einlassen des zweiten Komplizen um Mitternacht ist selbst
in erstklassigen Hotels wohl möglich. Natürlich wird der im Hotel
einlogierte Dieb nicht um die Geisterstunde zum Tor heruntersteigen
und dieses behutsam aufmachen. Er hat es aber auch gar nicht
nötig, da unsere großen internationalen Hotels weit länger als
Mitternacht aufbleiben. In einem großen Hotel fällt es wahrhaftig
nicht auf, wenn um 11 oder IIV 2 Uhr abends ein feingekleideter
Gentleman, der sich durch nichts von den übrigen fashionablen
Gästen unterscheidet, sich in einen der eleganten Rockingchars des
Vestibüls setzt, der Zigeunermusik etwas zuhört und dann sich
langsam, wie wenn er selber Gast wäre, nach dem Zi mm er seines
Komplizen begiebt und dort die eventuell schon gestohlenen Sachen
abholt. Nach einiger Zeit, lange bevor das Hotel geschlossen wird,
verläßt er daselbe wie so viele Gäste in den großen Städten, Paris,
Berlin auch Nizza usw., die ihre Vergnügungsausflüge um Mitter¬
nacht erst beginnen.
Der Komplize dient ja nur dazu, die gestohlenen Wertsachen in
Sicherheit zu bringen, sodaß sie bei einem eventuellen Alarm nicht
bei dem Diebe gefunden werden. Bei dieser Art von Stehlen bedarf
es keines Komplizen bei der Ausführung des Diebstahls, im Gegen¬
teil der Komplize wäre nur lästig und hinderlich. — Was nun die
professionelle Kleidung der Hoteldiebe anbetrifft, so unterscheidet
sich die der Tagesdiebe in nichts von der sehr eleganten Kleidung
der vornehmen Gäste der Palasthotels oder in bescheideneren Hotels
von der gutsituierter Bürger. Es handelt sich doch darum, mög¬
lichst harmlos in die Zimmer einzudringen und, wenn man dort
überrascht wird, den Gast zu spielen, der sich in der Zimmer¬
nummer getäuscht hat.
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Einiges über Hoteldiebe (rats d’hotel).
125
Die Nachtdiebe haben allerdings eine besondere Kleidung, aber
diese besteht nicht in dem theatralischen sehwarzen Trikot mit
schwarzer Kapuze, sondern wirklich, wenigstens hei uns, und ich
habe guten Grund anzunehmen, daß bei dem internationalen Charakter
der Hoteldiebe diese überall gleich operieren, aus dem jetzt so
viel in feinen Kreisen benutzten Naehtkleid „Pyjama.“ Wie wohl
allgemein bekannt ist, besteht dieser aus einer langen Hose und
einem mit Verschnürung geschlossenem Jackett aus Flanell oder
Seidenstoff. Der Pyjama wird in allen Farben geliefert und wählen
die Diebe eine möglichst dunkle Farbe aus. Ch., der letzten
Dezember im Westminster in Paris mitten bei der Arbeit verhaftet
wurde, benutzte einen auberginefarbigen Pyjama. Wie gesagt, ist
heute der Pyjama sehr verbreitet und wird der spät heimkehrende
Gast oder der Nachtwächter absolut nicht erstaunt sein, eine mit
diesem und mit Pantoffeln oder Filzschuhen bekleidete Person im
Gange zu treffen; diese kann ja ein plötzliches Bedürfnis haben und
auf den W. C. gehen. Ganz anders verhält es sich aber, wenn ein
in schwarzem Trikot gekleidetes Individuum im Gange betroffen
wird. Die vollständig ungewöhnliche Kleidung verrät sofort den
Dieb. Die Hoteldiebe, die ja ein so bequemes Kleidungsstück wie
den Pyjama, der infolge seiner dunklen Farbe ebensowenig sicht¬
bar ist wie der schwarze Trikot, zu ihrer Verfügung haben, werden
doch nicht so töricht sein, sich des gefährlichen Trikots zu bedienen!
Möglich ist es, daß einmal ein Hoteldieb sich des Trikots bediente,
aber das war doch wohl nur eine Ausnahme, die, das sei gleich
gesagt, den Ursprung der Trikotlegende, wie wir sie auf einer
schönen theatralischen Illustration bei Villiod (der nebenher gesagt
einer der „reklambedürftigen“ Privatdedektivs ist) sehen, gegeben
haben mag. Einer der routiniertesten Hoteldiebe, der letzten Winter
verhaftet wurde, erklärte in meinem Beisein, daß das schwarze
Trikot ein Produkt der Phantasie verängstigter Frauenzimmer sei!
Ich will absolut nicht verallgemeinern. In der Kriminalistik
muß man sich auf alles gefaßt machen: alles, selbst das Unglaub¬
lichste ist möglich. Aber schießlich sind gerade die Hoteldiebe
schlaue Kerls und man kann kaum annehmen, daß sie so un¬
vorsichtig wären sich des verräterischen Trikots zu bedienen. Mag
nun der Trikot einmal oder mehrere Male angewendet worden sein,
das steht fest, daß er bei den modernen Hoteldieben, die in den
großen Hotels in Frankreich und in der Schweiz gearbeitet haben,
nicht im Gebrauch ist. Anders verhält es sich um das „Ouistiti“.
Dieses ist allgemein in diesen Kreisen im Gebrauch. Diese
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III. R. A. Reiss
„Ouistitis“, von denen ich diesem Artikel im Bilde einen beigebe
(er stammt aus dem „Trousseau“ des Hoteldiebes M., der in lnter-
laken und Genf arbeitete), wurden lange Zeit von einer bekannten
Pariser Firma für chirurgische Instrumente fabriziert. Der Chef
dieses Hauses glaubte, daß die Instrumente als Kugelzieher be¬
stimmt wären. In meiner Sammlung besitze ich eines dieser
Pariser Instrumente, das einem „Internationalen“ abgenommen
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Fig. 1. a) Sechs verschiedene „Ouistitis“. b) Ouistiti und Schlüssel in Aktion, c) Feilen zum „Präparieren“
der Schlösser, d) Schraubenzieher zum selben Zwecke, e) Kneipschere für Reisetaschen usw. f) Verschiedene
Einiges über Hoteldiebe (rats d’hötel).
127
wurde. Manchmal werden die Ouistitis auch zerlegbar hergestellt
und dienen, wie im Artikel des Bulletin gesagt ist, als harmlose
Schuhknöpfer und Stiefel zieh er, die sich in dem eleganten Necessaire
des Diebes befinden. Der weniger harmlose Zangenteil wird in
der Tasche, oder, viel seltener, in der im Rektum verborgenen
Büchse aus Elfenbein, Silber usw. der „Bastringue“ aufgehoben.
Das französische Bulletin veröffentlicht die derartigen Instrumente
des Hoteldiebes Ch., Instrumente, die ich selber gesehen und aus¬
probiert habe.
I
Fig. 2.
a) Schlüssel, vom Ouistiti gepackt, b) Schlüssel, vom Blechröhrchen gefaßt (letzteres
hat einen Stift durchgesteckt, um besser drehen zu können).
Die Blechröhreu werden auch benutzt, aber viel seltener. Der
Dieb muß nämlich wegen der verschiedenen Größe der Schlüssel
eine ganze Auswahl bei sich führen, während ein einziger Ouistiti
aus gutem Stahl meist genügt. Der oben angeführte M. hatte bei
seinen Expeditionen beide Arten von Instrumenten bei sich. Ich
gebe dieser Arbeit die Photographie des ganzen Inhaltes der
Expeditionstasche dieses Diebes bei. Man wird darauf die ganze
Serie von Röhren und Ouistitis sehen. Bemerkt sei noch, daß M.
die Röhren in dem auf der Photographie sichtbaren Etui um den
Leib unter der Pyjamajacke trug. Nach den Aussagen bekannter
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128
III. R. A. Rexss
und in Frankreich und in der Schweiz verhafteter Hoteldiebe, be¬
dienen sich diese lieber des Ouistitis als der Blechröhren. Ich
selbst habe auch bei den Hoteldiebstählen, bei denen ich als Experte
funktionierte, immer am Schlüssel des Zimmers die typischen Kratz¬
marken des Ouistitis gefunden und nur einmal, am Schlüsselbart,
den langen von der Blechröhre herrührenden Kratzer. Ich kann
also ruhig behaupten, daß das Ouistiti auch noch heute ausgiebig
gebraucht wird, wahrscheinlich sogar häufiger als die Bleehröhren.
Was in dem französischen Artikel über Herrichten der Schlösser
gesagt ist, (vorheriges Herausnehmen der Riegelschrauben, Ab¬
zwicken der Schraubenköpfe, Ausfüllen der Löcher mit Waehs oder
Glaserkitt und Wiederaufsetzen der abgezwickten Schraubenköpfe)
entspricht absolut auch der Arbeitsweise der Hoteldiebe. Die diesem
Artikel beigegebene Photographie der M.schen Ausrüstung ist ein
Beweis hierfür, denn man wird auf ihr sowohl die Zange zum Ab¬
zwicken, als auch die kleine Feile und den Schraubenzieher finden.
Das Instrumentarium, das die Hoteldiebe zum Aufmachen der
Koffer der Reisenden mit sich führen, ist außerordentlich einfach.
Meist besteht es nur aus einem sehr gut schneidenden Taschen¬
messer, oder noch häufiger aus einem gut geschliffenen Rasiermesser
und aus einer kleinen Zange, wie sie auf der Abbildung der
M.schen Instrumente zu sehen ist. Mit dem Rasier- oder Taschen¬
messer wird der klassische Kofiferschnitt der Hoteldiebe, wie er auf
beigegebener Photographie zu sehen ist, ausgeführt. Dieser, meist
in einem Zuge gemachte Schnitt wird bei Handkoffern in Taschen¬
form oben beim Bügel, bei den jetzt so beliebten „Portmanteaux“
längs der Charnierlinie angebracht. Bei kleinen Schlössern, wie
Schlösser von Portefeuilles, Schatullen usw. werden diese einfach
mit der Zange aufgezwickt. Erbrechungen von großen starken
Koffern, Schränken usw. führt der Hoteldieb, wegen der damit ver¬
bundenen Gefahr des Geräusches und der verhältnismäßig langen
Arbeit, meist nicht aus. Er hat es aber auch gar nicht nötig, da
die Schmucksachen sich in den allermeisten Fällen in Handtaschen
oder sogar offen in kleinen Schatullen auf dem Toilettentisch usw.
befinden.
Was nun die Anwendung der narkotischen Mittel und ins¬
besondere des Chloroforms betrifft, so bin ich absolut der Ansicht
Abels. Chloroformbetäubung und ähnliches ist iD das Reich der
Fabel einzureihen. Aber der Artikel des Bulletins sagt auch gar-
nichts davon. Die Chloroformbetäubung stammt aus dem Buche des
Privatdedektivs Villiod!
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Mit dein Charnierschnitt und mittelst Rasiermesser aufgeschnittener Portmonteau.
130
III. R. A. Reiss
Aus letzterem stammt auch die Fabel des mit Saud gefüllten
Kautschuksackes, mit dem das erwachende Opfer unschädlich ge¬
macht werden soll. Solche und ähnliche Instrumente werden bei
uns wohl hie und da von ganz gemeinen Einbrechern und Zuhältern
mitgeführt, nie wurde aber ein solches bei einem feinen Hoteldieb
gefunden. Im Gegenteil, nach eigenen Aussagen solcher Diebe
führen diese niemals Waffen bei sich und ergreifen die Flucht,
sobald sie entdeckt sind, Ch. erklärte auch, daß er niemals in ein
Zimmer eindränge, wenn er sich nicht zuvor, durch Hören an der
Türe vergewissert hätte, daß der Insasse schnarchte beim Schlafen.
Um nun nochmals auf die „professionelle Kleidung“ der Hotel¬
diebe zurückzukommen, so sei noch bemerkt, daß bei uns und in
Frankreich ein beständiges Requisit ihrer Toilette das rote Bändchen
oder die rote Rosette der Ehrenlegion ist. Damit flößen sie den
Hoteliers Vertrauen ein. Auch wurden vielfach schon bei ver¬
hafteten Hoteldieben in deren Gepäck kleine Etiketten von erst¬
klassigen Hotels gefunden, Etiketten, wie sie von den Portiers auf
die Koffer und Taschen in Trinkgeldsachen freigebiger Gäste ge¬
klebt werden. Der Dieb, der mit solchem mit „Palace-Etiketten“
über und über beklebten Gepäck in ein Hotel ankommt, erweckt
sofort Vertrauen und kann ruhig anfangen zu arbeiten.
Ich möchte auch noch hinzufügen, daß der Hoteldieb, der in
einem großen Hotel absteigt, nun nicht sofort zu arbeiten anfangen
muß. Sehr oft arbeitet er überhaupt gar nicht in dem Hotel, sondern
sieht sich einmal die Gäste an, um einen „Klienten“ heraus-
zusucheD, der ihm genug Preziosen zu besitzen scheint. Hat er
diesen gefunden, so reist er ihm nach und bei günstiger Gelegenheit
an der Riviera, in Rom, London oder Berlin erleichtert er ihn um
einige tausend Franken. Manchmal führt er auch gar nicht den
Diebstahl selber aus, sondern läßt ihn von einem Komplizen, den
er verständigt hat, ausführen. Solche Diebe sind meist außer¬
ordentlich schwer abzufangen. Wenn man nicht das Glück hat, sie
auf der Tat zu ertappen, und hierfür gibt wieder der französische
Artikel ausgezeichnete Winke, ist ihnen sehr schwer beizukommen.
Man muß da mit der begreiflichen, aber für die Sicherheit des
reisenden Publikums schädlichen Abneigung der Direktoren der
großen Hotels gegen polizeiliche Überwachung der Hotelgäste
rechnen, Abneigung, die Recherchen von Hoteldieben sehr erschwert.
Die Selbstüberwachung durch die Hoteliers mit Hilfe des An¬
schlagens in den Hotelräumen der Bilder bekannter Hoteldiebe, wie
sie z. B. bei uns in der Schweiz (die Reproduktionen der Hotel-
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Einiges über Hoteldiebe (rats d’hötel).
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diebphotographien werden von den Polizeidirektionen geliefert) ge¬
schieht, ist meines Erachtens in den meisten Fällen illusorisch, da
die Diebe wohl so schlau sein werden, sich so herzurichten, daß sie
von dem im Erkennungsdienst keineswegs geübten Personal nicht
erkannt werden.
Den internationalen)Banden von Hoteldieben, die übrigens meist
verhältnismßig wenige Mitglieder besitzen, sehr oft sogar nur aus
zwei oder drei Personen bestehen, werden nur durch die von mir
schon zu wiederholten Malen empfohlene Gründung eines inter¬
nationalen Polizeibureaus, im Stile des Weltpostbureau, wirksam
bekämpft werden können. Dieses Bureau hätte dann, unter anderem,
den jeweiligen Aufenthalt der „Internationalen“ zu verfolgen und,
beim Wechseln der Residenz, die betreffende Polizeibehörde auf die
bevorstehende Ankunft des interessanten Gastes in ihren Mauern
aufmerksam zu machen. Es würde zu weit führen, diese Idee an
dieser Stelle näher auszuführen. Vielleicht bietet sich eine andere
Gelegenheit in diesem Archiv wieder darauf zurückzukommen.
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IV.
Über Werkzeugspuren und ihre Konservierung.
Von
Dr. jur. Erich Anuschat, Charlottenburg.
Bei zahlreichen strafbaren Handlungen, insbesondere Kapitalver¬
brechen, Einbrüchen, Sachbeschädigungen, Holzdiebstählen u. a. m.
werden von den Tätern Werkzeuge benutzt, deren Spuren am Tatorte
Zurückbleiben. Die Schneiden von Stemm- und Brecheisen, Brech¬
stangen, Messern, Beilen und Zangen drücken sich in Holz, weichem
Metall, Mauerwerk oder Fensterkitt mehr oder minder stark ab und
lassen nicht selten deutlich erkennen, ob ein bei einem Verdächtigen
gefundenes Werkzeug bei der Tat benutzt wurde oder nicht.
Bei jedem hierauf abzielenden Vergleiche kommt zunächst
Form und Größe der Schneide in Betracht. Was jedoch die Form
anbelangt, so zeigt diese nur bei wenigen Werkzeugen charakteristische
Merkmale, beispielsweise bei den Messern der Gärtner, Buchbinder,
Schuhmacher und anderer Handwerker, und es kommt selten vor,
daß derartige Besonderheiten in den Spuren sichtbar sind. Die
Größe der Schneide kommt nur dann in Betracht, wenn diese ent¬
weder in der Spur vollständig zum Abdruck gelangt ist, oder wenn
mehrere Spuren vorhanden sind, aus welchen sich ihre Größe be¬
rechnen läßt. Ersteres ist gewöhnlich bei Stemm- und Brecheisen und
ähnlichen schmalschneidigen Werkzeugen der Fall.
Bei Form wie Größe hat regelmäßig nur eine Verschiedenheit
zwischen Spur und Werkzeug wirklichen Beweiswert. Bei Überein¬
stimmung ist immer noch damit zu rechnen, daß ein anderes Werk¬
zeug mit gleicher Schneide die Spuren erzeugt hat, sodaß der Aus¬
schluß dieser Möglichkeit immer erst noch besonders nachgewiesen
werden muß, was häufig schwierig, wenn nicht unmöglich, ist.
Glücklicherweise erübrigt sich dieser Nachweis oft, und die Werk¬
zeugspuren selbst zeigen mit unwiderlegbarer Deutlichkeit an, daß sie
nur von einem bestimmten Werkzeuge herrühren können; dann näm¬
lich wenn sie, in Gestalt von „Schartenspuren“ auf treten. Be-
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Über Werkzeugspuren und ihre Konservierung.
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kanntlich nützen sich die Schneiden aller Werkzeuge im Gebrauche
ab und bekommen mit der Zeit Scharten, deren Größe, Form, Zahl
und Abstand bei jedem Werkzeuge verschieden ist. Gelangen solche
Scharten in der Spur zum Abdrucke, so kann selbstverständlich nur
das Werkzeug die Spur erzeugt haben, dessen Schneide entsprechende
Scharten aufweist. Auf die kriminalistische Bedeutung der Scharten¬
spuren ist im Hdb. von Hans Groß, 5. Aufl. S. 245 und in diesem Archiv
bereits wiederholt hingewiesen worden (Band V, XI und XXIII).
Allerdings sind die Scharten an Spur und Schneide nicht immer
so deutlich sichtbar, daß das Vergleichen von jedermann mit bloßem
Auge vorgenommen werden kann. Auch die Lupe oder die photo¬
graphische Vergrößerung hilft nicht immer, zumal die Scharten auf
der Schneide vertieft, in der Spur als kammartige Erhebungen er¬
scheinen. Vielmehr lassen sich völlig einwandfreie Ergebnisse nur
durch das von Professor Dr. Kockel begründete Verfahren (Band V
und Band XI des Archivs) erzielen; dieses kann zwar nur von dem
Sachverständigen im Laboratorium ausgeübt werden, dafür gestattet
es aber auch, die Identifizierung „mit völliger Sicherheit, ja mit mathe¬
matischer Exaktheit“ (Kockel) durchzuführen.
Dem Kriminalisten fällt somit die Aufgabe zu, die Spuren und
Werkzeuge dem Sachverständigen zu übermitteln. Bei den ersteren
jedoch entsteht eine Schwierigkeit, die zum großen Teile Schuld daran
trägt, daß so selten Werkzeugspuren kriminalistische Verwertung
finden, nämlich die der Konservierung.
Bei Kapitalverbrechen ist sie freilich einfach. Transportable
Gegenstände, welche Werkzeugspuren auf weisen, werden beschlag¬
nahmt und dem Sachverständigen übergeben, aus Dielen, Türen,
Fensterrahmen usw. werden die betreffenden Stellen herausgestemmt,
oder die in Frage kommenden Lokalitäten werden solange abgesperrt,
bis der Sachverständige am Tatort erschienen ist. Und schlimmsten¬
falls kann die Photographie in weitestem Umfange alle wichtigen
Spuren erhalten.
Anders ist es bei geringfügigen Sachbeschädigungen, Holzdieb¬
stählen und vor allem bei den zahllosen kleineren Einbrüchen, die in
Großstädten eine tägliche Erscheinung bilden. Wollte man hier jedes¬
mal sämtliche Spuren aufweisenden Gegenstände beschlagnahmen,
so würde man sie bald nicht mehr unterbringen können und überdies
den Bestohlenen häufig empfindlich schädigen. Auch das Absägen
oder Ausstemmen der betreffenden Teile würde manchmal mehr Zer¬
störung anrichten, als der Einbruch selbst. Gewöhnlich hat der Be¬
stohlene schon dringendes Interesse daran, daß die erbrochenen Haus-
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IV. Eeioh Anuschat
und Korridortüren, Ladenkassen, Schränke und ähnliche Gegenstände
schleunigst repariert werden. Die Photographie ist kostspielig und
umständlich, zumal sich die Werkzeugspuren oft an schwer zugäng¬
lichen Stellen befinden. Messungen und Zeichnungen gestatten nur
ein annäherndes Vergleichen und können allein nie den unumstö߬
lichen Nachweis der Identität von Spur und Werkzeug erbringen.
Es bleibt daher nur eins, das plastische Abformen der
Spuren. Ehe ich jedoch auf dieses eingehe, sei die Frage erörtert,
ob ein Konservieren der Werkzeugspuren bei geringfügigen Delikten
überhaupt lohnt? Ich möchte diese Frage unter allen Umständen
bejahen. Man nehme nur die schon erwähnten zahllosen mittleren
und kleinen Einbruchsdiebstähle. Bei ihnen ist es unmöglich,
jedesmal mit einem großen Apparate zu arbeiten, umfangreiche Be¬
obachtungen, Razzias und Durchsuchungen zu veranlassen, wenn nicht
bestimmte Anhaltspunkte vorliegen. Und so erfolgt die Ermittelung
der Täter meist dadurch, daß gestohlenes Gut angehalten wird, oder
durch Mitteilungen von Vigilanten. Damit ist jedoch für die Über¬
führung nicht viel gewonnen. Das gestohlene Gut ist stets von dem
- „großen Unbekannten“ gekauft, und oft genug kann diese Behauptung
nicht in ausreichender Weise widerlegt werden. Der Vigilant kann
nicht als Zeuge verwendet werden. Bei der Tat, bzw. am Tatorte,
sind die Verdächtigen gewöhnlich überhaupt nicht bemerkt worden,
und wenn, dann flüchtig im Dunkeln, sodaß eine zuverlässige
Rekognoszierung durch die Zeugen ausgeschlossen ist. Fußspuren
und Fingerabdrücke werden selten gefunden und noch seltener lassen
sie sich verwerten. Denn eine sofortige strenge Absperrung des Tat¬
ortes ist hier, wie schon erwähnt, nicht durchführbar; im Gegenteil
werden gewöhnlich schon vor Eintreffen des ersten Beamten alle in
Frage kommenden Räume und Gegenstände von dem Bestohlenen,
dessen Angehörigen, Angestellten, Nachbarn und Bekannten so ein¬
gehend besichtigt, daß bei dieser Gelegenheit Fußspuren und Finger¬
abdrücke in Menge entstehen.
Es bleiben somit einzig die Werkzeugspuren, und sie können
allerdings eine völlige Überführung des Täters ermöglichen. Wird
bei dem Verdächtigen ein Werkzeug gefunden, das er nachweislich
schon zur Zeit der Tat besaß, und wird mittelst des Kockelschen
Verfahrens festgestellt, daß dieses Werkzeug die Spuren am Tatorte
erzeugt hat, so ist hiermit ein ausschlaggebendes Beweismittel geschaffen,
das oft schon allein, fast immer aber beim Hinzutreten weiterer Ver¬
dachtsmomente (Besitz gestohlenen Gutes usw.) dem Richter zur
Verurteilung genügt.
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Über Werkzeugspuren und ihre Konservierung.
135
Was nun das Abformen der Werkzeugspuren anbelangt, so ist
Gips in seiner Handhabung umständlich, für feinere Spuren auch zu
grobkörnig. Mit Modellierwachs (Plastilina) erzielte ich ebenfalls
keine brauchbaren Abdrücke.
Herr Professor Dr. Kockel in Leipzig riet mir auf meine dies¬
bezügliche Anfrage, weißes Wachs (Cera alba I a ) zu benutzen, und
gab mir in liebenswürdigster Weise genaue Anleitung für dessen
Handhabung. Danach wird das Wachs b auf annähernd Körper¬
temperatur gebracht und in Stücken von entsprechender Größe auf
die abzuformenden Stellen festgepreßt. Um ein leichtes Ablösen
des Wachses nach seinem Erhärten zu ermöglichen, sind die Spuren
vorher mit etwas Talkum einzupudern. Nach dem Abnehmen sind
die Abdrücke sofort zu nummerieren, von dem Tatorte und insbe¬
sondere den Werkzeugspuren aufweisenden Gegenständen Skizzen an¬
zufertigen und in diese die Nummern der Abdrücke sofort einzutragen.
Schließlich riet mir Professor Dr. Kockel, von den Wachsabdrücken
jedesmal im Laboratorium Gipsabgüsse anfertigen zu lassen.
Zu derselben Zeit machte mich Herr Dr. Lester F. Lerchner zu
Charlottenburg auf ein anderes Abformungsmaterial aufmerksam,
nämlich auf die Präparate, welche von Zahnärzten und -Technikern
zum Abformen von Gebissen verwendet werden. Diese werden eigens
für zahntechnische Zwecke fabrikmäßig hergestellt, und sind gebrauchs¬
fertig durch alle einschlägigen Handlungen zu beziehen, im Notfälle
auch von jedem Zahnarzt oder Dentisten zu erhalten.
Die Hauptbestandteile dieser Abdrucksmassen sollen Wachs,
Kautschuk und bestimmte Pech- oder Harzarten sein; eine der
am häufigsten benutzten Massen ist unter der Bezeichnung „Stents“
(angeblich Name des Erfinders) im Handel. Ich benutzte auf den
Rat Dr. Lerchners hin die sogenannte „Modelling Composition“ der
S. S. White Dental Manufacturing Co. (Berlin, Mauerstraße 83/84).
Diese wird in dünnen quadratischen Platten von 8 mal 8 cm Größe
in den Handel gebracht. Knetbar wird sie in warmem Wasser 'von
etwa 35 0 C. Dieses zu beschaffen macht nie Schwierigkeiten, da
sich die abzuformenden Spuren regelmäßig in bewohnten Räumen
oder in der unmittelbaren Nähe von solchen befinden. Von der er¬
weichten Masse werden entsprechend große Stücke abgetrennt, auf
die nötige Stärke gebracht (gewöhnlich genügen schon dünne Plättchen)
und mittelst eines glatten harten Gegenstandes möglichst gleichmäßig
1) Vergl. auch die zahlreichen Rezepte für Modellierwachs zum Abformen
kriminalistisch wertvoller Spuren im Hdb. f. U.-R. von Hans Groß, 5. Aufl. p. 571.
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136
IV. Ebich Anuschat
gegen die abzuformenden Stellen gepreßt. Unter gewöhnlichen Um¬
ständen sind die Abdrücke nach 10 Minuten hart und können abge¬
nommen werden. Immerhin ist zu raten, sie lieber etwas längere als
kürzere Zeit trocknen zu lassen. Um ein leichtes Ablösen zu ermög¬
lichen, sind die Spuren vorher einzuölen oder einzufetten.
Die so gewonnenen Abdrücke zeigen die feinsten Einzelheiten
der Spur mindestens so deutlich, wie Wachs. Vor diesem haben sie
aber den — für den praktischen Gebrauch sehr wichtigen — Vorzug,
daß sie steinhart bleiben, so lange sie nicht in warmes Wasser kommen.
Wachsabdrücke müssen sehr vorsichtig behandelt werden, vertragen
weder Wärme noch Druck, selbst öfteres Anfassen ist gefährlich.
Die Abdrücke der Modelling Composition und ähnlicher Massen sind
nicht annähernd so empfindlich; und wenn sie selbstverständlich auch
bei Transport und Verwahrung geschützt werden müssen, so braucht
dies doch nicht mit so peinlicher Sorgfalt zu geschehen. Zudem kann
der Geübte die Abdrücke in so kleinen und dünnen Plättchen h er¬
stellen, daß sie sich bequem in Brieftaschen tragen und in Akten
aufbewahren lassen. Die genannten Vorzüge der Modelling Compo¬
sition zeigen sich namentlich dann, wenn viele Spuren am Tatorte
gefunden werden und schnelles Arbeiten erforderlich ist. Die Ab¬
drücke lassen sich auch bequem in Gips abformen und sind schlie߬
lich unbegrenzt haltbar, sodaß ein Vergleichen mit beschlagnahmten
Werkzeugen noch nach Monaten und Jahren möglich ist.
Noch ein Wort über die Spuren selbst. Wenn irgend möglich,
sollen selbstverständlich sämtliche am Tatorte vorhandenen Werkzeug¬
spuren abgeformt werden, und sind in erster Linie diejenigen zu
berücksichtigen, welche Scharten zeigen. Indessen sind dies sehr
häufig gerade die für das Auge undeutlichsten Spuren. Wird bei¬
spielsweise die Schneide eines Stemmeisens so kräftig in Holz ge¬
drückt, daß ein Stück aussplittert, so gelangen auf der rauhen Fläche
feinere Scharten nicht zum Abdrucke, namentlich, wenn kleine halb¬
losgelöste Späne in den Spuren hängen. Wird die Schneide dagegen
nur so stark gegen das Holz gedrückt, daß dieses zusammengepreßt
wird, ohne zu splittern, so entstehen zwar ganz flache Spuren, in
diesen sind aber, wenn das Holz glatt gehobelt oder poliert ist, selbst
die feinsten Scharten zu erkennen. Derartige Spuren können daher
dem Sachverständigen das brauchbarste Material liefern, obwohl sie
für den Laien fast unsichtbar sind. Aus dem letzteren Grunde werden
sie auch häufig übersehen, namentlich, wenn sie sich an der Innen¬
seite von engen erbrochenen Behältern oder an sonst schwer zugäng¬
lichen Stellen befinden. Sorgfältiges Suchen ist daher stets notwendig
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Über Werkzeugßpuren und ihre Konservierung.
137
wenn möglich unter Benutzung einer elektrischen Laterne. Für das
Absuchen enger Behälter leisten oft die sog. „Bachenlampen“, auf
welche ich bereits an anderer Stelle ') hingewiesen habe, unersetzliche
Dienste.
Was schließlich die Werkzeuge anbelangt, so handelt es sich für
den Kriminalisten regelmäßig nur darum, sie zu beschlagnahmen und
sachgemäß verpackt dem Sachverständigen zu übermitteln. Indessen
können, wie bereits erwähnt, die Unterschiede oder die Überein¬
stimmungen schon mit bloßem Auge erkennbar sein. In solchen
Fällen wird meist von der Zuziehung eines Sachverständigen Abstand
genommen. Indessen scheint mir dies nur dann zulässig zu sein,
wenn es sich um unterscheidende Merkmale handelt; dagegen sollte
meines Erachtens die Frage der Übereinstimmung stets ein Sachver¬
ständiger mit Hilfe des Kockelschen Verfahrens feststellen. Und wo
dies wirklich überflüssig erscheint, sollten wenigstens Werkzeug und
Abdruck der Werkzeugspur dem erkennenden Gericht zur eigenen
Prüfung vorgelegt werden. Die häufig geübte Praxis, einen Beamten
das Vergleichen vornehmen zu lassen und dessen Aussage, das Werk¬
zeug hätte „genau in die Spur gepaßt“ als Beweismittel zu verwerten,
wird regelmäßig von dem Verteidiger einer scharfen Kritik unterzogen
und genügt auch dem Bichter nicht immer 2 ). Ich entsinne mich,
daß einmal ein Angeklagter behauptete, er habe bei seinem ersten
Verhör, indem ihm die Übereinstimmung seines Stemmeisens mit den
am Tatorte gefundenen Spuren vorgehalten worden sei, die Zuziehung
eines Sachverständigen verlangt und habe die Antwort erhalten „Wir
sollen Ihnen wohl den Sherlock Holmes aus dem Tingeltangel nebenan
holen" 3 ). Leider konnte nicht festgestellt werden, ob diese Äußerung
tatsächlich gefallen war, immerhin gab sie zu lebhaften Erörterungen
Anlaß. Glücklicherweise lag noch weiteres Überführungsmaterial vor,
sodaß schließlich doch Verurteilung erfolgte.
Der erwähnte Vorfall beweist übrigens, daß auch den Verbrechern
die Bedeutung der Werkzeugspuren nicht unbekannt ist. Vielleicht
ist auf diese Kenntnis auch die Tatsache zurückzuführen, daß man
1) Die Beleuchtung bei Lokalbesichtigungen und Durchsuchungen, Bd. 31
des Archivs 1908.
2) Auf die Notwendigkeit, derartige Beweismittel stets dem erkennenden
Gericht zur unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung zu unterbreiten, und auf das
Bedenkliche aller „Vermittelungen“ habe ich in meiner Dissertation „Die Augen¬
scheinseinnahme im Deutschen .Reichsstrafprozesse“ (Leipzig 1909) im vierten
Abschnitte ausführlich hingewiesen.
3) Der Detektiv Sherlock Holmes war gerade damals die Hauptfigur in
allen möglichen Sensationsstücken.
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138
IY. Erich Anuschat
bei gewerbsmäßigen Einbrechern manchmal schmutzige abgenutzte
Werkzeuge mit auffallend sauber geschliffenen Schneiden findet.
Und in der Tat, ist der Verbrecher so klug, nach der Tat die Scharten
aus der Schneide herauszubringen und womöglich noch Form und
Größe der letzteren durch Schleifen zu verändern, so ist, wenn es
unbemerkt bleibt, der Sachverständige machtlos, und die „offensicht¬
liche Verschiedenheit zwischen Spur und Werkzeug“ kann dem Ver.
brecher noch den besten Entlastungsbeweis liefern. Der Kriminalist
hat sich daher überall, wo Werkzeugspuren verwertet werden sollen,
diese Möglichkeit vor Augen zu halten, um derartige Täuschungen durch
rechtzeitige Erhebungen möglichst zu verhindern.
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V.
Der österreichische Strafgesetzentwurf.
Von
Alfred Amschi, kk. Hofrat und Oberstaatsanwalt in Graz.
Ein Gesetzentwurf wird in die Öffentlichkeit geworfen, um kritisch
beleuchtet, ergänzt, verbessert zu werden. Ein Vorentwurf schon gar,
denn er soll erst die Grundlage bilden zum Gesetzentwurf. Nun lassen
sich zwei Methoden der Kritik eines Entwurfes denken: man bekämpft
entweder das System und greift ihn an der Wurzel an, oder
man wählt die Form exegetischer Kommentare und bespricht die
einzelnen Paragraphen. Der Kampf gegen das System neigt bald zum
Ende: Denn entweder beschränkt man sich auf die Negation oder
stellt ihm ein anderes System gegenüber, das sich aber in Details
nicht erschöpfen kann ohne zum Gegenentwurf zu werden. Zieht
die Kritik jede Einzelbestimmung in den Kreis ihrer Betrachtungen,
so gewinnt sie eine Ausdehung, die sich weder mit der Geduld des
Lesers noch mit dem in einer Zeitschrift zur Verfügung stehenden
Raum verträgt. Formulierung von Gegenvorschlägen ist schon Ge¬
setztextierung, diese jedoch eine Kunst, die gelernt sein will. Heutzu-
tag allerdings, heute, wo nicht, wie einst, nur Einer Gesetze gibt,
sondern wo hundertköpfige Komitien das Werk der Gesetzgebung
üben, wähnt sich auch Rosenkranz und Güldenstern zu dieser Kunst
berufen.
Merkwürdig! Alles will gelernt sein auf der Welt; für das ein¬
fachste Gewerbe wird ein Befähigungsnachweis verlangt, nur der Ge¬
setzgeber und der Schöffe, sie springen gepanzert und gerüstet aus
dem Haupte des Zeus. Ein im Richteramt erfahrener und alt gewordener
Mann bekennt gerne, daß das Ende seiner Laufbahn noch immer der
Anfang seiner Lehrzeit ist; ein Schöffe jedoch läßt sich neben ihm
auf den Richterstuhl nieder, gleichgezählt und gleichgewogen. Was
der eine im Lauf eines Lebens mühsam erlernt, was sein Dasein aus¬
gefüllt, dem andern gibts der Herr im Schlaf. Der Verstand kommt
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140
V. Alfred Amschl
mit dem Amte, ja die schwierigsten Fragen löst er vom Fleck weg
aus dem Stegreif. Wozu dann überhaupt noch gelehrte Richter?
Doch halt! wir begeben uns unwillkürlich auf den Boden der
Kritik und schweifen von der Einleitung ab, die uns erst zur Be¬
sprechung des österreichischen Strafgesetzentwurfs führen soll. Wir
begrüßen ihn mit aufrichtiger Freude und bekennen uns gern als seinen
Anhänger, mögen wir auch in Einzelheiten verschiedener Anschauung
sein. Er bedarf noch der Schlußredaktion, namentlich im zweiten
Teil. Waltet sie mit geschickter Hand und formt sie das Ganze zu
einheitlichem Guß, der jedes Werk zum Werk erst gestaltet, dann hat
er auch den Vergleich mit seinem Vorfahr nicht zu scheuen, denn
sagen wir es nur offen: Das geltende Strafgesetz, heute verachtet
und geschmäht, es war ein Meisterstück seiner Zeit an Ursprünglich-
licbkeit, Gliederung, Klarheit und Sprache.
Nur Eins füllt uus mit banger Sorge: haben die Verfasser den
Geist des alten Feldherrn beschworen, der einst gerufen: Geld, Geld
und wieder Geld? Wir sind als Praktiker viel zu erfahren, um ver¬
früht die Hände auszustrecken mit dem Rufe: Seid umschlungen,
Millionen!
Sollte der Entwurf Gesetzeskraft erlangen, so müßten folgende An¬
stalten zur Verfügung stehen;
1. Strafanstalten für Gemeinschaftshaft,
2. Zellengefängnisse,
3. Strafanstalten zum Vollzüge der Kerker- und jener Gefängnis¬
strafen, die nicht in den Gerichtsgefängnissen verbüßt werden können,
4. Gerichtsgefängnisse zur Verbüßung der Haft- und Gefäng¬
nisstrafe,
5. Untersuchungsgefängnisse mit Einzelzellen,
6. Landwirtschaftliche Zwischenanstalten zur Durchführung eines
progressiven Strafvollzuges,
7. Anstalten zur Sicherung verbrecherischer Irrer, irrer Ver¬
brecher, geistig Minderwertiger, Rückfälliger und Trunksüchtiger,
8. Zwangsarbeitsanstalten,
9. Besserungsanstalten.
Zum Auf wände, den der Bau, die Errichtung, Einrichtung und
Verwaltung dieser Anstalten erheischt, gesellt sich noch die Last, die
dem Staate durch die Abspaltung der Strafgerichte in Schwur-,
große und kleine Schöffengerichte erwächst. Endlich die Lösung der
Personenfrage, in die näher einzugehen wir uns aus verschiedenen
Gründen versagen müssen.
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Der österreichische Strafgesetzentwurf.
141
Gelingt es, diese zumeist fiskalischen Bedenken zu zerstreuen,
dann leisten wir dem Strafgesetzentwurf gerne Gefolgschaft. Allein
unsere Erfahrung macht uns zum Skeptiker. Das i’O tsqov tcqotbqov, das
die Handhabung unserer Gesetze schon so oft erschwert und gehemmt
hat, auch hier droht uns seine Gefahr. So ward uns eine Straf¬
prozeßordnung vor einem Strafgesetz, eine Grundbuchsanlegung vor
Fertigstellung des Katasters, ein Einzelhaftgesetz vor der Existenz von
Zellengefängnissen, so krankt heute noch das Verfahren in tTber-
tretungsfällen am Mangel geeigneter staatsanwaltlicher Organe, die
zwar auf dem Papiere stehen, sich in Wirklichkeit aber ganz anders
ausnehmen, als das Gesetz sie gedacht und gewollt. An dieser
Stelle läßt sich eine Bemerkung nicht unterdrücken, die wegen ihrer
delikaten Natur nur vorsichtig geäußert werden darf. Eignen sich
eher Theoretiker zu Gesetzesverfassern oder Praktiker? Die Antwort
fällt nicht schwer! Wer die Fähigkeit besitzt, sei nach Rhodus ein¬
geladen! — Systematik und Begriffsbestimmung wird dem Theoretiker
eher gelingen. Gewiß soll auch der Praktiker gehört werden, weil
er besser weiß, was not tut. Namentlich in prozessualen und ad¬
ministrativen Angelegenheiten wird sich derjenige beengt fühlen, der
niemals die Prozeß- und VerwaltungsVorschriften praktisch gehand-
habt. Der Vorentwurf des Strafgesetzbuches liefert den Befähigungs¬
nachweis für den Autor, darum lassen wir uns auch den von Liszt
(Neue freie Presse vom 24. Oktober 1909) bemängelten professoral¬
doktrinären Geist gerne gefallen, wie jeden Geist, der ein Menscben-
werk durchdringt. Nicht ohne Empfindlichkeit reagiert Gleispach,
der Redakteur des Entwurfes (Allg. österr. Gerichtszeitung Nr. 2 vom
Jahre 1910), auf diese Bemerkung Liszts. Gegen eigene Fehler ist
man in der Regel blind und so vergißt Gleispach, daß auch seine
Anspielung auf die Enge des Gesichtskreises derjenigen, die Neuerungen
abhold oder sie angeblich übertreiben, Empfindlichkeiten reizen kann
und daß diese Gereiztheit zu lästigem und kleinlichen Geplänkel führt,
das anstatt treibend nur retardierend auf Reformen wirkt.
Liszt rügt einen Schönheitsfehler. Es sei nicht recht zu ver¬
stehen, wieso sich die Bestimmung des § 35, daß auf Antrag eines
Freigesprochenen das freisprechende Urteil veröffentlicht werden kann,
in den von Strafen handelnden Abschnitt verirrte.
Diese läßliche Sünde wird man dem Redakteur gerne verzeihen,
wenngleich die Lektüre der betreffenden Stelle des Entwurfs anfänglich
befremden muß. Allein gerade das redaktionelle Geschäft scheint
uns höchst verdienstlich und gewissenhaft besorgt, denn Ausdrucks¬
weise und Fassung halten auch den strengsten Anforderungen stand.
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142
V. Alfred Amschl
Wir stolperten über den § 1, sehr besorgt, was die folgenden Para¬
graphen nach dieser Mißgestalt wohl bringen würden? fanden uns
aber angenehm enttäuscht.
Der § 1 dürfte das Werk eines Kompromisses sein. Der Grund¬
satz nulla poena sine lege findet im § 79 Ausdruck. Eine Definition
des Begriffes der strafbaren Handlung scheint mit Absicht, vielleicht
aus sachlichen Gründen, vermieden worden zu sein. Ho ege 1, Purist
strengster Observanz, bevorzugt das Wort „Straftat“, gegen das mit Recht
Bedenken erhoben werden können, weil es eigentlich strafende und
nicht zu bestrafende Tat bedeutet. Der § 1 seiner „Gesamtreform“
trägt die Überschrift „Straftaten.“ Als solche sind Handlungen und
Unterlassungen anzusehen, die ein Gesetz mit Strafe bedroht und den
Gerichten zur Aburteilung zuweist. In der „Begründung“ meint
Hoegel auf Seite 197, die Bezeichnung „Straftat“ stehe bereits in
der Literatur und in der österreichischen Reehtssprache in Verwen¬
dung. Der vielfach übliche Ausdruck „Delikt“ sei schon mit Rück¬
sicht auf den Doppelsinn des Wortes „dölit“ in der französischen
Rechtssprache zu vermeiden.
Der Vorentwurf sagt: „Durch die Gerichte zu bestrafen ist nur,
wer eine Handlung, (d. h. nach § 90 auch Unterlassung) begeht,
die durch ein Gesetz mit Strafe bedroht ist.“ Wollte man damit
zum Ausdruck bringen, daß nur der Täter und nicht die Tat bestraft
wird ? Form und Inhalt sind gleich unrichtig, denn wer eine Hand¬
lung begeht, die durch ein Gesetz mit Strafe bedroht ist, kann auch
von der Militär- und Verwaltungsbehörde bestraft werden.
Es fragt sich, ob gesetzliche Festlegung von Selbstverständlich¬
keiten überhaupt notwendig ist.
§ 2 bringt uns die bekannte Dreiteilung der „Straftaten“ und
behält den landläufigen, in alle Sprachen unseres Reiches aufnahms¬
fähigen Ausdruck Kerker anstatt des Ho ege Ischen Zuchthauses
bei. Er bewahrt uns vor dieser häßlichen und schimpflichen Be¬
zeichnung, bei deren Wahl sicherlich nicht nur recbtspolitische, son¬
dern auch sprachreinigende Rücksichten maßgebend gewesen sein
dürften.
Diese sprachlichen Bemerkungen sowie die Erinnerung an den
von Liszt gerügten Schönheitsfehler ermutigt uns zu einem Aus¬
flug in das Gebiet der Stilistik und Gesetzessprache.
Schönheit ist nach Fr. Theodor Vis eher die Identität von In¬
halt und Form. Ein Gesetzbuch will nun allerdings nicht als Kunst¬
werk im Sinne der Aesthetik und auch nicht nach ihren Regeln be¬
urteilt sein, aber es ist ein Werk der Kunst, sofern sie von
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Der österreichische Strafgesetzentwurf.
143
„Können“ stammt. Ein Gesetzbuch soll klar, unzweideutig und ein¬
fach zum Staatsbürger sprechen, vornehmlich aber ein Strafgesetzbuch
auf dessen eherner Tafel der Satz uns unerbittlich entgegenstarrt:
„Unkenntnis des Gesetzes schützet nicht!“ Kein Satz, der mensch¬
liches Können und Wollen auf härtere Probe stellt, kein Satz, der
von Menschen so hart Übermenschliches verlangt, so hart und eisern
wie die Notwendigkeit, der er sein Dasein verdankt! Dieser Satz
allein macht einem Strafgesetzbuch Klarheit, Verständlichkeit und Un¬
zweideutigkeit zu strenger Pflicht.
Ein Strafgesetzbuch soll gerade wegen seiner ungeheuren Ver¬
breitung, wegen seiner absoluten Herrschaft auch ein Meisterwerk der
Sprache sein, die es geschaffen, und darum fordern wir vom Gesetz¬
geber mit Eecht ein Werk, dessen innerer Gehalt so weise, so ge¬
recht als dessen äußeres Gewand eines Herrschers würdig ist. Darum
nehmen wir auch für das Strafgesetzbuch das Wort des großen
Ästhetikers auf: Identität von Inhalt und Form.
Dem Monumentalbau eines Strafgesetzes darf auch an der
äußeren Form nichts unbedeutend sein. Mag daher, was in sprach¬
licher Beziehung vorgebracht wird, nicht als kleinliche Silben¬
stecherei gedeutet werden.
Der Vorentwurf vermeidet mit Eecht Fremdwörter, ohne in
Hoegels extreme Verdeutschungstendenz zu verfallen. Der Bann¬
strahl, der überflüssige Fremdwörter trifft, mag wie alles Licht freudig
begrüßt werden. Allein das Bessere war zu allen Zeiten der Feind
des Guten. Man hüte sich, Worte, die das Bürgerrecht erworben und
die zu Zweifeln keinen Anlaß bieten, hinauszuwerfen und durch an¬
dere zu ersetzen, in deren Gefolge Zweifel, Mißverständnis und
Mißklang einherschreiten; durch andre, zu deren Verständigung eine
Eückiibersetzung unentbehrlich wird.
So mag mag man sich denn „Begründung“ (so Hoegel und
der deutsche St.-G.-Entwurf) statt „Motivenbericht“ gefallen lassen,
obgleich das Halbfremdwort viel schärfer und treffsicherer bezeichnet
was sich mit „Begründung“ allein nicht deckt. Unser Amtsstil lei¬
det an einer entsetzlichen Hyperytrophie der Endsilbe „ung“. Die
Häßlichkeit der Häufung dieser Hauptwörter auf „ung“ wird nur
durch den verschwenderischen Gebrauch des Fürwortes „derselbe, die¬
selbe, dasselbe“ übertroffen. So lasen wir in einer „Begründung“:
„Zur Wahrung der Einschränkung dieser Bestimmung ist die
Anwendung davon abhängig gemacht, daß . . oder „die versuchte
Anstiftung wird straflos, wenn der Anstifter vor der behördlichen
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144
V. Alfbed Amschl
Entdeckung seiner Einwirkung die Begehung gehindert hat“, —
wahre Symphonien des Mißklanges!
So mag man sich „Zuchtmittel“ im § 72 ö. E. (abstoßend wie
„Zuchthaus“) gefallen lassen; warum aber im § 55 das abgeschmackte,
für den größten Teil unserer Bevölkerung unaussprechliche Fremd¬
wort „Rehabilitation“ gewählt werden mußte, während der deutsche
St.-G.-Entwurf— § 50 — sich mit dem natürlich-einfachen Ausdruck
„Wiedereinsetzung“ begnügt, ist nicht klar.
Ein alter Aufsatz des Meisters H an slick kommt uns ins Gedächtnis,
ein Brief an die Herausgeber der „Neuen freien Presse“ vom August
1891, ein Brief, der anknüpft an ein Feuilleton von *** im ge¬
nannten Blatte vom 15. August 1891.
Die neuen Wörter, die im letzten Jahrfünft das deutsche Bürger¬
recht erworben, übersteigen — so meint *** — wohl kaum das halbe
Dutzend. Im Augenblick fallen ihm nur drei ein: Fehlbetrag —
Spielplan — Schriftleiter. Man hat ausgerechnet, daß in der deutschen
Sprache 70 000 ausländische Gesellen umherstrolchen, was ein
Siebentel des Ganzen ausmacht, sofern man dieses auf 500000 Worte
schätzt. *.»* hat in den letzten sechs Jahren bloß jene drei deutschen
Neuwörter entdeckt, die, vom Sprachverein an die Stelle, von Wälsch-
lingen gesetzt, sich eingebürgert. Was bedeutet dies gegen die
Schmarotzerhorde von 70 000?
'V* fährt fort: Eine Sprache ohne fremde Bestandteile gibt es
überhaupt nicht, denn eine Sprache ist kein Kochnapf, darin unter
luftdichtem Deckelverschluß der urheimische Sprachstoff siedet und
brodelt, sondern ein offenes Gebiet mit unruhig wallender Grenze,
wo es beständig herüber- und hinüberflutet . . . Alle Achtung vor
der Tätigkeit des deutschen Sprachvereins, der mutvoller vor¬
geht als anfangs zu befürchten war, und in seinem Aufruf sogar
gegen „die alte, verblendete Deutschtümelei“ einen Hieb führt!
Doch wir fürchten, er wird in hundert Jahren noch bestehen, während
man ihm doch einen möglichst kurzen Lebenslauf, d. h. eine mög¬
lichst rasche Vollendung der Reinigungsarbeit wünschen möchte.
Namentlich müßte der Staat viel kräftiger mithelfen und über seine
eigene Sprache, dieses schauderhafte Rotwälsch’ der Diplomatie, der
Verwaltung, der Gerichte, des Heeres, einen rücksichtslosen Kehraus
ergehen lassen . . . Allein auch der Staat muß langsam und
vorsichtig zugreifen, er kann nicht mit dem Stachelbesen dreinfahren.
Man denke doch, das gesamte deutsche Titelwesen schwelgt noch in
Fremdwörtern; es gibt kaum zehn kerndeutsche Titel, die beim
Publikum Anklang finden und es entstände vielleicht eine gesell-
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Der Österreichische Strafgesetzentwurf.
145
schaftliche Revolution, wenn man alle die Kommerzienräte, Direk¬
toren, Professoren, Staatssekretäre über Nacht in lauter Handelsräte,
Leiter, Lehrer, Staatsgeheimler verwandeln würde.“
Dazu bemerkt Hanslick:
„In jedem Zweige des Wissens und der Technik haben sich
Fremdwörter eingebürgert, die, zu technischen Ausdrücken geworden,
durch rein deutsche nicht ersetzt werden können und nicht ersetzt zu
werden brauchen ... Es hat wirklich etwas Naives, wenn man eine
Sprache von dem reichen und sicheren Besitzstände der deutschen
durch solche Kindereien glaubt befestigen und schützen zu müssen.
Wer jedes Fremdwort verbieten will, der macht die Sprache arm.
Ich kenne keinen einzigen Schriftsteller, der sich nicht ohne weiteres
solcher Fremdwörter bediente, welche entweder längst eingebürgert
oder durch rein deutsche nicht genau wiederzugeben sind. Die
richtige Grenze dafür kann nur das Wissen und der Geschmack des
einzelnen Autors bestimmen; komandieren lassen sich Verdeutschungen
weder durch Sprachvereine noch durch „Schriftleitungen“, noch selbst
für die nichtamtliche Literatur durch Regierungen. Anerkannte deutsche
Schriftsteller, darunter Autoritäten ersten Ranges, haben längst gegen
die Karikatur der modernen Sprachreinigungssucht ihre Stimme er¬
hoben. Leider scheint man sie nicht hören zu wollen und glaubt
sich einer patriotischen Rettungstat zu rühmen, wenn man statt Billett
„Fahrschein“, statt Telegramm „Drahtnachricht“, statt Programm
„Vortragsordnung“ sagt. . . “
Noch gestatten wir uns ein Zitat aus dem Hanslick’sehen Briefe,
das wir für die Formulierung von Gesetzen recht deutlich hervor¬
heben möchten. „Jeder gute Schriftsteller wird solche Fremdwörter
aufnehmen, deren Bedeutung sich mit keinem ursprünglich deutschen
Worte deckt. Aber neben diesem innern Motiv für die Wahl eines
Fremdwortes als des genauesten, feinsten Ausdruckes unseres Ge¬
dankens gibt es noch ein zweites, von dem viel seltener die Rede
ist und das ich darum nachdrücklicher hervorheben möchte: ich
meine den Wohlklang. Ein Fremdwort ist häufig das beste, manch¬
mal das einzige Mittel, Mißklänge und Härten zu vermeiden, welche
aus dem Zusammenstoß gewißer deutscher Wörter, insbesondere viel-
silbiger entstehen ... Wer gut schreiben will, muß auch gut
hören. Das scheint aber jenen Fanatikern versagt, die aus Haß
gegen ein wohlklingendes Fremdwort lieber eine unverfälschte deutsche
Katzenmusik schreiben . . .“
Ein wesentliches Erfordernis für den Wohlklang ist die Vermeidung
des Hiatus. Selbstverständlich scheitert die konsequente Durchfüh-
Archiv für Kriminalanthropologie. 37. Bd. 10
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
146
V. Alfred Amschi.
rang dieses Gebotes an der Sprache selbst, namentlich dort, wo dem
auf einen Selbstlaut endigenden Geschlechtsworte das mit einem Vokal
beginnende Hauptwort folgt. Allein im Dativ sollte das „e“ überall
wegbleiben, wo es einem vokalischen Anlaut vorausgeht. Ein ele¬
ganter Schriftsteller wird den Hiatus möglichst vermeiden, ein eleganter
Redner aber zum mindesten sich davor hüten. „Die Identität der
Tat“, dieser phonetisch abscheuliche Satz, mag schon manches Plaidoyer
durch Stottern und Stolpern unliebsam unterbrochen haben. Ein ele¬
ganter Schriftsteller, namentlich in gebundener Sprache, wird auch
die Häufung von Zahnlauten möglichst vermeiden. „Es zuckt deine
weiße Hand“ wagt Heine, um onomatopoetische Klangwirkung, Klang¬
malerei zu erzielen; häuft sich dieses t—d oder d—t, so wird die
Sprache hart und rauh; dem Redner verursacht sie Schwierigkeiten,
die auf den Gedankenfluß hemmend wirken, dem Schriftsteller aber
droht der Vorwurf mangelnder Sprachbeherrschung.
Die Sprache wie alles Erdending entwickelt sich fortwährend
weiter, sie ruht niemals, sondern treibt neue Blüten, schafft neue
Wörter, zeugt neue Wendungen. Es geht hier wie in jeglichem
Kampf ums Dasein. Was lebensfähig, bleibt, das übrige stirbt ab.
Wortgebilde wie „unentwegt, eine Frage anschneiden, einsetzen“,
früheren Jahren fremd, haben sich eine Zeitlang erhalten, sind jedoch
im Schwinden. Eines häßlichen Wortes aber müssen wir gedenken,
das gleich wie das Ohr auch unser Auge beleidigt: das Wort „Be-
einfluffung“ mit seinem Hiatus ßeein und mit seinen zwei langen
„ff“. Ein Wort, das erst seit einigen Jahren die deutsche Sprache
verdirbt und so leicht durch „Einfluß“ oder „Einflußnahme“ sich er¬
setzen läßt.
Schwierig ist seit jeher die richtige Wahl des Wohllaut — s. So
häßlich als die Jean Paul’schen „Hundposttage“ klingen, so häßlich
auch der „Schadensersatz“ im 2. Abschnitt (§ 57) des deutschen
St. G. Entwurfes. Mag man Freiheitsstrafe und Arbeitsscheu gelten
lassen, weil das s nach den Schulregeln eingeschaltet wird, wenn das
weibliche Bestimmungswort auf heit, keit, tät, schaft auslautet, so
scheint uns „Glücksspiel“ (§ 399 ö. E.) ebenso mißtönig als etwa
Heimatsschein oder Werkszeug. Der § 23 spricht von „zeitiger“, aber
auch von „sechsmonatlicher“ Freiheitsstrafe.
Doch das sind Kleinigkeiten. Nichts aber verunziert die deutsche
Sprache mehr als der Gebrauch des Fürwortes „derselbe, dieselbe,
dasselbe“ an Unrechter Stelle und die Herabarbeitung des Fragewortes
„welcher, welche, welches“ zum Relativpronomen. „Derselbe für
er, sagt Otto Schröder in seinem Klassischen Buche vom papiernen
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Der österreichische Strafgesetzentwurf.
147
Stil auf S. 51, ist überhaupt nicht deutsch, sondern lateinisch, spätes,
schlechtes Latein! Und weiter: „Vielleicht muß es neben der Volks¬
und Literatursprache eine subalterne geben, in Verfügungen und
Protokollen, in Zeitungsberichten und Katalogen (Seite 79). Die Ge¬
richte setzen einen Termin an „behufs“ Auflassung eines Grund¬
stückes. Der Reporter kommt auf eine frühere Nachricht zurück
behufs Richtigstellung derselben .... Doch Akten- und Bücher¬
menschen müssen sein. Warum sollen sie nicht am Ende ihren
eigenen Stil haben? Aber herrschen sollen sie nicht, weder im Staat
noch in der Kirche und in der Wissenschaft so wenig als in der
Dichtung .... Dieser Mensch redet wie ein Buch ist ein krankes
Lob. Umgekehrt sei die Losung: Dieses Buch redet wie ein Mensch“!
Bis auf den verunglückten § 1 und den ungenauen Schluß des
§ 8 „Erhöhte Strafen .... werden ohne Rücksicht auf die Be¬
stimmung (welche?) verhängt“, befleißigt sich die Sprache unseres
Entwurfes peinlicher Sauberkeit. Ob die Bezeichnung „Verschulden“
im 4. Abschnitt (für Schuldformen) glücklich und sprachlich richtig
ist, bleibe dahingestellt. Warum z. B. § 203 nicht „Bannbruch“ (statt
„Bruch der Polizeiaufsicht), § 236 nicht „Landzwang“ (statt Beun¬
ruhigung der Bevölkerung) wählt, fällt auf, hat aber weiter nicht
viel zu bedeuten. Unser Entwurf, der den dolus indirectus (§ 7) ver¬
wirft und den dolus eventualis von der Lösung der Frage abhängig
macht, unter welcher Voraussetzung ein Erfolg noch als gewollt be¬
zeichnet werden kann, den der Täter weder angestrebt noch als
einen mit dem angestrebten als notwendig verbundenen sich vorstellte,
bringt kein Satzungetüm, wie § 59 des deutschen Entwurfes: „Wissen
und Wille des Täters liegen auch dann vor (!) wenn er alle zum
gesetzlichen Tatbestand der strafbaren Handlung gehörigen tatsäch¬
lichen Umstände als nicht unwahrscheinlich vorhanden, und
soweit zu dem gesetzlichen Tatbestand ein bestimmter Erfolg gehört,
diesen als nicht unwahrscheinlich eintretend einsieht“.
Entspricht diese schwerfällige Periode der Anforderung, die wir
an ein Strafgesetz stellen müssen, klar, leichtfaßlich, verständlich
überhaupt zu sein, verständlich nicht nur für den Laien, für den
Juristen selbst?
Mit Befriedigung erfüllt es uns, daß wir anstatt eines Strafge¬
setzes ein Strafgesetzbuch bekommen sollen. Der Unterschied liegt
schon im Gefühl (vgl. auch Schütze, österr. Gerichtszeitung 1882S. 206).
Beim Aufbau eines Gesetzbuches fragt es sich, ob die Neben¬
gesetze, deren Schaffung die veränderten Zeitverhältnisse oder der
vermeintliche Bedarf des Tages notwendig gemacht, in seinem weiten
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I
148 V. Alfred Amschl
Rahmen Aufnahme finden sollen oder nicht. Wir stimmen entschieden
dafür, daß sogenannte Gelegenheitsgesetze, Gesetze, die den Anforde¬
rungen des Augenblickes oder sozial politischen Zwecken entgegen-
kommen und in absehbarer Zeit an Bedeutung verlieren, dem Strafge¬
setzbuch nicht einverleibt werden sollen, so z. B. die Wahlschutz-,
Tierseuchen- und Landstreichergesetze. Schon die Notwendigkeit
rasch änderungsfähiger Durchführungsvorschriften mancher Sonder¬
gesetze ist wünschenswert. Nur sollte man sich endlich entschließen,
das Flickwerk in der Landstreichergesetzgebung zu beseitigen, und
die Rudimente des Gesetzes vom Jahre 1873 dem Gesetze vom Jahre
1885 einfügen. Wir heißen auch die Aufnahme des sog. Jugend¬
strafrechtes in das allgemeine Strafgesetzbuch nicht gut. Handelt
sichs doch um ein Experiment, das erst ausgeprobt werden muß und
voraussichtlich bald Änderungen oder auch Modifikationen notwendig
machen wird. Wir geben an dieser Stelle der Meinung Raum, daß
die rührselige Sentimentalität von heute, das Kokettieren mit den
Jugendlichen, vielleicht bald am entschiedenen Widerstande der Be¬
völkerung selbst Schiffbruch leiden und einen Umschlag der Stimmung
entfesseln könnte, der nicht ohne Rückwirkung auf die Kodifika¬
tion bliebe.
Wir glauben aber auch, daß Vorschriften über den Strafvollzug
und die sicherungsweise Verwahrung oder Nachhaft nicht in die
Strafprozeßordnung gehören. Voilzugsanordnungen eignen sich über¬
haupt nicht zum Gesetz. Die Bedürfnisse und Anschauungen wech¬
seln, — man denke nur an Sträflingsbeschäftigung und Arbeits¬
betrieb! — die Kompliziertheit des Verwaltungsapparates erheischt
rasches Eingreifen der Oberleitung, sodaß ohne die Beweglichkeit des
Verordnungsweges der Strafvollzug erstarren müßte. Gesetzlich
festzulegen, was stetem Wandel unterliegt, soll schon darum ver¬
mieden werden, weil sonst die wohlbekannte Gefahr droht, das Ge¬
setz gewissermaßen ex lege umgehen zu müssen.
Der Vorentwurf nimmt nicht Stellung zum Willensproblem und
tut wohl daran. Er bekennt sich nicht zum Vergeltungsprinzip, allein
nicht jede Strafe ist ihm Zweckstrafe. Er unterscheidet Todes-,
Kerker-, Gefängnis-, Haftstrafe, Hausarrest, Geldstrafe und Einziehung.
Im § 68 Abs. 3 bricht er mit der bedenklichen Praxis des Kassa¬
tionshofes, der Todesstrafe in Fällen des § 265 St.O. ausschließt
(E. 96 511, 2079). Aber Hausarrest hätten wir ihm gerne geschenkt.
Wie soll diese Strafe an einem Bettgeher, Störarbeiter oder Einleger
vollzogen werden? Ein Feudalherr mit mehreren hundert Quadrat¬
meilen zusammenhängenden Grundbesitzes, darf er diesen, darf er
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Der österreichische Strafgesetzentwurf.
149
sein Schloß, darf er sein Zimmer nicht verlassen? Der deutsche Vor-
entwurf verwirft den Hausarrest, der als ernstliche Strafe nicht emp¬
funden wird und dessen Kontrolle Schwierigkeiten macht (Begrün¬
dung-, allgem. Teil, Seite 42).
Die Vorschriften über Geldstrafe nehmen sich in der Theorie
schöner aus denn in der Praxis. Wie soll das tägliche Einkommen
zumal im Kähmen einer bezirksgerichtlichen Verhandlung, verläßlich
erhoben werden ? Nach § 29 stellt das Gericht das tägliche Einkommen
oder den täglichen Verdienst annäherungsweise einem Tage
Freiheitsstrafe gleich. Der Arme wird ersatzweise für 1000 K zu
100 Tagen, der Millionär für den gleichen Betrag zu einem Tag Er¬
satzhaft (auch Hausarrest) verurteilt werden. Die schönste Reklame
für den beliebten Vorwurf der Klassenjustiz!
Wohlweislich vermeidet der Entwurf, der geschickt die Mitte
zwischen beiden Strafrechtschulen einhält und in der Strafe Vergeltung,
in den Sicherungsmitteln Schutz Vorkehrung erblickt, die Einführung-
unbestimmter Strafurteile (ebenso die deutsche „Begründung“, allgem.
Teil S. 152). Abgesehen davon, daß ohne Strafe die Ordnung im
Staat unter den heutigen Verhältnissen nicht aufrecht erhalten werden
kann, daß aber schon zu diesem Zwecke nicht nur der Täter,
sondern auch die Außenwelt wissen muß, welche Strafe er für die
verübte Tat verwirkt; abgesehen ferner davon, daß sich der Mensch
in der Strafanstalt ganz anders zeigt, als in der Freiheit, unter der
strengen Zucht leicht gefügig wird und hierdurch den Anschein der
Besserung erweckt, —- kann die Bestimmung der Strafdauer doch
nicht einer abhängigen Verwaltungsbehörde wie der Strafanstaltsvor-
stehung anvertraut werden, die dem Diktate der Vorgesetzten Ver¬
waltungsbehörde gehorchen muß. Sowie über die Schuld kann auch
über die Strafe nur ein unabhängiger Richter richten.
Unser Vorentwurf bedient sich des Ausdruckes „Strafvollzugs-
behörde“, z. B. in § 24, ohne zu sagen, wen er darunter versteht.
Die Gefangenhäuser werden vom Vorsteher des Gerichts, die Straf¬
anstalten vom Oberstaatsanwalt und Staatsanwalt überwacht (§ 549).
Sind nun die Gericlitsvorstehungen und Oberstaatsanwaltschaften
Strafvollzugsbehörde oder die Gefangenhausverwaltung, Strafanstalts¬
direktoren und Inspektorate? Eignen sich die Stellen ohne juristische
und kriminalistische Vorschule zu behördlichen Funktionen im Sinne
der §§ 24 und 23, die nicht mehr Akte des Strafvollzugs sind, son¬
dern der Verwaltungs- und Rechtspflege?
Im besonderen Teile, den zu besprechen es uns an Raum ge¬
bricht, fällt die Strenge der oberen Strafgrenzen und die dem geltenden
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150
Y. Alfred Amschl
Gesetz entnommene Wertung der Rechtsgüter auf. Das Eigentum
wird strenger geschützt als Leben und Gesundheit, — die Sache steht
höher als die Person.
Gründe, die zwar die Strafbarkeit nicht ausschließen, aber sich
den Ausschließungsgründen nähern, fallen bei der Strafbemessung
um so stärker ins Gewicht, je näher sie den Ausschließungsgründen
kommen. Mildernde und Erschwerungsumstände werden beispiels¬
weise („sind insbesondere“) in §§ 44 und 45 aufgezählt, das außer¬
ordentliche Milderungsrecht verschwindet, — die höchst milden Strafen
nach dem verlästerten heutigen Strafgesetze sterben aus.
Straffolgen sind nach § 33 mit der Verurteilung zum Tod und
zu einer Kerkerstrafe obligatorisch verbunden, — eine fragwürdige
Bestimmung. Bei Verurteilung zu Gefängnis von mindestens sechs
Monaten aber nur dann (vgl. auch §§ 131, 284, 379), wenn dem
Täter besondere Rohheit, grober Eigennutz, Arbeitsscheu oder Scham¬
losigkeit zur Last fällt. Schamlosigkeit ist ein weitmaschiger Begriff,
vielfacher Deutung unterworfen, der in der Praxis eine bedenkliche
Rolle spielen kann. Wir treffen ihn auch in §§ 43, 45, Abs. 2 wieder.
Wer das Unrecht seiner Tat einsieht und seinen Willen dieser
Einsicht gemäß bestimmt, ist zurechnungsfähig.
Der Entwurf unterscheidet:
1. Geisteskrankheit, Geistesschwäche, Bewußtseinsstörung (Trun¬
kenheit, Taubstummheit).
2. Verminderte Zurechnungsfähigkeit, d. h. ein akutes Stadium
der Willensschwäche.
3. Geistige Minderwertigkeit, d. h. ein chronisches Stadium der
Willensschwäche.
4. Jugendliche.
Taubstumme und Trunkene sind je nach ihrem in eine der
4 Gruppen einreihbaren Zustande zu behandeln. Lebhaft begrüßen
wir die Bestimmung, daß selbstverschuldete Trunkenheit als Milde¬
rungsumstand nicht mehr geltend gemacht werden kann (§ 57 Abs. 2)-
Von löblichem, aber der Wirklichkeit entrückten Idealismus zeugt
die Bestimmung des § 5 Abs. 2, daß der Unmündige der Fürsorge¬
erziehung überwiesen wird, sofern die häusliche Zucht nicht aus¬
reicht. Nimmt sich auf dem Papier recht schön aus, wie das aber
in der realen Wirklichkeit aussehen wird? Who can teil? — heißt es
in einem englischen Lied.
Die Rezeption der Minderwertigkeit und verminderten Zurechnungs¬
fähigkeit entspricht den Anforderungen der Zeit. „Zeit“ ist allerdings
bequemer ausgesprochen als definiert. Treffend erklärt Prof. Wagner
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Der österreichische Strafgesetzentwurf.
151
v. Jauregg in seinem Aufsatz „Einiges über erbliche Belastung"
(Wiener klinische Wochenschrift No. 1 von 1906), gerade die ethisch
defekten Degenerierten als die eigentlichen Yerbrechernaturen. Daß in
Zukunft auch Zorn und heftige Gemütsbewegung verminderter Zu¬
rechnungsfähigkeit, also akuter Willensschwäche, gleichkommt, scheint
angesichts der Bestimmung des § 57 kaum fraglich.
Der bedeutsamste Schritt, den der Entwurf wagt, ist die Schaffung
von Sicherungsmitteln. Bringt er die Geldmittel hierzu auf, dann
begrüßen wir ihn wärmstens. Auf jeden Fall aber verdient die
Konzeption alles Lob. Die Gesellschaft verlangt Schutz vor gemein¬
gefährlichen Elementen. Davon geht der Entwurf aus, und, wie
wir glauben, mit vollem Recht. Nicht gleichartiger und ungleichartiger
Rückfall, nicht die akuten oder chronischen Zustände der Psyche
geben den Ausschlag, sondern die Gemeingefährlichkeit. Sie haftet
dem Täter an, wenn er wegen seines kranken Geisteszustandes und
mit Rücksicht auf seinen Lebenswandel und die Eigenart seiner Tat
als besonders gefährlich für die Sittlichkeit oder für die Sicherheit
der Person oder des Vermögens anzusehen ist (§ 36). Diese Fassung
kann bestritten werden. Ihre Verbesserung oder Einschränkung ist
möglich und leicht durchführbar, der Begriff übrigens ein solcher, der
sich selbst definiert.
Der Entwurf kennt neun Sicherungsmittel:
1. Verwahrung verbrecherischer Irrer (§ 36).
2. Verwahrung vermindert Zurechnungsfähiger nnd geistig Minder¬
wertiger ,(§ 37).
3. Verwahrung gemeingefährlicher Verbrecher (§ 38).
4. Verwahrung von Trinkern (§ 243).
5. Zwangsarbeits- und Besserungsanstalten (§ 93).
6’ Fürsorgeerziehung (§§ 53 und 54).
7. Polizeiaufsicht (§ 39).
8. Reichsverweisung (§ 40).
9. Verfall (§§ 41 und 42).
Einziehung (§§ 30, 150, 174, 175) ist Strafe, nicht Sicherungs¬
mittel.
Das Verfahren regelt der Entwurf zur Abänderung der StPO.
Die Gesetze vom 24. Mai 1885 bleiben in Geltung, modifiziert
durch Artikel 18 des Einführungsgesetzes. Die Anhaltung im
Zwangsarbeitshause darf nicht länger als fünf Jahre dauern.
Entlassung auf Widerruf ist vorgesehen.
Reichsverweisung verhängt § 40 über einen Ausländer, der
zu einer ein Jahr erreichenden Freiheitsstrafe verurteilt wurde und
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V. Alfred Amschl
nach Lebenswandel und Eigenart der Tat für die Sicherheit des Geld-
verkehrs oder für die Sittlichkeit gefährlich erscheint.
Unter Polizeiaufsicht ist nach $ 39 der inländische Täter
zu stellen, falls er wegen eines Verbrechens gegen die Sicherheit
des Geldverkehrs, gegen fremdes Vermögen oder wegen eines gemein¬
gefährlichen Verbrechens zu einer Kerkerstrafe verurteilt wird. Das
Gericht spricht die Zulässigkeit aus, wenn Gefahr besteht, daß er
neuerdings strafbare Handlungen dieser Art begeht und wenn von
der Polizeiaufsicht, die nicht über drei Jahre ausgedehnt werden
darf, eine Minderung dieser Gefahr zu erwarten ist. Die politischen
Behörden erster Instanz verhängen die vom Strafgerichte für zulässig
erkannte Stellung unter Polizeiaufsicht (§§ 7 und 9 des Ges. vom
10. Mai 1879 Nr. 108 R.G.B. u. Art. 15 Einführungsgesetz).
Geisteskranke, die eine strenger als mit sechs Monaten
Freiheitsstrafe bedrohte Tat verübt haben, werden in eine staatliche
Anstalt für verbrecherische Irre abgegeben, jedoch nur bei Gemein¬
gefährlichkeit (§§ 3 u. 3b). Nach Einstellung des Verfahrens oder Frei¬
sprechung entscheidet das Gericht in mündlicher und öffentlicher
Verhandlung über die Verwahrung (§§ 500—520 St.P.E.). In
Schwurgerichtsfällen ist der Antrag zu stellen, wenn mindestens sechs
Geschworene die Zusatzfrage auf Zurechnungsunfähigkeit bejaht haben.
Gegen Beschlüsse auf Verwahrung steht sowohl dem Staatsanwalt
als auch dem zu Verwahrenden das Rechtsmittel der Beschwerde
binnen drei Tagen an den Gerichtshof II. Instanz zu; bei Beschlüssen
nach dem Urteil eines Gerichtshofes entscheidet der Kassationshof,
falls gegen das Urteil Nichtigkeitsbeschwerde ergriffen wird. Ent¬
lassung aus der Anstalt für verbrecherische Irre findet nur auf Grund
gerichtlichen Beschlusses statt und zwar entweder bedingt oder un¬
bedingt. Dagegen Beschwerde des Staatsanwaltes und des Verwahrten
binnen acht Tagen an den Gerichtshof II. Instanz mit aufschiebender
Wirkung. Der Verwahrte wird nach Entlassung auf freien Fuß ge¬
setzt, soferne nicht sein Wohl eine Vorkehrung der Verwaltungsbehörde
heischt. Wird der Entlassungsantrag des Verwahrten abgewiesen,
so kann er erst nach Ablauf von zwei Jahren erneuert werden.
Widerruf wird nach Ablauf von drei Jahren seit der Entlassung
unzulässig.
Wird der Angeklagte verurteilt, weil er im Zustande der Voll¬
trunkenheit eine strenger als mit sechs Monaten bedrohte Tat be¬
gangen hat, so kann der Staatsanwalt mündlich nach Verkündigung
des Urteils den Antrag auf Verwahrung stellen, worüber das Gericht
in wiedereröffneter Verhandlung durch Beschluß entscheidet, ob der
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Der österreichische Strafgesetzentwurf.
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Verurteilte nach Vollzug der Strafe in einer staatlichen Anstalt für
verbrecherische Irre zu verwahren sei. Über Rechtsmittel und Ent¬
lassung gelten die Bestimmungen für Geisteskranke (§§510 u. 511 St.P.E.).
Der zu einer Freiheitsstrafe wegen eines Verbrechens oder einer
mit einer sechs Monate übersteigenden Freiheitsstrafe bedrohten Ver¬
gehens verurteilte vermindert Zurechnungsfähige kann bei
Gemeingefährlichkeit nach dem Strafvollzüge weiter verwahrt werden.
Das Gericht spricht die Zulässigkeit der Verwahrung im Urteil aus
und ordnet dann auf Grund der Ergebnisse des Strafvollzugs an, daß
der Sträfling in einer besonderen Anstalt oder in einer besonderen
Abteilung einer staatlichen Anstalt für verbrecherische Irre zu ver¬
wahren sei, wenn seine Gemeingefährlichkeit nicht behoben ist. Ent¬
lassung kann endgültig oder auf Widerruf erfolgen. Der Staatsan¬
walt stellt nach Verkündigung des Urteils mündlich den Antrag auf
Zulässigkeit der Verwahrung, worüber der Gerichtshof in wieder-
eröffneter Verhandlung nach Einholung des Gutachtens zweier Irren¬
ärzte (§ 496 Abs. 2 St.P.O.E.) erkennt. Für die Anfechtung des Be¬
schlusses gelten dieselben Vorschriften, wie bei Geisteskranken (§§523
u. 524 St.P.E.).
Bei Rückfall kann ein Inländer, der wegen desselben oder
wegen verschiedener Verbrechen gegen die Sicherheit des Geldverkehrs,
gegen die Sittlichkeit, gegen Leib und Leben, wegen Diebstahls und
verwandter strafbarer Handlungen, Erpressung und Raub, Betrügerei,
Benachteiligung von Gläubigern, strafbarer Ausbeutung, Hehlerei, Be¬
günstigung, Erwerbes verdächtiger Sachen und gemeingefährlicher
strafbarer Handlungen mindestens zwei Kerkerstrafen erstanden
hat und innerhalb fünf Jahren seit dem Vollzüge der letzten dieser
Strafen wieder eines dieser Verbrechen begeht, nach Verbüßung der
verwirkten Strafe weiterhin angehalten werden, wenn ihn seine Ver¬
brechen als gemeingefährlich erscheinen lassen und anzunehmen ist,
er werde sich auch weiterhin von strafbaren Handlungen nicht ab¬
halten lassen. Eine im Auslande verbüßte Strafe ist zu berücksich¬
tigen, wenn die Tat nach inländischem Recht eines der angeführten
Verbrechen bildet und die verbüßte Strafe der inländischen Kerker¬
strafegleichkommt. Die Zeit, während der der Täter wegen einer anderen
strafbaren Handlung eine Freiheitsstrafe verbüßte oder ihm wegen
des Vollzugs eines Sicherungsmittels die Freiheit entzogen- war, wird
in den Zeitraum von fünf Jahren nicht eingerechnet. Das Gericht
spricht die Zulässigkeit der Anhaltung im Urteil aus und entscheidet
dann auf Grund der Ergebnisse des Strafvollzugs, ob der Sträfling
entlassen werden könne oder wegen fortdauernder Gemeingefährlich-
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154
V. Alfbed Amschl
keit in einer besonderen Anstalt oder in einer besonderen Abteilung
einer Strafanstalt anzuhalten sei. Die Anhaltung darf zehn Jahre
nicht übersteigen. Nach Ablauf von mindestens drei Jahren kann
der Täter entgültig oder auf Widerruf entlassen werden.
Wie wir schon vorhin erwähnt, gehören die Bestimmungen über
das Verfahren zur Einleitung sichernder Maßnahmen ebensowenig in die
Strafprozeßordnung als die Einzelbestimmungen über den Strafvollzug.
Das Gesetz schwillt übermäßig an, die Paragraphen gehen in die
Breite. Derjenige, der ein Gesetz Tag für Tag handhabt, muß es
im Gedächtnisse behalten, der Text, die Gruppierung, die Ziffern
müssen mnemotechnisch nachhelfen. Und zudem: es handelt sich
um Maßnahmen, bei denen nicht nur die Zweckmäßigkeit, sondern
erst die Durchführbarkeit erprobt werden muß. Da wird es denn
zur Notwendigkeit, dem allenfalls sich ergebenden Abänderungsbedürfnis
entgegenzukommen, ohne ein großes, in seinen Grundsätzen auf¬
rechtbleibendes Gesetz zu beschneiden.
Ungestüm pocht die Forderung nach bedingter Begnadigung, be¬
dingter Verurteilung, bedingtem Straferlaß, bedingtem Strafaufschub
oder bedingter Entlassung, dann nach sogenannter Rehabilitation an
die Tore der Gesetzgebung. In unserem Vaterlande herrscht vielfach
der Glaube, daß man schreien müsse, um gehört zu werden, — daß
man das Unmögliche verlangen müsse, um des Mögliche zu erlangen.
Der Vorentwurf kennt seine Leute. Vielleicht auch den Glaubens¬
satz, dessen wir soeben gedachten. Er gönnt den Jugendlichen
eine kleine Dosis von Rehabilitation (§ 559) und bedingtem
Strafnachlaß (§§ 48—50), sogar ein Absehen von Strafe (§47),
— allen Straffälligen aber bedingte Entlassung (§§ 23—26). Hat
ein Sträfling zwei Drittel einer ein Jahr übersteigenden „zeitigen“
Freiheitsstrafe verbüßt, so kann er bedingt entlassen werden, wenn
Bewährung anzunehmen ist. Unter gleicher Voraussetzung kann ein
zu lebenslangem Kerker verurteilter Sträfling nach fünfzehn Jahren,
ein Jugendlicher aber dann schon entlassen werden, wenn er zwei
Drittel einer mindestens sechsmonatigen Freiheitsstrafe erstanden hat.
Die Probezeit beträgt bei lebenslangem Kerker fünf Jahre, sonst ist
sie gleich dem nicht vollzogenen Strafreste, jedoch niemals kürzer
als sechs Monate und niemals länger als fünf Jahre. Die Entlassung
wird widerrufen
1. wenn sich der Entlassene während der Probezeit dem Trünke,
dem Spiele, Müßiggang oder einem unsittlichen Lebenswandel ergibt,
— sehr dehnbare Begriffe, deren Auslegung im Ermessen der Gen¬
darmen, Gemeindesekretäre, Polizeimänner, Hausmeister liegt, —
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Der österreichische Strafgesetzentwurf.
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2. wenn er den Weisungen der „Strafvollzugsbehörde“ böswillig
und beharrlich — wieder zwei Kautschukbegriffe! — nicht nach-
kommt,
3. wenn er während der Probezeit zu einer Kerker- oder Ge¬
fängnisstrafe (nicht Haft!) verurteilt wird, es sei denn, daß besondere
Umstände die Annahme und Bewährung nicht hinfällig erscheinen
lassen. —
Soviel von Strafe, Straffolgen und sichernden Maßnahmen. Zum
allgemeinen Teil wäre noch folgendes zu bemerken:
1. Der Vorentwurf hält an der Dreiteilung der strafbaren Hand¬
lungen fest f§ 2). Verbrechen ist eine mit dem Tode oder mit Kerker,
Vergehen eine mit Gefängnis oder Haft von mehr als sechs Monaten oder
mit Geldstrafe von mehr als zweitausend Kronen bedrohte Handlung.
Übertretungen aber sind Handlungen, die mit einer sechs Monate nicht
übersteigenden Freiheitsstrafe (d. i. Haft oder Gefängnis, denn Kerker
kann niemals unter einem Jahre verhängt werden) oder mit einer
zweitausend Kronen nicht übersteigenden Geldstrafe bedroht sind.
Um wegen der Bedeutung des Deliktes die Kompetenz des Gerichts¬
hofes zu prorogieren, w r erden einige solcher Handlungen ausdrücklich
als Vergehen erklärt, z. B. §§ 155, 239 Z. 3, 245, 247, 249, 251.
2.. Schuldformen (Verschulden) kennt der Entwurf zwei: Vor¬
satz und Fahrlässigkeit, diese als bewußte oder unbewußte. Der
dolus indirectus, der ja doch nicht Schuldform, sondern nur Beweis¬
mittel für den bösen Vorsatz sein kann (siehe Hoege 1, Geschichte
des österreichischen Strafrechts I, S. 149 ff., dann II, S. 265 ff), ent¬
fällt, wie bereits erwähnt (§ 7), Erfolgshaftung tritt ein, wenn der
Durchschnittsmensch, nicht der Täter, den Erfolg voraussehen konnte.
(Vgl. Sclimölder, Deutsche Juristenzeitung Nr. 23 1906 S. 1283 ff.
„Gemeingefährliche Verbrechen und Vergehen“.)
3. Auch selbstverschuldeter Notstand (§ 11) kann straflos
machen, wenn nicht besondere Pflicht besteht, die drohende Verletzung
auf sich zu nehmen. Strafbarkeit wird jedoch nicht ausgeschlossen,
wenn Beruf, Vertrag oder besondere Umstände den Täter verpflichten,
sich der drohenden Verletzung auszusetzen. Auch Ehrennotstand
kann straflos machen (§§ 192, 241, 329, 403). Dem Notstand sich
nähernde Situation wirkt nach § 57 mildernd. Schwere Notlage be¬
dingt bei Kindesmord, Abtreibung und Aussetzung milderen Strafsatz
(§§ 291 Z. 2, 293 Z. 3, 303 Z. 3), ebenso Zwangslage bei falscher
Aussage (§ 186 Z. 2). Eigenmächtige ärztliche Behandlung, um ein
Leben zu retten (§ 325), ärztliche Abtreibung, um die Schwangere
vor Schaden zu bewahren (§ 295) macht straflos.
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156
V. Alfred Amschl
4. Die Definition der Notwehr (§ 12) klingt etwas geschraubt.
Wer sich „angemessen“ verteidigt, übt das Eecht der Notwehr aus.
Angemessen — wieder ein zerfließender Begriff, der in der Praxis
Unheil stiften kann.
Eechtswidriger Angriff muß drohen, daher bleibt auch Ehren¬
notwehr straflos, sofern sie sich nicht der Beschimpfung als Waffe
bedient, weil Sch eit worte nicht Verteidigungs-, sondern nur Vergel¬
tungsmittel sind. Notwehr gegen Amtsmißbrauch ist statthaft (§ 154/3).
Sie kann auch durch Einsperrung geübt werden (§ 316), nur ist sie
der Behörde ohne Verzug anzuzeigen.
5. Erscheinungsformen strafbaren Tuns sind Anstiftung und
Beihilfe (diese umfaßt auch Teilnahme). Der akzessorische Charakter
wird ihnen mit Eecht aberkannt, ihre Strafbarkeit hängt nicht von
der des Täters ab (§ t3). Bandenbildung wird nach § 238 als selb¬
ständiges Delikt bestraft. Persönliche Eigenschaften, die für den
Täter wirken, gelten nicht für den Anstifter oder Gehilfen, so z. B.
Notlage von Kindesmörderinnen oder Abtreiberinnen. Mittelbar ist
Täter, wer eine Tat durch einen Unzurechnungsfähigen verübt oder
hierzu Hilfe leistet.
Die Präzisierung „durch Wort und Tat“ geleistete Hilfe dünkt
uns überflüssig, denn es ist nicht abzusehen, daß auf andere Art
Hilfe geleistet werden könnte.
Versuch ist nicht Ausführungshandlung, sondern „unmittelbar“
an die Ausführungshandlung grenzendes Tun. Die Lösung der Straf¬
barkeit untauglichen Versuches überläßt der Entwurf vorsichtig der
Doktrin und der Praxis (§ 14). Versuch wird als vollbrachtes Delikt
bestraft bei Hochverrat (§§ 109, 110) und Angriffen auf Ungarn,
Bosnien und die Herzegowina (§§ 138, 140, 141).
Versuch ist straflos, wenn die Handlung mit einer drei Monate
nicht übersteigenden Freiheitsstrafe oder einer tausend Kronen nicht
übersteigenden Geldstrafe bedroht ist.
§ 16 unterscheidet zwischen beendetem und nicht beendetem
Versuch. Straflos ist, wer vor beendetem Versuche zurücktritt oder
nach beendetem Versuche den Erfolg hindert oder abwendet. Vor¬
bereitungshandlungen (§ 17) sind nur strafbar bei Hochverrat (§ 112),
Urkunden-oder Wertzeichenfälschung (§216), Geld- oder Wertpapier¬
fälschung (§ 229) und Sprengstoffverbrechen (§. 420). Die Strafbar¬
keit erlischt, wenn der Täter freiwillig von seiner Tätigkeit absieht
und Mittel und Werkzeuge unbrauchbar macht (vgl. auch §§ 128,
230, 473 und 474).
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Der österreichische Strafgesetzentwurf.
157
Die Worte „und nicht wegen eines von seinem Willen unab¬
hängigen Hindernisses" (§§ 16, 17) dürften als Paraphrase des Aus¬
druckes „freiwillig“ entbehrlich sein.
Versuchte Verleitung wird im allgemeinen (Ausnahme § 184)
nicht als delictum sui generis, sondern als Erscheinungsform des Ver¬
brechens innerhalb der Grenzen des strafpolitischen Bedürfnisses bestraft.
Soviel diesmal über den Strafgesetzentwurf, der, mag man ihn
ganz oder zum Teil verwerfen, gewiß ein interessantes Werk, ein
Markstein auf dem weiten Felde der Gesetzgebung bleibt.
Nun nur noch einige Worte über den Strafprozeßentwurf.
Die Praktiker erwarteten vor Allem Lösung jener bekannten Streit¬
fragen, die nun schon das dritte Jahrzehnt täglich wieder neu auf¬
tauchen und in den Beratungszimmern der Gerichte täglich verschie¬
dene Auslegung erfahren. In kurzen Strichen hätten die Wünsche
der Praktiker Erfüllung gefunden, — an Material, an Vor- und Rat¬
schlägen mangelte es sicherlich nicht. Dafür finden wir Regiefehler,
die nur neue Verwirrung in die Praxis bringen würden. So ent¬
scheidet z. B. die Ratskammer (§ 10, letzter Abs.), in welchem Maß
und für welche Dauer bürgerliche Rechtsfolgen auf Grund des Urteils
eines Militärgerichtes eintreten oder fortbestehen, obgleich die Rats¬
kammer nur das Vorverfahren überwachen und ihre Tätigkeit mit
Überreichung der Anklageschrift beenden soll. Im § 54 b lesen wir
hingegen, daß der Gerichtshof des Domizils zu dieser Entscheidung
berufen ist!
Die Bestimmungen des IX. Abschnittes über die Ausübung von
Geschäften des Pflegscbaftsgerichts durch ein Strafgericht sähen
wir lieber im Gesetz für Jugendliche.
§ 192 verkennt, daß die Kaution von der Ratskammer nur im
Vorverfahren bestimmt werden kann, daß aber während oder nach
der Hauptverhandlung nur der versammelte Gerichtshof in der Lage
ist, hierüber eine Entscheidung zu treffen.
§ 284 verfügt, daß gegen die Entlassung aus der Haft nach dem
Urteil ein Rechtsmittel nicht zulässig ist, verschweigt aber, ob ein
solches gegen die Verhängung der Haft nach Verkündigung des Ur¬
teils statthat.
Im § 363 hätte sich eine Bestimmung empfohlen, daß das Er¬
kenntnisgericht selbst sofort nach § 60 St.P.O. seine Nichtzuständigkeit
erklärt und die Sache ' abgibt, wenn sich nach Rechtskraft die Zu¬
ständigkeit der Militärgerichte heraustellt usw.
Wir hätten von der neuen Kodifikation der St.P.O. auch eine
Reform oder Regelung des bezirksgericbtlichen Verfahrens erwartet
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158
Y. Alfred Amschl
— eine Reform, die wir vielleicht als die dringendste auf dem Ge¬
biete des Strafprozesses bezeichnen dürfen, — der Entwurf verschließt
sich dieser Notwendigkeit vollständig. Die Jugendlichen werden in
§ 455 mit Verteidigern von Amts wegen bedacht, die sogar weiblichen
Geschlechts sein dürfen! — Wie schön der Gedanke an eine Vertei¬
digung von Amts wegen, die den Unschuldigen befreit, den Schuldigen
schützt, ihm den Pfad der Selbsterkenntnis weist! Wie gefährlich
aber, wenn sie den Jugendlichen zum leugnen verleitet und sein Ge¬
wissen verwirrt! —
Der bedeutsamste Schritt, mit dem uns der Entwurf überrascht,
ist die Einführung der Schöffengerichte. Er gibt sie uns nicht anstatt
der Geschworenengerichte, sondern neben ihnen. Diesen verbleiben
nach Art. VI des Einführungsgesetzes die sogenannten politischen
Delikte, dann alle Handlungen, die mit dem Tode, mit lebenslangem
Kerker oder mit einer zehn Jahre übersteigenden Freitheitsstrafe be¬
droht sind.
Inhaltsdelikte in Preßsachen und die mit einer fünf Jahre über¬
steigenden Freiheitsstrafe bedrohten strafbaren Handlungen kommen
vor die großen Schöffengerichte, bestehend aus drei Richtern
und drei Schöffen. An Stelle der Erkenntnisgerichte setzt der Entwurf
die kleinen Schöffengerichte mit zwei Richtern und zwei Schöffen.
Mit männlichem Freimut charakterisiert die „Vorbemerkung“ den
Wert der Geschworenengerichte. Was noch zu ihren Gunsten spricht
ist die Tatsache, daß vor ihren Schranken die Grundsätze der Münd¬
lichkeit und Unmittelbarkeit, die vor den Senaten verblassen und ver-
schrumpfen, voll zur Geltung gelangen. Die Größe des Apparates,
die Feierlichkeit der Formen, die Würde der Inszenierung, all dies
wirkt auf die Träger der Hauptrollen und spannt ihre Fähigkeiten
und Kräfte möglichst an. Davon könnte nur Gutes kommen. Aber
der Reiz breitester Öffentlichkeit, die Entfaltung so reichen Gepränges
stachelt die menschliche Eitelkeit auf; die ernsten Stätten des Gerichtes
werden leicht zu Schaubühnen, auf deren Brettern die Pose kokettiert
und die Phrase um Beifall buhlt.
Will man an Stelle der Geschworenen Schöffen einsetzen für
jene Verbrechen, die dem Schwurgericht erhalten bleiben sollen, —
wohlan! Der Wunsch nach Umwandlung der Senate in Schöffen¬
gerichte ward in der Bevölkerung ebensowenig laut, als in der Praxis,
— ebensowenig als der Ruf nach voller Berufung gegen die Urteile
der Senate, was nur zu deren Gunsten spricht.
Das Laienelement ist willkommen, wo es die Sachkunde des
Richters ergänzt, wie in Handels-, Gewerbe- und Preßsachen, — will-
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Der österreichische Strafgesetzentwurf.
159
kommen, wo der Laie selbst Fachmann ist. Was soll aber der Schöffe
in einer kleinen Kreisstadt, in der es schwer fällt, Schöffen zu finden,
für die das Richteramt nicht eine Gefährdung ihrer wirtschaftlichen
Existenz bedeutet? Erfreut sich dort der mit der Bevölkerung durch
Bande der Freundschaft, der Verwandtschaft, der gemeinsamen wirt¬
schaftlichen Interessen verwachsene Schöffe der gleichen Unabhängig¬
keit als der Richter? Und kennt, dieser Welt und Menschen schon
vermöge seines Entwicklungsganges und seiner Praxis nicht besser
als der Schöffe, der über seinen Kirchturmhorizont niemals hinaus¬
gekommen? Wir wiederholen es: Ist ihm angeboren, was der Richter
erst mühsam erlernen muß, wozu dann die staatliche Justiz? Hegt
man aber den unausgesprochenen Hintergedanken, daß der Richter
den Schöffen mit sich reißt, wozu dann der Schöffe?
Im Deutschen Reiche liegen die Verhältnisse anders. Seit Jahren
strebt man dort nach der vollen Berufung. Dort herrscht im ganzen
Reich gleichmäßigere allgemeine Bildung, selbst der Unterschied des
Bildungsniveaus in Stadt und Land ist dort weit ausgeglichener als
bei uns. Und hat man die nationalen Kämpfe vergessen, die gar leicht
auf die Rechtsprechung des Laienelementes gewisse Schatten werfen?
Langjährige Erfahrung hat uns zu Gegnern der Schwurgerichte
gemacht. Sie gelten uns als Träger einer in ihren Wirkungen ver¬
derblichen Zufallsjustiz. Allein wir rechnen mit den realen Verhält¬
nissen. Unsere Wünsche machen Halt an der Grenze des Erreich¬
baren. An Abschaffung der Schwurgerichte ist nicht zu denken.
Darum schränke man ihren Wirkungskreis ein, so eng als nur mög¬
lich. Die Schöffen aber als Ersatz für die Senate lehnen wir ab.
Sollte der Entwurf je zur parlamentarischen Beratung gedeihen, dann
wird das Parlament, dessen glauben wir sicher zu sein, dasselbe tun.
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VI.
Über Kleiderfetischismus, anknüpfend an einen seltenen
Fall von Unterrocks-Fetischismus.
Von
Medizinalrat Prof. Dr. P. Näcke in Hubertusburg.
Boas hat kürzlich 1 ) über einen sehr interessanten Fall von
„Schürzen-Fetischismus“ berichtet. Solche Fälle sind nach den „Schuh“-
Fetischisten die häufigsten unter den sog. „Kleider-Fetischisten“. Relativ
selten bilden die 0berkleider das Liebesobjekt der letzteren, eher
wieder die Unterkleider, besonders der Unterrock. Fälle von Lieb¬
habern bloß von Unterröcken sind in der Literatur gewiß nur wenige
niedergelegt und so ist es wohl dankenswert hier einen solchen zu
schildern, zumal sich daran ungezwungen eine Reihe von Erwägungen
anknüpfen lassen, die psychologisch und forensisch von Wert sein
dürften.
Die Irrenanstalt zu X. hatte die Güte mir die betreffende Kranken¬
geschichte zu überlassen. Daraus ist folgendes zu entnehmen. Pat. T.,
J 872 geboren, Landwirt und Handarbeiter, verheiratet, mit 4 Kindern.
Nach dem ärztlichen Fragebogen war sein Vater ein sehr eigentüm¬
licher, verschlossener Mann, dessen Bruder durch Selbstmord endete.
Der Kranke gab dagegen in der Anstalt bei seiner Aufnahme an:
sein väterlicher Großvater und sein Vater seien starke Trinker ge¬
wesen, der Vater jähzornig, habe ihn oft mißhandelt; ein Bruder des
Vaters habe sich erhängt. Die Mutter wäre sehr reizbar gewesen,
ein Bruder ihrer Mutter habe sich erhängt. Er, Pat., habe noch 5
lebende Geschwister, 3 seien sehr früh gestorben. Er selbst besitze
ß Kinder im Alter von 13 — l ri Jahr, 1 Kind sei 1 Monat alt ge¬
storben und seine Frau habe 2 Aborte durchgemacht. Seinen An¬
gaben ist wohl zu trauen, da er örtlich und zeitlich gut orientiert
war und viele seiner Angaben mit den offiziell übermittelten stimmen.
Er will in der Schule schwer gelernt haben und sei deshalb zu Hause
1) Dies Archiv, Bd. 35, p. 203.
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Über Kleiderfetischismus nsw.
161
viel geprügelt worden; einmal sei er darnach fortgelaufen und habe
sich 3 Tage in einem Haferfelde versteckt. Der ärztliche Frage¬
bogen berichtet nun weiter: Schon von Jugend auf soll Pat. zu Zornes¬
ausbrüchen unmotivierter Art geneigt haben und ließ sich schwer
erziehen. Nach der Konfirmation blieb er 6 Jahre bei den Eltern,
half mit in der Landwirtschaft, heiratete 1899, kaufte sich ein kleines
landwirtschaftliches Gütchen, arbeitete zeitweis aber auch als Hand¬
arbeiter. Pat. gibt an, daß er wegen Leistenbruchs nicht Soldat
wurde; als Knecht bei einem Bauer zog er sich Tripper und
Schanker zu und heiratete als Geschirrführer. Nach dem
Fragebogen sollen manche Ehestreitigkeiten vorgefallen sein und er
erlitt größere Geldverluste. Zeitweis trieb er sich einige Tage ruhelos
herum und dann soll er ein starkes Bedürfnis nach Alkoholicis ge¬
habt haben, die er schlecht vertrug, indem er schon nach kleinen
Mengen berauscht war und leicht Zornesausbrüche bekam. Nach eigener
Angabe war er schon seit der Jugend der Onanie sehr ergeben. Wenn
er schwer arbeitete, meinte er in der Anstalt, habe er öfters Flimmern
vor den Augen, Schwäche und Schwindelgefühl gehabt. 1894 ward
er wegen Schinkendiebstahls mit 5 Tagen Haft bestraft, vor ca.
6 Jahren mit 8 Wochen Gefängnis wegen Gelddiebstahls, 1909 zu
10 Monaten Gefängnis verurteilt, weil er Frauen Unter¬
röcke gestohlen und seine Frau schwer mißhandelt hatte. Im
Alter von 11 Jahren wurde er durch einen Hebebaum schwer gegen
die Brust gestoßen. Mit 12 Jahren will er einmal aus dem Fenster
gesprungen sein, ohne besonderen Grund. Vor 3 Jahren fiel er heftig
auf den Kopf und hatte einen 10 cm langen Riß. Quetschwunde an
der linken Kopfseite, die genäht ward. Den Eltern und der Um¬
gebung war er besonders durch sein zeitweises Vagieren, manchmal
verbunden mit Stehlsucht etwas aufgefallen, doch sah man dies nicht
als geistige Störung an. Er war ein Sorgenkind für die Eltern. Mit
Eintritt der Pubertät fing er an zu onanieren und blieb auch noch
in der Ehe Onanist. Dazu zog er gern die Unterröcke seiner
Frau an, legte sich so ins Bett oder lief damit im Freien umher.
Wollte ihn die Frau daran hindern, so ward er zornig und schlug
sie. Diese Zustände erfolgten anfallsweise, 1—2 Tage lang und dann
erschien er den Leuten verändert. Schlief dann wenig, vagierte öfters
und neigte teilweis auch zu Diebstahl. In der Zwischenzeit war er
meist ruhig, arbeitete fleißig und gut. Pat. weiß von diesen Zuständen,
die er „Anfälle“ nennt, er wisse aber nicht, warum er dann Solches
tun müsse, aber er könne nicht anders. Seit dem Sturze auf den
Kopf (vor 3 Jahren) habe sich sein Zustand verschlimmert, öfters
Archiv für Kriminalanthropologie. 37. Bd. 11
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Original fro-m
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162
VI. P. Näcke
habe er heftigen Kopfschmerz, besonders beim Bücken; beim raschen
Laufen fühle er das Gehirn sich bewegen. Nachts schlafe er oft nur
sehr wenig und wenn die Anfälle kämen, dann müsse er sich
Weiber-Röcke (am liebsten weiße, mit Spitzen) verschaffen und
danach heftig onanieren. Im letzten Jahre hatte er sich wohl 6 Stück
weiße Frauen-Unterröcke, meist von der Bleiche oder Wäsch¬
leine aus fremden Gärten gestohlen, diese angezogen, damit die
Leute erschreckt und angeblich ein junges Mädchen mit Tätlichkeiten
bedroht; deshalb zu 10 Monaten Gefängnis verurteilt. Er war schon
1 Woche im Gefängnis, als der Gefängnisarzt ihn für so geisteskrank
erklärte, daß die Strafe unterbrochen wurde. Er ward nach Haus
entlassen, wo er sich gut benahm und fleißig arbeitete. Der Frau
fiel nur eine gewisse Gedächtnisschwäche auf und Pat. war die ersten
Nächte fast schlaflos, klagte über Schwindel und starke Kopfschmerzen.
Ausgesprochene epileptische Anfälle hat Pat. überhaupt nie gehabt,
doch sind, wie der Begutachter schrieb, epileptiforme Dämmerzustände
wohl anzunehmen. Oktober 1909 war ein geringes Zittern an den
Händen bemerkbar und bei Augenschluß trat lebhaftes Schwanken
des Körpers ein, ebenso bestand bei schwierigen Worten ein geringes
Silbenstolpern. Ferner zeigte sich starke Pupillendifferenz mit schlechter
Reaktion und ein verschiedenes Verhalten der Kniereflexe rechts und
links. Am 16. Dez. 1909 ward er der Irrenanstalt zu X. übergeben.
Etwa im 20. Jahre habe er sich einen Schaden geholt. Hier in der
Anstalt war er bei der Aufnahme, wie gesagt, gut orientiert. Er
meinte, die Diebstähle habe er „aus Luderei“ begangen. Die Dieb¬
stähle der Frauenunterröcke leugnete er anfangs durchweg, später gab
er sie verlegen zu und sagte gleichfalls, es sei aus Luderei geschehen.
Er habe seine Frau bisweilen geprügelt, weil er glaubt, sie sei ihm
untreu. Pat. ist grazil, muskulös. Auf dem Kopfe sind verschiedene
Narben. Auf dem Mittelkopfe ist eine runde (10 cm im Durchmesser)
unempfindliche Hautstelle. Das Beklopfen des Kopfes ist nicht unan¬
genehm. Die Stirn ist kurz. Am Ohr springt der Anthelix stark
hervor. Gesicht ist gleichmäßig innerviert; keine Druckpunkte. Die
Pupillen sind ungleich, die rechte entrundet und reagiert weder auf
Licht, nach Akkomodation. Zunge zeigt beim Herausstrecken kein
Zittern, das Zäpfchen weicht etwas nach rechts ab. Rachenreflex ist
erhalten. Doppelseitiger, reponibler Leistenbruch. Der Penis zeigt
im sulc. coron. eine kleine Narbe. Kein Zittern der ausgespreizten
Hände; alle Sehnenreflexe sind da und normal. Die Berührungen mit
der Nadelspitze und -Kuppe werden nicht unterschieden. Am ganzen
Körper besteht Hypalgesie. Man kann durch eine Hautfalte eine
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Über Kleiderfetischismus usw.
163
Nadel ohne Reaktion durchstechen. Auch die Empfindung für warm
und kalt ist stark herabgesetzt. Der Gang ist sicher, die Sprache
undeutlich und schwerfällig, Silbenstolpern und hier und da wird ein
Buchstabe ausgelassen.
Soweit also die uns interessierenden Notizen, die freilich bezüg¬
lich verschiedener Details mager genug ausgefallen sind. Wir haben
vor uns einen zweifellosen Paralytiker, der sich im 20. Jahr etwa
infizierte. Er ist sehr schwer erblich belastet, was man bei solchen
Kranken gar nicht so selten sieht; Ziehen gibt ihre Zahl auf kaum
10 Proz. an, während die Zahl einfach erblich Belasteter zwischen
30—50 Proz. und noch mehr schwankt, eine Zahl, die nahe an die bei
den andern Psychosen gefundenen herankommt. Dasselbe ist mit der
Zahl der von Geburt an Abnormen der Fall, so daß meine seit Jahren
verteidigte These: die Paralyse setze ein ab ovo abnormes Gehirn
voraus, und zwar spezifischer Art, das nach einer Gelegenheitsursache,
gewöhnlich nach Erwerb von Syphilis, die Paralyse zum Ausbruch
kommen lasse, immer mehr Anhänger gewinnt. In unserem Falle
liegen Geisteskrankheiten, Selbstmord und Alkoholismus in der Aszen-
denz vor und zwar auf beiden Seiten der Eltern. Wieder spielt also
hier der Alkohol seine böse Rolle! Interessant ist weiter, daß sein
Vater 13 Kinder hatte, Pat. selbst trotz seiner Jugend 6 und 2 Aborte.
Gerade Kinderreichtum ist, ziemlich häufig in der Ge¬
schichte von Paralytikern und Entarteten überhaupt und
wir haben einigen Grund darin ein gewisses Entartungszeichen
zu sehen, zumal damit, wie oben auch, große Kindersterblichkeit
verbunden ist. Vielleicht ist auch Mehrgeburt hier häufiger, die
gleichfalls ein Stigma zu sein scheint.
Wichtiger aber, als die schwere Erblichkeit, ist für uns die
Abnormität des Pat. von Jugend auf. Er war schlecht beanlagt, lernte
schwer und ward deshalb zu Hause viel geprügelt. Ferner neigte
er schon sehr früh zu ganz unmotivierten Zornesausbrüchen. Mit dem
11. Jahre erlitt er ein schweres Trauma gegen die Brust, vor 3 Jahren
einen schweren Sturz auf den Kopf. Leider wissen wir nicht genau,
wann das merkwürdige Vagieren, mit dem Drange nach Trinken und
Stehlen einsetzte, was er seine „Anfälle“ nannte, die, später wenigstens,
1—2 Tage dauerten, wobei er alles wußte, obgleich er später seiner
Umgebung in seinem Wesen verändert vorkam. Eigentliche Dämmer¬
zustände können es kaum gewesen sein, vielleicht war aber doch sein
Bewußtsein kein normales mehr. Jedenfalls mußte er, ohne allen
vernünftigen Grund also, vagieren, trinken und stehlen. Es war ein
impulsiver Drang und wenn er getrunken hatte, reagierte er patho-
n*
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164
VI. P. Näcke
logisch schon auf kleine Mengen. Jedenfalls sind diese merkwürdigen
Zustände, die man wohl als epileptoide bezeichnen kann, schon in der
Zeit vor seiner Verheiratung, als er noch bei den Eltern war, vor¬
gekommen. Epileptische Krämpfe waren nie vorhanden. Möglich,
daß diese Zustände mit der schweren Kontusion an der Brust im
Alter von 11 Jahren zusammen hingen oder aber mit dem Potatorium
des Vaters oder seinem entarteten Zustande überhaupt. Seit der
Pubertät onanierte Pat. und ließ es auch nicht in der Ehe, was be¬
sonders bei Entarteten der Fall ist, während bei den andern das
Laster gewöhnlich in der Ehe aufhört.
Nun kommt aber das uns speziell Interessierende. In der Ehe
— seit wann hier und wie oft? frühestens also seit 1899 — kam
noch während der besagten „Anfälle“ ein Übriges hinzu: er zog gern
die Unterröcke seiner Frau an, legte sich damit zu Bett oder lief
damit draußen herum und wurde, wenn er daran gehindert werden
sollte, gewalttätig. Er schlief schlecht und fühlte den Drang, be¬
sonders Weiberröcke sich zu verschaffen, womit er dann onanierte-
Seit dem schweren Sturz auf den Kopf, also vor 3 Jahren soll sich
sein Zustand verschlimmert haben, auch in der Zwischenzeit und erst
dann scheint er es auf fremde Weiber-Unterröcke abgesehen zu haben.
Und das führte ihn zuletzt wieder in das Gefängnis, während er
früher nur wegen Schinken- und Gelddiebstahl bestraft worden war,
die er sehr wahrscheinlich in einem seiner „Anfälle“ verübt hatte
und wofür er nicht hätte verantwortlich gemacht werden sollen, wie
auch nicht wegen seiner letzten Diebstähle. Eine gerichtsärztliche
Expertise fand jedenfalls nicht statt und erst, als er schon 1 Woche
im Gefängnisse saß, ward er als geisteskrank erkannt und nach Haus
entlassen, wo besonders Gedächtnisschwäche auffiel und der Arzt die
somatischen und geistigen Zeichen der Paralyse feststellte, die ihn
endlich der Irrenanstalt zuführten. Wann sie begann, ist nicht zu
sagen, doch scheinen nach dem Sturz auf den Kopf (vor 3 Jahren)
sein Wesen, seine Anfälle sich verschlimmert zu haben. Ich will nur
noch erwähnen, daß die Entwicklung der Krankheit eine dement ver¬
laufende Form darbot, die auch manche Abweichungen in körperlicher
Hinsicht bei der Untersuchung in der Anstalt ergab. Auf alle Fälle ist Pat.
ein wahrscheinlich leicht schwachsinniger, schwer erblich belasteter und
entarteter Menscb,— obgleich äußerliche Stigmata nicht viel anwesend ge¬
wesen zu sein scheinen — der neben andern auffälligen Symptomen auch
sich als Kleiderfetischist entpuppte, woran aber jedenfalls die Paralyse
als solche keinen Anteil hatte, sondern die allgemeine Entartung, da
er schon in seiner Ehe wahrscheinlich und frühzeitig an den Unter-
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Über Kleiclerfetischismus usw.
165
rocken seiner Frau sich ergötzte. Später suchte er solche von Fremden
zu erwischen und stahl sie.
Wenden wir uns jetzt allgemeineren Betrachtungen über Kleider¬
fetischismus zu. Als Fetischismus bezeichnet man (nach Rohleder 1 ),
p. 213), „die Auslösung von geschlechtlichen Wollustgefühlen durch
einzelne Körperteile resp. gewisse Kleidungsstücke des andern Ge¬
schlechts (eventuell durch bloße Vorstellung solcher i. e. ideeller
Fetischismus)“. Diese Wollustgefühle können nun zum normalen
Beischlaf führen oder, wie meist, nur zur Onanie, oder das bloße Wollust¬
gefühl selbst oder ein dem nahestehendes angenehmes, mehr minder
sexuell gefärbtes Gefühl, bringt allein schon volle Befriedigung hervor.
Damit ist bereits eine Skala der Degenerationsstufen gegeben. Je
mehr der Drang nach dem Coitus zurücktritt, um so dis¬
soziierter und anormaler ist der Geschlechtstrieb. Ara
schlimmsten ist daher der „ideelle“ Fetischismus, wo also schon die
bloße Phantasie zur sexuellen Befriedigung genügt. In gleicher Weise
muß die sexuelle Hyperästhesie und reizbare Schwäche zunehmen.
Freilich ist jeder Fetischismus, also auch der mit Kleidern,
zugleich ein physiologischer, also nicht nur ein pathologischer.
Hier sind vorwiegend Quantitätsunterschiede entscheidend. Die sexuellen
normalen Reize sind außerordentlich verschiedenartige und gewöhnlich
sind verschiedene miteinander verbunden. Das Bedürfnis des Menschen,
insbesondere des Mannes, verlangt nach solcher Mannigfaltigkeit und
fast jeder Sinn ist mehr oder minder daran beteiligt. Die Haupt¬
sache beim Normalen ist aber das Weib als solches mit
ihren primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen.
Daneben klingen jedoch noch viele andere Reize, bewußt
oder unbewußt mit an. Jeder Teil des weiblichen Körpers reizt,
je nach dem Geschmacke bald dieser, bald jener und das bezieht
sich auch auf die Bedeckung des Körpers im ganzen oder im ein¬
zelnen. Darin liegt ja auch eine Hauptwurzel der Mode: neue
Sexualreize zu schaffen und das wissen nur zu gut die lieben
Frauen auszunutzen, wenn auch sehr oft in rein naiver Weise. Jeder
Körper wird für die Meisten durch eine elegante, knapp anliegende
1) Rohleder: Vorlesungen über Geschlechtstrieb und gesamtes Geschlechts¬
leben des Menschen. Berlin, Kornfeld, 1907. II. Bd. Verfasser macht (p. 224
speziell darauf aufmerksam, daß die eigentlichen Geschlechtsmerkmale nie den
Fetisch ausmachen, und daß der Coitus nicht das eigentliche Ziel der geschlecht¬
lichen Befriedigung bildet, sondern „irgend eine Manipulation an dem betreffenden
Körperteil.“ Ich möchte aber trotzdem auch solche Leute Fetischisten nennen,
die z. B. nur mit vollbusigen oder an den Gentalien stark behaarten usw. Frauen
geschlechtlich verkehren können.
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166
VI. P. Näcke
Kleidung gehoben und wir sind alle mehr oder weniger solche Kleider-
fetischisten. Nicht mit Unrecht sagt Tolstoi in seiner „Kreuzersonate“,
die Schneiderin seiner Frau habe ihn verkuppelt, bloß daß hier doch auf
das Äußere ein besonderer Nachdruck gelegt ist, was schon einen leicht
pathologischen Anstrich hat. Denn wir verlangen, daß alle die ver¬
schiedenen Reize nur Untertöne bilden, einzeln kein besonderes
Übergewicht erlangen, selbst wenn dem Einen das Eine mehr an¬
ziehend erscheint, als das Andere.
Alle diese mannigfachen Reize unterstützen den „Kontrektations-
trieb“ und treiben der Detumeszenz, d. h. dem Coitus zu. Sobald
aber jene Reize mehr selbständig werden, ein bestimmtes
Ziel und dann den weiblichen Körper überhaupt immermehr
in den Hintergrund treten lassen, ja sich schließlich von
ihm ganz ablösen und die vorwiegende oder alleinige Befriedigung
des Kontrektationstriebes ausmachen, sogar an sich schon die Detu-
mescenz eintreten lassen, dann ist die Schwelle des Normalen
überschritten und wir sind auf dem Gebiete des Pathologischen.
Bis dahin gibt es aber alle möglichen Übergänge. Dabei kann zunächst
noch der normale Beischlaf mit der den Fetisch tragenden Person
möglich sein. Bald aber wird er nur schwer ausgeführt, bringt keine
Befriedigung, wohl aber die Onanie mit oder ohne den betreffenden
Körperteil oder ohne das Kleidungsstück zu berühren oder es genügt gar
schon das bloße Sehen, Betasten usw. zum Orgasmus mit oder ohne Eja¬
kulation. Schließlich trittdies schon beim bloßen Vorstellen dieser Dinge ein.
Betrachten wir hier allein den Kleiderfetischismus, so Sehen wir
alle jene einzelne Stadien vom Normalen bis tief in das Pathologische
hinein. Zuerst der normale, gesunde Fetischismus; dann die bloße
ganze Kleidung an einer x beliebigen weiblichen Person, endlich der
sog. Kostümfetischismus,, z. B. das Anziehende der Kleidung einer
Krankenschwester, einer Amme, Köchin, Witwe in Trauerkleidern usw.
für manche. Aber das Weib muß doch immer noch drin stecken und
nur dann ist der Goitus möglich; manche verlangen sogar eine junge
und hübsche Person. Das also ist erst halbpathologisch. Ganz patho¬
logisch wird aber diese Art von Fetischismus, wenn man vom Weibe
überhaupt ganz abstrahiert und nur die Kleidung an sich bewundert
und sich dadurch geschlechtlich aufregen läßt, also sie allein für sich,
getrennt von der Person, haben will. Schlimmer steht es noch, wenn
bloß einzelne Teile: Rock, Schuh, Strumpf usw. genügen, da dann von
der ganzen Person noch mehr abstrahiert werden.
Versuchen wir nun ein Schema des Kleiderfetischismus
aufzustellen, so könnte vielleicht folgendes gewisse praktische Rieh-
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Über Kleiderfetischismus usw.
167
tungslinien angeben, wobei icb nur von den ganz pathologischen
Fällen spreche. Geschlechtlich reizen dann
- 1. Oberkleider, a) im Ganzen, b) in Teilen.
2. Unterkleider, a) im Ganzen oder in der Mehrzahl, b) nur
einzelne Teile davon.
3. Diese Sachen an der Person oder davon losgelöst. Es besteht ferner
4. Kleiderfetischismus für sich oder mit andern Perversionen
kombiniert.
5. heterosexueller, homosexueller.
6. Früh oder spät auftretend,
7. Beständig, episodisch oder periodisch.
Betrachten wir nun diese Hauptklassen etwas näher. Am selten¬
sten ist vielleicht der Oberkleiderfetischismus im Ganzen, d. h. als
Kostüm und zwar als Berufs-, Gesellschafts-, oder phantastisches Kostüm.
Dabei kann der Fetischist die Kleidung nur bewundern, wenn sie vom
weiblichen Körper selbst getragen wird und zwar von bestimmten
Personen, z. B. der Ehefrau, Geliebten usw. oder jeder beliebigen
und er kann eventuell nur unter diesen Umständen kohabitieren. *) Oder
der Fetiscbist will das Kostüm usw. selbst tragen oder endlich er Fat
es vor sich, besieht, betastet es usw. und regt sich so auf. Bei der
Kleidung — es gehört dazu natürlich auch der Hut — kann nun
der Stoff, die Farbe, der Besatz usw. speziell das Anziehende sein.
Das ist schlimmer, als wenn es z. B. das knappe Anliegen ist, welches
die sexuellen Formen besser vortreten läßt und somit wenigstens einen
sexuellen normalen Anklang hat. Dahin gehört z. B. auch die weiße
Kleidung, weil sie durch Ideenassoziation an Unschuld erinnert, oder das
ausgeschnittene Kleid usw. Stoff, Schwere haben mit der Sexualität
kaum etwas zu schaffen, eher schon außer dem Weiß noch die rote, sexuell
erregende Farbe und das Knistern seidener Unterkleider. Auch etwaige
Parfüms reizen noch sexuell. Von den Teilstücken der Oberkleidung
ist die Schürze der gesuchteste Artikel und sexuelle Beziehungen lassen
sich hier leicht konstruieren, wie schon Volk und Sprichwort es wissen.
Eine Stufe tiefer im Pathologischen scheint mir der Fetischismus
der Unterkleider zu stehen, da sie ja für gewöhnlich nicht oder nur
sehr unvollkommen zu sehen sind. Gerade das Verborgene reizt aber
hier und wenn es gelingt eine Frau in ihrem ganzen Unterkostüm
oder in einzelnen Teilen desselben zu sehen, so reizt dies sicherlich
schon mächtig viele Normale, da hier durch näheres Anliegen am
1) Eine spezielle Art sind die „AuskleidefetiscMsten“ (siehe Bloch), Beiträge
zur Ätiologie der Psychopathia sexualis, Dresden 1902, p. 353.
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VT. P. Näcke
Körper die Formen desselben, die das innere Auge sucht, sich deut¬
licher ausprägen. Dies geschieht auch, wenn der Rock, die Wäsche
weiß erscheint, vor allem aber reizt das Ausströmen des Körperduftes,
dem gegenüber manche unrettbar verloren sind. Das alles wirkt auf
den pathologischen Fetischisten noch mehr oder allein ein. Von den
andern Kleidungsstücken scheint der Strumpf die meiste Anziehungskraft
zu haben, vielleicht aber noch mehr der Schuh, offenbar, weil diese am
ehesten sichtbar sind. Das Korsett kommt weniger m Frage merkwür¬
digerweise auch das Hemd, das doch die intimsten Reize, berührt und am
meisten vom „parfum delafemme“ durchtränkt ist. Öfter schon der Unter¬
rock, wie in unserem Beispiel. Mit Vorliebe werden seidene, weiße oder
bunte gesucht, die bei der Bewegung jenes für viele so reizende frou-
frou erzeugen und beim Betasten so oft angenehm sind. Von dicken,
wollenen hört man wohl nie, dagegen sind wieder weiße 1 ) sehr gesucht,
besonders wenn mit Spitzen besetzt, wie in unserem Falle und am
liebsten frisch gewaschene, gestärkte. Der Geruch frischer Wäsche
ist angenehm. Es gibt zwar auch Liebhaber von getragener Wäsche,
doch ist dies viel seltener der Fall 2 ); der Ekel überwiegt hier.
Manche lieben durchnäßte Kleidungsstücke. In unserem Falle wurden
bloß Unteröcke gesucht, sonst werden auch oft andere Stücke
gleichzeitig beliebt, wie in den Beobachtungen 110 u. 112 bei von
Krafft-Ebing 3 ) (S. 192, 194), wo zugleich Strümpfe usw. in Be¬
tracht kamen.
Alle Ober- oder Unterkleider im Ganzen können weiter, wie wir
schon sahen, ihren Wert erhalten, je nachdem sie von einer weiblichen
Person getragen werden oder aber vom Fetischisten selbst oder nur
gesammelt, besehen, betastet, berochen werden. In allen 3 Fällen ist
es aber immerhin denkbar, besonders beim Sammeln, daß bloß ein
ästethischer Wert den Dingen beigelegt wird, kein irgendwie sexu¬
eller. Das Farbenspiel, die Harmonie der Farben, der Schnitt, der Stoff,
der Besatz mit Spitzen usw. gewährt sicher schon dem Normalen
einen ästethischen, künstlerischen Genuß, der bar jeder sexuellen
Regung bestehen kann, wie das Betrachten nackter Statuen.
1) Wulffen (Der Sexualverbrecher, 1910, Groß-Lichterfelde, Langenscheidt)
vermutet (p. 543), daß weiß deshalb sexuell reize, weil alle Farben im Spektrum
das Weiß enthalten. Das dürfte kaum zutreffen, da rot an sich geschlechtlich
viel wirksamer ist, als weiß. Bei weiß spielt die Assoziation mit der Farbe der
Unschuld wohl die Hauptrolle, daneben die der Reinheit an sich.
2) Nur das Taschentuch, das beim Kleiderfetischismus mit an erster Stelle
steht, wird nicht lieber im gebrauchten, als gewaschenen Zustande gesucht, da es
von Parfüm usw. durchduftet ist.
3) Krafft-Ebing; Psychopathia sexualis, 13. Aufl. Stuttgart, 1907.
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Über Kleiderfetischismus usw.
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Spitzen sind ein reizendes Kunstprodukt und heben sich noch
mehr am rechten Platz. Dem Künstlerauge können unter Umständen
alle Kleidungsstücke, auch die verborgenen einen Reiz als Kunst¬
werke darbieten und so zu Sammlungen Anlaß geben, die also an
sich noch nicht ohne weiteres für sexuellen Fetischismus
sprechen. 1 ) Nur wenn eine Menge gleicher Stücke, gleicher Farbe
usw. da sind, wird die Sache sehr verdächtig, aber noch weitere
Indizien müssen erfolgen, um die Sache sicher zu stellen. Auch ist
das Tragen von weiblichen Kleidungsstücken seitens der
Männer nicht'stets ein Fetischismus. Wir haben da zunächst
effeminierte Homosexuelle, die zu Hause oft auch außer dem¬
selben in Frauenkleidern gehen und Frauenwäsche tragen. Einen solchen
lernte ich in Berlin kennen. Das geschieht aber hier nicht aus sexu¬
ellem Fetischismus, sondern weil sie sich weiblich fühlen und sich in
dem Weiberkostüme am meisten gefallen. Der Orgasmus wird sicher da¬
durch nicht angeregt! Endlich gibt es noch Leute, die ohne Homo¬
sexuelle, ohne Effeminierte zu sein — Letzteres kann ja auch einmal
ohne Inversion bestehen! — sich zu Hause gern weiblich kostümieren,
wohl auch so ausgehen, bloß aus Liebe zu Vermummungen,
wie wir ja wissen, daß manche Künstler zu Hause sehr phan¬
tastisch sich kleiden, so z. B. der englische Bildhauer Lucas, der
angebliche Verfertiger der michelangelesken Florabüste in Berlin
als Rembrandt. 2 ) Also auch hier gilt es Vorsicht üben! Bei Geistes¬
kranken könnten noch wahnhafte Ideen verschiedener Art zum Tragen
von Frauenkostümen Anlaß geben. —
Der Kleiderfetischismus kann sich auch mit anderen
sexuellen Perversion en verbinden, wie mit Masochismus, Sadis¬
mus, Exhibitionismus 3 ) usw., doch besteht er meistfiirsich. Leise Anklänge
daran finden sich aber wohl stets. Eine gewisse masochistische Wurzel be¬
steht wenigstens oft, besonders beim Anziehen eines Kostüms, oder von
Frauenstrümpfen, besonders aber von Frauenschuhen. Mit der Idee
1) So sammelte z. B. ein berühmter Professor der Gynäkologie Schanihaare
seiner Patientinnen, die für ihn sehr wahrscheinlich nur wissenschaftliches Interesse
hatten. Anders bei einem Don Juan, der dasselbe nach jedem Coitus ausführte
und die Haare dann mit dem Datum der Gewinnung auf einen Karton aufklebte!
2) Siehe über die merkwürdige Verkleidungssucht das neue Buch von Magnus
Hirschfeld: Die Transvestiten, 1910. Berlin, Pulvermacher.
3) Daher kommen Exhibitionisten nicht selten auch auf Bleich- und Wasch¬
plätzen vor und dann also nicht allein wegen der weiblichen Personen dort,
sondern wegen ihrer speziellen körperlichen oder Kleidungsreize oder wegen der
ausgehängten Wäsche. Auch das Aufbauschen der Wäschestücke durch den Wind
und das dabei entstehende Geräusch usw. wirken sicher teilweis mit aufregend.
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170
VI. P. Näcke
der Frauenklei düng ist ja ohnehin jene einer Unterwerfung des
passiven Teils sehr leicht gegeben, mit ihr. aber auch ihre Kehrseite,
die der Herrschsucht, des Sadismus. Auch der Diebstahl kann z. T.
gewiß durch den Reiz des Verbotenen eine sadistische Wurzel haben.
Endlich kann jeder Kleiderfetischismus auch bei Homo¬
sexuellen vorkomm en, also werden dann die Fetische des gleichen
Geschlechts gesucht. So kommen hier auch Wäsche-, Stiefel-, Tasehen-
tuchfetischisten vor. Immerhin sind das wohl immer nur seltene Fälle,
wenn sie vielleicht auch relativ häufiger Vorkommen mögen, als bei
den Heterosexuellen. Die Psychologie ist die gleiche wie dort, auch
die der Betätigung der libido. Diese haben wir ja schon oben bez.
der Heterosexuellen beschrieben. Seltener führt der somitsche oder
„geistige“ Fetischismus als präparatorischer Akt zum Coitus. Meist
wird mit dem Fetisch selbst, oder im Anblicke desselben oder hinter¬
her oder erst nach Wachrufen des Bildes durch die Phantasie onaniert
oder bloß ejakuliert und damit begnügt sich der Fetischist oder es kommt
nicht einmal dazu, sondern zur bloßen inneren Befriedigung, die sicher
hier eine sexuelle darstellt. Ja, es können des Fetisches halber wahre
Eifersuchtsszenen stattfinden, wie z. B. im Falle von Boas (1. c.).
In vielen Fällen tritt diese Art von Fetischismus schon in der
Kindheit auf 1 ) oder während der Pubertät, scheinbar aber doch am
häufigsten in späteren Jahren, obgleich die Wurzeln wohl gewöhnlich
weit zurück liegen. In unserem oben mitgeteilten Falle geschah es
erst anscheinend in der Ehe, und zwar anfallsweise 2 ). Der Drang nach
dem Fetisch kann nämlich ein beständiger sein oder nur ein episo¬
discher, oder endlich ein periodischer, wie in unserem Falle und im
32. Falle von Moll 3 4 ) (p. 284). Am seltensten scheint die Episode zu
sein. Vor einigen Jahren hatten wir einen Paranoiker, einen Bauern,
wenn ich nicht irre, der in der letzten Zeit vor Einlieferung in die Irren¬
anstalt stundenlang in den Kleidern seiner Frau im Zimmer sich auf¬
hielt, was wohl sexuell bedingt war. Das war wohl blos eine Episode.
Was das Geschlecht anbetrifft, so sind die Kleiderfetischisten
1) Wie Bloch (1. e. p. 319) ausführt, ist besonders das Kindesalter zu
vorübergehenden fetischistischen Neigungen disponiert, wie überhaupt zu
sexuellen Perversionen. Ich muß gestehen, daß ich hiervon im allgemeinen nichts
gesehen habe und dies daher für nur selten halte.
2) Bei dem periodischen, anfallsweisen Fetischismus wird man immer zunächst
an Dämmerzustände, besonders epileptischer Art, denken müssen.
3) Moll: Untersuchungen über die Libido sexualis. Berlin 1897/98.
4) Rohleder (1. c. p. 223) behauptet, daß die leichteren Fälle von Feti¬
schismus mehr verbreitet sind, als man glaubt, da sie dem Publikum als Perver¬
sionen nicht zum Bewußtsein kommen.
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Über Kleiderfetischismus usw.
171
fast ausschließlich Männer, die sich ja überhaupt durch die
Häufigkeit und Mannigfaltigkeit sexueller Perversionen auszeichnen 4 ).
Sie sind auch libidinöser als die Frauen und leichter zu sexueller
Hyperästhesie geneigt. Unter Frauen dürfte noch am ehesten bei
homosexeullen hie und da einmal solcher Fetischismus Vorkommen.
Wie die Perversionen überhaupt, so sind sicher auch die Kleiderf eti-
schisten am häufigsten in der Großstadt und in den
oberen Schichten. Überkultur, Langeweile, Degeneration, der
Alkohol, usw. bedingen das. Zwar ist wiederum in den untersten
Schichten, denen der Proletarier, die Entartung eine sehr große — die
mittleren Schichten sind davon am meisten frei —, aber die schwere
Arbeit, die Sorgen um das tägliche Brot lassen hier für abnorme
Neigungen wenig übrig.
Wie steht es nun mit der Vererbung? Mir ist zwar kein Fall
aus den üblichen Lehrbüchern bekannt, wo Vater oder Mutter des
Fetischisten gleichfalls Fetischisten waren, aber möglich ist es doch,
und dann ist natürlich nur eine Disposition vererbt zu einer sexuellen
Reaktionsfähigkeit auf perverse Reize, also ohne den speziellen Inhalt,
jedoch von besonderer Art. Dagegen ist es gewiß öfter der. Fall,
daß andere sexuelle Perversionen in der Aszendenz vorhanden sind
und diese sich nur quasi transformiert haben 1 ).
Und das führt uns nun zu der wichtigen Frage: Ist der Feti¬
schismus überhaupt und hier im besonderen der Kleiderfetischismus
angeboren oder erworben? Die meisten Autoren stimmen jetzt darin
überein, daß wenn sicher auch der Fetischismus in seiner besonderen
Ausdrucksweise nicht angeboren sein kann, so doch sehr wahr¬
scheinlich die Disposition dazu es ist und zwar, wie Moll (1. c.
p. 499) sagt, als sexuelle Reaktionsfähigkeit auch perverse Reize.
Den Inhalt bestimmen besondere Erlebnisse, die oft bis in
die Kinderzeit zurückliegen oder erst während der Pubertät
oder gar später eintreten, Zufälligkeiten, hier der Kleidung oder
Unterwäsche usw., die gerade mit einer sexuellen Erregung zusammen¬
fielen, wodurch der Orgasmus und das Kleidungsstück als Reiz in
festere assozierte Verbindung traten und beim Anklingen desselben
1) Das würde aber wohl besser als allgemeine Vererbung der Entartung zu
deuten sein und Jung (Boas 1. c. 205) geht offenbar viel zu weit, wenn er die
Vita sexualis der Eltern als entscheidend für die des Kindes hinstellt. Gerade
bei der Homosexualität sehen wir die geringe Bedeutung jenes Faktors.
1) Übrigens hat schon vor Freud Binet (Bloch; 1. c.) stets ein
sexuelles Ereignis verlangt. Und Bloch (p. 357) hält es für wichtig, daß die
ersten geschlechtlichen Regungen beim Mann oft in Gegenwart bekleideter
Weiber eintreten und oft zuerst mit solchen befriedigt werden.
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172
VI. P. Näcke
oder eines ähnlichen Reizes die sexuelle Erregung auftrat. Daher
kommt es, daß fast ausnahmslos immer nur dieselben
Fetisch e reizen, selten wechseln. DieseErlebnise sind oft sehr banal
und namentlich in der Großstadt bei Schritt und Tritt zu haben, so-
daß allein schon dadurch das fast überragende Gewicht der
angeborenen Disposition klar wird. Geradeso, wie bei der
echten, angeborenen Homosexualität die etwaige sog. Gelegenheitsursache
meist ganz banal ist und deshalb oft vergessen wird. Unzählige
Normale haben Ähnliches erlebt und doch wird dadurch niemand
Fetischist, Masochist oder Homosexueller. Daher übertreibt Freud und
seine Schule entschieden die Bedeutung des sog. sexuellen Erlebnisses 2 ).
Rohleder (1. c. p. 224) meint, daß es nicht ein besonderes Ereignis
sei, sondern daß eine Reihe ähnlicher einwirken müssen, um einen
anhaltenden Eindruck zu machen. Wenn letzteres der Fall — und
ich glaube mehr an ein ganz bestimmtes vereinzeltes Ereignis
— dann würden vielleicht gewisse Berufe, wie Kürschner, Schneider,
Schuster, Strumpfwirker usw., mehr Fetischisten stellen, als andere,
was mir nicht bekannt ist. Wir könnten uns die ererbte oder ange¬
borene Disposition etwa so denken, daß eine abnorme oder gar alleinige
Reaktionsfähigkeit auf heterogene Reize, die sonst nur wenig wirken,
dem Embryo eingeboren wären. Ähnlich beim Sadismus und Maso¬
chismus eine Disposition zur Grausamkeit oder Unterwerfung im
allgemeinen, welche gleichzeitig hier mit sexuellen Empfindungen
verbunden ist. Zufälligkeiten entscheiden dann in allen
diesen Fällen über den bestimmten, sehr variablen Inhalt. 1 )
Woher aber kommt diese Diposition? Offenbar ist sie ein Teil
einer überkommenen leichteren oder schweren Entartung,
hervorgerufen durch Krankheiten aller Art der Eltern, durch Trunk¬
sucht, Geistes-, Nervenkrankheiten usw., kurz durch elterliche Vor¬
gänge, die die Geschlechtszellen depotenziert haben. Wir finden denn
auch in der Geschichte der meisten Fetischisten, Masochisten und
Sadisten solche schädigende Einflüsse der Keimanlagen, aber es ist
auch möglich, daß der Embryo erst im Uterus oder gar später nach
der Geburt bösen Erkrankungen ausgesetzt ist und dadurch minder¬
wertig wird. Ja, es kommen wohl sicher sogar Fälle vor, wo
man während des Lebens nichts von körperlicher und geistiger
1) Freilich will ich nicht verschweigen, daß Rohleder den Fetischismus
für mehr erworben hält, als den Sadismus und Masochismus und auch Ingegniero s
(Patologia de las funciones psicosexuales, Archivos de Psiquiatria usw. 1910, p. 46)
sagt, daß Fetischismus ebenfalls durch schlechte Angewöhnung erworben sein
könne (ya por häbitos anormales conträdos en el corso de la experiencia sexual.
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Über Kleiderfetischismus usw.
173
Minderwertigkeit spürt, wie in den meisten vorigen Fällen und wo
auch keine erbliche Belastung vorzuliegen braucht und doch sehen wir
Fetischismus etc. auftreten. Wenn hier also Entartung dennoch vor¬
liegen sollte, so ist sie so gering, daß sie praktisch im Leben — 0 ist.
Rohleder (1. c. p. 222) glaubt, daß bei Masochismus und Sadismus
eine stärkere Entartung angenommen werden muß, als beim Fetischis¬
mus; ich glaube es kaum. Hier wie dort können alle Grade
von Degeneration Vorkommen, wie auch bei der Homosexuali¬
tät, nur mit dem Unterschiede, daß bei letzterer sicher Entartung
weit seltener angetroffen wird, es sich sogar fragt, ob sie hier über¬
haupt häufiger als bei Heterosexuellen ist. Es kann bei allen Perver¬
sionen selbstverständlich auch Psychose mit vorliegen oder die Per¬
version tritt erst im Verlaufe der Psychose auf — vielleicht war es
in unserem Falle so — ohne daß wir letztere sicher als Ursache
der ersteren bezeichnen könnten.
Bevor wir nun das Forensische berühren, gilt es erst, die Diagnose
festzustellen. Wir führten schon oben aus, daß durchaus nicht jedes
Sammeln von Kleidungsstücken, jede Kostümierung usw. ohne weiteres
schon als Fetischimus hinzustellen ist. 1 ) Es muß nachgewiesen werden,
daß es sich um einen wirklich sexuellen Fetischismus handelt,
wofür man verschiedene Anzeichen haben kann, teils durch Verhör
des Betreffenden, noch mehr aber eventuell durch Zeugen. Besonders
istOnanie mit dem Fetisch oder hinterdrein so gut wie entscheidend, wenn
dies in gleicherweise sich immer wiederholt. Auch ist es stets verdächtig,
wenn der Fetisch mit ins Bett genommen wird, wo er zu onanistischen
Zwecken meist gemißbraucht wird. Ganz außerordentlich wichtig
sind die Träume, die freilich in großer Menge schwer erhältlich
sind und leider immer nur auf subjektiven Angaben beruhen, wenn
wir es nicht etwa mit einem laut Träumenden zu tun haben, dessen
Reden gehört werden. Der Fetischist träumt speziell nur
von seinem Fetisch und nur dabei hat er Pollutionen 2 ).
Leider wurde auf diesen Punkt bisher zu wenig geachtet; wo es ge¬
schah, fand man Obiges stets bestätigt. Noch weitere Indizien können
hinzukommen, die den Fetischisten sehr belasten, so besonders wenn
er die Fetische stiehlt und trotz Strafen es immer wieder tut.
So lange der Fetischist zu Hause seiner Passion obliegt mit gc-
1) Die Meisten betreiben die Sache sehr heimlich und leugnen daher zu¬
nächst. Auch können sexuell Hyperästhetische schon vor Hemden usw. (pars pro
toto!) mit oder ohne Exhibition eine Ejakulation haben, ohne Fetischisten zu sein.
2) Darauf macht schon ganz speziell Fere (L’instinct sexuel usw. Paris
1899, p. 144) aufmerksam.
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VI. P. Näcke
schenkten, erborgten oder gekauften Sachen, so lange ist ihm nichts
anzuhaben. Erst wenn die Rechte Dritter geschädigt werden, dann
kommt der Fetischist vor Gericht. Das kann nun auf Grund
verschiedener Reate geschehen. Er könnte z. B. gewisse Sachen
erschwindeln oder sich das Geld dazu stehlen, um solche zu kaufen,
oder deshalb Schulden machen. Am häufigsten jedoch treten Diebstahl
und Raub ein und zwar der aufbewahrten Sachen oder der Wäsche
auf den Bleichplätzen usw., wohl selten vom Körper selbst. Merz-
bach 1 ) (p. 102) nennt solche Diebe sehr glücklich: „fetischistische
Flatterfahrer“, um im Rotwelsch zu reden. Ja, der Betreffende
könnte vielleicht deshalb sogar Einbruchsdiebstahl begehen und nicht
von der Hand zu weisen ist auch die Möglichkeit, die glücklicher¬
weise bis jetzt wohl noch nicht beobachtet wurde, daß sogar ein Mord
deshalb geschieht. Beim Körperfetischismus ist dies schon leichter
denkbar und vielleicht beruht mancher Lustmord z. T. auch auf
körperlich fetischistischen Neigungen. Verbindet sich mit dem Kleider¬
fetischismus noch Sadismus, dann können Sachbeschädigungen Vor¬
kommen: Zerschneiden der Kleider usw. mit Messern, Beschmutzen,
Beflecken mit Tinte usw. Oder es geschehen unzüchtige Handlungen,
z. B. beim Frotteur, obgleich ich glaube, daß gerade beim letzteren,
wie auch beim sog. Voyeur das fetischistische Moment nur selten aus¬
schlaggebend ist, meist sogar ganz fehlt 2 ). Endlich könnte der Fetischist
beim Onanieren mit Fetischen usw. an belebten Orten ertappt 3 ), und
deshalb wegen Erregung von Handlungen gegen den Anstand vor
Gericht kommen. Damit haben wir, glaube ich, die hauptsäch¬
lichsten in Betracht kommenden Reate des Kleiderfetiscbisten erwogen.
Die 1. Frage ist nun die: Ist der Betreffende zurechnungsfähig
oder nicht? Da, wie wir sahen, die meisten Fetischisten mehr
minder Entartete sind, viele darunter gewiß geistes-, nervenkrank,
epileptisch, hysterisch usw., so ist zu verlangen, daß in jedem
Falle ein Psychiater zugezogen, in schwierigen aber eine
Beobachtung in der Irrenanstalt beschlossen werde.
Sicher ist nicht jeder Fetisch ist unzurechnungsfähig. Die
- R
1) Merzbach: Die krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinns.
Wien 1909.
2) Einen höchst interessanten Fall, wo der Frotteur speziell auch durch die
Kleider gereizt ward, also nebenbei Fetischist war, erzählt Ingegnieros (1. c.
p. 50). Hier ist besonders die psychologische Entwickelung der Perversion be¬
merkenswert.
3) Für manche ist gerade die Gefahr ertappt zu werden sehr wesentlich für
den Orgasmus. Das dürfte so manche gewiß mit bestimmen, die Fetische zu
stehlen.
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Über Kleiderfetischismus usw.
175
große Masse dürfte es Wohlsein, wenigstens quoad actum, doch wird
es auch vermindert Zurechnungsfähige geben und sogar,
wenn auch viel seltener, ganz Zurechnungsfähige, die
natürlich voll zu bestrafen sind. Bei anfallsweisem Auftreten von Kleider¬
fetischismushat man zunächst an Dämmerzustände, besonders epileptischer
Art zu denken. Wo nicht direkt Psychose, schwere Neurose oder hoch¬
gradige Entartung vorliegt, kommt es vor allem auf die Stärke
der libido an, die zu den abnormen Handlungen drängt. Meist ist
bei diesen Entarteten dieselbe gesteigert, es besteht sexuelle Hyper¬
ästhesie, die aber eben in concreto erst nachgewiesen werden muß,
was durchaus nicht so leicht ist. Noch schwieriger wäre es jedoch,
eine etwaige Zwangsvorstellung zu konstatieren. Was heißt ferner:
„Ununterdrückbarkeit der libido? was: verstärkte libido?“ Hier
läuft viel Subjektives mit unter *). Wo die fetischistischen Handlungen
sich häufen und auch wiederholte Strafen nichts nützten, dann dürfte
man praktisch die „Ununterdrückbarkeit“ annehmen und den § 51
aufstellen. Sonst aber wirken bei schwächerer libido die Strafan¬
drohungen 1 2 ) doch und praktisch wäre es vielleicht den 1. und 2. Fall
bei einem Entarteten mit milderer Strafe zu ahnden, bis weitere Fälle
die Unkorrigierbarkeit erweisen. Was ist aber in solchen Fällen zu
tun ? Geisteskranke, Epileptische, schwer Hysterische usw. wird man
der Irrenanstalt übergeben, die anderen mehr Zwischenanstalten und
da es solche z. Z. noch nicht gibt, am besten wohl Arbeitshäusern
usw. und zwar zur längeren Unterbringung mit Versuchsurlauben.
Da die Handlungen der Kleiderfetischisten meist nicht gefährlich sind,
so braucht man diese jedenfalls nicht dauernd zu internieren.
Ob es möglich ist, Fetischisten durch Hypnose oder Wachsug¬
gestion oder durch Psychoanalyse zu heilen, wird vom jeweiligen
Falle abhängen. Leichter Fetischismus dürfte günstige Chancen
bieten, schwerer, besonders aber komplizierter sicher nicht, ebenso¬
wenig wie ein echter Homo- in einen Heterosexuellen verwandelt
werden kann, wenn sein abnormes Empfinden stark ausgeprägt erscheint.
Im allgemeinen hält Rohleder (1. c. p. 239) die Heilungsaussichten für
den Fetischismus für etwas günstigere, als die beim Sadismus und
Masochismus, weil er ja eben letztere für schwerere Entartungsaus¬
flüsse hält, als jene, was ich jedoch nicht ohne weitereszugeben möchte.
1) Siehe Näcke; Sexualdelikte und verminderte Zurechnungsfähigkeit,
Psychiatr.-Neurol. Wochenschr. Nr. 40, 1909.
2) Daß anfangs noch eine gewisse Zurückhaltung beobachtet wird, ersieht
man zunächst daraus, daß oft (auch in unserem Falle) die Sachen zunächst der
Eljofrau oder Geliebten genommen werden, später erst die von Fremden.
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Unserem Archiv liegt nichts ferner, als gegen andere Fachzeit¬
schriften angreifend aufzutreten. Es hat sein bestimmtes Arbeitsge¬
biet, auf dem es mühsam aber, wir dürfen sagen, erfolgreich vor¬
wärts zu kommen trachtet und so hatte es bisher zu irgend einer Fehde
keinen Anlaß. Wenn aber in einem Aufsatz der Wiener „Gerichts¬
halle“ vom 13. Febr. 1910 unter „Tages- und Standesfragen“ gleich
drei zweifellos wichtige Angelegenheiten, die unserem Arbeitsgebiete
nahestehen, mit wohlfeilen Witzen, höhnend und ohne genauere
Kenntnis der Sache abgetan werden wollen, so erscheint es mir nötig,
gegen solches Vorgehen aufzutreten.
Zuerst wendet sich der Verf. des genannten Aufsatzes gegen die
„Tatbestandsdiagnose“. Ernennt sie einen „Kümmel“ und freut sich»
daß die Untersuchungsrichter diese „moderne Folter“ nicht angewendet
haben, sie sei „ein Gesellschaftsspiel“ geblieben! Verf. weiß offenbar
nicht, daß die „Tatbestandsdiagnostik“ als wichtige psychologische
Erscheinung eingeführt wurde, daß man mit ihr gewisse, über¬
raschende Assoziationen, oft auch zum Nutzen des Vernom¬
menen erklären wollte, und wie gerade von den Vertretern der Sache
immer darauf hingewiesen wurde, daß diese Erscheinung, so interessant
sie ist, heute noch für praktische Verwertung lange nicht reif ist.
Freilich wurde die Idee vou verschiedenen Seiten, denen genaues Nach¬
denken über neue Dinge zu viel Mühe macht, angegriffen und lächer¬
lich zu machen gesucht, das ist aber schon oft geschehen und hat
nicht vermocht, einen in der Entwicklung begriffenen wichtigen Ge¬
danken umzubringen. Wer die Fragen der „Tatbestandsdiagnostik“
wirklich kennt, wird sie gewiß weder ein Spiel noch eine Folter,
sondern eine psychologische Erscheinung nennen, die genaueren Stu¬
diums wert ist und dieses auch findet.
Noch erstaunlicher ist, was Verf. über die Daktyloskopie sagt,
indem er prophezeit, daß „die Periode ihrer Wunder bald abgetan
sein wird“ — weil die Verbrecher „Glacehandschuhe“ anziehen
werden! Daß dies schon seit langem hier und da vorkommt, wissen
wir ebenso, wie wir noch andere, viel ernstere Gefahren kennen, die
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der unersetzlich wertvollen Daktyloskopie scheinbar drohen, und die
dem Verf. unbekannt zu sein scheinen. Aber es gibt überhaupt keine
Einrichtung gegen Verbrecher, die sie nicht bekämpfen, ohne daß
wir deshalb darauf verzichten, sie weiter zu gebrauchen. Wir be¬
nützen auch weiter Türschlösser und Geldschränke, obwohl sie oft
von Verbrechern geöffnet werden, wir behalten unsere Gefängnisse
obwohl dann und wann Einer davongeht, ja, wir verhören die Leute
noch immer, obwohl sie uns oft anlügen. Ohne Mangel und unan¬
greifbar ist überhaupt nichts auf der Welt und ebenso wie wir heute
nicht an den allheilenden Theriak glauben, ebenso nehmen wir auch
nicht an, daß kein Verbrecher gegen die Daktyloskopie aufkommen
kann. Aber wer sich mit ihr befaßt und gesehen hat, in welch’
wirklich ingeniöser und äußerst mühevoller Weise ihre Lehren ver¬
wertet werden können, der weiß, daß da wirklich „Wunder“ geleistet
werden, die nicht spottend so genannt werden dürfen. —
Zuletzt sagt Verf., wir seien „auf den Polizeihund gekommen“.
Dies sei „der jüngste Stolz der Kriminal Wissenschaft“; er werde etwa
den Untersuchungsrichter ersetzen; vielleicht sei der Hund aber Zeuge,
und es sei zu fragen, ob er beeidet werden müsse, oder was der¬
gleichen billige Späße mehr sind. Solche kann machen, wer will,
aber dagegen muß nachdrücklich aufgetreten werden, daß Verf. hier¬
bei von „Scharlatanerien“ spricht; der Charlatan führt bewußt irre,
er gibt Kenntnisse oder Geheimnisse vor, von denen er weiß, daß sie
ihm fremd sind, er betrügt also. Die Männer, welche ihre Kennt¬
nisse, ihre Mühe und ihre Erfolge in den Dienst der Menschheit ge¬
stellt haben und wirklich Ersprießliches zu leisten vermögen, brauchen
es sich aber nicht gefallen zu lassen, daß ihre Arbeiten „Scharlatanerien,“
sie selbst somit Betrüger geheißen werden.
Ich finde keine Veranlassung, hier über selbstverständliche Dinge
zu sprechen, aber wenn es dem Verf. um die „prozessuale Stellung“
des Polizeihundes zu tun ist, so möge er sich klar legen, daß man
nur von seiner prozessualen Bedeutung reden kann, und diese ist
keine andere, als die irgend eines Instrumentes in der Hand
des Kriminalisten — etwa eines Mikroskopes, einer Wage einer
Uhr, eines chemischen Beagens — also eine Verstärkung der unvoll¬
kommenen menschlichen Wahrnehmung, in einer bestimmten Rich¬
tung: was das Fernrohr für das menschliche Auge, das ist die Nase
des Hundes für den menschlichen Geruch; wenn ein Zeuge behauptet,
er habe dies und jenes durch ein Fernrohr beobachtet und wenn
der Polizist angibt, was er mit seinem Hunde erreicht hat, so ist dies
prozessual dasselbe, und Sache des Richters ist es in beiden Fällen,
Archiv für Krimmalänthröpologie. 87. B(l. 12
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Hans Gross
zu erwägen, welchen Wert er der einen oder der anderen Angabe
beimessen kann.
Mit dem Negativismus auf allen Linien und gegen alles Neue
kommen wir nicht weiter; daß ein gewisser Skeptizismus gegen über¬
raschende Ideen, namentlich wenn sie in das Bekannte nicht rasch
einfügbar sind, wohl angebracht ist, bezweifelt niemand, aber an
ernsten, mühevollen und ehrlichen Arbeiten, die sich schon zu be¬
währen anfangen, lediglich Spott zu üben und mit einer Verdächtig¬
ung zu schließen, ist unwissenschaftlich und ungerecht.
Hans Groß.
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Kleinere Mitteilungen.
a. Von Prof. Dr. P. Näcke.
1 .
Merkwürdiges Motiv zum Kindesmord. Im Oktober 1909
las man in den Blättern eine eigentümliche Angelegenheit. In Lille hatte
ein Dienstmädchen ihr Kind getötet. Sie erklärte bei der Verhaftung ihre
Tat nun damit, daß der Vater des Kindes ein wiederholter Verbrecher ge¬
wesen sei und daß sie ein so belastetes Kind nicht haben wolle. Ich
glaube, dieser Fall dürfte in seiner Begündung einzig dastehen. Jedenfalls
wird die Täterin schwerlich freigesprochen worden sein, selbst in Frankreich,
wo die Geschworenen eine ganz unberechenbare Macht darstellen, die von
Affekten sich nur zu leicht hinreißen läßt. Die Sachlage ist hier klar
genug. Wie aber, wenn es sich um Abort gehandelt hätte ? Dann würden
selbst bei uns gewisse Juristen die Täterin vielleicht freisprechen und
manches spricht ja auch dafür, sobald man erst darüber einig geworden ist,
daß der Foetus kein eigentlicher Mensch ist. Obiges Vorkommnis zeigt
übrigens, wie weit schon heute bis in das Volk hinein die Vererbungsgefahr
von Irrsinn, Trunksucht und Verbrechen gedrungen ist. In den höheren
Ständen herrscht darüber schon ziemliche Klarheit. Ich bin aber auch von
gewöhnlichen Leuten wiederholt bez. der Vererbungsfähigkeit von Geistes¬
krankheiten befragt worden.
2 .
Ist der menschliche Foetus ein Mensch? Kürzlich habe ich
in diesem Archiv 1 ) über Strafreform und Abtreibung gesprochen und hielt
es auf der einen Seite zwar durchaus für geboten, wenn in gewissen Fällen
die Schwangere ihre Frucht abtreibt, konnte mich aber vorläufig nicht für
eine Straflosigkeit derselben entschließen, da der Foetus doch ein lebendes
Wesen sei und deshalb gestattete ich mir einen Zwischen Vorschlag zu machen.
Nun schreibt mir hierbezüglich (den 17. 11. 09) ein Jurist folgendes In¬
teressante: „ . . . Hierzu muß ich als Jurist folgendes bemerken: Mord
liegt nur vor bei Tötung eines Menschen, Steht fest, daß der Foetus
ein lebendes Wesen ist, so steht damit noch nicht fest, daß er ein
Mensch ist. Daß er als lebendes Wesen anzusehen ist, das unterliegt ja
wohl keinem gegründeten Zweifel. Da sich aber mit dem Menschen zahlreiche
Tiere sowohl in physiologischer als in psychologischer Beziehung viel besser
vergleichen lassen, als der Foetus, so vermag ich ihn als Menschen nicht
1) Näcke: Strafrechtsreform und Abtreibung, Bd. 31, 95.
12 *
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Kleinere Mitteilungen.
anzusehen. Daß dem Foetus ein gewisses Selbstbewußtsein innewohne,
das läßt sich ebensowenig beweisen als das Gegenteil, die Frage liegt eben
auf philosophischem Gebiete. Für den Juristen liegt sie jedenfalls „in
dubio“, so daß er nach dem Rechtsgrundsatz „in dubio pro reo“ zu¬
gunsten des Abtreibenden annehmen muß, der Foetus sei kein Mensch,
seine Vernichtung also kein Mord . . . Daß die grundsätzliche Strafloser¬
klärung ihre Bedenken hat, das verkenne ich keineswegs. Nur erscheint
mir eben die grundsätzliche Bestrafung noch bedenklicher . . Es
handelt sich sonach um die Kardinalfrage: ist der Foetus ein Mensch oder
nicht? Von theologischen und philosophischen Gesichtspunkten sehe ich
hier ab. In den späteren Monaten der Schwangerschaft, besonders gegen
das Ende zu, ist die menschliche Gestalt ganz evident, in ganz frühen Zeiten
dagegen viel weniger, sogar mit Tierfoeten oft sehr ähnlich. Daß der Foetus
auch schon sehr früh seine eigene Physiologie hat, ist klar. Damit muß man
wohl auch eine embryonale Psychologie zugeben, sogar der Foetus vielleicht
mit einem gewissen dumpfen Selbstbewußtsein ausgestattet. Hier gehen
nun die Meinungen auseinander: Genügen diese Daten schon, um von
einem Menschen zu reden, oder ist es nur ein lebendes Wesen über¬
haupt, das geopfert werden kann? In ganz frühen Stadien, wo also die
Menschenähnlichkeit noch sehr wenig vortritt — und hier setzt gewöhnlich
allerdings der künstliche Abort ein — würde ich mich jetzt gegen das
Mensch-Sein aussprechen, in späteren Stadien dagegen kann ich mich per¬
sönlich dazu noch nicht entschließen. Hier spielen eben Gefühlswerte noch
eine große Rolle!
3.
Schwere sadistische Verbrechen. Zu meinem neulichen Auf¬
sätze über sadistische Messerstecher erfuhr ich kürzlich durch einen früheren
Polizeiarzt einer Großstadt einige interessante Beiträge. Man fand in dem
einen Falle eine alte Prostituierte halbtot vor, da ihr der ganze Unterleib
mit Gabelstichen förmlich durchlöchert war. Ob sie daran gestorben ist,
weiß ich nicht. Der andere Fall betrifft eine alte Frau, die man tot vor¬
fand, wenn ich nicht irre. Ein Stock war ihr durch die Scheide einge¬
führt worden, nach oben gestoßen und hatte auf dem Wege die Bauch¬
höhle, die ganze Leber, das Zwerchfell und die Lunge durchbohrt und war
außen durch die Haut unter dem Schlüsselbein zum Vorschein gekommen!
Der letzte Fall gehört wohl mehr in das Kapitel des Lustmordes, vielleicht
auch der erstere, doch weiß man nichts Sicheres, da die Täter, wie leider
so häufig, unentdeckt blieben. Beide Fälle zeugen offenbar von einer
unglaublichen Roheit und Bestialität und man möchte fast vermuten, daß
die Täter Geisteskranke oder Epileptiker waren, doch muß man hierbei
stets vorsichtig sein, da auch von geistig Gesunden solche
Schandtaten berichtet wurden, sogar als bloße Racheakte, woran
immer zu denken ist, oder aus Eifersucht.
4.
Der Handteller als eratogene Zone. Bekannt als solche sind
besonders die Lippen, die Zunge (Zungenkuß), die Brustwarzen und der
After und das Volk kennt schon einiges davon. Der physiologische Zu-
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sammenhang ist hier klar. Weniger ist dies der Fall bei einer anderen
Stelle: dem Handteller. Wohl ist die Wirkung des Kitzelns an dieser
Stelle auf die Anreizung der libido den Dirnen bekannt und auch öfter
den Gebildeten. Ich kenne z. B. einen sehr libidinösen Herrn, der, wenn
er Damen die Hand gibt, sehr oft ihnen mit den Fingern gleichzeitig
den Handteller streichelt, was von ihnen z. T. auch richtig verstanden
wird und worüber sie mit Recht empört sind. Beim Volke scheint dies
aber kaum bekannt zu sein. Um so erstaunter war ich, diese Manipulation
als einen Teil eines Liebeszaubers in einigen Orten der katholischen
Schweiz zu finden. St oll 1 ) erzählt nämlich, daß wenn ein Bursche
mit einer schwarzen Krähenfeder auf dem Hute ein Mädchen besucht, diese
sich sehr vorsehen müsse. Denn wenn er die Feder herunternimmt und
damit wiederholt während des Gesprächs die innere Handfläche des Mäd¬
chens kitzelt und ihr zum Überfluß damit noch einige Mal über
den Mund hin- und herstreicht, so ist es um das Mädchen geschehen.
Der physiologische Zusammenhang ist, wie gesagt, nicht recht klar. Wohl
ist die innere Handfläche mit vielen sensiblen Nerven ausgestattet, doch
löst selbst Streicheln, geschweige denn Kitzeln hier für gewöhnlich kein
sexuelles Gefühl aus und nie entsteht solches, so viel ich weiß, durch Kitzeln
an der nervenreichen Fußsohle oder der noch nervenreieheren Fingerspitze.
Auch psychologische Gründe liegen kaum vor. Und doch hat die Erfah¬
rung den nicht seltenen sexuell anregenden Reiz von der Handfläche
aus bestätigt. Ich habe sonst im Folklore nichts Ähnliches finden können,
wie die Notiz von Stoll. Das Volk scheint also die Tatsache nicht zu
kennen, weil sie jedenfalls sehr selten ist. Bekannt ist dagegen wohl
und weitverbreitet, daß während der Menses die libido gesteigert ist, und
Empfängnis leichter eintritt. So werden, wie Stoll (1. c. p. (37) sagt, die
Mädchen an einigen Orten des Züricher Sees „strenge vermahnt, während
dieser Zeit jeden Verkehr mit den Knaben, und wenn es auch Nachbars¬
buben wären, zu meiden". Das fällt also schon in das Kapitel der Volks¬
medizin, die sehr oft die Leute nicht übel berät, so z. B. dort.
5.
Vorsicht vor dem post hoc ergo propter hoc! Das er¬
scheint zwar trivial, kann aber nicht oft genug wiederholt werden. Im
gewöhnlichen Leben schadet die Verletzung dieses Grundsatzes im allge¬
meinen weuig, in der forensischen Medizin, bei Unfallsfolgen, auch in der
Kriminalistik bez. der Indizienbeweise ist sie aber oft gefährlich. Wieder¬
holt haben sich Indizienbeweise und Verurteilungen schließlich später als
falsch und nur als eine Kette von unglückseligen Zufällen erwiesen. Der
Jurist muß also stets an die Möglichkeit des Zufalls denken, aber, wie
gesagt, auch der Mediziner, namraentlieh bez. der Wirksamkeit der Medizin
und bez. der Ätiologie. Deshalb ist bez. der Pharmakologie das Entscheidende
1. die intermittierende und 2. die vergleichende Methode. Erstere ge¬
schieht so, daß das betr. Mittel immer nur zeitweis gegeben und nachge¬
sehen wird, wie sich die Zwischenzeit verhält. Fällt z. B. das Fieber
1) Stoll: Zur Kenntnis des Zauberglaubens usw. in der Schweiz. Aus dem
Jahresbericht der Geogr.-Fthnngraphischen Gesellschaft in Zürich, 1908/9, p. 148.
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nur in die Zeiten, wo ein bestimmtes Mittel gegeben ward und zwar
wiederholt, so ist der Zufall so gut wie ausgeschlossen. Weniger gut ist
die zweite Methode, wo eine Reihe von Patienten mit einem Mittel be¬
handelt wird, eine andere gleicher Erkrankung nicht. Zwei kleine Erlebnisse
des Alltagslebens führten mir neulich wieder die geforderte Vorsicht zu
Gemüte. Wir saßen im ärztlichen Konferenzzimmer um die Mittagsstunde,
als wir alle ein pfauchendes Geräusch hörten. Ich meinte, es müsse wohl
der Wind im Kachelofen sein, ein Kollege glaubte dagegen eher an ein
Arbeiten einer Nähmaschine oben. Ein anderer stand auf und schloß die
untere, offen gelassene Ofentür. Sofort verschwand das Geräusch und ich
sagte etwa: na, es war also doch der Wind! Nur 2—3 Min. später hörte
man aber wieder das Geräusch und nun war es klar, daß die Nähmaschine
oben den Anlaß dazu gab. Wäre es jetzt nicht geschehen, so hätten
sicher alle geschworen, es sei Wind gewesen. Oder ein ander¬
mal: Ein Patient, der öfter schlecht schlief, erhielt ein Schlafmittel, das
auch wirkte. Ein solches ward bei einer neuen Gelegenheit gegeben und
freudestrahlend sagte er mir, wie gut er geschlafen habe. Na, Sie sehen,
meinte ich, wie gut das tut. Im gleichen Moment sprach der Pfleger:
Patient hat das Mittel nicht genommen, da es ihm zu schlecht schmeckte,
was jener auch bestätigte. Wäre es mir nicht gesagt worden, so hätte
ich steif und fest an die Wirkung des Schlafmittels hier geglaubt.
6 .
Ärztliche Zwangsuntersuchungen. In der Zeitschrift „Die
neue Generation“ findet sich 1909, p. 502 folgende Notiz. „In einem
Leipziger Großbetrieb hat sich, wie der „Leipziger Kampf“ berichtet,
folgendes zugetragen: Man fand in einem der Toilettenräume den Leich¬
nam eines neugeborenen Säuglings. Das betreffende Unternehmen be¬
schäftigt etwa 200 weibliche Angestellte, da durfte die Möglichkeit nicht
als ausgeschlossen gelten, daß die Mutter des toten Kindes vielleicht unter
dem Personal zu suchen war. Man mußte sich auf alle Fälle Gewißheit
verschaffen und schritt deshalb zu der Maßregel, das gesamte weibliche
Personal einer ärztlicheu Untersuchung zu unterwerfen. (Wir
haben bereits einmal vor einigen Jahren von einer solchen Zwangsunter¬
suchung zur Feststellung einer Geburt geschrieben und unser Befremden dar¬
über ausgedrückt. DerVerf.). Was stellte sich hierbei heraus? Nun, daß sich
unter den 200 Angestellten 68 Geschlechtskranke befanden, 34 % waren
also infiziert, d. h. jedes dritte Mädchen verseucht.“
Zunächst kann es sich fragen, ob in einem solchen Falle die Polizei
resp. das Gericht berechtigt ist, eine Zwangsuntersuchung der Geni¬
talien vornehmen zu lassen. Ich bin nicht Jurist, möchte aber doch glauben,
daß in solchen Fällen diese rigorose, tief in die persönliche Freiheit ein¬
schneidende Maßregel zu Recht besteht. Denn das Gericht muß auf alle
Art und Weise Klarheit in dunklen Angelegenheiten sich zu verschaffen
suchen und könnte z. B. wenn irgend eine, auch hochstehende, Person in
den Verdacht der Kindestötung kommt, hier eine Zwangsuntersuchung ein¬
leiten. Ob Eid genügen würde, erscheint mir zweifelhaft. Natürlich
sind das alles sehr große Seltenheiten. Um Klarheit in eine dunkle Sache
zu bringen, müssen auch persönliche Opfer unter Umständen gefordert
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werden. Eine zweite Frage betrifft das ärztliche Berufsgeheimnis. Nur
durch den untersuchenden Arzt kann die sozial hochwichtige Tatsache be¬
kannt geworden sein, daß von 200 weiblichen Angestellten 34%
geschlechtskrank waren. Der betr. Arzt hätte daraufhin, glaube ich,
belangt werden können. Man weiß, daß gerade das ärztliche Berufsge¬
heimnis ein sehr schwieriger Punkt ist, der eventuell juristisch verschieden
aufgefaßt werden kann. Auf alle Fälle hat uns die Indiskretion des Arztes
wieder einmal einen wunden Punkt der Großstadt offenbart. Es ist er¬
schrecklich, daß % dieser weiblichen Angestellten infiziert worden sind!
Wenn auch gewiß die Liebe sehr viele zur Hingabe veranlaßt hat, so wird
andererseits bei manchen anderen gewiß eine Geld- oder sonstige Ent¬
schädigung das Lockmittel gewesen sein, was bei den meist unzureichenden
Lohnverhältnissen beinahe zu entschuldigen ist. Werden doch z. B. in
Leipzig Maschinenschreiberinnen mit nur 40—50 M. monatlich bezahlt! Und
damit sollen sich die meist armen Mädchen ernähren, kleiden, wohnen. Wie
ist das möglich? Auf der andern Seite sieht man die Gewissenlosigkeit so
vieler junger und älterer Männer, die sich diese traurige Lage so vieler
junger Mädchen zunutze machen und sie nicht nur gebrauchen, sondern
sogar ruhig infizieren und damit oft für ihr ganzes Leben unglücklich
machen.
7.
Homosexualität und Psychose. Über dies interessante Thema
werde ich nächstens an anderer Stelle ausführlicher schreiben. Heute will
ich nur einen Irrtum von Kurt Boas in seinem Aufsatze: Forensisch¬
psychiatrische Kasuistik I, in Bd. 35 dieser Zeitschr. p. 195 ff. berichtigen.
An der Hand von zwei Beispielen glaubt Boas nämlich (p. 212), die
engen Beziehungen zwischen Homosexualität und Psychose aufgezeigt zu
haben. Er hat offenbar von dieser Geschlechtsanomalie nur sehr unklare
Vorstellungen, da er z. B. glaubt, maßlose Masturbation deute auf Homo¬
sexualität hin. Er meint, man solle besonders daran denken, ob nicht
dementia praecox Ursache davon sein könne. Nun ist zunächst aus den
beiden Krankengeschichten Ziehens nicht ersichtlich, ob es sich um
echte Inversion oder nur um Pseudohomosexualität handelt; wahrscheinlich
um letztere. Ich habe Tausende von Geisteskranken beobachtet und noch
nie einen Fall gesehen, wo im Verlaufe des Leidens sich echte Homosexuali¬
tät, d. h. homosexuelle Empfindung gefunden hätte, wohl aber mehr¬
mals — besonders bei Idioten — homosexuelle Handlungen bei offenbar
heterosexuellem Fühlen, also Pseudohomosexualität. Auch habe ich
nie einen Homosexuellen gekannt, der geisteskrank geworden wäre und auch
die Literatur darüber dürfte sehr spärlich sein. Jedenfalls sind die
Beziehungen zwischen Inversion und Psychosen keine engen,
wenn überhaupt solche bestehen. Wohl läßt sich denken, daß
einmal durch die Krankheit, eventuell aber auch erst durch eine jener erst
zugrunde liegenden Ursachen, die libido so gesteigert wird und Hemmungs¬
vorstellungen beseitigt werden, daß wahllos auch einmal das gleiche
Geschlecht gemißbi’aueht wird, aber das sind dann nur onanistische Akte bei
heterosexuellem Fühlen.
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8 .'-
Merkwürdige Folgen des Erdbebens. Gerade das letzte große
Erdbeben in Messina, ein großartiges Naturexperiment, hat uns aueb ganz
eigenartige psychologische Folgen kennen gelehrt. Darunter gehören unter
anderem: Erhöhung des Geschlechtstriebes bei vielen Mannern—
wohl weniger bei Frauen — und leichtere Hingabe seitens der Frauen.
Ferrari, der sehr interessante Beobachtungen an den Überlebenden nach
dem obigen Erdbeben machte, betont, nach einem Referate in der Revue
de Psychiatrie etc. 1909, p. 646., daß neben aller Art von Furcht oft
eine merkwürdige Gleichgiltigkeit, eine völlige „affektive Atonie“ sich ein¬
stellte, als Folge des heftigen Schoks. Auch war alles ringsumher schweig¬
sam geworden, man konnte weder schreien, noch seufzen. Andererseits
erschienen in doppelter Stärke die tiefen Instinkte der Aufopferung, der
Feigheit, des brutalen Egoismus. So herrschte das Recht des Stärkeren
lange Zeit, die aber den Leuten durch eine eigentümliche Illusion (die
man auch bei den verschütteten Bergleuten in Courrieres konstatiert hatte)
sehr kurz erschien. Gestohlen, geraubt ward viel, doch nur wenig genot-
züchtigt, trotzdem viel koitiert wurde und zumeist mit Zustimmung der Frau.
So wurden „mitten unter 30 000 Leichen eine Menge neuer Lebewesen
erzeugt“. Und Ferrari sieht in dieser „frenesie erotique“ eine „rovolle
contre la mort et . . . aspiration ä la vie perpetuelle de la race“, eine
Erklärung, die sehr zweifelhaft erscheint. Dagegen ist es sicher, daß, wie
der Referent sagt, die Frau, die eine heftige Gemütserschütterung durch¬
gemacht hat und die einer großen Gefahr entrann, sich leicht hingibt.
Der Mechanismus ist wohl der, daß nach einer heftigen Gemütserschütterung
Hemmungsvorstellungen mehr oder weniger temporär verschwinden, vor
allem aber die Willenskraft sehr gebrochen erscheint, endlich tief versteckte
Leidenschaften usw. sich frei entfalten können. In obigen Fällen also
gaben sich die Frauen leicht hin, weil die moralische und physische Kraft
geschwächt war, bei einigen vielleicht außerdem der Geschlechtstrieb sich
mächtig regte, wie bei so vielen Männern. Auch hier handelt es sich
primär wohl um Beseitigung der oft so lockeren Hemmungsvorstellungen.
Ähnliches sieht man in Revolutionen, bei Erstürmungen usw., wo einerseits
bei den Männern die Geschlechtslust aufflackert, durch die Kampfeslust, das
Blut usw., andererseits durch die Furcht usw. die Willenskraft bei den
Frauen geschwächt ist. Auch der Coitus vor dem Doppelselbstmorde ge¬
hört zum Teil wenigstens in dieselbe Kategorie. Bekannt ist ferner, daß
Mädchen, die sich über etwas sehr geärgert haben, leichter zu verführen
sind, daher ihnen gern von den Verführern solche — meist falsche — Nach¬
richten überbracht werden, vor allem die, der Liebhaber sei ungetreu ge¬
worden.
9.
Merwürdiges Zeugnis für den engen Zusammenhang von
Grausamkeit und Wollust. In dem Zentralblatte für Anthropologie
1909, p. 342 liest man in einem Referate über die Arbeit von Geyer:
„Die arabischen Frauen in der Schlacht“, folgendes: Stets bis jetzt dienen
bei den Beduinen die arabischen Frauen zum Anspornen der Kampfeslust
in der Schlacht, selten aber kämpfen sie selbst mit. In den arabischen
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Liedern spielt daher der Merkab, eine geschmückte Sänfte, worin eine vor¬
nehme Jungfrau (Atfa) des Stammes folgt und die Kämpfenden anfeuert,
eine große Rolle. Dieser Merkab bildet das Palladium, quasi die Fahne,
um die sich alle scharen und die sie bis aufs äußerste verteidigen. Es
heißt nun weiter im Referate: „Aus diesem Grunde schöpfen die kämpfen¬
den Streiter ihren größten Heldenmut, welcher in der Verteidigung des
Merkab seine Grundlage hat, und die Jungfrau sucht die Kämpfer auf
jede mögliche Weise durch Worte und Gesten, selbst sexueller Natur, zum
äußersten Kampfmut anzuspornen“. Also auch durch sexuelle Gesten
reizt sie zur Grausamkeit und beim Araber ist dies um so leichter
möglich, als ja das Geschlechtsleben bei ihm eine unendlich größere Rolle
spielt als bei uns. Sein höchster Wunsch ist immer zum Coitus parat sein
zu können. Denselben Zusammenhang, aber in umgekehrter Folge, sehen
wir bei Erstürmungen, wo die durch Blut erhitzte Soldateska, wo es nur
möglich ist, sich auf die Weiber, jung und alt, schön und häßlich, sogar
auf Kinder stürzt, und sie mißbraucht. Dazu kommt noch hier das sexuell
anregende rote Blut, das ringsumher fließt und sie sogar ganz gewöhnlich zu
Lustmorden verleitet.
b. Von Hans Groß.
10 .
Mißbrauch von Visitkarten. Man ist einerseits gewöhnt, Visit-
karten als eine Art von Legitimationspapier zu benutzen, behandelt sie
aber anderseits keineswegs mit der Sorgfalt, die ihnen in dieser Eigenschaft
zugewendet werden sollte.
Die Verwendung einer Karte zur Legitimierung einer Person ge¬
schieht in verschiedener Weise: man gibt z. B. einem Stellesuchenden, einem
um Unterstützung Bittenden, einem wohltätige Beiträge Sammelnden einfach
seine Visitkarte, sendet ihn zu der betreffenden Persönlichkeit und läßt
ihn dort, gestützt auf die überbrachte Karte, sein Anliegen mündlich Vor¬
bringen. Oder man sendet jemanden um ein Buch oder sonst einen
Gegenstand und gibt ihm zu seiner Legitimation eine Karte mit. Oder
man empfiehlt einen Arbeiter oder Geschäftsmann lediglich durch Mitgabe
seiner Karte. Oder man schreibt auf seine Karte unter seinen Namen:
„empfiehlt den Überbringer“. Unglaublicherweise werden solche Karten
sehr oft verwendet, ohne daß bedacht wird, wie leicht sie durch irgend einen
Zufall in Unrechte Hände kommen kann: zum „Überbringer“ kann sich dann
jeder machen.
Daß aber auch unbeschriebene Karten mißbraucht werden können,
ergibt sich aus der sorglosen Art ihrer Verwendung. In vielen Häusern
liegen eine Menge von Karten auf einer Tasse im Empfangszimmer und
viele Leute, namentlich gekündigte Dienstboten, können sich davon nehmen
soviel sie wollen. In früherer Zeit herrschte die gute Sitte, bei Besuchen
die Karte an der Schmalseite abzubiegen, ein scharfer Bruch läßt sich nie
mehr ausgleichen, die Karte ist als Besuchskarte gekennzeichnet, für
Empfehlung, Legitimation usw. nicht mehr zu brauchen. Diese Sitte herrscht
heute nicht mehr, es wäre zweckmäßig, sie wieder einzuführen.
Sehr oft werden Visitkarten, die außen an der Wohnungstüre ange¬
bracht sind, gestohlen und zu bedenklichen Zwecken verwendet. Solchem
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Beginnen kommt man entgegen, wenn man die Karte beim Anbringen an
der Türe nicht verletzt: sie irgendwie einklemmt, in ein Rähmchen — wie
man sie häufig aus Schmiedeeisen oder Bronzeguß hat — einschiebt oder
mit Heftnägeln so befestigt, daß die Karte nicht durchstoßen sondern bloß
von den Köpfen der Nägel gehalten wird. Eine solche Karte kann un¬
verletzt gestohlen und beliebig verwendet werden; hat sie vier Löcher von
den Heftnägeln, so sieht jeder ihr Herkommen, wenn sie frecher¬
weise doch verwendet würde. —
Es ergeben sich daher vom kriminalistischen Standpunkte aus mehrere,
leieht zu befolgende Regeln:
1. eine heile Karte gebe man überhaupt nie aus der Hand;
2. bei Besuchen kneife man jedesmal die abgegebene Karte an der
Schmalseite, am besten scharf, ein;
3. befestigt man eine Karte an der Wohnungstüre usw. so tue man
dies mit zwei, besser vier Heftnägeln, die man durch den Karton wenn
auch nahe am Rand, durchsticht;
4. schreibt man etwas auf die Karte, so tue man dies genauer; also
nicht: „empfiehlt den Überbringer" oder: „bittet um Ausfolgung dieser
oder jener Sache“ oder: „Überbringer ist der empfohlene Tischler“ usw. —
sondern jedesmal mit Namen z. B. „empfiehlt den Joseph Maier“ oder
„bittet, dem Joseph Maier dies und jenes zu geben“ usw. —
So würden zwar keine große Betrügereien, wohl aber viele kleine
vermieden werden, von welchen jeder Kriminalist zu erzählen weiß. —
11 .
Eine neue Masse zum Abformen. Eine der wichtigsten und
für die Feststellung gewisser Tatbestandsmomente wertvollster Fertigkeiten
des Untersuchungsrichters besteht im Abformen, im plastischen Wiedergeben
gewisser, bei Verübung eines Verbrechens entstandener Veränderungen in
der Außenwelt oder tatsächlichen Erscheinungen, bei welchen auch die
beste Beschreibung oder Zeichnung unzulänglich bleibt; auch die Photo¬
graphie, die sonst fast immer hilft, versagt häufig, wenn es sich um Dar¬
stellung des Körperlichen handelt. Wenn z. B. Eindrücke einer abge¬
schossenen Kugel, gewisse Beschädigungen einer Mauer, eines Steines, eines
Baumes eines Möbelstücks usw. wichtig sind, wenn das Gebiß oder die
Fingernägel eines Menschen, namentlich eines Getöteten für die Dauer dar¬
gestellt werden sollen, wenn Schlüssel, Schlüssellöcher, Gittersprossen, Werk¬
zeugspuren oder Füßespuren in hart gewordenem Materiale wichtig sind,
wenn die oft so überaus wichtigen Reliefkarten eines größeren oder kleineren
Terrainteiles angefertigt werden müssen wenn irgend etwas anderes model¬
liert werden soll l ) usw. — in allen diesen und vielen anderen Fällen ist
das plastische Darstellen durch Abdrücken, Abformen oder freies Modellieren
das einzige und unersetzliche Mittel, um eine verläßliche, sichere, bleibende
und beweisende Darstellung des fraglichen Sachverhaltes zu erhalten.
Das Gute hierbei besteht aber noch darin, daß zu solchen Arbeiten
in der Regel keine besondere Geschicklichkeit, sondern bloß Sorgsamkeit
und guter Wille erforderlich ist: einen Schlüssel, eine abgeschlagene Ecke,
1) Vgl. Hans Groß, Handb. f. U.R.. 5. Aufl., pag. 567ff.
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ein Gebiß und ähnliches abzuformen ist jeder imstande, der im Besitze einer
brauchbren Formmasse ist, diese sorgsam an den betreffenden Gegenstand
andrückt und den erhaltenen Abdruck sicher verwahrt. Schwierigkeiten
gibt es nur beim freien Modelieren, wenn also z. B. eine Reliefkarte über
einen Terrainteil angefertigt werden soll — hierzu ist gewisse, übrigens
häufig vorkommende, Begabung und einige Übung nötig. Glücklicher¬
weise brauchen solche Arbeiten fast niemals sofort, an Ort und Stelle her¬
gestellt zu werden, sie können auch später durch einen Dritten, einen ge¬
schickteren Kollegen, auch durch einen Fachmann, Bildhauer, Modelleur usw.
nach gewissen Behelfen z. B. einer Generalstabskarte usw. angefertigt
werden. —
Außer den genannten persönlichen Eigenschaften, die zu einer solchen
Arbeit nötig sind, handelt es sich aber hauptsächlich um ein gutes und
verläßliches Material; für kleinere Darstellungen benutzt man in der Regel
eine der unzähligen bekannten Massen: Wachs, Guttapercha oder nach
verschiedenen Rezepten mühsam hergestellte Knet- oder Modelliermassen.
Für größere Herstellungen wird man ausnahmslos zu Ton, namentlich zu
dem für Bildhauer besonders gearbeiteten Modellierton greifen, der immer
noch handlicher bleibt, als z. B. die aus Asche, Kleister und Papier oder
aus Zement, Kreide, Leimwasser und Peteroleum zusammengesezten Pasten.
Alle diese Körper haben arge Fehler: entweder sind sie mühsam oder
teuer herzustellen, oder sie werden rasch, oft unter der Arbeit zu fest,
sie schmieren oder reißen, schwinden oder springen oder sie bleiben weich
und empfindlich, oder sie werden hart, bröckelig und sehr gebrechlich. —
Eine vorzügliche, stets verwendbare und daher sehr empfehlenswerte
Masse für alle derartige kriminalistische Arbeiten ist das „Mollin“ des
„Deutschen Mollinwerkes“ ] ), welches in der Tat viele Vorteile besitzt. Es
wird in verschiedenen Härten und Farben geliefert und hat ungefähr das
Aussehen und die Beschaffenheit des sogen. Glaserkittes. Es ist sehr
leicht zu kneten und zu formen, läßt sehr feine und genaue Abdrücke
anfertigen, schmiert nicht und bleibt, wenn sorgfältig gegen Luftzutritt ge¬
schützt, (also in Blechbüchsen, gutschließenden Glasgefäßen usw, verwahrt),
lange weich und brauchbar. Unter Luftzutritt, also wenn der fertige Ab¬
druck frei hingelegt wird, erstarrt es bald (völlig in 6 Wochen), schwindet
nicht, bekommt keine Risse und Sprünge und wird steinhart; dann verträgt
es auch grobe Behandlung.
Ich habe versucht, verschiedene kleine Gegenstände: Schlüssel, Möbel¬
ecken, Bruchstellen usw. und auch nach der Generalstabskarte eine kleine
Terraindarstellung mit „Mollin“ anzufertigen und war mit diesem Material
sehr zufrieden — ich rate, damit Proben zu machen.
12 .
Ein Leser des Archivs teilt zur „Kleinen Mitteilung“ „La mort douce“
(Bd. 36 pag. 153) folgendes mit:
Da in Österreich die Vorschrift besteht, daß die Leichen plötzlich
verstorbener Personen amtlich obduzirt werden — sogenannte sanitätspoli¬
zeiliche Obduktionen —, so ergibt sich oft genug Gelegenheit, Leute zu
1) Berlin SW 11, Königgrätzerstraße 99.
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188
Kleinere Mitteilungen.
sezieren, die während des Beischlafes oder nach demselben plötzlich ver¬
storben sind. In der Literatur finden sich auch Hinweise auf diese Er¬
eignisse und auf die hierbei zu erhebenden Befunde.
Haberda teilt in Schmidtmanns Handbuch der gerichtlichen
Medizin, Bd. I p. 261, im Kapitel „Tötung beim geschlechtlichen Mißbrauch“
folgendes mit:
„Begreiflicherweise liegt die Vermutung eines Lustmordes immer nahe,
wenn eine Frauensperson oder ein Kind unter verdächtigen äußeren Ver¬
hältnissen tot gefunden wird. Nicht immer trifft diese Vermutung zu ... .
In anderen Fällen kann es sich um natürlichen Tod während
des Beischlafs handeln. Bekanntlich kommen solche plötzliche Todesfälle
bei beiden Geschlechtern, namentlich bei herzkranken Individuen
vor, wobei die mit dem Geschlechtsakte verbundene somatische und
psychische Aufregung zur auslösenden Ursache einer Herzlähmung oder
einer Hirnblutung wird. So sezirten wir im April 1898 eine junge
Frau von dreißig Jahren, die während des Besuches bei einem Bekannten
— so hieß es in der Polizeianzeige — plötzlich verstorben war. Die
Sektion ergab eine recht weit gediehene Arteriosklerose, die vornehmlich
den Anfangsteil der Aorta betraf und zur Verschließung des Ostiums der
linken Koronararterie mit degenerativen Veränderungen des Herzfleisches
geführt hatte. Im Inhalte der Scheide waren zahlreiche Spermien nach¬
weisbar. Einige Tage nach der Sektion suchte uns der „Bekannte“ der
Verstorbenen auf, der zu der Dame seit längerer Zeit in intimen Be¬
ziehungen gestanden und, wie er sagte, nie etwas Krankhaftes an ihr be¬
merkt hatte, bis sie bei jener letzten Zusammenkunft plötzlich nach dem
Beischlaf über Unwohlsein und Druck auf der Brust klagte und ohnmächtig
zu werden schien, welche Ohnmacht allerdings den eingetretenen Tod be¬
deutete. Gumprecht (Deutsche med. Wochenschr. 1899 No. 45) hat
einigen in der Literatur niedergelegten analogen Fällen eine eigene Be¬
obachtung angereiht, die eine 32 jährige Frau betraf, welche unmittelbar
nach einem Coitus an Ponsblutung gestoi’ben war.
Begreiflicherweise können solche Fälle, wenn die Umstände, unter
denen der Tod erfolgte, verdächtig erscheinen, oder wenn die Leiche z. B.
im Freien aufgefunden wird, leicht die Annahme einer gewaltsamen Tötung
wachrufen. So war es in dem von Maschka (Handbuch Bd. III p. 165)
erwähnten, von ihm und anderen begutachteten sogenannten Glogauer Fall,
in dem ein Mädchen nach einer mit mehreren Offizieren gefeierten Orgie
totgefunden wurde. Die Sektion stellte auch hier einen natürlichen Tod fest.“
Den gleichen Gegenstand erwähnt auch Kolisko in Dittriehs Hand¬
buch der ärztl. Sachverständigentätigkeit, II. Bd. p. 708 unter
den Gelegenheitsursachen zum Eintritt des natürlichen Todes. Er sagt:
„Ferner ist geschlechtliche Aufregung keine seltene Gelegenheitsursache für
das plötzliche tödliche Ende einer bestehenden Erkrankung, namentlich
einer Erkrankung des Herzens. So sezieren wir alljährlich mehrere
Fälle, in welchen ältere Männer während ihres Verbleibens bei Prostituierten
plötzlich an ihrem Herzleiden zugrunde gegangen waren.“
Auch in „Krankheiten und Ehe“ herausgegeben von Senator
und Kaminer — finden sich Angaben von v. Leyden & Wolff über
den plötzlichen Tod infolge Coitus, und zwar in Abt: II p. 245.
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Besprechungen.
1.
Roth u. Ger lach. Der Banklehrling Karl Brunke aus Braunschweig.
Halle, Marhold, 1909. 30 S. 0.75.
Interessantes gerichtsärztl. Gutachten über den berühmten Fall Brunke
Br. war ein Entarteter (wohl aber kaum hohen Grades! Ref.), der 2 Freundinnen
auf deren Wunsch erschoß. Er ward zu 8 Jahren Gefängnis verurteilt und
erhing sich dort. Interessant ist ferner die Psychologie beider Mädchen,
die nach Ansicht des Ref., sicher auch geistig minderwertig waren, besonders
das ältere. Prof. Dr. P. Näcke.
2 .
A. Pick: Initialerscheinungen der zerebralen Arteriosklerose usw. Halle,
Marhold, 32 S. 0.75 M.
Ganz ausgezeichnetes Referat des berühmten Prager Irrenarztes, das freilich
zunächst nur den Mediziner angeht. Es werden, für den praktischen Arzt
besonders wichtig, die Anfänge der verderblichen und so weit verbreiteten
Arterienverkalkung im Gehirne geschildert und allerlei interessante Be¬
trachtungen bez. der Pathogenese usw. angestellt. Man erkennt hinreichend
dabei die vielen und großen Schwierigkeiten, die die Materie darbietet.
Prof. Dr. P. Näcke.
3.
Metschnikoff: Studien über die Natur des Menschen, eine optimistische
Philosophie. Leipzig, Veit, 1910. 399 S.
Ein höchst merkwürdiges und geistreiches Buch des berühmten Russen.
Der Arzt und Phsycholog wird freilich nicht allzuviel daraus lernen, wohl
aber jeder Andere. Verf. ist überzeugter Darwinist und Monist, zeigt die
verschiedenen Dysharmonien am Leibe und an der Seele des Menschen auf
und will vor allem die größte aller Dysharmonien: den Erhaltungstrieb und
die Todesfurcht, welche Religion und Philosophie bisher vergeblich zu be¬
seitigen gesucht hatten, durch eine „optimistische Philosophie“ ausgleichen.
Er nimmt einen „Todesinstinkt“ an, d. h. ein direktes Sehnen nach
dem Tode, der freilich bisher nur sehr selten beobachtet wurde (und den
es wohl überhaupt nicht gibt! Ref.), indem er das Alter verlängern und
erträglich machen will. Er nimmt nämlich an, daß durch Intoxikation
seitens Darmbakterien die Arteriosklerose und das Auffressen der edlen
Gewebsteile durch die „Phagozyten“ befördert werden. Daher gilt es sie durch
passende Diät usw. niederzudrücken. Leider hängt dieses ganze spekulative
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190
Besprechungen.
Gebäude ganz in der Luft und ist Verf. überhaupt in seinem Buche mit
Hypothesen aller Art und Halb Wahrheiten ziemlich freigebig.
Prof. Dr. P. Näcke.
4.
Windscheid: Die Diagnose und Therapie des Kopfschmerzes. Halle
Marhold, 1909. 68 S. 2 M.
Verf. beschreibt klar und eingehend die so sehr verschiedene Ätiologie
des Kopfschmerzes, dessen anatomische Seite wir auch nicht kennen.
Wahrscheinlich handelt es sich um direkte und indirekte schädliche Beein-
flußung des Trigeminus, speziell in den Hirnhäuten. Die Symptome und
die Differentialdiagnose werden genau geschildert, ebenso die Therapie, die
leider oft so wenig nützt und oft nur durch Suggestion.
Prof. Dr. P. Näcke.
5.
Binet-Sangle: La folie de Jesus. II. Bd. Paris, Maloine, 1909. 516 S.
1906 erschien der erste Teil dieser interessanten und ausführlichen
Pathographie des Verfassers und ward in diesem Archiv schon besprochen.
In dem vorliegenden 2. Bd. untersucht er zunächst die Kenntnisse und
das Wissen Jesu und zeigt, daß diese sehr gering waren, daß er alle seine
Ideen über Gott, Teufel, Engel, Himmel, Hölle usw. z. T. wörtlich, der
Bibel, dem Buche Henoch, den Targoums auch manche Gleichnisse
dem gesamten orientalischen Wissen entnahm. Dieser ganze Teil ist der
wertvollste des ganzen Buches, weil er uns in die gesamte geistige Kultur¬
geschichte des alten Orients einführt. Weiter werden nun genau die Reden
des Herrn, seine Halluzinätionen untersucht und Jesus als religiöser Para¬
noiker, der sich zuletzt offenbar für den Messias hielt, hingestellt. Wie
Ref. schon früher bemerkte, ist aber leider 1. wahrscheinlich kein einziges Wort
Christi absolut authentisch (Bousset, Göttingen) 2. die Aussprüche, selbst
wenn sie echt wären, doch zu gering an Zahl und oft mehrfach zu deuten.
Immerhin würde eine Paranoia wohl dann wahrscheinlich sein. Den Schluß
des interessanten Werkes bilden Geschichten von Theomanen ä la Jesus.
Prof. Dr. P. Näcke.
6.
H. Stadelmann: Ärztlich-pädagogische Vorschule auf Grundlage einer
biologischen Psychologie. Hamburg und Leipzig, Voß, 1909.
291 S. 5 M.
Zur Einführung in die Psychologie ganz ausgezeichnet und zwar
nicht nur für Lehrer, für die es zunächst bestimmt erscheint. Alles ist
klar geschildert, durch viele Beispiele erläutert und von hohem Standpunkte
aus, der das ganze Kulturleben umfaßt. Biologisch nennt Verf. seine
Psychologie deshalb, weil er immer auf Assimilation und Dissimilation der
Zelle als den Grundlagen entsprechender psychologischen Vorgänge zurück¬
kommt, was sehr originell und sehr wahrscheinlich richtig ist. Es ist
nicht eine trockene Psychologie, bei der man einschläft, sondern sie ist
überall interessant und packend. Darum sei sie jedem angelegentlichst
empfohlen. Prof. Dr. P. Näcke.
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Besprechungen.
191
7.
Neutra: Briefe an nervöse Frauen. Dresden, Leipzig, H. Minden.
288 S. Ohne Jahreszahl.
Ein ganz wundervolles Buch für jeden Gebildeten! Verf., offenbar
ein sehr kenntnisreicher Nervenarzt, schreibt an nervöse Frauen über die
psychologische Behandlung ihres Leidens, meist der Hysterie. Er steht
ganz auf Freudschen Prinzipien, glaubt also, daß Hysterie usw. nur durch
innere Konflikts-Komplexe meist sexueller Art, bedingt ist. Seine Be¬
merkungen über die Psyche der Frau, über Ehe, Kindererziehung,
Sexualethik- und erziehung usw. sind ganz ausgezeichnet und bekunden
sowohl den erfahrenen Arzt, als den feinen Psychologen, Philosophen,
Soziologen und warmherzigen Menschenfreund. Der Stil ist brillant und
geistreich. Prof. Dr. P. Näcke.
8 .
Bing: Kompendium der topischen Gehirn- und Bückenmarksdiagnostik.
Berlin, Wien, Urban und Schwarzenberg, 1909. 200 S. 7 6 Abbildungen.
Verf. gibt in Kürze die nötigen anatomischen Verhältnisse des Zentral¬
nervensystems, um sowohl die Diagnose eines Nerven- und Gehirnleidens
festzustellen, als auch dem Chirurgen die nötige Anleitung zum Handeln
zu geben. Die Abbildungen sind ziemlich rohe Schematas, Zeichnungen
für die Zuhörer, die aber wohl zweckentsprechend sind. Das Ganze ist
knapp, klar und gut geschrieben. Prof. Dr. P. Näcke.
9.
Sommer: Klinik für psychische und nervöse Krankheiten. IV. Bd.
3 H. 3 M. Halle, Marhold, 1909.
Weber zeigt, wie wichtig es unter Umständen ist, ein Alkoholexperi¬
ment vorzunehmen, besonders bez. des abnormen Bausches. Wichtig ist,
daß auch bei großer Disposition kein pathologischer Bausch zu entstehen
braucht, endlich daß man praktischerweise doch noch zwischen einem
„normalen“ und „patalogisehen“ Bausche unterscheiden müsse. To dt
hält mit anderen die Halluzination für allein durch die Großhirnrinde
bedingt, zum mindesten sehr wesentlich jnitbedingt. Die Halluzination ist
somit ein Herdsymptom, eine Folge von Überreizung kortikaler Sinnesfelder.
Mönckemüller zeigt aus alten Akten, daß schon früher dieDementia praecox gut
gezeichnet ist, wenn sie auch anders benannt wurde. Becker endlich bringt einen
klassischen Fall von Pseudologia phantastica, der vielfach als Simulation impo¬
nierte. In fast allen Erzählungen steckte ein kleiner wahrer Kern. Das Lügen
braucht nicht zwangsweise zu erfolgen, sondern auch absichtlich, um
sich interessant zu machen. Die Pseudologia phantastica ist nicht ganz selten
bei degenerierten Hysterikern, also auch Hochstaplern. Sie sollten in eine
Zwischenanstalt zwischen Arbeiterkolonie und Irrenanstalt kommen.
Prof. Dr. P. Näcke.
10 .
Oimbal: Taschenbuch zur Untersuchung nervöser und psychischer Krank¬
heiten usw. Berlin, Springer, 1909. 168 S. Geb. 2,60 M.
Ein auch für den Juristen sehr nützliches Büchlein. Es enthält nach
einer allgemeinen Anweisung eine Beihe von Fragebogen für die Anamnese,
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192
Besprechungen.
Vernehmung usw. Anweisungen, für anamnestische Erhebungen, körperliche,
geistige, nervöse Untersuchungen, phsychologische Methoden, psychiatrische
Gutachtentechnik usw. Namentlich die Intelligenzprüfungen und der Nach¬
weis von Simulation sind sehr genau, ebenso die Untersuchungen der
nervösen Anomalien. Man sieht überall den gewiegten Praktiker. Ref.
hätte freilich einiges auszusetzen, doch sind das Kleinigkeiten. Weshalb
z. B. bez. der Anamnese die nächsten Nachbarn, Freunde und Arbeitsge¬
nossen weniger zuverlässig sein sollen als der Hauswirt, ist schwer einzu¬
sehen. Auch geht es kaum an, Genie und Talent als eventuell Belastungen
anzusehen. Das Geständnis der Simulation ist nicht so wertlos wie Verf.
darstellt. Auch ist die Tatbestandsdiagnostik durch Assoziationen für den
Juristen vorläufig so gut wie unbrauchbar.
Prof. Dr. P. Näeke.
11 .
Westermarck: Ursprung und Entwicklung der Moralbegriffe. II. Band.
Deutsch von L. Kätscher. Leipzig, Klinkbardt, 1909. 703 S.
So ist denn nun das gewaltige Werk germanischen Geistes abge-
schlosssen und für lange Zeiten wird es eine wahre Fundgrube sein und
bleiben. In diesem II. Bd. bespricht der Verf. eine ganze Reihe weiterer
Eigenschaften, zeigt, wie vorsichtig man in der Beurteilung derselben sein
müsse, ganz besonders aber in metaphysischen Dingen, wo außerdem viel
Import stattfindet. Die Reisenden haben oft falsch gesehen, gehört oder
noch mehr: interpretiert. Er zeigt weiter, daß die meisten guten Eigen¬
schaften auch den Wilden eignen, wenn auch oft nur embryonal und zu¬
nächst nur dem Stamme gegenüber. Erst mit der Kultur werden die
Pflichten auch nach außen ausgedehnt. Wie es eine Entwicklung
der Religion gibt und geben wird, so auch der Moral begriffe.
Letztere haben zunächst mit der Religion nichts zu tun, wer¬
den nur erst später von ihr unterstützt, die Urquelle der Religionen
ist die Furcht und die ersten Götter waren bösartige. Dem Meisten
wird man nur beistimmen können. Prof. Dr. P. Näcke.
12 .
Graf: Zinken und Zeichen der Zigeuner. Gartenlaube 1909, p. 97 0.
Die Zigeuner verraten nicht ihren Aberglauben, ihre Zinken und
Zeichen. Letztere sind entweder zum Gebrauche für Abwesende oder um
anderen im Beisein Dritter unauffällig Mitteilung zu machen. Sie sind oft
denen der Verbrecher ähnlich und Zigeuner verstehen nicht selten die
Gaunerzinken. Wichtig sind die Wanderzeichen (sikerpaskero bei den
deutschen, patteran bei den englischen, patron bei den norwegischen
Zigeunern) und werden von Kundschaftern für die nachfolgende Bande
zurückgelassen; sie finden sich an Wohnungen, Steinen, Bäumen, besonders
aber an den Lagerstätten, wo auch Lappen solche tragen können. Sie
dürfen nicht zerstört werden. All das Gerümpel auf einer solchen Stätte
hat seine Bedeutung: hergelegte Zweige, Lappen usw. Jeder Zigeuner
hinterläßt ein Wegzeichen; das hauptsächlichste in Europa ist in Kreuzes¬
form, überall gezeichnet, geschnitten usw. oder (Norwegen) Zeichen werden
mit der Peitsche in den Schnee gezeichnet. Es gibt auch Familien- und
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Besprechungen.
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Stammesabzeichen. Diese Zinken können alles Mögliche ausdrücken. Die
Zeitrechnung geht von den 3 hohen Festen aus: Weihnachten, Ostern,
Pfingsten. Auch die Besudelung der Wanderzeichen hat Bedeutung;
menschlicher Kot z. B. deutet ein glückliches Ereignis an, Kuhdünger eine
Warnung, Hollunderzweige eine unangenehme Botschaft, Verfolgung durch
Behörden usw. In jedem Dorfe hinterlassen Zigeuner besondere Zeichen
an den Häusern. Bei Konfrontierungen haben sie geheime Zeichen wes¬
halb es so schwer fällt sie in concreto zu überführen. Auch ihren inhaf¬
tierten Angehörigen geben sie Zeichen. Prof. Dr. P. Näcke.
13.
Stoll: Zur Kenntnis des Zauberglaubens, der Volksmagie und Volks¬
medizin in der Schweiz. Aus dem Jahresberichte der Geographi¬
schen und Ethnographischen Gesellschaft in Zürich. 1908/9, 172 S.
mit 6 Tafeln.
In ganz vortrefflicher Weise schildert Verf. die Reste des Zauberglaubens
usw. an einigen Orten des Züricher-Sees und weist nach, eine wie große
Rolle die Symbolik des Parallelismus usw. darin spielt. Auch für Juristen
ist dies zu wissen wichtig. Parallelen aus anderen Gebieten bietet Verf.
fast nicht dar, dagegen sind seine allgemeinen Bemerkungen, besonders über
Religion hochinteressant. Er unterscheidet „Naturreligion“ und „ethische
Religion“, d. h. die dogmatische, geoffenbarte, die aber auf jener beruht
und sich mit ihr ändert. Das älteste Element ist der Zauberglaube, der
defensive, offensive und exspektative Verfahren einschlägt, wie dann einzeln
geschildert wird. Man ist erstaunt, wie viel Zauberglauben noch dort in
dem Schweizerwinkel steckt, was in protestantischen Ländern in diesem
Umfange wohl unmöglich wäre, da das Volk doch nicht so verdummt ist
wie in vielen katholischen Ländern. Prof. Dr. P. Näcke.
14 .
A. Marie: Essai d’anthropologie psychiatrique. Aus: Traite international
de Psychoolgie Pathologique. Bd. I, 1910. Paris, Alcan 170 S.
Eine der vollständigsten Sammlungen aller Art von Entartungszeichen, an
der Hand vieler Abbildungen und auf reicher Erfahrung fußend. Besonders
kommt es dem Verf. darauf an, zu zeigen, wie die schweren Stigmata ent¬
schieden von dem kranken Zustande des Zentralnervensystems abhängen.
Veränderter Chemismus des letzteren bedingt erstere und zwar meist
unter Vermittelung von veränderter „innerer Sekretion“ gewisser Drüsen,
worin Verf. wohl etwas zu weit geht. Er weist die Wichtigkeit der Entartungs¬
zeichen auf, ohne sie zu überschätzen und ohne etwa spezifische für die
einzelnen Psychosen, Epilepsie, Verbrecher üsw. finden zu wollen. Ge¬
rade wegen der großen allgemeinen Ideen ist die Schrift höchst anregend.
Prof. Dr. P. Näcke.
15 .
Sommer: Klinik für psychische und nervöse Krankheiten. IV. Bd. 4. T.
1909. 3 M. Markold, Halle.
Römer bespricht eingehend zwei Fälle von „psychischer Epilepsie“
und ihr Verhältnis zur Dipsomanie. Trotzdem er zur Vorsicht bei der
Diagnose mahnt, hält er doch die epileptische Verstimmung, den epileptischen
Archiv für Kriminalanthropologie. 37. Bd. 13
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Besprechungen.
Charakter usw. für absolut sicher die Epilepsie beweisend, was sie z. Z.
nicht sind. Wo keine großen und kleinen Anfälle da sind, können wir
z. Z. eine Epilepsie nur vermuten, nie aber sicherstellen. Und so sind
wohl auch des Verf.’s beide Fälle als wirklich epileptisch psychische Fälle
noch nicht über Jeden Zweifel erhaben. Nathan untersucht die Assoziationen
von 8 hochstehenden Imbezillen und findet daran eine Reihe interessanter
Merkmale. Doch ist die Zahl der Untersuchten viel zu gering, um den
Schlüssen zu trauen. Prof. Dr. P. Näcke.
16 .
G. Tamme: 365 Gedanken. Alltägliches und Kichttägliches. Dresden,
Reißner. 1909. 3 M.
Wer ein Freund von Aphorismen ist — und jeder wird sich zu
Zeiten an guten erfreuen — dem sei die vorliegende Sammlung bestens
empfohlen. Es sind geistreiche, originelle z. T. tiefe Gedanken, und sie
befriedigen mehr als z. B. die gerühmten von Peter Hille. Ein ganzes
Stück Lebensweisheit steckt darin. Die Ausstattung ist prachtvoll. Ein¬
band, Büttenpapier, große Schwabacher Typen usw. So bietet dies schöne
Buch eine wahre Augen- und Herzensfreude dar und empfiehlt sieh nicht
nur als angenehme Lektüre, sondern besonders als gediegenes Geschenk.
Prof. Dr. P. Näcke.
1 7.
Allfeld: Der Einfluß der Gesinnung des Verbrechers auf die Bestrafung.
Leipzig, Engelmann, 1909. 192 S.
In ruhiger und auch für den Laien verständlicher Weise bespricht
Vef. die „Gesinnungsstrafe“ der soziologischen Schule, hierbei besonders
viel auf v. Liszt Bezug nehmend und dann die „Sehutzstrafe“ der alten,
klassischen Schule, deren Verfechter er ist. Seine Kritik ist eine sehr
eingehende, wird wohl aber von den Gegnern kaum als gelungen ange¬
sehen werden, da bez. Schulfragen sich eben immer Affektwerte einmischen
und so das Zünglein der Wage nie allein auf eine Seite kommen lassen.
Übrigens macht Verf. doch auch Konzessionen und seine Vorschläge bez.
der Strafe im künftigen Strafrechte sind gewiß annehmbar. So viel scheint
dem Ref. wohl festzustehen: die Ideen der soziologischen Schule mit ihrer
„Gesinnungsstrafe“ scheinen der Zukunft anzugehören, würden aber
sicher bei der Anwendung große Schwierigkeiten bereiten, doch kann schlie߬
lich nur ein Versuch zeigen, ob sie wirklich lebensfähig sind oder nicht.
Prof. Dr. P. Näcke.
18.
Romero Navarro: Ensayo de una Filosofia feminista. Refutaciön ä Moe-
bius. Madrid, 1909. 263 S.
Das ganze Buch ist gegen die Schrift von Moebius über den physio¬
logischen Schwachsinn des Weibes gerichtet und es weist darin die
massenhaften Fehler und Oberflächlichkeiten gebührend nach. Es ist sehr
interessant geschrieben und in den meisten Dingen kann ihm Ref. nur
Recht geben. Trotzdem er Spanier ist, ist Verf. auf die Religion nicht
gut zu sprechen und sagt wohl richtig, daß das Christentum und die
anderen Religionen den Frauen als Stand mehr geschadet als genützt
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haben. Schon die Bibel behandelt die Frauen wenig glimpflich. Verfassers
Ideen, auf Darwinismus aufgebaut, berühren sich meist mit denen der
Frauenrechtlerinnen. Er verlangt völlige Gleichstellung der Frau mit
dem Mann und Entlohnung nach ihrer Leistung und darin hat er gewiß
Recht. Die Furcht vor übermäßiger Konkurrenz weist er zurück und
zeigt, daß in Amerika die Löhne trotz Gleichstellung gestiegen sind,
wie auch, daß dort, wo die Frauen wählen können, der Staat nur profitiert
hat. Sicher glaubt auch Referent, daß das Zurückbleiben der weiblichen
Intelligenz nach der schöpferischen Richtung hin vornehmlich ein Pro¬
dukt des Milieu, der Erziehung und der Niederdrückung durch die Männer
ist. Vor allem gilt es den Frauen bessere Allgemeinbildung zu geben
und sie einen Beruf wählen zu lassen, der aber nach Ref.’s Meinung meist
nur als Surrogat für die Ehe zu gelten hat, während Verf. den Beruf
auch während der Ehe ausgeübt wissen möchte, worunter aber jedenfalls
die Häuslichkeit und die Kindererziehung zu leiden hätte. Erst später
ließe sich sagen, wozu die Frauen weniger sieh eignen, als die Männer.
Ref. glaubt, daß gerade die Medizin weniger für sie paßt, mehr die Theologie.
Prof. Dr. P. Näcke.
19.
Uhlenhuth-Weidanz: Praktische Anleitung zur Ausführung des bio¬
logischen Einweißdifferenzierungsverfahrens mit besonderer Berück¬
sichtigung der forensischen Blut- und Fleischuntersuchung, sowie
der Gewinnung präzipitierender Sera. Verlag von Gustav
Fischer in Jena. 1909.
Das in dem Handbuche der Technik und Methodik der Immunitäts¬
forschung von R. Kraus und C. Levaditi vor kurzem erschienene
Sammelreferat der beiden Verfasser über das einschlägige Thema liegt nun
in etwas veränderter Gestalt in Buchform vor. Es bezweckt, wie
P. Uhlenhuth einleitend bemerkt, den Bedürfnissen aller beteiligten Fach¬
leute (Sachverständige, Immunitätsforscher, Nahrungsmittel-Chemiker, Zoo¬
logen, Juristen) in gleicher Weise gerecht zu werden, dem einen zur Ein¬
führung in eigenes praktisches Arbeiten, dem anderen zur Information und
Belehrung zu dienen. Von beiden Gesichtspunkten aus muß die Auswahl
und Anordnung des Tatsachenmateriales als glücklich, das Eingehen auf
die minutiösesten Details der Technik als notwendig bezeichnet werden.
Alle Einzelheiten in diesem Referate zu berücksichtigen geht nicht an.
Referent muß sich begnügen, den Inhalt kurz in der nachfolgenden Weise
zu skizzieren: Eine Übersicht über die Entwicklung und praktische Ver¬
wertbarkeit der von R. Kraus endeckten, von Uhl enhuth-Wassermann
zuerst im Hinblicke auf ihre praktische Bedeutung gewürdigten Praezipitin-
reaktion leitet das Buch ein. Ein erster Abschnitt beschäftigt sich dann
mit einer knappen Darstellung des chemisch-physikalischen Nachweises von
Blutspuren, in welcher neben der modifizierten Guajakprobe als orientierende
Vorprobe auch das Wasserstoffsuperoxydverfahren empfohlen wird. Der
durch das genannte Reagens bewirkten Zerstörung von Blutspuren und der
Unsichei’heit des Verfahrens wegen kann sich Referent in diesem Punkte
den Autoren nicht anschließen. Nur eine „Vorprobe“, welche neben mini¬
malstem Verbrauch des blutverdächtigen Materiales dieses nebenbei voll-
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Besprechungen.
kommen intakt läßt, kann als solche, wie dies bei der Guajakprobe der
Fall ist, in Betracht kommen. Referent sieht sich daher auf Grund jahre¬
langer praktischer Erfahrungen auf dem Gebiete des forensischen Blut¬
nachweises genötigt, geradezu vor dieser Technik auf das nachdrücklichste
zu warnen und das um so mehr, als sie, wie kürzlich S. Mita wieder ge¬
zeigt hat, bei einem positiven Ausfall ganz unverläßliche Resultate gibt, bei
einem negativen auch keine Folgerungen zuläßt.
Einen Einblick in die Selbstkritik, die sich Uhlenhuth bei Ausfüh¬
rung seiner biologischen Blutuntersuchungen auferlegt und in die Exakt¬
heit seines Urteiles, die daraus resultiert, erhält der Leser aus der eingehen¬
den Darstellung des Ganges des biologischen Verfahrens. Die Vorversuche
zur Wertbestimmung spezifischer Sera, die Behandlung des blutverdächtigen
Untersuchungsmateriales, endlich die Ausführung der entscheidenden Probe
und die Beurteilung des erhobenen Befundes sind so eingehend und klar
geschildert, daß daraus nicht nur der Fernerstehende einen Einblick in
diese Dinge gewinnt, sondern, wie gesagt, ihm auch ein Einarbeiten in
dieses Gebiet möglich ist. Die Abbildungen zahlreicher Hilfsapparate, von
denen Referent namentlich die Mikrofiltrierabfüllapparate nach Uhlenhuth
und W e i d a n z hervorheben möchte, sind gleichfalls in diesem Sinne zu
begrüßen. Die Kapillar-Methode Hausers, die bei spärlichem Material
sich so außerordentlich gut in der Praxis bewährt hat, findet gleichfalls
gebührende Berücksichtigung. Die Grenzen der Leistungsfähigkeit des
biologischen Eiweißdifferenzierungsverfahrens werden weiterhin nicht nur
an der Hand der über den Einfluß der Fäulnis, der Hitze, des Alters, und
chemischer Agentien erschienenen Arbeiten zahlreicher Autoren, sondern
auch durch die Wiedergabe einer Auswahl von teilweise schon wiederholt
veröffentlichten Gutachten dargetan und gleichzeitig auch auf die durch
die Verwandtschaftsreaktion bedingten Schwierigkeiten aufmerksam gemacht.
Die von Ne iß er und Sachs für den Nachweis von Blutarten empfohlene
Benützung des Phänomens der Komplementablenkung findet gleichfalls eine
detaillierte Besprechung, die freilich wie dem Referenten scheinen will,
namentlich der Umständlichkeit und den technischen Schwierigkeiten des
Verfahrens gerecht wird. Dies mag wohl auch der Hauptgrund dafür sein,
warum sich bis heute diese Methode in breiteren Kreisen noch keinen Ein¬
gang zu verschaffen vermocht hat. Auch dem quantitativen Blutnaehweis
nach Straßmann-Ziemke, Schulz, Marx, sind eingehende Erörte¬
rungen gewidmet.
In einem zweiten Teile des vorliegenden Buches sind dann die
Leistungsfähigkeit der Präzipitinprobe und die durch das betreffende Unter¬
suchungsmaterial bedingten Modifikationen der Technik für die Fleischbe¬
schau und die Nahrungsmittelprüfung (Fleisehgemische, Wurst, Nahrungs¬
präparate) besprochen und in einem Anhänge auch die neuerdings von ver¬
schiedenen Seiten für die Antigendiagnose nach ihrer Artspezifität vorge¬
schlagene Anaphylaxiereaktion hingewiesen. Was dieses Kapitel anlangt,
so kann sieh Verfasser und das auf Grund ausgedehnter eigener Erfahrungen
mit der von den Verfassern vorgeschlagenen Versuchstechnik nicht einver¬
standen erklären. Nur eine Berücksichtigung aller anaphylaktischen
Symptome, insbesondere aber des von H. Pfeiffer beschriebenen Symptomes
des „anaphylaktischen Temperatursturzes“, welcher gleichzeitig eine exakte,
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Besprechungen.
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objektiv wiederzugebende Meßmethode für die Größe eines anaphylaktischen
Schocks darstellt, kann hier zu Resultaten führen, welche der Bedeutung
dieser Phänomene gerecht werden. Was die Ausarbeitung einer quantita¬
tiven Untersuchungsmethode anlangt, welche die Verfasser in Aussicht
stellen, möchte Referent darauf hinweisen, daß er, was zur Zeit der Druck¬
legung des vorliegenden Buches noch nicht geschehen war, auf der Natur-
forseherversammlung in Salzburg über eine solche nähere Angaben gemacht
hat. Endlich sieht sich Referent veranlaßt, dem Passus: „Uhlenhuth
hat zuerst auf Grund.angestellter Versuche auf die allgemeine
Bedeutung der Reaktion für praktische Zwecke.hingewiesen“,
entgegen zu treten. Während Uhlenhuth am 14. XII. 08 im „Militär¬
ärztlichem Verein“ in Berlin eine darauf sich beziehende Äußerung
machte, so wurde diese erst in No. 2 der „Deutschen militärärztlichen
Zeitschrift“, ausgegeben am 20. I. 09 ihrem Leserkreise zugänglich.
H. Pfeifers einschlägige durch Versuchsresultate belegte, auf anderen
Versuchswegen gewonnene Erfahrungen erschienen am 2. Jänner 1. J. in
No. 1 der Wiener klinischen Wochenschrift. Nach Ansicht des Referenten
genügen diese Tatsachen, um beiden Autoren die „Gleichzeitigkeit und
Unabhängigkeit“ ihrer Ergebnisse zu sichern, was aus dem oben zitierten
Passus des Buches nicht so ohne weiteres klar hervorgeht.
In einem letzten Abschnitte wird die Technik und Methodik der Ge¬
winnung präzipitierender Antiseren ausführlich dargestellt, wobei auf die
Auswahl der Serumliefernden Tiere, des Injektionsmateriales und seiner Ge¬
winnung, der Art der Vorbehandlung, der Probeblutentnahme, der defini¬
tiven Serumgewinnung und der Weiterbehandlung der wirksamen Seren
unter Anführung zahlreicher instruktiver Bilder insbesondere geachtet
wurde.
Alles in allem muß Referent seine Meinung über das vorliegende
Buch dahin zusammenfassen, daß es sowohl für den auf diesem Gebiete
praktisch Arbeitenden ein verläßlicher Ratgeber und Führer ist, als auch
weiteren an den hier aufgerollten Fragen interessierten Kreisen ein voll¬
kommenes Bild von dem erreichten, namentlich auch von den experimentellen
Schwierigkeiten geben wird. Von beiden Gesichtspunkten aus ist der
Schrift wohl auch die weiteste Verbreitung schon heute sicher.
H. Pfeiffer, Graz.
20 .
Wilhelm Urban in München. Kompendium der gerichtlichen
Photographie. Ein Handbuch für Beamte der Gerichts¬
und Sicherheitsbehörden, sowie den Unterricht an
Kriminalistischen Instituten und Gendarmerieschulen.
Mit 103 Abbildungen und Skizzen. Leipzig 1909. Otto
N emrich.
Über die so überaus wichtige gerichtliche Photographie ist in letzter
Zeit glücklicherweise viel gearbeitet worden, und Namen wie Bertillon,
Reiß, Dennstedt, Schöpff, Voigtländer, Paul, Burinsky, Gosse, Minovici
Popp, Kockel, Straßmann, Jeserich, Schütz, Dück, Loock, Dickel, Nice-
phoro, Anuschat u. a. sind die unserer bedeutendsten Helfer. Das hier
zu bearbeitende Gebiet ist aber unabsehbar groß und viele, engbegrenzte,
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Besprechungen.
aber doch sehr wichtige Beobachtungen und Entdeckungen sind in so ver¬
schiedenen Fachschriften niedergelegt, daß sie dem Kriminalisten entgehen.
Eine neue Zusammenstellung und systematische Verwertung alles für uns
Bedeutenden ist daher gerne hinzunehmen. Verf. besitzt ebenso ausge¬
breitete Kenntnis als großes Arbeitsgebiet, er bringt vieles, von anderen
Festgestelltes und manches Neue in glücklicher Darstellung und wird nicht
bloß dem Fachphotographen, sondern auch den photographierenden Krimi¬
nalisten viele Hilfe bringen. Freilich verlangt er ziemlich umfangreiches
Rüstzeug, das nicht jedem zu Gebote steht. H. Groß.
21 .
Dr. Josef Reinhold: „Die Chantage“ Ein Beitrag zur Reform
der Strafgesetzgebung. Berlin, 1909, J. Guttentag.
Die fleißige und anregende Arbeit bringt zuerst eine Anzahl von Er¬
presserbriefen und bespricht dann hauptsächlich die Chantage als Unterart
der Erpressung und dann als Delictum sui generis. Verfasser ist der An¬
sicht, daß die Chantage weder unter Betrug noch unter Erpressung einge¬
fügt werden kann, und selbständig zu behandeln ist; für diese Ansicht
werden in der Tat berücksichtigungswerte Gründe angeführt, deren wich¬
tigster wohl der ist, daß der Tatbestand des Verbrechens, in welches die
Chantage eingebracht werden will, in unzulässiger Weise auseinanderge¬
zerrt werden muß; es frägt sich nur, ob es nicht anderweitig möglich
wäre auszukommen, ohne für Chantage einen besonderen Tatbestand bilden
zu müßen —dies könnten noch viele andere Deliktsformen für sich be¬
anspruchen. H. Groß.
22 .
Dr. Joh. Lazarus „Das Unzüchtige und die Kunst“. Eine ju¬
ristische Studie für Juristen und Nichtjuristen. Berlin
1909. J. Guttentag.
Die Frage, wie sich der Strafrichter zu stellen hat, wenn eine Ver¬
letzung der Sittlichkeit durch Werke der Kunst oder Literatur behauptet
wird, ist bekanntlich deshalb so außerordentlich heikel und schwierig, weil
es sich hier in erster Linie um Fragen der Ansicht, der Auffassung handelt —
von einer Seite erhält der Richter stets den Vorwurf: philiströs oder aber
die Sittlichkeit gefährdend entschieden zu haben. Die lesenswerte Schrift
nimmt sich, wie ausdrücklich gesagt wird, ebenso sehr der Sittlichkeit und
des Schamgefühles, als der Kunst und ihrer Freiheit an, so daß eine Menge
der hier wichtigen Fragen zur Untersuchung gelangen. Irgend eine leitende
Richtschnur bei Entscheidung besonderer Fälle, eine befriedigende Lösung
im allgemeinen kann natürlich auch hier nicht gegeben werden.
_ H. Groß.
23.
Dr. M. Liepmann, Professor des Strafrechts in Kiel. Die Be¬
leidigung. Berlin 1909 Puttkammer und Mühlbrecht
(aus Koblers „Das Recht“ Sammlung von Abhandlungen
für Juristen und Laien),
Das außerordentliche wichtige Kapitel der Ehrenbeleidigung hat in
der vorliegenden Schrift eine ausgezeichnete Behandlung gefunden. Der
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Besprechungen.
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erste Abschnitt bespricht „Ehre und Ehrenangriff“, der zweite das geltende
Recht (Arten der Beleidigung, Objekt der Beleidigung, Bestrafung und
Verfolgung), der dritte: Kritik des geltenden Rechtes und Reform (Tatbe- ;
stand, Wahrheitsbeweis, Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe, Kritik
der Vorschläge zur Verbesserung des Rechtsschutzes, Duellfrage).
Bezüglich der letzteren Frage erklärt Verf. mit Recht, daß auch die
beste gesetzliche Normierung auf das Duell keinen Einfluß haben kann,
da dieses auf der Standessitte beruht und da das Duell mit Untersuchung
des Tatbestandes nichts zu tun hat. Aber von den Leistungen der Anti-
Duell Liga erwartet sich Verf. doch zu viel. H. Groß.
24.
P. Pollitz „Die Psychologie des Verbrechers“ (Aus „Natur-
und Geisteswelt“) Bd. 9. Teubner, Leipzig 1909.
Verf. stellt aus seiner reichen Erfahrung als Strafanstaltsarzt und -leiter
das wichtigste der objektiven Kriminalpsychologie einfach und klar zu¬
sammen ; das kleine Buch ist als Ausgangspunkt für weitere Studien wertvoll.
__ H. Groß.
25.
Dr. W. Mittermaier, Prof, der Rechte in Gießen: „Kritische
Beiträge zur Lehr e vor der Strafrechts schuld“. Gießen
1909. Alfred Töpelmann.
Die 55 Seiten dieser Schrift wird jeder in größter Spannung und in
einem Zuge zu Ende lesen, dann Umschlägen und sofort studieren. Sie
rollt all’ das viele, das über diese Grundfrage geschrieben wurde, in klarer
Weise auf, behandelt es kritisch und vergleichend und löst es in eine
Reihe von besonders untersuchten Einzelfragen auf. Mit mancher Lösung
kann man nicht einverstanden werden — als Type diene der Satz „der
Unterschied zwischen dolus und culpa liegt nur in dem Objekt des Billigens“,
der auf unbewußte culpa, auf strafbares Vergessen oder Übersehen nicht
paßt — aber zweifellos schließt man sich vielen an, alles ist überaus an¬
regend. Verf. geht von der Frage aus, ob Schuld ein Moment der Einzel¬
tat oder nicht gleich dem gesamten Verhalten eines Menschen ist; er kommt
dann zur Erörterung, ob die Schuld ein psychologisches, normatives oder
ethisches Moment ist — wobei er den Begriff des Ethischen so weit nimmt,
daß darunter auch das Rechtsleben fällt. Die Schuld ist die Beziehung
des seelischen Verhaltens zu etwas Normwidrigen, sie ist nicht seine Eigen¬
schaft; Verf. fragt weiter, ob das normative Element nicht sogar einen
ethischen Charakter hat, und welche einzelnen Elemente das normative oder
ethische Moment bilden: die Schuld ist nicht Attribut, sondern eine Be¬
ziehung des Willens. Dann wird die Verschiedenheit untersucht zwischen
der Erklärung der Deterministen über den ethischen Charakter der Schuld
und der des Indeterministen (hierbei wird Finger als einer der ersteren ge¬
nannt). Zusammenfassend wird die Schuld bezeichnet als die Beziehung
des psychologischen Zustandes zu einer rechtswidrigen Tat, bei der sich
der Mensch in einem bewußten oder dem Bewußtsein zugänglichen Gegen¬
satz zu den Rechtsgeboten befindet — die Schuld sei also etwas rein
Subjektives. Hochinteressant ist des Verf. Stellung zum dolus eventualis:
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200
Besprechungen.
Wer eine Kausalität will (richtiger: eine causa setzt) unter Billigung der
Erfolge, sich als mit ihr (richtiger: möchlicherweise) verbunden vorstellt,
der verursacht diese Erfolge dolos. —
Man darf darauf gespannt sein, welche Erwiderungen die geistvolle
Arbeit finden wird. — H. Groß.
26.
Dr. Samuel Ettinger „Das Verbrecherproblem in anthropo¬
logischer und soziologischer Beleuchtung. Ein histo-
. risch-kritischer Beitrag zur Kriminalsoziologie. I. Teil
(Berner Studien zur Philosophie und ihrer Geschichte.
Bd. LXIII, herausgegeben von Prof. Dr. Ludw. Stein).
Bern, Scheitlin, Preuß & Co. 1909.
Verf. steht auf soziologischen Standpunkt. Er gibt zuerst einen ge¬
schichtlichen Rückblick, dann eine sehr gute Vorgeschichte der Lombroso-
lehre, bespricht diese und die seiner näheren Anhänger (Garofalo, Marro,
Kurella) und die der „weiteren“: (Koch, Kräpelin, Longard, Sommer,
Bleuler, Gaupp, Schäfer, Forel, Ellis, Piepers, Colajani, Angiolella). Dann
folgt eine Kritik der Lombrosolehre auf Grund ihrer unsicheren, wechseln¬
den und unfaßbaren Form, eine Kritik der kriminalistischen biologischen
Schule und verwandter Ansichten und eine Besprechung der soziologischen
Schule Ferris. Der folgende 2. Teil der Arbeit soll die eigentliche Lehre
der Kriminalsoziologie und Untersuchung des Verbrechcrproblcmes bringen.
H. Groß.
27.
Verhandlungen des ersten Deutschen Jugendgerichtstages
(15. —17. März 1909). Herausgegeben von der Deutschen
Zentrale für Jugendfürsorge Berlin und Leipzig 1909.
B. G. Teubnei’.
Das reiche Programm brachte:
„Das Jugendgericht im Vorverfahren“ (StAnw. Wellenkamp und OA. R. Riß
„Das Jugendgericht in und nach der Hauptverhandlung“ (AG. R. Fischer
und AG. R. Allmenröder). „Zusammenwirken mit Behörden und Vei’einen“
(Geh. RegR. v. Engelberg und Frl. Dr. Duensing). „Gesetzgeberischer Aus¬
blick (Geh. Admrat Dr. Felisch). Zu jedem Programmpunkt Diskussion.
Dann Beratung über die Fragen „Wie übt man Schutzaufsicht nach
der Hauptverhandlung? und formularmäßige oder freie Berichte? (Dr.
Polligkeit und Redakteur Kroner). H. Groß.
28.
Martin Berndt „Der Richtei’“. Aus Martin Bubers „Die Ge¬
sellschaft“ Lit. Anstalt Rütter & Lo ening, Frankfurt a./M.
ohne Jahreszahl.
Ein nachdenkliches Buch, das Anlaß zu ernsten Überlegungen gibt.
Manches ist zu scharf wie z. B. das Kapitel über die Psychologie des Ur¬
teils, vieles zu sehr verallgemeinert, vieles von der halben Welt behauptet,
was vielleicht für engbegrenzte Bezirke gilt — aber vieles ist gut z. B.
„Die Psychologie der Verhandlung“, die Entstehung von Protokollen, die
öffentliche Meinung und die Presse im Verhältnis zum Richtei’, das „Welt-
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Besprechungen.
201
fremde 1 * in manchen Richtern usw.; vortrefflich die Schlußbemerkung,
daß der Eichter am meisten durch seine Existenz wirkt, daß seine größten
Erfolge nicht dort liegen, wo er handelt, sondern dort, wo er nicht zu
handeln hat. H. Groß.
29.
Hugo Friedländer: Kulturhistorische Kriminalprozesse der
letzten 40 Jahre Bd. I. Verlag Continent, Berlin.
Auf 77 Seiten werden 18 große Kriminalprozesse (gegen Zastrow,
Tourville, Hödel, Sobbe, Dickhoff, Herbst usw.; die Ritualprozesse Tisza-
Eszlar, Onofry Cybulla usw.) in der Form kurzer Zeitungsberichte mitgeteilt.
Straf wissenschaftlichen oder kriminalpsychologischen Wert haben diese
Darstellungen nicht. H. Groß.
30.
Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch. I. Heft:
Text. II. Heft: Begründung allgem. Teil. III. Heft:
Begründung besond. Teil. Bearbeitet von der hierzu
bestellten sachverständigen Kommission. Veröffent¬
licht auf Anordnung des Reichsjustizamts. Berlin 1909.
J. Guttentag.
Karl von Lilienthal erklärt in seiner Besprechung in der v. Lisztschen
Zeitschrift: über die Entstehung des Vorentwurfes gäbe die Einleitung der
Begründung Auskunft, der Inhalt sei von einem Mitglied der Kommission
mitgeteilt und auch die Änderungen des Entwnrfes gegen das geltende St.G.
seien am selben Orte (DJZtg. Nr. 21 ff. 1909) klargelegt, so daß hierauf ver¬
wiesen werden könne. Dieser Ansicht ist sieh vollkommen anzuschließen. Eine
eingehende Besprechung des, doch neuen Gesetzes müßte einen Kommentar
bilden und selbst eine auszugsweise Behandlung wollen wir auf den Zeit¬
punkt verschieben, in dem der Entwurf Gesetz geworden ist. Hier ist
nur zu erwähnen, daß Druck und Ausstattung der drei Hefte über alles
Lob erhaben ist. H. Groß.
31.
Generaloberarzt Prof. Dr. Schumburg: „Die Geschlechtskrank¬
heiten, ihr Werden, ihre Verbreitung, Bekämpfung und
Verhütung**. Leipzig 1909 B. G. Teubner (Aus „Natur
und Geisteswelt**).
Das vorliegende Buch ist aus Vorträgen für Studenten entstanden,
hat aber auch für Kriminalisten großen Wert, da Delikte, in welchen ge¬
schlechtliche Ansteckungen eine Rolle spielen, überaus häufig sind und da
jeder Kriminalist aus diesem Buch leicht alles lernen bann, was er dies¬
falls nötig hat. H. Groß.
32.
J. Köhler, Prof. a. d. Univ. Berlin und A. Ungnad, Prof. a. d.
Univ. Jena: Hammurabis Gesetz. Bd. III. Übersetzte
Urkunden, Erläuterungen. Leipzig Ed. Pfeiffer 1909.
Dieser, in Darstellung und Austattung prachtvolle Band bringt Ur¬
kunden fast nur aus der ersten Babylonischen Dynastie, sogen. Hammu-
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Besprechungen.
rabidynastie, etwa 2232—1933 v. Ohr. Die Urkunden betreffen Personen-
und Familien recht, Vermögens- Sachenrecht, zumeist Schuldrecht, Erbver¬
träge, Prozesse, Staatsrecht, leider sehr wenig Strafrecht. In Briefen hören
wir von Verhaftung von Verbrechern, von einem Einbruch in einen Korn¬
speicher, von Sklavenverhör und dem traurigen Zustand der Gefängnisse.
_ H. Groß.
33.
San.-Rat Dr. Roth und Med.-Rat Dr. Gerlach: Der Banklehr¬
ling Karl Brunke aus Braunschweig. Jurist, psych.
Grenzfragen VII. Bd. Heft 2. C. Marhold 1909. Halle a. S.
Der psychologisch hochmerkwürdige und ganz unklar gebliebene Fall,
in welchem ein junger Mann zwei Schwestern, zweiffellos mit deren Zu¬
stimmung erschossen hat und sich auch töten wollte (er erhängte sich
später im Gefängnis) wird vortrefflich wiedergegeben und so gut als mög¬
lich erklärt. H. Groß.
34 .
Dr. Friedrich Leppmann, Arzt a. d. k. Strafanstalt Moabit
„Der Gefängnisarzt‘‘. Berlin 1909. Richard Schoetz.
Wie in der Einleitung bemerkt wird, besteht heute kein zusammen¬
fassendes Buch in deutscher Sprache, welches die gesamte Tätigkeit des
modernen Gerichtsarztes behandelt. Vorliegend haben wir ein solches,
welches zwar in erster Linie reichsdeutsche Verhältnisse und Vorschriften
berücksichtigt, sich aber auch eingehend mit allgemeinen Verhältnissen befaßt.
Von allgemeinem Wert sind die Erörterungen über Kost, Unterbringung,
Kleidung und Beschäftigung der Häftlinge, über Disziplinarstrafen, Einfluß
der Haft, namentlich die Einzelhaft, die Behandlung der Neueingelieferten,
der Geistigminderwertigen, der Leute mit alten Kopfverletzungen, Alkoho¬
liker, Epileptiker usw. Ebenso wichtig ist das über den ärztlichen An¬
staltsdienst, die Krankheiten, Todesursachen und die Selbstmorde der
Sträflinge gesagte. — Ich kann nicht verschweigen, daß sich mir bei der Lektüre
des vortreffllicken Buches ein inhumaner Gedanke aufgedrängt hat: wenn
das alles an Verbesserungen, was der Verf. verlangt, durchgeführt wird,
ist es nicht zu befürchten, daß das bekannte „Heimweh nach dem Zucht-
haus‘‘ noch größere Verbreitung findet? Wir wissen, daß der Respekt vor
der Strafe in bedenklichem Schwinden begriffen ist; unzählige Romane
und Geschichten haben die Schande der Strafe zweifelhaft gemacht, Not
und Elend im freien Zustand ist im Wachsen — wenn es den Leuten im
Strafhaus noch besser gehen wird, wo bleibt die Wirkung der Strafdrohung
und zwar gerade bei den Ärgsten und Gefährlichsten? Unser Latein im
Strafen ist ohnehin nahe am Ende! — H. Groß.
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Zeitscliriftenschau.
Von Privatdozent Dr. Hermann Pfeiffer, Graz.
Tierteljahrssclirift für geriehtl. Medizin. 1910. 39. Bd. 1. Heft.
A. Lesser: Zur Lehre von den Weichteilverletzungen vorzeitig Geborener
durch den Geburtsakt.
-Eine unehelich geschwängerte Dienstmagd entbindet ein 40 cm langes
männliches Kind unter verdächtigen Umständen. Bei der Sektion werden
am Halse, Brustbeine, Rücken, Gesäß, Extremitäten, Blutungen im Unter¬
hautzellgewebe bei völlig intakter Epidermis, 2 Exkoriationen an der
Stirne und bei starken lokalen Ödemen nachgewiesen. Die richterliche
Hauptfrage: „Können, wie die Angeschuldigte behauptet, die in Frage
kommenden Läsionen in ihrer Gesamtheit oder wenigstens in ihrer Mehr¬
zahl allein durch die Einflüsse des Geburtsaktes erzeugt worden sein“
konnte erst auf Grund zahlreicher ad hoc angestellter Sektionen vorzeitig
Geborener entschieden werden. Diese ergaben, daß sowohl bei der Geburt
in Schädellage, als auch bei Steißlagen relativ häufig subkutane Blutungen
(bei intakter Epidermis), Muskelblutungen und auf einzelne Körperteile lo¬
kalisierte Ödeme angetroffen werden. Es mußte demnach die oben ange¬
führte Hauptfrage bejaht werden.
In einem Nachtrage zu dieser Mitteilung berichtet Lesser über einen
42 cm langen Neugeborenen, der unter ganz unverdächtigen Umständen
geboren und von der Hebamme nach einigen Stunden tot zwischen den
Beinen der Mutter liegend aufgefunden wurde. Auch bei ihm zeigten sich
ähnliche subkutane Blutungen am Halse, Brustkörbe und Gesäß bei intakter
Epidermis und subkutane mäßig entwickelte Ödeme. Die Verletzungs¬
formen ähneln den Gesichts-, Hals- und Rumpfläsionen, die bei gewaltsamer
Erstickung durch Verschluß von Nase und Mund, Würgen und Rumpf¬
kompression sehr wohl Vorkommen können, eine Todesart, die aber wohl
kaum je mit völliger Integrität der Epidermis verbunden sein dürfte.
J. Longard: Zur Frage der Verletzung der Schädelbasis und des Gehirns.
Einem 45 jährigen Arbeiter fällt aus 3 m Höhe ein lm langer Holz¬
balken auf den Kopf. Kurze Bewußtlosigkeit mit rascher scheinbarer Er¬
holung, so daß der Mann selbst seine Wohnung auf suchen kann. An¬
schließend daran entwickeln sich schnell schwere Reizerscheinungen von
seiten des Gehirnes, zuerst das Bild halluzinatorischer Verwirrtheit, sodann
große psychische und motorische Unruhe. In kurzer Zeit erfolgt jedoch
anscheinend Heilung, zumindest ein Zustand, der nach außen hin nicht
sonderlich von dem normalen Verhalten ab wich, so daß der Beschädigte
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Zeitschriftenschau.
durch 1 1 li Jahre seine frühere schwere Arbeit im vollen Umfange
wieder aufnehmen konnte. Doch scheint diese Periode doch nicht ganz
frei von psychischen Krankheitserscheinungen gewesen zu sein. Nach
1 M% Jahren plötzlicher Exitus. Bei der Sektion ergibt sich ein verheilter,
alle drei Schädelgruben links durchziehender longitudinaler Basisbruch und
ausgebreitete Herde von roter Erweichung. Mahnung zur größten Vor¬
sicht und Gewissenhaftigkeit bei der Beurteilung der Folgen von Schädel¬
traumen !
Matzdorff: Die Chlorzinkvergiftung vom gerichtsärztlichen Standpunkte.
Die Arbeit enthält eine Zusammenstellung der einschlägigen Lite¬
ratur nebst knapper Wiedergabe von 37 Einzelfällen aus der Kasuistik,
eine Besprechung der gerichtsärztlichen Bedeutung des Präparates, seiner
Chemie, Anwendungsformen, Dosierung und eine Reihe von einschlägigen
Tierversuchen, die den Verfasser zu folgendem Urteile über die Giftwirkung
berechtigen: Ätzwirkungen, die vornehmlich auf einer Säurewirkung be¬
ruhen, können an der äußeren Haut des Kaninchens in Form von Rötung,
an den Schleimhäuten in Form von bläulich weißen, mäßig feuchten
Schorfen wahi’genommen werden. Bei Einverleibung von 5—25 prozentiger
Lösung entstehen im Magen bis in den Darm reichende grauweiße, teil¬
weise hämorrhagisch infiltrierte Ätzschorfe. Gleichzeitig erscheint der
Magen verkleinert, die Schleimhaut fein gerunzelt. Nirgends konnten im
Tierversuche Erweichung und Ablösung der oberflächlichen Schleimhaut¬
schichten vorgefunden werden. Degeneration des Herzens, Epithelnekrosen
in den Nieren, zuweilen Glomerulonephritis bei Ausscheidung eiweißhaltiger
Harne. In der Leber konnte nach der Methode von Schmidt Zink nach¬
gewiesen werden.
Die Ätzwirkung von Chlorzinkvergiftung hat nichts Spezifisches und
kann die Diagnose nicht sichern. Die Nierenveränderungen sind eine stete,,
auf Resorption beruhende Wirkung der Chlorzinkvergiftung. Sie sind um
so ausgesprochener, je länger das Leben erhalten bleibt. Die Nieren¬
störungen sind nicht spezifischer Natur. Eine Vergiftung durch resorptive
Wirkung bei geringen oder fehlenden örtlichen Läsionen ist nicht aus¬
geschlossen.
K. John: Hypomanie und Querulantenwahn.
Ausführliche Wiedergabe eines Falles von Querulanten wahn, bei dem
es sich nach dem Verfasser nicht um einen Querulanten im Kraepelinschen
Sinne, nicht um einen chronischen Paranoiker sondern um das Krunkheits-
bild einer Hypomanie handelt, welche nach einem mehrjährigen freien
Intervall wiederkehrte. Zu kurzem Referate ungeeignet.
Friedreichs Blätter für gerichtl. Medizin. 1909. 60. Jahrggv
Heft TI. November und Dezember.
Franz: Kritische Betrachtungen der bisher veröffentlichten Fälle von
Gesundheitsbeschädigungen durch Essigessenz. (Schluß folgt).
Neumann: Zwei Fälle von traumatischer Genitalverletzung kleiner Mädchen.
Fall 1: Rißquetschwunde zwischen den großen und kleinen Labien
linkerseits bei einen 3 Jahre alten Mädchen, vermutlich durch Tritte mit
einem Stiefelabsatz erzeugt.
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Fall 2: Rißquetschwunde an derselben Stelle bei einem 2 jährigen
Mädchen durch Fall mit einer Fußbank.
Gudden: Diebstähle infolge von Zwangsvorstellungen.
Ein eigenartiger Fall von Sammelwut auf Grund von Zwangsvor¬
stellungen, die zur Verübung einer Reihe von Eigentumsdelikten führten.
Auf Grund des Gutachtens Freispruch des Angeklagten, der derzeit eine
Hausmeisterstelle versieht und seine unbezwingbare Lust zu sammeln an
den Schachteln und Knöpfen der Kehrichttonnen und an weggeworfenen
Gegenständen auf der Straße befriedigt.
Kunow: Kritik der sogenannten Pilzvergiftungen vom gerichtsärztlichen
Standpunkt.
Außerordentlich eingehende und schöne Bearbeitung des im Titel ab¬
gegrenzten Gegenstandes mit ausführlicher Besprechung der Krankheitser¬
scheinungen und der Leichenbefunde nach dem Genuß giftiger Pilze, des
chemischen und physiologischen Nachweises. Literaturübersicht. Die
Schlußsätze lauten:
„Überblicken wir nun noch einmal das bei der Begutachtung einer
Vergiftung infolge Pilzgenusses den Gerichtsarzt nach dem Stande unserer
heutigen Kenntnisse zur Verfügung stehende Beweismaterial, so muß zu¬
nächst hervorgehoben werden, daß, mag es sich nun um frische oder ge¬
trocknete Pilze handeln, die botanische Bestimmung derselben aus den
Pilzresten, welche stets von einem Spezialisten ausgeführt werden muß,
in keiner Weise zur Beweisführung hinreicht, selbst wenn eine der als
Giftpilze wissenschaftlich nachgewiesenen .Arten mit Sicherheit erkannt
worden ist, geschweige denn, wenn nur botanische Pilzwerke die gefundene
Pilzart als giftig oder verdächtig bezeichnen. Unsere mangelhaften Kennt¬
nisse der in den Pilzen wirksamen Gifte, speziell in bezug auf die Frage,
ob das Gift in solcher Menge beigebracht werden ist, daß es unbedingt
töten mußte, geben der botanischen Bestimmung allein nur einen sehr be¬
dingten Wert. Zur vollständigen Aufklärung des Falles gehört eine genau
geführte Krankengeschichte und bei letalem Ausgang ein Sektionsbefund,
um andere Krankheitsursachen mit Sicherheit ausschließen zu können, und
wenn Pilze als Ursache in Betracht kommen, festzustellen, welche Pilzart
die Vergiftung in der Tat hervorgerufen hat. Auf Grund dieser Faktoren
wird sich die Diagnose in den meisten Fällen mit einer an Sicherheit
grenzenden Wahrscheinlichkeit stellen lassen. Den endgültigen Beweis, daß
die noch vorhandenen Pilze die Krankheit oder den Tod bedingt haben,
werden jedoch immer erst die mit den Schwämmen vorzunehmenden
Fütterungsversuehe an Tieren erbringen können.“
Köberlin: Über die Zurechnungsfähigkeit der Hysterischen.
Zu kurzem Referate leider ungeeignet.
Bürger: Häufigkeit und gebräuchliche Methoden des kriminellen Abortus.
Die mit größter Kritik und großem Fleiß geschriebene Arbeit bespricht
zunächst an der Hand von Übersichtstabellen die Häufigkeit des kriminellen
Abortus nach den einzelnen Ländern in ihrem Verhältnis nach Stadt und
Land und wendet sich dann zur detaillierten Wiedergabe der chemischen
und mechanischen Abtreibungsmittel. Bei den ersteren kann die Abweichung
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von der üblichen Einteilung nur begrüßt werden, Mittel von ähnlicher
Wirkung gemeinsam zu besprechen. Somit werden zuerst die anorganischen
Abortiva der Phosphorgruppe, der Schwermetalle, der Halogene und ihrer
Verbindungen, der neutralen Alkalisalze, der anorganischen Säuren und
Alkalien abgehandelt, während die organischen Abortiva in die folgenden
Untergruppen gebracht werden: Direkt Wehen erzeugende Mittel, Terpene,
Laxantien, Diuretica, Anthelmintica, Acria, Alkaloide und Glykoside und
endlich Adstringentia. Auch die Besprechung der mechanischen Fruchtab¬
treibungsmittel muß erschöpfend und übersichtlich genannt werden und ist,
wie übrigens die gesamte Arbeit, mit einer eingehenden Berücksichtigung
der einschlägigen Literatur gepaart.
Als beweisend für mechanische Abtreibung sieht Verfasser die folgen¬
den Punkte an:
1. Frische, von spitzen oder schneidenden Instrumenten herrührende
Verletzungen an den äußeren oder inneren Genitalien, falls ärztliche Ein¬
griffe ausgeschlossen sind.
2. Nach C. Paul uterine Perforation mit lokalisierter Gangrän.
Verdächtig sind ferner:
1. Sehr geringe Blutung, (nach Schickele),
2. ein zweizeitiger Abort in den ersten 6 Wochen,
3. scharfe Verletzungen der Frucht,
4. unerklärlich schnell auftretende und verlaufende Sepsis. (Nach
Fritsch).
Er kommt dann zu den nachstehenden Schlußfolgerungen:
„Die Abtreibung der Leibesfrucht ist also außerordentlich verbreitet
und nimmt mit jedem Jahre zu. Wie die Kriminalstatistiken der Kultur¬
staaten zeigen, handelt es sich meist um Unverheiratete und Arme, seltener
um besser gestellte Verheiratete. Bei ersteren sind besonders ein sittliches
Schamgefühl über ein uneheliches Kind und die Sorge um die Zukunft,
bei letzteren der Wunsch, den Kindern ein größeres Vermögen zu hinter¬
lassen, Scheu vor Mühen der Kindererziehung und den Beschwerden der
Schwangerschaft und Angst vor den Schmerzen der Entbindung, vor Er¬
krankung und zuweilen auch vor Verlust der körperlichen Reize die Haupt¬
motive der Tat. Die enorme Zunahme der kriminellen Aborte in den
letzten Jahrzehnten erklären uns aber diese Momente, welche ja schon seit
Jahrhunderten in gleicher Weise wie heute bestehen, nicht. Die den
Fortschritten der Medizin entspringende große Sicherheit und geringe Ge¬
fährlichkeit der mechanischen Abortivmethoden, das Bekanntwerden dieser
Tatsache bei Abtreibern und Schwangeren, bessere Kenntnisse der Auatomie
im Volke, die Verbreitung der Lehren des Neomalthusianismus beim ge¬
wöhnlichen Manne, welcher zwischen Verhinderung der Empfängnis und
Tötung des jungen keimenden Lebens kaum einen Unterschied macht,
sind als Hauptgründe hierfür anzuführen. Durch Besserung der Lage des
armen Mannes, durch Unterstützung kinderreicher Familien, Vermehrung
der vom Staate zu unterhaltenden Schwangeren- und Wöchnerinnenheime
und der Asyle für eheliche und uneheliche Kinder, durch schärfste Kon¬
trolle der Privat-Entbindungsanstalten, Hebammen, Erogisten und Banda¬
gisten, durch Verbot der Kurpfuscherei und durch möglichste Unterdrückung,
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der die Abtreibung anbietenden Zeitungsannoncen und der Berichte der
Gerichtsverhandlungen gegen Abtreiber, durch bessere Stellung der Heb¬
ammen, Bestrafung der sich ihrer Alimentationspflicht böswillig entziehenden
Schwangerer und durch Verbreitung von allgemein verständlichen Schriften,
in denen die Strafbarkeit und physische Schädlichkeit der Abtreibung dar¬
gelegt wird, müssen wir versuchen, dieses für Individuum und Staat gleich
gefährliche Verbrechen einzuschränken.
Ärztliche Sachverständigen-Zeitimg. 1909. Nr. 16.
P. Kaiser: Knochen und Gelenksaffektionen vom Charakter der soge¬
nannten „neuropathischen“ ohne nachweisbare Erkrankung des
Nervensystems.
Bei einem im besten Mannesalter stehenden völlig gesunden Manne
ist es im Gefolge eines Betriebsunfalles zu einer Fraktur der linken Elle
in ihrem oberen Drittel gekommen. An diese, anschließend hat sich all-
4 mählich im 6. Monate eine mit Knochenzerstörung einhergehende eigen¬
artige Erkrankung am linken Vorderarme und Ellbogengelenke entwickelt,
welche den Mann am Arbeiten hinderte. Über das Wesen der Erkrankung
kann nach dem Stande der wissenschaftlichen Forschung ein endgültiges
Urteil nicht abgegeben werden. Vielleicht ist seinerzeit nur ein unvoll¬
ständiger Bruch der linken Elle eingetreten, der erst unter dem Einfluß
krankhafter Vorgänge am Knochen zu den schweren späteren Veränderungen
geführt hat. Der ursächliche Zusammenhang mit dem Unfälle kann nicht
in Abrede gestellt werden, sei es nun, daß das Trauma, als Gelegenheits¬
ursache ein in seiner Wiederstandsfähigkeit bereits geschädigtes Glied ge¬
troffen, sei es daß an der beschädigten Stelle sich eine schon bestehende
(nicht nachweisbare) Allgemeinerkrankung, z. B. Syphilis lokalisiert hat. Auf
alle Fälle hat das Trauma in der Entwicklung der Geschwulst eine wichtige
Bolle gespielt. Daher erscheint ein Rentenanspruch gerechtfertigt. Die Er¬
werbseinbuße wird mit 50 Proz. abgeschätzt. Eine Besserung dürfte nur
durch Gewöhnung zu erwarten sein, eine Verschlimmerung ist nicht un¬
wahrscheinlich. Nachuntersuchung nach Ablauf des Jahres empfohlen.
Eisenstadt: Über die Medizinische und soziale Bedeutung der Bungeschen
Theoi'ie.
Zu kurzem Referate ungeeignet.
Feilchenf eld : Unfallmedizin oder Unfallchirurgie?
• Polemik.
Möbring: Zu der Frage: Die Unfallheilkunde ein Sondergebiet der
Medizin.
Polemik.
Nr. 19.
Landsberger: Pathologischer Rausch und § 50 St. G. B.
Ein hereditär nicht belasteter, körperlich gesunder Matrose, der sich
längere Zeit hindurch bei der Kriegsmarine gut gehalten hatte und auch
früher nie mit dem Strafgesetzbuche in Konflikt geraten war, beginnt nach
einem Aufenthalt in den Tropen seinen Dienst zu vernachlässigen und ver¬
geht sich gegen das Dienstreglement zu verschiedenen Malen. Nach
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Zeitschriftenschau.
einem sehr heißen Tage, an dem er ohne Strohhut, nur mit seiner Mütze
auf dem Kopfe ans Land ging, hier viel trank und offenbar auch sexuelle
Erregungen durchgemacht hatte, vergriff er sich ganz ohne Anlaß gegen
seinen Vorgesetzten und exzedierte auf eine, durch die Verhältnisse ganz
ungerechtfertigte Weise. Am nächsten Tage ist er ganz geordnet und er¬
innert sich nur teilweise an die Vorgänge der Nacht. Im Krankenhause
der Befund von träg reagierenden Pupillen und durch einen Alkoholver¬
such Nachweis des tatsächlichen Vorhandenseins von pathologischen Rausch¬
zuständen, so daß die Bedingung des § 51 D.St G.B. gegeben erscheint.
M. Mayer: Allgemeine schwere Hautentzündung nach Anwendung von
Gerbertran als Volksheilmittel bei einer Brandwunde.
Eine Frau behandelte auf Anraten von Bekannten eine große Brand¬
wunde am Schienbeine 10 Tage lang, irrtümlicherweise statt mit Leber¬
tran mit Pinselungen von „Gerbertran“. Plötzlich entstanden zunächst
lokalisiert, dann generalisiert Hautschwellungen und pustulöse Hautaus-
sehläge unter Schwächeanwandlung und Erscheinungen des Bronchialkatarrhs,
die nach Aussetzen des Mittels und entsprechender ärztlicher Behandlung
rasch zurückgingen.
Schönfeld: Akute Nierenblutung nach schwerem Heben nicht als Unfall¬
folge anerkannt.
Ein 42 Jahre alter gesunder Wiegemeister verspürte, als er mit dem
Auf- und Abladen von Säcken beschäftigt war, plötzlich einen Ruck und
bekam lebhafte Schmerzen in der Gegend der linken Niere. Vom folgenden
Tage erkrankte er an Hämaturie, die vom behandelnden Arzt in ursäch¬
lichen Zusammenhang mit dem Trauma gebracht wurde. Da sich die Be¬
schwerden nicht besserten, wurde der Patient auf einer Klinik aufgenommen
und ihm hier die linke Niere, die Quelle der Blutung, extirpiert. Die
Niere erwies sich als vollkommen normal, Anzeichen einer Beratung oder
Dislokation wurden nicht vorgefunden. Heilung des Leidens. Der Operateur
negiert den Zusammenhang von Trauma und Hämaturie unter Hinweis auf
den normalen anatomischen Befund und hält dafür, daß es sich hier um
einen jener seltenen Fälle handle, wo ohne sichtbare Veränderung aus einer
unverletzten Niere Nierenblutung auftrete. Prof. J., ein Spezialist auf diesem
Gebiete, dessen Urteil vom Schiedsgericht angesprochen wird, widerspricht
diesem Gutachten und meint, daß ein stärkerer Druck auf die Niere oder
eine Dislokation bei dem Unfälle die Ursache des Leidens gewesen sei.
Deshalb brauchen noch anatomisch sichtbare Veränderungen in der Niere
nicht vorhanden gewesen zu sein. Der Zusammenhang zwischen Unfall
und Erkrankung wird von ihm als ganz bestimmt bejaht. Das Übergutachten
zweier weiterer Professoren hingegen schließt sich jenem des Operateurs an,
worauf Abweisung der Rentenansprüche erfolgt.
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VII.
Psychopathische Verbrecher.
Studien von
Frey Svenson,
Professor der Psychiatrie an der Universität Uppsala.
I.
Terschiedene Sittlichkeitsdelikte.
(Sadismus, Homosexualität, Päderastie, Sittlichkeitsverbrechen
gegen Minderjährige, Lustmord [?]).
1. Auszug aus den Gerichtsakten.
In einem Schreiben vom 17. Januar 1906 verordnete die König¬
liche Medizinaloberbehörde, daß der verdächtigte, sich in Unter¬
suchungshaft befindende Gefangene Hj. in die Irrenanstalt zu Upsala
aufgenommen werden solle, zur Beobachtung und Untersuchung auf
seinen Geisteszustand hin.
Aus den dem Schreiben beigefügten Akten, die das Gerichts¬
protokoll bilden, herrührend von dem Amtsgericht zu Stockholm, für
drei gegen Hj. angestrengte Prozesse: 1. den Prozeß R., 2. den
Prozeß Hj. und 3. den Prozeß über den Mord des Knaben Gustaf
Teodor K., geht folgendes hervor:
Ernst Axel Ferdinand Hj. wurde am 15. Januar 1857 in der
Hedwig-Eleonora-Gemeinde zu Stockholm geboren. Er wurde in das
Haus des Landgerichtsnotars und Referendars Hj. und dessen Gattin
als Pflegesohn aufgenommen und nahm den Namen der Pflegeeltern
an. Einmal hat er sich vor Gericht als unehelichen Sohn der Frau Hj.
angegeben. Mit 15 Jahren wurde er konfirmiert mit „gut“ im
Religionsunterricht. Er bestand sein Abiturientenexamen 1876 und
wurde im selben Jahre als Assistent im Kgl. Reichspostamt und im
folgenden Jahre im Kgl. Telegraphenamt angestellt. Während der
Zeit vor und nach dem Abiturium war er als Hauslehrer in ver¬
schiedenen Familien tätig. Zum Beamten der niedrigsten Lohnklasse
in der Telegraphenverwaltung wurde er 1892 befördert und war als
Archiv für Kriminalanthropologie. 87. Bd. 14
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VII. Frey Svkxsox
Registrator und Aktuar in der genannten Verwaltung tätig, bis er am
2. Dezember 1893 (Prozeß Hj.) wegen Mißhandlung, Verletzung und
widernatürlicher Unzucht mit Minderjährigen zu Zuchthaus auf 8 Jahre
2 Monate nebst Entlassung verurteilt wurde. Am 16. Juni 1894 wurde
das Gerichtsurteil in einem andern gegen ihn angestrengten Prozeß
wegen Mißhandlung und widernatürlicher Unzucht verkündet (Prozeß R.);
hier konnte dem Hj. widernatürliche Unzucht nicht nachgewiesen
werden, er wurde aber wegen Mißhandlung zu 30 Kronen Strafe
verurteilt. Aus dem Gefängnis wurde er am 2. August 1901 entlassen.
Nach der Entlassung hielt er sich in Stockholm auf und verdiente
seinen Unterhalt hauptsächlich durch Bücherverkauf. Während der
letzten Jahre hat er sich auch als Kommissionär Einkünfte durch
Kauf und Verkauf von Kunstsachen und Antiquitäten verschafft. Er
hatte ebenfalls eine Zeit vor seiner Verhaftung in einer Familie Unter¬
richt erteilt, deren Namen er nicht nennen will, da er ihn „nicht in
diesen Prozeß hineinmischen will“. Gegen Ende 1903 wurde er wegen
Sittlichkeitsverbrechen an einem minderjährigen Knaben angeklagt,
da er aber leugnete, konnte er nicht verurteilt werden. Hj. ist un¬
verheiratet.
Aus den Gerichtsakten geht hervor, daß Hj. wegen Betätigung
perversen Geschlechtstriebes in einer Anzahl von Fällen in Verdacht
gewesen ist, in einigen Fällen angezeigt und verklagt, in einem Falle
verurteilt worden ist. Die wichtigsten dieser Fälle werden hier nach
der Zeitfolge mitgeteilt.
1. Unbekannte Frau. — Januar 1888 (Zeitpunkt des Vergehens).
Mißhandlung bei Geschlechtsverkehr.
2. Johan L., geboren 1878. — Den 24. Juni 1888. Als L. am
Johannistage in der Nähe von Stockholm spazieren ging, wurde er von einem
unbekannten Manne angeredet, den er später als Hj. wiedererkannt hat,
der ihn aufforderte, ihm in den Wald zu folgen. Als sie in den Wald
kamen, befahl der Mann L., die Hosen herunterzuziehen; er wollte sehen,
ob der Knabe Schläge bekommen habe. Als dieser der Aufforderung des
Mannes nachgekommen war, setzte er sich auf den Boden, befahl dem
Knaben sich noch mehr zu entblößen und ergriff ihn. L. begann zu
schreien und wollte nach Hause gehen, aber der Mann nahm einen Tannen¬
zweig und schlug ihn, bis er ruhig wurde. Darauf entblößte sich der Mann
und führte sein Glied, während er den Knaben festhielt, in dessen After
hinein, wobei er hin- und herrieb. L.s Mutter erzählte, daß sie, als ihr
Sohn gegen 10 Uhr nicht zurückgekommen war, ihn suchen ging und ihn
so verweint und aufgeregt fand, daß sie anfangs nicht verstand, was er
sagte. Nachdem der Knabe nach seiner Rückkehr erzählt, was geschehen,
besah die Mutter seinen Körper und fand Streifen auf dem Gesäß, als ob
er geschlagen worden sei; außerdem schien das Gesäß geschwollen zu sein.
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Psychopathische Verbrecher.
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3. Maria E. 0., geboren 1879. — Den 17. Februar 1889. Betastung
der Geschlechtsorgane von einem Manne, der nachher als Hj. wiedererkannt
wurde.
4. Thyra D., geboren 1879. — 1. Februar bis Mitte Mai 1891. Mi߬
handlungen während der Unterrichtsstunden (einmal auf dem entblößten Ge¬
säß), karessierende Betastung des Körpers. Die Mutter D.s, Haushälterin Hj.s,
erklärt, daß Hj. sehr zynisch und brutal gewesen sei. Einmal hat er zum
Beispiel beim Mittagessen geäußert: „Sehen Sie Frau D., ich denke nur an
die — —, aber sehen Sie, ich will nur so kleine,“ wobei er ein Papier
ungefähr bleistiftdick zusammenrollte. Einmal fand Frau D. im Zimmer H.s
ein kleines, schmutziges, ungesäumtes Kindertaschentuch und einmal einen
Kinderstock. Auf die Frage, wozu er einen Stock anzuwenden pflegte,
antwortete er: „Damit kann man kleine Kinder schlagen, die man gelegent¬
lich heraufnimmt“, oft wiederholte er, daß man „alles, was man will, tun
kann, wenn es nur niemand weiß“.
5. Laura M. P., geh. 1. Januar 1880. — 16. September bis
14. November 1891. Die kleine P., die Waisenkind war, wurde von Hj.
auf eine Annonce hin als Pflegekind angenommen. Anfangs lagen Hj. und
das Mädchen nach ihrer Aussage in getrennten Zimmern, aber später bekam
sie auch ihre Schlafstätte in Hj.s Schlafzimmer. Oft wurde sie aufgefordert,
sich zu ihm zu legen, manchmal legte sie sich aus eigenem Antrieb zu ihm.
Eines Nachts, als sie eingeschlafen war, mit dem Rücken zu Hj. gewandt,
wachte sie auf, als Hj. sie zu sich drehte, mit der Hand unter ihren Leib
kam und sie an sich preßte. Als sie, nachdem sie sein Glied ihre Leisten
berühren fühlte, unruhig wurde, nahm Hj. sie und trug sie, noch immer
fest an sich gedrückt, in ihr eigenes Bett. Hj. machte keinen Versuch,
Unzucht mit ihr zu treiben, aber er war „schlecht“ gegen sie. Bisweilen
befahl er ihr, wenn er nach Hause kam, sich bis aufs Hemd zu entkleiden,
legte sie über die Knie und schlug sie mit einem Stock oder mit einer Rute.
Als sie bei einer solchen Gelegenheit fragte, weshalb er sie schlüge, bekam sie zur
Antwort: „Das ist egal, ich schlage dich, weil ich dich liebe“. Einmal
fragte er nach einer Bastonnade, ob sie fand, daß es „gut täte“, und als sie
dabei nahe am Weinen war, drohte er ihr mit mehr Schlägen, wenn sie
weine, und zwang sie zu sagen, daß es gut täte. Einmal als er das Mäd¬
chen in Verdacht hatte, daß sie sein Verbot übertreten und eine Frau Dph.
besucht hätte, prügelte er sie mit einer Rute auf den bloßen Körper, grade
ehe sie ins Bett ging; als sie im Bette weinte, schlug er sie mit einem
Stock, sodaß sie blauschwarz wurde und den folgenden Tag nicht sitzen
konnte; er behauptete, daß sie vor Wut weine. Schließlich gelang es ihr,
ihrer Schwester von der Behandlung, der sie ausgesetzt war, Mitteilung zu
machen, worauf sie zu ihren früheren Pflegeeltern zurückgebracht wurde.
Der Arzt konstatierte, daß Merkmale von Mißhandlungen vorhanden waren.
Hj. gab an, daß er einmal das Mädchen, weil sie Frau Dph. besucht hatte,
mit der Rute gezüchtigt habe, sodaß Blut hervorkam. Er wollte nicht, daß
sie mit Frau Dph. verkehre, da diese sowohl in moralischer wie in anderer
Hinsicht dem Mädchen keine geeignete Gesellschaft sei. Die Erzählung des
Mädchens sei entweder ein Traum oder erfunden, damit sie von Hj. weg¬
käme. Seine Feinde redeten schlecht zu dem Mädchen von dem Verhältnis
zwischen ihm und dem Pflegevater, deshalb wolle das Mädchen fort. Frau D.
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VII. Fbey Svenson
sei Hj. und dem Mädchen feindlich gesinnt, weil er letzterer soviel Freund¬
lichkeit erwies und Frau D. selbst keine.
6. Anna L., geboren den 31. Mai 1877. — Den 17. Januar 1892
lockte Hj. sie mit nach Hause, zwang sie Punsch zu trinken, schlug sie
ins Gesicht, als sie seinem Befehl, die Röcke emporzuheben, nicht folgen
wollte, drohte ihr mit einem Stock, den er jedoch nicht zu gebrauchen wagte,
als sie so laut wie möglich schrie, betastete ihre Beine und Geschlechtsteile.
7. Unbekannte Frau (?). Mißhandlung „einer Dame von der
Straße“.
8. Dagmar R., geboren den 25. April 1885. — 15. Februar 1892
bis Januar 1893. Am 15. Februar 1892 übergab die unverehelichte Gustafva
R. dem Registrator Hj. auf Grund einer Annonce ihr Kind mit oben¬
genanntem Namen nebst Taufschein. Da die Mutter Verdacht hegte, daß
Hj. das Kind schlecht pflegte und es benutzte, um seine sinnlichen Triebe
auf unnatürliche Weise zu befriedigen, begab sie sich — nach eigener Aus¬
sage —- im Januar 1893 in Hj.s Wohnung, um das Kind zurückzufordern.
Hj. versuchte nun wie bereits viele Male zuvor die R. zu überreden, einen
Überlieferungsurkunde mit dem Inhalt, daß das Kind für immer dem Hj.
mit Vaterrechten für ihn oder jedweden von ihm bestimmten ohne die
geringste Einmischung von Seiten der Mutter überlassen werde, und daß
die Mutter sich verpflichte, weder selbst noch durch andere genanntes Kind
je zu besuchen oder sieh nach ihm zu erkundigen. Während der Beratung
hierüber entstand ein Streit, in dem Hj. die R. beschuldigte, das Mädchen
„übergelegt“ und anderen Personen gestattet zu haben, widernatürliche Un¬
zucht mit ihr zu treiben. Als die R. dagegen protestierte, schlug sie Hj.
mit einer Flasche ins Gesicht und trieb sie auf den Vorplatz hinaus, wo
sie von Polizisten aufgenommen und nach Hause gebracht wurde. Die
kleine R. erzählt, daß Hj. und sie im selben Zimmer schliefen und daß
Hj. ihr oft befahl, sich zu ihm zu legen. Sie ging niemals von selbst in
sein Bett, außer mitunter morgens, um mit ihm Kaffee im Bett zu nehmen.
Oft schlug er sie mit einer Rute oder einem Stock, ohne daß sie etwas
getan hatte. Hj. sagte, daß er sie schlüge, „damit sie artig würde, wenn
sie groß sei“. Manchmal verletzte er sie auf andere Weise, indem er
sie mit einem Kissen unter dem Rücken aufs Sofa legte, ihre Beine in die
Höhe hob und sein Glied in ihren After einführte und damit hin- und her¬
rieb, was ihr große Schmerzen verursachte. Da sie sich dieser Behandlung
nicht freiwillig unterzog, wurde sie häufig mit Rute und Stock geschlagen,
bis sie nachgab. Sie wagte nicht, über Hj.s Behandlung zu sprechen, weil
er es ihr verboten hatte.
Die vorher genannte Frau Dph. sagt im Zeugenverhör aus, daß Hj.
das Mädchen eingesperrt gehalten hätte, wenn er ausging, und Frau D.
verboten hätte, mit ihr zu sprechen. Das Kind sah verstört und vergrämt
aus, was Frau Dph. Anlaß gab, Befürchtung und Verdacht zu hegen, daß
es zu Unzucht mißbraucht wurde. Am 17. August hörte sie, bald nachdem
Hj. gegen 10 Uhr abends nach Hause gekommen war, aus seinem Zimmer
lautes Klatschen wie von Schlägen auf den bloßen Körper. Frau Dph.,
die darauf in eine an Hj.s Zimmer gelegene Kammer ging, hörte die Kleine
sagen: „Lieber Papa, schlage mich nicht so hart,“ worauf Hj. kurz und
heftig zurück gab: „Liebe Dagmar, wenn du Papa gehorchst, bekommst du
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Psychopathische Verbrecher.
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etwas Gutes“. Frau Dph. hegte nun den Verdacht, daß Hj. das Mädchen
zwingen wollte, sich zur Unzucht gebrauchen zu lassen und rief laut aus:
„0 Gott, daß man in einem solchen Nest sein soll!“ Am folgenden Tage
brachte Hj. das Mädchen aufs Land, und sie kehrte nicht zurück, bis
Frau Dph. am 1. Oktober fortzog. Ein Dienstmädchen erzählt unter
anderem, daß einmal Hj. behauptet hätte, die Kleine sei ungehorsam ge¬
wesen, und hätte sich 10 Minuten mit ihr eingeschlossen und sie mit einem
Rutenbündel geprügelt, welches er in einer Glasvase im Zimmer stehen
hatte. Hj. verneint alles, was ihm zur Last gelegt wird; alles sei Ver¬
leumdung. Einige Frauen, die bei ihm beschäftigt waren, seien seine Feinde,
die seinen Pflegekindern schlechtes von ihm einzureden versuchten. Er
hebt hervor, wie völlig sinnlos es gewesen wäre, die kleine R. zu prügeln,
um sie zur Unzucht zu benutzen, da er sie ja mit Gewalt hätte nehmen
können. Die Schläge, die Frau D. vernommen habe, erklärte er so, daß
sie gehört habe, daß er — was er manchmal zu tun pflegte — die Hände
hart zusammenschlug, um das Mädchen aus ihrem Haibschlummer zu er¬
wecken, wobei sie geschrien habe. Seine Pflegekinder pflegten morgens in
sein Bett zu kommen, sie hätten selber Vergnügen daran gefunden, und er
habe nichts Anstößiges darin gesehen.
Auf Grund der Beweisaufnahme im Prozeß R. beantragte die Staats¬
anwaltschaft, daß Hj. wegen Gewalttätigkeit und unrichtiger Behandlung
des Kindes bestraft werden sollte; in Bezug auf das Sittlichkeitsverbrechen
wurde beantragt, daß das Urteil der Zukunft überlassen würde, da mehr
als halber Beweis vorgebracht worden sei. Es wurde in Bezug auf die Gewalttätig¬
keit dem Hj. anheimgestellt, sich durch Eidesschwur frei zu machen, in Bezug auf
den übrigen Teil des Prozesses wurde am 16. Juni 1894 das Urteil gefällt,
daß Hj. wegen Mangels an Beweis nicht gegen sein Verneinen bestraft
werden könne, obgleich belastende Umstände vorhanden seien und die
Wahrscheinlichkeit zu seinen Ungunsten spreche.
9. 10. Ingeborg Hj., geboren d. 18. Mai 1885. — 11. März —
3. Oktober 1893. Iwan Hj. geboren 1888. — 21. September —
3. Oktober 1893. Der Mutter dieser Kinder, der Frau von Hj.s Pflege¬
bruder, wohnhaft in R., hatte Hj. den 24. Januar geschrieben: „Die
Verhältnisse haben sich, wie ich nachher sagen werde, für mich so
gestaltet, daß es wünschenswert wäre, daß sowohl Du wie Deine
Kinder hier bei mir wären. Die Lage ist augenblicklich folgende:
Man hat mir D. nach einem skandalösen Auftritt in meiner Wohnung
mit ihrer Mutter fortgenommen, eine Anklage ist gegen mich an¬
gestrengt worden, weil ich das Weib mißhandelt haben sollte, und
um den Skandal noch größer zu machen, hat sie in den Prozeß
hineingezogen, daß ich mit der Krabbe Unzucht getrieben haben solle (!).
Eine andre gegen mich feindlich gesinnte Frau hat eigentlich die
Sache ins Werk gesetzt. Indessen ist Geld — Gelderpressung die
Hauptsache bei der ganzen Geschichte. Fortsetzung folgt, Zeitungs¬
artikel, Skandal. Kommst Du nach Stockholm, wird F. nachkommen,
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VII. Frey Svenson
und dann folgen weitere Skandale. Würdest Du willig sein, I. hier¬
her zu senden, damit ich einen Versuch machen könnte, ob ich mich
an sie anschließen kann, worauf wir die Verhandlungen über Deine
und Deines Sohnes Reise nach hier fortsetzen könnten.“ Am 11. Febr.
kam folgender,{Brief des Schwagers an Frau Hj. an: „Die Unan¬
nehmlichkeiten des gegen mich angestrengten Prozesses bekümmern
mich wenig; was mein Verhältnis zum Kinde betrifft, kann nichts
bewiesen werden und ist nichts zu beweisen. Meine Kollegen und
besonders mein Chef sind wohlwollend gestimmt. Aus der Anklage
wegen Sittlichkeitsverbrechens wird natürlich nichts; und das Weib
wird wahrscheinlich ins Loch kommen, wenn sie nicht im letzten
Moment ihre Behauptungen zurücknimmt. Es kümmert mich also
herzlich wenig, aber die Einsamkeit finde ich unerträglich. Ich habe
noch mein Dienstmädchen, aber es gefällt mir nicht zu Hause. Das
gütige Geschick will es vielleicht, daß Dein kleines Mädchen mir die
Freude zurückbringt; es ist wohl anzunehmen, daß ich sie wie eine
Verwandte lieben werde, da ich mich auch an Nichtverwandte habe
anschließen können. Gib mir umgehend Nachricht, wieviel Du für
die Reise des Kindes nötig hast. Über Deine und Deines Sohnes
Reise können wir später beraten.“ Ein Brief vom 20. Februar ent¬
hielt: „Was man in einigen Klatsch- und Schundblättern gegen mich
geschrieben hat, berührt mich ebenso wenig wie die ganze Gerichts¬
sache — ein Glas faules Wasser. Die Zeugen bezeugten, mit wie
warmer Liebe und Milde ich D. behandelte, die Mutter war bei der
letzten Gerichtsverhandlung stumm vor Enttäuschung und Selbstver¬
achtung.“ Am 1. März schrieb er: „Hiermit übersende ich 25 Kronen
als Reisegeld. Gefällt sie mir, dann kannst Du ihre Zukunft als ge¬
sichert ansehen, gleichviel ob ich lebe oder sterbe. Wenn F. glaubt,
um meinetwillen Verluste gehabt zu haben, bekomme ich dann Ge¬
legenheit, es an seiner Tochter zu vergelten. Mein Erscheinen vor
Gericht ist auch zu Ende. Ich werde schlimmstenfalls nur einige
Kronen Strafe zahlen müssen, weil ich die Alte geprügelt haben
sollte.“ Auf Grund der Aufforderungen ihres Schwagers schickte
Frau Hj. ihre Tochter I., in dem Glauben nämlich, daß Hj. an den
Verbrechen, deren er angeklagt war, unschuldig sei. I. kam den
11. März nach Stockholm. In zwei, Mai und August datierten Briefen
berichtet der Schwager, daß die Kleine vergnügt und fidel sei,
daß es ihr gut gefiele und daß sie sich nicht nach R. zurücksehne.
Das Mädchen hatte selbst in einigen von Hj.s Briefen hinzugefügt, daß
sie sich gut „amüsiere“. Auf Wunsch des Schwagers, zu ihm zu
kommen, um seinen Haushalt zu führen, traf Frau Hj. mit ihrem
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Psychopathische Verbrecher.
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Sohne Iwan am 21. September in Stockholm ein. Als Frau Hj. am
Tage ihrer Ankunft, ehe Hj. nach Hause gekommen war, die Kleine
traf und fragte, wie sie es hätte, antwortete diese: „So fein und
amüsant“. Am Nachmittag desselben Tages, als Hj. bald nach seiner
Rückkehr sah, daß der Knabe sich freute, seine Schwester wiederzu¬
sehen, und deshalb laut plauderte, zog er ihn aus, warf ihn ins Bett,
nahm einen Stock und verschloß die Tür, sodaß er eine Weile mit dem
Knaben allein blieb. Die Mutter wagte nicht zum Knaben hineinzu¬
gehen, sondern der Kleine blieb ohne Essen bis zum folgenden Morgen
im Bette liegen. Die Mutter fand auf Rücken, Brust, Armen und
Beinen sowie Ohren eine Menge teilweise einander kreuzende blau¬
schwarze Streifen nach dem Prügeln.
Schon am ersten Tag sagte Hj., daß er von der Schwägerin in
allem blinden Gehorsam fordere, sonst würde er ihr die Augen ein-
drücken und sie samt dem Jungen durchs Fenster auf die Straße
werfen, was ihm nicht mehr als die Fensterscheibe kosten würde —
und die bezahle er gerne.
Eines Tages, Ende September, kam beim Mittagessen das Ge¬
spräch auf D., und dabei äußerte Hj. — indem er wie gewöhnlich
die schlechtesten und rohesten Ausdrücke benutzte — daß er sie
wiederholt per anum gebraucht habe. Dasselbe habe er auch mit
ihrem Mädel gemacht, fügte er hinzu.
Frau Hj. legte diesen Äußerungen kein größeres Gewicht bei,
weil sie glaubte, daß der Schwager nichts weiter damit meinte, zumal
er oft berauscht war. Am selben Mittag, wo er die eben erwähnte
Äußerung gemacht hatte, sagte er zu der Kleinen: „Geh hinaus und
laß dich von deinem Bruder gebrauchen. Er forderte die Schwägerin
auf, darüber zu wachen, daß die Kinder in diesem Falle seinen Be¬
fehlen gehorchten, denn sonst täten sie es an sich selber und das sei
gefährlich“. Hj. hatte auch zu seiner Schwägerin geäußert, daß er
ihre fleischlichen Lüste nicht befriedigen könne, denn sein Vergnügen
sei zu saufen und das Mädchen per Anum zu gebrauchen; er
befahl ihr, abends auszugehen, den Knaben mitzunehmen und ihn in
derselben Weise benutzen zu lassen, wie er das Mädchen benutze,
denn es gäbe solche, die Kinder vorzögen.
Eines Tages befahl Hj. der Schwägerin den Jungen auszukleiden
und ihn hereinzubringen, „denn er wolle nachsehen, wie er aussehe.“
Frau Hj., die glaubte, daß er sehen wollte, wie die Rute getroffen
hätte, kam dieser Bitte nach. Als sie mit dem Knaben eintrat, klopfte
er ihn auf die Oberschenkel und auf die Geschlechtsteile und fragte,
ob „es dem Jungen zu gelingen pflege“ und begann mit der Hand
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VII. Frey Svenson
das Glied des Knaben zu reiben, wobei das Kind „au“ und „Mama“
rief. Der Onkel sagte dann: „Nanu, es geschieht dir doch nichts
Böses“, und er versprach dem Jungen Birnen, wenn er stille säße.
Die Mutter entfernte sich dann, sodaß sie nicht weiß, was dann folgte.
Ein andermal rief Hj., während er morgens noch im Bette lag, den
Knaben zu sich. Als dieser nicht seinem Befehl nachkam, trug die
Mutter ihn, um ihn vor Schlägen zu schützen, zum Schwager hinein;
dieser legte ihn sofort mit herabgelassenen Hosen rittlings und zwar
mit dem Rücken zu ihm gewandt über seine eigenen nackten Ge¬
schlechtsteile und versuchte durch Reiben mit der Hand am Gliede
des Knaben Erektion zu bewirken. Als. dieser „au“ sagte und loszu¬
kommen versuchte, drückte ihn der Onkel, um ihn festzuhalten, so
hart an seine Leisten, daß blaue Stellen davon zurückblieben. Hj.
mißhandelte den Knaben fast regelmäßig nach jeder Mahlzeit, indem
er dem Knaben, als dieser ihm gesegnete Mahlzeit wünschte, auf jede
Wange eine Ohrfeige gab.
Am Abend des 2. Oktobers weckte Hj. den Knaben, als dieser
schlief. Er fragte ihn, ob er gut schliefe; als der Knabe hierauf keine
Antwort gab, schlug Hj. ihn zweimal mit der Hand auf das Gesäß.
Später nachts warf er ihn Hals über Kopf aus dem Bett auf den
Fußboden und dann — im bloßem Hemd — in die Küche hinaus
und befahl ihm, dort während der Nacht allein zu bleiben. Er ver¬
bot der Mutter, dem Jungen irgend welche Kleider zu geben. Es
gelang ihr jedoch später sich zu ihm zu schleichen, um ihm
eine Decke und ein Kissen zu geben. Es war Frau Hj., die
all dies geduldet hatte, weil ihr völlig die Existenzmittel fehlten,
inzwischen gelungen, die Adresse von einem Bekannten aus ihrer
Heimat ausfindig zu machen, der bereit war, ihr und den Kindern
ein Unterkommen zu gewähren, und am 3. Oktober entfernte
sie sich nachmittags aus des Schwagers Wohnung. Es scheint an¬
fangs ihre Absicht gewesen zu sein, das Mädchen zurückzulassen,
aber weil sie sie unter verzweifelten Tränen eindringlich darum bat
und die Hauswirtin ihr zuredete, nahm sie doch die Kleine mit.
Als sie sich am nächsten Tage einfand, um ihre Sachen abzu¬
holen, fand sie, daß ihre Möbel, ihr Geschirr und sonstige Sachen
zerbrochen, Bettzeug und Kleider zerschnitten seien usw.
Einen besonders klaren und verständlichen Bericht vor Gericht
liefert Ingeborg Hj. im folgenden: Anfangs zeigte sich der Onkel
ihr gegenüber sehr freundlich, ließ sie mit einem Dienstmädchen die
Stadt besehen und nahm sie selbst auf einen Spaziergang mit. Sie
hatte ihre Schlafstätte auf einem Sofa im Arbeitszimmer des Onkels?
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Psychopathische Verbrecher.
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hatte aber auch manche Nacht ausgekleidet im Bette des Onkels ge¬
legen. Ungefähr 8 Tage nach ihrer Ankunft nahm der Onkel sie
eines Nachmittags mit in sein Arbeitszimmer, das hinter den beiden
andern Zimmern lag, nahm einige zusammengebundene ßutenzweige
hervor und sagte: „Nun mußt du dich daran gewöhnen Schläge
zu ertragen.“ Er befahl ihr die Beinkleider herunterzulassen, ließ
selbst seine Hosen herab, entblößte seine Geschlechtsteile und nahm
auf einem Sofa Platz. Danach bekam sie Befehl, die Röcke aufzu¬
heben, die Strümpfe herunterzuziehen, worauf er sie auf sein linkes
Knie legte und sie auf Rücken, Gesäß und Beine schlug. Als sie
zu weinen anfing, zwang er sie, indem er ihr mit mehr Schlägen
drohte, das Weinen zu unterdrücken. Als er sie eine Weile geprügelt
hatte, legte er sie mit dem Rücken auf das Sofa, führte sein Glied
in ihren After ein und rieb hin und her. Dies schmerzte sehr, aber
sie w r agte nicht zu weinen. Nachher verbot er ihr strenge, von dem
Geschehenen zu irgend jemand zu sprechen. Einige Tage später
verfuhr er auf die gleiche Weise.
Darauf verbot er ihr, mit den Dienstboten zusammenzutreffen.
Wenn der Onkel ausging, wurde sie in sein Arbeitszimmer eingesperrt
und dort mußte sie bis zu seiner Rückkehr bleiben. Auch verbot
er ihr, zu weinen, wenn sie allein war; sie wagte es auch nicht zu
tun, aus Furcht, daß es an den Spuren der Tränen bemerkt würde.
Bis das Dienstmädchen am 1. Juli ihren Platz verließ, war sie in
einem Zimmer eingeschlossen; dann durfte sie sich in der ganzen
Wohnung aufhalten, aber es war ihr untersagt, sie zu verlassen. Der
Onkel schlug und mißhandelte sie fast jeden Nachmittag. Häufig
schlug er sie so heftig, daß auf dem Rücken und Gesäß Blut her¬
vorkam; sie war so empfindlich, daß sie zu gewissen Zeiten ihren
Rücken nicht stützen konnte, wenn sie aufrecht saß, und auch nicht
liegen konnte. In den Pausen während des Prügelns trank Hj. seinen
Nachmittagskaffee und Punsch. Später benutzte er einen Stock zum
Prügeln, und dabei schlug er sie so heftig, daß sie sich schmutzig
machte. Es geschah mitunter, daß er sie vor dem Aktus mit der
Hand auf Nase und Mund schlug, daß Blut herauskam; in solchen
Fällen war sie erst nicht so heftig geschlagen worden. Nachdem kein
Dienstmädchen mehr vorhanden war, wurde sie vom Prügeln ver¬
schont, weil „sie dann soviele Besorgungen zu machen hatte,“ aber
mißbraucht wurde sie trotzdem täglich. Manchmal trieb er Un¬
zucht mit ihr, wenn sie bei ihm im Bett lag. Häufig war sie von
dem Aktus naß geworden, und dann trocknete sie sich mit dem
Hemd ab.
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VII. Frey Svenson
Hj. hatte erzählt, daß er ebenso mit D. getan hätte; „er hätte
es so mit allen seinen Mädchen gemacht“, und so „täten sie es in jeder
Familie“. Ehe er sie mißbrauchte, wurde ihr immer befohlen, ein
Paar Schnürstiefel anzuziehen, deren Schäfte ihr bis an die Waden
gingen, und die von Dagmar zurückgeblieben waren.
Am Abend nach der Mutter Ankunft kam der Onkel zu den
Kindern hinein, die in einem Bette lagen, und legte sich zu ihnen.
Die Mutter wollte hinein, wurde aber abgewiesen. Darauf betrieb er
mit dem Mädchen die vorhin geschilderte Unzucht, wobei sie oben
auf der Decke lagen und der Junge zusah. Nachdem dies getan
war, befahl er dem Knaben „die Schwester zu gebrauchen“, und zwang
ihn, die Geschlechtsteile des Mädchens zu befühlen. Auch in An¬
wesenheit der Mutter hatte er den Kindern zu koitieren befohlen.
Eines Tages hatte Hj., nachdem er das Mädchen benutzt hatte,
gefragt, ob man auch zu Hause so mit ihr getan habe, worauf sie
nichts anderes als „ja“ zu antworten wagte, obgleich es nicht wahr
war. Auf die Frage, welche es getan hätten, hatte sie eine Menge
Namen von Bekannten der Eltern in R. aufgezählt. Auch fragte er,
ob der Vater so mit ihr getan hätte, und sie hatte auch hierauf nichts
anderes als „ja“ zu antworten gewagt. Zum letztenmal benutzte
der Onkel sie zur Unzucht am 1. Oktober.
Aus dem Gutachten des 2. Stadtarztes ist folgendes zu zitieren:
Die kleine I. erscheint unruhig und verstört. Lebhaftes Gemüt, gute
Intelligenz. Sie erzählt in einer klaren und von guter Beobachtung
zeugenden Weise von den Roheiten mancherlei Art, denen sie aus¬
gesetzt gewesen ist. Man sieht am linken Hinterbacken 3 rote, 1 cm
breite, mehrere cm lange Streifen. Anscheinend rühren sie von Stock¬
schlägen her. Starke Röte in und neben der Darmöffnung herum.
Dieselbe ist weiter als normal. Unmittelbar an derselben sieht man
eine längliche flache Wunde, groß wie ein Hanfsamenkorn, und in der
Öffnung selber einige flache, feine, 1 cm lange Risse in der äußersten
Schicht der Schleimhaut. Die äußeren Geschlechtsteile stärker gerötet
als normal. Keine Anzeichen von venerischer Krankheit. — Auf
Grund des Angeführten wird das endgültige Gutachten abgegeben,
daß das Mädchen „Spuren von Mißhandlung trug, die anscheinend
von Stockschlägen herrührten, und daß die Beschaffenheit ihres Afters
der Annahme Stütze verleiht, daß sie Gegenstand des vorhin ge¬
nannten Sittlichkeitsverbrechens gewesen ist.“
Aus dem Gutachten über den Knaben Hj. ist anzuführen: „Auf
dem linken Ohr eine 2 Pfennig große blaue Stelle, 4 ebensolche auf
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Psychopathische Verbrecher.
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der linken Hüfte; auf der Rückseite des linken Oberschenkels zahl¬
reiche 1 cm breite und auf jedem Unterarm Streifen einige cm lang.
Die Geschlechtsteile zeigen nichts Abnormes.
Bei der Hausuntersuchung fand man in Hj.s Wohnung auf einem
Bord im Bücherschrank hinter den Büchern 3 Bündel Birkenruten;
eins derselben größer mit einem Durchschnitt von 4 cm. Die übrigen
waren kleiner und sämtlich an den Spitzen wie vom Peitschen abge¬
nutzt; auch fand man einen Stock. Ferner verschiedene Hemden
der kleinen Hj. und ein Paar Beinkleider, welche auf der Innenseite
zahlreiche Blutflecke hatten, die von Striemen am Bücken, Gesäß und
Beinen herrührten; mehrere blutige Taschentücher und Handtücher,
auch ein schmutziges Herrenhemd, am vorderen Zipfel blutig. Eins
der Hemden trug schmutzige Spuren. Die Hemden wie die Bein¬
kleider zeigten Flecke, die Spuren von Samenverlust zu sein schienen.
Bei der gerichtlichen medizinischen Untersuchnng konnten auf einem
der Hemden Samenkörper nacbgewiesen werden.
Hj. verneint alles, was ihm zu Last gelegt wird. Er habe weder
Mutter noch Kinder mißhandelt, er habe mit letzteren keine Unzucht
getrieben und sich weder in Taten noch Worten unanständig gegen
sie benommen. Was die kleine Hj. erzählt, sei etwas Auswendigge¬
lerntes, was die Mutter ihr beigebracht habe. Er gibt zu, sich mit
dem Mädchen eingeschlossen zu haben, und daß er sie von dem Ver¬
kehr mit dem Dienstmädchen ferngehalten habe, weil er fürchtete,
daß jene mit dem Kinde über die R.sche Sache sprechen würde, und
weil er aus den Äußerungen des Mädchens den Verdacht bekommen
habe, daß man etwas aus ihr herauszulocken versuchte. Wirklich
eingeschlossen sei das Mädchen jedoch nur einige Male gewesen,
und zwar als er einen Kerl mit verdächtigen Absichten auf der
Straße hatte umherstreifen sehen. Das Mädchen sei sehr artig gewesen,
aber er hatte es als Notwendigkeit angesehen, sie zu züchtigen, und
dabei die gefundenen Butenbündel benutzt. Der Stock wurde zum Zeug¬
klopfen benutzt. Er hatte sie 2 oder 3 mal mit der Rute und eben¬
so viele Male mit dem Stock geprügelt. Blut sei dabei auf dem Gesäß
und an den Beinen zum Vorschein gekommen, dagegen, wie er
glaubte, nicht auf dem Bücken — und es sei ja möglich, daß die
Blutflecke auf den Hemden hiervon herrührten. — Indes sei das ja
eine Nebensache, an die niemand gedacht habe, eine natürliche Folge des
Prügelns, sonst wäre dies ja eine Spielerei, und dann wäre es besser
gewesen, es zu unterlassen. Das Blut auf den Taschentüchern und
Handtüchern rührte davon her, daß er sie beim Nasenbluten benutzt
habe, und das Blut auf dem gefundenen Herrenhemd von einer Men-
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VII. Frey Svenson
struationsblutung irgend eines Frauenzimmers, das er bei sieb gehabt
und die sich auf diesem Hemd abgetrocknet hätte.
Anfangs verneinte er die Beschädigung von Frau Hj. Sachen und
erklärte es so, daß eine Frau von der Straße sich dazu schuldig
gemacht habe, während er selber schlief. Später fand er es jedoch
für gut, sich- der Beschädigung als schuldig zu bekennen; er erklärte,
daß er durch den Verlust des Kindes so verzweifelt gewesen sei,
daß er, der außerdem keine Nahrung zu sich genommen, sondern
nur starke Getränke genossen hätte, beinahe „von Verstand gewesen
sei und von dem nach 3 Uhr nachmittags Gesehenen keine klare Auf¬
fassung gehabt habe.“ Nun erinnerte er sich jedoch, daß er die Zer¬
störung ins Werk gesetzt und gleichzeitig auch den Bezug von einem
ihm gehörenden Sofa zerschnitten habe. (Es ist konstatiert, daß der
Stoff auf einem ihm gehörenden Puff von geringerem Wert mit einem
.Schnitt auf dem Sitz zerschnitten worden ist).
Hj. betonte, daß, wenn das Mädchen wirklich mißbraucht worden,
dies auf solche Weise geschehen sei, daß irgend eine feindlich ge¬
sinnte Person das Kind mit sich fortgelockt und die Tat begangen
habe, um auf Hj. den Schein zu werfen, daß er es getan, und ihm
dadurch zu schaden. Nach dem Bericht des Mädchens war sie täglich
von bisweilen sogar 13 Männern in der Mutter Wohnung zu B. benutzt
worden mit Einverständnis seitens der Mutter, um dieser ein kleines
Einkommen zu verschaffen.. Einige Familien in B. — habe das
Mädchen erzählt — pflegten sich mit ihren kleinen Kindern bei irgend
einer kinderlosen Familie zu treffen. Die Kinder wurden in Anwesen-
heit aller nackt hingelegt, damit die Männer sie betrachten und sich
daran weiden könnten. Sowohl Familienväter wie ledige Männer
hätten zuvor die Kinder auf den bloßen Körper geprügelt, sodaß Blut
geflossen sei, und dann mit ihnen Unzucht per anum betrieben,
dies im Anblick von allen und auch Väter mit ihren eigenen Kindern.
Der Vater der kleinen Hj. hätte sie selbst in der gleichen Weise ein
paarmal täglich benutzt. Hj. wollte nicht die Namen der betreffen¬
den Personen angeben, denn „sollte man anfangen in solchen Sachen
zu wühlen, so würde man es mit Millionen zu tun haben“. Nach
weiterer Aufforderung nannte er jedoch einige Namen. In der späteren
Gerichtsverhandlung behauptete er jedoch dem keinen rechten Glauben
zu schenken, was das Mädchen über die Boheiten erzählte, denen
sie ausgesetzt gewesen sei; er bestand aber darauf, daß das Mädchen
unter Tränen beteuert habe, daß während des Aufenthalts bei der
Mutter von fremden Personen mit ihr Unzucht getrieben worden sei.
Er beobachtete selbst, daß einmal, als das Mädchen Diarrhoe hatte,
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Psychopathische Verbrecher.
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der After derartig ausgeweitet sei, daß es sogar bei einem erwachsenen
Menschen für „unnatürlich oder wenigstens ungewöhnlich“ angesehen
werden müsse. Er fügte hinzu, daß auch die kleine D. erzählt hätte, daß
sie von ihrer Mutter an Männer der Lamby Werke verkuppelt worden sei.
Als in der Gerichtsverhandlung darauf hingewiesen wurde, daß das
ärztliche Gutachten besagte, daß das Mädchen kürzlich solcher Be¬
handlung ausgesetzt gewesen sei, machte Hj. den Einwand, daß
dies in solchem Fall nach der Mutter Ankunft geschehen sein müsse,
nach welchem Zeitpunkt er sich nicht für verpflichtet gehalten habe,
das Kind zu überwachen. Was die eingehende Schilderung des Mädchens
über die Art und Weise der Behandlung anbetrifft, der sie ausge¬
setzt gewesen, behauptete Hj., sie sei ihr von der Mutter einstudiert
worden; dieser hatte er den Inhalt des Berichts über die unverehe¬
lichte R. mitgeteilt. Das sei ja ganz dieselbe Geschichte.
Hj. betonte, daß er Gegenstand einer Liga gegen ihn feindlich
gesinnter Frauen sei, die Anstiftungen versuchten, und daß jene Frauen
der Schwägerin, deren Kinder doch bei ihm ihren Unterhalt gehabt,
eingeredet hätten, die oben erwähnte Anklage vorzubringen und sein
Verderben zu befördern — aber es könne diese Anklage durch keine
Gründe gestützt werden.
Während des Verhörs ließ Hj. durchblicken, daß er starke sexuelle
Triebe habe, welche er auf natürliche Weise befriedige. Er habe
wohl Frauen gezüchtigt, aber nicht „auf solche Weise“, sondern mit
•Ohrfeigen.
Das Amtsgericht verurteilte Hj., wie schon erwähnt, wegen wider¬
natürlicher Unzucht, wegen Beschädigung fremder Güter und wegen
absichtlicher Mißhandlung zu 2 Jahren 4 Monaten Zuchthaus und
Entlassung aus dem Dienst.
Das Oberlandesgericht „Svea Hofrätt“ setzte die Strafe auf 2 Jahre
2 Monate Strafarbeit herab. Bei der Entscheidung der Gerichtssache
am Oberlandsgericht Svea wünschte einer der Richter, daß vor der
endgültigen Behandlung des Prozesses die Akten der Königl. Medizinal¬
oberbehörde überwiesen werden sollten, um deren Gutachten zu er¬
halten, ob Hj. bei den betreffenden Taten den vollen Verstand besessen
habe, aber die anderen Mitglieder fanden eine solche Maßnahme nicht
erforderlich.
Vom Reichsgericht wurde Hj. wegen widernatürlicher Unzucht
mit Minderjährigen zu 8 Jahren 2 Monaten Strafarbeit verurteilt.
Nach Rückkehr Hj.s aus dem Gefängnis am 2. August 1901 sind
folgende Fälle von Wichtigkeit vorgekommen:
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VII. Frey Svenson
11. Karl Erik A., geboren Mai 1891. — Januar 1902. Versuch,
den Knaben in einen Wald zu locken, nachdem er ihm Bier zu trinken
gegeben hatte.
12. Carl Axel S., geboren am 3. Juli 1890.— Den 19. Januar 1902.
Als der Knabe mit einigen Gefährten an jenem Datum an einem Abhange
Schlitten fuhr, lockte ihn Hj. dadurch, daß er den Schlitten ergriff und ihn
fortzog, in ein Cafe hinein. Der Knabe wurde mit Kuchen und einer
Flasche Bier bewirtet. Als sie heraustraten, durfte der Junge selber den
Schlitten ziehen; der Mann führte ihn trotz seiner Weigerung in eine
Menge andere Cafös, wo sie überall Bier tranken, sodaß der Knabe so be¬
rauscht wurde, daß er sieh nicht mehr der Orte erinnerte, wo sie ge¬
wesen waren. Schließlich führte der Mann ihn in einen Wald. Dort zog
der Mann ihm die Hosen herab, drohte ihm mit Schlägen, falls er weine,
zog die Hosen hinten herunter und legte den Knaben kopfüber auf den
mitgenommenen Schlitten. Von dem, was dann geschah, hat der Knabe
nicht die geringste Ahnung, bis er sich wieder auf einer bekannten Straße
in der Stadt befand, wo er sich wieder zurecht fand. Die Mutter erzählt,
daß der Knabe beim Nachhausekommen gegen 6 Uhr nachmittags zu sehr
berauscht war, um von dem Vorgefallenen klaren Bericht erstatten zu
können, aber er hatte die Hosen aufgeknöpft und herabgelassen und war
recht naß auf dem Gesäß. Sie nahm an, daß eine unzüchtige Tat än dem
Knaben verübt worden sei, und machte der Polizei Anzeige.
Der Knabe S., der schon früher einen Herzfehler gehabt hatte, lag
nach jenem Tage 8 Tage zu Bett, wurde nie mehr gesund, sondern
„verlor den Appetit, wurde schwächer und magerer und fortgesetzt schlechter“.
Nachdem er einige Zeit in einer Ferienkolonie zugebracht hatte, kam er in
das Krankenhaus, wo er am 2. September 1902 an „Herzruptur“ starb.
Wegen ungenügender Beweise wurde der Prozeß dem Amtsgericht nicht
überwiesen.
13. Teodor Eugen E., geboren 1892. — In der Nacht zwischen
dem 26.—27. November 1902. Der Knabe E. war von Hj. in seine Woh¬
nung gelockt worden; dort hatte Hj. Sittlichkeitsverbrechen an ihm verübt,
indem er „einen Finger“ in den After des Knaben einführte und alsdann
hin- und herrieb.
14. Efraim Axel H., geboren am 16. Januar 1894. — Februar 1903.
Eines Abends im Februar 1903, als der Knabe H. sich zwischen 10 und
11 Uhr auf dem Nachhausewege von einer Bibelstunde befand und sich
von seinen Begleitern getrennt hatte, wurde er von einem Manne eingeholt,
der ihn anredete und fragte, wie er hieße, wo er wohne und wo -er zur
Schule ging. Der Mann versprach ihm ein Geldstück, wenn er mit ihm
kommen wollte, sagte aber nicht wohin, und der Junge folgte ihm durch
mehrere Straßen bis zu einem Park. Als der Knabe einmal zögerte, weiter
mit ihm zu gehen, versprach ihm der Mann eine Krone, wenn er ihm
folgen wollte, und sagte: „Sei nicht bange, ich tu dir nichts“. Während
des Spaziergangs hielt Hj. die ganze Zeit seinen Arm um den Hals des
Knaben. Als sie in den Park kamen, ergriff der Mann den Knaben beim
Kragen und nahm ihn ungefähr 50 Schritt weit mit sich in den Park. Als
der Knabe hierbei Widerstand leistete, sagte der Mann, „wenn er schreie.
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Psychopathische Verbrecher.
223
werde er Schläge bekommen“. Hierauf zwang er ihn, vor ihm auf einem
Parkwege voranzugehen, wobei der Mann ihm wenigstens 10 harte Schläge
auf die Beine gab und sagte, er wolle sehen, ob der Junge grade gehen
könne. Als sie mitten im Parke zu einer Bank kamen, befahl der Mann
ihm, sich zu ihm zu setzen. Er fragte ihn nun, ob er neue Schuhe an
habe, und nachdem er eine bejahende Antwort erhalten, hob er das eine
Bein des Knaben hoch, um seine Schuhe zu besehen, worauf er ihm „mit
der flachen Hand einen tüchtigen Schlag auf die Geschlechtsteile über die
deckenden Kleider“ gab, einen Schlag, der so heftige Schmerzen verursachte,
daß der Junge kaum Luft bekam. Hierauf erfaßte der Mann mit beiden
Händen den Kopf des Knaben und drückte seine Daumen so fest an die
Ohren, daß es sehr weh tat und den Jungen zwang, gegen seinen Willen
den Mund zu öffnen. Darauf kam er mit seinem alkoholriechenden Mund
an den des Knaben heran und steckte seine Zunge in den Mund hinein,
den Knaben mit festem Griff der einen Hand an der Kehle festhaltend,
legte er den Spazierstock beiseite und nahm aus der Tasche sein Taschen¬
tuch heraus. Als er dies verlor und sich beugte, um es aufzuheben, gelang
es dem Knaben, der glaubte, daß der Mann ihm das Taschentuch in den
Mund stecken würde, sich von dem „Griff um die Kehle“ loszureißen, und
er lief aus Leibeskräften nach Hause.
Der Knabe sah den Mann später zweimal wieder, einmal war er in
Begleitung seiner Mutter. Nach ihrer Angabe habe der Knabe ihr den
Mann mit den Worten bezeichnet: „Da ist der Mann, der'mich ermorden
wollte.“
Nach diesem Ereignis wurde der Junge nach der Aussage der Eltern
nervös, im Dunkeln furchtsam und wagte während der Nacht nicht allein
zu sein.
Auf dem Polizeibüro kannte der Knabe Hj. als den fraglichen Mann
wieder; er erschrak beim Anblick Hj.s und fing an zu weinen. Hj. ver¬
neinte, jemals mit ihm zusammen gewesen zu sein — dieser sei anscheinend
schon damals nervös gewesen, da er sieh ohne den geringsten Grund von
der Person getrennt habe, mit der er zusammen gewesen war, und deshalb
jene Person mit Hj. verwechselt habe.
15. Hilding Fredrik L., geboren am 29. Juli 1891.— Ende
Mai oder Anfang Juni 1903. Hj. mietete vom 1. Mai bis 26. Juni 1903
ein Zimmer bei der Witwe L. An jenem Zeitpunkt erwachte die Witwe L.
eines Nachts, indem sie ein Winseln hörte, und merkte, daß Hilding nicht
im Bette war, in welchem er mit seinem am 29. Juni 1894 geborenen
Bruder zu liegen pflegte. Das Winseln dauerte eine Weile, bevor sie völlig
erwachte und sich darüber klar wurde, daß es aus Hj.s Zimmer kam. Als
sie hörte, daß es Hilding war, der winselte, öffnete sie die Tür und rief:
„H., wo bist du? Was machst du da drinnen?“, worauf sie zur Antwort
bekam: „Mama, wo bin ich? Ich weiß selber nicht, wo ich bin.“ Sie ging
an Hj.s Bett und fand den Knaben unter der Decke neben Hj. liegend.
Der Knabe sagte: „Ach, Mama, ich weiß nicht, wo ich bin; es sind so
widerliche Gefühle im Sitzfleisch, Mama.“ Auf die Frage der Mutter, wie
er dorthin gekommen sei, antwortete er: „Das weiß ich nicht, ich weiß
selber nicht, wo ich bin.“ Nachdem die Mutter den Knaben herausgetragen,
antwortete dieser auf die Frage, ob Hj. dem Knaben weh getan habe:
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VII. Frey Svenson
„Man hat mich bestimmt im Sitzfleisch gekitzelt, denn es fühlt sich so
merkwürdig an.“ Am folgenden Morgen sagte er: „Es war gut, daß du
aufwachtest, denn sonst wäre ich ganz zu .Schanden geworden.“ Die nächsten
Tage hatte er Schmerzen im After gefühlt. Daraus, daß das Winseln eine
Weile anhielt, ehe Frau L. völlig wach wurde und sich darüber klar wurde,
daß es ihr Sohn war, schloß sie, daß Hj. mit dem Jungen Unzucht verübt
hatte. Als sie den Knaben aus Hj.s Bett nahm, sagte sie: „Was in aller
Welt sind das für Dummheiten?“, worauf er nichts antwortete; sie hörte
aber, daß Hj. nachher im Bett vor sich hinredete und fluchte. Am nächsten
Tage antwortete er auf dieselbe Frage: „Es war nur schade, daß ich den
falschen Knaben bekam; ich hätte den andern haben wollen“.
Acht Tage später versteckte Frau L. sich, als Hj. am Abend nach
Hause kommen sollte, nachdem sie mit den Knaben verabredet hatte, daß
diese sagen sollten, sie sei nicht zu Hause. Als Hj. gegen 9 Uhr nach
Hause kam und sich entkleidet hatte, wollte er zu den Knaben ins Bett;
während der Beratung hierüber mißhandelte er das Glied des jüngeren
Knaben, als gerade Frau L. hineinkam und Hj. vorhielt, daß er die Kinder
in Frieden lassen solle und „solche Sachen draußen abmachen, wo es soviel
Frauenzimmer gäbe, daß er es lassen könnte, unschuldige Kinder zu ver¬
derben“. Hj. wurde bei Frau L.s Erscheinen sehr überrascht und sagte:
„Nanu, bist du zu Hause. Ich brauche keine Frauen, ich mag lieber
Kinder.“
Als Frau L. fortfuhr, ihm sein Unternehmen vorzuwerfen, antwortete
er mit den gröbsten Schimpfworten und fuhr noch damit fort, als er in
sein eigenes Zimmer kam. — Hj. hatte oftmals gesagt, daß alle, „sowohl
Kinder wie Ältere, Frauen und Männer zusammen liegen sollten, damit es
familiär würde“. Morgens pflegte er sich mit den Händen auf den bloßen
Körper zu schlagen, sodaß es klatschte und draußen in Frau L.s Zimmer
gehört wurde; auch hatte sie ihn nackt auf dem Sofa liegen und sich aufs
Gesäß schlagen sehen. Hj. hatte dies so häufig und kräftig wiederholt,
daß Frau L. und eine bei ihr wohnende Frau einander darüber ihr Er¬
staunen bekundet hatten und gemeint hätten, daß er nicht recht klug sei.
Obengenannte Frau bezeugt auch, daß Frau L. ihr von Hj.s Betragen
gegenüber dem Knaben erzählt halbe.
Hj. leugnet die Wahrheit von Frau L.s Angaben. Er habe in sexuellem
Verhältnis zu ihr gestanden und da er es satt hatte und sie bei ihrer
Annäherung brutal zurückwies, sei sie böse auf ihn geworden und habe
die ganze Geschichte zusammen gedichtet, um sich zu rächen. Was das
Schlagen auf den eigenen Körper beträfe, sei es nur daher gekommen,
daß er seine Arme massiert habe, die oft noch vom Tragen von Büchern
ermüdet waren.
16. Nils Melker II., geboren am 28. August 1894. — Ende
August 1903. Als H. sich eines Abends gegen 9 Uhr auf dem Nachhause¬
wege zu seiner Großmutter befand, wurde er von einem Manne angefaßt,
der ihn bat, ihm zu folgen, er solle ein Geldstück bekommen; er führte
ihn durch eine Menge unbekannte Straßen bis zu einem Kirchhof. Hier
nahm der Mann auf einem Stein vor der Kirchhofskapelle Platz, setzte den
Knaben mit dem Rücken zu sich gekehrt, auf seine Knie, hielt darauf
ungefähr 5 Minuten lang seine Arme fest um die Taille, des Knaben und
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Psychopathische Verbrecher.
225
drückte ihn mehrere Male an sich. Darauf zog er ihm die Hosen herunter
und gab ihm wenigstens fünf tüchtige Schläge auf das bloße Gesäß —
Schläge, die ihn schmerzten und die Stelle empfindlich machten. Als der
Knabe stöhnte, sagte der Mann strenge: „Still!“, und darauf wagte der
Junge vor Angst nicht zu schreien.
Dann führte der Mann ihn in einen Park. Er setzte sich an einem
entlegenen Platz zwischen Sträuchern ins Gras, nahm den Jungen neben
sich, zog dessen Hosen herunter, sodaß seine Geschlechtsteile entblößt
wurden; gleichzeitig ließ er seine eigenen Hosen herunter und nahm sein
Glied hervor, das steif war und aufrecht stand; faßte dann mit seiner
linken Hand das Glied des Knaben und klopfte dies heftig, so heftig, daß
es weh tat und hielt hiermit ungefähr 2 Minuten an. Als der Junge
stöhnte, sagte der Mann wieder strenge: „Still!“, sodaß das Kind keine
weiteren Laute von sich zu geben wagte. Der Knabe wurde danach in
eine Straße geführt und allein gelassen.
Beim Verhör auf der Polizei sagte der Knabe, als er Hj. sah, daß er
Nase und Bart wiedererkenne und überzeugt sei, daß Hj. der Mann ge¬
wesen sei, der an ihm Unzucht verübt habe; er wagte es aber nicht be¬
stimmt zu behaupten. In der Gerichtsverhandlung erklärte er jedoch, daß
Hj. der fragliche Mann sei, er kannte ihn an der Nase und an dem Bart
wieder. Hj. verneint, jemals mit dem Knaben H. zusammen gewesen zu
sein. Dieser verwechsele offenbar die Person; er habe zu der Zeit keinen
Backenbart gehabt.
17. K n u t Hermaa Lorentz L., geboren am 13. Januar 1891. —
Februar oder März 1905. Eines Abends wurde er von einem Mann, den
er später als Hj. wiedererkannte, durch eine Menge Gänge auf einem
Kirchhof herumgeführt; dieser sagte wenigstens zweimal: „Willst du mir einen
Kuß geben? Ein Kuß von so frischen Lippen, wie ein solcher Junge hat,
würde so schön schmecken.“ Der Mann hatte dabei mit seinem einen Arm
den L. um die Taille gefaßt und versucht, ihn zu küssen, aber der Junge
hielt seine Hand vor den Mund und sträubte sieh dagegen, weswegen der
Mann nicht dazu kam, ihn zu küssen. Darauf führte der Mann den L.
durch viele Straßen in ein Cafe. Unterwegs hatte er ihn gefragt, ob er
von seinem Papa Schläge zu bekommen pflegte. Im Cafd bot er dem
Knaben an, Bier zu trinken, dieser lehnte es aber ab. Um von dem Manne
wegzukommen, gab L. an, hinausgehen zu müssen; als er herausgekommen
war, begab er sich jedoch laufend nach Hause.
18. Knut David Ivar A., geboren am 4. September 1895. —
7. März 1905. Als der Knabe sich gegen 'j-il nachmittags auf einem
Markte befand, wurde er von einem Manne angeredet, den er später als
Hj. wiedererkannte und der zu ihm sagte: „Komm mit mir, mein Junge,
dann sollst du ein Geldstück bekommen!“ gleichzeitig faßte er den Jungen
beim Arm und nahm ihn mit sich. Der Weg ging durch verschiedene
Straßen in einen Park. Als sie dort hineinkamen — es war schon
dunkel —, nahm der Mann den Knaben mit dem Arm um die Taille, preßte
ihn fest an sich und küßte ihn. Der Knabe kniff den Mund zusammen,
aber der Mann steckte kräftig seine Zunge zwischen die Lippen des Jungen.
Dann plauderten sie eine Weile miteinander, während sie auf einer Bank
saßen, wobei der Mann fragte, ob die Mutter schlecht gegen den Jungen
Archiv für Krirainalanthropolo^ie. 37. Bd. 1 5
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VII. Fltl'i Y SvüNSON
sei und ihn schlage und was er schlimmer fände, mit dem Stock oder der
Rute Prügel zu bekommen. Alsdann führte der Mann ihn zu einer abseits
liegenden schmalen Schlucht, und nachdem sie dort hineingekommen waren,
nahm der Mann den Knaben um die Taille und drückte ihn, den Rücken
des Knaben gegen seinen Magen, fest an sich; er knöpfte dann dem Jungen
die Hosen herunter, legte seine beiden Hände auf den Magen und die
Magenwölbung des Knaben und drückte ihn sehr heftig an sich. Bei dem
Geschrei des Knaben ließ der Mann ihn los, sodaß er seine Hosen zuknöpfen
konnte. Unmittelbar, nachdem dies geschehen, faßte der Mann ihn wieder
um die Taille und drückte ihn wieder an sich; der Knabe versuchte sich
an einem Staket festzuhalten, mußte aber loslassen. Darauf wurden die
Hosen wieder losgemacht, aber der Mann tat ihm nun nicht wehe. Der
Knabe weiß nicht, ob der Mann die eigenen Hosen aufgeknöpft hatte oder
nicht. Nachdem sie sich ungefähr 10 Minuten in der Schlucht aufgehalten
hatten, führte der Mann den Knaben an einen andern Platz im Park, zog
seine Hosen wieder herunter, legte seine Hände auf seinen bloßen Körper
gegen die Magenwölbung und drückte ihn, wieder mit dem Rücken gegen
sich, fest an sich heran, sodaß es große Schmerzen verursachte. Als der
Knabe stöhnte, sagte der Mann strenge zu ihm: „Bitte, kein Geschrei!“
Nachdem der Junge seine Hosen zugeknöpft hatte, wurden sie nochmals
losgemacht, und dann wiederum. Ob der Mann diese Male den bloßen Körper
an gefaßt hat, kann der Junge sich nicht erinnern; soviel ist sicher, daß der
Mann ihn dann nicht an sich drückte. Nachdem sie sich 10—15 Minuten
auf dem Platz aufgehalten hatten, begleitete er den Knaben bis zur Straße,
gab ihm 25 Öre und ließ ihn gehen. Es hatte ihn, der in dieser Weise
entblößt worden war, gefroren, und er hatte viel unter dem kalten Wetter
gelitten.
Bei der Rückkehr erzählte der Knabe, nach Angabe der Mutter, das
Geschehene und zeigte das 25 Öre-Stück. In der folgenden Nacht schrie
er ängstlich und erschreckt und rief u. a.: „Tu mir nicht so!“ Am Tage
danach ging er zur Schule, klagte aber am darauffolgenden Morgen über
Schmerzen in der Magenwölbung; desgleichen hustete und fieberte er. Er
kam seines Zustandes wegen ins Krankenhaus, wo er 3 Wochen blieb;
darauf wurde er aufs Land in Pension gegeben. Der Knabe, der vor dem
Ereignis im Park schwächlich und nervös gewesen, wurde danach bedeutend
schlimmer und bekam Nervenanfälle; außerdem wurde er etwas stumpf¬
sinnig und sein Gedächtnis schwach.
Hj. leugnete, jemals den Knaben A. gesehen zu haben, und ließ durch-
blicken, daß es eine Person gäbe, die ihm sehr ähnelte und mit der er oft
verwechselt werde. Freilich habe er einen Bekannten in F., er sei aber
seit dem vorigen Jahre nicht bei ihm gewesen. Der Kaufmann H. und der
Buchhalter V. bezeugen jedoch, daß Hj. in Büchergeschäften verschiedene
Male im März im Hause H.s in der Nähe des genannten Parkes ge¬
wesen sei.
19. Zweijähriger Sohn der Frau K. — 7. April 1905. Be¬
tastung und Kuß der Geschlechtsteile.
20. Gustav Theodor K., geboren am 19. Oktober 1896. —
3. Juli 1905. Als der Kontorist W-n sich am 3. Juli in einem Walde
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Psychopathische Verbrecher.
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in der Nähe von Stockholm um zu spazieren befand, sah er auf
ungefähr 30 m Entfernung einen Mann vor sich, der in gebeugter
Stellung stand, sodaß nur Kopf und Schultern sichtbar waren; er
machte Bewegungen, als wenn er etwas in die Erde eingrabe. W.
beobachtete den Mann, der zuweilen eine Minute lang den Kopf hob;
danach machte er einen Umweg um den Platz, wo der Mann sich
befand, und als er vorbei gekommen war, blieb er etwa 20 m von
dem Manne entfernt stehen und wandte sich zu ihm. Der Mann sah
im selben Augenblick auf und hatte einen wilden Ausdruck in den
Augen. W. wurde nun gewahr, daß ein nackter Knabe neben dem
Mann auf dem Rücken ausgestreckt auf dem Boden lang, die Beine
nach der Richtung, wo W. sich aufhielt. Der Mann hielt die eine
Hand oder vielleicht beide Hände gegen den Hals des Knaben, so¬
daß er ihn an der Kehle zu fassen schien; nun wurde dem W. klar,
daß die Bewegungen, die der Mann gemacht hatte, Mißhandlungen
des Knaben bedeutet hatten und daß der Mann dabei sei, ihn zu er¬
morden. Es dürfte ungefähr 1 Uhr mittags gewesen sein.
W. eilte nun so schnell er konnte, nach einem nahegelegenen
kleinen Cafö, von wo er die Polizei benachrichtigte. Sofort wurde
eine Untersuchung angestellt, und an der von W. angegebenen Stelle
wurde die Leiche eines kleinen Knaben gefunden. Die Leiche lag
auf den Boden ausgestreckt, und 2—3 Schritt von derselben lagen
die Kleider zusammengelegt. Am selben Tage 6 30 nachmittags wurde
in der Leichenhalle, wohin die Leiche gebracht war, eine äußerliche
Besichtigung vorgenommen. Die Leiche war noch nicht völlig er¬
starrt. Der tote Körper zeigte auf dem Magen dicht unter dem Brust¬
korb große blaue Flecke, die bewiesen, daß der Knabe an dieser
Stelle groben Gewalttätigkeiten ausgesetzt gewesen war. Eine kleine
blaue Stelle war vorne am rechten Kiefer sichtbar und eine eben
solche an der Innenseite des linken Oberarms. Am Glied war unter
der Vorhaut Blut sichtbar, als wenn das Glied der Gewalt ausgesetzt
gewesen sei. Der After schien ausgeweitet, weswegen der Verdacht
Grund für sich hatte, daß der Junge zu widernatürlicher Unzucht
benutzt worden sei. Während der Nachforschungen nach dem Mörder
erfuhr man, daß drei Personen am selben Tage, wo der Mord verübt
worden war, einen unbekannten Menschen mit einem ebenfalls unbe¬
kannten Knaben gesehen hatten, wie sie zusammen spazieren gingen.
Als sie Gelegenheit bekamen, den toten Knaben zu sehen, erkannten
ihn zwei sofort als den von ihnen beobachteten Knaben; der dritte
„meinte“ ihn wiederzuerkennen. Auf Grund der gegebenen Be¬
schreibung wurde Hj. Dienstag am 4. Juli 2 Uhr nachmittags als des
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VII. Frky Svenson
Verbrechens verdächtig verhaftet. Bei seiner Verhaftung sagte er:
„Ach so, verdächtigen Sie mich des im Walde Geschehenen?“
Die vernommenen zahlreichen Zeugen erkennen mit größerer
oder geringerer Sicherheit in Hj. den Mann, der damals mit einem
Knaben gegangen ist.
Hj. bestreitet völlig die Aussagen der Zeugen. Er ist am genannten
Tage nicht außerhalb des Weichbildes der Stadt gewesen. Seine
Angaben, wie er den Tag verbracht habe, sind anfangs sehr unklar,
werden aber am 23. August, nachdem er das Protokoll über die
Zeugenvernehmungen hat studieren dürfen, fixiert; es ergibt sich ein
höchst komplizierter Alibibeweis, der aber im großen und ganzen
nicht zugunsten Hj.s ausfällt.
Aus dem Obduktionsprotokoll über Gustav Teodor K.
wird angeführt:
5. Auf dem haarbewachsenen Teil der Kopfhaut, hauptsächlich auf dem
vorderen Teil, kleine Blutungen,
6. In den Bindehäuten des Auges viele punktförmige Blutungen.
7. Überall verschiedene Hautblutungen in der Gesichtshaut.
8. An der rechten Seite der Zungenspitze eine 6X4 mm große
äußere Schleimhautwunde.
10. 2 cm von dem rechten Kieferwinkel zeigt die Haut auf der äußeren
Seite unten eine 2X 1 cm blaurote Färbung. — Blutausguß im Fett der
Unterhaut.
11. In der Halshaut einige punktförmige Blutungen.
13. Von der 5. Kippe bis unmittelbar unter dem Nabel ist die Haut
an der Mittelpartie des Körpers von mehr oder weniger zusammenhängenden
runden Flecken fleckig gefärbt, in der Größe von 1 und 2 Pfennigstücken
bis zur Größe einer Kinderhand. Diese Hautpartie ist 17 x 15 cm. Beim
Einschnitt werden stellenweise Blutaustritte von geringer Bedeutung im Fett
der Unterhaut an den entsprechenden Stellen entdeckt.
14. Gleich vor der Grenze der linken Brustwarze und gerade über
der 8. Rippe ist eine 2 X t cm große blaurote Färbung sichtbar, einem
Bluterguß in der Unterhaut und teilweise in der Muskulatur zwischen den
Rippen entsprechend.
15. Ebenso große und gleichartige Flecke an der Bauchhaut, einer an
jeder Seite des Nabels, 3 cm von ihm entfernt und 2 cm abwärts. Hier
berührt der Blutausguß nur das Unterhautfett.
17. Die Vorhaut ist schwach oedematös und auf der unteren Seite
schwach blaurot gefärbt. Beim Zurückziehen derselben findet man, daß
die Falte der Schleimhaut (frenulum) zum Teil abgerissen ist und eine
Berstung zeigt, die, unmittelbar hinter der Mündung der Urinröhre beginnend,
aufwärts geht. Die Schleimhaut an der Mündung der Urinröhre ist etwas
geschwollen und blaurot gefärbt.
18. In der Haut des Hodensacks ziemlich zahlreiche Blutungen bis
zur Größe eines Hanfsamens und außerdem einige schmale, gerade bräun¬
liche Schrammen an der Oberhaut. Eine gleichartige gerade 3 cm lange
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Psychopathische Verbrecher.
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Schramme in der Oberhaut sieht man neben dem Hodensack an der linken
Leiste, In den Umhüllungen der Testikel sehr viele erbsengroße 1 mm
dicke Blutergüsse.
20. Nachdem die Hinterbacken durch leises Auseinanderziehen getrennt
worden sind, wird der Mastdarm offen befunden, ungefähr so weit wie
ein dicker Daumen; die Gewebe sind schlaff. Die Schleimhaut ist in der
Ausdehnung von etwa 2 cm aufwärts am Enddarm blaß graurot und hat
in der Länge 4 Berstungen, von denen eine 5 mm lang in der Mittellinie
liegt. Die übrigen wechseln zwischen 3 und 1 6 mm Länge und 1—3 mm
Breite; sie gehen mehr oder weniger tief hinein, aber nicht außerhalb des
Schleimhautgewebes. In der Schleimhaut innerhalb dieses Gebiets und in
den Berstungen recht zahlreiche punktförmige Blutungen. Im selben Gebiet
gibt es an der Schleimhaut (oberhalb der Schlußmuskel) in mäßiger Anzahl
einen unklaren, graugelben Belag, der sich nirgends schleimig zäh zeigt.
Bei sorgfältiger und wiederholter mikroskopischer Untersuchung von Proben
dieses Belags können keine Samenkörper entdeckt werden. Die Kotsäule
(faeces) liegt nicht tiefer im Enddarm als 4 cm oberhalb der Schließmuskel.
21. Am unteren Teile der Vorderseite des linken Oberarmes befinden
sich nebeneinander 2 und an der Mitte des Unterarmes an der Vorderseite
1 blauroter Fleck in der Haut, Jeder 2 x 1 cm groß. Beim Einschnitt
sieht man, daß jedem ein kleiner Bluterguß entspricht.
Aus der inneren Besichtigung wird angeführt:
31. In der Bauchhöhle etwas mehr als 600 cbcm dunkelrotes dünn¬
fließendes Blut. Die seröse Haut im allgemeinen blaß, außer an den unter
§ 40 und 41 beschriebenen Teilen, wo sie von unterliegenden Blutergüssen
schwarzrot gefärbt ist.
40. Die Bauchhaut erscheint auf der Vorderseite der Bauchwand am
Nabel auf einer Fläche von 5 x 7 cm schwarzrot gefärbt, was sich beim
Einschnitt als auf einem unmittelbar unter derselben liegenden 1—2 mm
dicken Bluterguß beruhend zeigt.
4L Ebenso ist die Bauchhaut an der rechten Seite des Bauches längs
der äußeren Seite des nach oben gehenden Dickdarms schwarzrot gefärbt,
und beim Einschnitt hier findet man das lockere Bindegewebe unter der
Bauchhaut durch ausgelaufenes Blut eingetränkt bis zu 3—4 cm Tiefe und
in einer Ausdehnung von der hinteren Oberfläche der Leber bis nach dem
kleinen Becken hin. Der Bluterguß dehnt sich unter der serösen Haut
an der äußeren Hälfte des aufwärts steigenden Dickdarms und an der
Biegung zum querlaufenden Dickdarm auch über die ganze Vorderseite
dieses Darmteils (des Bogens) und zwar in einer papierdünnen Schicht.
48. Die Leber, die an Größe und Aussehen normal ist, zeigt eine
längs des festhaltenden Bandes durch das ganze Organ gehende Berstung,
die es in zwei nur oben und durch seröse Häute hinten zusammen gehaltene
Teile trennt. Von dieser Berstung geht einige cm hinter dem vorderen
Band der Leber eine andere 3 cm lange Berstung nach links durch das
Organ. Sämtliche Wundflächen sind uneben, grobkörnig und zeigen kleine
Mengen ausgeflossenes Blut. Beim Einschnitt zeigt sich, daß die Blutung,
die dort sehr schwach ist, sich 1—2 cm von der Wundfläche in das Organ
drängt. Am festhaltenden Band und an dem hintersten Teile der Leber
befindet sich eine 7X3 em große Blutung, die bis 2 cm Tiefe erreicht.
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VII. Fbey Svenson
Bei der Untersuchung des Inhalts in dem präparierten Enddarm wurden
keine Samenkörper vorgefunden.
Das Gutachten lautet folgendermaßen:
Auf Grund der Besichtigung und Leichenöffnung und mit Hinblick
auf das seitens der Medizinaloberbehörde vom Professor am Königlichen
Karolinischen Institut Carl Sundberg eingeholte Gutachten erkläre ich
hiermit folgendes:
„Daß der Knabe Gustaf Teodor K. einen gewaltsamen Tod er¬
litten durch Quetschung der Leber und dadurch hervorgerufene innere
Verblutung;
daß die tödliche Verletzung, die Verletzungen an den äußeren Ge ;
schlechtsteilen, am After, und die übrigen hier genannten Verletzungen
während der Knabe lebte, und zwar durch stumpf wirkende Gewalt ent¬
standen sind;
daß nichts dagegen spricht, daß jene und die übrigen Verletzungen
(kleine Blutungen) sich zu der Zeit und unter den Umständen, die im Be¬
richt teils angegeben, teils dort angenommen sind, zugetragen haben;
daß, obgleich im Mastdarm kein Samen gefunden worden ist, die Ver¬
letzungen am äußeren Geschlechtsorgan in Anbetracht der Verletzungen im
Mastdarm bzw. dessen Öffnung den Verdacht stützen, daß der Knabe der
Unzucht und zwar widernatürlicher ausgesetzt gewesen sei, was hiermit
auf Ehre und Gewissen bezeugt wird".
Das Amtsgericht beschloß in der Sitzung am 9. Oktober 1905 vor
Entscheidung des Prozesses das Gutachten der Königl. Medizinal-Oberbehörde
darüber einzuholen, ob Hj. unzurechnungsfähig sei oder zu den Zeiten, wo
die verschiedenen Verbrechen begangen sein sollen, deren er angeklagt ist,
zurechnun gsfähig gewesen.
Anläßlich dessen ersuchte Hj. unter Angabe von Gründen die Ober¬
medizinalbehörde von einer verlängerten Beobachtungsfrist abzusehen, oder
falls die Königl. Obermedizinalbehörde eine •verlängerte Beobachtung für
unumgänglich notwendig ansähe, ihn behufs einer solchen Observation einer
öffentlichen Anstalt für Geisteskranke zu überweisen.
II.
Observationsjournal der Irrenanstalt zu Upsala.
(Journalführer Dr. Olof Kinberg.)
Status praesens vom 19.—25. April 1906.
Länge 177 cm, Gewicht 75 kg, Körperbau etwas zart. Hände
und Füße klein, wohlgeformt. Kopfform zeigt keine auffallende
Asymetrie. Umfang 55,5 cm. Länge- und Querdurchmesser 19,5
resp. 11,5 cm, Index 74 cm, Muskulatur mittelmäßig entwickelt. In
der Glutealregion schwach entwickelt. Körperfülle ziemlich stark, be¬
sonders an den Bauchumhüllungen. Stirn niedrig, abfallend. Haar
dunkel, überm Scheitel ziemlich dünn. Dicht unter arcus superciliaris
sin eine schmale, ungefähr 2 cm lange Narbe; beinahe an der ent-
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Psychopathische Verbrecher.
231
sprechenden Stelle rechts eine ähnliche Narbe. Gleich oberhalb der
linken Augenbraue eine 1 cm lange Narbe. Am rechten tuber fron-
talis eine ungefähr ebenso lange Narbe. Nase ein wenig gebogen,
wohlgeformt. Eine kaum merkliche Asymetrie zwischen den Gesichts¬
hälften (wird am besten sichtbar, wenn das Gesicht sich in Ruhe be¬
findet, was während der Unterhaltung mit ihm sehr selten der Fall
ist). Der rechte Mundwinkel steht ein wenig höher als der linke.
Schnurrbart und Kinnbart spitz, von dunkelbrauner Farbe. Gaumen
vhne Merkmale. Verschiedene Zähne fehlen; von den vorhandenen
sind viele kariös; Irides blau; an der linken etwas reichlichere Farben¬
einlagerung als an der rechten. Ohren liegen dicht am Kopf; das
rechte nach oben rückwärts gezogen, sodaß die Konturlinien einen
recht scharfen spitzen Winkel bilden. Ohrmuschel flach, besonders
an der rechten Seite, sodaß die fossa helicis hier fast fehlt. Anthelix
schiebt sich über die Fläche des Ohres hinaus. Lobulus nicht
völlig frei.
Lungen: Atmungslaut normal. Kein Geräusch. Die Grenze
der rechten Lunge in der Mamillarlinie an der 8. Rippe (Emphysem).
Herz: Absolute Herzdämpfung fehlt. Töne dumpf, entfernt.
Puls II etwas akzentuiert. Keine Nebenlaute. Puls regelmäßig, von
normaler Spannung; Frequenz 70 in der Minute.
Über das Bauchorgan ist nichts zu bemerken. In der rechten
Leiste eine unregelmäßig gefärbte Narbe (angeblich nach gonorrhoi¬
schem Bubo). Testes von normaler Größe, gleichgroß. Penis auffallend
klein, Eichel lang, schmal, spitz. Urin: sp. Gewicht 1,019, saure Re¬
aktion, kein Albumen, kein Zucker. Abführung ohne Bemerkung.
Sinnesorgane:
Augen: Myopie — 25. S = 1. Gesichtsfeld ohne Bemerkung.
Pupillen gleichgroß, etwas exzentrisch, nach unten nasal verschoben,
runde Form; Staphylom.
Ohren: Das Ticken einer Taschenuhr wird links auf 1 m, rechts
auf 10 m Abstand vernommen.
Geruch: Normale Empfindsamkeit sowohl für quantitative wie
qualitative Differenzen.
Tastsinn und Schmerzsinn: normal. An der Außenseite
des rechten Unterbeines vermag er nicht mit Sicherheit warm und
kalt zu unterscheiden; Temperatursinn im übrigen ohne Bemerkung.
Lokalisierung von Hautreizen korrekt. Muskelsinn normal.
Motilität: Augenbewegungen normal. Facialisinnervation, wenn
ruhig, ohne Bemerkung. Im Gespräch dagegen eine lebhafte Muskel¬
unruhe im Gesicht mit kleinen fibrillären. Zuckungen in der Muskula-
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VII. Fkey Svenson
tur sowohl der Lippen wie Augen und Stirn. Recht häufig tritt (bei
Affekten) ein tic convulsif in den äußeren Fibern des rechten Frontal¬
muskels auf, wodurch das laterale Ende der rechten Augenbraue
nach oben zuckt. Beim Herausstecken der Zunge und dem Spitzen
des Mundes keine Ungleichheit in der Innervation zwischen beiden
Gesichtshälften.
Die grobmotorische Kraft normal. Keine Hyper- oder Hypotonie.
Der Kraftmesser der rechten Hand. 50,48, der linken 46,44. Leb¬
haftes statisches Zittern in den geschlossenen Augenlidern und den
gespreizten Fingern; kein dynamisches oder schlaffes Zittern. Koordi¬
nationsstörungen fehlen. Keine Tibialisphänomene, keine Romberg-
Phänomene. Eigentümlicher Gang. Schultern und oberer Teil des
Rumpfes mehr nach hinten fallend, als es bei andern Menschen der
Fall zu sein scheint, Schritte federnd und elastisch. Beim Gehen
macht er große schwingende Bewegungen mit den Armen; dann und
wann wirft er mit einem schnellen Ruck den Kopf nach hinten.
Sprechartikulation normal.
Reflexe: Pupillen reagieren für Licht, direkt und synergisch,
und bei Konvergenz.
Konjunktivalreflexe normal, Gaumenreflexe vorhanden.
Bauchreflexe fehlen, Cremasterreflexe vorhanden.
Oppenheim vorhanden (schwach), Plantarreflexe lebhaft.
Babinsky fehlt.
Tricepsreflexe sehr lebhaft. Patellarreflexe besonders lebhaft.
Achillesreflexe vorhanden. Spuren von Patellarclonus.
Kein Fußclonus.
Vasomotorische Reizbarkeit und Sekretionen: Er er¬
rötet sehr leicht. Dermographie gering. Er schwitzt leicht. Ständige
hyperidrosis pedum. Hände gewöhnlich kalt und etwas feucht.
Keine trophischen Störungen.
Keine spontanen Schmerzen. Keine Druckpunkte.
Subjektives Befinden immer gut. Appetit und Schlaf vortrefflich.
Psychische Untersuchung: Gesichtsausdruck wach und leb¬
haft, zeigt im Gespräch über gleichgültige Dinge eine ruhige, zu¬
friedene und vergnügte Gemütsstimmung. Er lächelt beinahe immer
und lacht oftmals laut auf. Sobald die Unterhaltung diejenigen Ver¬
brechen berührt, bez. deren er teils bestraft gewesen, teils jetzt angeklagt
ist, verändert sich sein Gesichtsausdruck und enthüllt eine Spannung
und Unruhe, die er vergebens zu beherrschen sucht. Hj. verliert
hierbei die Gewalt über die Mimik, die Augenlider zittern, der oben
erwähnte tic convulsif, durch den der äußere Teil der rechten Augen-
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Psychopathische Verbrecher.
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braue aufwärts gezogen wird, kommt wiederholt zum Vorschein, und
die Zuckungen kommen oft so häufig, daß sie zu einem wirklichen
klonus übergehen; auch in andern Teilen der Gesichtsmuskulatur
entstehen dann und wann vereinzelte hastige Zuckungen oder fibri-
läres Zittern. Das Lächeln, begleitet von einem sichtbaren Einfallen
der rechten Backe, wird häufig stereotypisch und paramimisch und
der Blick bekommt einen eigentümlich glänzenden und starren Aus¬
druck. Bei besonders peinlichen Fragen wird sein Gesicht oftmals
von einer hastigen Böte übergossen. Die starke Spannung und Un¬
ruhe kommt auch in einer allgemeinen motorischen Hyperexzitation
und Inkoordination zum Ausdruck: er verändert oft die Stellung beim
Sitzen, schaukelt auf dem Stuhle hin und her und ist nicht im¬
stande, das starke Zittern der Hände und Finger zu beherrschen, die
unaufhörlich kleine zappelnde Bewegungen ausführen. Der Blick ist
scharf fixierend, und beobachtet den Untersucher und den Protokoll¬
führer mit gespannter Aufmerksamkeit. Benehmen artig und verbind¬
lich; er benutzt gerne jede Gelegenheit, seine Zufriedenheit über die
Verhältnisse in der Anstalt auszusprechen und lobt die Vortrefflichkeit
der Wohnung und des Essens. Er ist froh, in so günstige hygienische
Verhältnisse gekommen zu sein, da ein längerer Aufenthalt im Unter¬
suchungsgefängnis seine Gesundheit völlig ruiniert haben würde.
Seine Liebenswürdigkeit macht jedoch einen etwas gekünstelten
Eindruck, wie hervorgezwungen durch seine gegenwärtige Lage gegen¬
über den Ärzten. Häufig enthüllt seine Mimik im Gespräch einen
hastig hervorbrechenden Zorn, dessen Ausdruck er jedoch mit augen¬
scheinlicher Anstrengung zu beherrschen sucht, und man hat hierbei
deutlich die Empfindung, daß nur seine gegenwärtige prekäre Lage
ihn hindert, sich in Worten Luft zu machen. Er spricht schnell und
lebhaft, recht umständlich und versucht stets seine Auslegungen und
Beweise überzeugend klingen zu lassen. Mit der Wahl der Worte
nimmt er es nicht besonders genau; einzelne Flüche kommen nicht
selten vor, und in seinen Urteilen über Personen und Verhältnisse
wie in der Ausdrucksweise und Formulierung enthüllt sich nicht selten
recht große Roheit.
In seinen primären intellektuellen Funktionen, Auffassung,
Fixations- und Erinnerungsvermögen, kann keine Störung oder Defekt
konstatiert werden. Er faßt den Inhalt der an ihn gerichteten Fragen
korrekt und schnell auf, fixiert sorgfältig neue Eindrücke (benutzt
häufig spontan in der Debatte Äußerungen, die am Tage vorher im
Gespräch gefallen sind); er erinnert sich besonders gut des Inhalts
der umfassenden Gerichtsakten bezüglich der Verbrechen, deren er
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VII. Frey Svenson
jetzt angeklagt worden ist. Dagegen scheint er eine ganze Menge
Einzelheiten aus den früheren Prozessen bezüglich des Mädchens Hj.,
R. usw. vergessen zu haben. Er ist völlig über Zeit und Raum
orientiert. Über seine Familien Verhältnisse gibt er an, daß sein Vater
Offizier (Hauptmann) ist und noch lebt; den Namen will er nicht
nennen. Die Frau seines Pflegevaters (des Hj.) soll nach Angabe
seines Vaters seine Mutter sein; selbst verneinte die Pflegemutter dies
jedoch. Hj. bestreitet selbst, daß er mit der Familie Hj. durch Bluts¬
verwandtschaft verbunden ist. Irgendwelche Angaben, die auf erbliche
nervöse Belastung hindeuteten, sind nicht zu erhalten. Hj. will über¬
haupt keine Angaben über seine Verwandschaft machen, mit Ausnahme
der oben erwähnten über den Beruf des Vaters. Er bestreitet kurzweg
alle Verbrechen, deren er angeklagt ist, auch diejenigen, für die er
schon bestraft worden sei. Anfangs versucht er, sich dem Prozeß
gegenüber nonchalant zu verhalten, betreffs des Mordes an den
Knaben K. versichernd: „Ich kann dies wirklich nicht für ernst
halten, denn dies ist kein Fall, wo der Angeklagte sein Verbrechen
eingestanden oder verurteilt worden, sondern wo er völlig unschuldig
ist.“ Daß Hj. bestraft worden, beruht nur auf Groll seitens der
Polizei. Schon vor 2b Jahren fing er an, mit der Polizei in Stock¬
holm in Streit zu geraten, und diese hat danach immer ein Auge auf
ihn gehabt. Den II. Stadtarzt hält er von vornherein für feindlich
gegen sich gestimmt, einesteils weil er (der Stadtarzt) von der Polizei
abhängig sei, und zweitens weil er „ein bißchen böse“ auf Hj. ist,
weil dieser ihn vor 10 Jahren in dessen Eigenschaft als Gefängnis¬
arzt wegen eines Versehens im Dienste angezeigt habe.
Als das Gespräch auf den Prozeß R. (Auszug 8) kam, wollte
Hj. es so darstellen, als wenn Frau R. jedeD Beliebigen ihr Kind
zur Unzucht benutzen ließ, was Hj. „ihr vorgeworfen und wofür er
ihr Prügel gegeben habe.“ „Sie wollte auch Hj. dazu bringen, Un¬
zucht mit ihrem Kinde zu betreiben.“
Betreffs der kleinen Hj. (Auszug 9, 10) behauptet er, daß sie
„schon im Alter von 5 Jahren von ihrem Vater benutzt worden sei.“
Nach Hj.s Aussage kommt es nämlich „furchtbar häufig“ vor, daß
mit kleinen Kindern Unzucht getrieben wird, und im allgemeinen
seien es die Eltern, die mit ihren eigenen Kindern Unzucht treiben.
Die kleine Hj. soll ihm erzählt haben, daß viele Leute sie in R. be¬
benutzt hätten. Auf die Entgegnung, daß diese Aussage etwas un¬
wahrscheinlich klinge, erwidert er, daß „R. in bezug auf Hurerei die
schlimmste Stadt in Schweden, schlimmer als K., sei.“ Um seine
Aussage über den sittlichen Charakter der Familie Hj. zu bekräftigen,
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Psychopathische Verbrecher.
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führt Hj. an, daß die Mutter der kleinen Hj. „so toll war, daß sie
sogar Handwerker zu verführen suchte, die in Hj.s Wohnung kamen,
um irgend eine zufällige Reparatur zu machen.“ Als weiteren Beweis,
wie oft Sittlichkeitsverbrechen unter Familienmitgliedern vorkämen,
erzählt er, daß die Witwe L. (Auszug 15), mit der er selbst in
sexuellem Verhältnis stand, „ihren Sohn zur Unzucht benutzte.“ Als
Hj. eines Abends beim Nachhausekommen durch das Zimmer der L.
ging, sah er den Knaben auf ihr liegen, aber da die Decke darüber
lag, konnte er nicht sehen, ob das Hemd zwischen ihrem Körper und
dem des Knaben lag. Auf Hj.s Frage an Frau L. „Was machst du?“,
antwortete sie: „Ja, es ist ebenso gut, die Jungens "wie Mannsleute
zu haben.“ Ferner behauptet Hj., der Arzt Dr. S. solle gefunden
haben, daß die Testikel des Knaben L. dadurch zerstört worden seien,
daß die Mutter Unzucht mit ihm getrieben habe.
Hj. gibt zu, beständig mit den Frauen, die er in seinem Hause
gehabt, in Uneinigkeit geraten zu sein, und erklärt die Sache teils
dadurch, daß einige von ihnen sich mit ihm haben verheiraten wollen,
ihm aber feindlich gestimmt worden seien, als ihre diesbezüglichen
Pläne sich nicht verwirklichten, teils dadurch, daß andre dieser
Frauen von der Polizei aufgehetzt worden seien.
Als man ihn über seine Ansicht betreffs der Päderastie befragt,
sagt er: „Das ist selbstverständlich nicht recht, aber mein Gott, wenn
ein Mensch Geschmack für die Sache bekommen hat, hält es wohl
schwer, es zu lassen.“ In einer andern Unterhaltung antwortet Hj.
auf dieselbe Frage: „Ich finde, es ist unnatürlich, aber hat nun
jemand Geschmack dafür bekommen, dann, ä la bonheur, meinet¬
wegen gern.“
Mit derselben Nonchalance spricht er sich über die kleineren
Verbrechen, deren er angeklagt ist, aus. Er sagt z. B.: „Will man
mich des Knaben L. wegen verurteilen, dann, ä la bonheur, meinet¬
wegen gern“. Daß er die Dinge so leicht nimmt, erklärt er, liege
daran, daß er so große Vorteile aus seinem Gefängnisaufenthalt ge¬
wonnen habe; er habe sein Leben nach der Entlassung aus dem Ge¬
fängnis dazu benutzt, Beweise gegen die Behörden zu sammeln, und
er hält dies für so wichtig, daß er gerne noch eine unverdiente Strafe
auf sich nehmen möchte, wenn es ihm gelänge, seine Absichten durch¬
zuführen.
Über die an dem Knaben K. (Auszug 20) verübte Mordtat sagt
Hj., daß nach seiner Ansicht die Person, die den Mord begangen hat,
„verrückt“ gewesen sei. Schon die Wahl der Mordstelle deute darauf
hin, daß die fragliche Person nicht den geringsten Selbsterhaltungs-
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VII. Frey Svenson
instinkt besessen habe. Dies beweist nach Hj.s Ansicht, daß derjenige,
der den Knaben K. ermordet hat, unmöglich mit dem identisch sein
kann, der alle die Sittlichkeitsverbrechen begangen hat, deren Hj. an¬
geklagt ist, da diese letzteren Verbrechen „offenbar von einer Person
mit großer Vorsicht verübt sind.“ Daß der Mord von einem Wahn¬
sinnigen begangen, wird ferner dadurch bewiesen, daß sich in der
Nähe der Mordstelle „eine Art Altar“ befand, daß der Mörder mit
wilden Blicken starrte und daß er den Kopf zurückwarf; nach Hj.s
Ansicht ist besonders dieser letzte Umstand von Bedeutung. Alles in
allem ist Hj. der Meinung, daß der Mord „von einem religiös Wahn¬
sinnigen verübf worden ist, der den Knaben zum Engel hat machen
wollen, der nackt in den Himmel kommen solle.“
28.4. Hj. hat einige Tage Diarrhoe gehabt, will jedoch keine
Medizin nehmen; erklärt niemals irgendwelche Medizin außer einigen
Copaivakapseln (!) genommen zu haben. Er spricht seine Besorgnisse
hinsichtlich der Temperaturmessungen aus: „Man kann kleine Wunden
im Mastdarm haben und in der Weise Syphilis bekommen.“ Ist sehr
froh, mit dem Temperaturmessen aufhören zu dürfen.
I. 5. Hj. behauptet an Würmern zu leiden und möchte wissen, ob
dies Leiden geheilt werden kann, ohne daß er etwas einzunehmen
brauche, denn er wolle ungern Medizin nehmen.
3. 5. Bittet um seine Papiere, die in einem Koffer aufbewahrt
sind, um an einem Roman weiter zu schreiben, den er vor einiger
Zeit angefangen habe. Er erklärt hinsichtlich des Romans: „Es ist
absolut nichts Wertvolles, nur einige drollige Geschichten, die ich
amüsant finde niederzuschreiben.“
4.5. Erzählt mit mühsam beherrschtem Ärger, daß er einige
Papiere vermisse, die er in seinem Koffer liegen gehabt habe, und
fragt, ob die Ärzte seine Papiere visitiert und beschlagnahmt hätten.
Nach der bestimmten Versicherung seitens des Arztes, daß dem nicht
so ist, richtet er seine Wut gegen die Polizei und behauptet, sie habe
jene Papiere gestohlen. Abör bevor Hj. aus dem Untersuchungs¬
gefängnis abgeführt werden sollte, habe er eine Weile in einem
Zimmer warten müssen, während seine Sachen in ein andres Zimmer
gebracht wurden; inzwischen habe man ganz sicher die Gelegenheit
benutzt, seine Manuskripte zu untersuchen und die für die Polizei am
meisten kompromittierenden beschlagnahmt.
II. 5. Zeigte bei der Abendronde eine ausgeschnittene Zeitungs¬
notiz (aus einer Stockholmer Zeitung) worin angegeben wird, Hj. habe
beim Justizministerium das Gesuch eingereicht, daß seine Gerichts¬
akten, Gefängniserinnerungen und Kritiken usw. „auf Kosten des
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Psychopathische Verbrecher.
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Staates eingebunden und der Nachwelt bewahrt bleiben möchten.“
Er überreicht darauf einen Brief („Sprechsaal“) an dieselbe Zeitung,
worin er gegen die Notiz protestierte und die Richtigkeit der Angaben
bestritt. Außerdem läßt er durchblicken, daß die Notiz von seinen
Gegnern herrühre, denen es „selbstverständlich daran liege, seine Taten
so darzustellen, wie sie es für zweckmäßig hielten und, die zu diesem
Zweck keinen Anstand nehmen, auch die Presse hinters Licht zu
führen.“ Über den Ursprung dieser Notiz hegte er die Vermutung,
daß entweder einer seiner Feinde in der Polizei sie an die Zeitung ein¬
gesendet oder daß irgend ein Berichtschreiber sie verfaßt hätte, der
wußte, daß Hj. als Gefangener keine Gelegenheit haben würde, sich
zu verteidigen. Von diesen Hypothesen hält Hj. die erste als wahr¬
scheinlicher und betrachtet in Übereinstimmung damit die Notiz als eine
Äußerung eines gegen ihn angestifteten Komplotts. Auf die Frage,
weswegen ihm die Polizei feindlich gesinnt sei, führte er als Aus¬
gangspunkt für diese Feindschaft eine Episode aus einem Restaurant
an. Hj. hätte nämlich einmal eines Abends im Alter von 20 Jahren
mit einem Bekannten in diesem Restaurant gesessen, der die Polizei
nicht leiden konnte. Beide wären infolge von alkoholischen Getränken
etwas „vergnügt“ gewesen. In ihrer Nähe hätten zwei Polizisten an
einem Tisch gesessen. Hj. und sein Freund hätten nun abgemacht,
die Polizisten auf die Weise zu ärgern, daß der Freund die Polizisten
verspotten und Hj. ihre Partei nehmen solle. So sei auch geschehen,
und Hj. fügt vergnügt hinzu: „Die Verteidigung wurde schlimmer
als der Angriff.“ Das Publikum begann zu lachen, und nach einer
Weile mußten die Polizisten sich entfernen. Schon einige Tage nach
diesem Auftritt bemerkte Hj., wie die Polizisten ihn auf den Straßen
ansahen, und nach dieser Zeit sei er ständig im Konflikt mit der
Polizei gewesen, ein Konflikt, der in späteren Jahren von ihrer Seite
zu einer wirklichen Verschwörung gegen ihn ausgeartet. Als Anführer
dieser Verschwörung gibt Hj. Staatsanwalt L. an, der den I. Prozeß
gegen ihn anstrengte.
Hj. bittet hierauf, eine von ihm verfaßte Eingabe gegen die Polizei
vorzeigen zu dürfen; beim Suchen nach jener Eingabe findet Hj. unter
seinen Papieren ein Schreiben des II. Stadtarztes S., das Antwort auf
eine Bemerkung enthält, die Hj. während der gerichtlichen Unter¬
suchung vorgebracht hat. Nach Plj.s Bericht verhielt sich die Sache
folgendermaßen: Als Hj. am Tage nach der Verhaftung von dem
II. Stadtarzt untersucht wurde, hatte er an dem Penis (Eichel) eine
„Haut“ (Praeputialsekret). Eine solche „Haut“ pflegt bei Hj. frühestens
eine Woche nach dem letzten coitus zu entstehen. Während der
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VII. Frey Svenson
Untersuchung hatte Hj. nun auf diese Tatsache aufmerksam gemacht
und um eine Bestätigung darüber seitens des II. Stadtarztes gebeten.
Der II. Stadtarzt sagt jedoch in seinem Schreiben, daß er sich
nicht erinnere, eine solche Haut bei der Untersuchung gesehen zu haben.
Hj. versucht ferner geltend zu machen, daß das Vorhandensein
einer solchen „Haut“ beweist, daß er nicht mit dem toten Knaben
habe Unzucht betreiben können, denn in solchem Fall würde, wenn
ein coitus per anum stattgefunden hätte, jene Haut entweder durch
den coitus selbst oder durch die nachfolgende Waschung abgerieben
worden sein. Übrigens habe die Feststellung der Leichenunter¬
suchung bewiesen, daß kein coitus per anum hat stattfinden können,
da der Mastdarm voll von Exkrementen war aber keinen Samen ent¬
hielt und da man weder sonst im Körper noch an den Kleidern des
Knaben Samen hat nachweisen können. Ferner könne der kon¬
statierte Biß am Penis des Knaben nicht durch unzüchtige Handgriffe
verursacht sein, denn dann müßte der Eiß am Bande der Vorhaut
beim Zurückziehen der Vorhaut entstanden sein und hätte alsdann
transversal sein müssen; der beobachtete Eiß sei jedoch länglich.
Hieraus schließt Hj., daß derselbe „nachträglich von der Polizei durch
Schaben zustande gebracht worden sei.“ Übrigens, fügt Hj. mit
Bezug auf das Schreiben vom II. Stadtarzt hinzu, „würde ich ja den
II. Stadtarzt als Zeugen vorladen können, aber ich will überhaupt
nicht wegen des Knaben Lärm machen, denn es ist eine Sache, die
mich gar nichts angeht; ebenso könnte viel gegen das Obduktions¬
protokoll angeführt werden, aber ich kümmere mich nicht darum,
denn es geht mich nichts an.“
12. 5. Als ihm mitgeteilt wird, daß sein Schreiben an die Stock¬
holmer Zeitung nicht abgeschickt werden kann, fährt Hj. zuerst auf;
es gelingt ihm aber fast unmittelbar darauf, seine Fassung wiederzu¬
gewinnen. Statt dessen ergeht er sich in Schmähungen gegen die
Polizei, die die Notiz eingesandt habe. „Solche gemeinen Kerle! Sie
sitzen bei ihren Punschgläsern und sprechen von einem, dann brauen
sie eine Notiz zusammen und rufen einen Zeitungsschmierer heran
und geben sie ihm.“
15.5. Fragt, ob er „eine kleine Geldangelegenheit ordnen könne.
Er wünschte nämlich in die Zeitung „Dagens Nyheter“ ein kleines
Inserat über sein Buch „Gefängnis und Gefängnisleben“ einrücken zu
lassen. Es ist nicht das eigentliche Motiv, sagt er, so viele Exemplare
wie möglich hiervon zu verkaufen, sondern die Polizei zu ärgern.
Als Hj. hörte, daß man seinem Wunsche nicht nachkommen könne,
wurde er augenscheinlich sehr erbittert, antwortete aber doch höflich.
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Psychopathische Verbrecher.
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22.5. Bittet, einige Stellen ans seinem Schreiben vorlesen zu
dürfen, worin er zu beweisen sucht, daß der Direktor des Gefängnisses
zu G. sich seit ein paar Jahrzehnten die Speisereste von der Gefangen¬
kost aneigne und für eigene Rechnung verkaufe, wodurch er sich
ein Einkommen von insgesamt 9000 Kronen verschafft hätte.
Nachdem man ihn über seine Gewohnheiten in bezug auf Alkohol
befragt, gibt er an, daß er schon in der Schule in Untersekunda an¬
fing, Alkohol zu sich zu nehmen. Nach dem Abiturium habe er
täglich getrunken und zwar Vs 1 Punsch und außerdem Bier. Mit
15 oder 16 Jahren hatte er seinen ersten Coitus. Hat oftmals Ge¬
schlechtskrankheiten gehabt, 1 mal weichen Chanker, 2 mal Tripper;
batte einmal vor 22 Jahren einen Bubo, der geöffnet wurde. Syphilis
will er nicht gehabt haben. Verneint, starken Geschlechtstrieb gehabt
zu haben. „Viel Arbeit und viel Alkohol haben ihn gehindert, viel
an Sexuelles zu denken.“
In den letzten Jahren hat er hauptsächlich mehr beständige
sexuelle Verhältnisse, am liebsten „mit älteren, anständigen Frauen,
gewöhnlich Witwen“ gehabt und zwar um Syphilis zu vermeiden.
Auf die Frage, ob er jene in den Akten angeführte Äußerung, „ich
denke immer an die-“ getan habe, sagt er, daß es unmöglich
sei, sich an so etwas nach 15 Jahren zu erinnern, will aber auch
nicht in Abrede stellen, daß er so etwas im berauschten ZustaDd ge¬
sagt haben könne. Eine solche Äußerung braucht jedoch nach Hj.s
Ansicht nicht auf einen starken Geschlechtstrieb hinzudeuten; es be¬
weise aber vor allem, daß die Frau, zu der er es gesagt hat, von
einer schlechten Sorte gewesen sein müsse. Dies will er auch be¬
treffs der Witwe Dph. geltend machen, der er die genannte Äußerung
gemacht haben soll.
2. 6. Die Angabe im Protokoll über den Prozeß R., Hj. solle ge¬
sagt haben, daß Frau Hj. seine Mutter sei, bestreitet er und fragt, wo
jene Angabe zu finden sei. Als man ihm sagt, daß es im Polizei¬
bericht angegeben steht, ruft er aus: „Kommen Sie mir nicht mit dem
Polizeibericht; auf das, was darin steht, nimmt kein Gericht irgend
welche Rücksicht; das ist ja kein gesetzliches Dokument.“ Indessen
soll Hj.s wirklicher Vater schriftlich anerkannt haben, daß er Hj.s
Vater ist, und erklärt, daß Frau Hj. die Mutter sei. Auf die Frage,
wie die Polizei jene Angaben bekommen, antwortet Hj.: „Sie dichten.“
Hj. ist in „Stockholms Lyceum“ in die Schule gegangen. Er
machte sich dort „vorzüglich“. Er hatte keine glänzenden Zeugnisse,
das lag aber daran, daß er in den letzten Jahren in eine andere
Schule kam. Im Abiturium hatte er die Note genügend als Haupt-
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VII. Frey Svenson
zensur. In Mathematik war er schwach, „das lag an den schlechten
Lehrern“, denn Mathematik fiel ihm nicht schwer. Sein Abiturium
machte er 1876, ging dann zur Post und später zur Telegraphie.
Seine Beförderung bei der Telegraphie „ging sehr schnell, in 14 Jahren.“
Er war „sehr zuvorkommend und kroch vor den Vorgesetzten“; dies
machte ihn beliebt und beförderte ihn. Seine Arbeit gefiel ihm vor¬
züglich; „wird man nur schnell befördert, dann gefällts einem“; auf
die Dauer wirds langweilig, aber „man bekommt ja bezahlt, um sich
zu langweilen.“
Über seine Familienverhältnisse gibt Hj. an, daß seine Pflege¬
eltern sich trennten — keine gesetzliche Scheidung —, weswegen die
Kinder früh auf eigenen Füßen stehen mußten. Hj. wohnte jedoch
mit seiner Mutter zusammen, bis diese. 1888 starb. Nach ihrem Tode
behielt Hj. die Wohnung und die Möbel für den Fall, daß er sich
verheiraten • wollte. Er begann mit eigenem Haushalt und eigenem
Personal aber erst im Jahre 1890, als er zum Registrator befördert
wurde.
Als man ihn fragte, wann sein Geschlechtsleben erwachte, sagte
er lachend: „Ja, das ist angeboren.“ In der Jugend onanierte er
„wie alle seine Kameraden“; wenn sie Ausflüge aufs Land machten,
saßen sie „wie Indianer rings um ein Feuer und onanierten.“ Hj.
hörte jedoch bald mit der Onanie auf. Starken Geschlechtstrieb habe
er nicht. Er habe ein sexuelles „Selbstbeherrschuugsvermögeu gehabt,
das geradezu wunderbar ist.“ Er sei „sehr beliebt bei Damen“ ge¬
wesen, „Coitus sei ihm sogar angeboten, mitunter von ganzen
Familien.“ Er habe keineswegs den Gedanken an eine Heirat auf¬
gegeben, habe sich aber bis jetzt für „zu jung“ gehalten.
Das wirkliche Motiv, weswegen er Pflegekinder angenommen
habe, sei Egoismus gewesen. Bekäme er einen Menschen, um dessen-
willen er zu Hause bliebe, würde es billiger werden und er würde
weniger trinken; außerdem sei es seine Absicht, sein Pflegekind so
zu erziehen, daß es eine Stütze gegenüber einer Gattin oder Haus¬
hälterin werden könne und so zur Kontrolle ihnen gegenüber benutzt
werden könne. Man dürfe sich nämlich niemals auf einen Menschen
verlassen. Er gibt zu, daß er mißtrauisch sei, aber dazu hat er auch
wirklich Ursache. „Denken Sie sich, die Witwe eines ersten Schau¬
spielers (D.) ging jede Nacht und stahl aus meiner Rocktasche Geld.“
Er „verhaute die Witwe D. und ihre Tochter (Auszug 4), weil sie ihu
bestahlen.“ Das Mädchen war häßlich, hatte aber hübscheBeine; sie hatte
wenigstens Anlage dazu, als sie klein war“ (jene Bemerkung über
das Aussehen der kleinen D. macht er ganz von selbst.) Frau Dph.
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Psychopathische Verbrecher.
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sei eine völlig verdorbene Person, sie war „Mama von Dirnen“, be¬
sonders von einem Mädchen mit Namen E., die sich ein Großkauf¬
mann hielt.
Von dem Mädchen P. (Auszug 5) sagt Hj., daß sie nur zweimal
Prügel bekam, weil sie gelogen hätte. Kurz nachdem die kleine P.
ihn verlassen, habe er ein Inserat nach einem andern Mädchen ein¬
gesetzt und zwar, weil es „so praktisch sei% Pflegetöchter zu haben.
Unmittelbar nachdem Hj. diesen Grund für seinen Wunsch, Pflege¬
kinder zu besitzen, angegeben hat, beteuert er jedoch auf die Frage,
weswegen er die kleine R. zu sich genommen habe, daß er dies aus
Mitleid mit dem Mädchen getan, weil ihre Mutter „schlimmer als eine
Prostituierte“ sei. Jene Frau R. hatte einen Zigarrenladen und ließ
jeden Beliebigen, der in den Laden kam, ihre Tochter zur Unzucht
benutzen. Der Vorschlag, ihm das Kind völlig zu überlassen, kam
von seiner Seite, 1—2 Monate nachdem er sie zu sich genommen
hatte. Hj. gibt zu, daß sie oftmals bei ihm lag. Ihre körperliche
Entwicklung sei derartig gewesen, daß er glaubt, „die meisten Männer
hätten sich zu ihr hingezogen gefühlt.“ Hj.s Äußerung, daß er, wenn
das Mädchen 10 Jahre alt gewesen wäre, sie wie eine Frau hätte be¬
nutzen können, sei ein indirekter Beweis, daß er sie damals nicht be¬
nutzte. Wenn man gehört habe, daß Hj. die Kleine bat „zutun, was
er verlangte“, habe es sich um ganz andre Dinge gehandelt; wenn
es sich um so etwas (Unzucht) mit einem siebenjährigen Wurm
handelt, fügt er hinzu, „dann sagt man nicht so, sondern den nimmt
man.“
Die Angabe, daß Hj. die kleine R. mit der Absicht, sie vom
Alkohol zu entwöhnen, betrunken gemacht hätte, verneint er, gibt
dagegen zu, daß er ihr Schnaps gegeben hat, „um sie lustig zu machen.“
Die Leute sollten auch behauptet haben, daß die Kleine merkwürdig
gesund geworden sei, seitdem sie bei ihm war. Sie hätte Prügel
bekommen, weil sie „heimlich Bier trank“. Sie war nämlich gewohnt,
Bier zu trinken, als sie bei der Mutter war. Als die Mutter ihr
Kind Hj. überließ, sei es ihre Absicht gewesen, daß er die Kleine zur
Unzucht benutzte. Weit davon entfernt, dies zu tun, habe er der
Mutter scharfe Vorwürfe wegen der Behandlungsweise gegenüber ihrer
Tochter gemacht. Ein weiterer Beweis seiner Unschuld sei, daß das
Kind früher bereits zur Unzucht benutzt worden sei; das gehe aus
ihrer Erzählung hervor, daß Mannesleute sie „überlegten und sie
dann naß machten“. Als die Mutter des Mädchens ihre Pläne hin¬
sichtlich Hj.s gekreuzt sah und er sich geweigert hatte, ihr Geld zu
leihen, nahm sie das Kind zurück. Daß Hj. Frau R. mißhandelt hat,
Archiv für Kriminalantbropologie. 37, Bd. 16
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VII. Frey Svenson
will er nicht eingestehen, „aber, fügt er hinzu, da ich den Reinigungs-
eid nicht leistete, sieht ja jeder, wie es sich verhält.“
Von dem Mädchen Hj. behauptet er, daß sie ihm erzählt habe,
wie ihr eigener Vater mit ihr Unzucht getrieben. Dies sollte in der
Weise vor sich gegangen sein, daß „der Vater die Kleine auf seine
Füße und zwischen seine Beine gestellt habe und durch Bewegen
der Füße, grade wie man eine Nähmaschine tritt, coitus mit ihr
betrieben.“
Das Übereinstimmende in den Berichten der Mädchen R. und
Hj. beruhe darauf, daß sie von der Polizei instruiert worden seien.
Bei Erwähnung der Polizei unterläßt Hj. nicht, die sittliche Verdorben¬
heit in dieser Institution hervorzuheben. Als neuen Beitrag zur
Charakteristik der Polizei erzählt Hj., daß einer seiner Freunde, „ein
völlig glaubwürdiger Mensch mit 4 Orden auf der Brust und hoher
Freimaurer“, ihm erzählt habe, ein Polizeikomissar L. hätte in einem
öffentlichen Lokal gesagt, daß es das größte Vergnügen der Polizei
sei, halbwüchsige Mädel zu prügeln, wobei sie alle wollüstige Erek¬
tionen bekämen.
Über Frau Hj. gibt Hj. an, daß er 1891, während er noch die
kleine R. bei sich hatte, mit ihr in sexuellem Verhältnis stand und daß er
„von ihr einen Tripper bekommen“. Eins von Frau Hj.s Kindern,
ein Knabe, der nun ungefähr 12 Jahre alt sein müsse, „sollte Hj.s
Kind sein“. Im übrigen erklärt Hj., daß er betreffs des Prozesses
Hj. keine Antwort geben würde; „es würde eine Dummheit sein; alles
wird aufgeschrieben und kommt vor Gericht und damit kann ich
nicht einverstanden sein.“ Als man jedoch, ohne sich um den Protest
zu kümmern, weiter fragt, antwortet er ganz gutmütig und scheint
völlig vergessen zu haben, was er einen Augenblick zuvor mit großem
Nachdruck gesagt hat. Frau Hj. versucht er in den schwärzesten
Farben zu malen, „sie ist des Teufels Großmutter“. Daß sie so gut
über Hj.s Verhältnis zur Tochter „Geschichten zusammendichten“
gekonnthabe, beruhe darauf, daß Hj. selbst sie anläßlich des FallsR. unter¬
richtet habe, indem er erzählte, „wie man es machen müsse, um jemand
?u nehmen.“ Er bestreitet erklärt zu haben, daß er den Erzählungen
über die Unsittlichkeit in R., die er der kleinen Hj. in den Mund
gelegt, Glauben geschenkt habe, bleibt aber dabei, daß das Mädchen
Hj. „von ihrem Vater mißbraucht worden sei.“ Bringt wieder die
alte These von der Häufigkeit widernatürlicher Unzucht innerhalb
der Familien vor. Als man entgegnet, daß seine Auffassung doch
wohl etwas übertrieben sei, sagt er: „Man muß es wohl hoffen,
denn es ist ja ekelhaft; (lächelnd) wir wissen ja, was der alte Kirchen-
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Psychopathische Verbrecher.
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vater sagte, daß die schlimmste Unzucht in der Ehe vor sich gehe,
wo Mann und Frau sich auf widernatürliche Weise benutzen usw.“
Die Angabe der kleinen Hj., daß sie, wenn er mit ihr Unzucht
betreiben wollte, auf seinen Befehl ein Paar hohe Stiefel anziehen
mußte, die früher der kleinen R. gehörten, sucht er so zu erklären,
daß „das Mädchen Hj. zu Hause in R. mit schlechten Stiefeln
zu gehen pflegte und man ihr deshalb befahl, sich ein Paar bessere
Stiefel anzuziehen, sobald jemand kam, um sie zu benutzen“. Diese
Einzelheit könne sich zufällig in die erdichteten Erzählungen des
Mädchens über Hj. eingeschlichen haben. Als man hervorhebt,
mehrere Umstände in den Erzählungen der kleinen Hj. seien der Art,
daß sie unmöglich erdichtet sein könnten, und es folglich das Beste
wäre, Hj. bekenne sein Verbrechen an ihr, ruft er lebhaft aus: „Ich
bin doch nicht verrückt, ich habe nichts anderes getan als das, was
ich eingestanden habe; der letzte Prozeß hat bewiesen, daß ich kein
Päderastbin,und das kann möglicherweise meine Ehrenrettung werden“.
Daß er bei seinen Pflegetöchtern die Gewohnheit gehabt, „sie an den
Beinen zu befühlen“, bestreitet er, indem er hinzufügt: „Um mich sexuell
zu erregen, muß ich sie am Geschlechtsorgan selbst anfassen, und es
würde mich nicht befriedigen, nur ihre Beine zu befühlen.“ Die An¬
gabe, er habe die Geschwister Hj. zum coitus aufgefordert, bestreitet
er ebenfalls; „ich soll die Kinder zum coitus aufgefordert baben ?
Herrjeh, das hat Frau Hj. selbst getan.“ Die Rutenbündel, die Hj.
immer in seinem Zimmer hatte, habe er „zum Ausfegen“ benutzt, und
sonst pflegte das Kind damit zu spielen. Er gibt zu, das Mädchen
Hj. damit geschlagen zu haben, wenn sie sich eines Versehens schuldig
gemacht hatte. Von irgend welcher Mißhandlung könne jedoch keine
Rede sein; Frau Hj. habe dagegen das Kind vorne auf die Geschlechts¬
teile „so geschlagen, daß diese angeschwollen waren und sie nicht
ihr Wasser lasssen konnte.“ Seit jener Mißhandlung sei ihr Urin
„beinahe blutrot“ gewesen.
Hinsichtlich der Beschädigung von Frau Hj.s Sachen sagt Hj.:
„Ich erinnerte mich wahrhaftig kaum (beim Verhör auf der Polizei), daß
ich die Beschädigung gemacht hatte, denn ich war derart betrunken,
daß ich nicht meine Sinne beisammen hatte, als ich die Tat beging.“
14. 6. Auf die Frage, weshalb er die Mädchen eingeschlossen ge¬
halten habe, antwortet er, da sie „aus armseligen, schlechten Familien
kämen, habe er nicht gewollt, daß sie erzählen sollten, sie hätten sich
mit Kerlen abgegeben“. Außerdem habe er es vermeiden wollen, daß
die Dienstmädchen ihnen dummes Zeug beibringen sollten. Die kleine
Hj. habe er für eine Verwandte auszugeben versucht, damit ihre An-
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VII. Frey Svenson
Wesenheit in seinem Hause keinen Anstoß erregen sollte, weil er
augenblicklich den Prozeß R. über sich schwebend hatte. Als man
gegenüber seiner wiederholten Versicherung, er habe niemals Kinder
geschlagen oder gezüchtigt außer wegen schlechten Betragens, seine
Aufmerksamkeit auf die Aussage eines Zeugen lenkt, bricht er in
Hohngelächter aus: „Eine Schneppe ja, die vertragen so viel, wie sie
bekommen“. Er versucht darauf geltend zu machen, daß er ein in¬
tensiv sexuelles Leben mit erwachsenen Frauen geführt habe, und ruft
bekräftigend aus: „Das wußten ja meine Freunde, sie hielten mich
ja wegen meines Lebens mit Frauen für ein Schwein“.
Die Samenflecke auf dem Hemd der kleinen Hj., glaubt Hj., seien
von Frau Hj. angebracht, denn diese „benutzte ihre ganze Zeit um
Böses auszudenken“. Auf die Frage nach dem wirklichen Motiv für
Frau Hj.s Handlungsweise gegen Hj. sagt er: „Sie wollte mein Geld
an sich bringen, sie glaubte, daß ich viele tausend Kronen hätte —
das ist sehr wichtig“. Ihr Haß gegen ihn stamme schon aus der
Zeit, „wo sie sah, daß sie nicht in seinem Hause als seine Frau oder
so bleiben konnte.“ Daß sie von vornherein Pläne geschmiedet hätte,
glaubt er bestimmt und hält es für sehr wahrscheinlich, daß sie ihm
das Mädchen mit der Absicht, ihn ins Unglück zu stürzen, schickte.
Selbst sei er schon deshalb wütend auf sie gewesen, weil er „von ihr
angesteckt worden sei.“ Er ist überzeugt, daß Frau Hj. und Frau
Dph. immer noch versuchen, ihm zu schaden, weil sie seine Rache
fürchten. Als hervorgehoben wird, daß er besonders auf die Polizei
und alle Frauen verbittert ist, ruft er aus: „Ich — der ich mit alten
Frauen Unzucht zu betreiben pflegte — weil es weniger riskant ist:
erstens bekommt man keine Kinder und zweitens kostet es nichts —
man kann sogar bezahlt bekommen, wenn man will.“ Er gibt da¬
gegen zu, daß er auf die Polizei verbittert ist, und sagt, daß „es als
größtes Verdienst der Polizei gerechnet wird, wenn ein dummer und
roher Rüpel verständige Männer wie die Richter hinters Licht führen
kann.“ Zeugen kann die Polizei für alles Mögliche schaffen; „sie
nennen es Chorsingen, wenn sie Zeugen zur Aussage drillen, damit
sie übereinstimmen“.
Hj. habe selbst „wohl mitunter geplant, Detektiv zu werden, aber
der einzige ehrliche Kerl in einem ganzen Chor zu sein, das geht
nicht.“ Auch die Ehre des Reichsgerichts beanstandet er. „Das Urteil
des Reichsgerichts ist Schwindel! Ein solches Urteil ist niemals früher
gefällt worden, deshalb ist es in allen neuen Gesetzausgaben als Präzedenz¬
fall aufgeführt.“ Als auf Hj.s Wunsch das Urteil vorgelesen wird,
begleitet er einige Ausdrücke in demselben mit höhnischen Bemerkungen.
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Psychopathische Verbrecher.
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21.6. Er beklagt sich, daß ein Patient, der mit ihm inderseiben
Abteilung ist, „beständig von den Geschlechtsteilen redet.“ Hj. be¬
hauptet, dies „berühre ihn unangenehm.“
Apropos der Zeugenaussagen im Prozeß betreffs des Knaben K.
hebt Hj. die Beschreibung hervor, die der Zeuge Wm. selbstin seiner Aus¬
sage gemacht hat, wo er von einem Doppelgänger sprach, eine Be¬
schreibung, die nach Hj.s Ansicht sehr wichtig ist, um so mehr, als Hj.
selbst überzeugt ist, daß er einen Doppelgänger hat; diese Überzeugung
stützt er darauf, daß es häufig vorkommt, daß er von einer ihm un¬
bekannten Person gegrüßt wird. Übrigens hält Hj. es nicht für un¬
wahrscheinlich, daß der Zeuge Wm. von der Polizei bestochen sei, da
sämtliche Aussagen der übrigen Zeugen zu Hj.s Vorteil gewesen seien.
Er behauptet, die Polizei habe den Wm. darauf gebracht, auszusagen,
daß er geglaubt habe, der Knabe sei sein eigener Sohn, um dadurch
zu begründen, daß er den Mörder so aufmerksam beobachtete. Über
den Zeugen W. gibt Hj. an, daß „die Polizisten ihn draußen auf der
Mordstätte streichelten und ihn liebkosten“, um ihn zu solchen Aus¬
sagen zu bringen, die der Polizei paßten; übrigens, fügte Hj. hinzu,
„da er (W.) nicht sah, daß der Kerl einen Kneifer trug, dagegen sah,
daß er wilde Augen hatte, dann muß er (W.) ein Idiot sein.“^
Bei einer Bemerkung gegen die Art und Weise, mit der Hj.
Tatsachen darstellt, braust er auf und ruft aus: „Da ich sehe, daß
Sie, Herr Professor, mich nicht verstehen und das Protokoll nicht
richtig abfassen wollen, werde ich kein Wort mehr in dieser Sache
äußern; ich unterwerfe mich hier keiner gerichtlichen Untersuchung.“
Dieser Protest ist indes wie die früheren völlig platonisch, und als
man, ohne sich weiter darum zu kümmern, das Gespräch fortsetzt,
antwortet er ohne weiteres.
Betreffs der Polizeiprotokolle erklärt er, daß sie „als Privatbriefe
angesehen werden müssen, d. h. als Sachen, denen man durchaus
keine weitere Aufmerksamkeit schenken kann“. Die Polizisten, die
das erste Verhör auf der Polizei am 4.7. leiteten, seien betrunken
gewesen und hätten das Protokoll in einer Droschke liegen lassen;
als es dann später nicht gefunden wurde, mußten sie am 5. 6. ein
neues Verhör vornehmen. Die Verschiedenheit zwischen den Zeitan¬
gaben, die er bei den verschiedenen Verhören angibt, beruhe darauf,
daß er nicht so genau wußte, zu welchen Zeiten er sich an ver¬
schiedenen Plätzen der Stadt befand, sodaß er sich zuweilen 1—2
Stunden in der Zeit irren konnte; auch sei es ihm gelegentlich passiert,
daß er, um eine Geschäftssache zu erledigen, zweimal am selben Tage
zum selben Ort gegangen sei, ohne sich beim 2. Male zu erinnern,
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VII. Frey Svenson
daß er schon dort gewesen war. Wegen dieser Angewohnheit, sich
nicht die Zeit zu merken, habe er seine Angaben nach den Zeugen¬
aussagen ändern müssen. Was die Zeugin betrifft, die ausgesagt
hat, daß Hj. seine Kleidung in einem Oafö zu wechseln pflegte und
daß sie, nachdem sie in einer Zeitung vom 4.7. gelesen hatte, daß
die des Mordes verdächtige Person beim Gehen mit den Armen
schlenkerte, auf den Verdacht gekommen war, Hj. sei der Mörder,
wegen der Art und Weise, wie er mit dem Arm schlenkerte, als sie
ihn am 8. 7. am Fenster Vorbeigehen sah, erklärt Hj., sie müsse falsch
ausgesagt haben, da am 4.7. keine Zeitung irgendwelche Angaben
über das Aussehen des mutmaßlichen Mörders habe enthalten können.
Daß ihre Angabe eine unfreiwillige Unwahrheit sein könnte, will
er nicht zugeben, vielmehr beabsichtigt er, sie zu verklagen, und ist
davon überzeugt, daß sie wegen Meineid verurteilt werden wird. Die
ganze Geschichte von dem Armschlenkern ist übrigens nach Hj.s An¬
sicht „eine Erfindung von der Polizei, die die alten Protokolle durch¬
gelesen und dort das vom Armschlenkern gefunden hat“; übrigens sei
es „Chorsingen.“ Er gibt zu, daß alles in allem der Schein zum
Teil gegen ihn ist, aber so „würde es mit jeder beliebigen Person der
Fall sein.“ „Hätte ich nicht, fügt er hinzu, ein besonderes Aussehen
gehabt, sondern wäre es ein Mensch mit einem mehr gewöhnlichen
Äußern gewesen, dann wären die Indizien weit schlimmer gewesen.“
Die, welche gegen Hj. aussagten, seien: „ein betrunkener Gasarbeiter,
ein liederliches Weib und ein 16 jähriger Knabe.“ Der Zeugenprozeß
mit den Leuten aus dem Cafe an der Straße „Nybrogatan“ sei falsch
wiedergegeben, beim Verhör wurde nämlich die Zeit 10—12 oder
2—3 angegeben, im Protokoll aber nur die letztere.
Dann und wann macht Hj. im Gespräch einen Protest gegen
die Untersuchung, antwortet auf die eine und andere Frage: „Darum
kümmere ich mich nicht, das geht mich nichts an, ich weiß nicht
mehr von der Geschichte als die Herren selbst“ u. dgl. Apropos einer
der Aussagen sagt er: „Ach wo, das geht mich so wenig an wie
das Gegacker einer Henne.“ Hj. hält es überhaupt nicht für bewiesen,
daß der Tod des Knaben Karlsson durch eine verbrecherische Tat
hervorgerufen, und noch weniger für bewiesen, daß er Gegenstand
einer unzüchtigen Handlung gewesen sei. Denn es läßt sich sehr
wohl denken, daß er auf einen Baum geklettert sei und von dem
heruntergefallen und beim Fall gestorben sei. Die Haut war ja auf
dem Gesäß abgeschabt, was dafür spreche, daß es so zugegangen sei.
— Daß der Knabe nackt war, als man ihn fand, lasse sich nach Hj.s
Meinung so erklären, daß er aus Furcht, von seinen Eltern Strafe zu
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Psychopathische Verbrecher.
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bekommen, wenn er beim Klettern seine Kleider zerreißen würde, ehe
er auf den Baum kletterte, sich ausgezogen hätte. Obgleich man Hj.
das Unglaubliche einer solchen Hypothese vorhält, verteidigt er sie
mit großer Energie. Darauf beginnt er lebhaft und mit vielen Worten
seine prinzipielle Auffassung darzustellen, wieviel man beweisen müsse,
um eine Person als eines Verbrechens schuldig erklären zu können.
Als er mitten in dieser weitschweifigen und mit sichtlicher Zufrieden¬
heit durchgeführten Auseinandersetzung plötzlich durch die Frage
unterbrochen wird: „Na, aber was meinen Sie, Herr Hj., zu der Tat¬
sache, daß 17 bis 18 Kinder, die samt und sonders Sittliehkeitsver¬
brechen ausgesetzt waren, sämtlich in Ihnen den Mann wiedererkannten,
der diese Sittlichkeitsverbrechen begangen hatte'?“, nimmt sein Gesicht
einen sehr gespannten und genierten Ausdruck an, er betrachtet den
Sprechenden einige Sekunden lang mit seinem stereotypen Lächeln und
starren Blicken und führt dann mit seinen allgemeinen Erklärungen
fort, ohne die Frage zu beantworten.
Als Hj. am Schluß der Unterhaltung gefragt wird: „Kennen Sie
Fräulein K.?“, zuckt er zusammen, sieht mit verwundertem Ausdruck
von einem zum andern der Anwesenden und ruft mißtrauisch aus:
„Wie wissen Sie das? Haben die Herren etwa meine Briefe genommen
die verschwunden sind?“ Als man ihm sagt, daß Frl. K. an den
Direktor geschrieben habe, um sich nach ihm zu erkundigen, erzählt
er, daß Frl. K. eine alte Freundin von ihm sei und daß er nach der
Entlassung aus dem Gefängnis zu G. einige Monate bei ihr gewohnt
habe. Auf die Frage des Oberarztes: „Sie haben also doch einige
gute Freunde, Herr Hj.?“ wird er sehr aufgeregt, steht plötzlich auf
und stellt sich in eine Ecke des Zimmers. Als er nach einigen Sekunden
seinen Platz wieder einnimmt, hat er die Augen voll Tränen. Er ge¬
winnt jedoch bald die Selbstbeherrschung zurück. Über das Verhältnis
zu Frl. K. sagt er, daß dies kein sexuelles, sondern nur ein kamerad¬
schaftliches Freundschaftsverhältnis gewesen sei.
22. 6. Die Tatsache, daß die in den Gerichtsakten angeführten
Kinder, die Gegenstand von Sittlichkeitsverbrechen gewesen sind, in
Hj. den Täter zu erkennen behaupten, erklärt er so, die Polizei habe
dies Wiedererkennen dadurch arrangiert, daß bei den Polizeiverhören
mit den Kindern ihnen verschiedene Photographien gezeigt worden, und
darunter die Hj.s, wobei ihnen eingepaukt sei, daß er der Schuldige
wäre; außerdem hätten die Eltern die Kinder aufgefordert, zu einer Be¬
lastung beizutragen, als Grund angebend: „Das ist ein solcher Rüpel,
der einen Jungen erschlagen hat, den wollen wir in die Klemme
bringen.“ Hinsichtlich der Mordtat betont Hj., daß er auch, wenn er
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VII. Fkey Svenson
keine Zeugen für sieh hätte und er also nicht beweisen könnte, daß
er das Verbrechen nicht hat begeben können, dennoch nicht verur¬
teilt werden [[könne, weil es keine Beweise gäbe, daß er den Mord
begangen hat.
2. 7. Im Gespräch über sein Buch „Gefängnis und Gefangen¬
leben“ [erklärt Hj., daß er unbedingt seinem Buch eine gewisse Be¬
deutung zuschreiben müsse; es sei recht ausführlich in ein paar nor¬
wegischen Zeitungen besprochen worden und habe veranlaßt, daß er-
aufgefordert wurde, im Volkshaus einen Vortrag über die Verhältnisse
im Gefängnis zu halten. Als Hj. der Staatsanwaltschaft ein Schreiben
gesandt hatte, worin er Bemerkungen gegen das Zellensystem und
gegen die hygienischen Verhältnisse im Gefängnis machte, habe der
Generaldirektor der Gefängnisse ihm einen Wink gegeben, er solle
um Begnadigung ansuchen. Er habe sich jedoch geweigert, diesem
Winke nachzukommen, und habe sich in der Weise freiwillig 4 Jahren
Zuchthaus unterzogen; „ich weiß, fügt er hinzu, kaum irgend eine
Person in Schweden die soviel für eine Aufgabe getan hätte, und
dies Buch hier hat mir großes Ansehen verschafft.“ Alle Ärzte, mit
denen er über die im Buche erhobenen Anklagen gegen die Gefangen¬
pflege gesprochen habe, seien ganz seiner Ansicht, „obgleich sie sich
über die Anzeige ein bißchen geärgert haben, weil sie meinten, daß
sie dies selbst hätten zur Sprache bringen sollen.“ Daß die Onanie
häufiger unter Zellengefangeuen sei als unter denen, die in Gemein¬
schaft mit andern leben, sei ihm bekannt, denn teils hätten sie es
ihm erzählt, teils sähe man es ihnen an, sie wären so kränklich und
elend. Auf die Frage, ob die Päderastie unter den Gefangenen ver¬
breitet sei, antwortet er: „Es gibt beinahe nichts — es ist schwierig
heranzukommen.“ Im Gemeinsamkeitsgefängniß zu Langholmen soll
es dagegen Vorkommen. Als man Hj. eingehender über das Vorkommen
von homosexuellen Verhältnissen in dem Gefängnis, wo er sich auf¬
gehalten hat, befragt, sagt er, abweichend von seinen oben gemachten
Angaben: „Das ist etwas so Gewöhnliches, daß man gar nicht daran
denkt.“ Übrigens meint H., daß die Päderastie so zu sagen mehr
natürlich und deshalb weniger schädlich sei als die Onanie; „man
weiß ja, wieviele Menschen es in Stockholm gibt, die es betreiben:
(er gibt hier ein paar Namen an) — sie werden alt und dick.“
Selbst behauptet Hj. niemals während seiner Gefängniszeit onaniert
zu haben. Auf die Frage, ob er damals, wo er onanierte, beim Akte
selbst sexuelle Fantasievorstellungen gehabt habe, antwortet er lachend:
„Nein, es war rein mechanisch; übrigens betrieb ich es so wenig, viel
weniger als die andern.“
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Psychopathische Verb reeller. 249
Außer der Päderastie kenne er keine sexuellen Abnormitäten, habe
niemals ein Buch über sexuelle Verirrungen gelesen. Seitdem er un¬
gerecht verurteilt wurde, habe er „einen solchen Abscheu für alles
Derartige und findet es geradezu krankhaft, an so etwas zu denken;
in dem Falle sei er gesund wie ein Bauer, der eine recht bejahrte
Frau nehmen kann und sich zufrieden damit fühlt.“ Die Frage, ob
er nur aus gesundheitlichen Rücksichten sexuellen Verkehr habe, bejaht
er mit freudig überraschter Miene, grade als habe er unerwartet einen
verwendbaren Gesichtspunkt bekommen. Seine bei früherer Gelegen¬
heit gemachte Äußerung, er habe starken Geschlechtstrieb, nimmt er
zurück; er könne 3 Monate ohne coitus sein, habe „eine Seele, die un¬
gewöhnlich gut ihre fleischlichen Lüste herrschen kann.“ „Ich bin
einer der sittlichsten Menschen, die es gibt,“ ruft er schließlich mit
Pathos aus als Gipfel dieser Selbstverherrlichung, „und doch soll ich
hier solchen Beschuldigungen ausgesetzt sein!“
Auf die Frage, ob er wisse, was Masochismus sei, erklärt er nie¬
mals davon gehört zu haben; er habe aber wohl „gesehen, daß öffent¬
liche Frauen geprügelt worden sind.“ Er interessiere sich übrigens
nicht für Ausnahmefälle, nur für das Normale. Auf die Entgegnung,
er hätte sich doch mit Verbrechen beschäftigt, und diese bildeten
doch glücklicherweise noch Ausnahmen, antwortet er: „Nein, das tun
sie gar nicht, sie bilden die Regel, die meisten Menschen sind Verbrecher.“
3. 7. Er zeigt eine Zeitungsnotiz über einen dänischen Lustmörder
Th., in der u. a. gesagt wird, daß Th. verheiratet ist. Hj. sagt mit
Selbstgefühl: „Sehen Sie nun, ich habe immer geglaubt, daß er ver¬
heiratet sei, und nun steht hier, daß es so ist. Stellen Sie sich nun
vor, wenn jemand seine Tochter gekriegt hätte, die er benutzt hat,
da könnte er ja wegen Päderastie beschuldigt werden, da es statt-
dessen der Vater ist, der es getan hat.“
5. 7. Erklärt emphatisch, daß „die Schlechtigkeit der Polizei so
groß ist, wie überhaupt denkbar.“ Zu dem Rechtsanwalt St. habe
er einmal gesagt: „Es ist für die Herren das Beste, wenn Sie mich
in Ruhe lassen, ich bereite Ihnen nur Unbequemlichkeiten und Un¬
angenehmes.“ Als man ihn fragt, ob er glaube, daß St. bange sei
ihn anzuklagen, sagt er: „Ich weiß eine ganze Menge von ihm und
habe ein Gedicht über ihn geschrieben.“ Zeigt ein Schreiben, worin
er zu beweisen sucht, daß an dem Knaben R. kein sexuelles Ver¬
brechen begangen worden sei. Er interessiert sich aus dem Grunde
für die Sache, weil, falls ein sexuelles Vergehen nicht gemacht worden
ist, der Verdacht gegen ihn weniger nahe liege. Er führt deshalb von
neuem seine oben gegebene Auffassung an, daß das Verbrechen v.on einem
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VII. Frey Svenson
religiös Wahnsinnigen verübt sei. Bezüglich der Nacktheit des Knaben
sagt er: „Ich würde nie Unzucht mit einer ganz nackten Frau be¬
treiben.“ „Es kann einem behagen, neben einer nackten Frau zu
liegen, fügt er hinzu, aber ich mag keinen ganz nackten Körper
sehen; besonders Füße sind abscheulich häßlich.“ Er für seine Person
„habe nichts dagegen, einen coitus mit einer Frau zu haben, die Schuhe
und Strümpfe an hat.“ Über die Fähigkeit des männlichen Körpers,
Geschlechtsreize zu erwecken, findet er, „daß mit dem Hinterteil nicht
viel los ist.“ Zieht auch die Venus von Medici dem Apollo de
Belvedere vor.
Hj. zeigt heute einen Zeitungsausschnitt über den oben genannten
Lustmörder, worin gesagt wird, daß ein Mädchen, die mit Th. zu¬
sammen gewesen war, ein Signalement von ihm gibt, das durchaus
nicht zutreffend war. Dies zeigt, so meint Hj., wie wenig man sich
nach einer Aussage von einem Kinde richten kann. Er zeigt außer¬
dem einen Zeitungsausschnitt über einen Doppelgänger, um zu be¬
kräftigen, wie häufig solche Doppelgänger sind.
Darauf fängt er an über einen kürzlich gewesenen Ärzteskandal
in Stockholm zu sprechen und gibt seine Entrüstung über die nach
seiner Ansicht unwürdige Behandlung in derben Worten kund, welcher
Dr. X. seitens des ärztlichen Vereins Gegenstand gewesen ist. Er
findet „wenn ein Arzt zwischendurch als Beschäler Dienst tun will,
hat cs wohl nichts auf sich,“ und behauptet „cs gäbe mehrere Ärzte
in Stockholm, zu denen Frauen kommen, um coitus zu haben.“ „Wenn
einer, fährt er fort, mehrmals um eine Sache gebeten und sogar be¬
zahlt worden ist, ist es erklärlich, wenn er es nachher weiter betreibt.“
Daß X. aus dem Ärzteverein ausgestoßen wurde, sei ungerecht, da
so viele andere Ärzte nicht besser seien. Ebenso ergrimmt wie Hj.
über die Maßregeln des Ärztevereins gegen X. ist — in Hj.s Augen
eine Äußerung von Selbstgefälligkeit und ein Versuch, dem Publikum
einzubilden, daß die Ärzte in moralischer Hinsicht bessere Menschen
seien als andere, was das hauptsächlichste Motiv seiner Verbitterung
zu sein scheint — ebenso entzückt und schadenfroh ist er über einen
kollegialen Streit einiger Stockholmer Ärzte.
17. 7. Spricht die Vermutung aus, daß die Ärzte ihm feindlich
gestimmt seien: „die Herren hassen mich natürlich.“ Die Ursache sei
nach Hj.s Ansicht teils Unzufriedenheit mit seiner Kritik gegen andere
Ärzte und mit Äußerungen in seinem Buch, teils der Umstand, daß
die Ärzte möglicherweise irgendwie von der Polizei abhängig sein
könnten; außerdem „müßten die Ärzte ihn hassen, wenn sie glaubten,
daß er ein solcher Schuft sei, daß er den Mord verübt hätte“. Hj. be-
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Psychopathische Verbrecher. 251
klagt sich ferner darüber, daß er „nicht weiß, woran er mit den
Ärzten sei.“
In bezug auf den Mord hebt er als Stütze für die Ansicht, daß
keine unzüchtige Handlungen stattgefunden haben könnten, den Um¬
stand hervor, daß bei der Obduktion keine Samenflüssigkeit weder
in der Urinröhre, in der Samenblase noch anderswo gefunden worden
ist. Als man ihm auseinandersetzt, daß sich bei einem Knaben in K.s
Alter überhaupt kein Samen bildet, zeigt Hj. einen Ausdruck höchster
Verwunderung. —
28. 7. Spricht seinen Ärger über den „Sprechsaal“ in der Stock¬
holmer Zeitung aus und sagt: „Sie können mich gerne für den halten,
der alle Sittlichkeitsverbrechen der Welt begangen haben soll, das
kümmert mich nicht, aber für so dumm angesehen zu werden, daß
ich das Justizministerium ersucht haben sollte, meine Untersuchungs¬
akten auf Staatskosten einbinden zu lassen, das ist mir nicht recht;
ich muß die Notiz unbedingt dementiert haben.“
Gegen die Polizei macht er wie gewöhnlich gehässige Ausfälle.
Die Polizei wirbt in der Weise Zeugen, daß sie den Leuten, von denen
sie Aussagen wünscht, Vormacht, daß der Angeklagte unter vier Augen
der Polizei ein Bekenntnis abgelegt habe, und daß es sich nur darum
handele, Beweise zu bekommen. Daß die Polizei ihm wirklich feind¬
lich gesinnt sei, gehe daraus hervor, daß sie „versucht habe, ihn als
Landstreicher zu verhaften.“ Der Polizeipräsident R. sei gegen Hj.
aufgebracht, da Hj. ihn angezeigt habe, teils weil R. den Tod von
19 Menschen verschuldet haben sollte (bei dem bekannten Besuch
von Christine Nilsson in Stockholm), teils weil er eine von Hj. kata¬
logisierte Büchersammlung von schmutzigem Inhalt verkauft hätte.
Betreffs der oben angegebenen Notiz in der Stockholmer Zeitung
vom 11.5. 1906 behauptet Hj., nunmehr überzeugt zu sein, daß deren
Urheber der Staatsanwalt L. ist. Bei dem Gedanken an diese Notiz
wird Hj. von neuem äußerst erregt, wiederholt seine früher gemachte
Äußerung, daß man ihn „gerne für das größte Schwein halten darf,
nur nicht für einen Dummkopf,“ hinzufügend: „Kann man sich etwas
Rüpelhafteres denken! Wenn ich jenen Teufel träfe, würde ich ihm
eins aufs Maul hauen.“
Als man einige Einwendungen gegen seine Auffassung von der
Polizei macht, ruft er höhnisch aus: „Da sieht man, wie besorgt Sie
um die Bürokraten sind!“
12. 8. Hj. überliefert dem Direktor folgende Schrift: „Da das,
was ich zu dem schon vor Gericht anläßlich der gegen mich ge¬
machten falschen Anklage von mir Gesagten hinzuzufügen habe, selbst-
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VII. Fbey Svenson
verständlich dem Gerichtshof direkt mitgeteilt werden muß, da ich aber
die von dem Direktor der hiesigen Irrenanstalt über den Gegenstand
gemachten Fragen nicht gänzlich unbeantwortet lassen wollte, was
mir die Möglichkeit genommen hätte, ihm — der, nach den Gesprächen
zu schließen, sich in den Dienst der Staatsanwaltschaft gestellt
hat — zu entlocken, was die Staatsanwaltschaft noch zur Irre¬
führung der Zeugen und Richter zu unternehmen beabsichtige, habe
ich mich nur insofern über den Gegenstand ausgesprochen, als es die
besagte Absicht erheischte, und in Folge davon widerrufe ich jetzt
— um Mißverständnisse zu verhüten — alles, was ich in Gesprächen
über den Gegenstand geäußert habe mit Ausnahme dessen, was sich
direkt auf medizinische Sachen bezogen hat, wie auch dessen, was
nur eine Wiederholung des von mir vor Gericht mündlich oder schrift¬
lich Gesagten gewesen ist.“
IIL
Gutachten.
Der zur Beurteilung vorliegende Fall ist insofern eigenartig, als
in bezug auf die Hauptanklage, wodurch die Gerichtsverhandlung und
wohl auch in erster Hand die Forderung einer Untersuchung des
Gemütszustandes des Angeklagten veranlaßt worden sind — d. h. in
dem Prozeß hinsichtlich des Mordes an den Knaben Gustav Theodor
K. — völliger gerichtlicher Beweis [von der Schuld des Angeklagten
kaum vorliegt. Da jedoch die Schuld eines Individuums handgreiflich
sein kann, ohne daß ein gerichtlich bindender Beweis vorliegt, habe
ich es für wichtig gehalten, mir selbst klar zu machen, inwiefern die
im Prozeß gewonnenen Aufklärungen für die Schuld oder Unschuld
des zu Untersuchenden sprechen. Die im Originalgutachten vor¬
gebrachte Besprechung des Alibibeweises Hj.s wird nicht hier aufge¬
nommen, da die Kenntnis der genannten lokalen Verhältnisse Stockholms
nötig ist, um sie zu verstehen.
Die genannte Besprechung ist im Original besonders gemacht, um
zu zeigen, daß, wenn man die Verhältnisse in der für Hj. ungünstigsten
Weise betrachtet, es nicht ausgeschlossen ist, daß Hj. das Verbrechen
verübt hat, jedoch unter der Voraussetzung, daß die Zeitangaben des
einen Hauptzeugen sich auf einen andern Tag als den angegebenen
beziehen oder daß der andere Hauptzeuge wirklich zu frühe Zeit an¬
gegeben hat. Ich hebe hervor, daß die sich wiedersprechenden Zeugen¬
aussagen es verbieten, daß man sie streng nach dem Wortlaut nimmt
und daß sie eine kritische Auslegung notwendig machen.
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Psychopathische Verbrecher.
253
Was die Behandlung betrifft, der nach dem aus dem Obduktions¬
protokoll zu Ersehenden der Knabe Karlsson ausgesetzt gewesen war,
scheint sie gut mit der Behandlung übereinzustimmen, die von einigen
Kindern beschrieben wird, welche sexuellen Attentaten von Hj. ausge¬
setzt gewesen sind. Man kann durch Verbindung von Einzel¬
heiten aus den vorhergehenden Mißhandlungsfällen ein vollständiges
Bild der Mißhandlung erhalten, die dem Knaben K. widerfahren ist.
Schon der Knabe Hj. (Auszug 9. 10) wurde Mißhandlungen an
den Geschlechtsteilen und Masturbation ausgesetzt. Mißhandlung an
den Geschlechtsteilen findet man in den Fällen H. und B. (Auszug 14 und 15)
und Masturbation im Falle H. (Auszug 16). Im Fall K. ist die
Brutalität bei der Masturbation so weit gegangen, daß das Band
zwischen der Eichel und der Vorhaut zerriß. In der letzten Zeit ist
die Mißhandlung, wenn Hj. keine Eile hatte — vergl. die Fälle A.
und H. (Auszug 18 und 16) — so vor sich gegangen, daß das Kind mit
dem Rücken gegen den Leib des Täters gesetzt wurde, worauf er das
Kind in der Magengegend umfaßt hat und darauf wiederholte Male
(bis zu 5 Minuten) dessen Rücken gegen seinen Magen drückte.
Wahrscheinlich ist diese Behandlungsweise eine Manipulation gewesen,
um Reibung des Gliedes und Ejakulation hervorzurufen. Die Stellung
wird auch von Frau Hj. beschrieben, als von der Behandlung, der
der Knabe Hj. Gegenstand gewesen, die Rede ist. Ich halte es für
wahrscheinlich, daß bei dem Knaben K. jdie Blutungen im Gewebe
der Unterhaut in der Gegend des Magens und des Nabels ebenso wie
die Quetschung der Leber gerade durch eine der oben beschriebenen
ähnliche Mißhandlung entstanden sind: gewaltsamer Druck auf den
Magen durch Pressung gegen den Körper des Täters, wobei die ge¬
ballte linke Hand, deren Handgelenk die Rechte umfaßte, gerade in
der Gegend zwischen Nabel und der Grenze des Brustkorbes zu liegen
kommt. Es braucht hierbei nicht die Absicht gewesen zu sein, zu
töten, nur Schmerz zuzufügen. Es scheint mir sogar schwierig, eine
andere Erklärung für diese Vergewaltigung zu finden als die ange¬
gebene. Wäre wirklich Töten oder Mißhandeln einzig und allein die
Absicht gewesen, wäre sicherlich die Gewalt auf andere Weise ange-
gebracht worden. Außer der Quetschung der Leber und der inneren
Verblutung ist offenbar Erstickung vorgekommen. Es scheint mir
kaum möglich, daß die Mißhandlung an und für sich Erstickung be¬
wirkt hat, sondern ich halte es für wahrscheinlich, daß in den Mund
des Opfers ein Taschentuch oder dgl. hineingesteckt worden sei.
Absolut notwendig war es ja auch, daß an jenem Platz Geschrei
und Hilferufe verhindert wurden. Die auf der Zunge vorhandene
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254
VII. Fbey Svenson
Wunde kann ja bei dem Versuch entstanden sein, sich von dem in
den Mund gestopften Gegenstand zu befreien. Ich weise darauf hin,
daß ein Knabe (Auszug 14) sich zu der Befürchtung veranlaßt
fühlte, daß in seinen Mund ein Taschentuch gesteckt werden sollte.
Endlich ist Päderastie vorgekommen, doch ist es hier bei dem bloßen
Versuch geblieben oder auch es hat sich um einen coitus interruptus
gehandelt, da im Inhalt des Mastdarms keine Samenkörper konstatiert
werden konnten. Daß der After des toten Knaben ungefähr einen
cm weit offen stand, deutet entweder darauf hin, daß die Coitusbe¬
wegungen nach dem Tode fortgesetzt wurden, oder daß Berstungen
im Kingmuskel entstanden sind, welche das Obduktionsprotokoll je¬
doch nicht andeutet. Hj. behauptet in seiner Kritik des Obduktions¬
protokolls, daß die Erweiterung nach dem Tode des Knaben von der
Polizei bewirkt worden sei, aber dagegen sprechen die vorhandenen
Risse mit den frischen Blutungen. Das Entkleiden des Knaben kann
um Samenflecken auf den Kleidern, welche ein voriges Mal für Hj. so
unglückschwer gewesen sind, zu entgehen vorgenommen worden sein.
Die Ergebnisse der Obduktion zeigen also meiner Meinung nach
darauf hin, daß dieselbe Person den Mord an dem Knaben K. und
die Mißhandlung an verschiedenen der in dem Gerichtsprotokoll be¬
sprochenen mißhandelten Kindern begangen hat, wo Hj. als Täter
angegeben wird. Ich hebe auch den wichtigen Umstand hervor, daß
der Knabe K. sich in dem Alter befand, das Hj. vorgezogen zu haben
scheint: das im Gerichtsprotokoll vorkommende Alter der Kinder
wechselte zwischen 9 und 14 Jahren (abgesehen von den beiden
Ausnahmefällen).
Aus dem Obenstehenden, scheint mir, ist es nicht allzukühn zu
schließen, daß die Umstände, die dafür sprechen, daß Hj. den Mord
an dem Knaben K. begangen habe, diejenigen überwiegen, die dafür
sprechen, daß er nicht der Täter wäre.
Der vorliegende Fall bietet eine andere Eigentümlichkeit, nämlich
die, daß das Gutachten sich zum großen Teil auf die Angaben des
Gerichtsprotokolls stützen muß. Es ist ja offenbar, daß eine Abnor¬
mität im Geschlechtstrieb besonders leicht in einer Anstalt verheimlicht
werden kann, wo der Betreffende unter ganz außergewöhnlichen Ver¬
hältnissen lebt und grade von solchen Individuen isoliert ist, welche
seinen Geschlechtstrieb am meisten oder vielleicht ausschließlich an¬
spornen, ja, daß er sogar völlig verhehlen kann, ob er überhaupt
seinen Geschlechtstrieb befriedigt. Die Untersuchung in der Anstalt
kann hier nur indirekte Beweise liefern. Bei der Prüfung der Ge¬
richtsprotokolle berücksichtige ich jeden Fall, der Interesse bietet,
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Psychopathische Verbrecher.
255
gleichviel ob diese Beweise der Schuld in dem einen oder andern
Falle schwächer oder stärker sind; überhaupt bin ich der Meinung,
daß die Wahrscheinlichkeit sehr groß ist, daß Hj. die Taten, die hier
berücksichtigt werden, begangen hat. Unter allen Umständen gilt,
was ich zu sagen habe, auch wenn Hj. nicht den Mord am Knaben
K. begangen hat, ja, der Hauptsache nach sogar, falls er nur die
Verbrechen verübt hat, für die er schon bestraft ist.
Der am meisten hervortretende Zug in Hj.s sexueller Abnormität
ist, daß sein Wollustgefühl zunimmt oder gradezu hervorgerufen wird
durch Mißhandlung der Gegenstände seiner libido. Dieser Sadismus
wurde schon im Jahre 1888 wahrgenommen und äußert sich zuerst
in Form von Peitschen mit Ruten oder Stöcken vor dem Geschlechts¬
akt; nach der Gefängniszeit äußert er sich im Kneifen, Schlagen oder
Drücken, was offenbar dem Opfer große Schmerzen verursacht und
schließlich so kräftig gemacht wird, daß der Tod eintritt. Als eine
Äußerung von Hj.s Sadismus dürfte auch die Neigung angesehen
werden, außerhalb der rein sexuellen Situationen in der rohesten
Weise schwächere Individuen zu quälen. Es gehört glücklicherweise
zu den Seltenheiten, daß man gezwungen wird, sich mit einer so
gradezu haarsträubenden Behandlung zu beschäftigen, deren Frau Hj.
und ihr Sohn ausgesetzt worden sind. Es dürfte auch wahrscheinlich
sein, daß Hj.s Wollustgefühl durch den Anblick von Blut gesteigert
wird. Hierfür spricht die spontane Erzählung der kleinen Hj., daß
sie oftmals so gepeischt wurde, daß Blut hervorkam, und daß sie bis¬
weilen so vor Mund und Nase geschlagen wurde, daß es blutete, aber
daß sie alsdann weniger heftig geschlagen worden sei. Vergleiche, daß
der Knabe K. an dem Geschlechtsorgan so mißhandelt wurde, daß
Blutung entstand.
Ein anderer Zug der Abnormität ist, daß sie sich in Päderastie
äußert. Auch wenn es sich um weibliche Individuen handelt, geht
coitus per anum, nicht per vulvam, vor sich, und es ist kaum anzu¬
nehmen, daß hierbei praktische Rücksicht oder anatomische Verhält¬
nisse bestimmend gewesen sind. Ich will doch nicht so weit gehen
wie die Staatsanwaltschaft, im Prozeß Hj., die, darauf hinweisend,
daß Hj. selbst sein Klosett in eine in die Wohnung gebrachte Tonne
leerte, behauptet, daß er gradezu an Schmutz Gefallen finden solle,
obgleich man eine derartige Form von Abnormität ja kennt.
Sobald der Geschlechtstrieb Hj.s anfängt, sich als Päderastie zu
bekunden, richtet er sich sofort gegen Minderjährige. Unzucht mit
Minderjährigen geht anfangs parallel mit dem Geschlechtsverkehr
mit Erwachsenen. Vor der Gefängniszeit äußert er sich hauptsächlich
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VII. Frey Svenson
gegen weibliche, aber auch gegen männliche Individuen, nach der
Gefängniszeit ist die Homosexualität vorherrschend. Von den
bei der Polizei im Zusammenhang mit dem letzten Prozeß angemeldeten
22 Minderjährigen sind nur 4 Mädchen, mit denen er mehr zufällig
zusammengeführt worden zu sein scheint. Vielleicht hat der Aufent¬
halt im Gefängnis zur Entwicklung jener Wendung zur völligen Homo¬
sexualität beigetragen.
Bei Hj. hat sich auch Neigung von Schuh-Fetischischmus gezeigt.
Das Mädchen Hj. mußte jedes Mal, bevor sie mißbraucht wurde, ein Paar
Schuhe anziehen, die der kleinen R. gehört hatten. Daß er die
Schuhe des Knaben H. musterte, mag vielleicht auch hierher gehören,
und seine von Frau Dph. geschilderte Besorgnis wegen des schmutzigen
Kindertaschentuchs ist vielleicht auch ein Ausdruck für Fetischismus.
Ich halte es auch für wahrscheinlich, daß ein gewisser Grad von
Exhibitionismus vorliegt. Hj. hebt als einen gegen sein Verbrechen
sprechenden Umstand hervor, daß der Mord an einem so öffentlichen
Platz begangen worden ist, daß die Gefahr, entdeckt zu werden, nahe¬
lag. Aber charakteristisch für Hj.s Art und Weise, etwas auszuführen,
ist grade eine große Frechheit. Er renommiert vor seinen Wirtinnen
mit seinem Benehmen, begeht unsittliche Handlungen mit Frau Hj.s
Kindern vor den Augen der Mutter. Auch sonst ist Hj.s Kühnheit
auffallend, und es scheint mir nicht unwahrscheinlich, daß grade die
Spannung einen erhöhten sexuellen Reiz zur Folge gehabt habe. Ein
Symptom von Exhibitionismus ist es, daß er den Knaben Hj. zusehen
läßt, als er die Schwester zur Unzucht benutzt.
Die Witwe L. (Auszug 15) hat konstatiert, daß Hj. oft morgens im
Bette liegend sich auf das Gesäß schlug— mehrmals hatte sie es gehört,
einmal gesehen, wie es zuging — es sind also Zeichen von Maso¬
chismus vorhanden. Ferner hat er eine deutliche Neigung gehabt,
auch vor weiblichen Individuen einen Teil roher Ausdrücke sexuellen
Inhalts zu gebrauchen — sexuelle Koprolalie.
Man kann also ohne Übertreibung behaupten, daß der Fall eine
völlige Probekarte sexueller Abnormitäten darstellt: Die Richtung
des Geschlechtstriebes auf minderjährige Personen,
Sadismus, Masochismus, Homosexualität, Päderastie,
Fetischismus, Exhibitionismus und sexuelle Koprolalie.
Hinsichtlich des Ursprungs jener Abnormitäten mag darauf hinge¬
wiesen werden, daß ja die meisten Autoritäten der Ansicht sind, daß
sie auf kongenitaler Grundlage beruhen, wenn auch die Äußerungen
erst später zum Vorschein kommen, und dies dürfte wohl mit aller
Sicherheit der Fall sein, wo die Entwicklung von Symptomen so reich
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Psychopathische Verbrecher.
257
ist wie in diesem Falle. Daß der Alkoholismus und die sexuellen
Ausschweifungen, deren Hj. sich hingegeben hat, eine Rolle bei der
Entwicklung der Symptome gespielt haben, dürfte nicht in Abrede
gestellt werden können.
Die übrigen aus dem Inhalt der Gerichtsprotokolle zu ersehenden
Abnormitäten in Hj.s Psyche werden im Zusammenhang mit dem
Resultat der hier vorgenommenen Beobachtung erwähnt werden.
Die hier in der Anstalt vorgenommene Untersuchung
gibt, wie schon von vornherein zu erwarten war, an die Hand, daß
Störungen irgend welcher Art in den primären intellektuellen Funktionen
nicht vorhanden sind. Der Gedächtniskreis ist ungefähr so reichhaltig,
wie man erwarten kann. Mit recht großer Aufgewecktheit folgt er
den Ereignissen der Zeit, doch scheint er das Hauptinteresse auf das
Skandalöse zu richten, was |in der einen oder andern Hinsicht irgend
eine der Beamtenkategorien kompromittieen kann, mit denen Hj. in
erster Linie im Streit liegt. Die Kenntnisse, die nicht direkt ge¬
prüft werden konnten, scheinen Erziehung und Stellung zu entsprechen.
Das Gedächtnis ist vorzüglich, ebenfalls ist die Fähigkeit, neue Ein¬
drücke aufzunehmen und einzuprägen, gut. Er beantwortet schnell
Fragen, immer angemessen und seine Fähigkeit, die Aufmerksamkeit,
auf ein Gebiet zu fixieren, ist recht zäh, wenn auch in seiner Rede
einige im ganzen unnötige Seitensprünge Vorkommen. Seine Art sich
auszudrücken, ist recht charakteristisch. Er ist sehr umständlich, die
Vorstellungen lösen einander offenbar mit großer Schnelligkeit ab und
finden leicht in Worten Ausdruck. Die Wahl der Worte verrät große
Rücksichtslosigkeit, es ist eine Karrikatur des Jargons der typischen
„Junggesellenunterhaltung“, die einem begegnet. Mit Vorliebe wird
dem Satze eine ironische oder satirische Wendung gegeben, Cynismen
werden hier und.da angebracht, und ein Auf lachen ist ein häufig vor¬
kommender Intervall. Die Mimik, die das Gespräch begleitet, ist
lebhaft, aber zum Teil infolge von den tics, die Hj. belästigen, ziem¬
lich stereotyp. Der Kopf wird oft nach hinten gebeugt, während er
mit den Augen blinzelt und ein Lächeln um die Mundwinkel hat-
man bekommt dabei einen eigentümlichen und starken Eindruck von
etwas Katzenartigem.
Die Urteilskraft ist in indifferenten Dingen recht gut, ja man
kann sogar sagen, daß sie in gewisser Richtung, wo es z. B. gilt,
Schwächen in einem Beweis zu entdecken oder ein eigentümliches
Zusammentreffen zu erklären, zuweilen gradezu vortrefflich ist. Große
Urteilsschwächen sind jedoch zu entdecken, wenn es sich um Dinge
handelt, die sich auf Hj.s eigene Person beziehen. Wenn wir unsere
Archiv für Kriminalanthropologie. 37. Bd. ' 17
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VII. Frey Svenson
Aufmerksamkeit auf seine Äußerungen betreffs sexueller Fragen richten,
sind diese erstaunlich urteilslos. Es ist sein voller Ernst, daß das
sexuelle Zusammenleben hier zu Lande so ungebunden sei wie nur
denkbar. Nicht nur unter älteren Personen, verheirateten und unver¬
heirateten, findet sexueller Verkehr statt, der oft die Form von Päderastie
annimmt, sondern ältere leben unsittlich mit minderjährigen, Eltern
mit ihren Kindern und Kinder untereinander. Die Erzählung, die er
der kleinen Hj. in den Mund gelegt hat und die er selbst vor Ge¬
richt vorbringt, zeigt, daß seine sexuelle Phantasie wahrhaft groteske
Formen annehmen kann, und hierbei sieht er nicht ein, wie er seiner
eigenen Sache schadet, dadurch daß er seine Verteidigung auf eine
solche Geschichte fußen läßt. Er sagt später freilich einmal, daß er
nicht an die Erzählung der Kleinen glaubt, bleibt aber doch dabei ?
daß der eigene Vater des Mädchens sie zur Unzucht benutzt habe, daß
die Mutter sie des Gewinns wegen zu widernatürlicher Unzucht
habe benutzen lassen und daß sie die beiden Kinder habe sexuell Zu¬
sammenleben lassen. Die Mutter des Mädchens R. habe ebenfalls ihre
Tochter zu widernatürlicher Unzucht verwenden lassen. Hinsichtlich eines
bekannten Ärzteskandals erzählt er unaufgefordert, daß die Stellung¬
nahme des Ärztevereins hierbei auf grober Heuchelei und Muckertum
beruhe; es sei eine bekannte Geschichte, daß eine ganze Menge Ärzte
in Stockholm sich als bezahlte „Beschäler“ betätigen und daß Frauen
sie besuchen, um ihre sexuellen Triebe befriedigt zu bekommen. Dies
sind nur einige Beispiele von den vielen Äußerungen, die von Hj. in
diesen Fragen gemacht worden sind und welche zeigen, daß er völlig
die Fähigkeit entbehrt, von seiner eigenen Lage abzusehen — er glaubt,
das beweisen seine Äußerungen, keineswegs eine Ausnahme, sondern
einer der großen Menge zu sein. Ich behaupte hiermit natürlich nicht,
daß er zugegeben hat, sexuell abnorm zu sein, im Gegenteil be¬
streitet er dies unaufhörlich. — Seine Urteilslosigkeit zeigt sich auch
auf anderen Gebieten: wenn es sich um seine literarische Produktion
und um seine „Feinde“ handelt. Überhaupt kommt aus allen seinen
Äußerungen sehr große Eigenliebe zum Vorschein. Um ihn mürbe
zu machen, bedürfe es besser ausgerüsteter Leute als die, mit denen
er bis jetzt in Berührung gekommen ist, das läßt er beständig in seinen
Reden durchblicken. Er hält sein Buch „Gefängnis und Gefangen¬
leben“ für sehr wertvoll. Sachverständige hätten ihm in seinen
Äußerungen völlig recht gegeben. Sein Buch habe ihm so viel An¬
sehen verschafft, daß er bei dem Gedanken daran es nicht bereut, nicht
um Begnadigung gebeten zu haben, obwohl er von dem Generaldirektor
dazu aufgefordert worden sei. Die Ursache zu dieser Aufforderung
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Psychopathische Verbrecher.
259
seitens des Generaldirektors sei Furcht vor Enthüllungen gewesen. Hj.sei
es, der bewirkt habe, daß die Gefangenkost geändert wurde, und er glaubt
völlig bewiesen zu haben, daß die Zellenhaft schädlich sei, obwohl
seine Beweisgründe eigentlich so gut wie wertlos sind. Mit seinem
Buch habe er eine Mission erfüllt, er weiß „niemand, der soviel für
eine Sache geopfert hätte wie er“, er würde sogar ohne großen Un¬
willen noch eine Strafe auf sich nehmen, da er dadurch Gelegenheit
zu neuen Studien bekäme. —
Noch mehr tritt seine Urteilslosigkeit hervor in bezug auf die,
die er als seine persönlichen Feinde ansieht. Als solche betrachtet er
einige ältere Frauen, mit denen er in nähere Beziehung gekommen
ist, und die, infolge seiner Nonchalance gegen sie in sexueller Hin¬
sicht, Haß gegen ihn gefaßt hätten, um ihn ins Verderben zu stürzen.
Ja, er hält es nicht für unmöglich, daß ihre Tätigkeit auch in diesem
letzten Prozeß mitgespielt habe. Die Pflegekinder, sagt er, wurden
größtenteils angenommen, um ein Gegengewicht und eine Kontrolle
gegenüber seinen Haushälterinnen zu sein. Die Liga bestehe grade
zum größten Teil aus Leuten, die eine solche Stellung in seinen Hause
bekleidet hätten. Sein Hauptfeind sei doch die Polizei. Mit 20 Jahren
habe er, so erzählt er, ein paar Polizisten geärgert; kurz darauf merkte
er, daß die Polizisten in der Stadt anfingen ihn zu mustern, und bald
fand er sich ihrer Verfolgung ausgesetzt. Diese Verfolgung seitens
der Polizei sei immer intensiver geworden, nachdem er es sich zur
Aufgabe gemacht hatte, ihr Treiben zu enthüllen. Er benutzt die
krassesten Ausdrücke, um seinen Haß gegen jenes Corps darzulegen.
Es gebe dort keine einzige anständige Person; tritt einmal ein
anständiger Mensch in dies Corps ein, müsse er es sofort wieder ver¬
lassen. Er selbst besitze ein gewisses Talent und ein gewisses Interesse
für den Beruf eines Detektivs, will aber nicht der einzige anständige
Mensch im Corps sein. Die Polizei tue und sage grade, wie es ihr
wünschenswert scheine, ihr ganzes Trachten gehe darauf aus, Beweise
zu schaffen; um diese zu gewinnen, scheue sie keine Mittel, Zeugen
werden zusammen gesucht und es wird ihnen eingepaukt, was sie
sagen sollen: man übt „Chorsingen“ mit ihnen. Daß Hj. im
letzten Prozeß vor Gericht kam, beruhe einzig und allein darauf, daß
die Polizei es für eine Schande gehalten habe, den Täter nicht er¬
mitteln zu können, und deshalb habe sie es so arrangiert, daß der
Mord das Aussehen eines Lustmordes bekommen habe, daß sie ihn
festgenommen und Zeugen verschafft habe. Alles für Hj. Nachteilige,
das im Prozeß von den Zeugen berichtet worden ist, habe die Polizei
ihnen in den Mund gelegt, grade wie die Frau Hj. und die unver-
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VII. Frey Svenson
heiratete R. im vorhergehenden Prozeß den Kindern in den Mund
gelegt hätten, was sie vor Gericht erzählten. Es sei auch der höchste
Wunsch der Polizei, ihn festzubekommen; sie wolle ihn unschädlich
machen, da sie Enthüllungen fürchte, die er gemacht habe und auch
machen werde. Den II. Stadtarzt Stockholms hält er wegen dessen
Verbindung mit der Polizei und weil Hj. einmal eine Kritik gegen
ihn geübt habe, nicht für unparteiisch. Deswegen habe er Untersuchung
in einer staatlichen Anstalt beantragt. In seinem Buch „Ge¬
fängnisse und Leben der Gefangenen“ wimmelt es von solchen Ur¬
teilslosigkeiten. Alles, was ihn nicht befriedigt, führt er auf bewußte
Mogelei seitens des Personals zurück, und es ist zweifellos seine ernste
Meinung, daß das Essen mit Absicht so schlecht bereitet werde, damit
die Beamten viel für ihre Schweine bekämen. Charakteristisch ist
auch der Inhalt einer Eingabe Hj.s zum Untersuchungsprotokoll, worin
er den Untersuchenden beschuldigt, im Aufträge der Staatsanwaltschaft
zu handeln, während er sich selbst den Anschein gibt, den Gang des
Gesprächs geleitet zu haben. Die Ursache zu diesem Verdacht liegt
darin, daß der Untersuchende sich für die Gültigkeit der Zeugenaus¬
sagen und besonders für einen Zeugen interessiert hat 1 ). Es ist
natürlich keineswegs außer Beachtung zu lassen, daß die Stellung,
die Hj. zur Polizei einnimmt, in gewisser Hinsicht eine Verteidigungs¬
stellung ist, die geeignet ist, die Menge von Indizien, die sich zu seinem
Nachteil häufen, zu erklären. Das ist wahr, aber es dürfte ohne
weiteres offenbar sein, wie schwach eine solche Stellung an und für
sich ist und daß die Begründung und die Generalisierung, die Hj.
dem Verhältnis gibt, diese Stellung sogar gefährlich macht; ja, die
Position wird gradezu unbegreiflich, wenn sie nicht nur in der Ab¬
sicht, sich zu verteidigen, sondern als Ausgangspunkt für Angriffe
benutzt wird. Hj. sieht auch ein, daß er durch seine Anklagen gegen
die Polizei und Attacken auf sie, sich nicht hilft, sondern eher selbst
sich schädigt, aber, sagt er, er hält es nun einmal für seine Aufgabe,
'die Schlechtigkeit der Polizei (und der Gefängnisbehörden) zu ent¬
hüllen ; er habe hier von Anfang an eine Aufgabe auf sich genommen,
die er von sich schieben weder möchte noch könnte.
Die Untersuchung von Hj.s intellektuellen Funktionen haben
meiner Ansicht nach zweifellos gezeigt, daß in seiner Psyche eine
ausgeprägte paranoische Veranlagung vorhanden ist, die sich
in Selbstüberschätzung und Verfolgungsideen äußert.
1) Später hat er den Untersuchenden beim Justizstaatsanwalt (justitieombuds-
mannen) angezeigt, weil jener Hj. in einer unruhigen Abteilung untergebracht
habe, um Geisteskrankheit bei ihm hervorzurufen.
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Psychopathische Verbrecher.
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Die Prüfung von Hj.s Gefühlsleben zeigt, daß auch dort Mängel
vorhanden sind. Schon aus den Untersuchungsakten geht hervor,
daß er nicht mit Unlust gegen anderer Leiden reagiert, es antwortet
im Gegenteil hierbei seine Psyche mit der perversen Reaktion —
Wollust. Die Erzählungen von Frau Hj. und ihren Kindern liefern
hiervon einen gradezu haarsträubenden Beweis. Aus allem, was ich
während meinen Unterrednungen mit ihm habe beobachten können,
geht hervor, daß seine Gefühlsreaktionen auch in anderer Hinsicht
abnorm sind. Obgleich es ja über seine Schuld hinsichtlich dessen,
was ihm im Prozeß Hj. zur Last gelegt wird, keine Zweifel gibt,
scheint er über die erlittene Gefängnisstrafe keine Scham zu empfinden.
Im Gegenteil hat er sich ihr gerne unterzogen, um die kleine Eitel¬
keit zu befriedigen, durch sein Buch „Ansehen“ zu gewinnen. Gegen
die Bestrebungen der Polizei, eine Sache aufzuklären, reagiert er mit
einem Haß, der eines der wenigen echten Gefühle sein dürfte, die er
besitzt. Die im Dienst der primären Triebe — des Geschlechtstriebes
und des Selbsterhaltungstriebes (im beschränkten Sinne) — stehenden
Geschlechtsgefühle und Beziehungsgefühle scheinen in dieser Psyche
in einer mehr rohen und einfachen Form zu existieren, die keine Ent¬
wicklung der höheren ethischen und moralischen emotionellen Zustände
ermöglicht. Alles, was man unter Sittlichkeit und Moral versteht
scheint Hj. als Scherz zu betrachten. Es ist ja auch bezeugt worden,
daß Hj. häufig gesagt hat, „man könne tun, was man will, wenn es
nur niemand zu wissen bekomme.“ Es sei lächerlich, behauptet er,
privaten Äußerungen eines Menschen Glauben zu schenken, man müsse
sie als unter dem Gesichtspunkt des jeweilig Nützlichen gemacht be¬
trachten. Überhaupt dürfte eine solche Neigung zum Lügen wie Hj.s?
der es nicht scheut, einmal dies, ein andermal das zu sagen, einmal
zurückzunehmen, was ein anderesmal unter Anspruch auf Glaub¬
würdigkeit gesagt worden ist, selten sein. Mit der Religion drapiere
man sich, wenn es^für kleidsam gilt, und im öffentlichen Leben heißt
es: „Den Rücken krümmen und seinen Weg machen.“ Gerne schätzt
Hj. einen Menschen nach seiner öffentlichen Stellung, seinen Titeln
und Orden, aber worin der wahre Wert des Menschen besteht, ist
ihm verborgen. Von Ritterlichkeit zeigt sich keine Spur. Er renommiert
damit, Frauen gepeitscht zu haben, und als hervorgehoben wurde, daß
es unsittlich sei, Hand an die Schwachen zu legen, sei es auch eine
Dirne, hat er keine andere Antwort als diese: „Sie ertragen, was sie
bekommen.“ Er ist recht besorgt um sein intellektuelles Ansehen,
kümmert sich dagegen nicht viel um seinen moralischen Ruf. Über
die Notiz in der Stockholmer Zeitung sagt er ungefähr folgendes:
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VII. Frey Svenson
„Sie können gerne glauben, daß ich alle Sittlichkeitsverbrechen der
Welt begangen habe, aber daß sie glauben, ich sei so dumm, daß ich
gebeten habe, meine Schriftstücke eingebunden zu bekommen, damit
bin ich nicht einverstanden.“ Während meines Verkehrs mit Hj. habe
ich also den bestimmten Eindruck bekommen, daß er auf gewissen
Gebieten des Gefühlslebens entweder pervers oder für Eindrücke un¬
empfänglich ist und zwar hauptsächlich auf den ethischen und mora¬
lischen Gebieten.
Im Zusammenhang mit diesem primitiven Charakter des Gefühls¬
lebens stehen zweifellos die Ausbrüche von gradezu unsinnigem Toben,
die mitunter auszubrechen scheinen. Die Ausbrüche, die im Prozeß
E. geschildert wurden, wo er mit einer leeren Flasche das Opfer
seines Zorns am Kopf bearbeitet, und im Prozeß Hj., wo er völlig
zwecklos und mit wesentlicher Gefahr für sich selbst in völliger
Tobsucht Möbel entzweischlägt und zerschneidet, Wasser durch Ritzen
auf der Rückseite einer Kommode gießt, um den Inhalt zu zerstören,
Bettzeug zerschneidet und die Federn auf den Boden ausschüttet, sie
mit dem Inhalt eines Heringstönnchens und einiger Gläser mit einge¬
machten Kronsbeeren mischend, sind völlig pathologische Erscheinungen,
und ihre Natur wird dadurch nicht weniger deutlich, daß sie für ibr
Erscheinen ein gewisses Quantum Alkohol verlangen.
Es erübrigt noch auseinanderzusetzen, inwiefern durch die Unter¬
suchung bestätigt w T orden ist, daß die aus dem Inhalt der Gerichts¬
protokolle deutlich hervortretende sexuelle Perversität existiert. Wie
schon gesagt, verneint Hj. selbst das Vorhandensein einer solchen, und
er hat auch während der Untersuchungshaft nichts unternommen,
was ihr Vorhandensein bestätigte. Indessen treten in seinen Äußerungen
einige Eigentümlichkeiten zutage, die in dieser Hinsicht Beachtung
verdienen. Obgleich er sich, wie gesagt, sehr energisch dagegen wehrt,
als pervers angesehen zu werden, betont er unaufhörlich, welche all¬
täglich vorkommende Sache die sexuelle Perversität sei und daß man
keine Ursache habe „sich weiter darum zu kümmern“. Ein solches
Verallgemeinern und Bagatellisieren ist bei den sexuell Perversen ge¬
wöhnlich. Sie halten jeden Menschen, der ihnen begegnet, für eine
ihnen gleich geartete Person. — Apropos der Schönheit des männ¬
lichen Körpers betont er ganz spontan, daß die Glutealregion („Hinter¬
teil“) sehr häßlich sei, „dafür könne man nicht viel geben“. Es liegt
in dieser Äußeruug eine deutliche, aber recht, kompromittierende Ab¬
sicht. Das Häßlichste am weiblichen Körper, sagt er, sind dagegen
die Füße. Er mag keinen nackten Frauenkörper sehen; am liebsten
läßt er die Frauen, mit denen er sexuellen Verkhr hat, die Kleider
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Psychopathische Verbrecher.
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anbehalten, und er hat nichts dagegen, daß sie Schuh und Strümpfe
anhaben. Diese Äußerungen stehen vielleicht in irgend einem Zu¬
sammenhang mit einem bei ihm möglicherweise vorhandenen Wider¬
willen gegen den nackten Frauenkörper und vielleicht besonders gegen
die Füße wie mit seiner Vorliebe, sie mit Schuhen bekleidet zu sehen.
Eine Tatsache ist es ja, daß er, auch wenn er Gelegenheit dazu hatte,
niemals seine weiblichen Opfer ausgezogen hat und daß er die
kleine Hj. dieselben Schuhe anziehen ließ, die das Mädchen E. früher
gehabt. — Er betont ferner, daß er am liebsten Geschlechtsverkehr
mit älteren Frauen habe, natürlich in der Absicht, den Glauben an
seine Neigung für minderjährige Personen zu schwächen. Diese aller¬
dings nicht zahlreichen Äußerungen — welche im großen und ganzen
die Kehrseite des Angeklageprotokolls bilden — weisen doch meiner
Meinung nach ganz direkt auf das Vorhandensein von sexuellen Eigen¬
tümlichkeiten der in den Untersuchungsprotokollen erwähnten Art hin.
Die Analyse von Hj.s Gemütszustand, wie aus den Untersuchungs¬
protokollen und dem Inhalt des Krankenjournals zu ersehen ist, ergibt
also, daß er ein abnormes Individuum mit deutlichen paranoischen
Zügen, verbunden mit moralischer Anästhesie und sexueller Perversität ist.
Demnach erklärte sowohl der Direktor der Irrenanstalt zu Upsala
wie die Königliche Medizinische Oberbehörde (Medicinalstyrelsen), die
einzige offizielle rechtpsychiatrische Autorität Schwedens, daß dem
Hj. der Gebrauch des Verstandes fehle und beim Begehen der Taten,
deren er angeklagt ist, gefehlt habe und daß er gemeingefährlich sei.
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VIII.
Totschlag, verübt zur Beseitigung eines Hindernisses bei
Ausführung einer strafbaren Handlung, nach § 214 des
Deutschen Reichsstrafgesetzbuches.
Von
Justizrat Dr. Schwarze, Chemnitz.
In einem Hause zu Kadorf, einem kleinen Orte im sächsischen
Erzgebirge wohnte im Jahre 1901 der Maurer Meier und nebenan der
Fleischer Schneider mit seiner Frau. Auf der anderen Seite der
Hausflur befand sich zu jener Zeit, der Verkaufsla,den und die Woh¬
nung des Krämers Sachse, eines Bruders des Hausbesitzers. Im
ersten Stock wohnte ferner der Gendarm Unger mit seiner Familie.
Die im zweiten Stock befindlichen Bodenkammern waren den
einzelnen Hausbewohnern zugeteilt, unter anderem benutzte eine
solche der obengenannte Maurer Meier als Schlafkammer. Dieser,
ein Mann in den sechziger Jahren war seit mehreren Jahren ver¬
heiratet, lebte jedoch, weil er sich mit seiner Frau veruneinigt hatte
und seine Kinder zu selbständiger Existenz gelangt waren, in den
letzten Monaten des Jahres 1901 allein.
Am 10. Dezember fiel der Frau des obengenannten Gendarm
Unger auf, daß an der Schlafkammertür Meiers im 2. Stock den
ganzen Tag über der Schlüssel außen im Türschloß anstak, so daß
sie bald nach Mittag der Hausgenossin, derj Frau des Fleischers
Schneider gegenüber ihr Befremden darüber äußerte, und die Ver¬
mutung aussprach, es fehle dem alten Meier etwas. Nachdem sie
auch anderen Personen ihre Wahrnehmung mitgeteilt hatte, fanden
sich schließlich am Spätabend desselben Tages der Hausbesitzer
Sachse, dessen Bruder, der Krämer Sachse, des letzteren Sohn und
der Zimmermann Schiller, ein Schwiegersohn Meiers, veranlaßt, in
die Kammer zu gehen.
Meier lag in seinem Bette, augenscheinlich tot. Den genannten
Personen fiel dabei auf, daß die Decke des Bettes „ganz glatt ge-
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Totschlag, verübt zur Beseitigung eines Hindernisses usw.
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strichen war“, so daß es gar nicht aussah, als ob jemand in dem
Bette läge. Der Hauswirt Sachse verschloß nun zunächst die
Kammertür wieder und nahm den Schlüssel an sich, weil man beab¬
sichtigte, das auffällige Auffinden Meiers der Polizeibehörde anzu¬
zeigen.
Am anderen Morgen, wurde nun auf Veranlassung des Zimmer¬
manns Schiller der in dem Nachbarorte Seedorf wohnende praktische
Arzt Geigenmüller und die Leichenfrau Kunzmann aus Kadorf her¬
beigezogen, Ersterer um über die Todesursache Meiers Auskunft zu
geben, Letztere, um die Leiche zur Beerdigung abzuwaschen. Nicht
bloß diesen beiden Personen, sondern auch dem Gemeindevorstand
Kellermann, welcher sich eingefunden hatte, fiel die eigentümliche
Lage und Beschaffenheit des bis auf das Hemd entkleideten Toten
auf, namentlich schien es, als sei der Leichnam bereits vor dem Er¬
scheinen der Leichenfrau abgewaschen worden — eine Annahme,
welche um so mehr begründet erschien, als im Gesicht des Verstorbenen
mehrfache frische Verletzungen gefunden und gleichwohl keinerlei
Blutspuren wahrgenommen wurden. Von Verletzungen ließen sich
vorläufig konstatieren: verschiedene rote Flecken im Gesicht an den
Wangen, am inneren rechten Augenwinkel und der Nase, sowie am
Bande der Oberlippe je eine nicht unbedeutende Blutunterlaufung
mit einer anscheinend von einem Nageleindruck herführenden Wunde.
Nach Ansicht des untersuchenden Arztes hatte Meier im Schlaf einen
Schlag auf den Kopf erhalten und war dann mit beiden Händen
festgehalten worden, um weder schreien, noch atmen zu können, und
zwar vermutete der Arzt, daß der Daumen der rechten Hand in den
inneren Augenwinkel eingesetzt und die anderen Finger ausgestreckt
den Mund und die Nase von der einen Seite, die linke Hand da¬
gegen von der anderen Seite gedrückt hätten, wodurch dann auch
die Verletzung an der Oberlippe entstanden sein konnte.
An demselben Morgen durchsuchte die Witwe des Verstorbenen
in Gemeinschaft mit den Schillersehen Eheleuten und im Beisein des
Hausbesitzers die in der fraglichen Kammer stehende verschlossene
Lade Meiers, zu der sich der Schlüssel in der Hosentasche des Ge¬
nannten vorfand. Sofort bemerkte die Frau Meier, daß von den drei
Sparkassenbüchern, welche ihr Mann, wie ihr bekannt, besessen hatte,
ein solches und ein Leinwandbeutelchen mit barem Gelde fehlten.
Nunmehr lag allerdings der dringendste Verdacht vor, daß Meier
durch dritte Hand ums Leben gebracht und entweder vor- oder nach¬
her bestohlen worden war. Es erfolgte daher ohne weiteres Anzeige
bei der K. Staatsanwaltschaft in Arnstadt.
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VIII. Schwarze
Die am nächsten Tage, den 12. Dezember, vorgenommene Ob¬
duktion des Leichnams ließ nun nicht den geringsten Zweifel mehr
offen, daß Meier eines gewaltsamen Todes gestorben war. Außer
den oben bereits erwähnten Verletzungen fanden sich am Kopfe des
Verstorbenen zwei rötlich braune Stellen, an den Backen, am Kinn,
auf der Nase, unter den Augenlidern eine Menge rötlicher Flecke
und Hautabschilferungen, insbesondere am unteren rechten Augenlide
eine stumpf geränderte Verletzung und am oberen Lippenrande eine
tiefere Wunde mit dunkelrotem Grunde, über dem linken Schulterge¬
lenke und auf diesem Schulterblatte mehrere bräunliche Flecke, auf
der linken Hand ein rotbräunlicher Fleck. Im höchsten Grade auf¬
fällig und von größter Wichtigkeit für die Ermittelung des Täters
war ein Stückchen Haut, welches sich zwischen den beiden unteren
Schneidezähnen des Toten fest eingeklemmt, wie eingebissen, vorfand.
Schon bei oberflächlicher Besichtigung dieses 1 cm langen und 3 /4 cm
breiten Stückchens Haut erkannten die Sachverständigen daran ein
quergefurchtes Gewebe, wie es sich an den Fingerspitzen zu finden
pflegt.
Weiter ergab die Leichenöffnung a,n der Innenseite der Kopfhaut,
entsprechend den äußeren rötlich braunen Stellen, ausgedehnte blutig¬
rote Färbungen, strotzende Fülle an Blut in den Blutgefäßen des Gehirns,
auf den Flächen des offenstehenden Kehldeckels stärkere und schwächere
Injektionen und solche auch sehr reichlich auf der rückseitigen
Schleimhaut der ganzen Luftröhre; in letzterer übrigens viel blutigen
Schleim.
Nach diesem Befunde gaben die Gerichtsärzte ihr Gutachten
dahin ab, daß der Tod Meiers bestimmt durch Erstickung erfolgt sei
und daß, da andere Ursachen hierunter nicht abzusehen, die Annahme
gerechtfertigt sei, daß die Erstickung künstlich, höchst wahrscheinlich
durch Zustopfen der Mundhöhle mittelst eines in diese eingebrachten
Gegenstandes, wie eines Lappens oder durch Zuhalten von Mund
und Nasenöffnung mittels aufgelegter Hand oder sonst auf ähnliche
Weise herbeigeführt worden sei. Für den Tod durch fremde Gewalt
sprachen nach diesem Gutachten namentlich auch die vielen vorhan¬
denen Zeichen geleisteter Gegenwehr, darunter vorzugsweise das
zwischen den Zähnen festgeklemmte Stückchen Haut, welches, wie
die Arzte mit Bestimmtheit versicherten von den Händen des Ver¬
storbenen nicht herrührte.
Es fand sich auch bei der Durchsuchung des Meierschen Bettes
ein Lappen, dessen sich der Täter vermutlich zum Zustopfen des
Mundes bedient hatte.
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Totschlag, verübt zur Beseitigung eines Hindernisses usw. 267
Endlich ergab die Sektion noch ein Moment, welches für die
weiteren Erörterungen von Wichtigkeit war. Mit Rücksicht auf den
im Magen des Leichnams Vorgefundenen Speisebrei sprachen sich die
Gerichtsärzte dahin aus, daß der Tod Meiers bereits am Abend des
9. Dezember, somit einen vollen Tag vor Auffindung des Leichnams
eingetreten sein mußte.
Anlangend die Entwendung von barem Gelde und einem Spar¬
kassenbuche, so stellte sich die anfängliche Behauptung der Witwe
Meier, daß ein Beutelchen mit barem Gelde fehle, insofern als irrig
heraus als das in der Lade vermißte im Bettstroh des Meierschen
Bettes vorgefunden wurde. Vermutlich hatte der Eigentümer das
Geld selbst dahin gesteckt. Wie weiter unten noch erwähnt werden
wird, war Meiern schon mehrfach Geld aus der Lade gestohlen
worden, jedenfalls ist ihm dieser Aufbewahrungsort nicht mehr sicher
genug gewesen und deshalb hat er sein bares Geld im Bettstroh zu
verbergen gesucht.
Dagegen fehlte aus der mehrerwähnten Lade ein Sparkassenbuch
der Spar- und Leihkasse zu Arnstadt, in welches ursprünglich eine
Einlage von 675 Mark eingetragen gewesen war. Ausweislich des
bei jener Kasse geführten Kontos waren, selbstverständlich unter Pro¬
duktion des betreffenden Buches am 19. Juni 1901 100 Mark, am
30. Juli 150 Mark und am 3. Oktober 160 Mark erhoben worden,
so daß sich schließlich ein Rest von 265 Mark in dem Buche
befand.
Nicht bloß von den Angehörigen Meiers, sondern auch von Den¬
jenigen, welche mit ihm im selben Hause wohnten, insbesondere auch
von der Frau Schneider, wurde übereinstimmend die feste Über¬
zeugung dahin ausgesprochen, daß der Verstorbene bei seiner kärg¬
lichen und sparsamen Lebensweise in dem erwähnten kurzen Zeit¬
räume die verhältnismäßig hohen Beträge von 100, 150 und 160 Mark
für sich nicht verbraucht haben könne. Dafür, daß Meier diese
Gelder anderen, insbesondere seinen Angehörigen zugewendet habe
fehlte es an allem und jedem Anhalte. Es blieb sonach kaum eine
andere Annahme übrig, als daß eine dritte Person sich zu jenen
Zeiten Zugang in die Lade verschafft, das Buch herausgenommen,
das Geld erhoben und ersteres dann wieder in die Lade gelegt hatte.
Hierbei mag eine Mitteilung nicht unerwähnt bleiben, welche der
Verstorbene Meier einige Wochen vor seinem Tode dem in der Stube
neben ihm wohnenden Fleischer Schneider gegenüber gemacht hatte,
nämlich: „es müßte jemand über seinen Sparkassenbüchern gewesen
sein, sie hätten nicht immer so dagelegen, wie er sie hingelegt, auch
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VIII. Schwarze
der Schlüssel zur Lade läge manchmal anders wie gewöhnlich“. So
erzählte Schneider selbst.
Wie aber war es nun zur Katastrophe am 9. Dezember ge¬
kommen?
Zweierlei war in dieser Beziehung nur möglich, entweder hatte
der Täter den Meier vorsätzlich getötet und ihm dann das Spar¬
kassenbuch entwendet, worauf unter anderem die an Meiers Lade ge¬
fundenen Blutspuren schließen ließen, oder der Täter hatte lediglich
einen Diebstahl beabsichtigt, war dabei von Meier ertappt worden
und hatte nun erst dessen Tötung beschlossen und vollbracht. Für
diese letztere Annahme sprachen, wie weiter unten gezeigt werden
wird, viele, zum Teil recht gewichtige Momente.
Sehr bezeichnend war eine Aussage des mehrerwähnten Schiller,
des Schwiegersohns Meiers, die wörtlich dahin ging: „Die Wanduhr
in der Meierschen Stube war auf 4 Uhr stehen geblieben. Auf diese
Ubr hat Meier immer große Aufmerksamkeit gerichtet. Wenn die
Uhr nicht ging, da hat er sie stets gleich aufgezogen. Aufgezogen
war die Uhr, aber der Perpendikel stand. Ich habe mir gedacht,
daß Meier am Montag Nachmittag, als er nach Hause gekommen,
beim Aufziehen der Uhr das Fehlen des unmittelbar darunter an der
Wand hängenden Kammerschlüssels bemerkt hat, hierauf in die
Kammer gegangen und dort mit dem Diebe zusammengetroffen ist“,
— eine Annahme, die allerdings sehr viel Wahrscheinliches für
sich hat.
Was nun weiter die Frage der Täterschaft anlangt, so lenkte
sich zunächst der Verdacht gegen die Frau des Verstorbenen. Denn
daß der Täter mit den persönlichen Verhältnissen Meiers, insbesondere
seinen Wohnungsräumlichkeiten und dem Aufbewahrungsorte seines
Vermögens bekannt sein mußte, war zweifellos. Die Witwe Meier
welche bereits einige Wochen vor dem Ableben ihres Ehemanns von
ihm getrennt lebte, behauptete zunächst, daß sie gewußt, ihr Mann
besitze drei Sparkassenbücher, daß ihr aber unbekannt gewesen sei,
wieviel in den Büchern eingetragen sei, da sie nicht lesen könne.
Bei einer späteren Vernehmung mußte sie aber zugeben (und das
machte sie eben verdächtig), daß sie im Juni 1901 einmal bei Ge¬
legenheit des Bettmachens in der Kammer ihres Ehemanns heimlich
an dessen Lade gegangen sei und mit ihrer außerehelichen Tochter,
der ledigen Lorenz, nachgesehen habe, wieviel Geld ihr Ehemann in
der Sparkasse stehen gehabt habe; Meier sei damals auf Arbeit ge¬
wesen und habe aus Versehen den Schlüssel an seiner Lade stecken
gelassen. Bei dieser Gelegenheit hatte die Meier auch bemerkt, daß 100
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Totschlag, verübt zur Beseitigung eines Hindernisses usw. 269
Mark ans dem Bucke erhoben worden seien. Die Meier sowohl, als
die Lorenz versicherten im übrigen auf das bestimmteste, daß sie
kein Geld aus Meiers Lade entwendet oder gar aus der Sparkasse
erhoben hätten, „da hätten sie viel zu viel Furcht vor Meiern gehabt,
um so etwas zu tun.“ Im Laufe der später geführten Untersuchung
ergab sich auch nicht das geringste dafür, daß die obige Versicherung
der beiden Frauenzimmer unwahr gewesen. Es fanden sich vielmehr
eine Anzahl Zeugen, welche jenen das beste Lob bezüglich ihrer
Ehrlichkeit und Glaubwürdigkeit geben mußten.
Von großer Wichtigkeit für die Ermittelung des Täters wurde
das mehrerwähnte, zwischen den Zähnen des Verstorbenen bei der
Obduktion Vorgefundene Stückchen Haut. Selbstverständlich mußten
die nächsten Erörterungen der Gerichtspolizei dahin gehen, diejenige
Person zu ermitteln, von welcher jenes Stückchen Fingerhaut her¬
rührte. Unmittelbar nach dem Auffinden desselben bei der Obduktion
des Leichnams am 12. Dezember ordnete daher der am Tatorte an¬
wesende staatsanwaltschaftliche Beamte an, daß keiner von den im
Sachseschen Hause anwesenden Personen letzteres verlasse; dann
unterzog er die Hände sämtlicher Anwesenden, namentlich auch der
Angehörigen Meiers, welche sich bereits zur Begräbnisfeierlichkeit
eingefunden hatten, einer genauen Besichtigung und fand dabei nur
an den Händen des mehrgenannten Fleischers Schneider mehrfache
Verletzungen, vornehmlich am fünften (sogenannten kleinen) Finger
der linken Hand und zwar an der Innenseite des vordersten
Fingergliedes eine entzündete, eitrige, zur Hälfte von der dicken
Oberhaut entblößte Stelle, weiter unten an dem ersten Fingergelenke
ebenfalls einen Defekt der Oberhaut. Das zwischen den Zähnen des
Getöteten Vorgefundene Stückchen Fingerhaut wurde nun vom Ge¬
richtsarzte in die obere hautlose Wundstelle an Schneiders Finger
eingepaßt (!) Zwar deckte jenes Stückchen Fingerhaut die vorerwähnte
Stelle nicht völlig; indessen sprachen sich die anwesenden Gerichts¬
ärzte, in der Erwägung, daß das aus dem Munde Meiers entfernte
Stückchen Haut und die Wunde an Schneiders Finger im Verlaufe
von drei Tagen, ersteres durch den im Munde befindlichen Speichel,
letztere durch den Heilungsprozeß immerhin einige Veränderungen
erfahren haben könnten, gutachtlich dahin aus, daß jenes Hautstück¬
chen „mit größter Wahrscheinlichkeit“ von Schneiders Finger her¬
rühre.
Andere Verletzungen, welche an der Außenseite der beiden Hände
des Genannten festgestellt wurden, konnten nach dem Gutachten der
Gerichtsärzte sehr wohl durch Kratzen mit Fingernägeln verursacht
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VIII. Schwarze
worden sein und ungefähr gleich lange bestehen, wie der erwähnte
Hautdefekt.
Schneider, welcher übrigens, wie bereits hier erwähnt sein mag,
von Anfang an beharrlich leugnete, den Meier bestohlen zu haben
oder gar an seinem Tode schuld zu sein, trat sofort bei seiner ersten
Befragung mit der Behauptung hervor, solche Verletzungen, wie die
an seinen Händen Vorgefundenen, ziehe er sich als Fleischer beim
Schlachten von Vieh häufig zu; die fragliche Wunde, an der Innen¬
seite des kleinen Fingers der linken Hand, habe er sich bereits am
Freitage zuvor, am 6. Dezember, als er beim Restaurateur Grumbach
in Kadorf geschlachtet, beim Transport eines Brühtroges aus dem
Schlachthause nach der Düngerstätte durch eine Quetschung zuge¬
zogen. Er habe die Wunde heimlich verbunden und dann seine
Arbeit fortgesetzt, namentlich mit Wurstmachen sich weiter beschäftigt.
An dem angegebenen Tage hatte zwar Schneider, wie der ge¬
nannte Grumbach und dessen Mutter bestätigten, nach dem Schweine¬
schlachten mit Grumbach einen hölzernen Brühtrog aus dem Schlacht¬
hause nach der Düngerstätte getragen und dabei zwei Türen oder
richtiger Türöffnungen passieren müssen; allein Schneider hatte bei
dieser Gelegenheit nichts erwähnt, daß er sich gequetscht habe, sondern
nur davon gesprochen, daß es etwas eng zugehe. Und wenn er
das einmal erwähnte, würde er gewiß auch zu Grumbach gesagt
haben, daß er sich soeben gequetscht hätte, wenn es überhaupt wirk¬
lich der Fall gewesen wäre. Grumbach und seine Mutter haben
aber auch weder eine Äußerung des Schmerzes bei Schneider gehört,
noch gesehen, daß er am Finger geblutet oder einen Verband daran
getragen hat. Grumbach bemerkte noch sehr treffend, einen Verband
würde Schneider als Fleischer, wie es jeder Fleischer tue, unter allen
Umständen angelegt haben, wenn er sich wirklich blutig verletzt ge¬
habt hätte.
Bei einer gerichtlichen Besichtigung der Örtlichkeit im Grum-
bachschen Hause wurde allerdings festgestellt, daß beim Transport
des Brühtroges vom Schlachthause nach der Düngerstätte die be¬
treffenden Träger des Troges sich recht wohl an den Händen quetschen
konnten, denn der Trog maß von der einen daran zum Tragen
befindlichen Handhabe bis zur anderen in der Breite 60 cm,
während die Türöffnung nach der Düngerstätte nur 70 cm breit
war. Allein man mußte hierbei berücksichtigen, daß, wenn sich
Schneider bei der nun gedachten Gelegenheit an der Hand
verletzt hätte, die Wunde nicht an der Innenseite des Fingers,
sondern an der Außenseite desselben gewesen sein müßte, hervor-
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Totschlag, verübt zur Beseitigung eines Hindernisses usw. 271
gebracht durch ein Anstreifen an dem steinernen Türgewände. An
den Handhaben des Brühtroges konnte sich Schneider aber nicht ge¬
rissen haben, denn diese waren, wie ebenfalls durch gerichtliche Be¬
sichtigung festgestellt wurde, von Schmutz und Fett ganz glatt und
namentlich frei von Nägeln oder ähnlichen Gegenständen. Weiter
lag nach dem gerichtsärztlichen Gutachten größere Wahrscheinlich¬
keit dafür vor, daß die Verletzung an dem Finger Schneiders ange¬
sichts ihrer Beschaffenheit neueren Ursprungs, also eher am 9., als
bereits am 6. Dezember entstanden war.
Zudem bezeugten sämtliche bei den Schlächterarbeiten am 6. De¬
zember Beteiligten, daß damals eine Wunde beziehentlich ein Verband
an Schneiders Hand nicht wahrzunehmen gewesen sei. Mehrere jener
abgehörten Personen bemerkten dabei ausdrücklich, sie würden eine
Verletzung oder einen Verband an den Fingern Schneiders gewiß
bemerkt haben, da sie letzterem wegen seiner Geschicklichkeit beim
Wurstmachen ganz besonders beobachtet und sogar bewundert hätten.
Charakteristisch war übrigens, daß, während nach Angabe
Schneiders dessen Frau bereits Sonnabend, am 7. Dezember, seinen
„bösen Finger“ gesehen haben sollte, die Frau Schneider erst Sonn¬
tag, am 8. Dezember, auf der Außenseite seines kleinen Fingers
einen bloßen „Riß“, auf der Innenseite des Fingers jedoch keiner¬
lei Verletzung bemerkt und auf ihre diesbezügliche Frage von ihrem
Ehemann die Erklärung, daß er sich solche „Kleinigkeit“ nicht ver¬
bunden hätte,erhalten haben wollte.
Der Handarbeiter Seitmann war am Sonntag, den 8. Dezember
mit Schneider, dem Brothändler Schwipper und dem Tagelöhner
Heidler in der Grumbachschen Schänke zu Kadorf zusammenge¬
kommen, hatte zwar an einem Finger Schneiders — an welcher Hand
wußte er aber nicht anzugeben — eine Verletzung, jedoch lediglich
„eine etwas rote Stelle“ wahrgenommen, während Schwipper nur
einen Riß an der Außenseite eines Fingers Schneiders und Heidler
gar keine Verletzung bemerkt haben.
Mit den an den Händen Schneiders Vorgefundenen Verletzungen
waren offenbar auch zahlreiche blutige Spuren in Zusammenhang zu
bringen, die wenige Tage nach Verübung des Verbrechens nicht bloß
im Sacbseschen Hause, sondern auch an Schneiderschen Kleidungs¬
stücken vorgefunden wurden. Dergleichen zum Teil ganz frische
Blutflecken fanden sich in der Meierschen Schlafkammer an der
Innen- und Außenseite der Kammertür, namentlich in der Nähe der
Türklinke, die der Täter offenbar beim Öffnen und Zumachen der
Tür angegriffen haben mußte; ferner in derselben Schlafkammer an
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VIII. Schwarze
der Wand, an der Lade, auf dem linken Fensterstocke, an welchem
Meiers Bett stand, auf den Dielen, am Kopfkissen im Bette, dagegen
befand sich an dem in der Kammer liegenden Maurerhandwerkszeuge
Meiers, namentlich an einigen Hämmern nirgends Blut, sodaß die
Annahme ausgeschlossen war, daß Meier mit einem dieser eisernen
Gegenstände erschlagen worden sei.
Auffällig war, daß aus der Lagerstätte Meiers das Bettuch, welches
gewiß auch mit Blut befleckt worden war, fehlte und nirgend
aufzufinden war.
Von der Meierschen Kammer aus fanden sich über den Vorraum
hin, auf beiden Treppen, d. h. zum ersten Stock [und zum Parterre
hinunter bis in die Hausflur auf dem Fußboden und an den Wänden
zahlreiche, zum Teil verwischte Blutstropfen; ja selbst an der-Wohn¬
stubentüre Schneiders hafteten an der äußeren und inneren Seite
mehrere Blutstropfen. Als am 12. Dezember der staatsanwaltschaft¬
liebe Beamte bei vorläufiger Besichtigung der Schneiderschen Stuben-
füre in der Hausflur dicht an der ersteren stand, um weitere Blut¬
flecke ausfindig zu machen, hörte er im Innern des Zimmers plötzlich
ein Geräusch, als wenn an der Tür etwas abgewischt würde. Der
Beamte öffnete diese schnell und betraf die Frau Schneider dabei,
wie sie mit dem, mit Speichel befeuchteten Finger an der Innenseite
der Tür einen Blutfleck beseitigte, den unmittelbar zuvor der be¬
treffende Beamte sowohl, als auch der mit anwesende Gendarm und
der Ortsrichter noch gesehen hatten.
Schneider wollte die Bewandtnis mit den Blutflecken und nament¬
lich an seiner Stubentür nicht erklären können, während die Frau
Schneider über Entstehung der Blutflecken an der nun erwähnten
Tür verschiedene Angaben machte. Einmal behauptete sie, ihr Mann
bekomme manchmal beim Schlachten einen Teil der Eingeweide des
geschlachteten Tieres geschenkt, vielleicht sei er da einmal mit solchen
noch blutigen Eingeweiden an die Tür angestrichen. Ein anderes
mal gab sie an, ihr Mann habe zu jener Zeit ein Kaninchen ge¬
schlachtet, vielleicht könne auch dabei etwas Blut an die Stubentür
gekommen sein. Einen stichhaltigen Grund zu der von ihr unter¬
nommenen, höchst verdächtigen Beseitigung jener Blutspur an der
Innenseite der Wohnstubentür konnte die Schneider nicht angeben,
sie suchte sich lediglich mit der offenbar nichtigen Ausrede zu recht-
fertigen, sie hätte sich gar nichts dabei gedacht.
Bei einer am 13. Dezember in Schneiders Wohnung gehaltenen
Haussuchung wurde ein Hemd und eine Frauenschürze, welche auf
der einen Seite des Sofas unter die Seitenlehne gesteckt worden waren,
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Totschlag, verübt zur Beseitigung eines Hindernisses usw.
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und neben dem Sofa ein Paar Stiefel — sämtliche Sachen mit Blut
befleckt — aufgefunden. Hierzu ist noch zu bemerken, daß Schneider
und dessen Frau am Tage zuvor, also am 12. Dezember, nach Be¬
endigung der Obduktion und Sektion der Leiche Meiers in Unter¬
suchungshaft genommen worden waren. Auch betreffs der nur er¬
wähnten Kleidungsstücke wollte Schneider eine Erklärung über die
Bewandtnis mit den Blutflecken nicht geben können; ob er das Hemd
bei seiner letzten Schlächterarbeit beim Restaurateur Grumbach ge¬
tragen habe, war ihm nicht mehr erinnerlich; die Frau Schneider
dagegen behauptete bestimmt, ihr Mann habe bei jener Gelegenheit
ein anderes als das Vorgefundene, blutbefleckte Hemd angehabt.
Wie die Blutflecken an ihre Schürze gekommen seien, wollte die
Schneider anfangs nicht wissen; erst später trat sie mit der Behaup¬
tung hervor, sie habe sich während ihrer Regel einmal mit jener
Schürze „untersucht“.
Wie die Frau des Gendarm Unger wahrgenommen, hatte die
Schneider am Dienstag den 10. Dezember, obwohl sie erst am fol¬
genden Tage sogenannte große Wäsche gehalten, Flick- und Wasch¬
lappen ausgewaschen. Die Schneider bestritt dies keineswegs, war
aber angeblich nicht imstande, über den Verblieb jener Lappen
Auskunft zu geben. Ob darunter vielleicht nicht auch diejenigen
Lappen gewesen sind, welche Schneider oder seine Frau oder beide
benutzt haben, um den Leichnam Meiers vom Blute zu reinigen und
weitere Blutspuren zu beseitigen?
Nach Verlauf von einigen Monaten wurde von einem Schul¬
mädchen beim Spielen hinter einer Scheune in dem benachbarten
Orte Seedorf im Luftloche eines eingebauten Kellers ein blutbeflecktes
Bettuch aufgefunden, welches die Frau Schiller als dasjenige ihres
verstorbenen Vaters, des Maurers Meier auf das bestimmteste wieder¬
erkannte. Unzweifelhaft hatte Schneider dieses Tuch nach verübter
Tat dorthin versteckt, damit es in seiner Behausung nicht vorgefunden
werden konnte. Dafür sprachen namentlich folgende Zeugenaussagen:
Der Tischler Dittmann in Seedorf hatte Dienstag den 10. Dezember
vormittags in der 9. Stunde Schneidern beobachtet, wie er das Dorf
hinuntergegangen und nach längerer Zeit wieder zurückgekommen
war. Nach dem Zeugnisse der Fleischer Müller und Buschmann
sowie des Restaurateurs Schreiner war Schneider am Dienstag in des
Genannten Restauration zu Seedorf eingekehrt, im Laufe des Nach¬
mittags einmal allein aus dem Schreinerschen Hause fortgegangen
und nach etwa zehn Minuten wieder zurückgekommen. Schneider
war gar nicht abredig, am 10. Dezember, — das ist also an dem-
Archiv für Kriminalanthropologie. 37. Bd. 18
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VIII. Schwarze
selben Tage, an welchem abends Meier tot in seiner Schlafkammer
aufgefunden wurde — früh nach Seedorf sich begeben und dort bis
in den Nachmittag hinein sich aufgehalten zu haben. Aber über den
Beweggrund und Zweck dieses Ausganges war er bei seinen Ver¬
nehmungen in verschiedene Widersprüche geraten; einmal wollte er
nach Seedorf gegangen sein, um eine Schuldnerin zu mahnen, ein
anderesmal wieder, um bei einem Restaurateur anzufragen, ob er,
Schneider, nicht bei ihm schlachten könne.
Nicht unerwähnt mag bleiben, daß einem im Laufe der Unter¬
suchung auftauchenden Gerüchte zufolge jenes Kellerloch in der
Heinzeschen Scheune, in welchem das Bettuch Meiers aufgefunden
worden war, bereits vor Jahren, wie Schneider selbst erzählt haben
sollte, von ihm benutzt worden war, um eine von ihm gestohlene
Taube dort zu verbergen. Vermutlich hat er sich gesagt, daß wie
damals so auch diesmal jenes Versteck geeignet sein würde, Spuren
eines von ihm verübten Verbrechens zu verbergen.
Schneider sowohl als dessen Frau äußerten sich alsbald nach
dem Ableben Meiers in so auffälliger Weise über dieses Ereignis
und betrugen sich so befremdlich, daß Schneiders Schuldbewußtsein
und die Mitwissenschaft seiner Frau dadurch von ihnen selbst gleich¬
sam selbst verraten wurde.
Als die Frau des Gendarm Unger am 11. Dezember, früh bei
Schneiders mit der Nachricht vom Tode Meiers eintrat, wendete sich
die Schneider, ohne ein Wort der Verwundernng zu sagen, ab und
Schneider verließ sofort seine Stube, ja er wartete nicht einmal ab,
bis die Unger ihre Mitteilung vollständig beendet hatte. Er sah sich
am Mittwoch Morgen in der Meierschen Schlafkammer zwar den
Leichnam mit an, benahm sich aber dabei nach den Aussagen des
Hauswirtes Sachse, der Frau Unger und einer Nachbarin, Frau
Schlosser Burfürst sehr zurückhaltend, und ließ die auffällige Äußerung
fallen: „Ich habe es dem alten Meier immer gesagt, er solle sich seine
stumpfe Axt schärfen lassen“. Dies gesagt zu haben, gab Schneider zu, er
wollte jedoch den Sinn seiner Rede nicht erklären können. So auf¬
fällig jene Äußerung Schneiders ist, so unerklärlich ist doch deren Sinn.
Es lassen sich eigentlich nur zwei Möglichkeiten denken: Entweder
hat Schneider damit den mit den Erörterungen beauftragten Gerichts¬
beamten von der Ermittelung der wahren Todesursache, des gewalt-
samenErstickens oder Erdrosselns ablenken und darauf hinweisen wollen,
daß Meier jedenfalls mit seiner eigenen stumpfen Axt von einem
dritten ermordet worden sei, — oder er hat die Vermutung andeuten
wollen, daß Meier beim Holzhacken mit seiner stumpfen Axt verun-
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Totschlag, verübt zur Beseitigung eines Hindernisses usw.
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glückt sei, daß ihm vielleicht ein Stück Holz an den Kopf geflogen
nnd er dann später erst an einer inneren Verletzung, vielleicht einer
Gehirnerschütterung in seinem Bette eines natürlichen Todes ge¬
storben sei.
Nachdem der Arzt seiue Ansicht dahin ausgesprochen, daß Meier
keines natürlichen Todes gestorben, gab der Hauswirt Sachse, als er
von der Meierschen Schlafkammer nach dem Parterre hinunter ging
der auf der Treppe stehenden Frau Schneider die Äußerung zu
Gehör, da müßte ein Donnerwetter reinschmeißen, wenn in einem so
bewohnten Hause, in dem noch dazu der Gendarm wohne, einer tot
gemacht sein solle. Die Schneider, obwohl sonst sehr neugierig, ging
nach der Behauptung Sachses, trotz jener auffallenden Äußerung mit
gesenktem Kopfe ohne jede Erwiderung an Sachse vorüber und so¬
fort nach ihrer Wohnung. Zu ihrer Rechtfertigung in dieser Be¬
ziehung führte die Schneider an, sie sei zu jener Zeit stets schüchtern
an Sachse vorüber gegangen, weil sie ihm noch Mietzins schuldig
gewesen wären.
Aber mehr noch! Als an jenem Morgen nach vorläufiger Be¬
gutachtung der Todesursache Meiers die Leichen Wäscherin Kunz¬
mann zu , den ihnen bekannten Schneiderschen Eheleuten in die Stube
kam, führten sie folgendes Gespräch miteinander:
Sie: „Du weißt nicht, was du heute redest, du wirst dich
schon reinlabern, daß du nicht weißt rauszukommen; da kommen
wir alle in Untersuchung, soviel wir im Hause sind“.
Er: Ich weiß schon was ich rede,' der Gendarm war schon bei
mir und hat mich gefragt.“
Sie: Was hast du denn da gesagt? Du wirst viel gewußt haben
was du redest“.
Er: Er hat mich gefragt, ob ich zu Hause gewesen wäre, Montag
und Dienstag?““
Sie: Was hast du denn da gesagt?
Er: nun, ich wäre Montag und Dienstag nicht zu Hause ge¬
wesen“.
Sie: Ei, wenn du nur das gesagt hättest, aber wer weiß, ich
möchte den Gendarm nicht fragen, ob es wahr ist“. Und als nun
(so bezeugte die Leichenwäscherin' weiter) auf Schneiders Frage,
wie der Leichnam aussehe, sie kurz antwortete, Meier sei erschlagen,
fragte Schneider, woran sie das sehe und sprach mit Bezug auf einen
vor einigen Wochen im Walde vom Schlage getroffenen Maurer
namens Hentzschel die Meinung aus, der Meier sehe doch gerade
aus wie Hentzschel. Das letztere bestritt die Leichenfrau mit dem
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VIII. Schwarze
Bemerken, Hentzsckel habe keine solchen Flecken im Gesicht gehabt
wie Meier. ,
Auffällig war weiter, daß Schneider, als mehrgenannter Hentzschel
tot im Walde auf gefunden worden war, sich sehr für die Sache
interessiert hatte, er war bei der behördlichen Aufhebung mit hinaus
in den Wald gegangen und hatte tagelang von dem Falle gesprochen.
Und hier, bei Meiers Tode, obschon er mit ihm seit Jahren in dem¬
selben Hause wohnte und befreundet war, verhielt er sich auffallend
still. Man kann diese Schweigsamkeit nur damit erklären, daß sich
Schneider durch unnötige Redereien nicht hat verdächtig machen wollen.
Seine Frau dagegen sprach die Vermutung dahin aus, daß Meier doch
auch aus dem Bette gefallen sein könnte, die Leute, nämlich Meiers
stünden in schlechtem Rufe, da könnte der Teufel Meiern aus dem
Bette geschmissen haben. Es sei hierzu bemerkt, daß die Bewohner
des sächsischen Erzgebirges und namentlich ältere Leute zum Teil
noch sehr abergläubisch sind und an derartige Ammenmärchen noch
ernstlich glauben.
Daß Meier aus dem Bette gefallen sei und sich dabei tödlich
verletzt habe, bestreiten aber die Ärzte auf das bestimmteste mit
Rücksicht auf das Vorhandensein von Verletzungen nicht bloß auf
einer Seite des Kopfes, sondern auf fast allen dessen Teilen.
Auch am 12. Dezember, fragten die Schneiderschen Eheleute
die Leichenfrau immer wieder, wie denn Meier aussehe. Letztere
war bei ihrer Ansicht stehen geblieben, daß Meier keines natürlichen
Todes gestorben, sondern erschlagen worden sei und hatte noch bei¬
gefügt, er sehe schlecht aus. Der Leichenfrau machte das Verhalten
der Schneiderschen Eheleute den Eindruck, als seien sie beflissen,
sie durchaus in der Sache „dumm zu machen“.
Am 11. Dezember hielt sich Schneider am Spätnachmittage in
der Postrestauration zu Kadorf auf. Er traf dort mit einem Geschäfts¬
reisenden zusammen, der im allgemeinen zu den Gästen sagte, in
Kadorf sei ja ein Mann erschlagen worden. Schneider zeigte sich
dabei etwas erschrocken und hielt dem Reisenden entgegen, das wüßte
niemand, ob der Mann erschlagen sei, den könne auch der Schlag
gerührt haben. Auch die Frau Schneider ließ sich an demselben
Tage in ähnlicher Weise aus; sie meinte, wie die Burfürst und die
Unger bezeugten, wahrscheinlich wäre Meiern, dem alten Manne
beim Holzmachen ein Stück Holz an den Kopf geflogen, da wäre
er wahrscheinlich hinauf in seine Schlafkammer gegangen und dort
hätte ihn der Schlag gerührt.
Am nämlichen Vormittage begab sich der Handarbeiter Nestler
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Totschlag, verübt zur Beseitigung eines Hindernisses usw.
277
von Neugierde getrieben, in das Sterbehaus und fragte bei Schneider
an, ob er Kartoffeln brauche, worauf letzterer antwortete, er habe
noch kein Geld, werde aber in den letzten Tagen der Woche solches
bekommen und dann gleich ein paar halbe Zentner kaufen. Als
Nestler die Eede auf Meiers Tod gebracht, fragte Schneider: „Was
sagen die Leute so im Dorfe?“, worauf jener antwortete: „Nun, da
wird verschiedenes gesagt“.
Bei einer späteren Befragung gab übrigens Nestler zu, daß er
gar nicht des Kartoffelhandels wegen zu Schneider gegangen sei,
sondern eigentlich mehr, „um einmal einen Mörder zu sehen“, denn
man habe allgemein im Dorfe den Verdacht ausgesprochen, daß
Schneider den Meier umgebracht habe.
Am nächsten Tage, also dem 12. Dezember, besuchte Nestler
die Schneiderschen Eheleute wieder und brachte die Neuigkeit, daß
man das anfangs vermißte Geld Meiers im Bettstroh seiner Lager¬
stätte gefunden hätte, worauf die Schneider, mit den Händen zitternd,
ausrief: „Na, Gott sei Dank, weil sie es nur gefunden haben!“
Auf Vorhalt dieser Angaben Nestlers suchte Schneider den
Zeugen als „schlechten Kerl“ zu verdächtigen, ja, er sprach sogar
die Vermutung aus, daß dieser den alten Mann getötet und bestohlen
haben könne, er sei am 11. und 12. Dezember immer um das Sachse¬
sche Haus herumgeschlichen und habe gehorcht.
Nicht nur am 10. Dezember, sondern auch am folgenden Tage
trieb sich Schneider in Kadorf und im Nachbarorte Seedorf in ver¬
schiedenen Schänken herum, hielt sich namentlich von früh 9 Uhr
bis Nachmittag 3 Uhr in der Schreinerschen Wirtschaft in Seedorf
und stundenlang in der Postrestauration in Kadorf auf und zechte
ungewöhnlich stark; in der Schreinerschen Wirtschaft trank er z. B„
neun Glas Lagerbier. Überall wurde, wie das ja selbstverständlich
war, von dem plötzlichen Tode Meiers und dem Verdachte des Mordes
gesprochen; in der Regel trat dann Schneider unaufgefordert der
letzteren Ansicht entgegen und sprach die beschwichtigende Meinung
aus, es könnte den Mann doch auch der Schlag gerührt haben.
Allenthalben steht man unter dem bestimmten Eindruck, daß die
Schneiderschen Eheleute den Tatbestand des begangenen Verbrechens
zu verdunkeln unternommen, dabei ihr eigenes Interesse an Bemänte¬
lung der Tat verraten haben und daß Schneider, wie das jeder
Untersuchungsrichter oder Staatsanwalt in seiner amtlichen Tätigkeit
beobachten kann, genau so wie andere Verbrecher, vom Bewußtsein
seiner Schuld gequält, darauf ausgegangen sei, sich zu betäuben und
zu zerstreuen, um die ihn peinigende Stimme seines bösen Gewissens
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VIII. Schwarze
nicht fortwährend zu hören. Er hat sich an den ersten Tagen nach
dem Tode Meiers viel und stundenlang in Schankwirtschaften seines
Wohnortes und des Nachbardorfes aufgehalten, tüchtig gezecht und
sich berauscht. Oft hat jedoch die Erfahrung gelehrt, daß dieses
Berauschen, um die Gewissensqualen zu besänftigen, recht bedenkliche
Folgen für den Verbrecher haben kann, zumal wenn noch ein zweites
Moment hinzukommt, welches Kriminalbeamte oft beobachten können:
der Verbrecher — vorausgesetzt natürlich, daß er nicht flüchtig ge¬
worden ist, — sucht mit Vorliebe sich am oder wenigstens in der
Nähe des Tatortes 1 ) und in Gesellschaft möglichst vieler Personen
aufzuhalten, z. B. bei Gelegenheit der gerichtlichen Aufhebung des
Ermordeten oder bei dessen Beerdigungsfeierlichkeit; es drängt ihn
gewissermaßen hin, vielleicht um zu hören, welche Verdachtsmomente
im Publikum und gegen wen solche ausgesprochen werden, ob man seine
Person in irgend welchen Zusammenhang mit der Straftat bringt
oder Verdacht gegen eine fremde Person laut wird. Der Verbrecher
bemüht sich dann, wie wir das oben bei Schneider haben beobachten
können einzelne Tatsachen, welche ihn verdächtig machen könnten
zu bestreiten oder zu verdunkeln und so darzustcllcn, daß der Ver¬
dacht von ihm abgelenkt und auf einen andern, wenn möglich, unbe¬
kannten Täter hingeleitet wird. So sprach, wie wir oben mitgeteilt
haben, Schneider den Verdacht aus, daß der Handarbeiter Nestler
wohl den alten Meier getötet und bestohlen haben könnte und führte
zur Begründung seiner Vermutung an, Nestler habe sich am 11. und
12. Dezember immer um das Sachsesche Haus herumgetrieben und
habe gehorcht. Schneider bestätigt also selbst die Erscheinung, auf
die wir soeben aufmerksam machten, daß der Verbrecher versuche,
von dritten Personen zu hören, was man von der Straftat spricht und
und auf wen etwa der Verdacht fällt.
Wie schon oben angedeutet, kann das Aufsuchen dritter Personen
oder das Zusammentreffen mit solchen für den Täter doch auch be¬
denkliche Folgen haben, wenn er sich zur erhofften Beruhigung seines
Gewissens berauscht hat. Denn es ist nicht selten vorgekommen, daß
der Verbrecher in diesen Zustande leichtfertige und unüberlegte Reden
führt, die ihn erst recht verdächtig machen und oft schon zu seiner
Überführung leitend und bestimmend gewesen sind, zumal wenn er
im Rausche, wie das häufig vorkommt, zuviel und zusammenhanglos
alles durcheinander spricht, so daß er am Schlüsse seines Rede¬
schwalles überhaupt nicht mehr weiß, was er zu Anfang gesagt und
1) Vergl. Hans Groß, Hdb. f. U.R., 5. Aufl. p. 153.
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Totschlag, verübt zur Beseitigung eines Hindernisses usw.
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behauptet hat. Denn hier auch zeigt sich die Wahrheit des Sprich¬
wortes: Ein Lügner muß ein gutes Gedächtnis haben. Ganz charak¬
teristisch hierzu ist übrigens eine Äußerung, welche wir oben erwähnt
haben, die Frau Schneider in einem Gespräch mit ihrem Manne zu
Gehör der Leichenfrau getan hatte, als sie zu ihrem Manne sagte:
„Du weißt nicht was du heute redest. Du wirst dich schon
’reinlabern, daß du nicht weißt herauszukommen; da
kommen alle in Untersuchung soviel wir im Hause sind.“ —
Und nun wieder zurück zu unserem gegebenen Falle.
Schneider war mit den häuslichen Einrichtungen, den Verhält¬
nissen und Gewohnheiten Meiers vertraut, er war jahrelang Hausge¬
nosse des Genannten, wußte also offenbar nicht bloß von dessen Er¬
sparnissen, sondern kannte auch den Aufbewahrungsort der Sparkassen¬
bücher. Ebenso konnte ihm auch nicht entgangen sein, daß Meier
gewöhnt war, abends zeitig zur Ruhe zu gehen und daß er allein in
seiner Kammer schlief. Weiter sollte aber auch nach dem Zeugnisse
der Frau Meier die Schneider schon im Laufe des Sommers 1900,
wenn sie, die Meier, jener ihre Not geklagt, ihr geraten haben, in
ihres Mannes Lade zu gehen und sich heimlich Geld zu holen.
Schneider hatte früher schon die Frau des verstorbenen Meier ausge¬
forscht, wo ihr Mann schlafe, wann er nach Hause komme und wann
er zu Bett gehe.
Am 12. Dezember, als sich die Leichenwäscherin bei Schneiders
in der Stube aufhält, erzählten ihr diese, Meier wäre noch am Mon¬
tage bei ihnen gewesen, er sei vom Haushandel gekommen. Dabei
äußerte Schneider unter anderem: „Der Kerl muß aber Geld haben“
und die Schneider rief erstaunt aus: „Seht nur den alten Meier an!“
Letztere wollte zwar der Frau Meier, daß sie ihrem Manne Geld aus
der Lade nehmen solle, nicht eingegeben haben, auch Schneider war
abredig, die Meier wegen der Lebensweise ihres Mannes ausgeforscht
und der Kunzmann die fragliche Mitteilung gemacht zu haben. In¬
dessen mußten die Schneiderschen Eheleute zugeben, daß ihnen die
Vermögensverhältnisse Meiers bekannt gewesen und daß dieser an
einem Sonntage kurz vor seinem Tode (nicht am Montag, dem 9. De¬
zember) bei ihnen sich eingefunden und davon, daß er sich ein
Haus kaufen wolle, gesprochen hätte.
Bereits vor dem 9. Dezember hatte sich Schneider am Sachse¬
schen Hause und bei der Wohnung Meiers in auffälliger Weise
wiederholt herumgeschlichen. So beobachtete Robert Sachse einmal
gegen Ende November abends in der 8. Stunde, daß eine Person aus
Sachses Haus leise herauskam, um das Haus herumlief, dann durch
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VIII. Schwarze
die Hintertüre wieder hinein- und die Treppe hinaufging. Robert
Sachse machte seinen hinzugetretenen Bruder, den Hauswirt Sachse,
darauf aufmerksam und wurde dann auch von letzterem wahrgenom¬
men, wie jemand leise die Treppe hinaufstieg. Robert Sachse glaubte
aber bestimmt, daß jene verdächtige Person Schneider gewesen.
Mittwoch, am 4. Dezember, betraf die ledige Geyer ihrer Aus¬
sage zufolge abends gegen 7 Uhr Schneidern, als er von außen in
die Stube des Krämers Sachse hineinsab; Schneider habe, da er sie,
die Zeugin, bemerkt, nach dem Hausgenossen Robert Sachse gefragt,
sei jedoch ungeachtet ihrer Auskunft, daß genannter Robert Sachse
bereits zu Hause sei, in seine Wohnung zurückgegangen, ohne da¬
mals mit Sachses zu verkehren. Ein anderesmal, 10 Tage vor
Meiers Tode, hat nach der bestimmten Versicherung der ledigen Bur¬
fürst, Schneider gegen Abend in der Dämmerung sich von seiner
Wohnung aus an die Stubentüre Meiers geschlichen, durch das Schlüssel¬
loch gespäht und dann geräuschlos sich in sein Zimmer zurückgezogen.
Schneider leugnete, der von den Gebrüder Sachse beobachtete
Schleicher gewesen zu sein, gab dagegen seine Identität mit den von
der Geyer und der Burfürst betroffenen Personen zu, bemühte sich
aber, sein bezügliches Gebaren als unverfänglich darzustellen. Seinen
Angaben zufolge wollte er nämlich an dem fraglichen Tage etwas
in der Meierschen Stube reden gehört haben, was wie die Stimme
der Frau Meier geklungen. Da er nun früher einmal einen Streit
zwischen den Meierschen Eheleuten angehört habe, bei welchem
beide davon gesprochen, daß sie sich voneinander trennen wollten,
so habe er an jenem Tage bloß hören, beziehentlich sehen wollen, ob die
Meierschen Eheleute ihre damals ausgesprochene Absicht wieder ge¬
ändert hätten.
Man gewinnt aus alledem den Eindruck, daß Schneider schon
lange etwas gegen Meier im Schilde geführt habe. Der Spätnach¬
mittag oder Abend des 9. Dezember mochte Schneider zur Ausführung
eines gegen Meier geplanten Verbrechens als die geeignetste Zeit er¬
schienen sein. Denn der im Sachsesche Hause mitwohnende Gendarm
war an jenem Tage nachmittags gegen 4 Uhr fortgegangen und
erst nachts gegen 2 Uhr in seine Wohnung zurückgekehrt. Seiner
Ansicht nach müßten die Schneiderschen Eheleute ihn haben fort-
gehen sehen. An diesem Nachmittag war im Grumbacbschen Gastlokal
zu Kadorf Gemeinderatswahl, wozu wohl die Mehrzahl der wahlbe¬
rechtigten Männer des Ortes sich vereinigt hatten. Schneider dagegen
war dem Wahllokale ferngeblieben. Als nun aber der Schuhmacher
Augustin gegen 3 /4 6 Uhr die Grumbachsche Restauration verließ,
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Totschlag - , verübt zur Beseitigung eines Hindernisses usw.
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traf er draußen unter den Fenstern der Gaststube Schneidern, der
mit dem Gesichte nach letzterer gewendet stand; Augustin sprach
einige Worte mit Sohneider und ging ein Stück mit ihm, bis letzterer
schließlich zurückblieb.
Auffällig, sowohl als unerklärlich ist, daß Schneider dieses an
sich ja harmlose Zusammentreffen beharrlich und unter dem Anführen
leugnete, er sei am 9. Dezember überhaupt nicht aus dem Hause ge¬
kommen. Man wird unwillkürlich zu der Annahme gedrängt, daß
es Schneidern, indem er lauschend und spähend am Grumbachschen
Hause stand, um eine Eekognition zu tun gewesen ist, ob die Gelegen¬
heit günstig sei, sein verbrecherisches Vorhaben ungestört ausführen
zu können. Befand sich doch an jenem Abende, nach Augustins
Aussage, auch der Gendarm noch im Grumbachschen Lokale. Es
muß hierbei auffallen, daß Schneider nach dem von der Kunzmann
bezeugten Gespräche mit seiner Frau anfänglich gewillt gewesen,
für den 9. Dezember sein Alibi glauben zu machen, während er nach¬
mals solches aufgegeben und seine fortwährende Anwesenheit am
Tatorte zur kritischen Zeit versichert, ja dies trotz der teilweise wider¬
sprechenden Aussage Augustins beharrlich behauptet hat. Mit Schneiders
und Augustins Angaben war übrigens das Zeugnis der Handarbeiterin
Soltmann in Einklang zu bringen, sofern diese am 9. Dezember
nachmittags gegen 3 Uhr und abends gegen 3 /4 7 Uhr den Schneider¬
schen Eheleuten kurze Besuche abstattete und beide Male auch
Schneidern zu Hause antraf.
Schneider, welcher bereits einmal wegen Diebstahls mit Gefängnis
bestraft worden war, versicherte anfänglich seine bisherige Unbe¬
scholtenheit, ja hielt auf wiederholtes Fragen des Inquirenten an
dieser Lüge fest, erst auf Vorlegen der betreffenden aktenmäßigen
Notiz über den früheren Straffall war er unter sichtlicher Verlegenheit
dessen geständig. Schon als Schulknabe waren Schneidern mehr¬
mals kleine Diebstähle zur Last gelegt und nachgewiesen worden;
er galt überhaupt als ein sittenloser Knabe, dem der Lehrer oft zuge¬
rufen hatte: „Was werde ich noch an dir erleben!“
Der Bestaurateur Schreiner und dessen Pflegetocher Auguste
Lindermuth gaben an, daß ihnen bereits vor mehreren Jahren, als
Schreiner die damals Schneidersche Restauration in Seedorf gepachtet
gehabt und mit Schneider zusammen in einem Hause gewohnt habe,
verschiedene Sachen abhanden gekommen und sie, weil Schneider
dieser Diebereien verdächtig erschienen, dort ausgezogen seien.
Nach Aussage der Frau Gendarm Unger sollte die Schneider,
als sie beide einmal über die bei Meier begangenen Diebstähle ge-
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VIII. Schwärze
sprochen haben, sich dahin geäußert haben: „Nun kommt man auch
noch in Verdacht“. Schneider hat die von seinem Standpunkte aus
gewiß auffällige Meinung geäußert, daß Meier bemittelt sei, wüßte
jedermann im Dorfe, von seinen Sparkassenbüchern habe aber niemand
etwas gewußt. Schneider bezweifelte die bei Meier begangenen Dieb¬
stähle keineswegs, konnte auch in Ansehung seiner Hausgenossen
irgendwelche Belastungsmomente nicht Vorbringen; wohl aber ver¬
suchte er die Meier und deren außereheliche Tochter, die Lorenz,
sowie den Kartoffelhändler Nestler zu verdächtigen, wie bereits oben
einmal kurz erwähnt worden war. Allein wenn Schneider den Ver¬
dacht gegen Nestler in keiner Weise zu begründen vermochte, wenn
ferner die Frau Meier und die Lorenz allseitig, insbesondere vom
Schwiegersohn des Verstorbenen, dem Zimmermann Schiller, von der
Unger und der Frau Nestler als ehrliche und rechtschaffene Frauen
belobt, sogar von der Schneider als solche, denen sie „nichts Schlechtes“
nachsagen könne, bezeichnet wurden, so mußte aus derartigen leeren
Verdächtigungen ein widriger Schein auf Schneider zurückfallen.
Die Schneidersehen Eheleute hatten, wie sie selbst zugaben, im
Jahre 1901 wenig Arbeit und Verdienst gehabt, daher viel Schulden
gemacht und oft um ihre Existenz sich sorgen müssen. Die Schneider
mag durch Gorlnähen und Posamentenarbeiten ihr Leben gefristet
haben, von ihrem Mann hat sie aber, wie er glaubhaft versicherte,
nur „manchmal ein Paar Groschen zur Wirtschaft erhalten“, dagegen
ihm selber aus ihren Mitteln ebenmäßig, fast nichts — nach Angabe
Schneiders mitunter, wenn er gar nichts gehabt, — „etwa einen
Taler“ zugewendet. In so überaus dürftigen Verhältnissen hätte
Schneider als ehrlicher Mann nur bei äußerster Enthaltsamkeit be¬
stehen können; er hat jedoch nach den Wahrnehmungen aller, die mit ihm
in Berührung gekommen, unverhältnismäßig behaglich gelebt, übrigens
seinen Hang zur Völlerei durch sein liederliches Treiben am 10. und
11. Dezember unverkennbar betätigt. Aus welchen Quellen ihm die Mittel
zur Bestreitung der von ihm, namentlich im zweiten Halbjahr 1901 ge¬
machten erheblichen Ausgaben geflossen seien, konnte Schneider keines¬
wegs dartun. Denn sein aus dem Viehhandel gezogener Gewinn, sein
Arbeitsverdienst als Hausschlächter war seinen Angaben zufolge un¬
regelmäßig und im Einzelfalle sehr geringfügig gewesen.
Nun nahm aber im Laufe der Voruntersuchung Schneider wieder¬
holt darauf Bezug, daß er aus dem Verkaufe seines Hauses 1899
600 Mark übrig behalten, die Gelder nach und nach bis auf 120 Mark
verbraucht und letztere im Laufe des Jahres 1901 im Viehhandel und
sonst zugesetzt hätte. Allein mit so geringen Mitteln würde er bei seiner
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Totschlag, verübt zur Beseitigung eines Hindernisses usw. 283
Lebensweise und in Anbetracht der von ihm gerade im Jahre 1901
bestrittenen größeren Ausgaben offenbar nicht ausgekommen sein.
Es ist aber sogar dieser Geldbesitz ganz unwahrscheinlich, wenn man
erwägt, daß Schneider betreffs seiner Geld- und Erwerbsverhältnisse
die verschiedensten Erklärungen gab und sich in mancherlei Wider¬
sprüche verwickelte, sowie daß von dessen Frau nicht bloß die Tat¬
sache, daß ihr Mann sich etwas aus dem Hausverkauf bis ins Jahr
1901 aufbewahrt hätte, bestritten, sondern vielmehr behauptet wurde,
daß sie in jenem Jahre bei ihm überhaupt kein Geld gesehen hätte
— eine Behauptung, welche namentlich in den Aussagen mehrerer
Zeugen ganz wesentliche Unterstützung fand. Trotz alledem waren
von Schneider gerade im Jahre 1901 erhebliche Geldbeträge veraus¬
gabt worden und zwar vornehmlich alsbald nach den im fehlenden
Sparkassenbuche Meiers bewirkten Abhebungen. Soweit das Tatsäch¬
liche hierunter festgestellt werden konnte, korrespondierten die Ab¬
hebungen im Meierschen Sparkassenbuche mit den von Schneider
gemachten Ausgaben folgendermaßen:
a. Abhebungen in Meiers Sparkassenbuch:
am 19. Juni 1901 100 Mark.;
am 30. Juli 1901 150 Mark;
am 3. Oktober 1901 160 Mark.
b. Von Schneider gemachte Ausgaben:
am 21 Juli 1901 90 Mark für eine Kuh, im Sommer 1901 14 Mark
Kaufpreis für ein Paar Stiefeln;
am 17. August 1901 10 Mark Schuld an Fabrikant Pech in
Dresden;
im September 1901 25 Mark an denselben;
am 8. Oktober 1901 25 Mark Schuld an Tuchhändler Salzer in
Glück stadt.
am 10. Oktober 37 Mark 52 Pfg. in der obenerwähnten Pech-
schen Angelegenheit;
am 22. Oktober 6 Mark Draufgeld an einen Fleischer für ein
gekauftes Kind.
am 18. November 15 Mark Beitrag zum Hauszins.
Höchst auffällig ist, daß am 19. Juni eine Abhebung von
100 Mark stattgefunden und Schneider zwei Tage später 90 Mark
verausgabt hat. Gegenüber der letzten Abhebung vom 3. Oktober
aber mußte noch ins Gewicht fallen, daß Schneider den Aussagen
des Handelsmannes Goldfriedrich und dessen Frau zufolge um die
Zeit des 8. und 9. Oktobers weitere Geldmittel besaß und solche vor
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VIII. Schwärze
seiner, Schneiders Ehefrau verborgen gehalten, ja diesfalls gegen die
Goldfriedrichschen Eheleute die höchst auffällige Äußerung getan
hat, er hätte ein Paar Taler Geld, indes seiner Frau nichts davon
merken lassen wollen und darum seiner Frau vorgeredet, daß er sich
das Geld von der verehelichten Goldfriedrich geborgt hätte, um in
Bernburg einen Ochsen zu handeln.
Charakteristisch ist übrigens, daß der Dieb, beziehentlich der Ab¬
heber der ersten Summe von 100 Mark dadurch, daß die Abhebung
dieses Betrages innerhalb eines Zeitraumes von 41 Tagen unbemerkt
blieb, offenbar sicherer und sein Hang zur Verübung weiterer Diebstähle
und seine Begehrlichkeit nach dem Besitze größerer Summen erhöht
worden ist. Denn beim nächsten Diebstahle am 30. Juli 1901 eignete
sich der Täter noch mehr als beim 1. Male, nämlich 150 Mark an
und dann, wiederum durch das Unbemerktbleiben seiner strafbaren
Handlung immer begehrlicher geworden, verlangte ihn nach noch
mehr Geld, sodaß er am 3. Oktober schließlich 160 Mark abhob. —
Ara 4. September 1902 und folgende Tage wurde vor dem
Schwurgerichte die Hauptverhandlung in der Untersuchung gegen
Schneider abgehalten; er leugnete beharrlich, wie bisher, den alten
Meier getötet oder bestohlen zu haben. Auf Grund der Beweisauf¬
nahme konnten die Geschworenen nicht die Überzeugung gewinnen,
daß Schneider den Maurer Meier in der Absicht ihn zu töten, über¬
fallen und ihn dergestalt, daß er ihm Mund und Nase gewaltsam zu¬
gehalten und zugestopft, hierdurch aber ihn erstickt, vorsätzlich ge¬
tötet, diese Tötung auch mit Überlegung ausgeführt, also den Meier
ermordet habe. Die Geschworenen nahmen vielmehr für erwiesen an,
daß Schneider an jenem 9. Dezember bei Unternehmung einer straf¬
baren Handlung und zwar des Diebstahls des Meiern gehörigen Spar¬
kassenbuches mit einem Restbeträge von 265 Mark von dem Genannten
in dessen Schlafkammer überrascht worden sei und nun erst, um ein
der Ausführung dieser Unternehmung durch die Gegenwart des
Eigentümers des Buches am Tatorte zur Zeit der Tat entgegen¬
tretendes Hindernis zu beseitigen und um sich der Ergreifung
auf frischer Tat zu entziehen, den in der Schlafkammer angetröffenen
Meier durch gewaltsames Zuhalten beziehentlich Zustopfen von Nase
und Mund vorsätzlich getötet zu haben.
Ausschlaggebend für diesen Wahrspruch der Geschworenen war
vermutlich eine Tatsache gewesen, welche während der Hauptverhand¬
lung durch die Angehörigen des verstorbenen Meier nochmals zur
Sprache kam: Dieser pflegte nämlich den Schlüssel zu seiner Schlaf¬
kammer in der Wohnstube an der Wand hinter dem Perpendikel
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Totschlag, verübt zur Beseitigung eines Hindernisses usw.
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einer gewöhnlichen Schwarzwälder Wanduhr an einen Nagel zu hängen.
An jenem 9. Dezember, an welchem Tage, wie oben dargelegt worden
im Grumbachschen Gasthofe Gemeinderatswahl abgehalten wurde,
wußte Schneider, daß nachmittags die männlichen Bewohner, also auch
der Gendarm Unger und der verstorbene Meier nicht im Hause
waren, sondern ihrer Wählerpflicht nachkamen. Die Gelegenheit er¬
schien Schneidern deshalb sehr günstig, wieder einmal einen Dieb¬
stahl bei Meier auszuführen. Er hat sich vermutlich im Spätnach¬
mittag Eingang in Meiers Wohnstube verschafft und dort den Kammer¬
schlüssel an der Wand hinter dem Perpendikel weggenommen, dabei
aber an letzteren versehentlich gestoßen, sodaß die Uhr stehen ge¬
blieben war. Denn die Meierschen Angehörigen bestätigten überein¬
stimmend, daß die Uhr stehen geblieben sei, denn die Zeiger hätten
am 10. Dezember vormittags wenige Minuten nach 4 Uhr angezeigt.
Schneider ist nun wahrscheinlich zu dieser Zeit am Nachmittag des
9. Dezember in die Kammer hinaufgegangen, um wieder das Spar¬
kassenbuch aus der Lade zum Abheben eines Betrages zu holen. In¬
zwischen und zeitiger als Schneider vermutet hat, ist Meier nach
Hause gekommen, hat seinen Kammerschlüssel unter der Uhr vermißt
und ist nun hinauf gegangen um nachzusehen, wer etwa unbefugt
in seiner Kammer sei. Dabei hat er wahrscheinlich Schneidern an
der Lade hantierend angetroffen und nun erst hat der Genannte die
Tat verübt, Meiern erwürgt und ins Bett gelegt, damit es aussähe,
als hätte ihn der Schlag gerührt. Mit dem in Meiers Hosentasche
befindlichen Schlüssel hat Schneider schließlich die Lade geöffnet und
das Sparkassenbuch herausgenommen.
Daß Schneider den Meier schon vor dem 9. Dezember 1901 be¬
stohlen habe, nahmen die Geschworenen für nicht erwiesen an;
insoweit wurde er freigesprochen. Er wurde vielmehr nur nach
§ 214 des deutschen Strafgesetzbuches 1 ) zu 15 Jahren Zuchthaus
verurteilt. —
Wenige Wochen nach seiner Einlieferung in die Strafanstalt
hatte Schneider einem anderen Gefangenen, welcher in den nächsten
Tagen entlassen werden sollte, eine Mitteilung gemacht, nach welcher
jede Zweifel bezüglich der Täterschaft bei dem vorher erwähnten
Verbrechen beseitigt wurde. Schneider hatte nämlich jenem Gefangenen
1) § 214 des Deutschen Strafgesetzbuches lautet: Wer bei Unternehmung
einer strafbaren Handlung, um ein der Ausführung derselben entgegentretendes
Hindernis zu beseitigen oder um sich der Ergreifung auf frischer Tat zu ent¬
ziehen, vorsätzlich einen Menschen tötet, wird mit Zuchthaus nicht unter zehn
Jahren oder mit lebenslänglichem Zuchthaus bestraft.
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VIII. Schwarze
erzählt, in dem Abtritte eines Hauses neben der Restauration zu
Kadorf sei in einem mit Brettern verschlagenem Fenster das Meier-
scheSparkassenbuch versteckt; er, Schneider, habe es dorthin verborgen;
der Gefangene solle dort das Buch heimlich wegnehmen und in einen
Postbriefkasten werfen.
Weiter hatte Schneider jenem Gefangenen noch erzählt, es habe
der „Büchsenspanner“ — eine Persönlichkeit, die durch die ange-
stellten Erörterungen nicht ermittelt werden konnte und von Schneider
nur fingiert worden war — bei der Ermordung Meiers mit geholfen;
jener habe auf Meier losgeschlagen, während er, Schneider, dem Ver¬
storbenen den Mund zugehalten; diese Erschlagung Meiers sei ein
paar Wochen später erfolgt, nachdem er das Sparkassenbuch gestohlen
habe; damit der Diebstahl nicht herauskomme, seien sie, d. h. der
angebliche Büchsenspanner und Schneider, zusammen zu Meier ge¬
gangen und hätten ihn totgeschlagen; die Ermordung sei Sonntags
geschehen, das Bettuch habe er, Schneider, in einem benachbarten
Dorfe in einen Keller geworfen; aus dem Sparkassenbuche habe der
Büchsenspanner 200 Mark und er, Schneider, auch soviel bekommen
Dem Gefangenen hatte Schneider für Herbeischaffung des Buches
150 Mark versprochen.
Wenn nun auch diese Angaben Schneiders nicht die volle Wahr¬
heit enthielten, so bewahrheitete sich doch wenigstens das, was er
dem Gefangenen über den Versteck des Sparkassenbuches mitgeteilt
hatte.
Denn auf Veranlassung des Untersuchungsrichters hatte der Gen¬
darm Unger den Abort des Sachseschen Hauses, in welchem wie
bereits oben erwähnt, Schneider sowohl als Meier gewohnt hatten,
genau durchsucht und in dem neben der Hintertür im Parterre ein¬
gebauten Pissoir, in welchem sich ein halb verschlagenes Fenster be¬
fand, hinter diesem das noch fehlende Sparkassenbuch Meiers gefunden.
Schneider hatte dieses Buch vermittels, eines Nagels an einen Balken
festgenagelt. Seit dem 3. Oktober war übrigens keine Abhebung aus
dem Buche erfolgt.
Trotzdem ihm alles dies vorgehalten wurde, beteuerte Schneider
nach wie vor seine Unschuld und leugnete, dem Gefangenen derartige
Mitteilungen gemacht zu haben, ja er zeigte sich nicht einmal irgend
wie erregt, als ihm jener hochwichtige Vorhalt gemacht wurde, er blieb,
wie bisher während der ganzen Untersuchung, der verstockte, nicht
die mindeste Reue fühlende Verbrecher.
Mit Rücksicht auf das beharrliche Leugnen Schneiders in Ver¬
bindung damit, daß die von ihm dem oben erwähnten Gefangenen
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Totschlag, verübt zur Beseitigung eines Hindernisses usw. 287
— den man in Anbetracht seiner Vorbestrafung auch nicht als ganz
zuverlässigen und glaubhaften Zeugen bezeichnen konnte — wurde
seitens der Staatsanwaltschaft davon abgesehen, einen Antrag auf
Wiederaufnahme des Verfahrens wegen Entwendung des Sparkassen¬
buches zu stellen, zumal da das Schwurgericht auf die höchste zeitige
Zuchthausstrafe erkannt hatte, die wegen des in § 214 des Strafge¬
setzbuchs gedachten Verbrechens zulässig war.
Zum Schluß sei übrigens noch bemerkt, daß gegen die Frau
Schneider die Voruntersuchung eingestellt worden war, da ihr irgend
welche strafbare Beteiligung an der Verübung des Verbrechens ihres
Ehemanns nicht nachzuweisen war.
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IX.
„Experimentaljurisprudenz“.
Von
Di\ Kurt Hiller.
Im 36. Bande dieses Archivs, Seite 82 bis 110, veröffentlicht
Dr. Adolf Grabowsky eine Abhandlung, die er, nach dem Titel
meiner vor zwei Jahren erschienenen Schrift, „Das Beeilt über sich selbst“
benennt, was ihn jedoch nicht davon abhält, gegen diese Schrift zu
polemisieren. Nun fühle ich mich keineswegs durch die Wucht seiner
Argumente erschüttert, allein: wer schweigt, erweckt den Anschein, als
stimme er zu; und überdies ist Grabowskys an sich vielleicht nichtsehr
wichtige Polemik doch von symptomatischer Bedeutung, als Exponent
einer sehr machtvollen und bekämpfenswerten Richtung. Deshalb werde
ich die Unhaltbarkeit seiner Einwände nachweisen.
Dieser Nachweis dürfte mir um so leichter gelingen, als ich auf
meiner Seite eine Bundesgenossin habe, die in allen intellektuellen
Turnieren für sich allein schon den Sieg bedeutet, die reine Ver¬
nunft. Bei Grabo wsky nämlich erfreut sich diese ausgesprochener
Antipathieen und ist in besagter Abhandlung noch heftigeren Angriffen
ausgesetzt als ich.
Grabowsky stellt sich dar als ein waschechter Vertreter des
Empirismus oder Positivismus, will sagen: jener (längst widerlegten)
Denkrichtung, die Fragen des Sollens nach Art der Fragen des
Seins behandelt, ethische Probleme auf 'naturwissenschaft¬
liche Methode lösen zu können glaubt, das Denken überall (also
auch dort, wo Erscheinungen gar nicht „erklärt“, sondern ge¬
wertet sein wollen) durch die Erfahrung zu ersetzen bestrebt ist.
Als Reaktion gegen die dialektischen Ausschweifungen des Kant-Epigonen¬
tums und den uneingestandenen Dogmatismus unserer „kritischen“
Fach-Philosophie ist diese antiphilosophische Bewegung sehr wohl zu
begreifen; indes: alles begreifen heißt keineswegs alles verzeihen, und
ein Denkfehler bleibt ein Denkfehler, mag seine psychologische Genese
auch noch so klar auf der Hand liegen.
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„Experimentaljurisprudenz“.
289
Der Kultus des Faktums in Soll-Erörterungen ist nun zweifellos
der Kultus eines Denkfehlers: denn für jemanden, der erwägt, wie
der Staat oder ein Einzelner im bestimmten Falle oder grundsätzlich
sich verhalten solle, ist die Kenntnis davon, wie jene sich tatsächlich
verhalten oder verhalten haben, höchst belanglos. Gesetzt, jeder Eu¬
ropäer beginge wöchentlich je einen Mord: so würde aus dieser „Reali¬
tät“ nicht im mindesten zu folgern sein, daß wöchentlicher Mord
wünschenswert oder auch nur erlaubt wäre! Oder wenn seit Jahr¬
hunderten gewisse geschlechtliche Betätigungen von den Staaten mit
Strafe bedroht werden, so ergibt sich hieraus mitnichten, daß diese
Betätigungen wirklich strafwürdig seien. Und wenn ein ganzes Volk
unisono die „Hexe“ zu verbrennen begehrt, so wäre es absurd, aus
diesem Fakt die Konsequenz zu ziehen, daß die „Hexe“ auch ver¬
brannt werden soll . . . Diese Erkenntnis — von Gustav Rad¬
bruch glänzend formuliert in dem synthetischen Urteil a.'priori: „Das
Seinsollende läßt sich nimmermehr aus dem Seienden ableiten“ — muß
jedem, der zu denken vermag, als eine Selbsverständlichkeit erscheinen;
und daß man genötigt ist, diese Selbstverständlichkeit stets von neuem mit
Pathos zu proklamieren, das spricht nicht] gegen unsern guten Ge'
schmack, sondern gegen die Auffassungsgabe der Zeitgenossen.
Schon vor Windelband stand die fundamentale Diskrepanz
zwischen ontologischer und ethischer, zwischen Wirklichkeits- und
Wert-Betrachtung außer Frage und war der aus dieser Diskrepanz
sich sofort ergebende Methoden-Dualismus von Empirie und Speku¬
lation evident: fließt er doch ohne weiteres aus der Logik! — Nun
anerkennt freilich der Positivist Grab o.wsky die Logik keineswegs als
Kriterium für die Richtigkeit eines Urteils, die reine Vernunft als
oberste Instanz der Wahrheit; sei es doch „das außerordentliche Verdienst
der historischen Methode, daß sie uns ein für alle Male die Unmöglich¬
keit gezeigt hat, eine Sache von der reinen Vernunft aus zu entscheiden“.
Ich bin also außer Lage, ihn von der Richtigkeit der genannten
Dualität zu überzeugen, und es hätte auch keinen Zweck, die Eides¬
hilfe eines Sigwart anzurufen. Dagegen erlaube ich mir, Gra-
bowsky zu fragen, welches unter den diversen Seelen vermögen
nun die Instanz sei zu entscheiden, ob wirklich der „Historik“ oder
nicht vielmehr der „reinen Vernunft“ das letzte Wort in diesen Dingen
gebühre! Eine Instanz, die der Vernunft die Kompetenz abspricht,
muß zunächst den Nachweis erbringen, daß sie zu solchem Absprechen
selber kompetent sei . . Daß „es praktisch keine reine Vernunft gibt,
sondern immer nur die Vernunft eines bestimmten Falles“, daß nur
„die historische Betrachtungsweise“ sich dazu eigne, „Zielpunkte einer
Archiv für Krimmalanthropologie. 37. ßd. 19
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290
IX. Kurt IIiller
Kultur zu geben* 1 , — diese und ähnliche Behauptungen bedürfen doch,
sofern sie mehr sein wollen als unverbindliche Gefühlsäußerungen
einer Privatperson, der Bestätigung durch ein objektives Kriterium,
der Legitimation, der — Begründung! Mir nun ist unerfindlich, durch
welches andere Mittel diese Begründung zustande kommen könnte,
als durch reine Vernunft. Jedes Nachdenken über das Wesen der
menschlichen Erkenntnis führt zu der Entdeckung, daß der reinen Ver¬
nunft die Kompetenzkompetenz zusteht. Das ist keine Hypothese
oder Forderung, sondern eine Tatsache; etwas jederzeit Aufzeigbares.
Allen Versuchen nämlich, der Vernunft die Kompetenzkompetenz zu
nehmen und einem andern Vermögen zu übertragen, liegt ein Akt
der Vernunft zugrunde, so daß diese letzten Endes doch stets ent¬
schieden bat. Wollte man also einwenden, es sei eine petitio principii,
wenn bei dem Problem, ob der Erfahrung oder der Vernunft der Vor¬
zug zu geben sei, die Vernunft die Entscheidung vorwegnehme, so
würde dieser Einwand sich selber richten; entspränge er doch aus
der Vernunft! — Indes gleichviel: soll etwa die Erfahrung das Pro¬
blem lösen? Das wäre einmal nicht minder eine petitio principii,
und andrerseits würde so garnicht das erwünschte Resultat erzielt
werden; denn die Erfahrung zeigt keineswegs, daß in der Problematik
des richtigen Rechts die „Historik“ vor der Vernunft die Prärogative
hat; vielmehr zeigt die Erfahrung, daß zahlreiche Persönlichkeiten die
Vernunft als oberste Instanz anerkennen.
So ergibt sich, daß jenes von Grabowsky vorgetragene anti¬
rationalistische Theorem, selbst wenn man es, seinem Wunsche ge¬
mäß, der Kontrolle der Vernunft garnicht unterwirft, bereits der em¬
pirischen Wahrheit zuwiderläuft; und mehr noch: daß es sich selbst
widerspricht. Denn für jeden, der sich auf Psychologie des Erkennens
versteht, ist es ohne weiteres deutlich, daß jene Positivistenmeinung,
nach der kritische Maßstäbe oder Wertprinzipien statt aus der Speku¬
lation aus der „Historik“ gewonnen werden müssen, nicht sowohl
ein Ergebnis historischer Forschung als vielmehr ein Ergebnis der
Spekulation ist; das Resultat einer zwar falschen Überlegung, aber
doch einer Überlegung. —
Immanuel Kant ist wahrscheinlich nicht ganz der Genius, als
den die „wissenschaftlichen“ Philosophen und Begriffsklauber ihn
hinzustellen pflegen, jene durchs chopenhauer und die Prophetieen von
Sils-Maria Unbeirrten, die immer noch Akrobatik mit Geist und
Scharfsinn mit Tiefe |verwechseln —: dennoch möchte ich Gra¬
bowsky dringend ans Herz legen, sich gelegentlich einmal in das
Standard work des Königsberger Professors hingebend zu versenken;
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„Experimentaljurispmdenz“.
291
er wird dann vielleicht einsehen, daß es eine Kontrolle von Behaup¬
tungen entweder überhaupt nicht geben kann oder, wenn es eine gibt,
die Vernunft diese Kontrolle sein muß; daß man die Vernunft als
oberste Schiedsrichterin für Streitigkeiten im Erkenntnisleben anzuer¬
kennen oder aber auf Erörterungen überhaupt zu verzichten hat. Jede
erkenntnismethodologische Doktrin, die der Vernunft die Suprematie
unter den Erkenntnismitteln abspricht, stellt sich damit selber außer-aller
Kritik, jenseits der Sphäre des Diskutablen; sie bedeutet einen sich
selbst setzenden Widerspruch; sie zieht sich, indem sie sich aufstellt,
den Boden unter den Füßen fort!
Es ist die glänzende Situation des Skeptizismus (dieser mit
Fug berühmtesten unter allen vernunftoppositionellen Denkarten), daß
er auf Rechtfertigung durchaus verzichten kann. Denn wenn man
ihm auf seine pessimistischen Äußerungen über die Zuverlässigkeit
der Vernunft mit siegreicher Gebärde erwidert: „Wer die Vernunft in
Frage stellt, der stellt sich selbst in Frage, da ja, wofern es keine
Wahrheit gibt, auch die Behauptung, es gebe keine Wahrheit, nicht
wahr sein kann!“ — so darf er (der Skeptizismus), ohne sich etwas
zu vergeben, getrost antworten: „Freilich! Ich stelle mich selber in
Frage; mich nicht weniger als sämtliche anderen Überzeugungen,
Dogmen und -Ismen; das ist nun einmal mein Wesen!“ — In dieser
vortrefflichen Lage befindet sich der Empirismus jedoch durchaus
nicht; er ist keineswegs ironisch, labil, sich selbst zersetzend; er ist
vielmehr ernsthaft, draufgängerisch und unentwegt; er fühlt sich als
gerechtfertigt, als alleinseligmachend, als Inhaber des echten Ringes.
Sobald man indessen Dokumente von ihm fordert, Dokumente für die
Echtheit — und nichts ist so sehr Merkmal und Sinnbild redlichen
Forschens wie das Dokumente-Verlangen —, versagt er! Er fühlt
sich als gerechtfertigt und erklärt sich für gerechtfertigt, aber er unter¬
läßt es, sich zu rechtfertigen. Er unterläßt es wahrscheinlich aus Un¬
vermögen; aber gesetzt selbst, er vermöchte es, so würde er damit
doch nur sich selber Lügen strafen: denn die Behauptung, man
müsse der Argumentation entraten, hebt sich, sowie sie sich zu be
weisen sucht, selbst auf.
So schwebt der Empirismus in der Luft, — der Vernunft, der
Erfahrung und sich selber widersprechend; ein Unding und Mißge¬
bilde; um und um belachenswert; ernstzunehmen höchstens als kultur¬
geschichtliches Kuriosum.
Eine Lehrmeinung, die kraft ihres Inhaltes sich der Kontrolle
der reinen Vernunft entzieht, ist natürlich dann besonders hilflos,
wenn sie sich auf den Kriegspfad begibt. Ich habe, im methodo-
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292
IX. Kurt Heuler
logischen Teil meines „Recht über sich selbst“, dargetan, daß Rechts¬
kritik (oder Spekulation de lege ferenda) nur unter zwei Voraus¬
setzungen möglich sei: unter einer intellektuellen (Logik und meta¬
physische Grundsätze) und einer voluntarischen. (Wille aller Rechts¬
unterworfenen zur Freiheit); der Empirist Grabowsky nun hält diese
Ansicht fortgesetzt für „unhaltbar“, „undurchsichtig“ und „naiv“,
für eine „Halbheit“ und für einen „Grundirrtum“; allein zur Be¬
gründung dieser (etwas aggressiven) Tadelsvoten weiß er
nichts erheblich Besseres heranzuziehen als ein liebenswürdiges Gleich¬
nis. Er schreibt: „Hiller, der ja mit der reinen Vernunft alles machen
will [will er gar nicht! — Seien Sie, bitte, etwas sorgfältiger, Herr
Grabowsky, in der Darstellung der Gedanken eines von Ihnen
Angegriffenen; Sie wissen, wie aus anderen Passagen hervorgeht, sehr
wohl, daß ich keineswegs „alles mit der reinen Vernunft machen“
will, daß ich vielmehr neben ihr den Willen zur Freiheit vor¬
ausgesetzt habe!], scheint zu glauben, diese könne ohne weiteres und
unfehlbar dekretieren, was strafwürdig sei und was nicht. Er
und jeder, der ihm gleicht, kommt mir vor wie ein Tausendkünstler^
der aus seinem Taschentuch Sonne, Mond und Sterne hervorzaubert ..“
Im weiteren Verfolg dieses Gleichnisses kommt Grabowsky, in
bemerkenswerter Selbsterkenntnis, immerhin zu dem Resultat, daß es
hinkt. Eine noch gründlichere Erwägung hätte ihn zu der Erkenntnis
golangen lassen, daß durch dergleichen blühende Metaphorik überhaupt
nichts bewiesen wird. Freilich kann man es verstehen, wenn ein
Positivist und satirischer Feind der „reinen Vernünftler“ an Stelle von
Erkenntnistheorie und Methodenkritik Feuilletonismen bietet; und so
wenig man von einem Dornbusch darf Feigen pflücken wollen, so wenig
darf man von einem Antilogiker logische Argumentationen verlangen.
Aber ich will keinesfalls verschweigen, daß sich in der Nähe
jener hyperbolischen Floskel nichtsdestotrotz eine Stelle findet, die,
wo nicht als Begründung, so doch als der Versuch einer Begründung
angesprochen zu werden verdient. Ich möchte nicht so bosbaft sein,
dem Verfasser diese Stelle als einen Verstoß gegen seine eignen
Grundmeinungen (die bewußten vernunftfeindlichen, empiristischen)
„anzukreiden“, ihr Dasein als Einwand gegen ihren Gehalt zu be¬
nutzen; ich werde vielmehr den Gehalt gern isoliert betrachten! —
Wir alle, verkündet Grabowsky, seien tausende von Jahren alt;
jeder von uns trage einen vollbepackten Rucksack ererbter Em¬
pfindungen und Vorstellungen; erkenntnistheoretisch lasse sich eine
reine Vernunft zwar konstruieren, für die Praxis jedoch sei stets eine
historische Gebundenheit unseres Denkapparates gegeben. Die Funda-
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„Experimentaljurisprudenz“.
293
mente, auf denen wir in allen unseren Lebensäußerungen stehen, liefere
uns die Historik. Würden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
nicht miteinander Zusammenhängen, sondern würde sich abrupt eine
historische Tatsache neben die andere stellen, so wäre freilich solche
Erkenntnis der Vergangenheit für politische Zwecke gar nichts nutze.
Es verhalte sich aber eben anders: alles sei in allmählicher Ent¬
wicklung oder doch in allmählicher Verwandlung. In diesem Begriffe
der Allmählichkeit liege einmal die Zurückweisung jeder abrupten
Veränderung „— extreme Katastrophen scheiden hier natürlich aus
—“, zweitens die Tatsache, daß im Früheren die Tendenz auf das
Spätere sich zeige . . .
So Grabowsky. Es wird erhellen, daß sich hinter diesen Sätzen
ein Rattenkönig von Verstößen gegen die Logik schamhaft verbirgt.
Deterministen sind wir ja wohl alle: insofern wir nämlich glauben,
daß nichts in der Welt dem Gesetz der Verursachung entzogen ist.
Und da klingt es denn wahrscheinlich sehr geistreich, uns zu erzählen,
daß wir armen kurzlebigen Geschöpfe samt und sonders tausende
von Jahren alt wären. Freilich, ohne die zahllosen Menschengene¬
rationen und -Kulturen vor uns wären wir Heutigen nicht das, was
wir sind, und ohne Vergangenheit keine Gegenwart (o Tiefsinn!):
— aber ich sehe nicht ein, weshalb man sich dann bei den Jahr¬
tausenden aufhalten soll? Man darf den Mund doch ruhig viel voller
nehmen; warum nicht gleich in die Jahr millionen steigen, und, als
strammer Evolutionist, auf unsere Determiniertheit durch das Ti erleben
mit Würde hinweisen? Denn so wahr das komplizierte mitteleuro¬
päische Staatsgebilde durch urzeitliches Hordentum bedingt ist, so wahr
ist urzeitliches Hordentum durch vor-urzeitliches Bestienwesen,bedingt
folgeweise auch das-mitteleuropäische Staatsgebilde durch vor-urzeitliches
Bestienwesen: und letzten Endes sogar durch die Urzelle; und aller¬
letzten Endes indirekt durch Verhältnisse der unbelebten Substanz. —
Der Entwicklungsmanne braucht sich also gar nicht lumpen zu lassen;
er darf getrost dekretieren, daß unser aller Geburtstag weit vor dem
Datum der Urzeugung liegt; er darf ihn ansetzen auf den Tag der
Erschaffung der Welt. Wir sind nicht „Tausende von Jahren“ alt
nein: wir sind so alt wie das Universum! — Zu was für seriösen
und gewaltigen Aspekten uus doch die genetische Methode führt!
Wie nahe doch der Jünger der „Historik“ mit der Weltseele verwandt
ist! Wie doch vor seinen erleuchteten Augen vom ganzen Kosmos
der Schleier sinkt!
Allerdings bleibt es ziemlich dunkel, welchen Zweck für Ethik
und Politik diese Manöver haben, inwiefern sie uns dienen zur Auf-
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294
IX. Kurt Hiller
lösung der Wertprobleme, zur Findung beispielsweise des richtigen
Rechts! Was frommt uns, die wir nach dem Seinsollenden fahnden,
der Besitz der abgründigen Weisheit, daß Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft „miteinander Zusammenhängen“? Niemand bestreitet ja,
daß neue Zustände einer neuen Zeit wiederum historisch bedingt sein
werden, und daß auch zwischen den wildesten Revolutionen roter
Zukünfte und den ihr vorgelagerten Minuten keineswegs ein Inter¬
vall des Nichts, eine schwarze Kluft der Ursachlosigkeit gähnen
würde. Wenn von heute auf morgen das House of Lords oder das
preußische Wahlrecht oder die Philosophierfreiheit erkenntnistheo¬
retisch ungebildeter Litteraten abgeschafft werden würde, so hätten
derartige Vorgänge im Sinne des Causalgesetzes keineswegs etwas
,Abruptes“ an sich, sondern wären, bei aller Plötzlichkeit ihres Ein¬
tretens, durchaus ursächlich determiniert, stünden durchaus „auf dem
Fundament der Geschichte“. Gerade die Erkenntnis, daß es nichts
gibt, was nicht historisch fundamentiert wäre (eine Erkenntnis, in der
Historizisten und Denker vollauf einig sind), sollte doch zu der Ein¬
sicht führen, daß auch die Umgestaltungsideen der so¬
genannten reinen Vernünftler historisch fundamentiert
sind! Zu solchen Einsichten indes wird sich ein echter und rechter
Entwicklerich niemals hinreißen lassen. Es wäre ja auch sonderbar
wenn jemand, der die reine Vernunft bekämpft, nicht eine unreine
Logik besäße.
Wenn tatsächlich der „Rucksack“ der Vergangenheit so schwor
auf uns lastet und wir von ererbten Empfindungen und Vorstellungen
so stark abhängen, so muß )a doch wohl auch der „reine
Vernünftler“ unter besagtem Rucksack einigermaßen zu ächzen
haben, und seine kritischen Deduktionen müssen in ihrer psycho¬
logischen Genesis) gleich falls die ererbten Empfindungen pp. als Faktor
aufweisen. Entweder ist die Abhängigkeit vom Gewesenen ein (psy¬
chologisches) Gesetz: dann kennt es keine Ausnahme und gilt für
alle; so daß es abersinnig erscheint, gegen irgendwelche Vorschläge
das „Nichtbefolgen“ dieses Gesetzes als Einwand geltend zu machen
(da zum Wesen dieses Naturgesetzes ja die Unmöglichkeit einer Ver¬
letzung seiner integrierend gehört und niemand, wenn er dreist wollte,
dagegen verstoßen oder sich ihm entziehen könnte!) — Oder jene
Abhängigkeit ist kein Gesetz, sondern lediglich empirisch, zufällig, ein hie
und da auftauchendes psychisches Faktum: dann wäre es ein ganz un¬
billiges Verlangen, dieses Faktum für kritische Spekulation zu postulieren!
Entweder ist unser Denken nicht historisch gebunden: dann be¬
steht kein vernünftiger Grund, es historisch zu binden; — oder es
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,, Experimen tal j urisprudeuz ‘ 1 .
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ist historisch gebunden: dann vermag man sich über diese Gebunden¬
heit gar nicht hinwegzusetzen. Es gibt daher keinen verworreneren, un¬
logischeren und a priori gegenstandsloseren Einwand gegen eine
Neuerungsidee, als den, daß sie des geschichtlichen Fundaments ent¬
behre. — In Wahrheit steht es nun mit der Behauptung von der Ge¬
bundenheit unseres Denkens so, daß man eindeutig keineswegs zu
ihr Stellung nehmen kann; es kommt durchaus auf den Gesichtspunkt
an; so richtig sie für die Kausalbetrachtung ist, so falsch ist sie für
die teleologische; und die Quelle jenes tjpischeu Empiristenschnitzers
ist nichts anderes als die Verwechslung und Vermengung beider Be¬
trachtungsweisen, die Durcheinanderwirrung der Kategorien „Ur¬
sache—Wirkung“ und „Grund—Zweck“. Weil die Ursache jeder
Normation geschichtlich eruiert werden muß, so müsse auch (meint
man infolge dieser Begriffsvcrwechslung) der Grund jeder Normation
sich geschichtlich herleiten lassen; was im Falle einer empirisch
gegebenen Normation, da im „Motiv“ Grund und Ursache identisch
werden, zwar stimmt, im Falle einer erst gewollten Normation je¬
doch einen schweren Irrtum darstellt. Da nun jede Erörterung de
iege ferenda es nicht darauf absieht, Gründe aufzusuchen von dem, was ist,
sondern darauf, Gründe anzugeben dafür, daß das, was ist, auch sein
soll, oder: daß etwas anderes als das, was ist, sein soll, — so charak¬
terisiert sich der polemische Satz Grabowskys „man wird niemals
einem Grund auf die Spur kommen, wenn man nicht auf die Ursache
zurückgeht“ als das Kennzeichen einer völligen Ahnungslosigkeit
gegenüber dem normativen Problem. Einem Grund „auf die Spur
kommen“! Auf die Ursache „zurückgehen“! Als ob die genetische
Betrachtung einer Sache mit der systematischen, die kausale mit der
teleologischen zusammenfiele, und als ob einen Zustand verstehen
— ihn rechtfertigen hieße! Diese sich so selbstbewußt als höhere
„Synthese“ gebärdende Identifikation und Vermanschung der Begriffe
involviert überhaupt einen generellen Verzicht auf Kritik und Reform;
denn wenn man alles, was man sich erklären kann, für be¬
gründet halten, alles, was man verstehen kann, billigen soll,
so bleibt für den idealen Nichtkretin, daß heißt für den, welcher den
Blick für die kausale Notwendigkeit alles Geschehens hat, zu mi߬
billigen nichts mehr übrig. Auf diese Weise würde der voll¬
kommene Intellekt dazu verdammt sein, auf Willensbetätigung voll¬
kommen zu verzichten; und es erhellt, wie tief recht Nietzsche hatte,
als er den Historismus für eine Decadence-Erscheinung erklärte-
Etwas mag noch so ungerechtfertigt sein: „historisch“ berechtigt bleibt
es immer! —
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296
IX. Kurt Hiller
Der Historismus ist die genaue Inversion des ehemaligen Natur¬
rechts: während jenes in die Erklärung rechtlich politischer Zu¬
stände fortwährend Rationalismen, von geschichtlicher Erfahrung
ungetrübte, einfließen ließ, glaubt dieser zur Rechtfertigung recht¬
lich-politischer Zustände nur G es ch ichts tat Sachen, unter grund¬
sätzlicher Ausschaltung des Denkens, Vorbringen zu sollen. So wenig
aber rationale Konjekturen zur Erforschung des empirisch Tatsächlichen
dienen können, so wenig tragen faktische Konstatierungen zur Er¬
forschung des ethisch Richtigen bei. Schon Lessing sagt: „Zufällige
Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Venunft-
wahrheiten nie werden“ — wobei er unter „zufällig“ das lediglich
kausal Notwendige, unter „notwendig“ das teleologisch Notwendig¬
versteht —, und dieser große Deutsche hätte gewiß herzlich gelacht
über Grabowskys Behauptung, daß „eine Strafe durch ihren Ur¬
sprung teilweise gerechtfertigt ist“! — Der Naturrechtler begeht den
Fehler, sich dem Seienden mit der Vernunft zu nähern, der Historist, dem
Seinsollenden mit der Erfahrung. Es ist ein Cancan und wilder
Taumel der Methoden. Immerhin deucht mich, wiewohl beide der
Richtigkeit ihres Verfahrens nach auf gleich niederem Niveau
stehen, als sei unter kulturellem Gesichtspunkt der Naturrechtler der
Schätzenswertere: — wenn anders man der Kritizität den Vorzug
gibt vor der Tatsachenanbetung, der Konstruierregsamkeit vor der
Sammelei, und dem menschlichen Geist vor dem Hamster . . .
Aus dem Konglomerat empirischer Einwändc bleibt noch dieser
zu erörtern übrig: daß wir uns bei der Spekulation de lege ferenda
zwar nicht die kritischen Prinzipien von der Geschichte an die
Hand geben zu lassen brauchten, aber, um das Sprunghafte, Abrupte,
Revolutionäre im geschichtlichen Ablauf zu vermeiden und das „Or¬
ganische“ der Entwicklung zu wahren, die in uns wirkenden ge¬
schichtlichen Kräfte wenigstens kennen lernen müßten; daß also
die Empirie die kritische Erwägung zwar nicht ersetzen könne, aber
doch ihr voranzugehen habe. — Auch diese Auffassung ist verkehrt.
Soweit nämlich das Vergangene wirklich einen „organischen“
Bestandteil des Gegenwärtigen bildet, in diesem eingebettet, „aufge¬
hoben“ ist, soweit wirkt es notwendig ja auch in einem kritischen
Kontemplator der Gegenwart und determiniert dessen Kriterien (mög¬
licherweise ihm unbewußt); es bedarf daher, damit es in Wirksamkeit
trete, keineswegs erst der Klarlegung seiner. Wirkt es aber anderer¬
seits nicht, so beweist dies, daß er bereits aufgehört hat, „organischer“
Bestandteil des Gegenwärtigen zu sein; daß es begonnen hat, sich
aus diesem auszusondern, gleichsam exsorbiert zu werden. Eine Kraft
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„Experimentaljurisprudenz“.
297
aber, die in mir nicht mehr wirkt, kann ich unmöglich allein deshalb
als daseinsberechtigt anerkennen, weil sie vielleicht in einigen andern
Leuten noch wirkt. Eine Sache ist nicht deswegen gut, weil sie da
ist. „Wenn man von herrschenden Anschauungen nichts weiter
behaupten kann, als daß sie herrschen, so ist es mit ihrem Werte
als richtige Normen übel bestellt“. (Stammler, „Wirtschaft und
Recht“, 2. Aufl., S. 670). Auch Grabow sky erkennt ja an, daß das
Strafrecht „mehr tun soll, als verbreitete Anschauungen über Straf¬
würdigkeit und Nichtstrafwürdigkeit bloß annehmen“; es solle viel¬
mehr die Bevölkerung zu bestimmten Anschauungen führen. („Vulgariser
Ja raison, pour la consaerer en tradition“, sagt G. Tarde.) Dies aber
kann es nach Grabowsky „immer nur im Verfolg der Anschauungen,
die es vorfindet“. Welch Widerspruch! —
Nun ist überhaupt der Wahrheitswert einer Meinung von ihrer
Entstehung völlig unabhängig. Genetische Erklärung reicht zur
Rechtfertigung nicht nur nicht aus, sondern ist zur Rechtfertigung nicht
einmal erforderlich. Der Satz „Es läßt sich zwar erkenntnistheoretisch
eine reine Vernunft konstruieren, für die Praxis jedoch ist stets eine
historische Gebundenheit unseres Denkapparates gegeben“ ist ebenso
richtig wie nichtssagend; er mengt, in bekannter Psychologisten-
Manier, die beiden prinzipiell möglichen Fragestellungen, die kritisch¬
normative und die psychologisch-genetische, durcheinander und kommt
sich, dieweil er nebeneinander Antworten auf beide Fragen erteilt,
als der Ausdruck einer neuen Weltanschauung vor. Es ist gerade
so, als wenn jemand äußerte; „Der Himmel ist zwar blau, die Katzen
jedoch kriegen Junge . . .“ Wenn wir irgend ein Urteil daraufhin
prüfen wollen, ob es richtig ist, so müssen wir die Vernunft anwenden;
wünschen wir aber seine historisch-psychologische Enstehung zu er¬
forschen, dann müssen wir uns natürlich an die Erfahrung wenden.
Untersuchen wir nun seine Entstehung, so präsentiert sich und die
„historische Gebundenheit“, und die reine Vernunft geht uns gar nichts
an; untersuchen wir aber seinen Wahrheitswert, so wird unsere Ver¬
nunft aktuell, und die „historische Gebundenheit“ läßt uns kalt
(Wenn wir die Farbe des Himmels feststellen wollen, dann kann es
uns gleichgültig sein, ob die Katzen Junge kriegen).
YVie steht es nun aber mit der unglückseligen „Abruptheit“ und
ihrem gepriesenen Antipoden, als welcher „die Allmählichkeit“ oder
„das Organische“ heißt? Mit Worten läßt sich trefflich streiten, solange
man sich darüber ausschweigt, welche Begriffe man mit ihnen ver¬
bindet. Was heißt denn „abrupt“? Soll damit ausgedrückt werden,
daß eine Neuerung sich ohne Kausalität, außerhalb des Nexus
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298
IX. Kujrt Hiller
von Ursache und Wirkung, vollzieht? Dann gäbe es doch überhaupt
nichts im Bereiche der menschlichen Erfahrung, was diese Bezeichnung
verdiente; denn ebensowenig, wie wir einen Vorgang raumlos und
zeitlos uns vorzustellen vermögen, ebensowenig können wir ihn als
ursachlos begreifen — wie ja Grabowsky, trotz seiner unfreund¬
lichen Beziehungen zur reinen Vernunft, wohl wissen wird. Kau¬
salität ist ja nichts weiter als die Tendenz unseres Verstandes, alle
Data der Erfahrung in einen Zusammenhang und unter einen Hut
zu bringen, — weiter nichts als das grandiose Kuppel-Bedürfnis
unseres Intellekts, das (gleichsam um sich vor sich selbst zu entschuldigen)
den Trick beliebt, sich ins Universum zu stürzen und so zu tun,
als ob es daselbst wie eine „Eigenschaft“ existierte und von den
Dingen her wie eine absolute Potenz in unser Denken einströmte.
Bedeutet also „Abruptheit“ Mangel an Kausalzusammenhang, so
bin ich beim besten Willen und beim ehrlichsten Nachdenken nicht
imstande, auch nur einen einzigen Fall zu ersinnen, wo der Vor¬
wurf der Abruptheit gerechtfertigt wäre; könnte er doch a priori,
kraft der Struktur unseres Verstandes, niemals auf Wahrheit be¬
ruhen. — Was hingegen soll „abrupt“ sonst bedeuten? Es bliebe
höchstens noch übrig: eine Gradbezeichnung. Dann würde der
Adhibent dieser Terminologie dort, wo er von „abrupter Veränderung“
spricht, eine Veränderung meinen, die recht rasch vor sich geht,
und unter „allmählicher Veränderung“ eine recht 1 angsame Ver¬
änderung verstehen. Nun sind ,,rasch“ und „langsam“ aber
nicht qualitativ sondern quantitativ voneinander verschieden;
es sind korrelative Begriffe; es gibt nicht „rasch“ schlechthin
und „langsam“ schlechthin, es gibt lediglich „rascher“ und" „lang¬
samer“. Schon aus dieser formal-logischen Situation geht hervor,
daß ein „Gesetz“, nach welchem der geschichtliche Ablauf „rasch“
oder „langsam“ erfolge, unmöglich ist. WennjGr abo wsky also mit
Wärme betont, im Begriff der Allmählichkeit liege die Zurückweisung
jeder abrupten Veränderung, so gilt für dieses Diktum (wenn ich
unbeanstandet lasse, daß in einem „Begriff“ eine „Zurückweisung“ liegen
soll) dasselbe, was ich schon von einem andern seiner Aussprüche prädi-
ziert habe, und was wohl noch für manches der Philosopheme dieses
Yernunftgegners gilt: es ist ebenso richtig wie nichtssagend! Ei freilich
liegt im Begriff des Langsamen eine Negation des Raschen; so wahr etwa
im Begriff des Dicken eine Negation des Dünnen liegt —; aber so wenig
hieraus zu schließen ist, daß die Welt dick sei, so wenig folgt daraus,
daß der Ablauf des Geschehens ein allmählicher wäre. Eine solche
Behauptung entbehrt nicht bloß wegen der Relativität des Begriffes
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,Experim entalj urisprudenz“.
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„allmählich“ jeden Sinnes, sondern man müßte ja auch, um der¬
artiges festzustellen, eine zweite Welt vergleichsweise heran¬
ziehen!
Ich will dahingestellt sein lassen, ob uns dieses merkwürdige
Gesetz der Allmählichkeit dadurch sinnvoller erscheinen könnte, daß
wir die Überzeugung hätten, Grabowsky glaube wenigstens persön¬
lich daran. Jedenfalls ist solche Überzeugung von vornherein ausge¬
schlossen; schränkt er es doch selber, kraft einer sozusagen skeptischen
Anwandlung, durch die Parenthese ein: „extreme Katastrophen
scheiden hier natürlich aus“. Fürwahr eine hübsche Gesetzmäßigkeit,
die Ausnahmen kennt! So karikiert spiegelt sich die Natur in den
Augen eines, der die Vernunft verachtet! Kosmische Nezessität mit
zehn Prozent Rabatt! Übersetzen wir nämlich Grabowskys ein
wenig wabbelig formulierte Metaphysik ins Deutsche und Feste, so
lautet sie: „Die Geschichte verläuft allmählich, mit Ausnahme der
Fälle, wo sie nicht allmählich verläuft" . . .
Hierbei blüht uns immerhin der Trost, daß gegen ein „Naturge¬
setz“, dessen Daseinsunmöglichkeit wir schon aus logischen Er¬
wägungen erkannten, Grabowsky wenigstens aus empirischen
Gründen mißtrauisch wird, und daß eine Hypothese, deren Unsinn
uns a priori klar war, jenem doch a posteriori fragwürdig zu
werden beginnt.
Aber supponieren wir selbst einmal die Existenz eines derartigen
Gesetzes, wonach das Tempo der geschichtlichen Veränderung sich
immer gleich bleibt und überall ein „allmähliches“ ist: so wäre der Hin¬
weis auf dieses Gesetz, als Einwendung gegen irgend einen Abände¬
rungsvorschlag, eine überflüssige Lufterschütterung; denn jenes Gesetz
verhütete dann ja schon von selber die Möglichkeit einer Verwirklichung
des Vorschlages! Jedes Naturgesetz bietet durch sein einfaches Bestehen
eine Garantie dafür, daß es nicht übertreten wird; denn würde es
übertreten werden, so verlöre es damit seinen Charakter als Naturgesetz.
Die Argumentation „wir dürfen dies nicht abschaffen und jenes nicht
einführen, denn, wie die Geschichte lehrt, verläuft die Entwicklung
allmählich und nicht abrupt“ gehört zu den miserabelsten Unlogiken
der Erde, und ein Mensch von intellektueller Rechtschaffenheit, vermag
nur auf zwei Weisen darauf zu reagieren: entweder mit einem Blut¬
sturz logischer Empörung, oder mit humorvoller Einreihung dieser
Perlein seine Sammlung denkfehlerhafterRedewendungen. Diese teuflische
Argumentation aber ist (weil sich unsereiner fast wehrlos gegen ihre
Verdrechseltheit fühlt) bei den Zagebolden und Ideenbremsern aller
soziologischen Gruppen äußerst beliebt; man sperrt sich gegen die
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IX. Kürt Hiller
Einsicht, daß jene angebliche Lehre von der Allmählichkeit ja gerade
durch eine „abrupte“ (das heißt: rasche) Einführung des geplanten
Neuen — die man bekämpft — Lügen gestraft werden würde; daß
sie dadurch sich entpuppen würde als Humbug und Schwindel. In
Wahrheit will man die Langsamkeit und bekämpft die rasche Ver¬
änderung daher als Mittel zu einem nicht gewollten Zweck;
man gibt jedoch vor, die Langsamkeit (als ein Gesetz) zu erkennen
und bekämpft nun die rasche Veränderung als etwas „leider, wie die
Welt nun einmal ist,“ Unmögliches. Jetzt aber habe ich euch,
unredliche Moralisten der Beharrung: Wie kann man etwas
bekämpfen wollen, was gar nicht eintreten kann? Wie
kann man sich gegen die Verwirklichung eines Zustandes
wehren, dessen Verwirklichung infolge eines Naturge¬
setzes unmöglich ist? — Das ist ja gerade so, wie wenn einer,
der den freien Willen leugnet, dagegen polemisiert, daß er sich
betätige!
Im übrigen hat jene Argumentation den vollkommenen Still¬
stand zur Konsequenz. Sie ist konservativer als die konservativsten
Parteien; denn noch die konservativsten Parteien wollen den Fort¬
schritt. Wenn jedesmal beim Auftreten einer Ncucrungsidee ihre
Realisierung hintangehalten wird mittelst der Erwägung, daß die
Entwicklung allmählich und von selber kommen müsse, aber nicht
abrupt und kraft menschlicher Vernunft, — dann gelangen wir im
Rollen der Jahrtausende nicht einen einzigen Schritt vorwärts; und
wenn der Historismus zur Zeit der Troglodyten erfunden worden
wäre (und niemals inzwischen die Macht eingebüßt hätte), dann
würden wir heute noch, alle miteinander, in den Höhlen herumkriechen,
struppig, wild, dumpf, und geschlagen mit einer Blödheit, wie sie tat¬
sächlich glücklicherweise nicht die Regel bildet ....
Außer der „Zurückweisung jeder abrupten Veränderung“ liegt
nun nach Grabowsky noch eine zweite „Tatsache“ im „Begriff der
Allmählichkeit“, nämlich die, „daß im Früheren die Tendenz auf das
Spätere sich zeigt“. Wie überaus wahr! Der Vernunftverachter er¬
öffnet uns hier, daß auch für Ideen — das Kausalitätsgesetz gilt.
Zweifellos ist jedes Ethos, bevor es ausgesprochen, propagiert oder
gar verwirklicht wird, irgendwie vorbereitet gewesen. Aber diese
genetische Tatsache spricht weder für, noch gegen die inhaltliche Be¬
rechtigung irgend eines Ethos. Man muß den Determinismus nicht
dahin mißverstehen, daß mit der Unfreiheit des Willens sub specie
causali eine Unfreiheit des Willens sub specie teleologica verbunden
wäre. So sehr jedes Wollen bedingt ist, so sehr fühlt sich das ver-
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.Experimentaljurisprudenz“.
301
nünftige Wesen frei, sich und anderen Zwecke zu setzen. Gerade
der sich frei fühlende Wille bildet einen wichtigen Faktor inner¬
halb des geschichtlichen Geschehens. Freilich vermag der Rück-
wärtsblickende der Vergangenheit eine Tendenz zu entnehmen
(wiewohl in unserm so zerfahrenen Zeitalter nur mit größten Schwierig¬
keiten) und aus den vielen einander entgegengerichteten Strömungen
die Resultante, die^in die Zukunft weist, mit einem gewissen Anspruch
auf Wahrscheinlichkeit herauszuprophezeien — ich erinnere an den
v. Lisztschen Begriff der „Prognose“ —: allein des Vorwärts¬
blickenden teleologisch freier Wille ist durch dergleichen (approxi¬
mative) Erkenntnis in keiner Weise gebunden; wenn der Erklärende
das Vorhandensein von Tendenzen feststellt, so proklamiert der
Wertende damit nicht ihre Berechtigung. Daraus, daß ein Zu¬
stand wahrscheinlich ist, folgt mitnichten, daß er gut sein würde.
Wenn ich also in meiner von Grabowsky inkriminierten Studie
nachgewiesen hätte, daß meine „Tendenz“, die verlangte Tötung, das
Duell, den Inzest, die Päderastie und die Abtreibung zu strafrechtlich
erlaubten Handlungen zu machen, sich „im Früheren“ bereits „zeige“,
ihre geschichtlichen Wurzeln habe, — so hätte ich damit über die
Berechtigung dieser Tendenz nichts ausgesagt; und umgekehrt
war ich, um die Tendenz zu legitimieren, keineswegs genötigt, die
Frage, ob sie sich bereits ,,im Früheren zeige“, überhaupt erst zu er¬
örtern. Psychologisch gesprochen, ist die Tendenz jedes Individual¬
willens determiniert durch irgend eine Tendenz der Zeit; aber,
normativ gesprochen, ist der Wert der Tendenz eines Individualwillens
völlig unabhängig davon, ob sie zugleich Tendenz der Zeit ist oder
nicht. Auch hier dringt man nicht zur Klarheit, wenn man nicht
die kausale und die teleologische Betrachtung, die Begriffe Ursache
und Grund, Wirkung und Zweck streng auseinanderhält. —
Jedenfalls glaube ich bewiesen zu haben, daß die Ansicht, die
„Historik“ sei geeignet, „Zielpunkte einer Kultur zu geben“, einfach
objektiv falsch ist. Es ist dies nicht etwa eine Frage des Standpunktes,
sondern eine Frage der Logik . . .
Der Gedankengang, der uns zu diesem Entscheid bringt, ist
keineswegs neu; aber es gibt Erwägungen, die garnicht oft genug
angestellt werden können, wenn die Philosophie der Werte endgültig
befreit werden soll von jener Psychose, unter der sie seit den Tagen
der historischen Schule steht. Rudolf Stammler hat sich fast ein
Vierteljahrhundert lang die Finger wund geschrieben, um auch den
trägsten Intellekten klarzumachen, daß Erfahrung nicht Bewertung,
Genetik nicht Systematik, Ursachenforschung nicht Zweckbetrachtung,
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302
IX. Kurt Hiller
Historie nicht Philosophie ist; und so sehr man als konsequenter
Kritizist wird zu bezweifeln haben, daß der Inhalt des Seinsollenden,
den er statuiert, wissenschaftlich begründet ist, so sehr wird man ihm
dankbar sein müssen, für die Schärfe, Entschiedenheit und Unermüd¬
lichkeit, mit der er den formalen Charakter des Seinsollenden als
einer dem Seienden logisch entgegengesetzten Kategorie und eines
vom Seienden methodisch zu trennenden Gegenstandes auseinandergesetzt
hat. Deswegen war ich auch im Recht, wenn ich Stammler einen
Vorkämpfer der jungen kritischen Rechtsphilosophie nannte; und
Grabowskys mit der wohlwollenden Überlegenheit eines Onkels
vorgetragener Ratschlag, ich möge von Stammler „erst einmal
lernen, wie man auf Realitäten achtet“, nimmt sich gar lustig aus als
Apercu eines Schriftsellers, der den Stammler sehen Grundgedanken
— der mir vor drei Jahren, als ich das Buch schrieb, bereits ganz
geläufig war — heutigen Tages noch nicht erfaßt hat!
Nach dem Vorangegangenen wird jedem auch deutlich sein, daß
Grabowskys sarkastische Festellung, ich sei „natürlich durchaus
Antihistoriker“, auf Irrtum beruht. Ich bin weder natürlich noch
durchaus noch überhaupt Antihistoriker. Ich fühle mich frei von
Feindschaft gegen die Geschichte, frei von Feindschaft gegen die, so
die Geschichte als „Wissenschaft“ betreiben. Nicht einmal die philo¬
sophische Abneigung gegen Kärrner und Kleinkram wissen, deren
sich Grabowsky rühmt, eignet mir, und ich kann es, im Gegensatz
zu dem Vernunftbekämpf er, sehr gut verstehen, daß die „genaueste
Kenntnis der punischen Kriege“ für einen Amateur von größtem
Interesse ist. Warum aber etwas inhibieren, was, ohne schädlich zu
sein, irgendwem zur Lust gereicht? Man muß, meine ich, zur Historie
ähnlich stehen wie zur Philatelie: Geschichte treiben und Briefmarken
sammeln — beides Tätigkeiten, die, als mehr oder minder geistreiche
gesunde und standesgemässe Sports, ihre Existenzberechtigung haben,
weil sie das Dasein um eine Nüance bereichern und das Glücksge¬
fühl vieler Individuen zu erhöhen imstande sind; die freilich ihre
Existenzberechtigung nur so lange haben, als sie nicht aus den
Schranken ihrer Natur treten, sich als Unentbehrlichkeiten aufspielen,
sich mit anmaßlichem Getue und lästiger Vordringlichkeit in andere
Disziplinen einmischen. Erklären die Philatelisten eines schönen
Tages, die Geographie (beispielsweise) bedürfe zu ihrer Fundamentie¬
rung der „Philatelistik“, so müßte man solche Prätention als Phila-
telismus zurück weisen, ohne damit die Philatelie zu verdammen;
und wenn ich dagegen protestiere, dass die „Historik“ sich in einem
Bezirk, wo sie nicht hingehört, nämlich im Normativen, breit macht,
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( Experimentaljurisprudenz“.
303
— wenn ich zu verhindern suche, daß die Kritik bestehenden Rechtes
durch geschichtliche Betrachtungen getrübt werde, so befehde ich
nicht die Historie, sondern den Historismus.
Ich wäre also nur dann Antihistoriker, wenn ich die Geschichte
mit der Anwendung der Geschichte auf Wertproblematik identifi¬
zierte. Diesen Pehler aber begehe nicht ich, diesen Fehler begeht
Grabowsky. Allerdings ist eine solche Verwechslung nicht ver¬
wunderlich bei jemandem, der über das Wesen des Wertproblems
sehr dunkle Vorstellungen hat, der ganz arglos behauptet, es komme
gar nicht darauf an, „ob eine Sache richtig sei, sondern darauf, daß
die Sache in allen nur irgend möglichen Meinungen gespiegelt wird.“
Ein interessantes Bekenntnis! Wenn dem nämlich wirklich so ist,
dann kommt es ja auch gar nicht darauf an, ob diese Auffassung
Grabowskys („es kommt gar nicht darauf an, ob eine Sache richtig
sei, sondern darauf, daß die Sache in allen nur irgend möglichen
Meinungen gespiegelt wird“) richtig sei, sondern darauf, daß sie in
allen nur irgend möglichen Meinungen gespiegelt wird. Ich nun
spiegele sie hiermit ergebenst in der meinigen und konstatiere, — daß
sie falsch ist!
Schlimm genug für den achtenswerten Denker Hermann U.
Kantorowicz, daß dieses Grabowsky-Bekenntnis — worin aus.
drücklich dem Sammeln der Vorzug vor dem Denken gegeben wird
— so stark an die Doktrin des „Relativismus“ erinnert. Auch der
„Relativist“ verschmäht es ja, das Wagnis zu unternehmen, ein
Problem zu lösen, hält es vielmehr für seine Anfgabe, herauszutüfteln,
wie das Problem von den verschiedenen möglichen Standpunkten
aus gelöst werden müßte. Eine solche Beschäftigung nun mag für
gewisse Brillenträger den Wert eines amüsanten Gesellschaftsspiels
haben —: daß es irgendwelche „wissenschaftliche“ Bedeutung besitze,
das schwatze man uns nicht auf! Und man suche sich auch nicht,
wie Grabowsky, herauszureden mit dem Hinweis auf die gemein-
plätzige Tatsache, dass wir in einer Welt der Kompromisse leben,
und daß Politik treiben resignieren heißt. Solchem Hinweis nämlich
liegen wieder einmal etliche Konfusionen zugrunde; er setzt sich
nicht nur über den Unterschied zwischen Politik und politischer
Philosophie mit eleganter Unbekümmertheit hinweg, sondern zieht
auch lediglich eine vereinzelte Art von Politik in Betracht: nämlich
die Tätigkeit derer, die dazu berufen sind, an der Leitung eines
Gemeinwesens teilzunehmen. Solche werden sich freilich, wenn sie
„schwere rechtliche Erschütterungen“ vermeiden wollen, ein für alle¬
mal dazu entschließen müssen, unter Hintansetzung ihrer persönlichen
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304
IX. Kubt Hillek
Prinzipien (wofern sie sich solcher erfreuen) nach Prinzipien zu re¬
gieren, welche sich aus den verschiedenen Parteiprinzipien annähernd
als das arithmetische Mittel ergeben, — was man dann ja wohl „die
Politik der mittleren Linie“ oder „Opportunismus“ nennt. Freilich
ist auch die einer derartigen Staatsweisheit innewohnende Moral keine
absolute; sie gilt bloß hypothetisch; nämlich unter der Bedingung,
daß jene „schweren rechtlichen Erschütterungen“ vermieden werden
sollen. Nun kann man aber auch das Gegenteil von einem Quietisten
sein, und meinen, daß ersprießliche Zustände nur auf dem Umwege
über Erschütterungen herbeizuführen sind, und es hat in der Tat
Staatsmänner dieses Schlages gegeben (die schlechtesten sind sio
wahrlich nicht gewesen): ich erinnere an Friedrich den Großen, an
Napoleon, an Bismarck.
Hat mithin Grabows kys Religion des Kompromisses bereits
für den Regierungsmann nur eingeschränkte Bedeutung, so verliert
sie jeden Wert für den anderen Typus des Politikers, für die Persön¬
lichkeit, die auf die Leitung des Gemeinwesens in bestimmter Richtung
Einfluß ausüben will. Hier erweist sich das Kompromiß als das
ausgesucht verkehrteste aller denkbaren Prinzipien; hier kommt um¬
gekehrt gerade die Forcierung und Übertreibung als Grundsatz in
Frage; denn nur wenn man mehr verlangt, als man eigentlich haben
will, hat man Aussicht, wenigstens so viel zu erreichen, als man
haben will. Es ist die Idee des „Schreiens“, deren überragenden
Wert die radikalen Gruppen rechts und links in den Parlamenten
längst erkannt haben. Natürlich, wenn es endlich zum Klappen
kommt („dritte Lesung“), dann kann der Weg des Kompromisses
immer noch beschritten werden — wo nicht das Zweiparteiensystem
herrscht, ist der Kuhhandel unvermeidlich —: aber deshalb von
vornherein auf die prinzipielle Klarlegung seiner Ansichten ver¬
zichten und schon im ersten Stadium des Kampfes mit Konzessionen
aufwarten, das heißt doch, sich ohne zureichenden Grund kasteien
und der Idee, die man angeblich vertritt, einen erbärmlichen Dienst
leisten. Mit einem Kompromiß einsetzen, bedeutet: mit einem Kom¬
promiß zwischen der gegnerischen Ansicht und diesem Kompromisse,
also mit einem Kompromiß in der zweiten Potenz, schließen.
Grabowsky räumt ja selber ein: „Absolute Partsimänner sind
notwendig, um die Regierung anzuregen.“ Wie reimt sich das zu¬
sammen mit der Bemerkung, daß Politik treiben resignieren heißt?
Und was hat es für eine Bewandnis damit, wenn er mir auf Grund
der Auffassung, daß absolute Parteimänner in der Regierung selbst
völlig unmöglich seien, einen Mangel an Resignation vorwirft? Ich
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„Experimentaljurisprudenz“.
305
teile ihm hierdurch ergebenst mit, daß ich es bisher noch nicht zum
Staatssekretär des Reicksjustizamtes gebracht habe! —
Wenn Grabowsky also schreibt: „Der Politiker hat Ansichten
auch oft genug anzunehmen, die er nicht teilt“, so ist das, als asser¬
torisches Urteil, die Konstatierung einer über jeden Zweifel erhabenen
Wahrheit; aber eine Forderung aus dieser erweislich wahren Tat¬
sache abzuleiten, ist unbegründet. Um solche falschen Verallgemeine¬
rungen zu machen, hätte sich der Vernunftbekrieger gar nicht erst die
Mühe zu geben brauchen, jene tiefsinnige Unterscheidung zwischen
„homo politicus“ und „Kulturmensch“ heraufzubeschwören, die S o m-
bart, von dem sie stammt, ganz anders gemeint hat, und die für den
homo politicus (der Grabowsky so gern sein möchte) so außer¬
ordentlich schmeichelhaft ist!
Durch das Motto, das ich meiner Schrift vorangestellt, hatte ich
mich solidarisch erklärt mit Oscar Wi 1 des. Überzeugung, „das
jeder kultivierte Mensch, der die Ansichten seiner Zeit annimmt, da¬
mit eines der schwersten Sittlichkeitsverbrechen begeht“. Dieses
Zitat, behauptet nun Grabowsky, habe mit meinen Ausführungen
innerhalb der Schrift „gar nichts zu tun“; denn während es sich auf
Kulturmenschen beziehe (das tut es zweifellos!), seien meine Ausfüh¬
rungen „politisch gerichtet“. — Wären sie’s, so würde der Ausspruch,
falls man sich nicht zu der kompromittierenden Religion des Kom¬
promisses bekennt, durchaus auch für sie gelten; aber sie sind gar
nicht „politisch gerichtet“; ihnen wohnt keineswegs die Tendenz
inne, eine Regierung oder ein Parlament irgendwie zu beeinflussen;
sie wenden sich überhaupt nicht an Praktiker (weder an Praktiker
der Juristerei noch an Praktiker der Politik), sondern an Theoretiker,
will sagen: an Menschen, deren Beruf oder Neigung es ist, über die
fraglichen Themata Reflexionen anzustellen. Das Thema meiner
Ausführungen ist freilich Politik; deshalb sind diese aber noch lange
nicht „politisch gerichtet“. Zwar ihr Gegenstand, aber nicht ihr
Inhalt ist ein politischer . . . Hier greift das Platz, was ich an¬
fänglich über die bei Grabowsky fehlende Differenzierung zwischen
Politik und politischer Philosophie geäußert habe. (Wo es ihm
übrigens in den Kram paßt, weiß er beide Begriffe auch zu sondern,
und während er auf Seite 89 meine Ausführungen als „politisch ge¬
richtete“ abstempelt, versichert er auf Seite 90: „Hiller will ja
Wissenschaft treiben, nicht Agitation“). Wenn sich nun über den
Spruch „Politik treiben heißt resignieren“ vielleicht noch streiten
läßt, so ist doch das Apercu „Politische Philosophie treiben heißt
resignieren“ ganz und gar indiskutabel. Grabowsky allerdings
Archiv für Kriminalanthropologie. B7. Bd. 20
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IX. Kurt Hillek
erklärt: „Die wissenschaftliche Politik 1 ) . . . soll sich in die Rolle
des Regierenden hineinfühlen und damit aus den relativen Wahr¬
heiten der verschiedenen Parteidoktrinen etwas annähernd Absolutes
herausdestillieren“. Der Vernunftbefehder hat hiermit die europäische
Philosophie um einen interessanten Begriff bereichert, um den des
„annähernd Absoluten“. Ich will nicht verfehlen, rechtzeitig auf
diese wertvolle erkenntnistheoretische Entdeckung aufmerksam zu
machen; verdient doch schon allein um ihretwillen der Name Gra-
bowsky mit güldenen Lettern in das Buch der Philosophiegeschichte
eingezeichnet zu werden . . . Was hat man sich nun unter dem
„annähernd Absoluten“ vorzustellen? Vielleicht erhellt das am besten,
wenn man noch den früheren Satz heranzieht: „Absolute Parteimänner
sind notwendig, um die Regierung anzuregen“. Man kombiniere die
beiden Dikta; dann ergibt sich: Absolute Parteimänner sind solche,
welche relativ wahre Parteidoktrinen aussprechen. Addiert man nun
die relativen Doktrinen der absoluten Männer (vorausgesetzt daß der¬
gleichen arithmetische Experimente gelingen) und dividiert die Summe
der Doktrinen durch deren Anzahl, so eklatiert als Quotient das
„annähernd Absolute“. Da jedoch die Doktrinen der „absoluten“
Parteimänner — kraft des Sprachgebrauchs, den zu erläutern augen¬
blicklich meine beneidenswerte Aufgabe ist — als „relativ wahr“ zu
gelten haben, und nicht einzusehen ist, warum den Doktrinären ein
Prädikat versagt werden soll, das man ihren Doktrinen einräumt,
so darf man statt von „absoluten Parteimännern“ auch von „relativen
Parteimännern“ reden. „Absolut“ und „relativ“ erfreuen sich in dieser
Terminologie also synonymer Bedeutung! Was hinwiederum dem
„völlig Absoluten“ recht ist, das ist dem „annähernd Absoluten“
billig; und so kommen wir denn zu dem Resultat, daß Grabowsky
unter dem „annähernd Absoluten“ das annähernd Relative
versteht!
Aber lassen wir die formal-terminologische Komik dieser Theorien
schon auf sich beruhen, so bleibt doch immer materiell als etwas, wo¬
gegen man laut protestieren muß, jene Auffassung übrig, deren Formel
lautet: Ihre Ansichten sind falsch, denn Sie werden damit nicht durch¬
dringen. Die ganze Cynik des Opportunismus, die Überlegenheits¬
heuchelei des Idealisten a. D. haust in dieser — Destille des annähernd
1) Ich leugne die Möglichkeit einer Politik als „Wissenschaft“. (Begründung:
Aschaffenburgs Monatsschrift Band VI, Seite 618ff.) Aber da Grabowsky das
Problem, ob Politik als Wissenschaft möglich ist, vollkommen unerörtert läßt, so
nehme ich an, daß er unter „wissenschaftlicher Politik“ das versteht, was ich
hier „politische Philosophie“ nenne.
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, Experimental j urisprudenz “.
307
Absoluten. Die Charakterlosigkeit wird hier zur sittlichen Forderung
erhoben und „wissenschaftlich“ frisiert.
Wem auf der Welt will Grabowsky eigentlich noch das Recht
zugestehen, seine aufrichtige Meinung zu sagen und seinen wahren
Willen uneingeschränkt auszusprechen? Der Politiker soll „Ansichten
annehmen, die er nicht teilt“, der politisch Philosophierende soll sich „in
die Rolle des Regierenden hineinfühlen“: also der Politiker soll nicht
ehrlich sein dürfen, und der Philosoph soll nicht ehrlich sein dürfen; —
heiliger Himmel, soll denn in diesem gelobten Zeitalter der „Entwick¬
lungsidee“ niemand mehr die Befugnis haben, ehrlich zu sein?
„Jawohl, der Kulturmensch!“ wird mir vielleicht Grabowsky
entgegenrufen. Dann aber frage ich: Woher wissen Sie, daß ich
„Das Recht über sich selbst“ nicht in meiner Eigenschaft als „Kultur¬
mensch“ geschrieben habe? Woher wissen Sie das? Möglicherweise
nämlich lautet eine meiner heimlichen Überzeugungen, daß der Kultur¬
mensch stets als solcher aufzutreten habe; also auch, wenn er Politik
oder politische Philosophie treibt. Was sageich „aufzutreten habe“?
— nein: daß er stets als solcher auftritt. Denn wer es fertig be¬
kommt, seine „Kultur“ hin und wieder abzulegen, der zeigt eben
damit, daß ihm das, was er „Kultur“ nennt und womit er sich spreizt,
nichts Innerliches, Eingewurzeltes, Konstitutionelles ist, sondern etwas
Äußeres, Affektiertes, Künstliches; ein Kleid oder Hemde, dessen sich
der Träger jederzeit mühelos zu entledigen vermag. Erklären, der
kultivierte Mensch müsse gelegentlich auch mal unkultiviert sein, heißt:
sich selber als einen unkultivierten Menschen kennzeichnen. Oder als
einen Snob (und das ist noch übler). —
Damit hätte ich wohl die beiden Hauptvorwürfe Grabowskys:
ich bediente mich der Vernunft und ich äußerte meine Meinung, hin¬
reichend charakterisiert. Die mehr speziellen Einwände kann ich nicht
ausführlich behandeln; denn es widerstrebt mir, mein Buch noch einmal
zu schreiben. Insbesondere über das „Moralische“, jene nach Gra¬
bowsky „nicht wegzudisputierende Macht, die dann des Rechts¬
schutzes würdig ist, wenn sie intensivste Interessen aus sich heraus¬
stößt“, wüßte ich nichts zu sagen, was ich nicht im Kapitel XI des
Buches (und in neueren Aufsätzen) bereits gesagt habe. Auch hätte
es wenig Wert, das tiefste und peinvollste aller menschlichen Probleme
mit einem Schriftsteller zu diskutieren, der darüber erstaunt ist, daß
man eine objektive Sittlichkeit leugnen und „doch“ eine objektive
Vernunft annehmen kann!
Ich will daher, so reizvoll das auch sein mag, weder auf seine
Versuche, „der Natur einen Willen abzulesen“, noch auf seine Ein-
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308
IX. Kurt Hitler
teilung der'rechtsschutzwürdigen Interessen in „soziale“ und „historische“
eingehen; auch nicht untersuchen, welche Bedeutung für die Reform
des deutschen Strafrechts seine Studien über Dönmes und Samoaner
haben; ich will sogar die goldene Ahnungslosigkeit unbeleuchtet
lassen, mit der er — ohne ein Wort der Begründung — dekretiert,
daß „der Gesetzgeber sich nach den historisch begründeten Volksan¬
schauungen“ richten müsse; ebenfalls die schöne Folgerichtigkeit, die
darin liegt, daß er es zwar ausdrücklich ablehnt, „das Problem
des Malthusianismus aufzurollen“, aber trotzdem wie von einer fest¬
stehenden Tatsache davon redet, daß durch die Bestrafung der Frucht¬
abtreibung der Staat eine „regelrechte Dezimierung seiner Bevölkerung
im Interesse dieser Bevölkerung zu verhüten sucht“. Und
auch darüber, daß er einmal von einem Recht redet, welches „nicht
aus der bloßen Vernunft, sondern unmittelbar aus der Menschennatur
heraus geboren wird“, brauchen wir uns nicht zu erregen; wer Ver¬
nunft und Menschennatur als Gegensätze faßt, der spricht offenbar
aus innerer Erfahrung . . .
Ernsthaft zu rügen ist jedoch der Versuch Grabowskys, seinen
Lesern vorzuspiegeln, ich sei im Gegensatz zu ihm, bevor ich die Straf¬
losigkeit gewisser Handlungen fordere, garnicht erst „in eine Prüfung
darüber eingetreten, ob hier nicht doch eine Interessenverletzung vor¬
liegen könne“. Diese Behauptung ist unwahr; wie jedermann sich
durch Einsichtnahme in mein Buch überzeugen kann, läuft sie der
empirischen Wirklichkeit strikte zuwider ....
Am Schluß seiner Erörterungen besteigt der „Historik“-Apostel
noch einmal das Schlachtroß der Methodenlehre und reitet eine letzte
Attacke gegen die Vernunft; die „gleichsam das Formale .ist, welches
das Materiale nach allen Richtungen hin begrenzt“. Weil die Ver¬
nunft „gleichsam das Formale“ ist, muß man sie, meint er, verpönen.
Dagegen lobt er die „Experimentaljurisprudenz“. Merkwürdig, daß
er selber, bei seinen Äußerungen über Strafwürdigkeit, keineswegs
„experimentell“ verfahren ist, sondern durchaus rationalistisch, ab wägend
die Gründe pro und contra. Aber das tut ja weiter nichts; i wo; es
„hat natürlich in der Wissenschaft die Billigkeit neben den
Realitäten zu stehen“. (Wörtlich!) — Kuddelmuddel als kritisches
Principium!
Und endlich holt er zum schwersten Schlage aus: „Hitler treibt
Rechtsphilosophie, und das ist der Grund, weshalb seine Ausführungen
unfruchtbar bleiben“. Rührend; und ein vernichtender Orakelspruch.
Rechtsphilosophie heißt die Quelle alles Übels, und weil ich ver¬
rucht genug bin, solche Teufelskunst zu treiben, darum bleiben meine
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„ExperimentaljurisprudeDz“.
309
Ausführungen unfruchtbar. — Aber, Verzeihung, sind denn meine
Ausführungen „unfruchtbar“? Wie kommen Sie, Verehrtester, eigent¬
lich dazu, meine Ausführungen „unfruchtbar“ zu nennen? Ich finde
selbige äußerst fruchtbar, sie führen zu höchst klaren und eindeutigen
Resultaten, und wenn diese Resultate mit den Ergebnissen Ihrer
Experimentaljurisprudenz auch vielfach nicht übereinstimmen, so
haben sie doch vor jenen den Vorzug,' systematisch und ohne Ver¬
stöße gegen den Satz vom Widerspruch gefunden worden zu sein.
Jedenfalls aber sind sie da; und wenn Sie das Recht haben, sie an¬
zugreifen, so haben Sie doch nicht das Recht, sie wegzuleugnen!
Oder bezeichnen Sie eine Ansicht dann als „unfruchtbar“, wenn Sie
der Ihrigen widerspricht? Eine solche Terminologie wäre gewiß
originell, aber wenig zu empfehlen; denn wenn man sie anwendet,
so verdächtigt man einen ernsthaft Nachdenkenden der intellektuellen
Impotenz, einen erfolgreich Deduzierenden des leeren Geredes. „Un¬
fruchtbar“! Es gehört eine tüchtige Portion Selbstbewußtsein dazu,
fremde Früchte glattweg für nicht vorhanden zu erklären, weil sie
anders aussehen als die eigenen . . .
Wie verhält es sich nun mit der argen Rechtsphilosophie?
„Für spezifisch juristische Dinge hat nämlich -an Stelle der Rechts¬
philosophie die allgemeine Rechtslehre zu treten“. Hört, hört! „Für
spezifisch juristische Dinge“! Wofür wohl ist dann aber die Rechts¬
philosophie gut? Offenbar für spezifisch medizinische oder für spe¬
zifisch theologische oder für spezifisch physikalische, chemische,
litterarhistorische, sprach-, kriegs-, tief bau wissenschaftliche Dinge! —
Für spezifisch philosophische Dinge wahrhaftig nicht; denn für
spezifisch philosophische Dinge ist Phil osophie nützlich; philosophia
generalis, nicht Rechtsphilosophie.
Die Schärfe, mit der Grabowsky die „spezifisch juristischen
Dinge“ präzisiert, wird aber noch übertroffen, durch (die Schärfe der
Definition, die er von „Rechtsphilosophie“ und „allgemeiner Rechtslehre“
gibt. Sie lautet: „Während der Rechtsphilosoph gleichsam von außen
an die Dinge des Rechtslebens herantritt, sucht die allgemeine Rechts¬
lehre von innen heraus auf die Rechtswissenschaft einzuwirken“.
Auf diese scharfe Trennung der beiden Disziplinen, sagt Gra¬
bowsky, habe er übrigens schon in seiner Schrift „Recht und Staat“
aufmerksam gemacht. Ich kenne diese Schrift nicht und werde sie
auch nicht kennen lernen, denn es verstieße gegen elementare Regeln
meiner psychischen Diätetik, wenn ich das Buch eines Autors läse,
der sich durch reine Vernunft gekränkt fühlt —: aber ich gebe
Grabowsky die Versicherung, daß auf diese „scharfe Trennung“
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310
IX. Kürt Hiller
schon so mancher vor ihm „aufmerksam gemacht“ hat; außer dem
Kohler-Konzern eigentlich so ziemlich jeder, der sich über Methoden
und Grundlagen der Rechtsphilosophie ausgesprochen hat. Jedenfalls
schließt Grabowsky unberechtigterweise von sich auf andere, wenn
er behauptet, man werfe die beiden Disziplinen fast stets durcheinander.
Er freilich fabelt von 'einem Unterschied zwischen „den allgemeinen
Lehren jeder Wissenschaft“ und der „Philosophie über eine
Wissenschaft“, als ob das Recht eine Wissenschaft und Rechts¬
philosophie nicht Philosophie des Rechts, sondern Philosophie der
Juristerei wäre!
Zuzustimmen ist Grabowsky darin: daß die o Wissenschaft, im
Gegensatz zur Philosophie, vor gewissen Problemen haltzumachen
habe; daß sie sich der Lehre der Kirche nähere; daß sie — wie
diese — ausgehen müsse von festen, nicht weiter problematisierbaren
Sätzen. In der Tat ist der Unterschied zwischen der Wissenschaft,
„allgemeine Rechtslehre“ und der Rechtsphilosophie kein anderer als
der zwischen Dogmatik und Kritik. Allgemeine Rechtslehre be¬
steht darin, daß aus der Fülle des Rechtsstoffes, aus dem Komplex
äußerlich kohärierender positiver Normen auf abstraktivem Wege
generelle Normen, Obersätze gewonnen werden, Prinzipien,
die ihrerseits wiederum positiv sind, das heißt: Erkenntnis¬
gründe des Seienden, aber niemals Erkenntnisgründe des Seinsollenden
repräsentieren. Übrigens braucht sich die allgemeine Rechtslehre
keineswegs darauf zu beschränken, nur die Gemeinsamkeiten und
Obersätze der verschiedenen Paragraphen eines Gesetzbuchs oder der
verschiedenen Rechtsgebiete eines nationalen Rechtes aufzuklären,
vielmehr kann sie es auch als ihre Aufgabe ansehen, die Gemeinsam¬
keiten und Obersätze der verschiedenen nationalen Rechte, die uns
geschichtlich gegeben sind, herauszufinden und festzustellen, so daß sie
zu Erkenntnissen gelangen würde, die einen internationalen und sogar
panhistorischen, überzeitlichen Wert hätten; aber immer nur einen
empirischen, nie einen normativen Wert! Die allgemeine Rechtslehre,
mag sie auch vom Allgemeinen ins Allgemeinste hinaufsteigen und
sich verflüchtigen in luftigste Blasen der Abstraktion, kann stets nur
Idiographie, niemals Nomothese sein; stets nur Lehre de lege lata
(oder besser: de legibus latis), niemals Lehre de lege ferenda; stets
bloß Interpretation von Vorhandenem, niemals Legitimation von Vor¬
handenem.
Wer daher Probleme der Nomothese, der Lex ferenda, der Le¬
gitimation, kurzum Probleme des richtigen Rechts behandeln
will, dem nutzt die allgemeine Rechtslehre gar nichts, der muß viel-
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mehr Rechtsphilosophie treiben. Meine Schrift nun behandelt solche
Probleme; ich stelle auf Seite 5 ausdrücklich als ihre Aufgabe fest,
„darzulegen, durch welche Normen des geltenden deutschen Rechts
die Verfügungsbefugnis des Individuums über sich selber eingeschränkt
wird, und zu untersuch en, obdieseNormen haltbar sind“.
Eine solche Aufgabe kann nur philosophisch gelöst werden. Mir
zum Vorwurf zu machen, daß ich Rechtsphilosophie treibe, während
„wir heute allgemeine Rechtslehre stärker brauchen als Rechts¬
philosophie“, hat infolgedessen gerade soviel Sinn, als wenn man einem
Dichter vorwürfe, daß er Worte schreibt, „während wir heute Musik
stärker brauchen als Litteratur“.
Natürlich ist es „eine Frage der Selbstbegrenzung, ob man Rechts¬
philosophie oder allgemeine Rechtslehre treiben will“ (so wahr es
eine Frage der Selbstbegrenzung ist, ob man Aeroplane bauen oder
Heringe bändigen will), und sicherlich wiid „den geborenen Juristen
die innere Stimme dazu anrufen, zunächst seiner Wissenschaft die
Früchte seiner Tätigkeit zukommen zu lassen“. Allein es gibt noch
andere achtbare Qualitäten an Menschen als die, ein „geborener Ju¬
rist“ zu sein, und wen die „innere Stimme“ dazu anruft, nicht Juris¬
prudenz zu treiben, sondern — nachzudenken, der wird die Früchte
seiner Tätigkeit eben der Philosophie zukommen lassen!
Ich habe gar nichts dagegen, wenn der geborene Jurist Gra-
bowsky sich mehr zur Jurisprudenz als zur Philosophie hingezogen
fühlt und ängstlich darauf bedacht ist, „sich nicht in Probleme (zu
verlieren, die mit der Rechtswissenschaft direkt nichts mehr zu schaffen
haben“: aber er möge dann anders organisierten [Leuten, die sich
(aus Neigung oder Pflicht) in diese Probleme „verlieren“, gefälligst
nicht Vorhalten, daß ihre Methode der Methode der Rechtswissenschaft
nicht entspricht. Oder sollte, weil Dr. Adolf Grabowsky ein ge¬
borener Jurist ist, mir verboten sein, Rechtsphilosophie zu treiben? —
Der allerletzte Einwand des Vernunftbenörglers lautet: daß ich
zwar Rechtsphilosophie treiben möchte, aber doch nicht so weit ginge,
alles zu problematisieren; ich stellte mich vielmehr auf den Stand¬
punkt der reinen Vernunft und machte damit die größte Voraussetzung,
die sich überhaupt machen lasse. — Mit welchem Recht ich mich
auf den „Standpunkt der reinen Vernunft“ gestellt, glaube ich im
Anfang dieses Aufsatzes hinreichend auseinandergesetzt zu haben; es
genügt, wenn ich wiederhole: daß man auf Kriterien für die Richtig¬
keit eines Urteils entweder verzichten oder Erkenntnisse der reinen
Vernunft als solche Kriterien anerkennen muß. Ohne das, was die
vollkommenste unter den erkenntniskritischen Schulen der Gegenwart,
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312
IX. Ktjet Hiller
die neofriesianische, das „Selbstvertrauen der Vernunft“ nennt, läßt sich
nicht nur keine Wissenschaft, sondern auch keine Philosophie treiben.
Dieses Selbstvertrauen der Vernunft ist nicht etwas, was sich als
richtig beweisen läßt; sondern es ist da oder es ist nicht da.
Ich habe es. Wem es fehlt, der ist — ich weiß nicht ob lächerlich
oder bedauernswert, aber jedenfalls nicht dazu qualifiziert, jemals den
Mund aufzutun und ein Urteil zu fällen; tut er das dennoch, so kann
er immerhin nicht beanspruchen, für ernst genommen zu werden.
Freilich ist die Vernunft — eben weil ihre Legitimität bloß aus
innerer Erfahrung und nicht aus höherem kritischen Prinzip herge¬
leitet werden kann — eine „Voraussetzung“. Aber da keine Philo¬
sophie sich ohne diese Voraussetzung denken läßt, so bedeutet es
keinen Einwand gegen meine strafrechtsphilosophische Studie, daß
sie von dieser Voraussetzung ausgeht. Und wenn Grabowsky sich
als |Entdeeker dieser Voraussetzungshaftigkeit der reinen Vernunft
sehr erwachsen vorkommt, so erlaube ich mir, bescheidentlich daran
zu erinnern, daß das erste Kapitel meines Buches von nichts anderem
handelt als von den „Voraussetzungen kritisch-normativer Straf¬
rechtswissenschaft“, zu denen ich in erster Linie die Logik und die
metaphysischen Grundsätze — also das, was Grabowsky „diereine
Vernunft“ nennt — rechne. Was mir daher der „Entdecker“ .... mit
überlegenem Pathos entgegenruft, ist mir selbstverständliche und be¬
wußte Grundlage meiner Erörterung gewesen. —
Ziehen wir das Resume, so bleibt die Impression von einem
Manne, der zwar ein „geborener Jurist“ ist, aber ein Dilettant in
philosophicis. Und obendrein noch ein Arrangeur herrlicher Stilbeete.
Er bemüht sich, „die sogenannte Voraussetzungslosigkeit der Wissen¬
schaft kurz ins Auge zu fassen“; er wirft mir vor, ich ließe „das
Moralische unter den Tisch fallen“; er spricht von Ehen, die „unter
dem Druck des herannahenden Kindes“ geschlossen werden; er kon¬
statiert einen Unterschied zwischen positiver Rassenverschlechterung und
„bloßem Sichentziehen von der Fortpflanzung“, und er kennt eine
„Macht, die intensivste Interessen aus sich herausstößt“. Aber ergötz¬
licher noch als sein Deutsch ist sein Kampf gegen die reine Vernunft.
Und so hoffe ich denn (und versuche, diese Hoffnung in seiner Sprache
zu formulieren): möge der gespannte Fuß, auf dem Grabowsky
mit der reinen Vernunft steht, sich bald eine Friedenspfeife ver¬
wandeln, die er mit ihr raucht!
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X.
Beitrag zur Psychologie des Kindesmordes.
Von
Margarete Meier.
Aus dem Universitätsinstitute für gerichtl. Medizin in Zürich.
Einleitung.
„Kindsmord“ im Sinne dieser Arbeit fällt nicht zusammen mit
dem strafrechtlichen Begriff des Kindsmordes. Nach dem Vorentwurf
zu einem schweizerischen Strafgesetzbuch, § 54, bedeutet der letztere
die vorsätzliche Tötung eines Kindes durch die Gebärende, während
diese noch unter dem Einfluß des Geburtsvorganges steht. Nach dem
deutschen Strafgesetz, § 217, versteht sich darunter nur die Tötung
eines unehelichen Kindes in oder gleich nach der Geburt, durch die
Muttter und das französische Strafgesetz bezeichnet als Kindsmord
(infanticide) die Ermordung eines neugeborenen Kindes, gleichviel
durch was für eine Person. Das Wesentliche des juristischen Be¬
griffes ist also nach all diesen Gesetzen die Tötung des Kindes in, oder
bald nach der Geburt, wobei einzelne Staaten als Tatbestandsmerkmal
noch die Eigenschaft der unehelichen Geburt, und die meisten
Staaten diejenige der Ermordung durch die eigene Mutter verlangen.
Der Sinn dieser Beschränkung des juristischen Begriffes ist der,
daß in den Ländern deutscher Zunge das unter die zitierten Be¬
stimmungen fallende Verbrechen milder bestraft wird, als gewöhnlicher
Mord. So wird in der Schweiz (nach dem projektierten Gesetz) Kinds¬
mord mit Zuchthaus von 2—6 Jahren bestraft, gewöhnlicher Mord mit
lebenslänglichem Kerker. Das französische Gesetz, umgekehrt, weist
der Ermordung des neugeborenen Kindes deshalb eine Sonderstellung
an, weil es sie härter bestraft wissen will, als diejenige eines ältern
Kindes, dessen Existenz nicht verborgen bleiben konnte, und das also
schon von den allgemeinen Garantien des Lebens umgeben ist, und
nicht, wie das verheimlichte Neugeborene, spurlos zum Verschwinden
gebracht werden kann.
In der vorliegenden Arbeit aber bedeutet Kindsmord gemäß dem
Material, das zur Untersuchung zu Gebote stand, die Ermordung eines
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314
X. Margarete Meier
Kindes durch seine Mutter, unbekümmert um die seit der Geburt ver¬
strichene Zeit; für einen Fall sogar muß der Begriff noch auf die
Tötung durch die Großmutter ausgedehnt werden. Trotzdem wird
die Diskussion der aus der Kasuistik gezogenen psychologischen
Schlüsse sich hauptsächlich mit der Prüfung der Gründe zu be¬
schäftigen haben, welche die Gesetzgeber zu einer milderen Bestrafung
der Ermordung des Neugeborenen, veranlaßten; ja, gewissermaßen
wird die Vergleichung der Gründe, welche eine Mutter dazu führen,
in irgend einem Zeitpunkt nach der Geburt ihr Kind zu töten, durch
sich selbst eine Kritik bilden für die Voraussetzungen, die man für
die Ermordung Neugeborener, bzw. neugeborener unehelicher Kinder
glaubte machen zu sollen. Vielleicht ergeben sich für alle diese Fälle
gemeinsame Gesichtspunkte, welche die mildere Bestrafung des Kinds¬
mordes auch in dem erweiterten Sinne des Wortes, wie es in dieser
Arbeit gebraucht ist, und wie es der Laie in juristischen Sachen
versteht, rechtfertigen, und nicht nur dann, wenn die einschränkenden
Bedingungen des Gesetzes erfüllt sind.
„Der legislative Grund für die mildere Behandlung der Kindes¬
tötung“, sagt v. Liszt im Lehrbuch des deutschen Strafrechts,
„liegt einerseits in der Stärke der die unehelich Gebärende zur
Tötung treibenden Motive, anderseits in der durch den Gebärakt
hervorgerufenen Unzurechnungsfähigkeit. Ob diese Gründe eine so
weitgehende Berücksichtigung verdienten, mag hier dahingestellt
bleiben. Jedenfalls ist anzunehmen, daß der Gesetzgeber den erstem
dieser beiden Gesichtspunkte für entscheidend betrachtet, da der
zweite in gleicher Weise auch für die ehelich Gebärende zutreffen
kann.“
Wenn wir die im letzten Satze enthaltene Erwägung für das
deutsche Gesetz als zutreffend anerkennen müssen, so ergibt sich für
das schweizerische, das zwischen ehelich und unehelich Gebärenden
nicht unterscheidet, gerade das Umgekehrte: Der schweizerische Ge¬
setzgeber muß das Schwergewicht auf die „durch den Gebärakt
hervorgerufene Unzurechnungsfähigkeit“ gelegt haben, da die „die
unehelich Gebärende zur Tötung treibenden Motive“ (Furcht vor
Schande und Elend) für die eheliche Mutter nicht, oder jedenfalls
nicht in gleicher Stärke in Betracht zu fallen scheinen. In der Tat
wurde in den Verhandlungen der Expertenkommission über
den Vorentwurf zum schweizerischen Strafgesetzbuch von Grete ne r
wiederholt hervorgehoben, daß durch die Fassung des Art. 54 die
geminderte Zurechnungsfähigkeit zum Tatbestandsmerkmal der Kindes¬
tötung erhoben werde, daß also, wo eine Geburt leicht vonstatten ge-
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Beitrag zur Psychologie des Kindesmordes.
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gangen sei, so daß eine Beeinflussung des geistigen Zustandes da¬
durch nicht habe stattfinden können, die mildere Bestrafung nicht ein¬
zutreten habe, sondern die gleiche Strafe wie für gewöhnliche vor¬
sätzliche Tötung ausgesprochen werden müsse. Und das gelte auch,
führt er weiter aus, für die außerehelich Gebärende, wo noch das
vom Entwurf nicht besonders berücksichtigte Motiv der Rettung der
Geschlechtsehre und die bedrängte Lage der Mutter in Betracht falle.
Trotz dieser gewiß sehr berechtigten Einwände behielt die Kommission
die vorgeschlagene Bestimmung bei, offenbar deshalb, weil sie den
Anstrengungen des Geburtsvorganges einen schwerwiegenden Einfluß
auf die Psyche der Gebärenden zuschreibt und, wenn ich eine Be¬
merkung von Bärlocher richtig verstehe, deshalb, weil der so¬
genannte Ehrennotstand, die Furcht vor Schande, und der finanzielle
Notstand auch dann zu einer ganz bedeutenden Strafmilderung führen
können, wenn das Verbrechen nach den Bestimmuugeu der gewöhn¬
lichen vorsätzlichen Tötung zur Aburteilung gelangt.
In einem im November 1906 in der forensisch-psychologischen
Vereinigung in Heidelberg gehaltenen Vortrag über „Kriminalpsycho¬
logie und Strafpolitik“ unterzog Prof. Hans Groß die legislativen
Gründe der milden Bestrafung des Kindsmordes einer scharfen Kritik,
nachdem er zuvor für die Strafpolitik im allgemeinen den Grundsatz
aufgestellt hatte, sie müsse das psychologische Prinzip viel mehr be¬
rücksichtigen, als es bisher der Fall war. Entgegen den Ausführungen
v. Liszts sagt er, das Strafmildernde bei der Kindstötung müsse der
abnorme Zustand bei der Geburt sein, denn, wenn der Ehrennotstand
maßgebend sein sollte, so wäre die Bestimmung „in oder gleich nach der
Geburt“ ungerechtfertigt, indem der Fall denkbar sei, daß der „Ehren¬
notstand“ beispielsweise erst nach 5 Jahren eintrete, wenn es dem
Mädchen solange gelungen wäre, die Geburt zu verheimlichen und
Entdeckung erst dann drohe.
v. Liszt begründete, wie oben zitiert, seine Ansicht, der Ehrennot¬
stand sei ausschlaggebend, damit, daß der abnorme Zustand bei der
Geburt bei ehelich und außerehelich Gebärenden der gleiche sei,
während das Gesetz ja nur von den unehelichen Müttern spreche.
Es liegt da in der Tat in der Fassung des deutschen Gesetzes ein
gewisser Widerspruch; für das schweizerische Gesetz haben wir
die Auffassung von Groß bereits als richtig nachgewiesen; sie wird
auch für das österreichische Recht, das den Begriff der Kindestötung
nicht auf uneheliche Kinder beschränkt, zutreffen.
Groß kommt aber nach weiterer Diskussion der Verhältnisse zu
dem Schlüsse:
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X. Margarete Meier
„Die gesamten psychopathischen Einwirkungen bei und nach der
Geburt, welche seit ungefähr 100 Jahren im Strafrecht eine so große
Eolle gespielt und so viele Schwierigkeiten verursacht haben, müssen
aus unsern Erwägungen völlig ausgeschlossen werden: sie haben
psychologisch nie gewirkt.“
Diese Ansicht, die, nach Gleispach, „in dieser Schroffheit und
Allgemeinheit vor Groß noch nie vertreten wurde“, stützt der Autor
damit, daß er sagt, in allen Fällen, wo ein Kind bei der Geburt ge¬
tötet wurde, habe die Mutter die Schwangerschaft geleugnet, habe keine
Vorbereitungen getroffen, habe heimlich und ohne Beistand geboren; sie
habe also den Entschluß, zu töten, schon lange vor der Geburt gefaßt,
und sei nicht durch die Einwirkung des Geburtsvorganges dazu ge¬
trieben worden.
Der Vortrag von Groß rief eine Reihe verdienstvoller Arbeiten
über die Frage hervor.
Zunächst bewies Prof. Graf Gleispach in einer an psycho¬
logischem Verständnis und feinen Beobachtungen reichen Abhandlung
an der Hand von Beispielen, daß ein Mädchen unter Beistand ge¬
bären und doch im ersten unbewachten Moment das Kind töten kann;
ferner, daß die Unterlassung von Vorbereitungen usw. durchaus nicht
schon die Fassung eines Tötungsentschlusses bedingt; vielmehr komme
es vor, daß glückliche, verheiratete Frauen, die des liebevollsten Bei¬
standes sicher sein können, aus lauter Furcht vor den Schmerzen der
Geburt jeden Gedanken an die Gravidität verdrängen und somit auch
die Vorbereitungen unterlassen. Für die uneheliche Mutter aber
sei eine Sorge während der Schwangerschaft vorherrschend, die¬
jenige, sich ja nichts merken zu lassen. Denke sie an die Zukunft,
so rechne sie nach dem, was sie schon gelesen und gehört habe, auf
irgendwelche günstige Umstände: 1. Sie kann es im letzten Augen¬
blick noch sagen, dann hat man Mitleid mit ihr und schickt sie nicht
fort; oder. 2. sie kann bei der Geburt sterben und ist dann allem ent¬
hoben; 3. das Kind kann tot zur Welt kommen. Sie wird sich ev.
auch mit dem Gedanken an Selbstmord beschäftigen und neben diesen
Hoffnungen und Befürchtungen kann vielleicht auch der Gedanke
auftauchen, das Kind zu töten, aber nicht dominierend und nicht als
fester Entschluß, sondern nur neben und versteckt hinter allem
Übrigen.
Amschi, „Der Kindsmord nach österreichischem Recht“, bringt
Kasuistik und findet, „daß der Typus des „Ehrennotstandes“ zu den
größten Seltenheiten, derjenige der Sinnesverwirrung zu den Aus¬
nahmen zählt.“
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Beitrag zur Psychologie des Kindesmordes.
317
Bischoff „der Geisteszustand der Schwängern und Gebärenden“
ist im wesentlichen der Ansicht Gleispachs. Er findet im übrigen,
daß Geisteskrankheit und vorübergehende abnorme Geisteszustände
bei Entbindungen selten sind und vorwiegend bei Disponierten Vor¬
kommen. Besondere Verhältnisse, unter denen es zu krankhafter Ver¬
änderung der Geistestätigkeit kommen kann, sind 1. abnorm starke
Schmerzen, anormaler Geburtsverlauf, sehr große Blutverluste; 2. Ohn¬
mächten, 3. pathologische Affekte bei psychopathisch veranlagten
Frauen; 4. Bewußtseinsveränderungen bei Hysterie und Epilepsie;
5. Eklampsie.
Eine besondere Disposition zum Kindsmord findet er bei geistes¬
schwachen ledigen Erstgebärenden.
Plempel, „Zur Frage des Geisteszustandes der heimlich Ge¬
bärenden“, findet in 5 Fällen aus seiner gerichtsärztlichen Praxis nichts
von pathologischer Erregtheit durch den Geburisvorgang oder von
pathologischen Affekten. Dagegen fand er in allen den sogenannten
Ehrennotstand (die Furcht vor Schande) als ursächliches Moment
wirksam und meint, auch die Betrachtung seiner Fälle ergebe, daß
in der Tat
„die erschütternden und schwächenden Einflüsse beim Geburts¬
vorgang derart verwirrend wirken, daß die Furcht vor Not und
Schande mit abnormer Kraft ausgestattet wird und die normalen
Instinkte auf Beschützung des Neugebornen überwältigt“.
Wir sehen also auf der einen Seite in der Gesetzgebung der
Länder deutscher Zunge das Bestreben, den Kindsmord milde zu be¬
handeln, auf der andern Seite aber Unklarheit und Widersprüche
über die Gründe der gewollten Privilegierung und ihre Be¬
rechtigung. Dieses Verhältnis zeigt deutlich, daß es sich um sehr
komplizierte und schwer zu fassende Dinge handelt. Größere Klar¬
heit kann wohl nur an Hand von größerem Beobachtungsmaterial
geschaffen werden. Die nachfolgenden Beispiele dürften daher nicht
unwillkommen sein.
Beispiele.
Fall 1. Frau Cäcilie T. in S. war das Kind armer Eltern und
hatte noch 8 kleine Geschwister. Ihr Vater war viel kränklich (tuberkulös ?),
er starb mit 58 J. Zuviel getrunken habe er nicht. Sie heiratete mit
23 Jahren einen Mann, der wahrscheinlich damals schon gern trank. Doch
störte das die Frau damals nicht: „Wenn man so jung ist, bekümmert
man sich nicht darum. Ich meinte auch, was ich habe, wenn ich nur sein
schönes Gesicht sah“, sagt sie. Bald nach der Hochzeit kam das erste
Kind. Die jungen Eheleute nahmen die Eltern des Mannes zu sich. Frau
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X. Margarete Meier
T. machte 6 Geburten durch; nur 1 Kind starb. Solange die Kinder klein
waren, arbeitete die Frau zu Hause auf der Seidenwindmaschine, später
ging sie ins Kundenhaus. Die Eltern des Mannes brachten keinen Segen
in den Haushalt, sie legten der Schwiegertochter in den Weg, was sie
konnten. In der Erziehung der Kinder, die ihnen zum großen Teil über¬
lassen blieb, da beide Eltern auswärts waren, sollen sie so unheilvoll ge¬
wirkt haben, daß weder Vater noch Mutter eine Autorität über dieselben
hatten. Der Großvater trank sehr viel und war als Dieb von allerlei Klein¬
zeug berüchtigt. Die Großmutter lag schließlich 5 Jahre lang krank und
ließ alles unter sieh gehen. 28 Jahre lang, bis die alten Leute hochbetagt
starben, dauerte die gemeinsame Haushaltung.
Der Ehemann T. arbeitete nach der Hochzeit zunächst als Geselle,
fing dann aber bald mit geborgtem Geld ein eigenes Geschäft an. Das
Geschäft hätte gut gehen können, der Mann saß aber tagelang im Wirts¬
haus und vernachlässigte alles. Er mußte denn auch bald liquidieren und
hatte nachher Schulden abzuzahlen. Die Frau war dem Wirtshaustreiben
gegenüber machtlos; manchmal, wenn sie so zu Hause saß und der Mann
nicht zum Geschäfte sah und nicht heimkam, dachte sie: „0 wenn ich nur das
Wirtshaus anzünden könnte!“ Nach dem Geschäftskrach arbeitete der Mann
wieder als Geselle, er hatte um 6 Uhr Feierabend, kam aber nie vor
8—10 Uhr nach Hause. Den ganzen Sonntag saß er in der Kneipe. Er
möge wohl alle 14 Tage wenigstens 10 Frk. fürs Wirtshaus ausgegeben
haben. Außerhalb des Hauses ist er liebenswürdig und gilt für einen
braven Mann. Die Frau ist unterdessen immer allein und „darf nur keinem
Menschen ein Wort klagen“. Will sie ihn vom Wirtshaus zurückhalten,
wird er grob und schimpft sie: „Du die, diese und jene“. Der älteste
Sohn lernt einen Beruf; sobald er fertig ist, geht er von zu Hause fort
und heiratet. Die älteste Tochter, Schneiderin, läuft heimlich von zu Hause
fort und geht nach Z. „Was sie dort machte, konnte ich ja nicht sehen“,
sagt die Mutter. Die Tochter wird unverheiratet gravid, entbindet in Genf.
Die Mutter selbst reist nach Genf und holt die Tochter mit ihrem
Knaben. „Damals“, sagt Frau T., „bin ich herumgelaufen wie eine Sterbende,
so schwer hat es mich gedrückt, daß die Tochter s o gekommen ist. Hätte
ich nur damals sterben können!“ Diese Tochter heiratete später einen
anderen Mann, nahm anfänglich ihren Knaben zu sich, mußte ihn aber
dann den Eltern wieder bringen, weil ihr Mann ihn nicht leiden konnte.
Seither ist der Knabe bei den Großeltern; Vater T. sei im ganzen gut zu
ihm; nur im betrunkenen Zustande schimpfe er, daß er den auch noch er¬
nähren müsse. 3 Jahre nach der ersten, kam die zweite Tochter mit einem
unehelichen Kinde nieder. Die Mutter war zufällig an dem Tage nicht im
Kundenhaus; sie leistete selbst der Tochter Beistand und rief keine Heb¬
amme, „damit es nicht bekannt werde.“ Ihr sei alles schrecklich gewesen,
sie habe gedacht, sie müsse sonst schon Tag und Nacht schaffen und
müsse nun auch noch für dieses Kind sorgen; der Mann werde wieder
immer schimpfen, wenn er betrunken sei und das Kind werde ein armes
„verschupftes“ Geschöpf sein, wie es der erste uneheliche Enkel auch wäre,
wenn sie nicht für ihn sorgte. Lange leben werde sie ja doch nicht mehr
und wer werde dann für diese Kinder sorgen? (Die Frau war damals
52 Jahr alt und stand im Klimakterium). Außerdem dachte sie sich, wie
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Beitrag zur Psychologie des Kindesmordes.
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die Leute nun wieder über ihre Tochter reden würden. Sie läßt durch-
blicken, daß sie vor der Geburt hoffte, das Kind werde totgeboren oder es
geschehe irgend ein Zufall, daß es gleich sterbe. Die Geburt erfolgte
Mittags gegen 12 Uhr; das Kind lebte. Jeden Augenblick mußte der
Mann zum Mittagessen kommen. Natürlich würde er schimpfen! Mit rascher
Hand deckte nun Frau T. über das im Bett liegende Kind die Bettdecke,
damit es ersticke und verbot der Tochter, die Decke wegzunehmen. Dann
ging sie in die Küche und machte das Mittagessen. Als sie nach einer
halben Stunde wieder kam, war das Kind tot; sie versteckte es und dem
heimkehrenden Mann sagte sie, die Tochter habe eine „Verschüttung“ (Abort)
gehabt. Das Kind wurde eingepackt, bekam einen Stein um den Hals und
wurde in den See geworfen.
Nach einigen Wochen wurde die Leiche entdeckt und die Mutter dann
natürlich auch bald gefunden. Die Tochter T. wurde freigesprochen, da
man annahm, ihr Geisteszustand sei durch die Geburt so verändert ge¬
wesen, daß Einsicht und Willenskraft herabgesetzt gewesen seien, und sie für
die bloße Unterlassung der Rettung des Kindes nicht verantwortlich ge¬
macht werden könne. Die Mutter T. aber wurde auf Grund ihres Geständ¬
nisses vom Obergericht zu 3 Jahren Zuchthaus verurteilt, obwohl die Ob¬
duktion nicht mehr imstande war, naehzuweisen daß das Kind gelebt
hatte.
Die Familie T. wird von den Nachbarn als grob bezeichnet, die Leute
hatten unerhörte Benennungen für einander. Gerade die Tochter 0., deren
Kind die Großmutter tötete, sei sehr grob, dazu „hoffärtig“. Die Töchter
standen in schlechtem Rufe, sie waren leichtsinnige Mädchen, die alles
mitmachten. Wenige Sonntage nach der Verurteilung der Mutter sah man
sie auf dem Tanzboden. —
Frau T. ist eine korpulente Frau mit enorm großem Kropf und
Kropfstridor. Das Gesicht wird beim lebhaften Sprechen schnell kongestioniert,
und sieht etwas gedunsen aus. Auch die Hände erscheinen etwas gedunsen.
Reflexe und körperlicher Status sonst normal. Keine auffälligen Degene¬
rationszeichen. Sie hat ein nicht unintelligentes, aber eitles Gesicht. Eitel¬
keit und eine gewisse Oberflächlichkeit zeigt sich auch darin, daß das
„schöne Gesicht“ ihres Mannes einen so bestimmenden Eindruck auf sie
machte, daß sie darüber vergaß, vor der Ehe an seinem Hang zum Trünke
Anstoß zu nehmen.
Auf ihre Töchter war sie sehr stolz; sie erzählte mit Wohlgefallen,
sie seien wie der Vater, lebenslustig und aufgeweckt. Um die Kinder immer
ordentlich anzuziehen, habe sie die ganzen Nächte durchgearbeitet und oft
hätten sich die Nachbarn aufgehalten, daß sie sie immer so hübsch halte.
„Vielleicht habe ich darin nur zuviel getan“. Im übrigen ist sie psychisch
normal. Sie weiß wohl, daß sie eine Sünde begangen hat, aber der Herrgott
werde ihr das alles verzeihen, denn er wisse ja, was sie alles durchgemacht
habe und daß das Kind doch stets ein „armer Tropf“ geblieben wäre.
Hätte sie nur genug zu leben gehabt, so würde sie dem Kinde nichts ge¬
tan haben. Über die über sie hereingebrochene Schande weint sie den
ganzen Tag und bittet Gott jeden Tag um den Tod. Dabei kümmert sie
den ganzen Tag, wie es wohl zu Hause gehe, ob wohl jemand für ihren
jüngsten 12 jährigen Sohn und den 3 jährigen Enkel sorge usw. Die
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X. Margarete Meier
Gründe, die sie zur Tötung des Enkelchens trieben, erschienen ihr auch
nach der Tat noch so zwingend, daß sie von den Richteru die gleiche Ver¬
zeihung erwartete, wie vom Herrgott. Das Urteil traf sie schwer.
Ihr Mann, 53 Jahr alt, macht den Eindruck eines ziemlich intelligenten
Mannes aus dem Volk. Das Gesicht ist alkoholrot, aber nicht übermäßig.
Das Unglück seiner Familie hat ihn schwer getroffen, was ihn aber nicht
hinderte, seine Frau im Untersuchungsgefängnis einmal in betrunkenem
Zustand zu besuchen. Die Frau sei immer recht gewesen, sagt er. Wenn
er nur eine Ahnung gehabt hätte, daß sie das tun würde, so hätte er es
verhütet; es sei ja jetzt alles viel schlimmer geworden. Sie hätten für das
Kind schon noch zu essen gefunden. Sie kämen überhaupt ganz ordent¬
lich durch, „hoffentlich, wenn drei Personen verdienen“.
Fall 2. Frl. B. N. in A., Tochter eines Landwirts, in guten
Familien Verhältnissen aufgewachsen. Intelligent, lebhaft. Besuchte 3 Jahre
die Sekundarschule und konnte dann gleich in die 2. Handelsschulklasse
eintreten. Nach Absolvierung der Handelsschule kam sie als Comptoiristin
in ein Geschäft nach A. Sie lebte mit einem Bruder, der Lehrer war, und
einer Schwester, ebenfalls Comptoiristin, zusammen. Beide Schwestern genossen
des besten Leumunds; sie lebten still und zurückgezogen und hatten keinen
Herrenverkehr. Tagsüber arbeiteten beide Schwestern im gleichen Bureau,
nach dem Bureau besorgt die jüngere, A., den Haushalt, B. machte Hand¬
arbeiten und besorgte die Kommissionen. Sie hatten die gleichen Bekannten,
machten, wie es schien, alle Besuche und alles gemeinsam. Sonntag
vormittags gingen sie in die Kirche, nachmittags machten sie einen ge¬
meinsamen Spaziergang. Sie waren in keinen Vereinen, beschäftigten sich
nicht mit sozialen Fragen, betrieben keine aufregende Lektüre, sondern
hielten sich in der Literatur hauptsächlich an die Klassiker. B. war leb¬
haft und lustig, gesellig veranlagt und auch überall beliebt; A. war die
unscheinbarere und ruhigere. So führten sie ungefähr 10 Jahre lang ein
Stilleben, in dem keine sexuelle Frage zu existieren schien. Wie es bei
„guterzogenen“ Mädchen, namentlich solchen, die früh in ein Bureau hinein¬
gesteckt werden, häufig der Fall ist, waren sie sehr prüd und hielten sich
in Sachen der Sexualität auf einer künstlichen Unwissenheit. Sie schliefen
im gleichen Zimmer und hatten scheinbar keine Geheimnisse voreinander.
Und doch lebte die ältere, B., lange Zeit einen Roman; der Held desselben
war ein verheirateter Mann, den sie in ihrem Bureau kennen gelernt hatte.
Der intime Verkehr dauerte 1 Jahr; Neujahr 1908 brach sie damit ab;
sie war aber schon seit November 1907 gravid. Sie soll es fertig gebracht
haben, ihren Zustand vor ihrer Schwester, mit der sie so eng zusammenlebte,
ganz geheim zu halten; wenn dies richtig ist, so kann es nur durch die
bereits erwähnte künstlich gezüchtete Unbefangenheit und Unwissenheit der
andern erklärt werden. Ende Juni 1908 kündigte sie mit ihrer Schwester
die Stelle „wegen einer Differenz mit einem neuen Chef“. Vom 6.—19.
Juli war sie im Engadin als Ladnerin. Sie fiel dort wegen ihrem Leibes¬
umfang auf. Am 19. VII. reist sie nach A., wo sie nachts 10 l /ü Uhr an¬
kommt und vom Bruder abgeholt wird. Zu Hause legt sie sich im gemein¬
samen Zimmer mit der Schwester schlafen. Um 2 Uhr nachts bekommt
sie Wehen, „heftigen Blutabgang und Abgang von großen Stücken“. Sie
stand auf und ging auf den Abort. „Immer seien große Stücke abgegangen
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Beitrag zur Psychologie des Kindesmordes.
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die alle in den Abort fielen“. Ein Kind will sie nicht gesehen haben.
Nach ca. 2 Stunden legt sie sich schlafen. Anderen Tags steht sie auf.
Die Schwester will von den Vorgängen der Nacht nichts wahrgenommen
haben; Kindergeschrei hörte sie nicht. Am Morgen seien keine Spuren
von etwas Besonderem zu sehen gewesen. B. sah in der nächsten Zeit
schlecht aus und war elend, wollte aber keinen Arzt konsultieren. Erst
nach 9 Tagen, als sie Schüttelfrost und 40 0 Fieber bekam, wurde ein
Arzt zugezogen, dem B. ein Märchen über Blutgeschwüre an der Gebär¬
mutter, die sich abgestoßen hätten, erzählte. Der Arzt konstatierte Status
puerperalis, und schlecht geheilten Dammriß II 0 . B. leugnete jedoch, eine
Geburt gehabt zu haben; sie blieb bei ihren phantastischen Erklärungen.
In einem Krankenasyl wurde die retinierte, in Zersetzung begriffene
Placenta entfernt. Es schloß sich an: Puerperalfieber, Pleuritis, Venenthrom¬
bose. Nach ca. 1 monatiger schwerer Krankheit konnte sie einvernommen
werden, leugnete zunächst alles, gab schließlich Schwangerschaft zu;
über die Vorgänge am 19. VII. blieb sie dabei, es seien große Stücke
abgegangen und sie habe kein Kind gesehen. „Einen bestimmten Zeitpunkt
für die Niederkunft hatte ich nicht ins Auge gefaßt. Bin eben in dieser
Beziehung dumm, sonst wäre ich nicht in diese Lage gekommen“.
Erst am 7. XII. konnte sie das Krankenhaus verlassen. Sie wurde
ins Untersuchungsgefängnis übergeführt, war aber noch sehr schwach; ein
konsultierter Arzt verlangte, daß sie neuerdings ins Spital gebracht werde.
Dies geschah am 9. XII: zwei Tage später wurde sie morgens um 1 1 j‘i Uhr
am Betthaken erhängt aufgefunden.
Ihrer Schwester und wie diese glaubt, auch dem Bruder gegenüber,
habe sie immer daran festgehalten, sie sei nicht schwanger gewesen und
habe nicht geboren. Von dem Kinde wurde niemals eine Spur gefunden.
Nach einer Photographie war sie ein hübsches Mädchen, mit intelli¬
gentem, durchaus nicht gewöhnlichem Gesicht und temperamentvollem Aus¬
sehen. Ihre Schwester weiß nur gutes von ihr zu erzählen; ihre Prinzipale
waren höchst zufrieden mit ihr und hatten sie nur ungern fortgehen sehen.
Das Pflegepersonal im Krankenhaus schildert sie als etwas eitel und ober¬
flächlich ; zuerst habe sie immer versucht, so zu tun, als sei gar nichts ge¬
wesen. Lebensmüd habe sie sich gar nicht gezeigt, im Gegenteil habe sie
sich gefreut, als es ihr wieder besser gegangen sei. Gegen das Ende ihres
Aufenthaltes habe sie einmal gesagt, sie sei dankbar, daß man sie nicht
habe empfinden lassen, was sie hergebracht habe; sie sei dafür ja genug
gestraft.
Ihr Geliebtei', dem sie charakteristischerweise in den Einvernahmen
stets einen höheren Titel gab, als ihm zukam, war ein gewöhnlicher Durch-
sehnittsmann, keineswegs ein Don Juan, aber der Versuchung gegenüber
jedenfalls sehr schwach. Er war verheiratet mit einer gewöhnlichen Frau,
die eifersüchtig und von engem Horizont zu sein schien. Er hatte keine
Kinder.
Fall 3. N. J., 26 Jahre alt, unverheiratet, Württembergerin. Sie
ist das Kind eines Tagelöhners. Ihre Mutter starb bei ihrer Geburt, Das
Mädchen wurde in der Waisen-Erziehungsanstalt ihres Heimatortes erzogen.
Mit 11 Jahren bekam sie eine Stiefmutter, konnte aber trotzdem nicht nach
Hause, sondern verblieb in der Anstalt. Ihr Vater trank „wenn er Geld
Archiv für Kriminalanthropologie. 37. Bd. 21
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X. Margarete Meier
hatte“, und scheint sich um die Kinder nicht bekümmert zu haben, die Stief¬
mutter ebenfalls nicht. Sie besuchte die Alltags- und Fortbildungsschule.
Mit 14 Jahren kam sie zur Wartung eines einjährigen Kindes an eine
Stelle. Nach ihrer eigenen Aussage besorgte sie ihre Obliegenheiten etwas
nachlässig. Sie wechselte die Stellen häufig, weil es ihr immer bald ver¬
leidet sei und sie Lust bekommen habe, anderswohin zu gehen. Im Ver¬
lauf von 10 Jahren hat sie an 20 Stellen gedient. Im Jahre 1905 kam
sie in die Schweiz, im Herbst 1906 nach A. Hier lernte sie einen
45 jährigen Witwer kennen, der sie schon beim zweiten Zusammentreffen
zu sich ins Haus einlud und sie überredete, die Nacht bei ihm zu bleiben.
Sie dachte, er würde sie heiraten, obschon er ihr das nie versprochen
hatte, sah aber bald ihren Irrtum ein. Sie ward von diesem Manne gravid. Ende
August 1907 kam sie aus einer Saisonstelle im Engadin nach A. zurück
und nahm Nachtquartier bei einer Stellenvermittlerin. Folgenden Tags ge¬
bar sie daselbst ohne Beistand ein lebendes Kind, das sie gleich nach der
Geburt mit einem Schuh auf den Kopf schlug, bis es nicht mehr schrie.
Die Tat hat sie nach ihrer eigenen Aussage mit vollem Bewußtsein be¬
gangen, ohne mit dem Kinde Mitleid zu empfinden- sie habe weiter nichts
gedacht, als: sie müsse machen, daß es nicht auskomme, sonst werde sie
verachtet. Sie hatte im Sinn, die Nacht abzuwarten, dann mit dem Leich¬
nam ihres Kindes in den See zu springen. Die Hausfrau fand sie einige
Stunden später im Zimmer am Boden liegend und sorgte dafür, daß sie
in die Frauenklinik gebracht wurde; dadurch wurde der Suicidplan
vereitelt.
Bei der Einvernahme war sie sofort geständig. Sie wurde zu 2 Jahren
Zuchthaus verurteilt.
Es handelte sich um ein mittelgroßes, etwas blasses und zart aus¬
sehendes Mädchen. Die Stirn breit, die Nase plump, aufgestülpt, an der
Wurzel eingedrückt, Ohren hochstehend, keine weiteren Degenerations¬
zeichen. Pupillen weit, auf Licht prompt reagierend, die Augen glänzend,
der Blick etwas steif, an den Blick Epileptischer erinnernd, die durch den
Beschauer hindurch etwas weiter Zurückliegendes zu betrachten scheinen.
Patellarreflexe leicht gesteigert. Seit dem 16. Jahr regelmäßig menstruiert,
nie krank. Hie und da bekomme sie Ohnmächten. Die Angaben hierüber
sind etwas problematisch und konnten auch vom Wartpersonal der Straf¬
anstalt nicht bestätigt werden, so daß keineswegs etwa mit Sicherheit auf
epileptische Äquivalente hätte geschlossen werden können.
Die Auffassung von Bildern ist verlangsamt und hie und da falsch
Sie liest „Das Linsengericht“ von Förster, etwas schwerfällig und schüler¬
mäßig, aber mit richtiger Betonung. Bei der Nutzanwendung: „sie ver¬
schenken ihre Ehre, ihr gutes Gewissen, ihr Lebensglück, bloß um irgend
eine Begierde schnell zu befriedigen; das Vergnügen ist dann schnell vorüber
und dann liegt das ganze lange Leben vor Einem wie ein grauer November¬
tag“, kann sie vor Weinen nicht weiterlesen. Den Sinn des für Knaben
und Mädchen von 13—14 Jahren berechneten Lesestückes hatte sie, wie
auch aus dem adaequaten Affekt hervorgeht, richtig erfaßt. Die Tötung
ihres Kindes bereut oder bedauert sie immer noch nicht; sie sagt zwar,
sie hätte es nicht töten sollen. Kinder dürfe man nicht töten, denn wenn
alle Leute das täten, gäbe es keine Menschen mehr.
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Beitrag zur Psychologie des Kindesmordes.
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Einen Unterschied zwischen Katholisch und Protestantisch kennt sie
nicht; die Konfirmation bedeute, daß man jetzt kein Kind mehr sei; das
Abendmahl, daß man mit Christus lebe. Im Zuchthaus werde man besser,
weil keine Versuchung mehr da sei.
Als eine der Grenzen Deutschlands wird Hamburg angegeben, das für
sich sei.
Der Aufenthalt im Kerker ist für sie sehr stark unlustbetont, die
Freiheit erscheint ihr höchst begehrenswert, der beim Lesen zutage ge¬
tretene Affekt beruhte mehr hierauf, als auf Reue oder Gewissensbissen.
Fall 4. M. H. 21 Jahre alt, aus dem Kanton Uri. Vater war
Bauer, und verunglückte vor 17 Jahren. 2 Jahre später heiratete die Mutter
wieder. Der Stiefvater war recht mit dem Kind, die eigne Mutter aber
bös und grob und ganz lieblos. Mit den Stiefkindern war sie besser als
mit dem eigenen. Die Mutter habe viel mit jungen Burschen verkehrt, das
Kind habe sie oft am Morgen schon mit dem einen oder anderen im Heu
oder Gras liegen sehen. Die Mutter sei lungenkrank gewesen.
Das Mädchen besuchte 6 Jahre die Primarschule, nachher war sie
schulfrei. Sie lernte schwer. Mit 13 Jahren kam sie in Stellung. Von
schlechten Stellen, wo sie geschlagen wurde, zu bessern in mannigfachem
Wechsel kam sie schließlich im Juni 1907 nach M. in ein Hotel; sie hatte
Wäsche und Lingerie zu besorgen und mußte manchmal servieren. Dort
lernte sie einen Geschäftsreisenden M. aus Zeh. kennen; dieser veranlaßte
sie eines Abends mit ihm und 12 Stammgästen zu trinken, bis sie beduselt
war. Nachher lockte er sie unter dem Vorwand, ihr Muster zu zeigen,
auf sein Zimmer, warf sie auf sein Bett und verging sich gegen sie. Sie behauptet,
auf dem Bett sofort eingeschlafen zu sein. Andern Tags äußerte sich M. in der
Wirtschaft, „die habe er erwischt“, und das Mädchen mußte täglich die
Spötteleien der Stammgäste über sich ergehen lassen. Von M. hörte sie
nichts mehr. Im Februar 1908 kam sie nach Z. um M. zu suchen; hei¬
raten hätte sie den M. nicht mögen, sie verabscheute ihn; aber sie
wollte, daß er für die Frucht jener Nacht, für das Kind, das sie erwartete,
sorgen müsse. Sie fand den M. nicht und nahm einen Dienst in einer
Wirtschaft an. Ihre Schwangerschaft verschwieg sie und es scheint, daß
sie dieselbe auch gut verbergen konnte, denn sie verlobte sich in dieser
Zeit mit einem jungen Handwerker, der von allem keine Ahnung hatte.
Oft sei es ihr schwindlig gewesen und sie sei ein paarmal umgefallen.
Allem Anschein nach hat sie in dieser Zeit ziemlich viel Kognak und dergl.
getrunken. Am 24. IV. fiel sie um, bekam in der Nacht darauf Wehen und
verlor Blut. Dessenungeachtet stand sie morgens früh auf, nahm ihren
Kognak und begann die Fußböden zu bürsten. Bald verstärkten sich die
Wehen;' mit einer Schere „zufällig“ versehen, ging sie auf den Abort und
gebar dort sehr schnell. Es scheint eine Sturzgeburt gewesen zu sein und
es ist denkbar, daß der vorherige Alkoholgenuß die Wehen und Muskel¬
tätigkeit so beschleunigte, daß sie zustande kommen konnte. Das Kind
lag in der Schüssel und als sie nun mit der Schere die Nabelschnur
durehschnitt, sei es in das Rohr hinuntergestürzt.
Der mit Blut bespritzte Ort blieb nicht unbemerkt, es erfolgte eine
Denunzation, das Kind wurde im Kübel gefunden und die H. eingezogen.
Urteil: 2 Jahre Zuchthaus.
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X. Margarete Meiee
Das Mädchen hatte ein sanftes, hübsches, aber merkwürdig katzen¬
ähnliches Gesicht und machte einen angenehmen, guten Eindruck. Als ich
sie im Gefängnis besuchte, sagte sie zu meiner großen Überraschung, wie
angenehm es ihr sei, von einer Frau befragt zu werden; der Untersuchungs¬
richter habe sie solche Sachen gefragt, daß sie ganz verwirrt worden sei
und alles durcheinander geredet habe, sie wisse kaum mehr was. (In der
Tat wurden ihr sonderbare Fragen nach folgendem Muster vorgelegt:
„Haben sie mit dem und dem geschlechtlich verkehrt?“ Antwort: „Nein“,
Frage: „Weshalb nicht?“)
Ihre Geschichte erzählte sie gleichmütig resigniert, ohne jeden Affekt;
dann aber sagt sie mit großer Erregung und mit Tränen: „wenn nur das
Kind lebte“. Sie habe Kinder immer gern gehabt und sich auf ihr eigenes
gefreut. Im Koffer habe sie 50 Fr. Erspartes bereit gehabt, um ihm
eine Aussteuer zu kaufen, wenn es Zeit wäre. Die Geburt erfolgte beinahe
2 Monate zu früh. Schon wie das Kind heruntergefallen sei, habe es ihr
so wehe getan und sie habe nur immer gedacht, „das Kind, das Kind!“
Es sei aber doch so schwach und klein gewesen, daß es nicht hätte leben
können. Sie habe niemanden ins Vertrauen ziehen können; zur Hausfrau
habe sie kein Vertrauen gehabt und sonst niemanden gekannt. Früher
habe sie beichten können und sich jedesmal erleichtert gefühlt. Aber in M.
habe sie einmal 2 Priester belauscht, wie sie über das Beichten der Weiber
lachten und schlechte Witze machten; seither mochte sie nicht mehr beichten.
Sie habe noch keinen Mann lieb gehabt; in M. sei sie ein paar¬
mal mit einem Burschen aus ihrer Heimat spaziert und der habe ihr
ziemlich gut gefallen. Da habe sie ihn aber einmal im Wald mit 2 Mädchen
überrascht und nachher nichts mehr von ihm wissen wollen. Noch nirgends
habe sie sich so wohl gefühlt wie im Zuchthaus.
Das Mädchen zeigt einen phthisischen Habitus, sieht zart und hektisch
aus. Über der linken Lunge Dämpfung und fast kein Atemgeräusch.
(Das Mädchen wurde nachher wegen Tuberkulose aus dem Gefängnis ent¬
lassen und soll seither gestorben sein). Die Auffassung ist normal, es
besteht aber große Ermüdbarkeit. Schulkenntnisse minimal. Von Moses
weiß sie nichts. Christus ist Gottes Sohn, er wurde gekreuzigt, weil er
sich König der Juden nannte. Das sei er auch gewesen, er sei König
und Herr der ganzen Welt, da doch sein Vater die Welt erschaffen habe.
Unterschied zwischen Katholisch und Protestantisch kennt sie nicht. —
Winkelried war in der Schlacht bei Sempach dabei, er habe sich Sie Speere
der Eidgenossen in die Brust gestoßen. Die Bedeutung und den Zweck
dieser Tat kann sie nicht erfassen.
Fall 5. K. A. von H., 22 Jahre alt. Vater mit 32 Jahren an
Tuberkulose, Mutter mit 26 Jahren an „Auszehrung“ gestorben. Das
Mädchen wurde bei einem Onkel und einer Tante, die keine Kinder hatten,
erzogen. Alltagsschule und 3 Jahre Sekundarschule. Mit 18 Jahren Be¬
kanntschaft mit einem Monteur H., der bei ihren Verwandten wohnte. Sie
hatte ihn sehr gern und hielt zu ihm, obschon ihre Pflegeeltern ihr von
der Verbindung abrieten. Einmal hätte sie beinahe mit ihm gebrochen,
weil er von einer Reise aus Italien zurückkommend, sich in der benachbarten
Stadt 14 Tage lang aufhielt und nie zu ihr auf Besuch kam. Weil aber
ihre Pflegeeltern sie darin unterstützten, daß sie Recht, habe ihn aufzugeben
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tat sie es denn doch nicht, sondern trat neuerdings mit ihm in Korrespondenz.
Während er mit ihr heimlich versprochen war, hatte ein Mädchen aus
einem benachbarten Orte einen Vaterschaftsprozeß gegen ihn angestrengt,
in dem er zu Alimenten verpflichtet wurde. K. A. vernahm von dieser
Sache, beunruhigte sich aber nicht, sondern glaubte, was er ihr sagte:
daß er mit dem Mädchen nie etwas gehabt habe und daß er in dem Prozeß
frei ausgegangen sei. Von seinem Bruder vernahm sie später die Wahr¬
heit. Man hinterbrachte ihr auch manchmal, er gehe noch mit anderen
Mädchen; sie glaubte aber nur ihm und er stellte alles in Abrede. Er war
meist auf Montage auswärts und besuchte sie nur selten. Im Oktober 1908
machte er ihr bei einem Besuch zum erstenmal den Antrag auf intimem
Verkehr. Sie wies ihn beleidigt ab. Er verreiste unzufrieden. Im Winter
war sie in einem Hotel in den Bergen, um das Kochen zu lernen. Um
Weihnachten kam II., der 2 Tage Urlaub hatte, auf Besuch zu ihr. Sei
es, daß ihr Widerstand in der Zwischenzeit vor ihrem eigenen Wunsch er¬
lahmt war, sei es, daß es sie ängstigte, ihn kalt und verstimmt zu sehen,
daß sie deshalb, wie sie angibt, fürchtoto ihn zu vevlleien, wenn sie ihm
nicht zu Willen wäre, kurz, sie gab diesmal nach. Bald fühlte sie sich
gravid und teilte es dem H. mit. Er besuchte sie, war darüber nicht un¬
zufrieden, sagte nur: nun, sie seien nicht die ersten, da werde nun eben
geheiratet. Er beeilte sich aber mit den Vorbereitungen zur Heirat gar
nicht, sondern wich offensichtlich aus. Im März 1909 brachte sie ihn erst
dazu, daß er mit ihr den Ring wechselte. Ihre Pflegeeltern waren über
sein Verhalten sehr unzufrieden und sagten ihr, wenn er sich doch so
drücken wolle, so solle sie ihn lieber fahren lassen. Sie könne ruhig zu
Hause bleiben; sie und ihr Kind würden genug zu essen haben. Sie hatte
jedoch zu Hause immer ein wenig das Gefühl gehabt, sie sei doch fremd;
auch fürchtete sie das Aufsehen im Dorf und sehnte sich fort. H. hatte
in A. eine Wohnung gemietet; er selbst war in Italien. Da schrieb sie
ihm, sie komme auf einen bestimmten Zeitpunkt nach A. Er war ein¬
verstanden und führte sie in die von ihm gemietete Wohnung. Beim
Hausmeister galt sie für seine Frau, obschon niemand demselben besonders
gesagt hatte, sie seien verheiratet. Ende Mai bestellten sie auf dem Zivil¬
standesamt das Eheaufgebot. Auf dem Rückweg aber eröffnete er ihr, er
müsse in 2 Tagen wieder für 4 Wochen nach Italien. Er ging, war
aber nach 4 Wochen nicht zurück. Sie hatte nicht mehr den Mut, ihren
Verwandten die Wahrheit zu sagen, sondern ließ dieselben glauben, sie sei
nun verheiratet. Die Geburt wollte sie in der Frauenklinik durchmachen;
für das Kind hatte sie alles bereit, obschon sie dachte, es habe noch lange
Zeit. Am 27. Juli bekam sie nachts Schmerzen; sie machte sich Tee,
worauf es besser wurde. Um 3 Uhr nachts erwachte sie mit starken Wehen
und ca. um 6 Uhr entband sie ein lebendiges Kind. Sie war ganz allein
in der Wohnung; in ihren Schmerzen vergegenwärtigte sie sich das Be¬
nehmen ihres Verlobten; sie begriff, daß er die Heirat absichtlich verzögerte,
sie wurde sich klar, wie oft er sie schon an gelogen hatte; die Wahrheit
über seinen Vaterschaftsprozeß hatte sie inzwischen erfahren, und das, und
alles was man ihr über seine Untreue gesagt hatte, schwebte ihr jetzt vor.
Da kam sie sich vor „wie die unglücklichste, verlassenste Kreatur der
ganzen Welt“. Als das Kind da war, sagte sie sich, die Leute würden
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X. Margarete Meier
jetzt erfahren, daß sie doch nicht verheiratet sei und das würde eine große
Schande sein für sie; sie sagte sich, wenn ihr Bräutigam zurückkomme
und das Kind schon vorfinde, so werde er sie gewiß nicht mehr heiraten.
Und da kam sie zum Schluß, es wäre gut, wenn das Kind stürbe. Sie
zerriß die Nabelschnur, unterband das kindliche Ende aber nicht, obwohl
sie wußte, daß das geschehen muß; sie unterließ es nach eigenem Geständnis
absichtlich, damit das Kind sterbe. Sie wollte aufstehen um für sich Trink¬
wasser zu holen, fühlte sich aber zu schwach und blieb liegen. Das Kind
atmete, hatte die Augen offen und bewegte das Mündehen, aber es
schrie nicht.
Aus dem Nabelschnurriß tropfte etwas Blut. So sei das Kind ca.
2 Stunden gelegen. Die Mutter sei dann eingeschlafen und habe bis
abends (also etwa 10 Stunden) geschlafen; als sie erwachte, fand sie das
Kind tot. Sie stand auf, kochte sich eine Suppe, packte das Kind ein
und trug es in den Fluß. (Diese, mir gegebene Darstellung stimmt mit
den gerichtlichen Akten nicht; nach letzteren hätte sie nicht morgens 6 Uhr,
sondern abends 8 Uhr geboren, dann bis morgens geschlafen, wäre dann
noch den ganzen Tag im Bett gewesen und hätte abends das Kind fort¬
getragen. Wahrscheinlich wollte sie mir gegenüber nicht zugeben, daß sie
das tote Kind einen Tag und eine Nacht bei sich hatte).
Nun spann sie ein großes Lügengewebe: Den Hausbewohnern sagte
sie, sie habe bei einer Bekannten geboren, das Kind sei tot und schon
ganz schwarz gewesen, „es hätte eine Blutvergiftung geben können“. Der
betr. Bekannten erzählte sie, sie habe zu Hause ein totes Kind geboren,
der Doktor habe die Leiche mitgenommen. Die Widersprüche führten
zur Entdeckung, die A. wurde eingezogen und bei der Untersuchung stellte
es sich auch heraus, daß sie der eben erwähnten Bekannten, bei der sie
einige Tage logiert hatte, ein 10 Frankstüek gestohlen hatte. Sie habe
sich geschämt, ihre Verlegenheit zu gestehen und um das Geld zu bitten;
sie sei das erstemal in ihrem Leben in Geldverlegenheit gewesen. Ihren
Pflegeeltern habe sie davon auch nichts schreiben wollen, weil sie nicht
begriffen hätten, daß sie, als H.s Frau, um Geld schreiben müsse. So habe
sie die 10 Frk. genommen, aber mit der Absicht, sie wieder zurückzugeben.
Das Kind muß im 7. Monat geboren worden sein, nach Angabe der A.
wäre es ca. 35 cm langi gewesen. Die Leiche wurde nicht gefunden; trotz
dem Geständnis der A. und trotzdem der Gerichtsarzt Verblutung aus der
Nabelschnur als wahrscheinliche Todesursache erklärt hatte, wurde ein
non liquet angenommen und die A. nur wegen Kindesbeseitigung zu
6 Monaten Gefängnis verurteilt.
K. A. ist ein mittelgroßes Mädchen mit gutem Knochenbau, doch
zartem Aussehen. Pupillen sehr weit, nicht ganz gleich, die rechte liegt
etwas exzentrisch. Reflexe normal. Gaumen schmal, oben nur zwei, aus-
einanderstehende Schneidezähne unten die normale Zahl. Etwas rhachitisch.
Auffassung normal. Schulkenntnisse für eine Person, die vor nicht allzu
langer Zeit die 3. Sekundarklasse verlassen hat, sehr schlecht. Geschichte
von Wilhelm Teil ungenau erzählt; der Grund, warum der Landvogt einen
Hut aufpflanzen ließ, ist ihr unerfindlich; den Teilsprung hat sie vergessen,
Teil steht nach ihr von Anfang an am Ufer und schießt den Geßler im
Nachen tot. Bestraft wird er für diesen Mord nicht, weil man die Vögte
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haßte. Unterschied zwischen Katholizismus und Protestantismus liegt in
den Zeremonien. Die Jungfrau Maria war die Mutter Jesu. Auf den Ein¬
wand: „wie konnte sie denn Jungfrau sein?“, ist sie sehr verdutzt und sagt:
„dann war sie wohl die Schwester Jesu?“
Die moralischen Begriffe sind unklar: „Man darf die Kinder nicht
töten, weil es sonst bald keine Leute mehr gäbe“. In die Enge getrieben:
„es ist ein Verbrechen, denn Gott verbietet es“ und zögernd und unsicher:
„dann sind die Kinder ja doch von unserem Fleisch“. Von ihrer Bestrafung
habe man ihr gesagt, sie sei sehr milde; für sich kann sie sie auch ganz
gut ertragen, ja, sie ist dabei viel ruhiger und zufriedener, als so lange
nichts entdeckt und keine Strafe ausgesprochen war; aber für ihre Pflege¬
eltern sei es sehr hart. Doch stellt es sich nachher heraus, daß der Pflege¬
vater überhaupt schon vor der Geburt des Kindes gestorben ist und daß sie
zu der Pflegemutter kein wärmeres Verhältnis hat. Für ihr Kind hatte sie
bei der Geburt und Beseitigung kein zärtliches Gefühl, es war ihr etwas
Gleichgültiges; doch scheint sie einzusehen, daß ein eigenes Kind doch mehr
wert gewoson wäre, als die Meinung der Leute. Sie ist sich klar daß II.
nicht gut an ihr gehandelt hat; wenn sie seiner sicher gewesen wä>re, hätte
sie das Kind nicht geopfert. Daß sie allein bestraft ist und er nicht, darüber
ist sie froh. Denn wenn er auch nicht richtig gehandelt hat, so habe sie
doch ganz allein das getan, wofür sie bestraft wird. H. hat sich von ihr
losgesagt, sobald er die Sache erfuhr; sie findet, es sei besser so, es hätte
doch nicht mehr gut mit ihnen beiden herauskommen können. Sie liebe
ihn auch nicht mehr.
Fall 6. Anna U. 25 Jahr alt, aus einer Familie, in deren Aszendenz
verschiedene Male Trunksucht und moralische und intellektuelle Defekte Vor¬
kommen. Sie hatte eine langsame Entwicklung, lernte erst mit 4 Jahren
gehen und sprechen. Körperlich schwächlich. In der Schule kam sie nicht
über die 5. Klasse hinaus. Zu Hause half sie in der Haushaltung; sie war
„ein dummes, aber liebes Kind“. Mit der Schwester hatte sie oft Streit;
sie wäre schon mit der Schwester ausgekommen, aber diese sei immer bös
mit ihr gewesen. Als die Schwester heiratete, mutete sie den Eltern zu,
die Anna wegzuschicken, damit sie mit ihrem Manne zu Hause Platz habe.
Der Vater ging darauf nicht ein und das Paar zog nach T.
Anna verzieh der Schwester gern und gab ihr auch ein Hochzeitsgeschenk;
„es sei doch die Schwester“.
Im Januar 1906 kam die Schwester ins Wochenbett; zur Aushilfe
ließ sie die Anna kommen. Abends sagte die Hebamme, die Anna könne doch
bei der Kälte nicht in der ungeheizten Stube auf dem Sopha schlafen, sie
solle doch beim Kinde schlafen. Die Leute verfügten über 2 Betten, im
einen lagen Mutter und Kind, im andern der Mann. Als die Hebamme
fort war, sagte die Schwester, Anna könne nicht beim Kinde schlafen, sie
würde es ja erdrücken, sie solle nur beim Manne schlafen. Anna sträubte
sich, mußte aber nachgeben. Zwei Nächte schlief sie ruhig beim Schwager ;
in der dritten Nacht überfiel er sie von hinten. Sie stieß ihn zurück, er kam
aber immer wieder. Morgens sagte sie es der Schwester und bekam die
Antwort: „Sie habe immer etwas zu „chifle“. Die Schwester erlaubte ihr
nicht, auf dem Boden zu schlafen. Die nächste Nacht ließ sie der Schwager
in Ruhe; in der übernächsten Nacht überfiel er sie wieder; sie stieß ihn
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X. Margarete Meier
zurück und wollte aufstehen; da schimpfte die Schwester, was sie immer
für Lärm mache. Der Schwager legte sich „fromm“ an die Wand, als aber
Anna eingeschlafen war, überfiel er sie wieder und sie konnte sich nicht
mehr wehren. Da sie sich weigerte, nochmals bei ihm zu schlafen, jagte
er sie andern Abends 1 / 2 9 Uhr aus dem Hause. Um 1 Uhr nachts kam sie zu
ihren Eltern zurück. 8 Monate später hatte sie eine Frühgeburt; die Eltern
schimpften die Anna nicht und waren auch gut zu dem Kinde. Sie selbst
freute sich nicht über das Kind, mit der Zeit bekam sie es doch lieb: „es
könne ja nichts dafür“, und pflegte es gut. Das Kind lebt und ist jetzt
ihre ganze Freude.
In Annas Dorf lebte ein übelbeleumdeter Schuster K. Eine Schwach¬
sinnige hatte von ihm ein Kind. Er wollte die Anna einmal in die Stube
locken, während seine Frau nicht da war. „Sie könne ja ihr Kind draußen
in den Wagen legen und ein wenig hereinkommen“. Sie sagte aber, sie
habe dort nichts zu suchen und ging davon. Sie hatte sonst an K. nie
Aufdringlichkeit gegen sich bemerkt, sie ging aber doch nie zu ihm, wenn
seine Frau nicht da war. Er habe sogar einmal hinter ihre Mutter
hergehen wollen, die schon 60 Jahre alt sei. Eines Samstag abends
mußte Anna bei K. Schuhe abholen. Sie wollte mit 5 Fr. bezahlen; er hatte
kein Kleingeld und schickte seine Frau, um die 5 Fr. zu wechseln. Unter¬
dessen war Anna ins Haus getreten, um die ältere Tochter des K. zu be¬
suchen, die mit ihr in der gleichen Fabrik arbeitete. Die Tochter fand
sie nicht; K. aber lief ihr nach, kam in die Boutik und drückte sie, ohne
etwas zu sagen, auf einen niederen Tisch; sie hatte in den Armen ein Brot
und einen Korb; sie habe sich daher mit den Armen nicht wehren können,
„sonst hätte sie ja das Brot fallen lassen!“ Sie sträubte sich mit den
Füßen, er sei aber stark und gewandt gewesen und alles sei sehr schnell
gegangen. Geschrien hat sie nicht, denn es seien doch nur kleine Kinder
in der Nähe gewesen. „Warum sie ihm nicht den Korb um den Kopf
geschlagen habe?“ „Ja, sie denke manchmal auch „fast“, es wäre besser
gewesen. Aber man wisse halt nicht, was so einer noch tun könne, wenn
man so allein mit ihm sei.“ „Was denn, töten?“ „Nein, aber sonst, man
wisse doch nicht. Er hätte ihr doch ein paar Ohrfeigen geben können.“
„Ob sie denn lieber ein Kind von ihm wollte, als ein paar Ohrfeigen?“
„Das nicht, aber doch, wenn man sonst schon immer Kopfweh habe . . . .“
Nachher sagte sie zu K.: „sie werde dann schon noch mit ihm reden.“
Worauf er: „Ja, mag sich auch ertragen.“ Und er habe nachher noch „den
Kopf“ gemacht! Sie wartete nachher unter der Haustüre auf die Frau,
die ihr Geld herausgeben mußte. Sie sagte ihr nichts, ging gleich heim;
sobald sie „aus den Leuten heraus“ war, weinte sie vor sich hin. Sie schämte
sich, zu Hause etwas zu sagen. Als sich die Folgen des Attentates be¬
merkbar machten, kränkte es sie, daß sie von diesem Menschen ein Kind
haben müsse. Zu Hause und überall leugnete sie die Schwangerschaft
hartnäckig; der Doktor habe gesagt, sie habe die Wassersucht und müsse
Tee trinken. Trotzdem sie fühlte, daß die Mutter ihr nicht glaube, beharrte
sie auf der Lüge; sie schämte sich vor den Eltern. Sie denkt sich aus,
wenn die Geburt bei Nacht erfolge, so werde sie das Kind ertränken;
wenn es aber am Tage geschehe, dann komme es halt aus. Die Mutter
hatte sie wiederholt ins Gebet genommen und ihr gedroht, wenn sie noch
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einmal ein Kind bekomme, müsse sie ins Armenhaus. In der Nacht vom
20/21. März 09 hatte sie Wehen; sie sagte nichts davon. Morgens 4 Uhr
stand sie auf und ging hinunter in die Stube. Nach wenigen Minuten kam
das Kind; sie stand anfänglich, so daß das Kind fallen mußte; das wollte
sie eigentlich, aber sie kauerte doch unwillkürlich nieder, um den Sturz
zu mildern. Zuerst war das Kind ruhig, dann schrie es. Einen Augen¬
blick dachte sie daran, die Mutter zu rufen. Dann plötzlich aber kams ihr
wieder anders und sie tauchte schnell das Kind in einen Zuber voll Wasser.
Sie sei ganz ruhig gewesen, nicht aufgeregt und nicht bös, und ganz klar und
kalt gegen das Kind. Sie wickelte die Leiche des Kindes ein und warf sie
in die schmutzige Wäsche. Dann ging sie wieder ins Schlafzimmer, das
sie mit den schwerhörigen Eltern teilte, und legte sich zu Bett; sie sei jetzt
aufgeregt und schwach gewesen und habe immer studieren müssen: „Wird
es auskommen oder nicht?“ Am Morgen erzählte sie, sie habe jetzt die
Regel wieder bekommen und mit ihr sei das ganze Wasser aus dem Bauch
geflossen. Fünf Tage später ging sie wieder in die Fabrik, sie war aber
zu schwach zum Arbeiten und mußte wieder nach Hanse Tn der Fabrik
glaubte man aber ihr Märchen nicht, sie wurde denunziert, und bei der
gerichtl. Haussuchung fand man die Nachgeburt. Anna war nicht zu Hause,
sie hatte am Morgen angegeben, sie wolle zum Doktor nach Steurerberg.
In Wirklichkeit war sie nach B. gefahren, wo der Schuster K. jetzt wohnte.
Sie hörte, daß K. in der Fabrik sei, trank Kaffee mit der Frau K. und
redete über Gleichgültiges mit ihr. Vorher hatte sie im Garten die sorg¬
fältig verpackte Leiche ihres Kindes hinter einer Bank versteckt. Daß sie den K.
nicht sprechen konnte, habe sie geärgert. Nach Hause zurückgekehrt, wurde sie
verhaftet. Es ging aber aus ihrer Geschichte so offensichtlich hervor, daß
sie nicht imstande war, mit den Faktoren der Außenwelt richtig zu rechnen,
oder sich gegen Einwirkungen von außen zu verteidigen, daß ihre Fähigkeit
der Selbstbestimmnng der Summe aller Einwirkungen von außen, dem Leben,
gegenüber, bezweifelt werden mußte. Sie kam zur Beobachtung in die
Irrenanstalt und das psychiatrische Gutachten stellte fest, daß sie an
schwerem angeborenem Schwachsinn leide, und daß eine Internierung so
lange notwendig erscheine, als sie gebären könne, da eine gesetzliche Grund¬
lage für die Kastration nicht vorhanden sei. Es wurde die dauernde Inter¬
nierung in der Irrenanstalt verfügt. Der Schuster K. erhielt wegen Schändung
4 Monate Gefängnis.
Fall 7. Luise T. 26 Jahr alt. Der Vater war Landwirt, hatte
von seinen Eltern ein Gütchen und 10 000 Fr. bares Geld geerbt. Er
konnte kaum lesen und schreiben, verstand das Bauern nicht, er verstand
überhaupt nichts recht, als Geld zu verbrauchen. Als sich seine Frau nach
12 jähriger Ehe von ihm scheiden ließ, hatte er alles durchgebracht, auch
das, was sie mit in die Ehe gebracht hatte. Er machte „dumme Stiickli“,
stahl, versetzte einen Grenzstein usw. und wurde dafür eingesperrt. Er
war ein Schnapser.
Ein Bruder des Vaters führte ein gleich liederliches Leben und brachte
ebenfalls sein ganzes Vermögen durch. Beide Brüder kamen ins Armen¬
haus. Der Großvater sei im Gegenteil sehr haushälterisch gewesen, er hinter¬
ließ jedem seiner 4 Kinder so viel Vermögen, wie der Vater der Luise T.
bekommen hatte, und er habe alles selber erworben. Er sei ein ar-
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X. Margarete Meier
gesehener Mann und Gemeindevorsteher gewesen. Die Mutter der Luise
hatte vor der Heirat ein uneheliches Kind, einen Sohn, der nach Amerika
ging und jemanden getötet haben soll. Luise hatte 5 Geschwister, 2 Brüder,
die rechte Burschen sein sollen und 3 Schwestern. Eine Schwester hat 2
uneheliche Kinder gehabt; eine andere, die geistig beschränkt sein soll, hatte
3 uneheliche Kinder von verschiedenen Vätern. Die Mutter war eine
tüchtige und fleißige Frau. Die Luise sei als Kind schon so geizig ge¬
wesen, daß sie Kleider und Schuhe nicht habe tragen wollen, um sie nicht
abzunutzen. Die Mutter meint aber, sie sei sonst klug gewesen, man habe
sie überall gern gehabt. Sie war nach der Scheidung der Eltern vom
2 .— 10 . Jahr verkostgeldet, dann konnte die Mutter sie bis zum 16. Jahre
zu sich nehmen. Die ersten Schuljahre mußte sie zweimal machen, nachher
sei sie ordentlich fortgekommen. Sie kam mit 16 Jahren in Dienst. Im
Jahre 1905 war sie in Steilung in A. Im gleichen Hause wohnte ein
Koch M., mit dem sie eine Bekanntschaft einging. Sie wurde gravid,
und gebar am 11 . Juli 1906 in der Frauenklinik einen Knaben. Ihre Dienst¬
herrin hatte die Schwangerschaft erst im letzten Moment erfahren und
mußte darauf dringen, daß das Mädchen in die Klinik gehe; es machte ihr
den Eindruck, als hätte sie am liebsten heimlich bei ihr geboren. Ihr
Schatz bezahlte die Kosten der Klinik und nachher 3 Monate Kostgeld für
das Kind. Das Kind wurde bei einer Frau 0. untergebracht; Luise ging
wieder in Stellung. Der Vater verdiente 100 Fr. im Monat, Luise 23 Fr.
Er mußte aber die Stelle wechseln, da schrieb er, er hätte jetzt kein Geld,
sei krank im Spital und könne nicht mehr bezahlen. In Wirklichkeit
hatte er eine Stelle mit 60 Fr. Monatslohn. Luise bezahlte auch nicht;
so wuchs bei der Kostfrau eine Schuld an von 65 Fr., für welche der
Luise 13 Fr, pro Monat von ihrem Lohn gepfändet wurde. Am 10 . Dez. 05
brachte Frau C. der Luise das Kind in ihre Stelle und sagte, wenn sie
nicht bezahlen wolle, so könnte sie ihr Kind selber nehmen. Sie wolle es
nicht mehr behalten. Wenn sie ihr aber vorläufig 10 Fr. gebe, so wolle
sie dasselbe wieder zu sich nehmen. Luise entgegnete, sie bezahle nicht,
sie habe das Kind sowieso nicht gern. Frau C. legte darauf das Kind auf
den Küchentisch und ging davon. Die Dienstherrin kam hinzu und sagte,
sie solle den Kleinen in ihr Zimmer tragen. Das tat sie. Dort flößte sie dem Kinde
2 Eßlöffel voll Absinth ein, legte es ins Bett und zog ihm die Decke bis
übers Gesicht. Nach etwa 10 Minuten habe sie die Decke aufgehoben und
nachgesehen; das Kind sei blau gewesen und habe ein wenig gewinselt;
sie deckte es wieder fest zu, sah nach kurzer Zeit wieder nach: es atmete noch.
Dann kleidete sie sich an und ging zur Stadt. Es war Sonntag nachmittag.
Sie traf einen Mann, der sie ins Konzert einlud und ihr zu trinken be¬
zahlte. ^28 Uhr abends war sie wieder zu Hause, ging aber nicht gleich
in ihr Zimmer, sondern nahm zuerst das Nachtessen, wusch das Geschirr
und ging dann erst hinauf. Das Kind fand sie tot. Andern Tags abends
ging sie in den Garten, grub mit den Händen ein Loch und vergrub die
Leiche. Der Herrschaft gab sie an, sie hätte das Kleine wieder in Kost
gegeben. Sie hatte aber eine ganze Auswahl von Lügen nötig: Das
Waisenamt zitierte sie wegen Anordnung der Vormundschaft. Sie ant¬
wortete schriftlich, das Kind sei bei den Großeltern in Thun. Ihr Freund
erkundigte sich nach demselben: es gehe ihm ganz gut. Am 26. Febr. 1906
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schickte sie ihm eine aus dem Emmenthal datierte Karte, worin ihr scheinbar eine
Frau M die Mitteilung machte, ihr Knabe sei an Scharlach gestorben. Sie
verließ dann bald die bisherige Stelle und ging nach L. Im April 1906
fanden spielende Kinder den kleinen Leichnam. Die Mutter war bald
gefunden.
Vor Gericht verlegte sie sich zunächst aufs Leugnen, erzählte
abenteuerliche Geschichten von einem Mann, der den Knaben geholt habe
usw. Sie gab als Vater zuerst einen gewissen H. an, mit dem sie früher
eine 14 tägige harmlose Bekanntschaft gehabt hatte und verdächtigte ihn
der Beseitigung des Kindes. In die Enge getrieben, gestand sie schließlich
alles. Ein psychiatrisches Gutachten bezeichnet das Mädchen als mit
angeborenem intellektuellem und moralischem Schwachsinn behaftet, aber in
einem Grade, der zur Exkulpation nicht ausreiche. Doch fand ich bei
meiner Untersuchung ihre Intelligenz kaum auf der Stufe derjenigen der
Anna U. in Fall 6. Während jene indessen „ein dummes, aber liebes
Kind“ ist, zutraulich und auf alle Affekte leicht ansprechend, ist diese
verschlossen, stolz und trotzig; sie blieb auch mir gegenüber nicht überall
bei der Wahrheit, obschon sie keinen Vorteil davon hatte, mich anzulügen.
Während sie sich weigerte, der Kostfrau die 10 Fr. zu geben, war sie
nicht etwa mittellos, sondern besaß ein Sparbüchlein über 800 Fr. Hätte
sie kein Bargeld gehabt, so hätte sie also sicher von ihrer Herrin sowiel
vorgestreckt bekommen können.
Ihr Geliebter benahm sich in charakteristischer Weise: Zu der Zeit,
als er nicht mehr bezahlen wollte, schrieb er der Luise die zärtlichsten
Briefe. Sie solle vorläufig nur bezahlen, im Sommer gebe er ihr alles
zurück. 100 Fr. seien ihm für sie und das Kindlein nicht zu viel usw.
Nachdem er aber ihre Tat erfahren hatte und in der Zeitung las, sie leugne
dieselbe neuerdings, schrieb er in großer moralischer Entrüstung
an das „Hohe Schwurgericht“, es wäre ganz verfehlt, eine „solche über¬
wiesene leichtfertige Person“ gelinde bestrafen zu wollen; der Jammer des
lieben Kindes soll gesühnt werden in seiner ganzen Schwere!“ Und in einem
P.S. bittet er „nochmals“ um Rückzahlung der Beträge, die er für
das Kind geleistet habe!
Die Luise war ein hübsches, rotbäckiges, schwarzhariges Mädchen,
aber mit groben Gesichtszügen; klein, zart, nervös. Die Gesichtshaut war
auffallend glatt wie eine Wachsmaske. Die rechte Gesichtshälfte blieb in
der Bewegung etwas zurück, die rechte Lidspalte war weiter als die linke.
Sensibilität normal. Ohrläppchen verwachsen! Gaumen hoch und schmal.
Augen stechend, leichter Strabismus. Reue über ihre Tat oder Bedauern
mit dem Kind empfand sie nicht; sie war aber doch seit der Tat nie mehr
ruhig, nicht nur aus Furcht vor Entdeckung, sondern es war ihr auch sonst
nicht wohl dabei und als sie verhaftet wurde, war es ihr eigentlich eine
Erleichterung und sie dachte,- sie wolle gern die Strafe abbüßen.
Fall 8. Lina Zero von Xand, eine Nachkömmlingin der von
Dr. Jörger beschriebenen, berühmten Trinker- und Vagantenfamilie Zero.
Sie ist das uneheliche Kind der Nana, die im vorgerückteren Alter geistes¬
krank wurde. Ihre Mutter war bei ihrer Geburt 14 Jahre alt. Sie will
bei den Großeltern und der Mutter aufgewachsen sein, die ein Bauerugütchen
in Xand gehabt haben sollen. Großeltern und Mutter seien gut mit ihr ge-
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X. Margarete Meier
wesen; die Mutter habe sie „früher“ gern gehabt. Sie besuchte bis zum
14. Jahre die Winterschule, wurde dann Dienstmädchen und Kellnerin.
Während in der Monographie der Familie Zero angegeben wird, sie habe über¬
all schlechten Leumund gehabt, ergaben die gerichtlichen Erkundigungen
an den Stellen, die sie in A. innegehabt hatte, daß sie überall wohl ge¬
litten gewesen sei; außer an einer Stelle, sei sie auch überall freiwillig
fort; etwas leichtsinnig sei sie schon gewesen. Sie hatte mehrere unehe¬
liche Kinder von verschiedenen Vätern; aus ihr selbst ist nicht herauszu¬
bringen, wie viele; doch waren es nach Jörger 4. Ein 3-jähriges Kind
hatte sie in Pflege bei einer Frau M. Jedesmal, wenn sie das Kind besucht
hatte, bekam es Krämpfe und hatte einmal blaue Lippen. Die Krämpfe
konnten durch Milch oder Tee behoben werden. Die Frau schöpfte Ver¬
dacht und stellte die Lina zur Rede. Sie leugnete, sagte aber gelegentlich
der Kostfrau, sie solle das Kind annehmen oder machen, daß es sterbe.
An Kostgeld hatte sie zuerst 20 Fr., dann 17, dann 15, und schlie߬
lich nur noch 10 Fr. bezahlt. Als sie bei einem neuen Besuch bei Frau
M. verhaftet wurde, hatte sie ein Fläschchen Strychninweizen bei sich. Im
August 94 hatte sie der gleichen Kostfrau ein zweites, ein paar Tage altes
Kind in Pflege gegeben, das im Februar plötzlich an „Gichtern“ gestorben
war. Die Erfahrungen mit dem älteren Mädchen erweckten den Verdacht,
das kleine sei an Strychninvergiftung gestorben. Es erfolgte die Ex¬
humierung und die chemische Untersuchung förderte in der Tat eine
größere Menge Getreidekörner zutage, von denen einzelne noch rot ge¬
färbt waren. Lina gab ihr Verbrechen nie zu. Daß sie Strychnin weizen
mit sich geführt habe, suchte sie mit allerlei merkwürdigen Ausreden zu
rechtfertigen, von denen die eine, es sei gut für den Teint, sogar eines
gewissen Galgenhumors nicht zu entbehren scheint. Lina wurde psychi¬
atrisch beobachtet und begutachtet. Das Gutachten findet eine mangelhafte
Schulbildung bei mäßiger Intelligenz, außerordentlicher Gleichgültigkeit und
Teilnahmlosigkeit.
„Von altruistischen Regungen, von Reue oder Einsicht in das Ver¬
werfliche ihres Lebenswandels, von Besserungstendenz keine Spur. Auf
ein paar uneheliche Kinder mehr oder weniger kommt es ihr nicht an.
Doch waren sie ihr hinderlich, weil sie dafür bezahlen mußte und also
scheute sie sich nicht, sie aus dem Wege zu schaffen. Nichts von Mutter¬
liebe! Welche Rabenmutter. Eine Mischung von Dummheit und Schlau¬
heit, wie sie häufig die moralischen Idioten zeigen; der geborene Ver¬
brecher Lombrosos. Lina Zero leidet an moralischer Idiotie, sie besaß die
Fähigkeit der Selbstbestimmung nicht, da sie angeboren ethisch total defekt
ist, ohne jede Fähigkeit und Gegenvorstellung, um ihre Triebe zu be¬
kämpfen usw. usw.“ Lina wurde zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt.
Ich sah sie im Winter 1909 in der Strafanstalt, also nachdem schon
14 Jahre Zuchthaus über sie hingegangen waren. Mittelgroße Person, vor¬
stehende ob. Orbitalbögen, breite, nach oben schmaler werdende fliehende
Stirne, Nasenwurzel eingezogen, das Haar in Strähnen ins Gesicht fallend,
Ohrläppchen verwachsen. Sie begrüßte mich mit dem Lachen, das im
psychiatrischen Gutachten als kein Lachen, sondern als ein Grinsen bezeichnet
ist. Sie gibt die Hand nur mit den Fingerspitzen, mit einer Geziertheit,
die eine gewisse Verlegenheit zu verbergen scheint. Die Patellarreflexe
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sind gesteigert, Pupillenreflex nicht erkennbar. Sie zeigt sich im Lügen
konsequent, über ihre Tat ist nichts aus ihr herauszubriugen. Fragt man
sie nach Personen, über die sie nichts sagen will, so sind sie gestorben;
fragt man sie nach unbequemen Dingen, so weiß sie’s nicht. Sie habe
nicht Zeit, so dummem Zeug nachzustudieren, sie habe zu viel zu tun. Sie
habe auch viel Kopfweh, denn es stinke da immer so stark. Sie ist bei
der Wäsche beschäftigt, wo es jedenfalls nicht besonders gut riecht;
aber es scheint doch eine gewisse Überempfindlichkeit dafür vorhanden zu
sein. Die Auffassung von Bildern ist verlangsamt, sie scheint aber an
den Vorweisungen Freude zu haben. Sie macht einfache Rechnungen.
Auf eine weitere Intelligenzprüfung läßt sie sich nicht ein. Sie „redet
vorbei“ oder „weiß nicht“, es macht aber den Eindruck, als könnte sie
recht antworten, wenn sie nur wollte. Vieles erinnert an Dementria
praecox: Die Geziertheit, eine absolute Gleichgültigkeit, das Vorbeireden,
die Gemütsverödung und das Fehlen jedes gemütlichen Rapportes. Sinnes¬
täuschungen oder Wahnideen können aber nicht nachgewiesen werden.
Immerhin äußerte sie doch schon während ihrer gerichtlichen Untersuchung
vor 14 Jahren den gewiß unbegründeten Verdacht, die Angehörigen ihres
einen Geliebten hätten sie vergiften wollen.
Sie zeigt einen großen Fatalismus: „Es kommt, wie es kommt.“ „Es
kommt an jedes etwas.“' Gefragt, ob sie einem blutjungen, braven Mädchen,
das sie in Gefahr sehe, auf Abwege und ins Unglück zu geraten, wie sie,
nicht helfen wollte, wenn sie es könnte, sagt sie sofort: „Doch, natürlich.“
Sie scheint also doch nicht aller altruistischen Regungen bar zu sein. Den¬
noch findet sie es nicht der Mühe wert, davon zu reden, was in ihrem
Leben anders hätte sein müssen, damit ihr Schicksal besser geworden wäre.
„Das sei jetzt schon zu spät.“ Andern helfen könne sie jetzt auch
nicht mehr, „es hilft einem ja auch niemand.“ Gute Menschen habe sie
nie getroffen; von besonders schlechten wolle sie auch nicht reden. Offen¬
bar war es ihr gleichgültig, ob die Menschen gut oder schlecht seien; sie
suchte nur, bei der Einrichtung, wie sie nun einmal ist, ihre Ziele zu er¬
reichen. Sie wisse nicht, warum sie im Kerker sei, sie habe nicht viel
gemacht. Die Kinder hätten ja ihr gehört. Wenn sie nie etwas von
Mutterliebe gefühlt hat, so entwickelt sie doch eine gewisse Anhänglichkeit
an Mutter und Großeltern: die Mutter sei schon recht gewesen, sie wüßte
nicht, was dieselbe an ihr hätte besser machen können. Auch an den
Großeltern findet sie keinen Makel und läßt überhaupt über ihre ganze
Familie nichts sagen: Es gehe niemand etwas an, die seien recht gewesen;
es müsse jeder seine eigene Suppe ausessen. — Sie ist sehr stolz, ver¬
schmäht jede Hilfe und auch ein kleines Geschenk.
Das der Vergiftung entronnene Mädchen war eine taubstumme Idiotin
und ist 1900 gestorben. (Jörger.)
Fall 9. Elise Z. in D., verheiratet, Mutter von 4 Kindern, wovon
eins an Lungenkatarrh gestorben ist; achtmal wegen Diebstahl vorbestraft.
Ihr Vater starb an Lungenschwindsucht, Mutter und 3 Schwestern leben.
Die Mutter lüge viel und habe früher einen unsittlichen Lebenswandel ge¬
führt, sei auch nicht ehrlich. Eine Schwester bekam mit 16 Jahren ein
uneheliches Kind, das von der Großmütter aufgezogen wird. Elise stahl
schon als kleines Mädchen Geld und „verschlechte“ es; von der Mutter
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X. Margarete Meier
wurde sie zum Lügen angehalten. Nach der Konfirmation kam sie in Dienst
und beging gleich an ihrer ersten Stelle einen Diebstahl. Im ganzen hat
sie für Diebereien vor und während der Ehe etwas mehr als 21 Monate
Gefängnisstrafen abgebüßt. Im Jahre 1900 verlobte sie sich mit dem Hand¬
werker Z. Während der Brautschaft gab derselbe einmal aus Eifersucht
einen Schuß auf sie ab. Er wurde dafür mit 3 Monaten Gefängnis bestraft.
Nachher heirateten die beiden. Die Geschichte ihrer Ehe ist eine sehr
jammervolle. Der Mann verdiente ordentlich, trank aber und begann bald
ein Vagantenleben. Er lief von Zeit zu Zeit plötzlich mit dem Zahltag
davon und ließ die Familie im Stich. Zweimal wurde er wegen Verletzung
der Elternpflicht im Korrektionshaus untergebracht. Einmal lief ihm die
Frau davon und nahm auswärts eine Haushälterinnenstelle an; nach zwei
Monaten holte er sie zurück und sie folgte ihm. Auch der Mann hatte vor
der Ehe schon eine gerichtliche Vergangenheit; außer der Schußaffäre hatte
er dreimal wegen Betrug und Diebstahl „gesessen“. Vorher war er in
französischen Kriegsdiensten gewesen. — Das älteste Kind hatten die Leute¬
in der Gemeinde im Pflegehaus aufziehen lassen, das zweite starb früh, das
dritte hatte Elise Z. bei sich.
Am 11. Sept. 07. gebar sie ihr 4. Kind. Ihr Mann sei zu der Zeit
gerade wieder auf einer Vergnügungstour gewesen. Zu ihrer Hausfrau
hatte sie vor der Geburt einmal gesagt, das Kind werde hoffentlich nicht
davonkommen. Für die Geburt hatte sie nichts vorbereitet, die Hausfrau
mußte ihr alles geben; auch wollte sie keine Hebamme rufen lassen. Nach¬
dem das Kind einmal da war, habe sie es sauber gehalten; aber sie habe
es sicher nicht gern gehabt, denn sie habe ihm nie zugelächelt und sei nie
zärtlich gewesen mit ihm.
Aus Not habe sie in dieser Zeit verschiedene kleine Diebstähle in
einem Laden begangen. Als ihr Mann wieder einmal zu Hause war, er¬
fuhr er dies; er machte der Frau deshalb einen Auftritt und sagte, er werde
sich scheiden lassen. Von da an, sagt die Hausfrau, sei die Z. ganz
„verwirrt“ gewesen und habe nicht mehr gewußt, was sie tue, denn sie
habe den Mann lieb gehabt.
Da die Z. ihren Hauszins nicht bezahlten, wurde ihnen die Wohnung
gekündigt. Der Mann gab der Frau an, er gehe zu ihrer Mutter in die
benachbarte Stadt, und frage sie, ob sie mit den Kindern zu ihr kommen
könne. Er ging, holte den Zahltag und zeigte sich drei Tage lang nicht
mehr. Die Frau schrieb unterdessen ihrer Muster, sie komme Dienstag
mit den Kindern. Montags aber bekam sie die Antwort, es sei am Dienstag
bei der Mutter niemand zu Haus. Davon sagte sie der Hausfrau nichts,
sondern tat so, als reiste sie Dienstag, 12. Nov. 07, zur Mutter. Ihre
Hausfrau lieh ihr für das Kleine den Kinderwagen und fuhr mit ihr in
die Stadt; am Bahnhof trennte sie sich von der Z., die ihr versprach, den
Wagen gleich nachmittags zurückzuschicken und ihr den Bahnschein dafür
am Zug zu übergeben. Als Frau Z. sich den Kinderwagen aus dem Ge¬
päckwagen geben ließ, habe der Kondukteur sie so verächtlich angesehen
und hinter ihr habe jemand gesagt: „Die hat nicht einmal eine rechte
Decke“. Frau Z. schämte sieh und beeilte sich, dem Bahnangestellten zu
erzählen, das Kind sei nur bei ihr in Kost; seine Mutter habe sieh nie um
dasselbe bekümmert, darum bringe sie es ihr jetzt zurück.
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Beitrag zur Psychologie des Kindesmordes. 335
Während der Fahrt hatte die Frau überlegt: Was nun? Zuerst wollte
sie in die Heimatsgemeinde, aber sie fürchtete, Vorwürfe zu bekommen,
weil sie nicht von ihrem Manne fortgegangen war, wie ihr die Armenpflege
geraten hatte, sondern im Gegenteil unterdessen ein Kind mehr bekommen
hatte. Am Hahnhof will sie plötzlich den Entschluß gefaßt haben, sich
mit den Kindern ins Wasser zu stürzen. Sie fuhr zu einem Weiher im
Wald, lief ringsum, besann sich, nahm dann das zweimonatige Knäblein
und legte es am Ufer ins Wasser. Dann ging sie zurück, um das 2 jährige
Mädchen zu holen. Wie sie mit ihm gegen das Wasser ging, sei ihr ge¬
wesen, als stoße .sie jemand am Arm und als höre sie eine Stimme: „Ge¬
nug, du bist schon viel zu weit gegangen!“ Sie drehte sich erschreckt
um: Niemand war da. Voll Angst trug sie das Mädchen zurück und habe
das Kleine dann wieder herausziehen wollen; dasselbe sei aber schon weit
hinausgetrieben gewesen, sie habe es nicht mehr erreichen können. Sie
setzte das Mädchen in den Wagen und rannte wie gejagt mit ihm nach der
Stadt zurück. Sie versorgte das Kind bei einer Bekannten, suchte am
Nachmittag an 2 Stellen Arbeit, schickte den Kinderwagen nach D. zurück
und brachte der gewesenen Hausmeisterin den Bahnschein an die Bahn,
ohne ihr in ihrem Benehmen etwas von Aufregung zu verraten. Am folgenden
Tage wurde sie verhaftet. Zunächst leugnete sie, gab aber bald den ganzen
Sachverhalt zu. Urteil: 2 Jahre Zuchthaus.
Die Mutter der Frau Z. wird von der Armenpflege unterstützt, wohnt
aber behaglich und mit einem gewissen Luxus. Frau Z. sagte von ihr
sie habe sie immer gegenüber den anderen Geschwistern zurückgesetzt.
Der Hausmeisterin in D. erzählte sie einmal, die Mutter habe eine so „vor¬
nehme“ Stube, da dürften ihre Kinder gar nicht hinein. — Die Frau
spricht von der internierten Tochter ohne Scham oder Verlegenheit, aber
auch ohne besondere Liebe oder Bedauern; über das Bübli weint sie. Die
Tochter hätte zu ihr kommen können, mit den Kindern, sie hätte sie nicht
verstoßen. Elise sei erst durch ihren Mann so schlecht geworden, früher
sei sie recht gewesen. Zum Stehlen habe man sie verführt, sie habe oft
ganz unnütze Sachen gestohlen, die sie dann wieder verschenkt habe.
Elise Z. repräsentierte sich bei der Untersuchung in der Strafanstalt
als eine zarte, blasse Frau von kleiner Mittelgröße. Sie schien seelisch
schwer gedrückt und fast gebrochen. Halluzinationen oder Wahnideen zeigte
sie nicht mehr. Die Nerven sind jedoch noch überreizt; sie meint häufig,
sie höre ein Kind weinen oder es rufe jemand: „Hansli“, sie weiß aber, daß
das Täuschungen sind. — Intellekt sehr mittelmäßig. Moralisches Fühlen
defekt.
Fall 10. Hulda G., 37 Jahre alt, seit Mai 94 mit dem 61 jährigen
G. verheiratet, gebar am 21. Okt. 95 ihr erstes Kind. Morgens 5 Uhr,
— ihr Mann war schon auf die Arbeit gegangen — begannen die Wehen.
Die Frau rief niemanden zu Hilfe. Um 7 Uhr war die Geburt, die sehr
leicht vonstatten gegangen war, vollendet. Sie reinigte das Kind, zog es
an und legte es auf den Tisch. Die Nabelschnur hatte sie durchschnitten, aber
nicht unterbunden. Dann legte sie sich wieder ins Bett. Zufällig kam um
9 Uhr der Mann nach Hause und ließ die Hebamme holen. Ca. 11 Uhr
fand diese das Kind noch provisorisch angekleidet und frierend auf dem
Tisch. Eine Nachbarin, Frau B., nahm es gleich mit nach Hause und ver-
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X. Margarete Meier
pflegte es bis zum 10. Nov. 95. Die Eheleute G. kümmerten sich unter¬
dessen gar nicht um das Kind. Am 10 Nov. nahm die G. dasselbe aber
zu sich, muß ihm aber kaum zu trinken gegeben haben, denn bis am 14. Nov.
sei es, obschon es ihr im besten Wohlsein übergeben worden war, ganz ab¬
gemagert. Die Nachbarin B. fand an diesem Tage bei dem Kind eine
Flasche mit dick geronnener Milch, vielleicht die gleiche, die sie ihm 4 Tage
vorher mitgegeben hatte.
Am 14. Nov. nahm Frau G. morgens das Kind aus dem Wagen, wobei
es zu Boden gefallen sei. Wie sie nun sah, daß es am Mündchen verwundet
war, habe sie es genommen und an die Bettstatt geschlagen, bis es be¬
wußtlos gewesen sei. Dann legte sie es in den Wagen zurück. Das
Kind regte sich nachher wieder; wie sie nun sah, daß es nicht tot sei,
ging sie zur Nachbarin B. und erzählte ihr, ein Unbekannter sei unter der
Treppe hervorgekommen, habe ihr ein Pulver ins Gesicht gestreut, das sie
halb betäubt hätte. Dann sei er ins Schlafzimmer und habe etwas am
Kinde gemacht, sie wisse nicht was, aber es blute. Diese Darstellung hielt
sie auch vor Gericht fest, bekannte dann aber schließlich in einem Briefe
den Sachverhalt.
Das Kind war schauderhaft zu gerichtet. Doch lebte das arme Wesen trotz
mehrfachen Schädel- und einem Oberkieferbruch noch bis zum 30. Nov., war
aber meistens soporös und konnte der Oberkieferverletzung wegen nicht trinken.
Bei der Gerichtsverhandlung deponierte der Mann, die Frau sei vom
9. Nov. an, d. h. seit dem Tage des Umzuges aus einer schönen neuen
in eine häßliche alte Wohnung ganz umgewandelt gewesen; vorher war
sie noch lustig, nachher aber habe man froh sein müssen, wenn sie ein
Wort sagte. In der Wohnung habe es Mäuse und Käfer gehabt und sie
habe sich deshalb gefürchtet, allein zu Hause zu sein. Nachts habe er
mehrmals gesehen, daß sie dem Kind zu trinken gegeben habe. Gern habe
sie es nicht gehabt. Am 14. Nov. sei er zufällig nach Hause gekommen
und habe die Frau auf den Knien beim Bett liegend und weinend ange¬
troffen. Sie habe gesagt, sie und das Kind seien überfallen worden; er habe
sich aber weiter nicht darum gekümmert, denn er habe wieder
fortgehen müssen. Er sah also nicht nach dem Kind. Er habe der Frau
einmal vorgeworfen, das Kind sei nicht von ihm, aber da sie den Vorwurf
zurückgewiesen habe, sei er nicht mehr darauf zurückgekommen.
Die Nachbarin B. gab an, G. habe am Tage der Geburt die Heb¬
amme nicht selber geholt, „denn er müsse mit einer Kuh zum Metzger.“ Er
habe das Kind nie leiden mögen, er habe es nicht für das seinige gehalten.
Der Verteidiger hatte den Eindruck, es „rapple“ bei der Frau G. im
Kopf. Sie falle ihm auf durch gänzliche Apathie und einen gänzlichen
Mangel an Verständnis für ihre Lage. Über die Tat sage sie nur, sie
wisse nicht, wie sie dazu gekommen sei; der Böse sei in sie gefahren, seit
sie von zwei Bettlern erschreckt worden sei. Herodes habe auch
Kindlein töten lassen.
Er ersuchte um irrenärztliche Begutachtung seiner Klientin. Das
Gesuch wurde abgelehnt, „da die amtlichen Erhebungen nichts Abnormes
über ihren Geisteszustand ergeben hätten und da der Irrenarzt bloß an
Hand der Akten jetzt doch nicht mehr erheben könne, ob sie zur Zeit der
Tat unter besonderer geistiger Erregung gestanden habe.“
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Hulda Gr. wurde zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt.
Meine Erkundigungen bei Eltern und Verwandten der Verurteilten
ergaben folgende Familien- und Vorgeschichte, die mit der in den Gerichts¬
akten enthaltenen in wesentlichen Punkten nicht übereinstimmt:
Die Großmutter väterlicherseits war „lustig und bös“; einer aus ihrer
Familie habe sich erschossen. Ein Großonkel trank und arbeitete nicht
gern. Ein Bruder des Vaters war „merkwürdig“, er stierte viel vor sich hin,
lebte allein als Sonderling, trank viel. Ein zweiter Bruder des Vaters starb
früh, „weil er zu viel trank“; eine Schwester beging Selbstmord.
Der Großvater mütterlicherseits war ein Trinker. Ein Bruder der
Mutter trank auch gern, eines seiner Kinder hat einen Wasserkopf.
Ein Geschwisterkind (väterlicher- oder mütterlicherseits ?) sei geisteskrank.
Ein Halbbruder der G. ist geistig beschränkt, einer ein Trinker, hat
ein „Kind mit sehr großem Kopf und großen vorstehenden Augen“, das
mit 10 Jahren schon so dick sei, daß es nicht gehen könne. Eine Schwester
normal, nicht intelligent. Der Vater trank viel, er war oft „übertrieben
lustig“, dann wieder 2—3 Tage lang unzugänglich, mürrisch, meinte, „es
gehe nicht mehr.“ Dann gleich nachher wieder übertrieben lustig. Er
verstand die Landwirtschaft gut und besorgte seine Arbeit recht; „er hatte
einmal Gehirnentzündung.“ Er war leicht reizbar und dann sehr bös,
„nicht besonders gewalttätig, aber doch schlug er, wenn er bös war, alle
Kinder, ob sie etwas Unrechtes getan hatten oder nicht.“
Frau G. sei als Kind auch „übertrieben lustig“ gewesen und dann
wieder mürrisch, wie der Vater. In der Schule habe sie ordentlich
gut gelernt, sei aber gegen die Lehrer frech gewesen. Gearbeitet habe
sie nicht gern, habe aber das Weben recht gelernt.
Nachdem ihr der Vater verschiedene Partien verboten habe, sei sie ganz
leutescheu geworden. Mit einem Knecht sei sie gegen den Willen des
Vaters verlobt gewesen, diesen habe sie absolut heiraten wollen. Die Ver¬
lobung habe sie dann aufgegeben, nach eigener Angabe, weil der Verlobte
zu trinken angefangen habe. Namentlich von da an habe sie nicht mehr
unter die Leute gehen wollen. G. lernte sie durch Vermittlung der mehr¬
erwähnten Frau B. kennen, die sie seither immer nur „die Kupplerin“
nennt. Frau B., eine sehr intelligente Frau, hat beobachtet, daß Hulda G.
nach der Geburt ihres Kindes merkwürdig finster geworden sei; man habe
nicht mehr mit ihr reden können. Der Mann sei manchmal grob mit ihr
gewesen und habe ihr ohne Grund Eifersuchtsszenen gemacht.
Der Brief, in dem Frau G. ihr Geständnis ablegte, ist so charakteristisch,
daß er hier wiedergegeben werden soll:
Hochgeehrte Herren Richter!
Ich bekenne mit Reue und mit großem Leid alles, wie es mit dem
Unglück unseres 1. Knäblein gegangen ist. Ich ließ es unglücklicher-
weise fallen, als ich die Wunde am Kopfe erblickte, hob ich es trauriger
Weise noch an die Bettstelle hin. Ich bin an dem Verluste unseres
Knäblein schuldig, das mir meiner Lebtag in der Seele gräbt.
Bitte Hochgeehrte Herren Richter!
führen Sie die wichtige Sache nicht für das weitere Gericht.
Nämlich Schwurgericht.
Archiv für Kriminalanthropologie. 37. Bd. 22
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X. Margarete Meier
Ich bin schuldig. Tödliche-Kopf-Verletzung. Bitte, Ich ersuche
Sie Richten Sie die Strafe selber. Ich muß mich in Gottes Namen
drein ergeben. Hochachtungsvoll.
Frau G. ist eine kleine Frau. Sie geht lebhaft, aber doch etwas
schwerfällig, mit krummem Rücken. Die Hände sind kalt und immer
blaurot. Die Ohrläppchen sind verwachsen; die Ohren stehen hoch. Oben
hat sie nur zwei Schneidezähne, die hauerartig auseinanderweichen. Sie sieht
immer präokkupiert aus; wenn sie spricht, tut sie es mit der Wichtigkeit
und dem Pathos eines Menschen, der aus ganz guter, andern aber ver¬
schlossener Quelle schöpft. Ich sah sie zweimal in der Strafanstalt; das
erstemal war sie aufgeregt und während sie sich kategorisch weigerte,
mit mir zu reden, schwatzte sie in einem fort, erzählte, wie die Eltern
fromm und recht gewesen seien, wie sie aber übermütig geworden sei, ihr
eigener Meister habe sein wollen und nun dafür gestraft worden sei. Die
„Kupplerin“ habe sie für 1000 Fr. an einen alten katholischen Mann ver¬
kuppelt. Der Mann sei recht gewesen, mehr als gut, aber auch bös und
die Kupplerin habe ihn aufgestiftet, daß er geglaubt habe, das Kind sei
nicht sein. Da sei halt die Wut über sie gekommen. Wenn sie hätte
reden wollen, wäre der Mann auch hereingekommen (ins Gefängnis), aber
sie habe gedacht: „Nein, er muß mir nicht hinein“ und habe geschwiegen.
Beim leisesten Versuch, etwas Genaueres hierüber zu erfragen, zeigt sieh
sofort die stärkste Hemmung; sie geht sofort davon und läßt sich nicht
zurückbringen. Das zweitemal, etwa ein Jahr später, traf ich sie in ruhiger,
mehr normaler Stimmung. Sie weigerte sich wieder, zu mir zu kommen und
schimpfte, sie lasse keine Büchlein über sich schreiben. Als ich sie jedoch im Saal
aufsuchte und ihr ein paar gedörrte Birnen und einen Gruß von ihrer Schwester
brachte, war sie namentlich über die ersteren so entzückt, daß sie zwar immer
noch sagte, sie wolle nicht alles aufrütteln lassen, mich dann aber von selbst
bat, mir im Vertrauen etwas sagen zu dürfen. Als ich mit ihr allein war, bat
sie um Auskunft über ihren Mann, sie träume immer, sie sehe ihn ganz allein
in einem „Holz“ und dann wieder, er sei tot. Ihre Träume seien schon
früher immer in Erfüllung gegangen, z. B. auch damals, als er (wegen
ihrer Tat) seine Stellung verloren habe. Sie wiederholt, der Mann sei zu
gut und zu bös gewesen. Über jeden Krämer, der etwas ins Haus brachte,
sei er eifersüchtig gewesen; er habe gesagt, er wolle ein Teufel sein, wenn
das Kind ihm gehöre und da habe sie sich nicht mehr gekannt vor Zorn.
Er habe sie so gereizt, daß er sicher ins Gefängnis gekommen wäre, wenn
sie nicht so geschwiegen hätte. Der Sache näher auf den Grund zu gehen,
ist auch jetzt unmöglich. Sie spricht nur wieder von einem schrecklichen
Zorn, den sie hatte. Überhaupt sei sie immer reizbar gewesen und wenn
man sie bös gemacht habe, hätte sie alles kurz und klein schlagen können.
Vor der Geburt des Kindes und nachher sei oft ein dunkler Schatten über
ihr geschwebt und sie habe eine Stimme gehört, die rief: „Es
wird schweres über dich kommen! Du wirst es nicht mehr so
gut haben.“ Und dann sei es so gekommen. Die Erscheinung und die
Stimme habe sie auch während den Gerichtsverhandlungen gehabt, seither
nicht mehr. Von der Verhandlung gibt sie ein merkwürdiges Bild: Mehr¬
mals habe man gerufen: „Sie muß frei sein, sie muß frei sein!“ Plötzlich aber
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habe einer gesagt: „Nein, sie muß mir ins Zuchthaus!“ Dann sei alles
auseinandergestoben. Es scheint ihr etwas vorzuschweben, wie der Kampf
guter und böser Geister um ihre Person. Ihr Advokat sei mitden „Gerichsherren“
unter einer Decke gewesen. Sie aber habe gedacht: „Wer weiß, ob ich
morgen noch Hafersuppe esse.“ Sie habe sich in der .Nacht erhängen
wollen, „der Strick sei ihr aber zu nahe an den Hals gekommen.“ In
den ersten Jahren der Gefangenschaft habe sie manchmal abends vom Web¬
stuhl den Strick weggenommen, um sich in der Nacht zu erhängen, aber
dann habe eine Stimme ihr gerufen: „Tu es nicht! Halte aus und dulde!“
Es sei die gleiche Stimme gewesen, die ihr damals das Schwere ankündigte,
die Stimme eines höheren Geistes. Oft habe sie auch gedacht, sie wolle
vorher nur noch zwei Stündchen schlafen, dann den Selbstmord begehen,
aber dann sei sie nicht nach zwei Stunden, sondern erst am Morgen er¬
wacht und es sei zu spät gewesen. Sie zeigt während der Unterredung
auf der unteren Gesichtshälfte hie und da ein überraschend anmutiges
Lächeln, während die Augenbrauen finster oder zornig emporgezogen
bleiben. Daß der Strick ihr zu nahe an den Hals gekommen sei, oagt oio
als besonders guten Witz mit zynischem Lachen. Von ihrer Familie
spricht sie in der Manier eines Propheten: Die Schwester habe auch dumm
geheiratet. Ihr Mann sei nicht klug genug; er habe ein kleines Heimwesen
viel zu teuer gekauft, für das gleiche Geld hätte er etwas viel Besseres
haben können (wenn er sie gefragt hätte!) Der ganzen Familie sei es
schlecht gegangen, dieEltern hätten das Heim wesen aufgeben müssen, der Bruder
habe seine Braut verloren, das tue ihr alles so weh. Wenn man sagt, daran sei
sie ja nicht schuld, scheint sie etwas überrascht, sagt dann aber, wenn sie zu
Hause geblieben wäre und nicht immer mehr hätte haben wollen, wäre alles
nicht so gekommen. Es steckt in ihr eine Versündigungsidee, die sich auf harm¬
lose oder natürliche Dinge bezieht: darauf, daß sie früher lustig war (sie nennt
es übermütig) und daß sie von zu Hause fortging und heiratete, und sie leitet das
Schicksal ihrer ganzen Sippschaft offenbar von ihrem Verhalten ab. Damit
im Widerspruch taucht dann plötzlich ein anderer Gedanke auf, der an die
Bemerkung erinnert, die sie ihrem Advokaten machte (Herodes habe auch
Kindlein töten lassen). Sie sagt nämlich, wie etwas, das die Sache nun
unzweifelhaft klarstelle und das der Zuhörer, wenn er klug wäre, selber
hätte merken müssen, Hiob habe ja auch leiden müssen, ohne etwas ver¬
schuldet zu haben: ihr gehe es jetzt gerade wie dem Hiob. Mit dieser
Idee, die man sicher als Wahnidee bezeichnen kann, wenn man bedenkt,
daß ihre Leiden nicht unverschuldet, sondern als Folge eines entsetzlichen
Verbrechens über sie gekommen sind, stimmen offenbar die vorher er¬
wähnten Gehörshalluziuationen. Ihre Tat, ihre Strafe scheint sie nur als
Unglück, als eine besondere Prüfung, wie Gott sie seinen speziellen Lieb¬
lingen (Hiob) auferlegt, anzusehen. Seit ca. 4 Jahren habe sie keine
Selbstmordversuche mehr gemacht und keine Stimmen mehr gehört. Wenn sie
aber kommenden Herbst nicht begnadigt werde, werde sie sich sicher umbringen.
Fall 11. Frau Sehne T., 32 Jahre alt, seit Nov. 1906 verheiratet,
machte im Juli 1907 einen Abort durch und gebar am 19. Januar 1909
nach normal verlaufener Schwangerschaft ihr erstes Kind. Wegen eines
großen Dammrisses der langsam heilte, mußte sie 17 Tage das Bett hüten.
Zur Pflege des Kindes hatte sie unterdessen eine Freundin bei sich. Über
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ihr Verhalten zu dem Kinde werden widersprechende Aussagen gemacht.
Dem Arzt fiel auf, daß sie merkwürdig wenig Freude an dem gut ent¬
wickelten Kinde gezeigt habe, auch bei späteren Besuchen sah er nie,
daß sie es liebkoste. Die Freundin dagegen, die sie zur Pflege bis zum
5. Februar bei sich hatte, kann nichts anderes sagen, als daß sie eine
herzliche Freude an dem Kinde gehabt habe; „sie hatte weiß Gott was für
eine Sache mit den Knaben“. Der Hebamme fiel auf, daß sie das Kind
oft mit kaltem Blick ansah. Sie scheint also in ihrem Benehmen sehr
ungleich gewesen zu sein. Am 3. Tage nach der Entbindung hatte die
Frau etwas Fieber. Als ihr Mann abends heimkam und sie begrüßte,
sagte sie zu ihm, er dürfe nicht soviel mit ihr reden, sie ertrage es
nicht, und kehrte sich mit diesen Worten auf die andere Seite. Der
Freundin erklärte sie hernach, sie wisse nicht, warum sie so schroff ge¬
wesen sei, aber sie habe seine Stimme nicht ertragen können, die Stimme
der Freundin aber habe ihr gar nichts gemacht. Solange sie das Bett
hütete, war sie fröhlich, sobald sie aber aufstand zeigte sie sich sehr auf¬
geregt und jammerte, sie wisse nicht, ob sie das Kind recht pflegen könne.
Als die Freundin fortging, weinte sie heftig: sie sei nun wieder ganz allein
mit dem Kinde, wenn ihm nur nichts zustoße. — Als die Freundin fort
war, pflegte sie das Kind sehr gut, war aber so aufgeregt und deprimiert,
daß ihr Mann den Arzt holte. Sie jammerte, wie tief sie gefallen sei,
sie könne nicht einmal das Kind recht pflegen, und kümmerte dann wieder,
es koste alles so viel Geld und sie könnten sich mit dem Kind nicht durch¬
bringen. In Wirklichkeit war die zweite Angst so unbegründet, wie der
ersteVorwurf; der Mann hatte einen guten Verdienst und war sparsam, sie litten
keineswegs Not, und sie pflegte das Kind tadellos. Die Frau selber sagt, sie habe
sich ein Kind gewünscht und habe sich gefreut, eins zu bekommen. Aber
wie es dagewesen sei, habe sie sich der trüben Befürchtungen nicht mehr
erwehren können, und es sei ihr deshalb der Gedanke gekommen, sie
müsse das Kind aus der Welt schaffen, dann sei es besser. Wochenlang
wehrte sie sich gegen diese Idee, äußerte sich aber zu niemanden darüber.
Am 8. Mai kaufte sie Mäusegift (Strychninnitrat), das sie ohne Giftschein
in der Apotheke erhalten konnte, kämpfte noch 2 Tage lang mit sich selbst
und erlag dem Zwang ihrer Ideen am 10. Mai. Da machte sie eine Auf¬
schwemmung von ca. 60 gr Strychninnitrat und gab es ihrem Kind mit
der Flasche zu trinken. Während es trank, hatte sie Freude; gleich nachher
aber kam die Reue, sie freute sich, daß es erbrach und wollte ihm Fencheltee
geben. Das Kind aber nahm nichts mehr und war ‘/2 Stunde später tot.
Ihr Mann war gerade unpäßlich und lag zu Bett; sie brachte ihm weinend
das Kind, sobald es das Gift getrunken hatte und gestand ihre Tat,
und jammerte wieder, wie tief sie gefallen sei. Als der Knabe tot war,
überschüttete sie ihn mit Liebkosungen und war untröstlich. Ihr auffallendes
Benehmen seit der Geburt, die gänzliche Unbegründetheit der Motive, die
sie für die Tat angab, legten den Gedanken einer Geistesstörung nahe.
Sie wurde psychiatrisch beobachtet und es zeigte sich, daß es sich um eine
Dementia praecox mit Halluzinationen und „inneren“ Stimmen handelte.
Sehr auffallend an ihr waren die Affektäußerungen; sie schluchzte
und weinte anfänglich fast fortwährend. Es war aber kein Jammer,
der dem Zuhörer irgendwie zu Herzen ging, man war in Gegenteil unsicher
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Beitrag zur Psychologie des Kindesmordes. 341
ob sie lache oder weine; dementsprechend zeigte sich eine deutliche Para-
mimie: der untere Teil des Gesichtes lachte, der obere weinte. Ich hatte
sie zum erstenmal bei einer klinischen Vorstellung gesehen, als sie noch
sehr aufgeregt war; zum zweitenmal sah ich sie ca. 3 Monate nach der
Tat. Sie war unterdessen ruhiger und viel besser geworden; ich hatte
scheinbar einen ganz guten gemütlichen Rapport mit ihr, sie war sehr ent¬
gegenkommend und zeigte gebildetere Umgangsformen, als ihrem Stande
— sie war Dienstmädchen und Kellnerin gewesen — entsprachen. Doch
war um ihre psychische Persönlichkeit eine Schranke, über die man nicht
weiter eindringen konnte. An Affekten scheint sie dem Besucher zu ser¬
vieren, was sie für ihn für passend hält. Wenn eine bestimmte Taste an¬
geschlagen wird, gibt sie den gewünschten Affekt heraus, doch scheint er
gleich nachher nicht mehr da zu sein, oder es ist, als ob der eigentliche
Affekt tiefer steckte als die oberflächliche Äußerung und überhaupt nicht
geweckt wäre, sei es, daß die Ereignisse, oder die Menschen oder ihre
eigene, zu wenig entwickelte, zu wenig kräftige Persönlichkeit, dafür zu
indifferent seien, oder daß die Eindrücke nicht stark genug seien, um ihn
herauszureißen. Dabei besteht offenbar ein ungemein feines Gefühl für
die Geistesbeschaffenheit des Besuchers und eine gute Anpassungsfähigkeit:
„Ihnen, einer Frau, kann ich ja alles viel besser erzählen, als diesen
Herren“, sägt sie sofort. Die Paramimie ist noch sichtbar. — Zum dritten¬
mal sah ich sie 4 Monate, nachdem sie aus der Irrenanstalt geheilt nach
Hause entlassen war. Aus den Angaben, die sie mir zu diesen verschiedenen
Zeiten machte, läßt sich folgendes Bild ihres Lebens konstruieren:
Sie ist die Tochter eines Kleinbauern. Der Großvater väterlicherseits
war Potator strenuus, ein Geschwisterkind des Vaters wegen Melancholie
im Irrenhaus. Vom Großvater mütterlicherseits weiß sie nichts, aber die
Brüder der Mutter seien Trinker gewesen und einer habe beständig Selbst¬
mordgedanken gehabt und sei wahrscheinlich nur durch seinen frühen Tod
an deren Ausführung gehindert worden. Ihr Vater habe nicht getrunken, wohl
aber ihre Brüder. Eine Schwester, die mit 22 Jahren starb, war epileptisch.
Im Alter von 4 Jahren verlor sie ihre Mutter und bekam bald eine
Stiefmutter, die sich nicht darauf verstand, den Kindern Liebe zu geben
und "Liebe in ihnen zu wecken. Dieses kalte und verständnislose Verhältnis
zu Hause wird ,nicht wenig dazu beigetragen haben, daß Seline schon
als Kind wenig Selbstvertrauen zeigte, sondern sich gedrückt fühlte und die
Empfindung hatte, andere könnten alles besser als sie. In der Schule gehörte sie
zu den mittelmäßigen Schülerinnen; sie mußte nie eine Klasse wiederholen. Als
junges Mädchen arbeitete sie in einer Färberei und kam später in Stellung als
Dienstmädchen. In dieser Stellung fühlte sie sich wohl; das Insuffizienzgefühl,
das sie als Kind gedrückt hatte, verlor sich, da sie sich von der Herrschaft
und den Mitdienstboten geschätzt und geachtet sah. Bei ihrer Herrschaft
arbeitete ein junger Deutscher, den sie liebgewann und mit dem sie sich
heimlich verlobte. Ihre Eltern waren einer Verbindung mit dem mittellosen
Ausländer sehr abgeneigt. Der Bursche habe fleißig gearbeitet und sieh
im ganzen anständig aufgeführt, wenn er auch hie und da die Tendenz
gezeigt habe, auf einen näheren Verkehr zu dringen. Eines Abends aber
bestürmte er sie leidenschaftlich und sie mußte ihn anflehen, „nichts zu
machen.“ Er hörte auf sie; am andern Tag aber verschwand er aus der
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X. Margarete Meier
Gegend und einige Zeit später schrieb er ihr einen Abschiedsbrief. — Nach
jenem Abend befiel sie ein starker Lebensüberdruß; sie liebte den Burschen
und hatte einerseits auch den Wunsch, ihm anzugehören, andererseits aber
gehörte sie zu den Frauen, für die außerehelicher Verkehr eine Un¬
möglichkeit ist und die den Mann verachten, der Forderungen an sie stellt,
bevor die legale Grundlage gegeben ist, auf der allein sie leben können.
Zu dem Schmerz, den eigenen Wunsch auf lange hinaus noch unerfüllbar
zu sehen, gesellte sich für sie der andere, größere, ihn, den sie liebte,
, etwas erstreben zu sehen, was sie für Unrecht hielt. Schon hier zeigt sich eine
Spaltung ihrer Persönlichkeit: Das ungerechte Verlangen ließ ihre Liebe
kalt werden, sie war also eigentlich gar nicht in Gefahr. Dennoch paßt
sie sich in ihrem Benehmen dem leidenschaftlichen Besucher an: sie fleht
ihn an, sie zu lassen, und sie brauchte doch nichts, als aus den Möglich¬
keiten ihrer Individualität heraus und mit der Festigkeit der besseren Ein¬
sicht ihn auf den rechten Weg zu weisen.
Ihre Dienstherrin fragt sie nach dem Grunde ihrer Niedergeschlagenheit:
„Sind sie etwa in der Hoffnung?“ „Nein, aber es hätte fast dazu kommen
können“, antwortete sie und begeht damit wieder einen Kompromiß mit der
in der Frage enthaltenen laxeren Moral, gegen ihre eigene anspruchsvollere
Persönlichkeit. Ja, sie begeht mit sich selbst Kompromisse, indem sie mit
der Möglichkeit, die eigentlich für sie gar nicht existierte, rechnet und sich
sagt: „Wenn ich in die Hoffnung gekommen wäre, so hätte er mich ganz
gleich nachher sitzen lassen können“. Vielleicht begegnet sie damit einem
Selbstvorwurf, vielleicht einem Vorwurf, den sie zwischen den Zeilen des Ab¬
schiedsbriefes herauszulesen glaubte. Sie denkt auch über die unehelichen
Mütter nach: „Die Kinder vermögen sich ja nichts. Wenn eine sich selbst und das
Kind tötet, tut sie es der Schande wegen“. Wie eine Mutter nur das Kind töten
kann und sich nicht, begreift sie nicht; sie dächte, man müßte es halt dann
haben und erhalten. Die Vorstellung von unehelichen Müttern ist über¬
haupt bei ihr affektbetont: als sie und ihre Schwester von zu Hause fort¬
gingen, hatte sie der Vater ermahnt, es solle ihm ja keine s o heimkommen.
„Wenn aber eine doch soweit kommen sollte, dann solle sie nichts Dummes
anstellen, er werde sie deshalb nicht verstoßen“. In dieser Ermahnung liegt
die gleiche Spaltung, in der sie selbst in ihrem Verhalten gegen den Lieb¬
haber und in den nachherigen unnützen Reflexionen begriffen ist. — Es
kamen ihr in dieser Zeit auch Selbstmordgedanken, die sie aber verhältnis¬
mäßig. leicht überwinden konnte.
Einige Zeit später wurde sie von ihren Verwandten und Bekannten
überredet, den Heiratsantrag eines vermöglichen und angesehenen Bauern
anzunehmen. Ihre Liebe zu dem Deutschen war noch nicht ganz ver¬
wunden, der neue Bewerber war ihr zuwider und doch ließ sie sich zu
der Verlobung bestimmen. So groß war also ihr Mangel an Selbstvertrauen
und Selbstbestimmungsvermögen, daß sie ihre ganze psychische Persönlich¬
keit den Argumenten ihrer Umgebung unterzuordnen versuchte. Ihre Ab¬
neigung gegen den Verlobten war aber schließlich doch stärker als ihre
Anpassungsfähigkeit; nach einem Besuche bei seinen Verwandten, wo diese
und er selbst ihr protzig begegneten, zog sie ihr Wort zurück. In der
Hoffnung, sie doch halten zu können, verlangte der zurückgewiesene
Bräutigam vor Friedensrichter von ihr eine Entschädigung von 100 Fr.
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Beitrag zur Psychologie des Kindesmordes.
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Sie bezahlte ohne weiteres und er nahm und behielt das Geld. Die ganze
Angelegenheit hatte ihr viele Aufregungen und Kämpfe verursacht und die
Gewalttat gegen ihre Psyche ging nicht spurlos vorüber: sie behauptet, von
diesem Ereignis an im Kopf viel schwächer geworden zu sein.
Sie zog in eine andere Gegend und kam als Kellnerin in eine gute
Wirtschaft. Da lernte sie ihren jetzigen Mann kennen. Sie sah schnell,
daß er sie gern hatte, hielt sich aber zurück und beobachtete ihn. Es
gefiehl ihr, daß er solid war und im Gegensatz zu anderen Arbeitern nie
ein grobes oder unanständiges Wort gebrauchte und nie zudringlich war.
Sie zog auch Erkundigungen über ihn ein, die ihre Beobachtungen be¬
stätigten. Sie fand und schätzte an ihm hauptsächlich die Eigenschaften, die ihr
erster Verlobter hätte haben müssen, damit sie hätten glücklich werden
können. Sie wußte wohl, daß sie ihn nicht so liebte, wie sie den anderen
geliebt hatte, aber sie meinte doch, ihn gern zu haben, nahm seinen Antrag
an und heiratete ihn gern. Aber ihr guter Wille, ihn zu lieben, reichte
doch nicht allzuweit. Wie die meisten Frauen, die ohne eigene spontane Liebe
einen Mann heiraten, der sie liebt, erwartete sie, der Mann werde auch
nach der Heirat sich bemühen, ihre Liebe weiter zu wecken. Für den
Mann aber war natürlich mit der Heirat alles zu seiner Zufriedenheit erledigt
und er dachte gar nicht daran, weiter um etwas zu werben, was er schon
ganz zu besitzen glaubte. Die Frau fand Enttäuschungen: sie wäre
Sonntags gern mit ihm spazieren gegangen, er aber saß bei Kameraden
und ließ sie warten usw. Der Mann war auch eifersüchtig; die Frau
gab sich Mühe, für ihre Zimmermieter alles möglichst gut zu machen. Der
Mann fand, es brauche da nicht so viel, er habe auch kein so schönes
Zimmer gehabt, worauf sie ihm entgegnete, er sei ja nur ein Arbeiter, ihre
Zimmermieter aber seien „bessere Herren“, die eben größere Ansprüche
machten. Das Verhältnis der Eheleute gestaltete sich am unerquicklichsten
während der Zeit der Gravidität Die Frau war schon vorher gegen den
ehelichen Verkehr gleichgültig geworden, wie leicht begreiflich ist, da der
Mann nicht verstanden hatte, ihre Seele zu gewinnen. Aber während der
Gravidität wurden ihr seine Ansprüche direkt widerwärtig und empörten
sie. Der Mann seinerseits behandelte sie während dieser Zeit schlechter als
sonst; er benützte jede Gelegenheit, um sie als dumm hinzustellen; das
Insuffizienzgefühl aus ihrer Kindheit kam wieder über sie; sie fühlte sich
wieder bedrückt und unfähig. Manchmal dachte sie, wenn sie nur wieder
Dienstmädchen wäre und keinen Mann hätte, oder wenn nur der Mann
sterben würde. Einmal sagte er zu ihr, sie könne gewiß nicht einmal ein
rechtes Kind zur Welt bringen. Dieser unberechtigte Vorwurf wurde zum
Ausgangspunkt für ihre spätere Zwangsidee, das Kind werde schwachsinnig.
Im Wochenbett haßte sie ihren Mann und mochte ihn nicht sehen und
nicht hören. Den Haß übertrug sie schließlich auch auf das Kind, ihre
anfängliche Freude an ihm wurde zur Gleichgültigkeit und Abneigung.
Sie wollte das Kind in Pflege geben, um es vor ihren feindseligen Impulsen
zu retten, da aber ihr Mann nicht darauf einging, erlag sie schließlich dem
Zwangsimpuls, es zu töten. Diese bis zum Haß gehende Abneigung gegen ihren
Mann gesteht sie erst, seit sie als genesen wieder zu Hause ist und sie dieselbe
— scheinbar wenigstens — überwunden hat. Solange sie in der Irrenanstalt war,
behauptete sie immer, der Mann sei recht und sie habe ihn gern. Nur aus
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X. Margarete Meier
dem Vorfall im Wochenbett, wo sie seine Stimme nicht hören mochte und
aus einigen kleinen anderen Zügen war zu schließen, daß nach der Richtung nicht
alles klappte. Auch war auffallend, daß sie, die scheinbar die Zeit der
Heimkehr zum Manne nicht erwarten konnte, dafür damals doch schon
wieder eine Zwangsidee in Bereitschaft hatte: wenn sie nochmals ein Kind
bekäme, werde gewiß der liebe Gott ihr Verbrechen gegen das erste an ihm
rächen. An alle Einzelheiten ihres damaligen Zustandes kann sie sich jetzt
nicht mehr erinnern, sie kann im allgemeinen nur sagen, daß sie über
ihre eigene Situation nicht klar war. In der Irrenanstalt hatte sie Gehörs¬
halluzinationen: sie hörte ihre Angehörigen über sie schimpfen und sagen,
so etwas täten nur die Dirnen.
Vor ihrer Rückkehr nach Hause wurde sie mit ihres Mannes und
ihrem Einverständnis einer Sterilisationsoperation unterzogen. Sie erscheint
jetzt wieder normal, zeigt aufrichtige Trauer wegen des Kindes, rühmt,
wie ihr Mann jetzt gut gegen sie sei; gleichzeitig wundert sie sich aber
über eine eigentümliche Gedächtnisschwäche: was den Haushalt angeht,
kann sie alles im Kopf behalten; aber wenn der Mann ihr etwas aufträgt,
vergißt sie es immer und immer wieder.
Diskussion der Fälle.
Brouardel zeigt in seinem Buch: L’infanticide in meisterhafter
Weise, wie verschieden der Eindruck ist, den das Verbrechen des
Kindsmordes macht, je nachdem man das Opfer der Tat oder die
Täterin vor Augen hat. Sieht man das Kind vor sich, das erstickte
erschlagene oder ertränkte, so kann man sich des Mitleides mit dem
unschuldigen Opfer und des Abscheus gegen die Täterin nicht er¬
wehren.
Am sch 1 gibt dieser Empfindung in seiner oben zitierten Arbeit
mit folgenden Worten Ausdruck:
„Die Vorstellung, daß ein Wille, bestimmt der schönsten Blüte
menschlichen Empfindens zu dienen, der Mutterliebe, die Frucht des
eigenen Leibes vernichtet, erfüllt uns mit Abscheu.“
Nun erscheint aber die Täterin, — und alles bekommt ein anderes
Gesicht. Denn fast immer ist es — ich folge wieder Brouardel
— eine Frau, die das tiefste Mitleid einflößt. Es sind sozusagen nur,
sagt er, die anständigen, verführten Mädchen, die ihr Kind töten; die
schamlosen töten es nicht, die geben es der Pflegerin und wissen, daß
das Resultat aufs gleiche herauskommt: nach einigen Monaten hören
sie auf zu bezahlen, wechseln ihre Wohnung und — hören nie mehr
etwas von dem Kinde. Und er zitiert den Fall der Frau Dyer, einer
„Engelmacherin“ großen Stils als Beispiel für die gewerbsmäßig or¬
ganisierte Ermordung der Unschuldigen. Die milde Behandlung des
Kindsmordes, die dem Unglück der Täterin Rechnung trägt, ist erst
am Ende des 18 . Jahrhunderts in das Strafrecht eingedrungen, vorher
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Beitrag zur Psychologie des Kindesmordes.
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sah man nur die erste Seite des Verbrechens, das arme mißhandelte
Opfer; die Täterin wurde dementsprechend aufs furchtbarste bestraft,
nicht nur mit dem Tode, sondern mit dem scheußlichsten Tode durch
Säcken und Pfählen und Lebendigbegrabenwerden oder mit dem Tode
am Galgen oder durch Ertränken, dem man aber raffinierte Qualen
vorausgehen ließ: Kneifen mit feurigen Zangen u. dergl. In der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erstanden der Kindsmörderin be¬
redte Anwälte: H. L. Wagner veröffentlichte das Drama „Die Kinds¬
mörderin“, Bürger „Des Pfarrers Tochter von Taubenheim“
Schiller „die Kindsmörderin“ und Goethe endlich die Gretehen-
tragödie im Faust, Das Problem lag auch sonst in der Luft: Ein
Unbekannter hatte 3 Preise ausgesetzt für die beste Bearbeitung der
Frage: Welches sind die besten ausführbaren Mittel, dem Kinder¬
morde abzuhelfen, ohne die Unzucht zu begünstigen? Die drei prä¬
mierten Arbeiten wurden 1784 in Mannheim veröffentlicht; sie sind
heute noch lesenswert und enthalten zum Teil überraschend moderne
Gesichtspunkte, ja, es werden Grundsätze aufgestellt, die in der Praxis
noch heute nicht oder wenigstens nicht konsequent angewandt sind,
beispielsweise der, daß die Strafe für eine Tat nur nach dem mehr
oder weniger nachteiligen Einfluß derselben auf das allgemeine Beste
zu bemessen und in erster Linie dazu bestimmt sei, ähnlichen Hand¬
lungen und ähnlichen nachteiligen Folgen für den Staat vorzubeugen.
Wer sich seine Vorstellungen von den Kindsmörderinnen nach
den Beispielen in der schönen Literatur, im Faust z. B. gebildet hat,
der wird von den Fällen, wie sie vor Gericht Vorkommen und hier
erzählt sind, enttäuscht sein; keine dieser Frauen scheint mit der
poesieverklärten Gestalt Gretchens irgendwelche Ähnlichkeit zu haben.
Doch wird Gretchen wohl zu ihrer Zeit für gewöhnliche Sterbliche
nur ein hübsches Bürgermädchen gewesen sein, wie andere hübsche
Bürgermädchen auch, und hätten ihre Tugend, ihr Liebreiz, ihre Hin¬
gebung und Verzweiflung nicht ihren Sänger in Goethe gefunden,
kännten wir ihre Geschichte nur nach den gerichtlichen Akten, so
stünde sie als ein sehr leichtsinniges und verbrecherisches Mädchen
vor uns: mit einem hergelaufenen Manne, von dem sie nichts weiß,
als daß sie ihn liebt und daß er schöne Worte machen kann, läßt sie
sich ein, ohne daß er ihr auch nur die Ehe versprochen hat. Was
konnte sie von ihm anderes erwarten, als daß er die Stunde der
Freude mit ihr teilen, in der Stunde ihrer Qual aber fern sein würde,
in der Stunde, in der sie vor der Mutter Gottes kniet: „Neige dein Ant¬
litz gnädig meiner Not!“ Die Mutter vergiftet sie durch einen Schlaf¬
trunk, der Bruder stirbt durch ihren Geliebten und ihr Kind ertränkt
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X. Margarete Meier
sie. Soviel hat keine meiner Kindsmörderinnen auf dem Gewissen.
Also liegt wohl ein Unterschied zwischen der Gerichtsbehandlung und
der durch den Dichter und der Unterschied ist der, daß der Dichter
mit einem Zauberstab die innerste Seele seiner Menschen befreit und
zum Sprechen bringt; die innerste Seele, von der der Mensch selber
oft nicht mehr als eine unbestimmte Ahnung, den „dunklen Drang“
kennt und mit der jedenfalls das Gericht bis jetzt nichts anzufangen
weiß. Den Gegensatz des dichterischen Empfindens und einer Ge¬
richtsverhandlung hat Goethe selbst aufs beste gezeichnet in einer
kleinen Szene in Meisters Lehrjahren, — und er mußte diesen Gegen¬
satz wohl sehr gut kennen, da er nicht nur Dichter, sondern neben¬
bei auch Jurist war. Es handelt sich um die Szene, wo eine Kauf¬
mannstochter, die mit einem Schauspieler aus dem elterlichen Hause
geflohen war, deshalb vor Gericht kam, und wo der Amtmann nach
den „Geheimnissen der Liebe mit dürren Worten und hergebrachten
trockenen Formeln“ sich erkundigte. Die Kaufmannstochter machte
ihr. Geständnis mit so viel Mut und Vornehmheit, daß Wilhelm von
den Gesinnungen des Mädchens einen hohen Begriff faßte, „indes die
Gerichtspersonen sie für eine freche Dirne erkannten“.
Auch die Psychologie stellt sich die Aufgabe, die Sprache der
menschlichen Seele zu ergründen. Gelingt ihr die Aufgabe in dieser
Arbeit, so werden wir vielleicht finden, daß auch unsere Kinds¬
mörderinnen mehr Erbarmen als Abscheu verdienen und wir werden
vielleicht Gründe finden, die es rechtfertigen, das jetzt schon zur Milde
neigende Strafrecht noch milder zu gestalten. Und vergleichen wir
den vorzitierten Satz Amschis mit den Tatsachen, so werden wir
uns schwer der Einsicht verschließen können, daß auch die „schönste
Blüte menschlichen Empfindens, die Mutterliebe“ — einen bestimmten
Boden braucht, auf dem sie gedeihen kann und einen Gärtner, der
sie pflegt, und daß sie kaum jemals ihre ganze Schönheit wird er¬
langen können, wenn ihre Wurzel, die Liebe der Mutter zum Vater
des Kindes, von diesem selbst gebrochen oder zerstört worden ist.
Der Schlüssel zur Seele des Menschen ist seine Affektivität.
Bleuler sagt:
„Die Affektivität ist viel mehr als die Überlegung das treibende
Element bei allen unsern Handlungen und Unterlassungen. Wahr¬
scheinlich handeln wir nur unter dem Einfluß von Lust- und Un¬
lustgefühlen; die logischen Überlegungen erhalten ihre Kraft erst
durch die damit verbundenen Affekte. — Die Affektivität ist der
weitere Begriff, von dem das Wollen und Streben nur eine Seite
bedeutet.“
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Beitrag zur Psychologie des Kindesmordes. 347
Für meine Arbeit ist es deshalb sehr ungünstig, daß ich mit einer
einzigen Ausnahme alle diese Frauen erst kennen lernte, als schon
die Gerichtsverhandlungen und mehr weniger lange Gefängnisstrafen
über sic hinweggegangen waren, Dinge also, die wie nichts anderes
geeignet sind, die Affekte zurückzudrängen und durch eine gleich¬
mäßige Resignation zu verdecken. Nur die Frau T. im Fall 1 sah
ich, solange sie noch in Untersuchungshaft war, und zwar in einem
Moment, wo sie über ihre Affekte nicht so weit Herr war, daß sie
sie hätte verbergen können, sondern wo sie mich ganz in ihre Seele
blicken ließ. Ich sah sie später auch in der Strafanstalt wieder, aber
da war sie ganz anders; wenn sie jetzt auch gewollt hätte, sie hätte
sich mir doch nicht mehr so in ihrem ursprünglichen Empfinden
zeigen können, wie damals. Diese Erscheinung war sehr instruktiv;
sie zeigte, wie durch die Gerichtsverhandlung und das Urteil etwas
ganz Neues in die Frau hineingekommen war: ein Mißtrauen gegen
die Menschen, die alles so ganz anders ansehen und beurteilen, als
sie selbst, und ein gewisses Bestreben zu verstandesmäßiger Anpassung
an diese andern Auffassungen. Die Motive, die sie zur Tat trieben,
und die vorher so übermächtig wirkten, daß nichts daneben Raum
hatte, scheinen nun in ihren eigenen Augen entwertet, nachdem sie
vor Gericht nichts gegolten haben, und sie findet es kaum der Mühe
wert, etwas davon zu sagen. Ihre Beweggründe waren:
1. Finanzielle Sorgen, bei der Unmöglichkeit, daß sie selbst in
hren alten Tagen noch mehr leisten könne, als bisher.
2. Angst vor den Schimpfereien des Mannes.
3. Sorge, das Kind werde immer ein armes, verstoßenes Ge¬
schöpf sein.
4. Furcht vor der neuen Schande für die Familie und nament¬
lich für die Tochter.
Ihr Mann teilte die finanziellen Sorgen nicht; der Verdienst von
3 Personen (Vater, Mutter und ältere Tochter) sagt er, hätte, wohl
ausgereicht. Was die Beurteilu ng des Verdienstes angeht, so bin ich
geneigt, dem Manne mehr zu glauben als der Frau; aber für den
Verbrauch im Haushalt hat sicher die Frau das richtigere Urteil.
Viele Männer sind durchaus nicht imstande, den Wert des Geldes im
Haushalt zu bemessen; jedes Minimum, das sie dafür geben, dünkt
sie zu viel. Bei dem Verdienst der 3 Personen ist zu bedenken, daß
der Vater einen nicht unbedeutenden Teil für das Wirtshaus brauchte,
daß der Erwerb der Frau nicht sehr groß gewesen sein wird und
daß die Tochter, die als hoffärtig geschildert wird, die alle Ver¬
gnügungen mitmachte, ihren Fabrikverdienst höchstwahrscheinlich
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348
X. Margarete Meier
selbst aufbrauchte. Alles in Betracht gezogen, ergibt sich als wahr¬
scheinlich, daß die Frau sparsam sein mußte und finanzielle Sorgen
hatte; offenbar war es aber bei weitem nicht so schlimm, wie sie es
ansah. Im äußersten Falle wäre ja noch übrig geblieben, die Hilfe
der Gemeinde anzurufen. An diese Möglichkeit dachte aber die
Frau gar nicht; sic sah weiter nichts, als daß sic selbst noch
mehr würde arbeiten müssen, als bisher und das schien ihr,
die ihrer Lebtag nichts gehabt hatte, als Arbeit, Tag und Nacht, wie
sie sagt, 1. unmöglich und 2. entsetzlich hart. Bezeichnenderweise
denkt sie nicht, es müsse jedes Glied der Familie sich etwas mehr
anstrengen, denn sie ist die einzige, die sorgt; von den andern er¬
wartet sie nichts, als was sie von ihnen gewohnt ist: Gleichgültigkeit,
Gehenlassen und daneben doch große Ansprüche. Unterstützt wurden
diese Kümmernisse dadurch, daß die Frau im Rückbildungsalter stand,
wo eine trübere Auffassung aller Dinge normalerweise eintritt, und
dadurch, daß sie von Zeit zu Zeit noch von sehr starken Blutungen
heimgesucht war.
Es kamen hinzu die Sorgen 2, 3 und 4, die ihre Begründung
hatten. Daran ist nicht zu zweifeln, daß auch unter unserer Fabrik¬
bevölkerung ein uneheliches Kind für eine Schande gilt; als ich die
Familie T. einmal aufsuchen wollte, um die Töchter kennen zu lernen,
mußte ich ein paarmal nach der Wohnung fragen; jedesmal, sobald
ich den Namen gesagt hatte, konnte ich beobachten, daß ein viel¬
sagendes Lächeln gerade noch so weit unterdrückt wurde, daß ich
noch deutlich daraus lesen konnte: „Ja, ja, die kennt man schon.“
Auch für ein Mädchen, das sowieso für leichtsinnig gilt, ist die
Schande nicht weniger groß, im Gegenteil; denn das Kind ist weiter
nichts, als der Beweis für das, was man schon immer geglaubt und
gesagt hatte, was man aber sonst nicht fassen konnte. Hätte die
Frau auf die Unterstützung und den guten Willen ihrer ganzen
Familie oder doch ihres Mannes rechnen können, wäre sie nicht unter
dem melancholischen Einfluß des Rückbildungsalters gestanden, so
wären ihre Besorgnisse sicher nicht ausreichend gewesen, um sie zur
Kindstötung zu treiben. Oder mit der Erschwerung durch diese Um¬
stände hätte sie dennoch bei gesundem Urteil den rechten Weg nicht
verloren, wenn sie eine glücklichere Vergangenheit gehabt hätte. Wie
aber war es damit? Ihr Schicksal ist leider das typische Los einer
großen Anzahl von Frauen, es verlohnt sich deshalb, davon zu reden.
Sie heiratet jung den Mann, den sie liebt, von dem sie, wie ihr
scheint, geliebt wird. Sie hat Kinder, sie hat zu essen, sie hat Arbeit,
aber sie wartet noch auf etwas, — worauf? Sie wartet darauf, daß
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der Mann, dem sie ihren Körper gegeben hat, endlich komme und
verlange, daß sie ihm auch von ihrer Seele etwas gebe. Sie ist
zwar eine ungebildete Frau und hat das alles nicht so klar im Be¬
wußtsein, aber nichtsdestoweniger hat sie eine Seele, die hungert; sie
fühlt, daß ihr etwas fehlt und daß da außer dem körperlichen Zu¬
sammenleben ihren Mann und sie noch etwas anderes verbinden
sollte. Darauf wartet sie; der Mann aber hat dafür keine Zeit, er
sitzt im Wirtshaus. Er ist der Typus des „braven Mannes", der keine
Ahnung davon hat, was er seiner Frau antut dadurch, daß er sie
immer allein läßt; der sich um Frau und Kinder nie genauer be¬
kümmert und der deshalb hilflos yor den bei beiden zutage tretenden
Erscheinungen dasteht; er kann für die Familie eventuell arbeiten,
auch schimpfen, wenn nicht alles glatt geht oder ein Unglück schon
geschehen ist; er hat aber absolut die Voraussetzung, zu Hause müsse
alles in Ordnung sein, ohne daß der Vater etwas anderes als arbeiten,
Geld geben und schimpfen müsse.
Bei gleicher Bildung und gleichem Intellekt zeigen dieser Mann
und diese Frau die charakteristischen Unterschiede: sie hat die Be¬
dürfnisse des Gemütes; er den Sinn für das öffentliche Leben und
keinen für das familiäre. Sie hat gar kein Verständnis für Gesetze
und Strafrecht, sie folgt nur ihrem eigenen „dunklen Drange“ und
steht mit Gott auf dem Fuß, daß sie an ihn glaubt, aber ohne weiteres
annimmt, er verstehe und verzeihe, denn er sehe ja, daß sie sich nicht
anders zu helfen wisse.
Wenn man sich ein Bild machen wollte von der Geistesbeschaffen¬
heit der beiden, so könnte man sich etwa vorstellen, der gleiche In¬
tellekt sei bei ihm wie ein ausgezogenes Netz mit großen Löchern in
der Mitte, mit feinem am Rand; bei ihr aber wie ein weniger aus¬
gezogenes Netz mit feinem, gleichmäßigem Öffnungen. Der ganze
Umfang des ihren würde etwa die Mitte des seinen, wo die großen
Maschen sind, decken. Was bei ihr in den feinen Maschen hängen
bleibt und sich als Affekt äußert, geht bei ihm unbehindert durch die
groben Maschen durch, macht also keinen Eindruck. Wo bei ihm
das Netz undurchlässig wird, ist bei ihr überhaupt nichts mehr vor¬
handen.
Die innere Zone wäre die des Gemütes, des individuellen Rechts,
die äußere die des öffentlichen, gesetzlichen Rechts. So erklärt es
sich, daß der Mann die Frau in ihrem Seelenleben schwer verletzen
und beleidigen konnte, ohne es zu wissen, und daß anderseits die Frau
einer Handlung gegen das Gesetz fähig war, die der Mann, obschon
er nicht besser ist als sie, nie begangen hätte, über die er entsetzt
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X. Margarete Meier
ist und die er gar nicht versteht. Und die Frau, wenn sie das Fazit
ihres Lebens und ihrer Tat nach dem Maßstab des öffentlichen Kechts
ziehen wollte, würde ungefähr so rechnen: „Der Mann hat mich
30 Jahre lang jeden Tag gequält, aber an ihm ist kein Makel; ich habe in
einer schwierigen Lage durch einen Akt der Selbsthülfe mich von einer
neuen Last und meine Tochter von einer Schande befreit und ein armes
Kind vor einem elenden Leben bewahrt, im übrigen aber für Mann und
Kinder immer mein Möglichstes getan; aber ich bin eine Verbrecherin.“
Die Tat läßt sich durch die im Augenblick der Vollstreckung
wirksamen Sorgen und Kümmernisse nicht genügend erklären, sie er¬
klärt sich aber, wenn man das, was die Frau 30 Jahre stillschweigend
getragen hat, hinzunimmt.
In einem Ausbruch elementarer Verzweiflung sagte sie zu mir:
„Unsereinem kann niemand helfen, man kann es nur niemandem sagen.“
Dieser Ausspruch, diese Verzweiflung geht offensichtlich nicht
nur auf den letzten Zuwachs an Schwerem (das uneheliche Kind
ihrer 2. Tochter), das sie erlebt hat, zurück, sondern auf das ganze
in den Jahren ihrer Ehe aufgespeicherte Elend. Und ihre Tat muß
angesehen werden als die gewaltsame Lösung der in all den Jahren
unerträglich angewachsenen Spannung. Daß diese Spannung schon
lange vorher sehr hoch war, beweist der Wunsch, den sie früher
hatte: „wenn sie nur das Wirtshaus anzünden könnte.“ Und man
erinnere sieb, daß in ihren Befürchtungen das Schimpfen des Mannes
eine Bolle spielt, die man zunächst als unbedeutend ansieht; im Zu¬
sammenhang mit allem Übrigen erscheint es aber als möglich, daß
gerade dieses ausschlaggebend war: sie hat nach der Bichtung in den
30 Jahren ihrer Ehe so viel ertragen, daß ein mehreres ihr unmöglich ist. —
Die Täterin in Fall 2 kenne ich nur nach den Akten, nach den
Schilderungen ihrer Schwester und nach einer Photographie, nach
einem Material also, das für eine erschöpfende Psychologie unzu¬
reichend ist. Die Hauptmerkmale sind: guterzogenes Mädchen in
prüder Umgebung, etwas eitel, etwas oberflächlich, etwas schwärme¬
risch und romantisch, dazu gesellig und lebenslustig und mit einer
ausgesprochenen Tendenz zur Verschönerung der nüchternen Wirk¬
lichkeit (sie stellt ihren Geliebten um eine soziale Staffel höher). Sie
führt ein Dasein, das für eine lebensvolle Natur wohl als unnatürlich
bezeichnet werden darf, die ganze Abwechslung geht vom Bureau
nach Haus zur Schwester und in die Kirche. Weitere Gesichtspunkte
und engere Kontakte mit dem sozialen Leben fehlen.
Sie lernt einen Mann mit artigen Manieren, feinerem Charakter
und hübschen Augen kennen und kommt mit ihm täglich in Berührung.
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Beitrag zur Psychologie des Kindesmordes.
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Er hat eine weniger gebildete, eifersüchtige Frau; sie sieht ihn un¬
verstanden, sie aber ist diejenige, die ihn in seinem ganzen Werte zu
würdigen weiß. Mit ihrer romantischen Veranlagung, mit der Fähig¬
keit, sich über die Wirklichkeiten zu stellen, kommt sie über die
Tatsache, daß er schon eine Frau hat, hinweg. Vielleicht war auch
die Rede davon, daß er scheiden würde, davon wissen wir aber nichts.
Über alles, was zum sexuellen Leben der Frau gehört, Schwanger¬
schaft, Geburt, hat sie sich geflissentlich nicht unterrichtet und sie
pocht und spekuliert nun auf ihre Unwissenheit: was sie nicht weiß,
das darf ihr doch auch nicht passieren. Sie weiß nur etwas von
ihrer Liebe und die findet ihre Berechtigung in sich selbst. Mit was
für Gefühlen sie ihre Schwangerschaft ertragen und verheimlicht hat,
mit was für Gefühlen sie es ertrug, den Mann, auf den sie doch be¬
stimmt, mit oder ohne Versprechen, rechnen mußte, ruhig an der Seite
seiner unbedeutenden Frau bleiben und sie, die schönere, wertvollere,
gebildetere, die ihn verstand und ihm alles geopfert hatte, im Stich
lassen zu sehen, darüber wissen wir nichts. Scheinbar sei sie unver¬
ändert heiter gewesen. In ihren Papieren fand sich aber eine Ab¬
schrift jüngeren Datums aus einer Novelle von Stellmacher, wo
die Rede ist, von Tränen, „die um ein aus tausend feinen Adern
fließendes Weh“ vergossen werden. Daß sie das abgeschrieben hat,
wird wohl als Symbolhandlung aufgefaßt werden können. Ob sie
ihr Kind wirklich getötet hat, ist nicht nachgewiesen; es muß aber
als sicher angenommen werden. Daß sie ein ausgetragenes Kind
gebar, ist durch den ärztlichen Befund (Placenta, Dammriß II °) sicher
gestellt. Die Beweggründe müssen wohl in den unüberwindlichen
Hemmungen, etwas so Unerhörtes ihrer prüden Umgebung zu ge¬
stehen, in der Unerträglichkeit des Gedankens, wie sie, die als ein
tugendhaftes und feines Mädchen bekannt war, vor den Leuten da¬
stehen würde, gesucht werden. Daß sie durch die Geburt abnorm
aufgeregt war, ist nicht anzunehmen; im Gegenteil brauchte sie eine
erstaunliche Klarheit und Willenskraft, um alles im Geheimen ab¬
machen zu können.
Wie stark die Motive der Schande waren, erhellt ohne weiteres
daraus, daß sie ihnen schließlich ihr eigenes, junges Leben opferte.
Was für eine erschütternde Tragik liegt in diesem Frauenschicksal!
Das gleiche, wofür ihrem Geliebten weder von der Welt noch von
den Gesetzen ein Haar gekrümmt wird, muß sie mit einem Verbrechen
und mit dem Leben bezahlen. Kaum ist sie der Lebensgefahr einer
schweren Krankheit entronnen, kaum hat sie die erste Freude über
ihre Genesung empfunden, so nimmt sich das Gericht ihrer an und
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X. Margarete Meier
stellt sie vor die Alternative: Schande oder Tod. Und da wählt sie
den letztem.
Fall 3 ist ein Beweis dafür, wie sehr eine Untersuchung nach
Gerichtsverhandlung, Urteil und nach einiger Zeit Strafa, nsta.lt über
die Affektivität täuschen kann. Dieses Mädchen hatte mir ohne jede
Gemütsbewegung erzählt, wie sie das Kind mit dem Schuh erschlagen
habe, aber sie hatte mir verschwiegen, daß sie sich selbst umbringen
wollte. Ich sah also nur die Roheit der Tat und wußte nichts von
der Verzweiflung, die so groß war, daß sie das eigene Leben nicht
geschont hätte. Ich hielt denn auch N. J. für die leichtsinnigste und
gefühlloseste aller dieser Frauen. Lange Zeit nachher aber erfuhr
ich von der Krankenschwester, die sie in der Frauenklinik gepflegt
hatte, daß sie in der äußersten Verzweiflung in die Klinik gebracht
worden sei. Man habe das Gefühl gehabt, daß ihr Herz zum Zer¬
springen voll sei, und niemand habe es über sich gebracht, sie mehr
als das allernotwendigste zu fragen. Eine genauere Kenntnis ihres
Vorlebens zeigt auch, dass sie der Verführung weniger leichtsinnig
anheimfiel, als man nach ihrer eigenen, affektlosen Darstellung glauben
konnte. Sie hatte vorher einen sittlich tadellosen Wandel geführt und
das will etwas heißen, wenn man bedenkt, daß sie wiederholt in
Hotelküchen angestellt gewesen war, wo die Atmosphäre für ein
junges, ganz alleinstehendes Mädchen gefährlich genug ist. Ihr ehe¬
maliger Küchenchef hatte sie in A. dem spätem Verführer, einem
Witwer mit 4 Kindern, mit der Bemerkung vorgestellt, das wäre jetzt
wieder eine Frau für ihn, worauf der andere antwortete: „unter Um¬
ständen schon“ und sie einlud, ihn zu besuchen. N. J. schätzte den
Mann auf 45 Jahre; er war in Wirklichkeit erst 30. Diese Über¬
schätzung des Alters scheint aber darauf hinzudeuten, daß er ihr einen
autoritativen, bestimmenden Eindruck machte, und das wird dazu bei¬
getragen haben, daß sie der Verführung erlag. Vielleicht konnte sie,
wie Gretchen, sagen: „Weiß nicht, was mich nach deinem Willen treibt.“
Während der Gravidität hatte das Mädchen eine sehr strenge
Stelle inne; sie besorgte sie, ohne je auszusetzen oder auch nur zu
klagen. Und doch habe sie oft so müde ausgesehen, daß die Herrin
selber sie fragte, ob sie es auch wirklich machen könne. Sie wollte
von keiner Schonung wissen. Es macht den Eindruck, als hätte sie
sich durch die Arbeit betäuben wollen. Ihre Schwangerschaft ver¬
heimlichte sie vor allen Leuten. Ihre Aufführung war auch in dieser
Zeit tadellos.
Den Entschluß, das Kind und sich selbst umzubringen, hatte sie
schon vor der Geburt gefaßt. Was sie dazu trieb, war die Furcht
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vor der Schande und wohl auch das Gefühl, der schweren Zukunft
nicht gewachsen zu sein. Die Tötung aber beging sie, wie sie selbst
sagt, bei voller Klarheit des Bewußtseins. Auffällig ist indessen, daß
sie mir angab, das Kind mit einem Schuh erschlagen zu haben,
während sie vor Gericht sagte, sie habe dasselbe auf den Boden ge¬
schlagen. Da sie sonst weder bei den gerichtlichen Vernehmungen,
noch mir gegenüber von der Wahrheit abgewichen ist, kann ich mir
diesen Widerspruch nicht recht erklären. Die Furcht vor Schande
war für sie mit außerordentlichem Gefühlswert ausgestattet. In einem
Briefe von kürzlich schrieb sie mir: „Habe viel gelernt in der Straf¬
anstalt, was mir zunutzen ist, aber ich möchte das nicht mehr mit¬
machen, lieber gleich Leben nehmen.“ Und weiter: „Bleibe ganz für
mich“ (sie ist wieder frei und an einer Stelle) und sage es auch nie¬
mand, sonst könnte ich nimmer unter den Leuten herumlaufen, sie
würden mit den Fingern auf mich zeigen.“ — Das Mädchen ist
übrigens mit Imbezillität mäßigen Grades behaftet.
Auch die Täterin in Fall 4 ist in mäßigem Grade schwachsinnig.
Die Geschichte dieses Mädchens ist von Anfang an eine so unglück¬
liche, daß sie das größte Mitleid erweckt. Nichts, was gut gewesen
wäre, nichts, was einen Halt gewähren konnte, bot sich diesem
Mädchen: Elternliebe kannte es nicht, den Vater verlor es mit 4 Jahren,
die Mutter war eine Unwürdige. Das Vertrauen zur Kirche, in die
Erleichterung durch Beichte wird ihr durch die schlechten Witze
zweier Priester, die sie mit anhören muß, genommen. Ein Bursche
nähert sich ihr, er gefällt ihr, sie glaubt an ihn, — und überrascht
ihn bald mit zwei Dirnen im Wald. Und schließlich das Attentat,
das über ihr weiteres Schicksal entschied. Wahrscheinlich war sie
bey dieser Sache nicht ganz so harmlos, resp. nicht so schwer be¬
trunken, wie sie es darstellt; aber sicher ist sie doch einem Schurken¬
streich zum Opfer gefallen und einigermaßen ist es auffallend, daß
die Untersuchung sich nie um den Mann bekümmert hat, gegen den
sie eine so schwere Beschuldigung erhob. — Das Mädchen scheint
auch sonst von den Männern gehetzt gewesen zu sein; in den gericht¬
lichen Akten taucht noch ein anderer auf, mit dem sie ebenfalls in
M. im gleichen Hotel verkehrt haben soll. In Z. verlobt sie sich
bald darauf mit einem Dritten und zwar diesmal mit einem Burschen
von sehr anständiger Gesinnung. Er schrieb ihr in die Strafanstalt,
wenn sie ihm nur alles gesagt hätte, so hätte sie das nicht zu tun
brauchen; er hätte ihr alles verziehen; nach der Strafe solle sie nur
an ihn gelangen usw. Sie hatte bisher noch nie mit anständigen
Männern zu tun gehabt; es ist daher nicht erstaunlich, daß sie diesem
Archiv für Kriminalanthropologie. 37. Bd. 23
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X. Margarete Meier
neuen Bekannten nicht von sich aus ein solches Vertrauen entgegen-
bringen konnte. Dieses ^Mädchen hatte neben seiner Verstandes¬
schwäche offenbar eine außerordentlich große gemütliche Bestimmbar^
keit: trotzdem sie gesteht, noch nie einen Mann geliebt zu haben, hat
sie von einem Mann ein Kind, bat mit einem andern verkehrt, war
mit einem dritten halb und halb versprochen und mit dem vierten
richtig verlobt! Aber in ihrer schweren Stunde war sie allein und
ganz auf sich angewiesen. Sie hat nie zugegeben, daß sie ihr Kind
vorsätzlich tötete; aber ganz zufällig hat sie wohl nicht die Schere
mit auf den Abort genommen. Von langer Hand datierte der Ent¬
schluß nicht, denn sie hatte im Koffer Geld bereit für eine Kindes¬
aussteuer und freute sich — wir dürfen wohl beifügen: in ihren
guten Stunden — auf das Kind. Die Geburt erfolgte aber zwei
Monate zu früh und sie wurde davon überrascht. Das Motiv der
Schande war für sie nicht so gefühlsbetont wie für Fall 3, dafür war
sie zu traumhaft gleichgültig. Aber im Moment der Geburt steht doch
ein Berg von unangenehmen und unbequemen Folgen vor ihr: nie¬
mand wußte bis jetzt etwas. Gäste der Wirtschaft hatten sie zuweilen
geneckt, sie aber hatte immer geleugnet. „Jetzt, was würde es für
Aufsehen machen! Wie würde man ihr begegnen? Was müßte sie
für Erklärungen geben? Würde man sie aus dem Hause weisen?
Was sollte ihr Verlobter dazu sagen?“ Ihr Ausspruch, sie habe sich
noch nirgends so wohl gefühlt wie im Zuchthaus, beweist zur Ge¬
nüge, was für ein schwacher, passiver Charakter sie war, beweist,
daß sie vom Leben eigentlich nichts verlangte, als einen sichern Port,
sei er auch, wie immer, wenn sie nur Kühe vor allen Hetzereien, und
Frieden darin hätte. Nun sollte sie wieder einmal aus etwas Gewohn¬
tem, Sicherem heraus ins Ungewisse. Man denke an die bisherigen
Erfahrungen des Mädchens, man denke an ihre Geistes- und Gemüts¬
beschaffenheit, die sie allen Ereignissen zum Opfer werden ließ, und
man begreift ihr Handeln in diesem Moment. Man begreift, daß ein
Bestreben, ein Instinkt sie beherrschte, der Instinkt, allen Schwierig¬
keiten dadurch aus dem Wege zu gehen, daß sie das Kind in der
Versenkung verschwinden ließ. Denn um anders zu handeln, um
alle Konsequenzen auf sich zu nehmen, hätte sie einen tatkräftigen,
ungebrochenen Lebensmut gebraucht, wie sie ihn überhaupt nie be¬
sessen hatte. Ihr Selbstbestimmungsvermögen war von Haus aus ein
sehr geringes. Für die Annahme, daß sie durch den Geburtsvorgang
verwirrt war, ergibt sich kein Anhaltspunkt. —
Einem mittleren Grad von geistigem und moralischem Schwach¬
sinn und dem Motiv der Schande begegnen wir wieder im Fall 5,
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Der Ehrbegriff zeigt in diesem Fall jedoch eine merkwürdige Ver¬
zerrung: Das Mädchen schämt sich, Geld zu leihen, schämt sich aber
nicht, zu stehlen; sie schämt sich, zuzugestehen, daß sie nicht ver¬
heiratet ist, schämt sich aber nicht, das Kind deshalb umkommen zu
lassen, es heimlich wegzuschaffen und eine Menge Lügen zu ver¬
breiten. Sie erscheint also total unfähig, die ethischen Werte richtig
zu bemessen; ihr Ehrbegriff ist nicht moralisch, sondern rein äußer¬
lich und eher unmoralisch. Es handelte sich auch nicht um die Ver¬
bergung der Schwangerschaft, — diese war der Umgebung längst
bekannt — es sollte nur verborgen bleiben, daß sie noch nicht verhei¬
ratet war. Sie konnte ja aber den Leuten sagen, daß sie schon mit
H. auf dem-Zivilstandesamt war und daß die Hochzeit nur seiner
Reise nach Italien wegen aufgeschoben sei, dann wäre sie vor den
Louten genügend legitimiert gewesen. Von einer eigentlichen Furcht
vor Schande konnte gar nicht die Rede sein; viel eher als eine Schonung
ihrer Ehre war es eine Schonung ihrer Eitelkeit. Aber ein anderes
Motiv ging tiefer: Sie konnte auf H. ja nicht bauen; unter nichtigen
Vorwänden hatte er die Heirat immer und immer hinausgeschoben;
untreu war er ihr auch gewesen und ihr fiel nun nichts ein als seine
Lügen. Als er zu ihr gekommen war und gebettelt hatte, hatte sie
ihm gegen ihre bessere Einsicht den Willen getan; nun, da sie seinet¬
wegen in Angst und Not war und sich auf ihn hätte sollen stützen
können, war er nicht da. In seinen spärlichen Briefen hieß es stereo¬
typ, er komme „vielleicht“ in 8 Tagen, nie etwas Sicheres und nie
ein Zeichen, daß er an ihre Lage dachte und Verständnis dafür hatte,
Die 8 Tage gingen immer wieder herum und er'kam nicht. Also auch hier
hatte sich eine Spannung angehäuft, auch hier ist es kein Wunder, wenn
die Gegenwart des Kindes die Mutter nicht mit Freude erfüllt, sondern
ihr im Gegenteil das Angstvolle, Unsichere ihrer Lage mit erdrücken¬
der Schwere zum Bewußtsein bringt, und es ist kein Wunder, wenn die
Mutter den Zeugen jener Nacht, die sie längst verwünschte, lieber nicht
gehabt hätte, wenn sie zur Überzeugung kommt, es sei besser, er sterbe.
Aktiv hätte sie das Kind nicht töten können, sagt sie. Der passiven Tötung
aber ist allerdings die auch nach einer normalen Geburt sich einstellende
Erschöpfung besonders günstig. Am klaren Bewußtseinszustand der Ge¬
bärenden war aber auch hier nicht zu zweifeln; sie bestätigt ihn
selbst; auch sagt sie ja, sie habe noch nach 2 Stunden das Kind
atmen sehen. — Prämeditiert war das Verbrechen auch hier nicht;
die Aussteuer des Kindes war bereit.
Anna U. im Fall 6 war eine geistige und moralische Schwach¬
sinnige. , Die Schwangerschaft hatte sie gegen ihren Willen erduldet, den
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X. Margarete Meier
Vater des Kindes konnte sie weder achten, noch lieben, ja sie mußte ihn
verabscheuen, wenn sie eines so starken Gefühls überhaupt fähig war.
Ihre affektive Unselbständigkeit tritt überall klar zutage: sie er¬
duldet die Angriffe ihres Schwagers, weil die Schwester (der die Sache
offenbar recht war) sie schilt, sie habe immer zu zanken und was
sie immer für Lärm mache; sie duldet den Angriff von K. offenbar
nicht wegen dem Brot, das sie trug, oder den Ohrfeigen, die sie
fürchtete, sondern weil da ein Wille war, stärker als der ihrige. Sie
wagt nicht, gleich nachher der Frau K. ihre Gefühle zu zeigen, ihren
Schmerz unterdrückt sie, bis sie aus den Leuten heraus ist. Sie hat
aber doch Ehrgefühl und verschweigt aus Scham alles vor den Eltern.
Sie zeigt auch Ansätze von Gerechtigkeitssinn, die in ihrer Unbeholfen-
heit und Langsamkeit rührend - komisch sind. So wenn sie dem
Schuster K. nachher sagt, sie werde dann schon noch mit ihm reden;
darin scheint etwas zu stecken wie moralische Entrüstung oder wie
Drohung mit dem Gericht. Aber da er darauf nichts gibt und noch sogar
den „Kopf“ macht, ist die Empörung bei ihr schon wieder unterdrückt.
Oder wenn sie das tote Kind zu ihm nach B. trägt, offenbar im rich¬
tigen Gefühl, er sei eigentlich an allem schuld und das Kind sei ja
sein, da solle ers auch haben. Sie bedauert, daß sie nicht mit ihm
reden konnte, wahrscheinlich schwebte ihr vor, daß die Leiche des
Kindes zusammen mit dem, was sie sagen würde, den Effekt einer
niederschmetternden Bache machen müßte. Zur Tat trieben sie 1. die
Furcht vor der Schande der Entdeckung, 2. die unbestimmte aber
starke Furcht, daß man sie ins Armenhaus schicke und 3. die Ab¬
neigung gegen das unwillkommene und nicht gewünschte Kind eines
gehaßten Vaters., Die Tat geschah bei klarem Bewußtsein; den Ent¬
schluß hatte sie schon zuvor gefaßt, für den Fall, daß die Geburt bei
Nacht stattfinde.
Luise T. im Fall 7 ist ebenfalls geistig und moralisch minder¬
wertig. Auffallend war, daß sie vor Gericht zuerst einen falschen
Vater angegeben hatte, einen Mann, mit dem sie nach ihrer Angabe
6 Monate, nach derjenigen des Betreffenden 14 Tage lang harmlose
Bekanntschaft gehabt hatte. Das konnte eine Symbolhandlung sein
mit der Bedeutung, daß sie von dem Betreffenden gern ein Kind
gehabt hätte. Und so war es in der Tat. Jenen hatte sie geliebt
und war sehr traurig, als er ihr einen Abschiedsbrief schrieb. Bald
darauf ergab sie sich dem andern, der sie liebte, den sie aber nicht
leiden mochte. Dieser wollte sie heiraten, aber sie wollte ihn nicht.
Das Kind hatte sie nicht gern, weil sie auch den Vater nicht gern
hatte. Deshalb wollte sie auch nichts für dasselbe bezahlen. Hatte
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sie es gehabt, eigentlich ohne eigenes Vergnügen, so mochte er dafür
sorgen, das hielt sie ganz für seine Sache. Als er nicht mehr be¬
zahlte, tötete sie es eher, als selbst etwas zu geben. Ihre Motive
waren also: 1. Abneigung gegen das Kind des ungeliebten Mannes,
2. Geiz.
Als ein Beweis besonderer Gefühlsroheit konnte es angesehen
werden, daß sie gleich nach der Tat mit einem fremden Manne ins
Konzert und zum Bier ging. Als Beweis feiner Gesinnung ist es
sicher nicht zu werten, doch war das auch nicht zu erwarten. Es
scheint mir aber eher ein Versuch zur Betäubung des Gewissens zu
sein und das trotzige Bestreben, sich gegen jeden Gedanken an die Tat
zu verhärten.
Eine sehr merkwürdige und schwer zu beurteilende Person ist
die Lina Zero vom Fall 8. In Jörgers „Familie Zero“ und im ärzt¬
lichen Gutachten wird sie als gefühllos und gemütsroh geschildert. Ich
kann diesem Urteil nicht ganz zustimmen. Allerdings verschmähte sie
es auch durchaus, mir einen Blick in ihr Inneres zu gönnen; aber es
gab Bemerkungen, die ihr eine Röte ins Gesicht trieben und die sicht¬
lich erregbare Komplexe bei ihr getroffen hatten. So z. B. als ich sie
frag, ob sie nicht froh gewesen wäre, zu heiraten, einen braven Mann,
und ein Heim zu haben; ob sie da nicht die Kinder gern gehabt hätte?
Als Antwort sagt sie darauf freilich nur, das gehe niemanden etwas an.
Ich halte das aber nur für eine Verdrängung. Als sie jung war und
ihr erstes Kind hatte, hat wahrscheinlich doch etwas anderes in ihr ge¬
lebt als jetzt. Sicher ist, daß sie einer Anzahl von Männern liebenswert
genug erschien. Der Vater ihres zweiten Kindes hatte nicht nur ein
ganz vorübergehendes, sondern ein länger dauerndes (Verhältnis mit ihr
und hat Briefe mit ihr gewechselt. Er war Geschäftsreisender aus
rechter Familie und ist jetzt längst verheiratet. — Jetzt scheint sie es
allerdings für ganz unnütz zu halten, Gefühle zu zeigen, oder sich für
irgend etwas Mühe zu geben. Es scheint, als stünde sie dank einer
Kraft, die sie aus ihren verlotterten Verhältnissen und ihrer traurigen
Abstammung zieht, über den gewöhnlichen Sorgen, Mühen und Gefühlen
der Menschen, darum taxiert sie alle Fragen, die von diesen Stand¬
punkten aus an sie gestellt werden, als dumm und verweigert eine rechte
Antwort. Und eigentlich liegt auch eine inadäquate Denkmethode
darin, Leute, die so ganz aus der Art der normalen Menschen heraus
sind, mit dem gewöhnlichen Maßstab zu messen. Einen Wildheuer
fragt man auch nicht, warum er nicht lieber auf offenem Gelände
ernte. Einem Wildheuer möchte ich sie vergleichen: geordnete Ver¬
hältnisse, Treu und Glauben der anderen Menschen existierten von
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X. Margarete Meier
Anfang an nicht für sie, weil sie sie auch nicht erwartete, sondern
von Haus aus andere Voraussetzungen mit sich brachte. Also be¬
gnügte sie sich mit Wildheu. Unter lauter Leuten ihres Schlages
kann ich mir denken, daß sie Affektivität und Intellekt zeigen würde;
aber normalen Menschen in normalen Verhältnissen gegenüber ist
sie damit um einige Generationen zurück und kann nicht nachkommen.
Auffallend ist der Stolz, mit dem sie jede Einmischung von
außen, aber auch jede Hilfe ablehnt. Sie hat auch nie eine Vater¬
schaftsklage angestrengt, obschon sie wußte, daß man das kann.
Vielleicht aus Stolz: Sie hatte von diesen Männern ihr Vergnügen
gehabt, freiwillig taten sie ihr kein mehr eres, also mochten sie gehen.
Die Motive der Kindstötung sind bei ihr finanzielle: Bis 1894
hatte ihre Mutter sie unterstützt, dann wurde sie geisteskrank, die
Unterstützung fiel also weg, — und im Februar 95 stirbt das kleine
Kind an Vergiftung. Sie haßte die Kinder nicht, aber solange sie da
waren, mußte sie ihren ganzen Verdienst dafür geben.
Frau Elise Z. in Fall 9 ist eine intellektuell und moralisch
Minderwertige, von Kind auf eine Lügnerin und Diebin. Das er¬
tränkte Kind hatte sie nicht gern, sie dachte schon vorher, es werde
hoffentlich nicht davon kommen. Sie war nie zärtlich mit ihm. Es
war nichts als ein unerwünschter Zuwachs zur Familie, es vermehrte
ihre Not, es war ihr ein Hindernis, wenn sie jemals in die Gemeinde
zurück wollte, denn dort hatte man ihr schon längst gesagt, sie müsse
vom Manne fort. Während der Schwangerschaft war sie von ihrem
Manne verlassen gewesen, ein sicher schwerwiegendes Motiv der Ab¬
neigung gegen das Leben in ihrem Schoß. Ihre Tat beging sie in
einem Zustand von pathologischer Erregtheit; am Bahnhof zeigte sie
Beziehungswahn: sie hörte verächtliche Bemerkungen und sah ver¬
ächtliche Blicke. Beides bezog sie nur auf das ungeliebte Kind und
nur dieses verleugnete sie, nicht das ältere, das sie gern hatte; nach¬
dem sie das kleine, ungeliebte ins Wasser gelegt hatte und nun selbst
mit dem größeren Kind folgen will, hat sie eine schöne teleologische
Halluzination: „Nicht weiter etc..“. Günstiger konnte die Halluzination
ja nicht kommen, als in dem Moment, wo das ungeliebte Kind nicht
mehr zu retten, dem geliebten und ihr selbst aber noch nichts geschehen ist.
Motive ihrer Tat waren: 1. Die Abneigung gegen das Kind,
2. die Not.
Frau Hulda G. in Fall 10 halte ich für eine Psychopathin.
Schon ihr Vater muß nach der Beschreibung seiner Frau an manisch-
depressiven Zuständen gelitten haben. Von der Tochter sagt die
Mutter, sie sei gewesen wie der Vater. In der Aszendenz kommt
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viel Trunksucht, 2 Selbstmorde und eine Geisteskrankheit vor. Nach
dem Zeugnis ihres Mannes und der Nachbarin B. war Frau G. nach
der Geburt verändert; der Mann datiert die Änderung vom Wohnungs¬
wechsel an, die Nachbarin von der Geburt; sicher aber ist, daß sie
zur Zeit der Tat bestand. Schon vor der Geburt begann die Gesichts¬
und Gehörshalluzination mit dem prophetischen Schalten; sie dauerte
bis zur Beendigung der Gerichtsverhandlungen, also ungefähr 2 Monate
lang. Die Stimme entsprach den Befürchtungen in ihrem Innern und
bezog sich offenbar zunächst auf das Kind: „Es wird Schweres über
dich kommen, du wirst es nicht mehr so gut haben“. Das Kind
würde ihr Zwietracht mit ihrem Mann und viel Mühe und Arbeit
bringen. Der zweite Teil der Gehörshalluzination wäre damit erklärt,
der erste: „es wird Schweres über dich kommen“ muß noch etwas
mehr in sich schließen; auch hörte sie ja die Stimme noch, nachdem
sie das Kind schon getötet hatte. Die Schwangerschaft war ihr nicht
willkommen; sie äußerte einmal während derselben, ihr Mann tue ihr
nur leid, daß er in seinem Alter noch so etwas durchmachen müsse.
Es ist klar, daß eine Frau sich nicht recht auf ein Kind freuen kann,
wenn sie fürchtet, es sei dem Manne im Weg; auch kommt dazu,
daß sie nicht den Mann ihrer Wahl geheiratet hat, sondern sich an
einen „alten Mann und katholisch verkuppeln“ ließ, wie sie sich aus¬
drückt, daß sie also auch aus diesem Grunde dem Kinde nicht die
gleichen Gefühle entgegenbringen konnte, wie demjenigen eines ge¬
liebten Mannes. Mit dem Manne war sie zu dieser Zeit auch eines
nebensächlicheren Umstandes wegen unzufrieden: Er hatte sie aus
einer schönen neuen Wohnung in eine unfreundliche alte mit Mäusen
und Käfern umziehen lassen und mutete ihr zu, den ganzen Tag „in
dem Loch“ allein zu sein. Ihre trübe Stimmung scheint dadurch
bedeutend verschlimmert worden zu sein. Das alles hätte sie nicht
zur Kindestötung getrieben, wäre nicht die unerhörte Reizung durch
die Beschuldigung der Untreue, die ihr Mann ihr entgegenschleuderte,
dazu gekommen. Da beging sie die Tat. Schon früher neigte
sie zu pathologischen Zornausbrüchen, wo sie alles kurz und
klein schlagen könnte. Mit der Mißhandlung des Kindes war
die Spannung gelöst, der Zorn verraucht, und obschon sie jetzt sah,
daß der Knabe nicht tot war, tat sie ihm nichts mehr, sondern holte
Hilfe. Das ist ein Beweis dafür, daß die Tat nur durch die patho¬
logische Erregung möglich und nicht vorsätzlich war. Die Vorgänge
bei der Mißhandlung sind nicht genauer aufgeklärt; sie selbst zeigt
unüberwindliche Hemmungen, wenn sie davon reden soll. Hält man
aber ihren immerwiederkehrenden Ausspruch, der Mann wäre auch
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X. Margarete Meier
ins Gefängnis gekommen, wenn sie nicht geschwiegen hätte, zusammen
mit der Aussage des Mannes, er habe sie knieend und weinend beim
Bett gefunden und sie habe ihm gesagt, sie und das Kind seien
überfallen worden, er aber habe nichts weiter gefragt und das Kind
nicht angesehen, sondern sei gleich wieder weggegangen, — so hat
man den Eindruck, der Mann sage nicht die volle Wahrheit, er müsse
mehr von der Sache wissen. Dieser Eindruck erhält eine Stütze
dadurch, daß Frau G. behauptet, die „Kupplerin“ habe den Mann
instruiert, was er aussagen müsse, sonst wäre er nicht frei ausgegan¬
gen. Ich halte daran für richtig, daß der Mann nicht genau aus¬
sagte; die „Kupplerin“ wird Frau G. nur deshalb beschuldigen, weil
sie ihren Mann schonen will und weil sie der „Kupplerin“ überhaupt
an allem Schuld gibt. Ein solcher Wutausbruch entsteht nicht ohne
Veranlassung; ein Mann, dem die Frau sagt, sie und das Kind seien
überfallen worden, kehrt nicht gleichgültig den Rücken, bevor er ge¬
naueres weiß; es liegt also nahe, zu vermuten, der Mann sei heim¬
gekommen und habe die Frau wieder einmal mit der Beschuldigung
der Untreue gereizt, und darauf sei in seiner Gegenwart der Wut¬
ausbruch und die Tat erfolgt. Das ist psychologisch viel leichter
verständlich: Der Zornausbruch war ja gegen den Mann gerichtet,
es war eine Reaktion auf seine Beleidigung; also mußte sie die Tat
vor seinen Augen begehen, sonst traf sie ihn ja gar nicht damit.
Ich halte dafür, daß Frau G. ihre Tat in pathologischem Zorn
in unzurechnungsfähigem Zustand begangen hat uud daß sie überhaupt
zur Zeit der Tat und wahrscheinlich schon lange vorher in mäßigem
Grade geisteskrank war. In ihrer Kindheit schon fiel sie durch un¬
natürliche Stimmungen (übertriebene Lustigkeit, dazwischen wieder
sehr mürrisches Wesen) auf; gegen den Lehrer war sie manchmal
so degagiert, daß ihr Benehmen den Schulkameradinnen noch nach
20 Jahren als frech in Erinnerung ist. Das war auffallend, denn der
Lehrer ist eine Respektsperson und sie war das Kind frommer Leute
und wurde zu Hause sehr streng gehalten. Eine Änderung ihres Zu¬
standes im Sinne einer deutlichen und dauernden Depression trat ein
nach dem Bruch ihrer Verlobung, eine zweite in gleichem Sinne nach
der Geburt ihres Kindes. Stets war sie abnorm reizbar. Ihrem Ad¬
vokaten fiel auf, daß sie gar kein Verständnis für ihre Lage hatte.
Dazu machte sie die sonderbare Bemerkung: Herodes habe auch
Kindlein töten lassen. Sie versäumt es, die Aussagen zu machen, die
zu ihrer Entlastung hätten dienen können. Sie hatte Halluzinationen,
sie versteckt Wahnideen, die nur gelegentlich zum Ausdruck kommen:
Versündigungsideen, die sich bezeichnenderweise nicht auf das Wich-
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tige, die Tötung des Kindes, sondern auf harmlose und natürliche
Dinge beziehen, Größenideen, und wahrscheinlich auch Verfolgungs¬
ideen, die sie hauptsächlich mit den Personen der sog. Kupplerin
und der „Gerichtsherren“ verbindet.
Eine genauere Diagnose wage ich nach der kurzen Beobach¬
tung nicht zu stellen, jedenfalls ist es eine Krankheit, die mit mani¬
schen und depressiven Zustandsbildern einhergeht, die aber nicht
das Bild des reinen manisch-depressiven Irreseins zeigt. Es scheint
mir nicht ganz ausgeschlossen, daß es sich um eine Epilepsia larvata,
vielleicht in Verbindung mit einem leichteren Grad von Dem. praecox
paranoides (siehe die Andeutung von Paraminie) handeln könnte.
Meiner Ansicht nach hätte die Frau in eine Irrenanstalt gehört, statt
in die Strafanstalt.
Frau Seline T. in Fall 11 leidet nachgewiesenermaßen an
Dementia praecox, boi der die Geburt die Rolle des auslosenden Mo¬
mentes gespielt hat. Jung hat in seinem Versuch über die Psycho¬
logie der Dementia praecox nachgewiesen, daß auch diese Krank¬
heit von Komplexen beherrscht wird und zwar — im Unterschied zur
Hysterie — von unveränderlichen, dauernd fixierten Komplexen. Er
läßt es unentschieden, ob der Komplex bei vorausgesetzter Disposition
die Dementia praecox verursacht resp. auslöst, oder ob bloß, im Moment
des Krankheitsausbruchs ein bestimmter Komplex zufällig vorhanden
war und die Symptome determinierte. Jedenfalls betont er, daß in
zahlreichen Fällen am Eingang der Krankheit ein starker Affekt
steht, von dem aus sich die einleitenden Verstimmungen entwickeln
und dem man versucht wäre, Kausalbedeutung beizulegen. Mir scheint,
daß man vielleicht zwischen latentem und manifestem Eingang
der Krankheit unterscheiden sollte. Bei unserer Patientin bricht die
Krankheit im Puerperium aus und es läßt sich nachweisen, daß sie
auf einen affektiven Komplex trifft, der die Symptome determiniert.
Die Entstehung des Komplexes fällt zeitlich nicht mit dem manifesten
Anfang der Krankheit zusammen, dennoch liegt die Versuchung, ihm
Kausalbedeutung beizulegen, sehr nahe. Es ist der Komplex der
Abneigung gegen den Ehemann. Es ist eine Abneigung, die sich bis
zum Hasse steigert und die von einer Frau empfunden wird, deren
Psyche als fein und subtil organisiert bezeichnet werden muß. Wir
haben gesehen, daß sich schon früher diese Psyche in Widersprüchen
mit der gröber empfindenden Umgebung befand: in der Liebesaffäre
mit dem Deutschen und der Verlobungsgeschichte mit dem wohl¬
habenden Bauern; beide Male auch zeigte sie eine Spaltung in der
Weise, daß sie einerseits an ihren eigenen Postulaten festhielt, ander-
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X. Margarete Meier
seits aber mit der Umgebung Kompromisse einging. In beiden Malen
siegten die eigenen Postulate, aber wie es scheint, beide Male auf
Kosten eines Stückes seelischer Gesundheit. Das einemal stellt sich
ein Lebensüberdruß mit Selbstmordgedanken ein, vom zweitenmal
an datiert die Patientin selbst ein Schwächerwerden des „Kopfes“.
Und nun befindet sie sich im schwersten, täglich sich erneuernden
Konflikt; sie ist verheiratet mit einem Mann, dessen solide Eigen¬
schaften sie achtet, den sie gern lieben möchte, aber sie kann ihn
nicht nur nicht lieben, sondern fühlt sogar eine wachsende Abneigung
gegen ihn. Und doch stellt er Ansprüche an sie. Unter solchen
Umständen kann bei vorhandener Disposition wohl eine Geisteskrank¬
heit ausbrechen. Ein Fingerzeig liegt in der Gehörshalluzination, die
sie hatte: „Das machen nur Dirnen“. Sie erzählte den Inhalt
der Halluzination nur unter großer Sperrung; zunächst wollte sie ihn
auf die Tötung des Kindes beziehen oder wenigstens keine andere
Beziehung zugeben. Ich machte sie aber darauf aufmerksam, daß es
in der Regel nicht Dirnen sind, die ihre Kinder umbringen; sie war
betroffen und gab dann zu, daß es vielleicht die Meinung gehabt
haben könnte, nur Dirnen verkehrten mit Männern, die sie nicht lieben.
Aber ich hatte den Eindruck, sie habe auch damit die Sache nicht zu ihrer
eigenen vollen Zufriedenheit erklärt, konnte aber weiter nichts erfahren;
ich muß deshalb die Frage offen lassen, ob es sich vielleicht um
eine besondere eheliche Zumutung handelte, die vielleicht auch die
letzte und stärkste Quelle ihres Hasses war. Das Hauptsymptom ihrer
Krankheit war die starke Verdrängung ihres Mannes und alles dessen,
was mit ihm zusammenhing. Beim Kinde des gehaßten Mannes wurde
die Verdrängungsidee zum Zwangsantrieb zum Morde. Die Befürch¬
tung, sie könnten mit dem Kinde nicht durchkommen, kann mit der
Verdrängung des Mannes Zusammenhängen, denn wenn er fort ist,
ist auch sein Verdienst fort. Die Frau habe sich in dieser Zeit auch
aus lauter finanzieller Besorgnis gefürchtet, recht zu essen. Nähere
Nachfrage zeigte jedoch, daß sie jedesmal das, was ihr der Mann
extra gebracht hatte, wie z. B. Eier, nicht anrühren mochte. Die Be¬
fürchtung, sie könne das Kind nicht recht pflegen, war wieder eine
Erscheinung ihres alten Insuffizienzgefühls und zugleich eine Anpas¬
sung an die Vorwürfe ihres Mannes, der sie als dumm hinzustellen
pflegte. Es war mir aufgefallen, daß sie in der ersten, ganz kurzen
Unterredung, die ich nach ihrer Genesung mit ihr hatte, sogleich
wieder von den unehelichen Müttern zu reden anfing und sagte, sie
habe es immer so furchtbar gefunden, wenn eine ihr Kind getötet
habe und nun sei sie selbst so weit gekommen. Es drängte sieb
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mir die Vermutung auf, die Abneigung gegen den Mann und alle
Symptome bei der Tötung ihres Kindes möchten in letzter Linie auf
ihre Liebe zu dem Deutschen, ihre Erfahrung mit ihm und ihre da¬
malige Beschäftigung mit dem Los der unehelichen Mütter zurück¬
gehen. Wenn sie den Mann aus ihrem Bewußtsein verdrängte, so
war ihr Kind ein uneheliches, dann war es das Kind des ersten Ver¬
lobten, dann war sie „so tief gefallen“, dann konnte sie nicht selber
für das Kind sorgen, dann war sie in finanzieller Not und dann
konnte dem Kind etwas passieren, denn dann war sie in Versuchung,
dasselbe und sich selbst der Schande wegen zu töten. Es war auch
ihre Absicht, selber zu sterben; sie kam nur nicht zur Ausführung,
und auch in der Irrenanstalt hatte sie noch Suicidgedanken. Sie
hatte nun, als ich sie das letztemal sprach, zugegeben, daß sie über
ihre ganze Situation damals nicht mehr klar gewesen sei. Als ich
sie frug, ob sie vielleicht in dem Irrtum befangen gewesen sei, sie
sei eine uneheliche Mutter, konnte sie das nicht direkt bestätigen, gab
aber die Möglichkeit zu. Spontan erzählte sie, daß sie jeden Gedanken
an ihren Mann weit von sich gewiesen habe, daß sie sich einen andern
Mann gewünscht habe und endlich, daß sie im Wochenbett mit ihrer
Freundin davon sprach, es sei nun auch nicht alles, wenn man schon
einen Deutschen zum Mann habe, denn da habe kürzlich wieder einer
Frau und Kinder im Stich gelassen und sei verschwunden.
Die Motive aus ihrem alten Komplex der unehelichen Schwanger¬
schaft und dem neuen der Abneigung gegen den Mann mögen sich
gekreuzt und gegenseitig verstärkt haben; ausschlaggebend bei der
Tötung war aber zugestandenermaßen die Abneigung gegen den Mann.
Bemerkenswert und für die Behandlung ähnlicher Fälle durch
den Arzt von Wichtigkeit ist, daß Frau T. sagt, sie wäre froh ge¬
wesen, wenn der Arzt oder sonst jemand sie damals gezwungen hätte»
den Grund ihrer Verstimmung anzugeben, dann hätte sie alles gesagt
und das Kind hätte vor ihr in Sicherheit gebracht werden können.
Die Frau scheint noch jetzt hie und da mit Suicidgedanken zu kämpfen
zu haben und es ist zu befürchten, daß sie ihnen gelegentlich unter¬
liegt, wenn sie es nicht über sich bringt, sich rechtzeitig jemandem
zu eröffnen.
Zus amm eüf assu ng.
In den erwähnten Beispielen handelt es sich in den Fällen 2, 3,
4, 5 und 6 um Kindesmord in strafrechtlichem Sinne, also um Er¬
mordung des Kindes durch die Mutter gleich nach der Geburt; im
Fall 1 um Mord, begangen durch die Großmutter an dem neugeborenen
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X. Margarete Meier
Enkel, in den Fällen 7—11 um Mord, begangen durch die Mutter in
verschiedenen Zeitpunkten nach der Geburt (3 Wochen bis 6 Monate
nachher). 9—11 sind verheiratete, das andere unverheiratete Mütter.
Alle diese Fälle zeigen etwas Gemeinsames, was ihnen eine
mildere Bestrafung sichern sollte, abgesehen von den mildernden Um¬
ständen (Ehrennotstand, finanzielle Not, Erregung durch die Geburt),
die das Gericht bereits angenommen hat, und abgesehen davon, daß
es sich zum Teil um schwachsinnige und geisteskranke Täterinnen
handelt. Dieses Gemeinsame ist das, daß überall hinter den Täterinnen
Verantwortlichkeiten stehen, die derBiebter heute nicht
fassen kann. Der französische Kriminalist, der bei den Verbrechen der
Männer den Grundsatz aufstellte „cherchez la femme!“, wird als besonders
geistreich gerühmt. Bei den Verbrechen der Frauen und namentlich
bei ihren sexuellen Verbrechen, wie Kindsmord usw., den Mann zu
suchen, der selbstverständlich dahinter steckt, das wäre so naheliegend
und natürlich, daß es jedem Erstbesten, nicht nur einem geistreichen
Menschen einfallen sollte. Aber „de chercher Phomme“ würde nichts
nützen, denn das Gesetz kann ihm nichts tun, weil er entweder, wie
im Fall 1 nichts juristisch Wägbares begangen hat oder, weil er wie
die unehelichen, Väter durch ein besonderes Gesetz geschützt ist.
Nach dem Züricherischen Gesetz wäre beispielsweise der Mann nur
dann strafbar, wenn er sich der Teilnahme am Mord, der Anstiftung,
der Gehilfenschaft, der Begünstigung oder Mittäterschaft im Sinne der
allgemeinen Bestimmungen des Strafgesetzbuches schuldig gemacht
hätte, was in keinem der hier beschriebenen Fälle zutrifft. Der un¬
eheliche Vater trägt keine Verantwortlichkeit für das Kind, wenn er
nicht durch eine Vaterschaftsklage zu Beiträgen an seinen Unterhalt
verpflichtet worden ist. Er kann also durch das Gesetz nur höchstens
zur Linderung der finanziellen Not herangezogen werden; dafür, daß
er die uneheliche Mutter der Schande und der Verzweiflung des
Verlassenseins preisgibt, dafür kann kein Gesetz ihm etwas an-
haben. Viel mehr als die finanzielle Not drängen aber die letztem
Momente die Unglücklichen zu ihren Verzweiflungstaten. Nach dem
französischen Gesetz („la recherche de la paternite est interdite“) kann
der uneheliche Vater auch nicht für die finanzielle Hilfe herangezogen
werden. Wahrscheinlich im Interesse der Hebung der Sittlichkeit
haben einige wenige Gesetzgebungen Polizeibußen für den außer¬
ehelichen Schwängerer festgesetzt. Ob in den betreffenden Gegenden
illegitime Geburten seltener sind als anderswo, ist mir nicht bekannt.
Die Polizeibußen werden aber kaum sehr groß sein und der unehe¬
lichen Mutter ist dadurch nichts, von der Schande und nichts von
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der Last des Verlassenseins abgenommen. Jedenfalls existiert meines
Wissens zur Zeit kein Gesetz, das dem Manne für die unehelichen
Kinder die gleiche Verantwortlichkeit auferlegt, wie für die ehelichen.
Bei diesem Rechtszustand sollte es für jedes Gesetz und für jedes
Gericht Ehrensache sein, die Tötung eines unehelichen Kindes durch
die Mutter oder einen anderen Anverwandten (wie im Fall 1), auf
den die Last fallen würde, so gelinde als irgend möglich zu bestrafen,
denn dieser Kechtszustand ist an allen diesen Verbrechen mitschuldig.
Die scharfsinnigen Erwägungen über Ehrennotstand und Einfluß der
Geburt sollten also eigentlich für diese Fälle überflüssig sein.
Bise hoff zitiert Audiffrent, welcher sagt, die Mutter betrachte
das Neugeborene als einen Teil ihrer selbst und könne dadurch leicht
zu der Vorstellung kommen, daß sie das Recht habe, darüber frei zu
verfügen. In der Tat gebrauchte Lina Zero in Fall 8 dieses Argument
(„die Kinder gehörten ja mir“), obschon es sich nicht mehr um Neu¬
geborene handelte, und in der Tat unterstützt auch das Gesetz über
das Recht des unehelichen Kindes diese Auffassung, denn es spricht
die Kinder ganz der Mutter zu und der uneheliche Vater, der sie
verlassen hat, hat sich so wie so selbst aller Ansprüche darauf be¬
geben. Auch rein naturwissenschaftlich ist die Ermordung eines
eigenen Kindes nichts anderes als eine Art Selbstmord, wobei aller
dings auch ein Stück des Vaters, bzw. der Mutter mit ermordet wird,
es ist also ein Teil eines Doppelselbstmordes, und dem Vater, bzw.
der Mutter stünde das natürliche Recht zu, eine Bestrafung zu ver¬
langen, wenn er (sie) mit der Tötung nicht einverstanden ist. Denn
das Kind ist zunächst die Vereinigung des unsterblichen Teiles beider
Eltern und bedeutet ihr Weiterleben in einer neuen Individualität.
Wollte man hieraus ein Recht für die Eltern ableiten, mit den Kindern
ganz nach Belieben zu schalten, so wäre das ein Rückfall in die
Barbarei des römischen Rechtes, das dem Vater das Recht über Leben
und Tod seiner Kinder zugestand. Vielleicht aber dürfte doch dort,
wo die übrigen Umstände der Tat es rechtfertigen, auch dieses Ver¬
hältnis der Mutter zum Kind strafmildernd in Betracht fallen.
Betrachten wir weiter die in unsern Beispielen wirksam ge¬
wesenen Motive, so finden wir das Motiv der Furcht vor Schande
(Ehrennotstand) sechsmal vertreten (Fall 1, 2, 3, 4, 5, 6), und
zweimal ist es mit so großer Kraft ausgestattet, daß in einem Fall
(No. 2) die Mutter den Selbstmord ausführt, im andern (Nr. 3) nur
durch Zufall an der Ausführung gehindert wird.
Finanzieller Notstand fügt sich in 4 Fällen dem Ehrennotstand
hinzu (Fall 1,3,4,5) und ist in 2 weiteren Fällen (8 u. 9) selbständig wirksam.
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X. Margarete Meier
Das Motiv der Verlassenheit tritt in 8 Fällen in Aktion (1,
2, 3, 4, 5, 6, 8 und 9), aber nirgends selbständig, sondern vergesell¬
schaftet mit Ehren- und finanziellem Notstand; wenn wir dieses
Motiv aber weiter fassen, etwa im Sinne von Gerhard Hauptmanns
Rose Berndt, die zwar von Menschen umgeben, aber doch ganz auf
sich selbst angewiesen war, so können wir es ruhig auf alle unsere
Fälle ausdehnen; alle diese Frauen hätten wie Rose Berndt sagen
können: „Man ist halt immer so allein“.
Geisteskrankheit ist in 3 Fällen vorhanden (6, 10 und 11)
aber in keinem reichte dieselbe an sich zur Tötung aus, sondern in
Fall 6 und 10 gesellte sich etwas Besonderes hinzu und in. Fall 11
war das besondere Motiv zugleich ein Symptom der Krankheit. In
Fall 6 ist es der Ehrennotstand und die Abneigung gegen
Kind und Vater; in Fall 10 ein pathologischer Zorn, der zu¬
nächst eigentlich gegen den Vater gerichtet ist; in Fall 11 eine
Abneigung gegen den Vater bei Veränderlichkeit und Unsicherheit
der Gefühle für das Kind.
Die Abneigung gegen das Kind tritt ^wieder auf in Fall 9
und in Fall 7, in letzterem leitet sie sich her aus der Abneigung
gegen den Vater, in ersterem aus der finanziellen Not.
Geiz ist wirksam in Fall 7.
Schwachsinnig sind die Mütter in den Fällen 3, 4, 5, 6, 7,
8, 9; also von 9 Kindsmörderinnen (nach Ausschaltung der zwei
Geisteskranken 10 und 11) sind nur zwei nichts schwachsinnig; in
einem Fall (1) ist die Intelligenz eine mittelmäßige, im zweiten (2)
eine bessere; in beiden Fällen aber bestand keine vollständig ethische
Integrität; beide Frauen waren eitel und oberflächlich.
In unsern Fällen von Kindsmord im strafrechtlichen Sinne (2
3, 4, 5 und 6) ist eine durch den Geburtsvorgang verursachte Verminde¬
rung der Zurechnungsfähigkeit nicht nachzuweisen.
Somit möchte es scheinen, als wären diese Fälle eine Bestätigung
der von Groß vertretenen Ansicht, die gesamten vom Strafrecht als
vor und nach der Geburt wirkend angenommenen psychopathischen
Faktoren seien aus den strafrechtlichen Erwägungen völlig auszuschalten,
da sie psychologisch nie gewirkt hätten. Dies um so mehr, als auch
die weiteren von Groß zitierten Merkmale vorhanden sind:
Die Geburten sind heimlich erfolgt, die Schwangerschaft wurde
verborgen gehalten (außer in Fall 5), Vorbereitungen' für das Kind
waren nicht getroffen (außer in Fall 5) und zum Überfluß bestätigen
noch 2 der Frauen (6 und 3), den Tötungsentschluß vorhergefaßt zu
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Beitrag zur Psychologie des Kindesmordes.
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haben, 6 allerdings als Eventualentschluß (wenn die Geburt nachts
erfolge), drei zusammen mit einem Selbstmordbeschluß.
Trotz alledem trifft auch hier zunächst die Ansicht von Gl eis-
pach , nicht diejenige von Groß zu: alle diese Frauen sind von der
Geburt überrascht worden: Fall 2 kannte den Termin überhaupt
nicht („sei in diesen Sachen dumm gewesen“), Fall 3 erwartete ihn
später, sonst wäre es ja einfacher gewesen, den Selbstmord, der doch
geplant wäre, vorher auszuführen, 4 gebar im Anfang' des 9. Monats,
5 anfangs des achten und auch 6 wußte natürlich Tag und Stunde
nicht vorher. 2 und 3 hatten am Tag zuvor eine lange Eisenbahn¬
fahrt gemacht, was wahrscheinlich die Geburt beschleunigte. Der
Meinung von Gleispach, das, was eine Frau dann, wenn es so
weit gekommen sei, tue oder unterlasse, könne nicht mehr als
eine im normalen Zustand gesetzte Handlung betrachtet
werden, möchte ich mich durchaus anschließen. Gewiß, in keinem
dieser Fälle handelte es sich um eine langdauernde oder sehr schmerz¬
hafte Geburt und so weit die Frauen selber darüber aussagen können,
geben sie zu, bei klarem Bewußtsein gewesen zu sein; von einer
wirklichen Bewußtseinstrübung oder von einem pathologischen Zu¬
stand in rein psychiatrischem Sinne kann gar nicht die Rede sein.
Aber die Frau befindet sich durch die Geburt in einer so neuen, un¬
gewohnten Situation, sie steht unter dem Zwange einer solchen Menge
drückender Tatsachen, an einem solchen Wendepunkt ihres Lebens,
daß ihr Zustand nicht normal genannt werden kann. Dazu kommt,
daß keine Geburt, auch nicht eine Sturzgeburt, ganz ohne körperliche
und gemütliche Erregung ablaufen kann, — es müßte sich denn wie
in einem Falle von Brouardel um eine anaesthetische und anal¬
getische Frau handeln. Diese Summe von Erregung addiert sich zu
der schon vorhandenen hinzu und der Effekt hängt von der Summe
der beiden ab, nach dem psychophysischen Gesetz, wonach die Wir¬
kung eines Reizes bedingt ist durch das Verhältnis des Reizzuwachses
zum schon vorhandenen Reiz. Wieder halte ich Gleispach s Aus¬
führungen für richtig, in denen er sagt, es würden nicht die schon
vorhandenen Motive zur Tat durch den Geburtsvorgang mit „abnormer
Kraft ausgestattet“, sondern diese blieben die gleichen, aber in Ver¬
bindung mit den durch den Geburtsvorgang hinzukommenden wären
sie nun imstande, alle Hemmungen, die moralischen und intellektuellen,
sowie die in der bloßen Gegenwart des warmen jungen Lebens
liegenden, zu überwinden. Der italienische Dichter Alfieri erwähnt ein
banales, aber zum Vergleiche sehr brauchbares Beispiel: Auf seiner Reise
in Spanien versetzte er eines Tages seinem Diener einen tüchtigen Schlag
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X. Margarete Meier
auf den Kopf, weil ihm dieser bei der Toilette ein Haar gezupft
hatte. Selbst erstaunt über diesen ungewohnten Mangel an Selbst¬
beherrschung analysierte er den Vorgang und sah, daß er schon lange
vorher aus ernsteren Gründen sehr übel gelaunt gewesen war; das ge¬
zupfte Haar brachte die maximale Spannung zur Explosion, nicht
weil der minimale neue Eeiz dem schon vorhandenen „abnorme Kraft“
gegeben hätte, sondern weil der kleine Zuwachs zur Überwindung
der durch Erziehung und Selbstdisziplin gegebenen Hemmungen ge¬
nügte, weil er der Tropfen war, der das Gefäß zum Überlaufen brachte.
Meines Erachtens ist es also gerechtfertigt, den Geburtsvorgang
als strafmildernd in Berücksichtigung zu ziehen; nicht gerechtfertigt
aber ist es, damit die Meinung zu verbinden, daß der Geburtsvorgang
das strafmildernde überhaupt sei und dass die Erregung eine phatho-
logische Höhe erreicht haben müsse, um der Mutter die mildere Be¬
handlung durch das Gesetz zu sichern, wie es der Entwurf zum Schweiz.
Strafgesetz vorsieht.
Über die krankhaften Veränderungen der Geistestätigkeit
durch die Geburt dürften im übrigen die in der Einleitung zitierten
Angaben Bischoffs als maßgebend gelten.
Zu der von Groß geäußerten Ansicht, das Verbrechen des
Kindsmords sei bei allen heimlich Gebärenden vorausbeschlossen,
drängt sich mir noch die Bemerkung auf, daß diese Annahme zu
„männlich" gedacht ist; dem Charakter der Frau entspricht es viel¬
mehr, einen bestimmten Entschluß erst dann zu fassen, wenn die Tat¬
sachen ihn nötig machen. Die Frau ist überhaupt viel mehr auf
glückliche Zufälle angewiesen als der Mann. Das Hauptereignis ihres
Lebens, daß ihre Liebe begehrt wird, kommt ohne ihr Zutun; ob sie
begehrt wird von einem rechten Mann, der die Verantwortlichkeit
für sein Tun trägt und den sie wieder lieben kann, das ist einfach
Glück, oder von einem, der nur mit ihr spielt, das ist einfach Unglück,
aber nicht ihr Verdienst oder Verschulden.
Von verschiedenen Autoren, namentlich auch von Gleispach
wird betont, daß die notwendige Grundlage für die Beurteilung des
Geisteszustandes der Gebärenden, die klinische Beobachtung
durch den psychiatrisch geschulten Frauenarzt, immer
noch fehle. Ich kann diese Lücke auch nicht ausfüllen, besitze aber
von Frl. Dr. Baltischwiler, die an der Schweiz. Pflegerinnen-
schule in Zürich ca. 3000 Geburten zu beobachten Gelegenheit hatte,
einige Angaben, die ihren Wert haben dürften.
Frl. Dr. B. schreibt, es komme wohl nur bei Psychopathinnen
vor, daß durch den Geburtsvorgang allein eine abnorme Er-
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regung oder Bewußtseinstrübung verursacht werde, die ohne Ver¬
stärkung durch andere Motive zur Kindestötung führen könne.
Weiter sagt sie: „Meine Beobachtungen beziehen sich nur auf
Anstaltsgeburten. Im allgemeinen wird durch den Geburtsschmerz
allein keine verminderte Zurechnungsfähigkeit hervorge¬
rufen. Sie halte dies nur für möglich bei außergewöhnlich schmerz¬
haften und langdauernden Geburten. Wenn bei unehelich Ge¬
bärenden sich zum Geburtsschmerz traurige Affekte hinzugesellen,
so sind es diese, welche in der größten Mehrzahl der Fälle die
Hemmungen wegfallen lassen; sie sind mithin für die Kindestötung
verantwortlich zu machen und Verminderung der Zurechnungsfähig¬
keit wäre auf ihre Rechnung zu setzen (wenn nicht das betr. In¬
dividuum schon an sich moralisch nicht ausreicht).
Ohnmächten kommen selten vor. Äußerungen abnormer
Affekto haben ich nicht oft beobachtet, womit nicht gesagt ist,
daß sie nicht öfters Vorkommen, als sie sich äußern. Im ganzen
glaube ich, solche abnorme Affekte besonders bei Geburten „nicht
gewollter“ Kinder beobachtet zu haben“.
Herr Dr. Lardelli, Sekundararzt der Zürich. Kanton. Frauen¬
klinik, hat eine unverheiratete Psychopathin beobachtet, der man das
Kind nicht geben durfte, weil sie drohte, den „Balg“ zu ermorden.
Als Maßstab der Erregung durch die Geburt erwähnt er, die
Frauen seien, wenn die Geburt eine Weile gedauert habe, zu jedem
operativen Eingriff, Kaiserschnitt, oder was es sei, sofort bereit;
alles sei ihnen lieber, als die Qual noch länger zu ertragen; viele sagen,
man solle sie lieber totschlagen. Die Sturzgeburt und die leichte
Geburt bieten einfach die leichtesten Grade dieser Erregung.
Einer sehr intelligenten Schwester der Frauenklinik verdanke ich
die Kenntniss des folgenden Falles, der leider nicht ärztlich beobachtet
ist: Eine verheiratete Italienerin war durch den Geburtsschmerz so in
Wut geraten, daß sie das Kind, das man ihr gleich nach seiner Ankunft in
den Arm gegeben hatte, emporhob und es auf den Boden geschleudert
hätte, wenn man ihr nicht schleunigst zuvorgekommen wäre. Nach¬
her nahm sie den Ehering vom Finger und warf ihn in den hintersten
Winkel. Noch nach 2 Stunden wollte sie das Kind nicht sehen.
Die Frau sei sonst intelligent und normal gewesen. Es zeigte sich
also hier eine starke Wirkung des Geburtsschmerzes auf ein zügel¬
loses Temperament, das wohl durch die Rasse bedingt war.
Eine andere Frau hatte (Angaben der gleichen Schwester) eine
lang dauernde schwere Geburt. Sie hielt sich still und tapfer. Sie
war nicht verheiratet, aber verlobt und wollte bald heiraten. Das
Archiv für Kriminalanthropologie. 37. Bd, 24
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Kind hatte sie gern. Kurze Zeit nach der Geburt brach ein Ver¬
wirrtheitszustand aus, in dem sie behauptete, man habe ihr ein fremdes
Kind untergeschoben. Der Zustand dauerte 8 Tage, dann wurde sie
wieder klar und sorgte gut für das Kind.
Bei einer anderen Frau brach nach einer schweren Geburt am
2. Tage des Wochenbettes eine Psychose mit Aufregungszustand aus,
die dauernd war.
Ein psychiatrisch gut geschulter Kollege in Holland berichtete
mir über ca. 50 kürzlich gemachte Beobachtungen in der Haus- (Armen-)
Praxis. Er war erstaunt, daß auch Frauen, die schon mehrere Kinder
hatten, in Todesangst und während der Geburt „traumhaft verwirrt“
waren. Nach der Entbindung war alles vorüber. Es waren meistens
Verhältnisse, in denen das Kind eine Last bedeutete. An den Müttern
bemerkte er, daß sie das Kind als etwas Fremdes ansahen, das zu¬
nächst mehr Erstaunen als Freude machte. Ganz normal fand er
eine frisch Entbundene, namentlich eine primipara, nie, und er kann
sich denken, daß einen Schritt weiter dieses Fremde sich zu etwas
Feindseligem steigern könne.
Von normalen Frauen selbst, die geboren haben, hört man im
allgemeinen, sie seien aufgeregt, aber doch klar gewesen (nach der
Entbindung). Im Verhalten gegen die Kinder möchte ich zwei Typen
normaler Frauen aus normalen Verhältnissen unterscheiden
1. solche, die gewohnt sind mit kleinen Kindern umzugehen,
2. solche, die daran nicht gewohnt sind.
Die ersteren lieben ihre Kinder sofort, die zweiten nicht, sondern
sagen selbst, sie hätten sich gewundert, daß ihnen das Kind so fremd,
manchmal auch so häßlich vorkomme. Beiden zweiten erschleicht sich
das kleine Geschöpf die Liebe der Mutter erst nach und nach durch
die Pflege, die es beansprucht.
Wenn es einem Laien auf juristischem Gebiete gestattet ist, aus den
in dieser Arbeit erwähnten Tatsachen Konsequenzen für die Strafgesetz¬
gebung zu ziehen, so komme ich als Ärztin und Frau zu folgenden Ge¬
sichtspunkten, eventuell Postulaten, deren exakte juristische Formulierung
ich allerdings den Gesetzgebern von Fach überlassen müßte:
1. Der Begriff des Kindesmordes sollte auf jede Tötung eines Kindes
durch seine Mutter, ohne Rücksicht, in welchem Zeitpunkt nach der Geburt
sie stattfindet, ausgedehnt werden.
2. Die Psychologie des Falles (das psychol. Prinzip von Prof. Groß)
sollte in der Beurteüung der Kindesmörderinnen ausschlaggebend sein. Zu
diesem Ende hin sollten
a) über das Vorleben, das Milieu, die Aszendenz, den Charakter, die
Affektivität der Täterin und die Motive zur Tat genaue Erhebungen
gemacht werden.
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Betrachten wir in unsern Fällen das Verhältnis der Gerichts¬
strafe zu der Tat, indem wir als Grundlage die in dem 130jährigen
Büchlein über „die besten ausführbaren Mittel, dem Kindsmord abzu¬
helfen, usw.“ angegebene Norm annehmen, die Strafe sei nach
dem Einfluß der Tat auf das allgemeine Beste zu be¬
messen, so ergibt sich:
Außer vielleicht in Fall 2, wo möglich erweise ein wertvolles Glied
der menschlichen Gesellschaft hätte erwartet werden können, hat das all¬
gemeine Beste durch diese Kindesmorde keinen Schaden genommen, eher
das Gegenteil. Wenn wir bedenken, daß das Kind in Fall 1 von einer
äußerst leichtsinnigen Mutter und einem ebensolchen Vater abstammte,
daß in den Fällen 3—9 die Mütter schwachsinnig und in mehr
weniger hohem Maße moralisch defekt sind, daß die eine dazu noch
an Tuberkulose krank war, daß 3, 4 und 5 überdies Frühgeburten
b) Die Verteidiger genügend Zeit erhalten, um die Erhebungen event.
zu ergänzen. (In mehreren der vorzitierten Fälle mußten die Ver¬
teidiger reklamieren, daß sie kaum Zeit gehabt hätten, mit ihren
Klientinnen das allernotwendigste zu besprechen).
3. Das Gesetz sollte für das Verbrechen des Kindsmordes kein Straf¬
minimum festsetzen, sondern es dem Richter überlassen, die Strafe nach
dem psychologischen Befund zu bestimmen.
4. Als Gründe zur milden Bestrafung sollen in Betracht gezogen werden:
a) Die Verantwortlichkeiten, die hinter den Täterinnen stehen und
für die es kein Strafgesetz geben kann (Rücksichtslosigkeiten, falsche
Beschuldigungen seitens des Ehemannss usw. usw). Nützt es nichts,
den Mann zu suchen, so soll man wenigstens an ihn denken.
b) Der heutige Rechtsstand des unehelichen Kindes muß, solange er
existiert, bei der Tötung eines solchen als mitschuldig angesehen
und im Sinne einer Strafmilderung geltend gemacht werden.
c) Das besondere Verhältnis zwischen Mutter und Kind (das Kind,
namentlich das neugeborene oder noch kleine, ist im wesentlichen
nur ein Teil der Mutter selbst).
d) Daß es sich fast ausnahmslos um Gelegenheitsverbrecherinnen
handelt, die außer gegen sich oder ihr Kind sich niemals eines
Vergehens gegen Leib und Leben schuldig machen würden.
e) Daß die Gesellschaft durch diese Verbrechen kaum jemals ge¬
schädigt wird, da es sich fast ausnahmslos um Kinder minderwertiger
Eltern und sehr häufig um Frühgeburten handelt, die zu allen
geistigen und moralischen Krankheiten besonders disponiert sind.
f) Bei Kindestötung während oder gleich nach der Geburt rechtfertigt
sich die besondere Berücksichtigung des Geburtsvorganges im Sinne
einer Strafmilderung, denn derselbe ist immer mit einer gewissen,
von Fall zu Fall varierenden Summe von Erregung verbunden,
und diese Erregung spielt gewöhnüch die Rolle des Reizzuwachses, der
das Zuviel enthält.
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X. Margarete Meier
und 4 im Rausch erzeugt war, 10 und 11 von Geisteskranken ab¬
stammten, so werden wir die menschlische Gesellschaft eher beglück¬
wünschen können dazu, daß die Weiterentwicklung der Unglücklichen
gehindert wurde. Man erinnere sich, daß das der Vergiftung ent¬
gangene Kind der Lina Zero nach Jörg er eine taubstumme Idiotin
war. Jörger ist es auch, der in der „Familie Zero“ den großen, ja
ausschlaggebenden Einfluß des Charakters der Mutter auf die Nach¬
kommen gezeigt hat. Über die größere Mortalität und Kriminalität
der Illegitimen vergl. die Tabellen von Lombroso.
Berücksichtigen wir, wie Groß es verlangt, hauptsächlich das
psychologische Prinzip, so sehen wir, daß mit Ausnahme von Fall 9,
einer mehrfach vorbestraften Diebin, unsere Kindsmörderinnen alle Ge-
legenheitsverbrecherinnen waren; auch die hereditär so bedenk¬
lich belastete Lina Zero in Fall 8 ist sonst noch nie mit dem Strafgesetz
in Konflikt gekommen. Bei allen waren besonders schwerwiegende,
5. Der Mann sollte zur strafrechtlichen Verantwortung mit herange¬
zogen werden, wenn er durch seine Schuld die Motive der Kindestötung
mit verursacht hat.
Dies ist immer der Fall, wenn er der außereheliche Vater ist und
die Tötung aus Furcht vor Schand, aus Not, wegen Verlassenheit statt¬
gefunden hat.
Diese strafrechtliche Heranziehung ist m. E. nur dann möglich, wenn
das Gesetz über die Rechtsverhältnisse unehelicher Kinder dahin abgeändert
wird, daß die unehelichen Kinder auch dem Vater gegenüber alle Rechte
der ehelichen Kinder genießen sollen, der Vater also gegen sie die gleichen
Verpflichtungen hat, wie gegen die legitimen.
In bezug auf die näheren Bestimmungen eines in diesem Sinne ab-
zuändernden Zivil-Gesetzes darf auf die Vorschläge von Fritz Reininghaus:
„Gerechtigkeit und wirksamen Rechtsschutz schaffe das schweizerische
Zivilgesetz für die außereheliche Mutter und ihr Kind“ verwiesen werden.
6. Die Strafuntersuchungen gegen sexuelle Verbrecherinnen sollten von
Frauen geführt werden. Daß der Verhörende Fragen stellt, die für ihn
selbst einen erotischen Reiz zu bedeuten scheinen, wie es im Fall 4 geschehen
ist, fördert die Untersuchung nicht und bringt die Verhörte in Verwirrung.
Ebenso sollten Frauen in den Gerichten mit urteilen, denn sie ver¬
stehen die Psyche der Verbrecherinnen besser als die Männer. Nach Groß
„Kriminalpsychologie“ ist diese Forderung schon alt und bereits von Schau¬
mann unter der gleichen Begründung aufgestellt worden.
7. Die Frauen sollten bei der Gesetzgebung Mitverantwortung haben,
denn wie namentlich Fall 1 in typischer Weise zeigt, haben sie zu dem
nur von Männern geschaffenen Gesetz absolut kein Verhältnis und kein
Verständnis, und es kommt deshalb vor, daß sie Delikte begehen, die ein
Mann von gleicher Bildung, gleichem Intellekt und gleicher Moralität nie
begehen würde, weil das Verständnis für das von Seinesgleichen geschaffene
artverwandte Gesetz für ihn die stärkste Hemmung bildet.
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Beitrag zur Psychologie des Kindesmordes.
373
gehäufte Motive wirksam, sonst wären sie nicht zu Verbrechern ge¬
worden. Auch die Diebin von Fall 9 ist in bezug auf Vergehen
gegen Leib und Leben Gelegenheitsverbrecherin; außer an ihrem
eigenen Kinde würde sie sicher niemals einen Mord begangen haben.
Von diesen Gesichtspunkten aus erscheint namentlich die Be¬
strafung von Fall 1 (3 Jahre Zuchthaus) und von Fall 8 (lebensläng¬
lich) sehr hart, abgesehen von Fall 10, die nicht in die Strafanstalt
gehört hätte.
Bei Fall 1 kommt noch in Betracht, daß die Frau bei der Ver¬
urteilung schon 52 Jahre alt war, also in einem Alter stand, in dem
die schweren Jahre doppelt zählen. Am besten wäre zweifel¬
los für solche Fälle die bedingte Verurteilung.
Kurze Zusammenfassung der Ergebnisse:
1. Als Motive zur Tat haben gewirkt:
Verlassenheit im engeren Sinne (d. h. Verlassensein der Mutter
durch den Kindesvater) 8 mal;
Verlassenheit im weiteren Sinne (d. h. daß die Frauen an ihrer
Umgebung keinen Halt hatten) 11 mal;
Ehrennotstand 6 mal;
Finanzielle Not 8 mal;
Abneigung gegen Kind und Vater 3 mal;
Abneigung gegen das Kind 1 mal.
2. Der Geburtsvorgang führt für gewöhnlich nicht zu patholo¬
gischen Zuständen; er ist aber nie unwirksam, sondern stets (aus¬
genommen pathe. Fälle von Analgesie) mit einer gewissen Summe
von Erregung verbunden, die die Rolle des Reizzuwachses, in dem
das Zuviel enthalten ist, spielen und die normalen Hemmungen in
Wegfall bringen kann.
3. Die zitierten Fälle zeigen das Gemeinsame,
a) daß die schwersten Verantwortlichkeiten nicht in den Täte¬
rinnen selbst liegen, sondern in Personen, die der Richter
heute noch nicht erreichen kann, oder die er bei keinem
Rechtszustand wird erreichen können (cherchez Fhomme!),
b) daß die Täterinnen in bezug auf Vergehen gegen Leib
und Leben Gelegenheitsverbrecherinnen sind,
c) daß die Verhältnisse überall der Entwicklung der mütter¬
lichen Gefühle entgegen wirken.
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X. Margarete Meier
4. Der heutige Rechtszustand des unehelichen Kindes und die
heute allgemein verbreiteten Anschauungen müssen bei der Tötung
unehelicher Kinder als mitschuldig erklärt werden.
5. Die Tötung eines Kindes durch die Mutter ist im wesentlichen
eine Art Selbstmord, indem die Mutter dadurch einen Teil ihrer selbst
am Weiterleben hindert.
6. Die Gesellschaft ist durch die hier behandelten Verbrechen
nicht, oder höchstens in einem Falle geschädigt worden.
7. Die Täterinnen waren in verschieden hohen Graden geistig
oder ethisch, oder geistig und ethisch minderwertig.
8. Der Beschluß zur Kindtötung ist in den seltensten Fällen fest
und unumstößlich vorhergefaßt; in den meisten Fällen wird er den
Täterinnen durch die Wucht erdrückender Tatsachen und Verhält¬
nisse erst im Moment der Tat aufgezwungen.
Für die Anregung zu dieser Arbeit und die Unterstützung der¬
selben bin ich Herrn Professor Dr. H. Zangger in Zürich vielen Dank
schuldig. Ganz besonders hat sich auch Herr Staatsanwalt Dr. Zürcher
um die Arbeit verdient gemacht; ihm verdanke ich die Zugänglich¬
machung fast des ganzen Materials und juristische Belehrungen und
Anregungen. Fräulein Dr. Baltischwiler, Herrn Dr. Lardelli, dem
Herrn Kollegen van de Linde in Utrecht sage ich vielen Dank für
ihre wertvollen Mitteilungen, ebenso den H. H. Ärzten des Burghölzli,
und den Direktionen des Justiz-Departements und der Strafanstalt
für ihr freundliches Entgegenkommen.
Literaturverzeichnis.
Amschi: Verbrechen des Kindesmordes nach österr. Recht. Archiv für
Kriminalanthropologie, Bd. 30.
Bischoff: Geisteszustand .der Schwangeren und Gebärenden, Archiv für
Kriminalanthropologie, Bd. 29.
Bleuler: Affektivität, Suggestibilität, Paranoia. 1906.
Brouardel: L’infanticide. 1902.
Graf Gleispach: Kindsmord. Archiv für Kriminalanthropologie, Bd. 27.
Groß, Hans: Kriminalpsychologie und Strafpolitik. Archiv für Kriminal¬
anthropologie, Bd. 26.
Groß, Hans: Kriminalpsychologie.
Hoche: Handbuch der gerichtlichen Medizin. Psychiatrie 1905.
Jörger, J.: Die Familie Zero. Archiv für Rassen- und Gesellsch. Bio¬
logie. 1905.
Jung, C. G.: Psychologie der Dementia praecox. Halle, Marhold.
Kraepelin: Allgem. Psychiatrie.
Lacassagne: Traite de mddecine legale. 1907.
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Beitrag zur Psychologie des Kindesmordes. 375
Lombroso: Ursache und Bekämpfung des Verbrechens. Deutsch v. Kurella u.
Jentsch.
Plempel: Zur Frage des Geisteszustandes der heimlich Gebärenden. Viertel¬
jahrschrift f. gerichtl. Medizin. 1909 Supl.
Reininghaus, Fritz: Gerechtigkeit für die außereheliche Mutter und ihr
Kind. Zürich, Orell Füssli 1905.
Vibert: Medecine legale 1908.
Drei Preisschriften über die Frage: Welches sind die besten ausführbarsten
Mittel, dem Kindsmord abzuhelfen, ohne die Unzucht zu begünstigen? Mann¬
heim 1784.
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Kleinere Mitteilungen.
Von Gerichtsassessor Dr. Albert Hellwig, Berlin-Friedenau.
1 .
Fahrlässige Brandstiftung aus Aberglauben. In einer
kürzlich erschienenen kleinen Arbeit habe ich darauf hingewiesen, daß
Aberglaube mannigfacher Art auch bei Brandstiftungen eine Rolle spielen
kann 1 ). Ich konnte dort vier Fälle von vorsätzlicher Brandstiftung an¬
führen, die mit abergläubischen Meinungen Zusammenhängen. Bezüglich
fahrlässiger Brandstiftungen konnte ich nur anführen, daß im Jahre 1790
in dem hessischen Dorfe Obersteinbach eine Frau, die einer Nachbarin
heiße Asche nicht geben wollte, die Asche auf dem Dachboden versteckt
und dadurch einen verlierenden Brand verursacht, haben soll. Weitere
konkrete Fälle konnte ich nicht anführen. Ich wies aber darauf hin, daß
gar manche abergläubischen Vorstellungen, so insbesondere auch die allge¬
bräuchlichen Ausräucherungen, gar leicht Brände erzeugen könnten. Kürz¬
lich fand ich eine weitere hierher gehörige Nachricht. In dem steier¬
märkischen Orte Knittelfeld besteht nämlich der Glaube, wer mit einer
geweihten angezündeten Kerze an einen feuergefährlichen Ort komme, bei¬
spielsweise auf einen Heuboden, brauche besondere Vorsicht nicht zu be¬
obachten, da ein geweihtes Licht nie eine Feuersbrunst hervorbringe 2 ).
Daß dieser Volksglaube schon hier und da einen Brand verursacht haben
mag, ist anzunehmen.
Noch interessant ist aber, daß ich vor einigen Tagen beim Durch¬
blättern einer bekannten französischen volkskundlichen Zeitschrift einen
Fall geschildert fand, der am 7. August 1909 das tribunal correctionnel
von Nantes beschäftigt hat. Der Fall ist so interessant, daß ich die Notiz
wörtlich wiedergeben möchte: „Lors de l’enquete faite ä la suite d’une in-
cendie qui s’ötait declard d’une fagon incomprehensible d’abord dans un
grenier la demoiselle L . . avoua qu’ayant ete delaissde par son amoureux,
eile avait eu recours ä la clairvoyanee de Mme Andre B . . , 30 ans,
tireuse de cartes et diseuse de bonne aventure, pour lui indiquer de
quelle fagon eile devait proedder pour ramener le volage. Elle accusa
alors la tireuse de cartes de lui avoir conseilld un remede infaillible. II
1) Vgl. meine Abhandlung über „Brandstiftungen aus Aberglauben in der
Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 1909 S. 500 ff.
2) A. Schlossar, „Volksmedizin und Volksaberglaube aus der deutschen
Steiermark“ tn der „Germania“ Bd. 36 (Wien 1891) S. 400.
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Kleinere Mitteilungen.
377
fallait acheter un coeur de boeuf, le piquer d’öpingles, le traverser au
moyen de clous en forme de croix et le faire cuire, Elle acheta un coeur
qui subit les transformations prescrites. Puis, munie d’une petite casse-
role et d’une lampe ä l’alcool Mlle L . . s’ enfut au grenier et mit son
coeur ä bouillir. La lampe se renversa et communiqua le feu au grenier.
Ces details ont dte reveles ä l’audience du tribunal correctionnel de Nantes
le 7 aout 1909.“ 1 )
Dieser interessante Fall zeigt von neuem, wie Recht wir haben, wenn
wir immer wieder darauf hinweisen, daß Aberglaube mannigfachster Art
auch dort seine Hand im Spiele haben kann, wo man es gar nicht ver¬
mutet 2 ).
2 .
Befangenheit als Verdachtsgrund. In seiner interessanten
Abhandlung übes dieses Thema hat Reichel in Band 34 S. 123 ff. mit
Recht darauf aufmerksam gemacht, daß man bei der Verwertung von sub¬
jektiven Verdachtsmomenten außerordentlich vorsichtig sein müsse und daß
1) Edmee Vaugois, „Un envoütenient contemporain“, gestützt auf den in
Nantes erscheinenden „Le Petit Phare“ vom 8. August 1909 (Revue des tradi-
tions populaires“ 1909) S. 352.
2) Anhangsweise mag bemerkt werden, daß es sogenannte Feuerseher gibt,
welche Brände wollen voraussehen können und auch zahlreiche Gläubige finden.
So bringt nach den „Psychischen Studien“ Bd. 18 (1891) S. 233f Th. Nöthig
in seiner Skizze „Der Prophet“ („Schorers Familienblatt“ 1891 Nr. 6) eine an¬
gebliche Episode aus der Belagerung von Metz in Erinnerung. Er berichtet
von einem Sanitätsbeamten, der ein Hellseher gewesen sein soll. Am 3. Nov.
1870 habe der Verfasser eine neue mysteriöse Prophezeihung erhalten, die sich
buchstäblich erfüllt habe. In Bar le Duc sei das Gespräch gekommen „auf eine
alte brave gute Frau in Kiel, weiche wiederholt unschuldig verurteilt worden,
weil sie Feuersbrünste voraussagte, und deswegen in den Verdacht der Brand¬
stiftung kam. Auch den großen Brand von Hamburg im Jahre 1842 sah sie
schon drei Tage vorher, obwohl sie kaum wußte, wo die Stadt lag. Als
sicheres Erkennungszeichen eines bevorstehendeu Brandes zeigte sich ihrem
Auge gewöhnlich gegen Abend, gleichviel ob der Himmel klar oder bewölkt
war, ein brandrot gefärbtes Wolkengebilde, welches entweder dicht über dem
Gebäude, das in Flammen auf gehen sollte, sichtbar wurde, oder in der Rich¬
tung desselben sich fortbewegte. Außerdem hörte sie den sogenannten Feuer¬
wind, ein Geräusch, welches dem Knistern verzehrender Flammen gleicht und
wie sie behauptete, im Wipfel eines von ihr sichtbaren Baumes entstände.“
Der mitanwesende Prophet erklärte, daß diese Frau seine Großmutter gewesen
sei. Er gab noch eine Probe seiner Sehergabe, indem er-.“ Daß dieser
Glaube den Anlaß zu einer vorsätzlichen Brandstiftung geben kann, indem der
„Prophet“ nachhilft, um seine Weissagung nicht zu schänden werden zu lassen,
habe ich m meiner obigen Skizze an** einem praktischen Fall nachgewiesen.
Daß er auch Dritte zu einer Brandstiftung veranlassen kann, möchte ich auch
nicht bestreiten, ebensowenig, daß der Prophet, wenn seine Weissagung sich
durch launisches Spiel des Zufalls erfüllt, in den Verdacht kommen kann, sich
der vorsätzlichen Brandstiftung schuldig gemacht zu haben.
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378
Kleinere Mitteilungen.
insbesondere auch das Erröten und andere Verlegenheitssymptome, die der
Beschuldigte zeige, nur einen problematischen Wert besitzen *). Es ist
vielleicht nicht uninteressant, darauf hinzuweisen, daß dies schon vor Jahr¬
zehnten erkannt worden ist. So warnt Zimmermann eindringlich davor,
ein besonderes Gewicht auf Erröten oder Bleichwerden zu legen, ,,wie es
wohl Inquirenten tun, die noch nicht hinaus sind über die Elementar¬
studien in der Seelenkunde: Sie bemerken nur grobe Erscheinungen und
deuten sie plump. Eine starke Überzeugung von erlittenem Unrecht, ver¬
bunden mit einem lebhaften Ehrgefühl, treiben gerade den besseren
Menschen das Blut nach dem Kopfe: Sie erröten vor Arger und Scham
schon bei der bloßen Möglichkeit, daß ihnen eine nichtswürdige Handlung
zugetraut werden könne. Und schwache Leute, furchtsamen Gemüts, er¬
schrecken und erbleichen auch schuldlos, wenn sich plötzlich über ihrem
Haupte ein Unglück zusammentürmt, ohne daß sie ganz nahen Ausweg
erblicken; ihr Erbleichen kann ebensogut aus der Furcht vor Untersuchung,
Gefängnis und vorliegenden Indizien kommen, als aus dem Anreiz eines
bösen Gewissens. Der feinere Polizist kennt diese Zweideutigkeit genau;
passen die Verhältnisse des Falles dazu, so unterwirft er jene Zeichen der
Gemütserregung einer Probe, um bessere Sicherheit zu erlangen: Er be¬
rührt nämlich im Verlaufe eines Gesprächs, was weit entfernt liegt vom
Inhalt der Anschuldigung, den Ort, wo das Verbrechen verübt wurde, oder
deutet auf sonstige Umstände, die mit der Tat Zusammenhängen und ge¬
rade das Innerste, Schauderhafte der Handlung betreffen, und beobachtet
nun scharf, wie jene Anspielung auf den Angeklagten wirkt. Wird dieser
bleich beim bloßen Nennen solcher Dinge, die nur er wissen kann, oder
die für den Täter eine erschütternde Erinnerung zurücklassen müssen, so
hat man einigen Gruud auf ein böses Gewissen zu schließen, obwohl auch
hier ein Irrtum immerhin noch möglich sei“ 1 2 ).
Ja, noch weit früher hat man die gleiche Beobachtung gemacht.
Augenblicklich, wo ich die älteren Schriften über die Tortur durcharbeite,
finde ich in ihnen eine Fülle interessanten psychologischen Materials. Man
mag über die Folter denken, wie man will — meines Erachtens wäre sie
vom rein praktischen Gesichtspunkte aus so übel gar nicht gewesen, wenn
sich nicht die Praxis über die Vorschriften der Gesetze und die Lehren
der Wissenschaft so arg hinweggesetzt hätte — das große Verdienst hat
sie meines Erachtens zweifelsohne gehabt, daß sie die Aufmerksamkeit
auf die psychologische Seite des Beweisproblems lenkte. Namentlich das
Problem der Suggertivfragen wurde in zahlreichen Schriften und Abhand¬
lungen aufs eingehendste gewürdigt 3 ). Deshalb ist es auch kein Wunder, daß
man schon damals die Befangenheit des Inquisiten psychologisch richtig verstand.
1) Nebenbei mag bemerkt werden, daß auch das altindische Prozeßrecht
als belastendes Indicium die Betretenheit des Beschuldigten und Unsicherheit
seiner Angaben auffaßte. Vgl. Köhler, „Das indische Strafrecht“ (Zeitschrift
für vergleichende Rechtswissenschaft“ Bd. XVI) § 14.
2) Gustav Zimmermann, „Die deutsche Polizei im 19. Jahrhundert“
Bd. I und II (Hamburg 1845) S. 626f.
3) Hierüber werde ich nächstens eingehend berichten, wahrscheinlich in
dem „Archiv für Strafrecht und Strafprozeß.“
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Kleinere Mitteilungen.
379
Als eine der allgemeinen, wahrscheinlichen unvollkommenen An¬
zeigungen, von denen keine allein zur Anordnung der Folter genügt, er¬
wähnt Johann Rudolf von Waldkirch 1 ) auch die physiologischen Wir¬
kungen der Furcht: „Wann ein Gefangener vor dem Richter in Schrecken,
Furcht und Zittern ist, erblasset oder rot wird. Maßen solch Erschrecken,
Zittern und Färb verändern, gemeiniglich für ein Zeichen eines bösen Ge¬
wissens gehalten wird, nach dem bekannten Yers: „Heu quam difficile est
crimen non prodere vultu.“ Es ist aber auch auf diese Anzeige allein
nicht sicher zu gehen, weilen sie gar betrüglich ist. Denn die Erfahrung
giebet es mit, und ist auch natürlich, daß Leuthe von kleinem Gemüthe
und die von Natur erschrocken sind, bey ihrer höchsten Unschuld zittern
und sich entfärben, wann sie nur der Obrigkeit vor das Angesicht sollen
und über etwas antworten;' wie dann Carerus ein Exempel anziehet von
einem Edelmann, der eines großen Lasters ist angeklagt und zur Folter
geführt worden, worüber er nicht nur erblasset, sondern gar in eine Ohn¬
macht gesunken und alles von sich gehen und lauffen lassen, da man ihn
doch unschuldig befunden. Hingegen gibt es andere von oo rauhem Ge¬
müthe und hartem Herzen, daß sie mit ihrer Contenance und Reden viel
ehender einen weichmüthigen Richter erschrecken, da sie doch höchst
schuldig sind. Also müssen annoch andere Indicia hier concurrieren. Wie
dann auch aus der Physiognomie und Gesichtsgestaltung, oder anderen
Theilen des Leibs, keine gewisse Anzeigung ist; wie aus dem Exempel
Socratis erhellet. Denn nicht in allen krummen und mangelbaren Leibern
wohnet auch eine krumme und mangelbare Seele“ 2 3 ). Ich bin überzeugt,
daß ich bei meinen weiteren historischen Studien über die modernen Pro¬
bleme auch noch ältere Schriftsteller finden werde, die sich in einem ähn¬
lichen Sinne äußern.
Hierher gehört im gewissen Sinne vielleicht auch — was ich noch nicht
nachzuprüfen vermochte — daß Püttmann :i ) bemerkt, die Physiognomie
sei trügerisch. Möglicherweise, haben wir es hier abor mit einer voraus
eilenden Polemik gegen Lombrosos „geborenen Verbrecher“ zu tun. Vielleicht
findet sich in einem schon in Angriff genommenen Aufsatz über den kriminal-
anthropologischen Volksglauben Gelegenheit, auch hierauf näher einzugehen.
3.
Moderne Ehebruchbänder. Aus dem Mittelalter ist uns bekannt,
daß rohe Ritter, wenn sie gezwungen waren, auf Kreuzzügen oder aus
sonstigen Gründen, längere Zeit fern zu bleiben, vielfach zu dem rohen
Mittel griffen, durch mechanische Mittel, nämlich durch verschließbare, die
Sexualgegend eng umschließende Bänder dafür zu sorgen, daß ihre Ehe-
1) Joh. Rudolf von Waldkirch’s „Gerechte Polter-Bank oder An¬
weisung für Richter und Examinatoren in peinlichen Fällen.“ Zweite Auflage.
Basel 1773 S. 102 f. —
2) Vgl. Menoch. d. 1. p. 71 in Pr. Cr.-de Indic. u. Sextum Nr. 2 p. 108.
Prev. de Tortur, lib. 1 c. b.
3) Püttmann, „Elementa juris criminalis“ S. 393, dort sind u. a. zitiert.
Stryck, „De physiognomia“; Heineccius „De incessu, animi indice“ (in Syll
Opusc. Var. S. 136); „Eisenhart, Grundsätze des deutschen Rechts in Sprich¬
wörtern“, S. 542 (über das Sprichwort „Das Gesicht verrät ihn.“).
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380
Kleinere Mitteilungen.
frauen ihnen während ihrer Abwesenheit auch die eheliche Treue wahrten
Daß auch im zwanzigsten Jahrhundert bei uns noch ähnliche Ehebruchs¬
bänder in Gebrauch sind, erfuhr ich gelegentlich einer Strafsache, die im
Jahre 1903 vor dem Landgericht I zu Berlin gegen einen jüdischen
Kaufmann Elias C. wegen Verbreitung unzüchtiger Abbildungen schwebte 1 2 ).
In dem Urteil wurde nämlich als Punkt 2 erwähnt: „100 sogenannte
Ehebruchband- oder Schäferkarten. Diese verherrlichen . die Erfindung
einer Frau Schäfer, ein verschließbares Schutznetz für Frauen gegen ehe¬
liche Untreue. Auf der Karte befinden sich zwei Bilder, welche die Rück¬
kehr eines Ehemannes von einer Reise darstellen. Auf dem Bilde links,
welches die Überschrift „Vor der Schäfersehen Erfindung“ trägt, prügelt
der Ehemann seine Frau, auf dem Bilde rechts mit der Überschrift „Nach
der Schäfersehen Erfindung“ küßt und umarmt er die Ehefrau. In der
linken Hand des Ehemanns ist auf diesem Bilde ein Schlüssel sichtbar.
Zwischen beiden Bildern befindet sich unten ein Schloß, aus dem ein
Frauenkopf hervorsieht. Oberhalb dieses Dreiecks zwischen beiden Bildern
ist ein Kuvert angebracht mit der Aufschrift: „Deutscher Reichsanzeiger,
Montag, den 3. August (Nr. 180, LV. Beilage). Gebrauchsmuster 30d
204538. Verschließbares Schutznetz für Frauen gegen eheliche Untreue.
Frau Emilie Schäfer, Berlin, Rigaerstraße 26. 16. 3. 03. Sch. 160906.“
In dem Kuvert befinden sich ein im „Kleinen Journal“ seinerzeit ver¬
öffentlichtes Spottgedicht „Das Ehebruchband.“ Über beiden Bildern be¬
finden sich Verse; der über dem linken lautet:
„Laßt uns heute die Frau Schäfer preisen,
Die der Treue Garantie ersann.
Jeder Ehemann mag getrost verreisen,
Weil zu Hause nichts passieren kann“,
während der andere über dem rechten Bild folgenden Wortlaut hat:
„Züchtig sitzt das Weibchen dann am Nähtisch,
Niemals stört ein Dritter ihre Ruh’,
Denn es schließt der Herr Gemahl hermetisch
Erst den Geldschrank, dann die Gattin zu.“
Ob diese famosen Ehebruchbänder tatsächlich in den Verkehr ge¬
kommen sind, ist mir nicht bekannt geworden; schon die Tatsache aber,
daß ein Mensch des 20 ten Jahrhunderts — und noch dazu eine Frau —
die mittelalterliche Idee gehabt hat, scheint mir bezeichnend genug zu sein,
um als sexualpathologische Kuriosität der Nachwelt überliefert zu werden.
Daß sich Männer genug finden würden, welche willens wären, dieses Ehe¬
bruchsband bei ihren Ehefrauen oder Liebsten anzuwenden, ist mir nicht
zweifelhaft, ist doch auch die bei verschiedenen Völkern, besonders Afrikas,
dem gleichen Zweck dienende Infibulation 3 ) auch dem modernen Europa
1) Vgl. „Anthropophyteia-Jahrbücher für folkloristische Erhebungen und
Forschungen zur Entwickelungsgeschichte der geschlechtlichen Moral“ (Leipzig).
2) Aktenzeichen: 1 D J. 2736/OS.
3) Ploß und Bartels „Das Weib in der Natur und Völkerkunde“ 9. Aufl.
Bd.l Leipzig 1908, S.270ff. Stoll „Das Geschlechtsleben in der Völkerpsychologie“
Leipzig 1908) S. 546 ff.
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Kleinere Mitteilungen.
381
in der Form der sogenannten „Revirgination“ nicht unbekannt! l ) Ob sich
aber auch im Zeitalter der Frauenemanzipation Frauen finden würden, die
sich soweit erniedrigen würden, derartige Manipulationen mit sich vor¬
nehmen zu lassen, sich so vollständig als Yermögensobjekt des Mannes
behandeln zu lassen, mag dahingestellt bleiben.
Wenige Tage, nachdem ich obige Zeilen geschrieben und abgesandt
hatte, brachten die Zeitungen eine unerwartet schnelle Beantwortung jener
Frage. Es handelt sich um die Ehegeschichte des Apothekers Parat in
Paris, mit der sich Mitte Februar d. J. alle Zeitungen mehr oder minder
beschäftigten. Da die Berichte verschiedene Nuancierungen des Sachver¬
halts gaben, wird es angebracht sein, einige dieser sich gegenseitig er¬
gänzenden Notizen in ihrer Originalfassung wiederzugeben, um so mehr
als es sieh um einen außerordentlich interessanten Fall handelt.
Die verschiedenen Berichte lauten folgendermaßen:
„Der „Tugendpanzer 2 ).“ Einem Verbrechen aus Eifersucht ist
gestern die Pariser Polizei auf die Spur gekommen. Seit einiger Zeit
liefen beim Farisei Polizeipräsidium Anzeigen ein, daß der Drogist Jean
Parat, der sein Geschäft in der Rue Vaugirad hat, seine Frau grausam
behandle. Es wurde der Polizei sogar mitgeteilt, daß er Marterwerkzeuge
gegen sie anwende, wie sie schlimmer nicht in den dunkelsten Zeiten des
Mittelalters gebraucht wurden. Auf Grund dieser Anzeigen begab sich
gestern der Chef der Geheimpolizei Hamard, von dem medizinischen
Sachverständigen Socquet begleitet, nach der Wohnung des Drogisten, um
eine eingehende Untersuchung vorzunehmen. Über den Erfolg derselben
wird uns telegraphisch gemeldet:
Paris, 18. JFebruar.
Als der Chef der Pariser Geheimpolizei Hamard in der Wohnung des
Drogisten Jean Parat erschien, war dieser nicht anwesend. Dagegen be¬
fand sich seine Frau in einem kleinen Zimmer des Obergeschosses. Der
Chef der Geheimpolizei wollte eintreten, doch war die Tür verschlossen.
Auf seine Aufforderung hin, zu öffnen, erklärte Frau Parat, daß ihr dies
unmöglich sei. Daraufhin wurde ein Schlosser geholt, der die Tür auf¬
brechen mußte. Als Hamard und Dr. Socquet eintraten, bot sich ihnen
ein seltsamer Anblick. Frau Parat saß auf einem Stuhle neben ihrem
Bett. Eine eiserne Kette war mehrere Male um ihren Nacken geschlungen
und führte zu dem einen Bettpfosten, an dem sie mittelst eines kunst¬
gerechten Schlosses an gern acht war, zu dem nur der Drogist selbst den
Schlüssel besaß. In ihren Armen ruhte ein drei Monate altes Baby,
während ein etwa drei Jahre altes Mädchen auf dem Fußboden spielte.
Die Polizei befreite Frau Parat aus ihrer ungewöhnlichen Lage und
nahm sie mit sich auf das Polizeipräsidium. Hier stellte sich heraus, daß
die Unglückliche nicht nur mit schweren Eisenketten an das Bett fest¬
geschmiedet gewesen war, sondern daß sie noch ein eisernes Halsband trug
und daß ihr außerdem ihr Mann ein einem Badeanzug ähnelndes Gewand
angelegt hatte, das vollständig aus Stahl gefertigt war. Es glich dem
undurchdringlichen Panzer eines mittelalterlichen Ritters.
1) Stoll a. a. 0. S. 553ff.
2) „Deutsche Nachrichten“, Berlin, den 19. Februar 1910.
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382
Kleinere Mitteilungen.
Eine Stunde später wurde dann gestern gegen abend auch der Drogist
Parat verhaftet, in dessen Besitz sich die Schlüssel zu den seltsamen
Kleidungsstücken seiner Frau vorfanden. Er war sehr erstaunt, daß sich
die Polizei um „seine intimen Familienangelegenheiten“ kümmerte. Nach
seiner Ansicht war sein Verhalten seiner Frau gegenüber durchaus nicht
außergewöhnlich. Sie betrog ihn, wie er glaubte, und deshalb schmiedete
er sie am Bett fest und versah sie mit einem Tugendpanzer.
Wie Frau Parat erklärt, muß ihr Mann nicht recht bei Verstand sein.
Sie habe weiter keine Freiheit gefordert, wie die, die jeder verheirateten
Frau zustehe. Ihr Mann aber habe sie mit einer geradezu lächerlichen
Eifersucht verfolgt. Der Gang der Untersuchung dürfte weitere interessante
Einzelheiten aus diesen „Liebes- und Eheleben“ ergeben.“
„Kette und Keuschheitspanzer 1 ). Leidensgeschichte einer Ehe¬
frau. Ein Eifersuchtsdrama, das in seiner Brutalität und Furchtbarkeit
fast unbegreiflich ist, wird aus Paris gemeldet. Der Apotheker Parat in
der Ruckansigard hielt in wahnsinniger Eifersucht seine Frau seit längerer
Zeit in einem dunkeln Zimmer mit einer Kette, an Händen, Hals und
Füßen gefesselt. Die Kette war sieben Meter lang und ließ der Frau nur
so viel Spielraum, daß sie sich setzen, niederlegen oder ihrem drei Monate
alten Kinde die Brust geben konnte. Auch mußte die Frau ein Panzer¬
hemd nach Art der mittelalterlichen Keuschheitszucht (sic!) tragen. Über ihr
Unglück erzählte Frau Parat selbst:
„Seit meiner Verheiratung, vor zehn Jahren, bin ich aus den Tränen
nicht mehr herausgekommen. Mein Mann, der mich wahnsinnig liebt und
außergewöhnlich eifersüchtig ist, hat mir fortwährend die entsetzlichsten
Szenen gemacht und mich schließlich in Ketten gelegt. Nach einer vor¬
übergehenden Besserung legte er mir das Panzerhemd an und schoß mich
in mein Zimmer ein. Es ist ein enganliegendes Korsett aus Baumwolle
nach Art der mittelalterlichen Marterstücke. Wollte ich schreien, so kam
mein Mann mit dem Revolver. Ich habe furchtbares ausgestanden. Im
November letzten Jahres wurde ich zum fünften Male Mutter. Kein Arzt,
keine Hebamme war zugegen. Mein Mann besorgte das alles selbst.
Seitdem hielt mein Mann mich ständig in Ketten und gestattete mir keine
Bewegungsfreiheit.“
Schließlich fiel es den Hausgenossen doch auf, daß man die Frau
niemals sah; sie benachrichtigten die Polizei und nach längerer Beobach¬
tung hatte sie Material genug, um einzuschreiten. Als Parat am Donners¬
tag aus seinem Hause fortgegangen war, betrat der Polizeikommissar
Hamard mit einigen Polizisten die Wohnung. Die Polizei fand in einem
fast dunklen Zimmer die Frau auf dem Bette liegend, um den Hals, die
Hände und Füße Ketten. Neben der unglücklichen Frau lag ihr drei¬
monatiges Kind. Ein Schlosser mußte herbeigeholt werden, um die kunst¬
vollen Schlösser zu öffnen und die Frau von ihren Qualen zu befreien.
Als Parat abends nach Hause kam, wurde er verhaftet. Seine Frau und
die Kinder wurden bei Verwandten untergebracht.“
„Der eifersüchtige Apotheker 2 ]. Zu der Pariser Ehetragödie,
1) „Berliner Allgemeine Zeitung“, den 19. Februar 1910.
2) „Berliner Lokalanzeiger“, den 19. Februar 1910.
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über die wir gestern ausführlich berichtet haben, geht uns noch nach¬
stehendes Privattelegramm zu:
Paris, 18. Februar, 8 Uhr 20 Min. abds. (Von unserem u.-Korres-
pondenten.) Der schwer neurasthenische Zustand der immer noch bei
ihrer Schwester weilenden Apothekersgattin Parat, die nicht zu bewegen
ist, in ihr Haus zurückzukehren, verlangt große Schonung. Sie beschwor
ihre Verwandten, alles aufzubieten, damit ihr Gatte recht schnell aus der
Untersuchungshaft befreit und einer Heilanstalt übergeben werde. Von
einer Ehescheidung will sie nichts wissen. Sie möchte sich mit den
Kindern zunächst aufs Land zurückziehen und abwarten, bis der von ihr
noch immer geliebte Mann von seinen Wahnvorstellungen befreit werde.
Aus dem verhafteten Apotheker Parat kann der Untersuchungsrichter nichts
herausbekommen. Es scheint, daß gewisse illustrierte Postkarten, die hier
vor einigen Monaten in Umlauf gesetzt wurden, Parat den Gedanken ein-
gaben, sich durch die mittelalterliche Methode des Keuschheitsgürtels der
Treue seiner Frau zu versichern.
„Die „Liebe“ des Apothekers Parat 1 ). Telegraphische Meldung,
pt. Paris, 21. Februar. Die Angelegenheit der „gefesselten Frau“ wird
immer interessanter. Frau Parat, deren Mann gegenwärtig im Unter¬
suchungsgefängnis seine Verteidigungsschrift ausarbeitet, hat erklärt, daß
sie niemals während ihrer Ehe schlecht behandelt worden sei. Das selt¬
same Benehmen ihres Mannes entspringe nur seiner unendlichen Liebe zu
ihr. Auch ein naher Verwandter der Familie hat, dem Preßtelegraph
zufolge, erklärt, daß das Vorgehen des Apothekers ganz falsch aufgefaßt
werde. „Herr Parat“, erklärte der interviewte Verwandte, „ist ein sehr
ehrenwerter Mann. Vielleicht ist er etwas exzentrisch veranlagt, doch ist
er ein ausgezeichneter Familienvater. Er hängt mit Liebe an seinen
Kindern, mit einer Liebe, die fast an Schwäche grenzt. Dabei ist er
ständig um die Gesundheit seiner Gattin sehr besorgt, denn Frau Parat ist
sehr nervös. Jhre Nervosität hat ihr schon manchen schlimmen Streich
gespielt. Familienfreunde haben mir erzählt, wie Frau Parat vor ihrem
Mann auf den Knien lag und sich im Staube wälzte und ihn mit rollen¬
den Augen und lebhaft-tollen Gesten bat, sie emporzuziehen. Um solche
Ausbrüche zu verhindern, bei denen sie sich nur einen Schaden zufügen
konnte, hat Herr Parat seiner Frau die Fesseln angelegt und sie mit
Ketten gebunden. Doch das ständige Zusammenleben mit einem derartigen
Wesen strengte die Nerven des Herrn Parat so an, daß er selbst neura-
stheniseh wurde.“
„Die Affäre des Apothekers Parat. 2 ) Aus Paris wird uns
unterm Gestrigen telegraphiert: Die Frau des Apothekers Parat scheint
selbst krankhaft veranlagt zu sein, ebenso wie ihr Gatte. Sie entschuldigt
ihn dem Richter gegenüber und sagt, es sei sein gutes Recht gewesen, sie
anzuketten, da sie es selbst gewollt hätte. Einer ihrer Verwandten ers
zählt sogar, sie habe ihren Mann zuweilen gebeten, sie an die Kette zu¬
legen. Das Merkwürdigste des Falles besteht in dem Umstande, daß hier
einmal ein aktiver Sadist sich mit einer passiv sadistischen Person in der
1) „Berliner Lokalanzeiger“, den 21. Februar 1910.
2) „Neues Wiener Journal“, den 22. Februar 1910.
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384
Kleinere Mitteilungen.
Ehe zusammengefunden hat. Eine ähnliche Ehe soll vor einigen Jahren
in Berliner Literatenkreisen bestanden haben. Diese Ehe wurde aber bald
wieder gelöst, sie hat jedenfalls nie zu einer gerichtlichen Untersuchung
geführt. Beim Bekanntwerden des Falles Parat hat es sich herausgestellt,
daß der Tugendgürtel — der „Vertugadin“ — in Frankreich auch heute
noch weit mehr in Verwendung steht, als man glauben sollte.“
Selbst, wenn man den Quellen skeptisch gegenübertritt, wird man als
festgestellt erachten dürfen, daß ähnliche Postkarten, wie die oben be¬
schriebenen Berliner auch in Paris im Verkehr sind, daß Frau Parat mit
einem den mittelalterlichen ähnlichen Ehebruchspanzer umgürtet war und
daß wahrscheinlich Parat sadistisch und seine Ehefrau masochistisch ver¬
anlagt sind.
Für die psychologische Auffassung der Affäre Parat sind folgende
Ausführungen Wulffens in seinem neuesten Werke interessant: „Außer
durch Mißhandlung erreicht der Sadismus die gewünschte sexuelle Erregung
infolge Wehrlosmachung und Beeinträchtigung der Bewegungsfreiheit der
als Objekt dienenden Person. Diese wird gebunden, gefesselt, angeschnallt,
eingeschlossen, gefangen gehalten. Die grausame Behandlung liegt hier
mehr in der Vorstellung, als in der wirklichen Handlungsweise des Sadisten
bzw. Masochisten. Der bloße Anblick der ja fast immer vereinbarungs¬
gemäßen Fesselung und Einsperrung der Objektsperson muß in der Vor¬
stellung des Sadisten bzw. Masochisten zu einem Grausamkeitsakte in der
Realität werden. Die Wehrlosmachung kann allein oder in Verbindung
mit Flagellantismus auftreten. Die Wehrlosmachung durch Fesselung
kann ersetzt werden durch Eingebung von Betäubungsmitteln, von Nar¬
kotika oder berauschenden Substanzen 1 2 ).“
Der Fall Parat bestätigt wieder die alte Erfahrung, daß besonders in
sexualibus einfach alles noch möglich ist.
Erwähnt mag noch werden, daß gelegentlich jener Affäre ernsthafte
Pariser Zeitungen behauptet haben, der Keuschheitsgürtel sei tatsächlich
nie aus Paris verschwunden gewesen und werde auch heute immer noch
angewandt -j.
4.
Der Strick des Erhängten. Einer der Elementargedanken derMensch-
heit ist der Glaube an die Wirksamkeit der Totenfetische, d. h. aller mit einem
Toten in irgend einer persönlichen Beziehung stehenden Gegenstände, wie
Teile des Leichnams, Graberde, Nägel aus dem Sarg, Friedhofsblumen
usw 3 ). Für ganz besonders wirksam gelten Totenfetische, die von hin-
1) Erich Wulffen „Der Sexualverbrecher“ („Encyklopädie der modernen
Kriminalistik“ von Dr. Paul L angenscheidt, Bd. VIII, Groß-Lichterfelde
1910) S. 334.
2) „Kölnische Zeitung“ vom 20. Februar 1910 (Nr. 213).
3) ln dem „Globus“ oder in dem „Archiv für Religionswissenschaft“ werde
ich in einiger Zeit meine hierüber gesammelten zahlreichen Materialien in
mehreren Aufsätzen veröffentlichen. Vorläufig vergleiche außer meinem Buch
über „Verbrechen und Aberglaube“ (Leipzig 1908) S. 71ff., 116, meine Abhand¬
lungen „Zwei eigenartige Fälle von Grabschändung“ (Hessische Blätter für Volks-
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Kleinere Mitteilungen.
385
gerichteten Verbrechern oder von Selbstmördern herstammen. Hierbei mag
vielleicht der Gedanke bestimmend gewesen sein, daß Totenfetische von
einer Person, die eines ungewöhnlichen Todes gestorben ist, auch unge¬
wöhnliche Wirksamkeit haben müßten, wie man ja bekanntlich auch zu
allerlei Zauberzeremonien erbettelte 1 ), gefundene, geschenkte, gestohlene 12 ;
oder auf sonstige ungewöhnliche Weise erworbene Gegenstände nötig hat.
Ferner wird hierbei mitbestimmend gewesen sein die bei Selbstmördern
und — wenigstens in früheren Jahrhunderten, wo die Leichname der Ge¬
henkten am Galgen hängen blieben -— die bei Hingerichteten verhältnis¬
mäßig leichte Möglichkeit, sich den Besitz der geschätzten Amulette zu
verschaffen. Für die besondere Zauberkraft der von hingerichteten Ver¬
brechern herstammenden Totenfetische mag außerdem noch vielleicht an
die Weihung des Verbrechers, seine Entsühnung durch den Opfertod
erinnert werden, während für die besondere Wertschätzung der von Selbst¬
mördern stammenden Totenfetische gerade im Gegenteil noch maßgebend
gewesen sein mag, daß der Selbstmörder dem Teufel verfallen war 5 ), so-
daß sich der Besitzer des Stricks eines Erhängten und ähnlicher Toten¬
fetische gewissermaßen dem Teufel verschrieb und dafür auf seine Hilfe
rechnen konnte. Denkbar wäre auch, daß ursprünglich die von Hinge¬
richteten stammenden Totenfetische als besonders wirksam galten und daß
erst allmählich, als es nicht mehr so leicht war, sich Teile eines Hin¬
gerichteten zu verschaffen, auch die von Selbstmördern stammenden
Totenfetische im Kurse stiegen, wobei möglicherweise der sprachliche An¬
kunde“ Bd. 5), „Grabschändung und Gespensterglaube“ (Der Pitaval der Gegen¬
wart“ Bd. 5), „Diebstahl aus Aberglauben“ („Archiv für Kriminalanthropologie“
Bd. 19 und Bd. 26), sowie „Diebstahl aus abergläubischen Motiven“ („Gerichtssaal“
1909) und die dortigen Zitate.
1) Vgl. meinen Aufsatz über „Bettelei und Aberglaube“ in der „Zeitschrift
für Sozialwissenschaft“ Bd. XII. Weitere ergänzende Veröffentlichungen werde
ich nächstens an dieser Stelle bringen.
2) Vgl. meine oben zitierten drei Abhandlungen über Diebstahl aus aber¬
gläubischen Motiven. Zahlreiche weitere Materialien habe ich unterdessen schon
wieder gesammelt.
3) Auf diesen Aberglauben spielt Brauer an, wenn er in seiner verdienst¬
vollen Abhandlung „Über die Unzuverlässigkeit des direkten Zeugenbeweises“,
(„Annalen der deutschen und ausländischen Kriminalrechtspflege“ von Hitzig Bd. «
14, Altenburg 1841) — über die ich Bd. 36, S. 323 ff, ausführlich berichtet habe —
auf S. 9 erzählt, ihm sei ein Leichenfund mitgeteilt worden und er habe den
Selbstmörder an dem Ast eines Baumes noch hängend gefunden, da ihn „aus
einem verbreiteten Vorurteil“ niemand herabzunehmen gewagt hatte. Es wäre
eine sehr lohnende Aufgabe, einmal systematisch die Stellung der Selbstmörder
im Volksglauben darzustellen. Einige hierher gehörige Notizen bringt bei
Ossip Bernstein „Die Bestrafung des Selbstmordes und ihr Ende“ Breslau
1907 besonders in den Anmerkungen. Vgl. außerdem besonders auch Hirzel
„Der Selbstmord“ in dem „Archiv für Religionswissenschaft“ 1908 und Wester-
marck „Ursprung und Entwicklung der Moralbegriffe“, deutsch von Kätscher
Bd. 2 (Leipzig 1909) S. 196 ff. Viele weitere Materialien habe ich seit Jahren
gesammelt.
Archiv flir Kriminalanthropologie. 37. Bd. 25
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Kleinere Mitteilungen.
klang zwischen „Erhenkten“ und „Erhängten“ mitgewirkt haben mag.
Doch sind das nur Vermutungen. Vielleicht ist später einmal Gelegenheit,
das Thema von neuem aufzunehmen.
Hier möchte ich nur an einigen Beispielen darauf hinweisen, daß
dieser Glaube an die besondere Zauberkraft des Strickes des Erhängten
und ähnlicher Totenfetisehe auch für den Juristen des zwanzigsten Jahr¬
hunderts noch hier und da Bedeutung hat, wenngleich verhältnismäßig geringe.
Zunächst kann dieser Aberglaube zu einer eigenartigen Nahrungs¬
mittelfälschung Anlaß geben, die unter Umständen recht gefährlich werden
kann. Daß in früherer Zeit derartige Fälle vorgekommen sind, ist zweifel¬
los, daß auch heutigentages ähnliches noch möglich ist, erscheint durch¬
aus nicht unwahrscheinlich, wenn man bedenkt, daß der Aberglaube immer
noch zu den entsetzlichsten Schandtaten Anlaß gibt. Knoop berichtet uns,
daß in Dähnerts plattdeutschem Wörterbuch, erschienen im Jahre 1781 in
Stralsund, auf Seite 74 unter dem Stichwort „Deewsdum“ folgendes zu
lesen sei: „Der abgeschnittene Daumen eines gehangenen Diebes, mit dem
der Aberglaube auch hier, in Sonderheit bei den Biertonnen, sträfliche
Dinge vorgenommen und Landesverordnungen dagegen veranlasset hat.“
Mit den letzten Worten scheint Dähnert, wie unser Gewährsmann meint,
auf folgende Stelle des um die Mitte des 16. Jahrhunderts verfaßten
Wendisch-Rügianischen Landgebrauches (ed. Gadebusch S. 227 f.) hinzu¬
weisen: „Dat plag men oldings by den Bühren Alrhunken, Doepkersen —
Wass, by den Krögerschen Deve — Dhumen und andere doden Knaken
in den Tünnen edder under den Bierstellingen befinden. De mosten tho
der Tydt, wo se berüchtidt wurden und sick nicht purgieren kunten, den
Halss na Gelegenheit der Daeth van erer Herrschop edder van F (ürst-
licher) G(naden) Amptmanne, wo de egene Herrschop sümig was, lösen.“
Sie mußten „den Hals lösen“, d. h. sie mußten sich durch Zahlung der
höchst zulässigen Geldstrafe im Betrage von 60 Mark von der ihnen
eigentlich zukommenden Todesstrafe lösen 1 ). Den gleichen Aberglauben
erwähnt nach dem bekannten Buch von Praetorius über den Diebsdaumen
für frühere Jahrhunderte Mathes. in Postill. (fol. 38 Tom. 3), indem er
für den heiligen Dreikönigstag unter anderem folgenden Aberglauben ver¬
merkt: Daß „ein Diebsdaumen in ein Pottich gehenket, besser Bier
machen solle 2 .“ Denselben Aberglauben erwähnt Jakob Grimm 3 ).
Auch für die neuere Zeit haben wir verschiedene Belege für gleichen
und ähnlichen Volksglauben. So glauben die May garen, daß ein Gast,
dem man den ersten Trunk durch einen Kleiderfetzen eines Erhängten
seiht, stets durstig sein wird und deshalb immer wieder in die Schank¬
stube zurückkehren wird 4 ). In Pommern haben Bäcker, die ihren Teig
1) Knoop, „Beiträge zum Aberglauben in Pommern.“ 11 „Armsünder¬
blut“ („Blätter für pommersche Volkskunde“ Bd. I, Stettin 1893), S. 84 Anm.
2) M. Joh. Praetorius, Philologemata abstrusa de pollice: in quibus
singularia animadversa vom Diebes-Daume . . . (Lipsia 1677) S. 142.
3) Jakob Grimm, „Deutsche Mythologie“ (Göttingen 1835) Anhang S.
CLVI Nr. 1065.
4) H. v. Wlislocki „Volksglaube und religiöser Brauch der Magyaren“
(Münster i. W. 1893) S. 144.
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Kleinere Mitteilungen.
387
mit einem Armensünderfinger berühren, stets reißenden Absatz für ihre
Ware. „Ein Kaufmann in einer hinterpommerschen Stadt hatte in einem
Spiritusfasse, aus welchem er schenkte, einen Sünderfinger, d. h. einen
Finger von einem Hingerichteten verborgen. Infolgedessen strömten ihm
die Kunden in großer Menge zu, und das Geschäft blühte. Da bemerkte
der Hausknecht einmal beim Reinigen des Fasses den kreideweiß aus¬
gebleichten Finger, er ging zur Polizei und zeigte seinen Herrn an. Dieser
wurde streng bestraft, und den Finger nahm man ihm fort. Nach Ver¬
büßung der Gefängnisstrafe wollte der Kaufmann sein Geschäft fortführen,
aber er hatte kein Glück mehr, die Kunden blieben fort, und er konnte
durch Betteln sein Leben fristen r ). u In Böhmen legt ein Brauer, der viel
Abgang haben will, den Strick eines Gehenkten, an welchem ein Daumen
des Gehenkten befestigt ist, in das Bierfaß 1 2 ). Bei den Siebenbürger
Sachsen legt man in ein Wein- oder Schnapsfaß etwas vom Stricke oder
den Kleidern oder gar den kleinen Finger des Erhängten hinein in dem
Glauben,- es kehre dann derjenige, der von diesem Getränk getrunken
stets in diese Schenke ein 3 ). Tn Ermland bringen ein Armoünderfinger
oder Armsünderblut Glück ins Haus und ins Geschäft, legt man einen
solchen Finger in den Pferdestall so gedeihen die Pferde gut 4 ). Nach dem
Bericht über den Konitzer Hexenprozeß vom Jahre 1623 waren damals
nicht nur Armsünderfinger, d. h. Finger von armen, am Galgen hängenden
Sündern, sondern auch sonstige hiermit in Zusammenhang stehende Toten¬
fetische glückbringend, so z. B. Galgenketten und Galgennägel; sie dienten
zum guten Bierbrauen und zifm Verkauf von Bier, förderten das Hand¬
werk, machten die Pferde unermüdlich usw 5 ). Hieraus geht auch hervor,
daß bei dem Volksglauben, wer von Bier getrunken habe, in dem ein
Armsünderfinger gelegen hatte, immer wieder in die Schenke zurückkehre,
nicht etwa der Gedanke maßgebend gewesen ist, daß der Gast ebenso wie
der arme Sünder sieh dem Trünke ergeben würde, sodaß dieser Volks¬
glaube von der Beobachtung der Beziehungen zwischen Alkoholismus und
Kriminalität zeugen würde.
Außerordentlich interessant ist ein in Irland spielender Prozeß aus
dem Jahre 1816, zu dem jener Volksglaube Anlaß gab.. Im südlichen
Irland glaubt man, daß die linke Hand einer Leiche, wenn man sie in
das Butterfaß tauche, zu bewirken imstande sei, daß der Rahm ergiebiger
sei und auch bessere Butter gäbe. Im Jahre 1816 hatte sich eine Frau
vor Gericht zu verantworten unter der Anklage, durch eine derartige Pro¬
zedur mit einer Totenhand den Rahm „zum Steigen gebracht zu haben“
1) Knoop, „Beiträge zum Aberglauben in Pommern.“ „1. Armsünder¬
blut“ in den „Blättern für pommersche Volkskunde“ Bd. I. (Stettin 1893)
S. 63 f.
2) Gr olim ann, „Aberglaube und Gebräuche aus Böhmen und Mähren“ (1864).
3) H. v. Wlislocki „Volksglaube und Volksbrauch der Siebenbürger
Sachsen“ (Berlin 1893) S. 205.
4) Frischbier, „Hexenspruch und Zauberbann. Ein Beitrag zur Ge¬
schichte des Aberglaubens in der Provinz Preußen“ (Berlin 1870) S. 106.
5) „Preußische Provinzial-Blätter“ Bd. II S. 133f., zitiert bei Frischbier
a. a. 0. S. 106 Anm.
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Kleinere Mitteilungen»
(,räise cream“). Als Beweisstücke wurden zwei völlig in Fäulnis überge¬
gangene Hände vorgelegt. Der Angeklagten gelang aber der Nachweis,
daß einige rachsüchtige Leute die Hände in ihre Milchkammer gebracht
hatten Q. Wie die Anklage juristisch qualifiziert worden war und wie
nachher gegen die wirklichen Urheber dieses niederträchtigen Streichs vor¬
gegangen ist, ergibt sich leider aus dem mir vorliegenden Bericht nicht.
Es kommen eine ganze Reihe von Delikten in Betracht: Leichenschändung,
Nahrungsmittelfälschung, Verleumdung, wissentlich falsche Anschuldigung,
grober Unfug.
Hiermit ist aber die kriminelle Bedeutung des Strickes des Erhängten
oder Gehenkten als Totenfetisch noch nicht erschöpft. Anlaß zu dieser
kleinen Skizze gab mir ein Bericht, den ich vor einigen Tagen in einer
New-Yorker Zeitung über einen Kriminalfall las, der wohl seinesgleichen
kaum hat. In der Zeitungsnotiz, die ich für durchaus glaubwürdig halte,
sind die Namen der hauptsächlich in Betracht kommenden Personen und
der Örtlichkeiten genannt. Um eine kritische Nachprüfung der Zuver¬
lässigkeit meiner Quelle zu ermöglichen, gebe ich die Notiz so wieder, wie
ich sie fand: „ Der Aberglaube, wonach der Besitz eiues Teiles des Stricks
eines Erhängten Glück bringt, hat gestern auf dem Dache des Tenement-
Hauses No. 197 3 Str. zu einem kleinen Aufruhr geführt, und die Reserven
der Ost 5. Str.-Polizei-Station mußten herausbeordert werden, um die Ruhe
wieder herzustellen. Etwa 50 Frauen und Männer stießen sich und rauften,
um ein Stückchen einer Waschleine zu erhaschen, mit der eine unglückliche
Frau ihrem Leben ein Ende gemacht hatte. Die Polizisten waren ge¬
zwungen, von ihren Knüppeln Gebrauch zu machen, um die Leute zur
Raison zu bringen. Die Selbstmörderin war die 40 Jahre alte Barbara
Yetben. Sie hatte die Verzweiflungstat aus Kränkung verübt, weil sich ihr
Sohn gegen ihren Willen verheiraten wollte. Die Waschleine, mit der sie
sich erdrosselte, hatte sie an dem Schornstein befestigt. Eine Nachbarin
sah von ihrem Fenster aus den an dem Strick bammelnden Körper der
Unglücklichen. Ihr Geschrei brachte die anderen Bewohner des Hauses
und der Nachbargebäude auf die Beine, und alles eilte auf das Dach.
Schnell entspann sich dort ein wilder Kampf um den Strick der Erhängten.
Die Männer benutzten ihre Fäuste, die Weiber ihre Zähne und Nägel. In
der Zwischenzeit lag der Leichnam der Entseelten unbeachtet auf dem
Boden“ 1 2 ). Hier haben wir einen ganzen Rattenkönig von Delikten, den
jener, anscheinend den Kriminalisten gar nicht interessierende Aberglaube
im Gefolge gehabt hat: Körperverletzung, Hausfriedensbruch, Widerstand
gegen die Staatsgewalt, Sachbeschädigung und Diebstahl. Dieser Fall aus
allerjüngster Zeit, aus einer Millionenstadt eines modernen Kulturlandes,
zeigt wieder einmal, welche Lebenskraft der Aberglaube auch in unseren
Tagen noch hat, und daß er bei Delikten jeder Art mit hineinspielen
kann. Ein ähnlicher Fall gehört auch bei uns noch durchaus zu den
Möglichkeiten. Sollte mir später über eine etwaige gerichtliche Verhand¬
lung aus Anlaß dieses Falles etwas bekannt werden, so werde ich nicht
1) „Das Ausland“ 1833 S. 1096 unter Bezugnahme auf das englische Blatt
„Mirror.“
2) „New-Yorker Staatszeitung“ nr. 274 vom 16. November 1909.
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Kleinere Mitteilungen.
389
verfehlen, darüber zu berichten; auch will ich den Versuch machen, durch
meine nordamerikanischen Freunde weitere authentische Mitteilungen zu er¬
halten, wenngleich meines Dafürhaltens jene Zeitungsnotiz für sich allein
schon genügt. Kurz bemerken möchte ich noch, daß ich als Richter in
•diesem Fall das abergläubische Motiv nicht als strafmildernd in Rücksicht
ziehen würde, da die Straftaten begangen sind, um ein Amulett zu er¬
langen, um sich einen Vorteil zu verschaffen, nicht um sich vor Schaden
zu bewahren oder aus einem anderen ethisch nicht verwerflichen Motiv 1 ).
Zum Schluß will ich aus dem Gedächtnis von einem Fall berichten,
der sich vor einigen Jahren in Paris zugetragen hat; ich habe ihn in der
Zeitung gelesen, kann die Quelle aber momentan nicht auffinden. Ein
Mann hatte zufällig eine Person in ihrer Wohnung erhängt vorgefunden.
Er schlich sich hinein, schnitt sich ein Stück von dem Strick ab und
wollte sich wieder davonschleichen. Da hörte er ein Geräusch; aus Angst
ertappt und vielleicht für einen Mörder gehalten zu werden, rannte er die
Treppe herab, strauchelte und fiel so unglücklich, daß er sich das Genick
brach. Diesem armen Wicht hatte also der Strick der Erhängten statt des
erhofften Glücks den Tod gebracht!
1) Ueber die Bewertung des Aberglaubens bei der Strafzumessung werde
ich in Kurzem einen längeren Aufsatz veröffentlichen, wahrscheinlich in der
„Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft.“
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Zeitschrifteflschaii.
Von Privatclozent Dr. Hermann Pfeiffer, Graz.
Ärztliche Sachverständigen-Zeitung. 1909. Nr. 20.
Wind scheid: Ein Fall von Tricepskrampf, entstanden durch Unfall auf
dem Boden einer früheren Beschäftigungsneurose.
Durch die Dehnung des Armnervengeflechtes in einem Betriebe ent¬
wickelt sieh ein durch stärkere Anstrengung jederzeit auslösbarer Krampf
im Triceps, der den Betreffenden am Arbeiten stark hindert. Als disponierende
Ursache für die Entstehung des Leidens mag der Umstand in Betracht
kommen, daß der Betreffende früher einmal an Feilenhauerkrampf ge¬
litten hat.
Tilger: Über Gewöhnung an „Unfallfolgen“ im Vergleich zur Gewöhnung
an nicht von Betriebsunfällen abhängige vergleichbare krankhafte
Zustände.
Eine Reihe interessanter Eigenbeobachtungen, welche wieder einmal
beweisen, wie schlecht geheilte alte, aber nicht rentenpflichtige Knochen¬
brüche oder schwere organische Leiden trotz Deformation und anderen
Folgezuständen ohne eine Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit getragen
werden, während rentenpflichtige wenn auch viel nebensächlichere Ver¬
letzungen, auch wenn die Behandlung ein funktionell vorzügliches Resul¬
tat ergab, zu lebhaften und dauernden subjektiven Klagen Anlaß geben.
Dementsprechend gehört es auch zu den seltensten Ausnahmefällen, daß
sich ein Unfallverletzter selbst gesund meldet. Unter den 500 Fällen des
Verf. war dies ein einzigesmal der Fall, ein Hinweis darauf, ein wie geringer
Prozentsatz der Arbeiter vollkommen gesund sei. Die mitgeteilten Fälle
können leider einzeln nicht referiert werden.
Nr. 21.
M. Nonne: Zur Kasuistik der Tabes dorsalis und der Syringomyelie
traumatischen Ursprungs.
Verf. berichtet über einen Fall von traumatischer Tabes, bei dem der
Patient ein Jahr vor Manifest werden von Symptomen von einem Motor
einen Schlag gegen die untere Hälfte des Rückens bekommen hatte. Dies
führte zu einer chronischen Osteomyelitis und Arthritis deformans an der
Einwirkungsstelle (unterste Dorsal- und obere Lendenwirbel). Im Laufe
eines Jahres traten lanzinierende Schmerzen in den Beinen auf und seither
entwickelten sich weitere Symptome der Tabes. Anatomisch zeigte sie
sich als sehr hochgradig im unteren Lenden- und Dorsalmark. Die Lokali¬
sation der stärksten tabischen Veränderung deckte sich mit jener der
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Zeitschriftenschau.
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chronischen Osteomyelitis und chronischen Arthritis deformans. Syphilis
fehlte absolut, ebenso war ein Potus nicht nachzuweisen,
Der Fall von Syringomyelia traumatica betraf einen 29 jährigen
Schiffer, welcher in einem Sturme zwei schwere Schläge gegen den unteren
Teil der Wirbelsäule erhielt. Schon in den nächsten Tagen zeigten sich
Schmerzen im rechten Oberschenkel und schwache im linken Beine. Weiter¬
hin entwickelte sich das typische Bild einer progredienten Syringomyelie.
Der Patient starb nach 5 Jahren an den Folgen einer schweren Oystopyelitis.
Bei der Sektion fand sich eine große Höhle, die vom unteren Lumbalmark
bis ins mittlere Dorsalmark reichte und aus Zerfall von gewuchertem Glia-
gewebe sich gebildet hatte.
Stempel: Die Anwendung des Wassergases uud verwandter Gase in der
Industrie, ihre Gefahren und ihre gerichtsärztliche Bedeutung. (Fort¬
setzung folgt). __
Nr. 22 .
H. Brasserl. Unfall uud Bleiläkmung.
Ein 45 jähriger Farbmüller erleidet einen Unfall, indem er im Betriebe
I, 20 m hoch herunterfällt, dabei mit dem rechten Arm an ein Farbfaß.
anstreift und sich eine klaffende Wunde am Hinterhaupt zuzieht. Diese
heilt reaktionslos; hingegen entwickelt sich im Verlaufe von 10 Monaten
eine typische Bleilähmung der rechten Hand, die vom Verf. in keiner Weise
mit dem Unfälle in Beziehung gebracht zu werden vermag. Die Renten¬
ansprüche werden abgewiesen.
Stempel: Die Anwendung des Wassergases und verwandter Gase in der
Industrie, ihre Gefahren und ihre gerichtsärztliche Bedeutung.
Nachdem der Verf. wie der Titel besagt, die Anwendung des Wasser¬
gases, des Generatorgases und verwandter Gasarten in der Industrie und
die damit verbundenen Gefahren besprochen hat, teilt er zwei Fälle mit,
von denen der erste unzweifelhaft einen tödlichen Betriebsunfall durch
Kohlenoxydvergiftuug darstellt, der zweite aber, der gleichfalls den Ver¬
dacht des Vorliegens derselben Todesart wachrufen mußte, sich als eine
Apoplexie erwies. Diese war mit einer Wassergasvergiftung in keinen
Zusammenhang zu bringen, weshalb auch ein Betriebsunfall nicht ange¬
nommen werden konnte und die Rentenansprüche der Witwe abgewiesen
werden mußten.
Nr. 23.
Windscheid: Arteriosklerosis cerebri mit angeblichen psychischen Stö¬
rungen als Unfallfolge abgelehnt.
Ein 51 jähriger Arbeiter zieht sich durch den Fall einer Ölkanne auf
seinen Kopf eine zwar stark blutende, aber im übrigen offenbar unbe¬
deutende Verletzung der Kopfschwarte zu, die sehr bald geheilt ist. Er
hat die Arbeit nicht unterbrochen und erst, als er fünfviertel Jahre später
arbeitsunfähig geworden war, hat er einen Antrag auf Unfallrente gestellt
und führt alle seine Beschwerden auf diesen zurück. Er leidet derzeit an
einer Verkalkung der Gehirnarterien, die in keinen Zusammenhang mit dem
Unfälle gebracht werde dürfte.
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Zeitschriftenschau.
Köhler: Zur Unfallkasuistik. Leichte Kopfverletzung. Neurasthenie.
Aortenaneurysma.
Ein Arbeiter stößt im Betriebe beim Besteigen einer Kellerstiege mit
dem Kopfe an die Decke und zieht sich dadurch eine kleine Beule zu.
Weiterhin treten vage nervöse Störungen ohne funktionelle Befunde zutage,
die zunächst infolge der Glaubwürdigkeit des Betreffenden in Zusammen¬
hang mit diesem Unfälle gebracht werden. Später erweist es sich, daß sie
verursacht wurden durch ein Aortenaneurysma, worauf ein innerer Zu¬
sammenhang zwischen Verletzung und Störung des Allgemeinbefindens nicht
mehr aufrecht erhalten werden kann.
K. Ruhemann: Die Entzündung des vor der Kniescheibe gelegenen
Schleimbeutels bei einem Parkettfußbodenleger als Gewerbekrankheit
und nicht als Betriebsunfall anerkannt.
Bei einem Parkettfußbodenleger tritt nach längerer anstrengender Arbeit
eine Eiterung im praepatellaren Schleimbeutel auf, die nach einem ent¬
sprechenden chirurgischen Eingriff unter Bildung einer glatten Narbe aus¬
heilt. Dennoch klagt der Kranke darüber, daß er wegen Schmerzhaftigkeit
der Narbe seinem Berufe nicht nachkommen könne. Das Leiden konnte
nur als Gewerbekrankheit und nicht als Betriebsunfall anerkannt werden
Nr. 24.
Fränkel: Die Mikroskopie von Blutspuren im reflektierten Lichte.
Die hohe forensische Bedeutung der Mitteilung Fränkels läßt ein
näheres Eingehen auf ihren Inhalt an dieser Stelle gerechtfertigt erscheinen.
Sie behandelt die Untersuchung von undurchsichtigen Objekten, insbesondere
von Waffen, Messerklingen im auffallenden Lichte mittels des Opakillu¬
minators der Firma Leitz. Die Befunde können auch noch bei jahrealten
dem freien Auge nicht erkennbaren und mit Hilfe der anderen Methoden
nicht nachweisbaren Blutspuren in folgende Gruppen gebracht werden:
1. Einzelne erhaltene Blutkörperchen, deren Nachweis oft ganz wider Er¬
warten auch noch mitten unter Rostflecken an kleinsten rostfreien Flächen
noch gelingt. 2. Vorhandensein von zusammenhängenden, aber durch eine
feine Netzstruktur getrennten Blutkörperchen, ein Bild welches etwas für
Blut außerordentlich Charakteristisches hat und bei sicherem und nicht mit
Blut verunreinigtem Rost niemals beobachtet werden kann. Diese Netz¬
struktur darf nicht verwechselt werden mit gröberen Rißen und Sprüngen
in der Oberfläche, wie sich solche auch bei Farben- und Lacküberzügen
auf Metallen bilden. 3. Finden sich dicke bräunliche Massen, an denen
weder Zellen, noch Netzfiguren zu erkennen sind. In diesen, wie in den
anderen erwähnten Fällen gelingt durch die kombinierte Verwendung von
Opakilluminator und Mikrospektroskop dann noch an kleinsten Spuren,
oder an Gemengen von Rost und Blut, die dem freien Auge und anderen
Prüfungsmitteln entgehen würden, sehr häufig mit Sicherheit der Blutnach¬
weis, wenn man kleinste Teilchen des Objektes mit einer 8 fach verdünnten
Lösung des käuflichen Hydrazinhydrates betupft und nach kurzer Zeit das
Reagenz mittels Filterpapier von der zu untersuchenden Fläche entfernt.
Betrachtet man eine solche Stelle im reflektierten Lichte mit Hilfe des
Mikrospektroskopes, so gelingt der Nachweis der Hämochromogenstreifen
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und damit der sichere Beweis des Vorliegens von Blut noch an ganz dünnen
Blutschichten oder an Blut-Rostgemengen. Selbstverständlich soll das neue
Verfahren in Fällen, wo es möglich ist, nicht die alten Methoden verdrängen,
sondern diese immer auch nebenher dnrchgefnhrt werden. In verzweifelten
Fällen aber wird es, wie Referent aus eigener Erfahrung nur bestätigen
kann, noch sehr häufig allein imstande sein, den Blutnachweis zu gestatten,
wenn alle anderen Techniken versagt haben. Namentlich auf die von
Fränkel in die Blut-Technik eingeführte Kombination von Opakilluminator
und Mikrospektroskop und die Benützung des Hämoehromogenspektrums
möchte Referent hinweisen und mit Nachdruck betonen, daß sie eine außer¬
ordentlich wertvolle Bereicherung unserer Untersuehungsmethoden bedeutet
und ihm in Ernstfällen schon wiederholt die besten Dienste geleistet hat.
Windscheid: Rentenkampfneurose als Unfallfolge abgelehnt.
N. hat im August 1902 durch einen Betriebsunfall einen Bruch des
linken Armes erlitten, der ihm zunächst Vollrente, später 25 und 15 Proz.
Rente einbrachte. Nach 1 i /‘i Jahren, als ihm die Rente ganz entzogen
werden sollte, begann er über ganz vage nervöse Störungen ohne nachweis¬
bare Ursache zu klagen, die von den begutachtenden Ärzten als bedingt
durch den Kampf um die Rente erklärt wurden. Ein Zusammenhang mit
dem Unfälle, dessen chirurgische Folgen jedenfalls vollständig geschwunden
sind, liege nicht vor, ein Grund für die Gewährung einer Rente eben¬
falls nicht.
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Der II. Deutsche Jugendgerichtstag
wird auf Einladung des Magistrats zu München in der Zeit vom
29. September bis 1. Oktober 1910 in der bayerischen Hauptstadt ab¬
gehalten werden. Die deutsche Zentrale für Jugendfürsorge lädt zur
Teilnahme die beteiligten und interessierten Behörden, Vereine und
Privatpersonen Deutschlands sowie der deutschen Teile Österreichs
und der Schweiz ein. Auf dem Jugendgerichtstag soll zunächst eine
Übersicht über den Stand der Jugendgerichtsbewegung in Deutschland,
Österreich und der Schweiz durch A.G.R. Dr. Köhne-Berlin, Staats¬
minister Bärnreither-Wien, ev. O.L.G.R. Warhanek-Wien, Pro¬
fessor Hafter-Zürich gegeben werden. Es steht ferner auf der
Tagesordnung: Das Jugendgericht im Vorverfahren, Organisation und
Zuständigkeit der Jugendgerichte, Besonderheiten des Verfahrens,
Strafe und Erziehungsmaßnahmen sowie deren Abgrenzung, und endlich
Zusammenwirken der Jugendgerichte mit anderen Behörden, Vereinen
und freiwilligen Helfern. Als Referenten sind bisher gewonnen:
O.A.R. Pemerl-München, A.R. Dr. Hertz-Hamburg, Landrichter
Stoll-Stuttgart, die Staatsanwälte Rupprecht-München, Wulffen-
Dresden und Stahlknecht-Bremen, Reg. Rat Dr. Lindenau-Berlin,
Rechtsrat Grrieser-München. Eine bedingte Zusage hat Amtsgerichts¬
präsident Dr. Becker-Dresden erteilt. Mit weiteren Referenten
schweben noch Verhandlungen.
Es ist zu erwarten, daß mit Rücksicht auf die großen Gesetz¬
gebungsfragen der Gegenwart die Teilnahme an dem Tage eine leb¬
hafte und die Verhandlungen fruchtbringende sein werden.
Druck von J. B. Hirschfeld in Leipzig.
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