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Full text of "Über Die Anfänge Der Selbstbiographie"

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Uber die 
anfange der 
selbstbiogra 
und ihre 
entwicklung 


Friedrich von 
Bezold 


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Über die Anfänge der Selbstbiographie und 
ihre Entwicklung im Mittelalter. 



Rede 

beim Antritt des Prorektorats 

» 

der 

Königlich Bayerischen 

Friedrich-Alexanders-Universität Erlangen 

am 4. November 1893 gehalten 


Dr. philos. Friedrieh von Bezold, 

K. ordentl. Professor der Geschichte. 



Erlangen. 

K. B. Hof- und Universitäts-Buchdruck erei von Fr. Junge (Junge & Sohn). 

1893. 



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100760 


Kollegen! Kommilitonen! 
Höchansehnliche Versammlung! 


W enn ich es unternehme, dem Ursprung der Selbstbiographie und ihrer 


Entwicklung bis in die späteren Jahrhunderte des Mittelalters nachzugehen, so gilt 
dieses Bemühen einer Literaturgattung, die allerdings in den weitesten Kreisen eine 
rein menschliche Teilnahme erweckt, von der historischen Forschung aber mit sehr 
berechtigtem Misstrauen betrachtet wird. Man hat sie wohl als psychologische Poesie 
bezeichnet, um ihren geringen Wert neben andern Formen historischer Überlieferung 
hervorzuheben. Inwieweit freilich und ob überhaupt eine Selbstbeobachtung im 
streng wissenschaftlichen Sinn möglich sei, darüber zu entscheiden ist nicht unsere 
Aufgabe 1 ). Für uns genügt es, dass eine Reihe auserlesener Geister sich damit be- 
fasst hat, vor sich und andern ihr eignes Denken und Fühlen zu offenbaren, ihr 
eignes Herz und seine Geschichte zu enträtseln. Ich brauche nur an Namen wie 
Petrarka, Rousseau, Goethe zu erinnern. Denn hier soll eben nicht die gewaltige 
Literaturmasse der Memoiren oder Denkwürdigkeiten ins Auge gefasst werden, die 
sich vornehmlich mit den äusseren Schicksalen ihrer Verfasser, mit ihrer Teilnahme 
am öffentlichen Leben, mit den Persönlichkeiten bedeutender Zeitgenossen beschäf- 
tigen. Die Selbstbiographie im engeren Sinne hat es vor allem mit der inneren 
Entwicklung ihres Helden zu tun; sie ist nicht nur Rückschau auf das Durchlebte, 
sondern zugleich und vorwiegend Innenschau. Einer ihrer berühmtesten Vertreter, 
J. J. Rousseau, hat es gewagt, sich geradezu als ihren Urheber vorzustellen. Aber 
seine Bekenntnisse, die er als ein Werk ohne Beispiel und ohne Nachahmer einführt, 
verraten schon in ihrem Titel und vollends in ihrem Grundgedanken die Abstam- 
mung von den Konfessionen des heiligen Augustinus. Also hätten wir die Ent- 
stehung einer Literatur, die neben Augustin einen Petrarka, Rousseau, Goethe auf- 
weist, zunächst in der Jugendzeit des Christentums zu suchen. Dabei bleibt vor allem 


1* 



— 4 — 


zweierlei zu erwägen. Einmal die Frage, ob denn vor Augustin gar keine Spuren 
oder Ansätze zu erkennen sind; sodann die zweite Frage, ob wirklich, wie man oft 
angenommen hat, eine Kluft von tausend Jahren ohne alle Zwischenglieder die Be- 
kenntnisse des lateinischen Kirchenvaters von den Bekenntnissen des italienischen 
Humanisten trennt. Dass die zweite Frage zu verneinen ist, kann ich hier gleich 
vorausschicken. Aber man hat meines Wissens auf diese mittelalterlichen Nachfolger 
Augustins und Vorläufer Petrarkas bisher nur hier und da, nicht im Zusammenhang 
aufmerksam gemacht. 


Aus dem klassischen Altertum sind uns Selbstbiographien nicht erhalten, 
obwohl wir von so manchen hellenistischen und namentlich römischen Berühmtheiten 
hören, dass sie ihr Leben oder besonders bedeutsame Abschnitte desselben be- 
schrieben haben. In den letzten Zeiten der römischen Republik und in den ersten 
Jahrhunderten der Kaiserherrschaft muss die Memoirenliteratur eine reiche und in- 
teressante gewesen sein, denn wir greifen wohl mit der Annahme nicht fehl, dass 
es sich dabei wesentlich um res gestae, um politische und militärische Dinge, um die 
Aktion der Verfasser auf der grossen Weltbühne gehandelt haben wird. Als die 
erstarkende Monarchie der Caesaren dem öffentlichen Leben immer mehr Licht 
und Luft entzog, sahen sich gewiss viele tüchtige Kräfte, die bisher nur dem 
Forum und dem Lager gedient hatten, auf das stillere Feld künstlerischer oder 
wissenschaftlicher Tätigkeit gewiesen. Nicht zu verkennen ist auch ein gewisser 
Zug zur Beschaulichkeit und zur psychologischen Beobachtung, die uns an einem der 
grössten Künstler der Geschichtschreibung, an Tacitus so besonders fesselt 2 ). Aber 
die antike Auffassung des Individuums w r ar doch noch zu mächtig als dass sich ein 
solches Belauschen und Aushorchen des eignen Herzens in allen seinen Regungen 
hätte entwickeln können, wie es die augustinischen Konfessionen voraussetzen. Noch 
war die Abkehr von dem unfrei gewordenen Staat meist keine freiwillige, sondern 
von Empfindungen des Grolls und der Sehnsucht nach der guten alten Zeit begleitet. 
vSelbst bei den Philosophen, die sich über die Lockungen und Stürme des äusseren 
Lebens erhaben fühlten, tritt vor dem Bedürfnis zu allgemein gültigen und schul- 
mässig formulierten Sätzen zu gelangen, das Interesse an der Eigenart des einzelnen 
Menschen völlig zurück. Das schlagendste Beispiel hiefür ist der kaiserliche Stoiker 
Mark Aurel; trotz eines Anlaufs das eigne Leben zum Ausgangspunkt der Betrach- 
tung zu machen, vermeidet er es in seiner Schrift elg iavmv ängstlich, sich von dem 
wohlvertrauten Boden der Gemeinplätze weg in die dunkeln Tiefen des eigenen Ich 
zu verirren. 



— 5 — 


So blieb es der christlichen Welt vorbehalten, die Selbstbiographie in einem 
ganz neuen, von der Aufzeichnung der eigenen Leistungen und äusseren Schicksale 
ganz verschiedenen Sinn zu erzeugen. Die wichtigste formale Voraussetzung war 
längst gegeben. Denn die ausgebildete Icherzählung reichte bereits nicht nach Jahr- 
hunderten, sondern nach Jahrtausenden zurück, bis in die Urzeiten alles Schrifttums. 
Die ruhmredigen Inschriften der ägyptischen Herrscher und Beamten, der babylonisch- 
assyrischen Könige erzählen grossenteils in der ersten Person, nicht ohne manchmal 
die seltsame Form der Selbstbiographie eines Verstorbenen anzunehmen. In ein- 
zelnen Fällen gestalten sich solche Inschriften zur Legende oder zum Zwiegespräch 
des Erzählers mit den Göttern , so wenn König Sargon I. redend eingeführt wird, 
um die höchst wunderbare Geschichte seiner eigenen Geburt zu berichten, oder wenn 
König Naboned eine Unterredung mit dem Gott Merodach wörtlich wiedergibt. 
Daneben entwickelte sich in Ägypten frühzeitig eine Art von Ichroman in Gestalt 
von Abenteuern und Märchen, die ein Weitgereister als eigene Erlebnisse zum 
Besten gibt 3 ). Man fühlt sich hier unwillkürlich zu einem Seitenblick verlockt aut 
die Perle aller Schiffersagen, die unsterbliche Erzählung des Odysseus von seinen 
Irrfahrten. Ohne auf die Wandlungen der griechischen Reisepoesie und Novellistik 
einzugehen, muss ich doch zweierlei hier hervorheben. In der römischen Kaiserzeit 
finden wir einmal die Icherzählung in vollendeter Gestalt vor, so z. B. in dem genialen 
vSittenroman des Petronius. Dann aber verbindet sich im griechischen Roman der 
ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung das stoffliche Interesse jener alten Reise- 
geschichten mit der Erotik 4 ). Damit tritt ein psychologisches Element in den Vorder- 
grund, das freilich jene sophistisch geschulten Prosadichter keineswegs mit grosser 
Feinheit oder Mannigfaltigkeit zu behandeln verstehen. Auch hier begegnet uns 
der Ichroman oder wenigstens die Einflechtung von kleineren Erzählungen in der 
ersten Person. 

Dieser wirksamen Kunstform bemächtigte sich nun das Christentum, um die 
heidnischen Liebes- und Abenteuergeschichten durch Romane mit religiöser Tendenz 
zu verdrängen, so dass nicht etwa eine Abnahme, sondern nur eine Umwandlung 
der erzählenden Literatur unter christlichem Einfluss zu verzeichnen ist 5 ). Anstatt 
der oft sehr langatmigen Gespräche und Ausführungen über die Liebe erscheinen 
jetzt erbauliche oder lehrhafte Auseinandersetzungen über religiöse Fragen, während 
im Übrigen namentlich das phantastische Element seinen un verkümmerten Platz be- 
hauptet. Es herrscht geradezu in den Mönchsromanen, die seit dem IV. Jahrhundert 
aus den über die heiligen Väter der Wüste umlaufenden Geschichten und Fabeln 
entstanden sind. Ihr eigentlicher Zweck, die Verherrlichung und Empfehlung der 
Askese, verbirgt sich manchmal fast ganz hinter der möglichst anziehenden und 
aufregenden Einkleidung. Wenn schon in einem der ältesten Stücke, in dem von 



— 6 


Hieronymus verfassten Leben des Anachoreten Paulus, dem heiligen Antonius ein 
Kentaur und ein bocksfüssiger Satyr als Wegweiser durch die furchtbare Einsam- 
keit dienen und dem dahingeschiedenen Paulus zwei Löwen das Grab bereiten, so 
steigert sich diese Belebung der Wüsten- und Höhlenszenerie durch Dämonen und 
wilde Tiere immerzu bis zum Ungeheuerlichsten. Es ist orientalische, ägyptische 
Phantasie, die den Ton angibt. Zumal die Löwen bilden ein stehendes Requisit; sie 
schützen wohl den Kohlgarten des Einsiedlers vor den Ziegen, begleiten seine vor 
Angst zitternden Besucher, dienen sogar als Werkzeuge der Busse; dem römi- 
schen Makarius, der sich einmal von sündlicher Lust überwältigen lässt, drehen sie 
erst verächtlich den Rücken, um ihn dann bis zum Hals einzugraben und erst nach 
Verlauf von drei Jahren wieder aus dieser Lage zu befreien. Hier befinden wir uns 
überhaupt in einer reinen Fabel weit; da geht die Reise zum heiligen Mann durch 
Völkerschaften von Mohren, Kynokephalen und Pygmäen, durch Herden von 
Schlangen und Basilisken, Büffeln und Elephanten, vorbei an der Hölle und am 
Paradies, in dessen Nähe Makarius haust, ganz in sein schneeweisses • Haupt- und 
Baarthaar eingehüllt, die Haut zum dürren Fell eingetrocknet, die Augen unter den 
Brauen nicht mehr sichtbar, mit entsetzlich langen Nägeln und kaum noch vernehm- 
licher Stimme. So erzählt er den wissbegierigen Pilgern seine Schicksale. 

Denn die Icherzählung spielt in diesen seltsamen Erzeugnissen christlicher 
Belletristik eine sehr grosse Rolle. Mit viel Geschick fasst z. B. Hieronymus die 
Geschichte des Einsiedlers Malchus in eine zierliche kleine Novelle, die er seinen 
Helden selbst und zwar äusserst anschaulich vortragen lässt; da fehlt es nicht an 
Beduinenüberfall und Gefangenschaft, an einer Scheinehe, die dem vormaligen Mönch 
aufgezwungen wird, mit der Frau eines anderswohin in die Sklaverei geratenen 
Mannes, an einer aufregenden Flucht. Die Sammler solcher Mönchsgeschichten, wie 
Rufinus, Palladius, Cassianus u. a., legen grosses Gewicht darauf, als Augen- und 
Ohrenzeugen zu berichten; sie haben die heiligen Büsser selbst aufgesucht, zuweilen 
unter Lebensgefahr, und geben ihre oft sehr langwierigen Reden im Wortlaut wieder, 
nicht ohne von Zeit zu Zeit ihre eigene Glaubwürdigkeit oder die ihrer Gewährs- 
männer in starken Ausdrücken zu beteuern. Theodoret meint, wer seinen Erzäh- 
lungen nicht glauben wolle, der werde vermutlich auch die Wunderberichte des 
Alten und Neuen Testaments für Fabeln halten; die Zuverlässigkeit sei bei ihm 
ebenso über allen Zweifel erhaben, wie in der Bibel. Jenes phantastische Märchen vom 
römischen Makarius gibt sich als Reisebericht dreier Mönche Theophilus, Sergius 
und Hyginus; sie berufen sich frech darauf, dass es ja viel sicherer für sie gewesen 
wäre zu schweigen als den Schein und Vorwurf des Betrugs auf sich zu laden 6 ). 

Auch an andern Formen des christlichen Romans fällt die Neigung auf, in 
der ersten Person zu erzählen, entweder die eigenen Schicksale zum Hauptgegenstand 



— 7 — 


zu machen oder sich wenigstens als Freund und Begleiter der Hauptpersonen ein- 
zuführen. Dies geschah besonders gern mit Bezug auf die Apostel; so in jenem be- 
rühmten Roman, der unter dem Namen des Römers Clemens in verschiedenen 
Fassungen auf uns gekommen ist, oder in den »Taten des Evangelisten Johannes«; 
der Verfasser, der wahrscheinlich im V. oder VI. Jahrhundert eine ältere Vorlage 
bearbeitet hat, stellt sich als einen der siebzig Jünger und als Reisegefährten des 
Apostels vor. Wie die Phantastik der antiken Schiffer märchen auf die Mönchsge- 
schichten so hat das Schema des griechischen Liebesromans auf diese theologischen 
Tendenzdichtungen eingewirkt. Wir finden das beliebte Motiv der Trennung und 
wunderbaren Wiedervereinigung von nahen Verwandten z. B. in den Klementinen 
und später in einer ganzen Reihe von Legenden. An den Gaunerroman erinnern 
manche derbkomische Züge in den Acta Joannis, wenn etwa der Apostel als Bade- 
heizer Unterkunft sucht und sich unter die gewaltigen Fäuste und nicht minder ge- 
waltigen Schimpfreden seiner Herrin, des kampflustigen schielenden Mannweibs 
Romana beugt 7 ). Ganz besonders charakteristisch aber ist die Herübernahme und 
Umgestaltung des erotischen Elements, dem man doch keineswegs ganz entsagen 
wollte. Da wird z. B. der vielgelesene heidnische Liebesroman von Klitophon und 
Leukippe mit einer christlichen Fortsetzung versehen oder in der Geschichte vom 
Magier Cyprian die Bedrängnis einer edeln Jungfrau durch Zauberkünste, zu denen 
der verschmähte Liebhaber seine Zuflucht nimmt, ausführlich geschildert oder dem 
Apostel Paulus eine jugendliche Schülerin Thekla angedichtet, die ihm in Männer- 
kleidern nachzieht. Die bis ins Ungesunde gesteigerte Verherrlichung der Virginität 
erzeugte dann ein Raffinement gefühlvoller Romantik, das bei aller Entfernung von 
der unverhüllten Sinnlichkeit der Antike doch dem Wohlgefallen an verfänglichen 
Schilderungen reichliche Nahrung bot. Zahlreiche Geschichten von schönen buss- 
fertigen Sünderinnen und von ebenso schönen allen Versuchungen trotzenden Jung- 
frauen bezeugen die grosse Beliebtheit solcher Stoffe. Es erhöht natürlich den Ein- 
druck, wenn uns der Verfasser einer Legende den frechen Durchzug einer reichge- 
schmückten Tänzerin durch den Kreis beratender Bischöfe als Augenzeuge be- 
schreibt oder wenn die nackt in der Wüste hausende, einem wilden Tier ähnliche 
ägyptische Maria ihr früheres Lasterleben selbst erzählen muss. Manche heidnische 
Göttin mag in der Gestalt einer christlichen Romanheldin fortgelebt haben, wie ja 
die heutige Pelagia nach Useners Darlegung nichts anderes ist als die meerbeherr- 
schende Aphrodite selbst im Gewand des neuen Glaubens 8 ). 

Ob nun das starke Hervortreten der wirklichen oder fingirten Persönlichkeit 
einfach aus den heidnischen Vorlagen herübergenommen oder in der christlichen 
Unterhaltungsliteratur doch noch weiter entwickelt worden ist, darüber kann ich 
sicheren Aufschluss nicht geben. Dass aber die neue Weltanschauung des Christen- 



8 — 


tums eine neue Schätzung des Einzelmenschen nicht gerade allein geschaffen, aber 
doch in einem bisher unbekannten Mass zur allgemeinen Geltung gebracht hat, das 
darf wohl als eine kaum bestrittene Tatsache bezeichnet werden. In diesem Sinn 
könnte man vielleicht das vielberufene und vielkritisirte , immer etwas bedenkliche 
Wort vom ersten modernen Menschen, das ja mit Vorliebe von Petrarka gebraucht 
wird, schon auf den heiligen Augustinus anwenden 9 ). Jedenfalls ist er einer der 
gewaltigsten Mitbegründer der christlichen Weltanschauung und der katholischen 
Kirche und in ihm gipfelt jene vom Neuplatonismus angebahnte Gefühlsphilosophie, 
die es unternimmt aus den innersten und verborgensten Regionen des Seelenlebens 
die Lösung aller Rätsel zu holen. Seine Konfessionen besitzen doch wenigstens unter 
den uns bekannten Schriften auch der ersten christlichen Jahrhunderte keinen wirk- 
lichen Vorläufer. Gewisse Anklänge finden sich wohl in den merkwürdigen Selbst- 
bekenntnissen, in denen jener Magier Cyprian von Antiochia seinen Durchgang durch 
alle geheime Weisheit, Zauberkunst und Christenfeindschaft des Heidentums, seine 
Verzweiflung und Bekehrung drastisch genug darstellt, alles in Form einer vor den 
Gläubigen abgelegten, von ihren Trostreden unterbrochenen Beichte, deren Verlauf 
Cyprian selbst im Wortlaut mitteilt 10 ). Ein faustischer Zug ist dieser Gestalt mit 
dem Kirchenvater gemeinsam, nur dass er bei dem abenteuerlichen Adepten der 
Mysterien und Dämonenbeschwörungen in ungleich gröberer Weise sich kund gibt. 
Sonst besitzen wir noch zwei ebenfalls dem IV. Jahrhundert an gehörige voraugustinische 
Selbstbiographien. Die eine, dem Heros der syrischen Kirche Ephraem in den Mund 
gelegt, gibt nur eine Episode seines Jugendlebens; die andere ist in verschiedenen 
echten Gedichten Gregors von Nazianz enthalten, die sich in einer Fülle von lang- 
weiligen und selbstgefälligen Versen doch mehr über seine äusseren Schicksale und 
dogmatischen Kämpfe verbreiten 

Immerhin haben wir hier ein paar Belege dafür, dass in der damaligen christ- 
lichen Welt ein gewisser Hang zur Selbstschilderung in erbaulicher Absicht vorhanden* 
war; auch die unechten Stücke wollen ja durch die Fiktion eigner Bekenntnisse wirken. 
Diesen Gedanken hat nun Augustin in wahrhaft genialer Weise ergriffen und ver- 
wirklicht. Die Konfessionen, die er als fertiger Mann im Jahre 397 verfasste, stellen 
eine doppelte Beichte vor Gott und den Menschen dar; »wem erzähle ich dies«, ruft 
Augustin, »nicht Dir, mein Gott, sondern vor Dir erzähle ich dies meinem Geschlecht, 
dem Menschengeschlecht; und sollten auch nur wenige mit dieser meiner Schrift be- 
kannt werden«. Trotz aller literarischen Schwächen, die aus der Rhetorenbildung 
des Verfassers und aus der ungestümen Beweglichkeit seines Temperaments sich er- 
geben — die fortwährenden Apostrophirungen Gottes, die Eigentümlichkeiten des 
»Gebetsstils« ermüden den modernen Leser nicht minder wie der Luxus an Bibel- 
stellen und Antithesen — trotz alledem werden gewisse Partien der zehn ersten 



— 9 - 


Bücher kraft ihrer psychologischen Feinheit und ihrer wahrlich nicht erkünstelten 
Gefühlswärme noch heute und wohl zu allen Zeiten jeden Unbefangenen fesseln und 
ergreifen. Schritt für Schritt werden wir durch die tastenden Anfänge des kind- 
lichen, durch die stürmische Gährung des jugendlichen Seelenlebens bis in die ent- 
scheidenden inneren Kämpfe der Reifezeit geführt. Augustinus würdigt die öffent- 
lichen Dinge überhaupt keines Blickes und benützt auch den äusseren Verlauf seines 
Daseins nur dazu, die göttliche Führung in helleres Licht zu setzen und aus einem 
reichen Schatz von Erfahrung Stoff für die Betrachtung und Zergliederung psychischer 
Vorgänge zu gewinnen. Dabei bleibt — und das ist eben d*is Charakteristische — 
das Individuum, der einzelne Mensch Augustinus mit all seinen Besonderheiten und 
individuellen Erlebnissen stets im Mittelpunkt; die äussere Welt um ihn herum scheint 
mehr und mehr zu versinken und er steht, allmählich dem bösen und guten Einfluss 
der Mitmenschen entrückt, allein seinem lange gesuchten und endlich gefundenen 
Gott gegenüber. Das quietistische Element dieses Gefühlslebens hat erst kürzlich 
Harnack scharf hervorgehoben; auf einen weiblichen Zug in Augustins Natur ist 
schon früher aufmerksam gemacht worden 12 ). Der schroffste Gegensatz zum alt- 
hellenischen und altrömischen Wesen spricht aus jeder Zeile der Konfessionen wie 
aus jeder Zeile des Buchs vom Gottesstaat. Wenn der letztere zum Evangelium 
der mittelalterlichen Theokratie geworden ist, so liegt die Vermutung nahe, dass die 
Konfessionen als erste grossartige Verkörperung religiöser Selbstbiographie im Mittel- 
alter nicht ohne Wirkung geblieben sein werden. Nicht als ob sie ettva immer als 
unmittelbare Vorlage gedient haben müssten; die augustinischen Gedanken und 
Stimmungen besassen gar viele Kanäle, um zu gleichgestimmten Seelen späterer 
Jahrhunderte zu gelangen und dort die Lust zur Innenschau und Selbstschilderung 
zu erwecken und zu steigern. 

Dies geschah nun freilich unter Hinzutritt eines wichtigen Elements, dessen 
zwar nicht alle Schriften Augustins, aber doch die Konfessionen völlig ermangeln. 
Hier fehlt das Wunder im eigentlichen Sinne so gut wie ganz; Augustin warnt 
gelegentlich vor der >> Begierde nach seltsamen Gesichten« und erzählt von Ent- 
täuschungen, die seine visionsbedürftige Mutter erlebte. Denn das Visionäre spielte 
allerdings längst im Leben und in der Literatur des Christentums eine wahrhaft 
gewaltige Rolle. Auch der hellenischen Welt war ja das vom gewöhnlichen Traum 
unterschiedene Schauen übersinnlicher Dinge und Hören übermenschlicher Worte 
keineswegs fremd; es knüpfte sich entweder an die Vorstellungen von einem Dasein 
nach dem Tode oder an des Verlangen den Schleier der irdischen Zukunft gehoben 
zu sehen, manchmal an beides zugleich. So lässt schon Homer die abgeschiedenen 
Seelen im Hades dem Odysseus Rede stehen, was später Vergil auf seinen Helden 
Aeneas übertragen hat, und Piaton gibt am Schluss der Republik jene Erzählung 

9 


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- 10 - 


eines vom Scheintod Erwachten, die mit Recht als eine Vorstufe der christlichen 
Höllenvisionen in Anspruch genommen worden ist 13 ). Aber weit mächtiger noch strömte 
auf das Christentum die hebräische Prophetie und Apokalyptik ein, wie sie schon bei 
Arnos und Hesekiel in der wirksamen Form der Icherzählung auftritt. Diese begegnet 
uns auch z. B. in den Apokalypsen des Johannes, Petrus, Paulus u. a. sowie in dem 
»Hirten« des Hermas. Nachdem der starke eschatologische Zug der urchristlichen 
Zeit sich überlebt hatte, blieb doch das Bedürfniss die Gegenwart im Licht des Wunder- 
baren zu sehen und immer von Neuem das Hereinragen des Übernatürlichen zu 
spüren. Es kann nicht überraschen, dass eine bisher noch nicht berührte Gattung 
der christlichen Erzählungsliteratur, das überreich bebaute Feld der Märtyrergeschichten, 
eine Menge von Visionen aufweist. Das gespannte Interesse, womit man früher die 
kommende ungeheure Umwälzung aller Dinge zu erspähen suchte, wandte sich 
jetzt den einzelnen Persönlichkeiten der Blutzeugen zu. Gerade die älteren Märtyrer- 
akten lassen uns den hohen Wert erkennen, den man vor allem auf die Überlieferung 
der Kerkervisionen solcher Helden und Heldinnen des Glaubens legte; sie bilden z. B. 
den Hauptinhalt einer Erzählung, die in die Akten der heiligen Perpetua als Auf- 
zeichnung von ihrer eigenen Hand eingefügt ist. Nachdem Perpetua in ihrer letzten 
Vision in Mannsgestalt verwandelt und mit Öl gesalbt den Ringkampf mit einem 
widerlichen Ägypter d. h. mit dem Teufel glücklich bestanden und vom Lanista den 
Zweig als Siegeszeichen erhalten hat, schliesst sie mit den Worten: »Soweit habe ich 
geschrieben bis zum Vorabend der Spiele; wie es aber im Amphitheater (bei der 
Hinrichtung) ergehen wird, das soll schreiben, wer da wilU. Der Verfasser, der die 
Erzählung zu Ende führt, erklärt, er tue dies im Auftrag der Verstorbenen. Es 
erweckt den Eindruck des Ursprünglichen und Echten, dass die Gesichte der gut 
beglaubigten Märtyrerakten sich meist auf ihren eignen Prozess und nahen Eingang 
zur Seligkeit oder auf kurz vorher Geschiedene beziehen. Das genügte nun später 
nicht mehr; wie die Ausmalung der Torturen wurde auch die völlig dramatische 
Darstellung der Wechselreden vor Gericht und der himmlischen Tröstungen während 
der Qual bis ins Masslose und Verzerrte getrieben. Timotheus und seine siebzehn- 
jährige Gattin Maura hängen nach allen erdenklichen Peinigungen einander gegen- 
über am Kreuz, neun Tage und neun Nächte hindurch; Maura sucht ihrem Gatten 
den Schlaf fernzuhalten, indem sie ihm ihre Visionen erzählt, und hält noch vor dem 
V T erscheiden mit lauter Stimme eine Ansprache an die Umstehenden 14 ). 

Wie sehr die Gewöhnung der Geister an das Wunderbare als an etwas 
Selbstverständliches nicht nur den historischen Sinn, sondern das Verhältnis zur Wahr- 
heit überhaupt bei ganzen Generationen beeinträchtigt hat, das kann hier nur ange- 
deutet werden 15 ). Wir dürfen gewiss nicht den einzelnen Schriftsteller des Mittel- 
alters für das Mass von Leichtgläubigkeit verantwortlich machen, das er sich zu 



Schulden kommen Hess. Und wie das geistige Sehen war auch das sittliche Gefühl 
in gewissen Beziehungen gestört, abgestumpft. Dieses Urteil ist durchaus nicht zu 
hart, wenn wir uns daran erinnern, wie selbst hochangesehene und zweifellos fromme 
Männer der Kirche damals sich kein Gewissen daraus machten, ihrem Gotteshaus 
oder ihrem Schutzheiligen zuliebe erfundene Tatsachen zu erzählen und sogar Ur- 
kunden zu fälschen. Die gleiche Überzeugung einem höheren Zweck, nämlich der 
Erbauung zu dienen Hess es als etwas vollkommen Berechtigtes erscheinen, wenn 
man in den Legenden, die sich allmählich im Gottesdienst einen wichtigen Platz er- 
oberten, die Farben immer dicker und schreiender auftrug 16 ). Seit dann die Visionen 
als selbständige Literaturgattung gepflegt wurden, missbrauchte man auch dieses Mittel 
ungescheut, um heilsamen Schrecken zu erregen oder gelegentlich sehr bestimmte 
materielle Forderungen durchzusetzen; man erblickte weltliche und geistliche Fürsten 
und Herren in den Qualen der Hölle oder des Fegfeuers und brachte die besonderen 
Ursachen ihrer Peinigung in Erfahrung, bei Karl Martell die Säkularisation der 
Kirchengüter, bei Karl dem Kahlen die Unfolgsamkeit gegen den Erzbischof Hink- 
mar von Reims u. s. w. 17 ). 

Bei solcher Richtung der Geister konnte die feine Selbstbeobachtung eines 
Augustin sich nicht unmittelbar fortpflanzen. Während Koryphäen der Kirche und 
der Literatur wie Papst Gregor der Grosse, Beda, Bonifatius Visionen sammelten, 
finden wir Jahrhunderte hindurch kein auch noch so dürftiges Seitenstück zu den 
Konfessionen. Denn die sogenannte Confessio des heiligen Patrick, die von der 
neueren Forschung mit grosser Wahrscheinlichkeit für unecht gehalten wird , gibt 
allerdings eine Mischung von Lebensbeschreibung, Beichte und Apologie, aber in 
unbeschreiblich roher und verwirrter Gestalt, natürlich nicht ohne die Würze der 
Visionen. Doch ist es allerdings charakteristisch, dass selbst in einer literarisch so 
tiefstehenden Periode die Neigung, über die eigene Person Mitteilungen zu machen 
nicht ganz verloren gegangen ist; bei Sulpicius Severus, dem Freund des heiligen 
Martin, bei Gregor von Tours, dessen Frankengeschichte zum Teil Memoirencharakter 
trägt, bei so manchen andern begegnen uns autobiographische Nachrichten 18 ). Erst 
nach langer Unterbrechung, im X. Jahrhundert treffen wir wieder auf den Versuch 
eingehender Selbstschilderung. Es ist das Zeitalter der mönchischen Reform, die 
zunächst hauptsächlich Herstellung der arg gelockerten klösterlichen Disziplin be- 
zweckte, dabei aber doch auch das Gefühl sittlicher Verantwortlichkeit beim Einzelnen 
belebte und den Blick nach innen wies. Dass sie mit einer Neublüte der materiellen 
Kultur Hand in Hand ging und mit einem gewissen Aufschwung der klassischen 
Studien zusammentraf, darf nicht übersehen werden 19 ). Freilich grundverschieden von 
Augustin tritt uns jener ehrgeizige und streitlustige Mönch Ratherius entgegen, der 
es in der Zeit Heinrichs I. und Ottos des Grossen unternahm sein eigenes Ich vor 

2* 


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der Welt aufzudecken und zu zergliedern 20 ). Mit einer unerhörten Rücksichtslosigkeit 
hat dieser äusserst belesene und geistig bewegliche Mann früh begonnen und bis 
ins Alter nicht aufgehört nicht nur seine wechselnden Schicksale, sondern vor allem 
seinen Charakter in allen Eigentümlichkeiten sich selbst und der Mitwelt klarzulegen, 
in einer langen Reihe von Schriften, die dem Augenblick entstammend und sprung- 
haft abgefasst eben dadurch wirkliches Leben in sich tragen. Er hat viel erlebt, 
dreimal den Bischofstuhl zu Verona, einmal den zu Lüttich bestiegen und immer 
wieder räumen müssen ; weder mit seinen Gegnern noch mit sich ist er jemals fertig 
geworden. Von der innern Ruhe, womit der ihm wohl vertraute Augustin bei aller 
Ruhelosigkeit des Stils auf überwundene Stürme zurückschaut, ist hier nichts zu 
spüren; die Art und Weise, wie Ratherius sich ohne Erbarmen herunterzieht und 
blossstellt, erinnert zuweilen mehr an Roussau. Auch Ratherius verfolgt gelegentlich 
den Zweck unter dem Schein von Sündenbekenntnissen, unter lauten Selbstanklagen 
gerade seine guten Eigenschaften hervortreten zu lassen, wobei er aber nicht wie 
Rousseau sentimental beschönigend, sondern scharf ironisierend verfährt. Er war ein 
Meister der verba otiosa, der schlagenden Einfälle, durch die er ein gesuchter Ge- 
sellschafter wurde und zuweilen im hitzigsten Wortgefecht seine Gegner selbst zum 
Lachen und auf seine Seite brachte. Das Weinen, meinte er, sei nicht seine Sache; 
nur wenn er andere weinen sehe, werde er sofort angesteckt, aber es gehe nicht tief. 
Und dennoch sind auch seine verzweifelten Stimmungen echt; diese Mischung von 
Tönen der Ironie und der Herzensangst enthüllt uns einen ungewöhnlichen, wenn 
auch innerlich friedlosen Menschen. An den Ernst seiner * Besserungsabsichten will 
er selbst nicht glauben. Wenn er z. B. die Psalmen singt, so geschieht das nicht in 
der Zuversicht, dass sie erhört würden, da er ja dabei an ganz andere Dinge denkt; 
aber er hofft, dass vielleicht gerade der Umstand, dass er sie wider Willen singt, 
etwas Verdienstliches haben und den innerlichen Trotz gegen Gott wettmachen könnte. 
Ebenso gesteht er, dass er seine Bekenntnisse eigentlich doch nur aus Selbstgefälligkeit 
und des Beifalls wegen niedergeschrieben habe. »Wer ihn kennen lernen will«, sagt 
er von sich, der versuche einmal sein Buch des Bekenntnisses ganz durchzulesen; 
ist er so, wie er sich schildert, so gibt es keinen schlechtem Menschen unter der 
Sonne; spricht er nicht die Wahrheit, so ist er der aller grösste Lügner«. Wenn 
Rousseau mit seinem Buch in der Hand getrost vor den Richter treten will, meint 
Ratherius umgekehrt, ihm brauche man nach seinem Tode nur das eigene Buch vor- 
zuhalten; damit sei er schon verurteilt. Er charakterisirt sich einmal kurz als einen 
Menschen, der weder Gott noch auch dem Teufel treu sein könne. 

Wie die höchst merkwürdigen Ergüsse des Ratherius schon der Form nach 
keine wirkliche Selbstbiographie darstellen, so ist auch der originelle Mann keines- 
wegs als ein Typus der regelrechten mönchischen Reform anzusehen. Neben an- 


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derem fehlt ihm ein unerlässliches Element dieser asketischen Bewegung, das visionäre. 
In den Klöstern hatte es seine Heimstätte und seinen Nährboden gefunden; die 
Zelle, nicht nur des Einsiedlers, sondern auch des Mönchs wurde, wie Petrus Da- 
miani, der Freund und Gehülfe Gregors VII., sagt, ein Zelt heiliger Ritterschaft und 
ein gottgeweihtes Schlachtfeld 21 ). Es hat etwas Rührendes, wenn streng sittliche 
Naturen wie Damiani oder der Abt von Cluny, Peter der Ehrwürdige, sich ernsthafte 
Mühe geben, die Glaubwürdigkeit ihrer zahllosen Mitteilungen über Wunder und 
Visionen ausser allen Zweifel zu setzen. Aber sie lassen doch ihre Gewährsmänner, 
die sie oft mit Namen anführen, stets in der ersten Person sprechen, und nicht allein 
ihre Gewährsmänner, sondern auch Verstorbene, Dämonen und Engel, die Jungfrau 
Maria und Gott selber. Der Leser sollte, wie Peter der Ehrwürdige ausführt, nicht 
nur den Sinn der Worte mitgeteilt erhalten, sondern die Worte selbst zu hören 
glauben. Es war die alte Praxis der Legende. Abt Peter meinte schon viel für die 
unverfälschte Echtheit eines solchen Berichts getan zu haben, als er eine um 
Weihnachten in Frankreich vorgekommene Geister er scheinung noch vor Pfingsten 
in Spanien schriftlich fixirte; dabei gibt er die längere Rede des Geistes, eines 
erschlagenen Ritters, im Wortlaut 22 ). Dichtung und Wahrheit durchdrangen sich 
eben unlösbar nicht nur in der Literatur, sondern auch im Leben selbst, das für 
manchen Klosterbewohner halb zum Traum sich verwandelte. Nüchterne Naturen, 
wie der Cluniazenser Rodulfus Glaber 23 ) , bekamen so gut wie andere den bösen 
Feind zu sehen; dem Rodulfus, der möglichst genau zu schildern sucht, erschien er 
als ein überaus hässliches Männlein, das hagere Gesicht von kohlschwarzen Augen 
belebt, mit gefurchter Stirn, dicken Lippen und zurücktretendem Kinn, mit Bocks- 
bart, spitzem Hinterkopf und gesträubtem Haar. 

In dieser Atmosphäre ist die erste rein mönchische Selbstbiographie entstanden, 
eine Geschichte voll seelischer Selbstpeinigung und überirdischer Eingriffe. Der Baier 
Otloh, der in Tegernsee erzogen, später in verschiedenen Klöstern, am Längsten bei S. Em- 
meram zu Regensburg sich aufhielt und im letzten Drittel des XI. Jahrhunderts gestorben 
ist, war nicht allein ein berühmter Schreiber, sondern auch ein äusserst fruchtbarer Schrift- 
steller 24 ). So einfach sein äusserer Lebensgang sich abspielte, so stürmisch ging es 
in seinem Innern her; des Mönchtums ganzen Jammer hat er durchgekostet und teils 
zu eigner Erbauung teils zu Nutz und Frommen anderer mönchischer Leser auch 
zu Papier gebracht. Ob er Augustins Konfessionen gekannt hat, vermag ich nicht zu 
sagen. Seine wichtigsten Erlebnisse schilderte er erst in poetischer, dann wiederholt 
in prosaischer Form. Bezeichnend ist gleich die Art und Weise seines Eintritts ins 
Kloster. Er hatte ihn als Knabe aus dankbarem Herzen wegen seines guten Er- 
folgs in der Schule gelobt, war aber nachher anderen Sinnes geworden und trieb 
als künftiger Weltgeistlicher mit Enthusiasmus die klassischen Studien. Da kam, als 



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er eines Tages zu Regensburg in seinen Lieblingsdichter Lukan vertieft war, die 
Krisis, eingeleitet durch einen dreimaligen heissen Windstoss, der ihm das Lesen 
verleidete. Weil er diese Mahnung noch nicht genügend verstand, erschien ihm 
eines Nachts im Traum ein furchtbarer Mann, der ihn derart durchpeitschte, dass er 
im Blut zu schwimmen glaubte. Nach dem Erwachen fand sich sein Rücken mit 
einem Ausschlag bedeckt, aber trotzdem mussten noch wiederholte heftige Erkrank- 
ungen mit beängstigenden Gesichten hinzutreten, um ihn von seinen Klassikern weg 
und in die Mönchskutte zu treiben. Kein Wunder, dass Otloh zum Visionensammler 
wurde und dass die Visionen auch seinen autobiographischen Mitteilungen die cha- 
rakteristische Färbung geben. Manches erinnert an die alten Teufelskämpfe der 
Einsiedler. So wird er einmal des Nachts durch einen unheimlichen Rauch aus dem 
Bett getrieben, schleppt sich in Todesangst in die Kirche und wieder zurück; ver- 
gebens sucht er mit den Händen seinen widerspänstigen Mund zum Psalmodiren 
aufzusperren. Da fallen die Dämonen schaarenweise über ihn her und reissen ihn so 
windschnell mit sich fort, dass ihm der Atem ausgeht, bis vor einen gähnenden 
Abgrund. Zweimal erscheint ein himmlischer Tröster, um zweimal zum Jubel der 
Dämonen wieder zu verschwinden, bis endlich das Glöcklein zur Nokturn erschallt 
und den Gequälten erlöst. Aber Otloh schildert auch feinere Formen der Anfech- 
tung: wie ihn der Teufel durch Zweifel erst am Erbarmen, dann an der Gerechtig- 
keit, endlich selbst am Dasein Gottes und an der Wahrheit der Schrift fast zum 
Wahnsinn treibt. Während sein Gesicht und Gehör wie verschleiert waren, glaubt 
er jemanden ganz nahe in sein Ohr flüstern zu hören. Er befreit sich durch ein 
Stossgebet, das wunderlich genug anhebt: »Wenn Du existirst, Allmächtiger, und 
wenn Du allgegenwärtig bist, wie ich oft in vielen Büchern gelesen habe, so zeige, 
wer Du bist und was Du vermagst«. Die Erhörung folgt auf dem Fuss und fortan 
war jeder Zweifel gewichen, sein Verständniss aber wuchs zu solcher Klarheit, dass 
er, wie er gesteht, es kaum mehr verbergen konnte; er musste es »infolge eines 
unaussprechlichen Triebs und ungewohnten Feuereifers« literarisch zum Ausdruck 
bringen. Denn auch der Himmel hatte ihn unmittelbaren Zuspruchs gewürdigt; 
diese Einflüsterungen von oben gestalten sich ihm dann freilich zu seitenlangen Aus- 
einandersetzungen, worin niemand anders als Gott selbst sich mit reichlichen Zitaten 
aus der Bibel und der Legende über Zulässigkeit und Wirkung der Anfechtungen 
ergeht. Ja, in seinen Visionen erscheint ihm Gott wiederholt leibhaftig, als greiser 
Priester im roten Messgewand; er hält längere Reden an Geistliche und Laien und 
kann einmal vor Rührung über Otloh's beweglichen Psalmengesang die strömenden 
Tränen nicht zurückhalten, die er sich langsam mit der Hand abwischt. 

Otloh ist gewiss mit Recht als typisch für seine Zeit aufgefasst worden; 
während er in seinen historischen Arbeiten ein gewisses Mass von Kritik zeigt, 



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haben wir in seinen persönlichen Erinnerungen nur mönchische Sebstbeobachtung 
und Selbstquälerei, krankhafte Aufregungen und gratia lacrimarum vor uns. Da- 
gegen zeigt die Selbstbiographie des französchen Abts Guibert von Nogent (f 1124) 25 ), 
obwohl zumal ihr erstes Buch in bewusster, auch stilistischer Nachahmung Augustins 
abgefasst ist, neben massloser Selbsterniedrigung und einer Unzahl von Visionen 
doch schon manche Keime einer andern Weltanschauung. Denn die triumphirende 
Kirche des XII. und XIII. Jahrhunderts trägt ein Doppel gesicht; die Kreuzzüge, die 
ja grossenteils aus der mönchischen Reformbewegung hervorgegangen sind, brachten 
wohl dem asketischen Idealismus erneute Anregung, aber zugleich eine mächtige 
Belebung der wissenschaftlichen und ästhetischen Triebe. So verlässt auch Guibert 
von Nogent zuweilen den streng mönchischen Standpunkt, wenn er z. B. sich nicht 
versagen kann, neben den christlichen Tugenden seiner Mutter ihre leibliche Schön- 
heit zu preisen; sei diese doch ein Spiegel der ewigen Schönheit und trügen doch 
nicht ohne Grund die Engel stets anmutige, die Dämonen aber hässliche Züge. Er 
vergisst nicht anzuführen, dass sie ihm — auf die eigne schöne Erscheinung wirft 
er einen kurzen Seitenblick — in seiner Kindheit nicht nur gute Lehrmeister ge- 
geben, sondern auch wahrhaft fürstliche Kleider angeschafft habe. Das sichtliche 
Bemühen, dieser Mutter ein literarisches Ehrendenkmal zu stiften, ist vielleicht der 
erfreulichste Zug an einem Schriftsteller, dessen Eitelkeit sich nur schlecht hinter der 
Maske der Demut verbirgt. Denn auch jenes fortwährende himmlische Eingreifen, 
das sich in den Visionen Guiberts und seiner Mutter kundgibt, war doch sehr ge- 
eignet, das Selbstgefühl der Begnadigten zu heben; sogar der erste Lehrer des 
Knaben wurde durch eine Vision veranlasst, seine Erzieherstelle bei einem jungen 
Vetter Guiberts aufzugeben und sich dem neuen Schüler zu widmen. Ohne religiöse 
Einkleidung, mit voller Offenheit tritt uns das Wohlgefallen an der eignen Person 
in den autobiographischen Schriften des ehrgeizigen Wallisers Giraldus entgegen 26 ). 
Wenn er von sich meistens in der dritten Person spricht, so geschieht es nicht 
aus Bescheidenheit, sondern um diesen dritten recht unverschämt herausstreichen zu 
können. »Ich habe«, sagt er, »Sorge getragen, die hervorragenden Leistungen eines 
Zeitgenossen, die ich teils als Augenzeuge miterlebt teils nach seinem Bericht auf- 
gezeichnet habe, dem ewigen Gedächtnis zu überliefern«. Sein heissersehntes Ziel, 
Bischof zu werden, hat er allerdings nicht erreicht, aber in seinen kirchenpolitischen 
Kämpfen gereichten ihm, wie er selbst mitteilt, zwei Dinge zum Trost, »erstlich 
seine Verdienste um Gott und sodann die Gunst und der Beifall der Menge«. Der 
Gedanke an die Nachwelt ist bei ihm der treibende; man muss ein Denkmal des 
eignen Ruhms hinterlassen. »Sehr viele Gelehrte«, sagt er, »altern, ohne sich selbst 
zu kennen; indem diese Seelen ohne Feuer die Kräfte ihres Geistes nicht erproben, 
gehen sie zu Grunde wie das Vieh und ihres Namens wird nicht mehr gedacht«. 


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Giraldus brauchte sich wegen solcher Unterlassungssünden keinen Vorwurf zu machen. 
Auch die Visionen, die es aufgezeichnet hat, beziehen sich insgesamt auf die erhoffte 
Standeserhöhung und auf seine Gegner; Mönche und Einsiedler, Magister und Ritter, 
Frauen und Kinder sahen ihn und immer wieder ihn. Es ist nur eine andere Form der 
Ruhmgier, die sich bei ihm abwechselnd in christlicher oder klassischer Tonart äusserte. 

Wie hoch einzelne bevorzugte Geister des XII. Jahrhunderts über die 
mönchische Einseitigkeit des gregorianischen Zeitalters hinauswachsen konnten, dafür 
bietet uns die Geschichte der Selbstbiographie wenigstens ein Beispiel, die berühmte 
»Geschichte meines Unglücks« von Peter Abälard (f 1142) 27 ). Nur leicht einge- 
kleidet in die Form eines Briefs an einen gleichfalls vom Schicksal getroffenen 
Freund, gibt sie eine Selbstzeichnung mit so sicherer Hand und in so markigen 
Strichen , dass sie ästhetisch betrachtet unverkennbar über den augustinischen Kon- 
fessionen steht, während auch nicht die leiseste Spur von der visionären Über- 
schwenglichkeit des Zeitalters hier zurückgeblieben ist. Und doch hätte jene ent- 
setzliche Katastrophe, die Abälards Leben in zwei Hälften zerriss, einem rein 
mittelalterlichen Menschen das tröstliche Versinken in die Tiefen mystischen Traum- 
lebens nahe legen müssen. Wie einfach erscheint das äussere Dasein Augustins, wie 
gelinde selbst seine seelischen Kämpfe neben den Erschütterungen, die der geniale 
Franzose durchlebt und überlebt hat! Mit allen Vorzügen des Geistes und Körpers 
ausgestattet, von der gebildeten Welt als Fürst der Wissenschaft angestaunt, dazu 
ein berückender Meister des Gesangs und im Besitz jenei schönen und hochbegabten 
Frau, die lieber mit ihm zur Hölle fahren wollte als ohne ihn zum Himmel ein- 
gehen — und dann mit einem Schlag ein armer verstümmelter Mönch, für den alle 
Lust und aller Glanz der Erde verschlossen war, der nicht nur mit sich allein, sondern 
mit einer wachsenden Schaar von Feinden fertig werden sollte, vor geistliches Ge- 
richt gezogen, gezwungen ein gefeiertes Werk mit eigner Hand in die Flammen zu 
werfen, zur Klosterhaft verurteilt. Die Selbstbiographie des Schwergeprüften lässt 
trotzdem das Hochgefühl der früheren Zeiten noch durchklingen; sie ist eben keine 
Beichte im Sinne Augustins, sondern ein Appell an die Teilnahme der Mitwelt, der 
durch die ergänzende Veröffentlichung seines Briefwechsels mit Heloise noch ver- 
stärkt werden sollte. Die rücksichtslosen Enthüllungen dieser Briefe sind ebenso 
wohl berechnet wie die vorsichtige Zurückhaltung, die Abälard bei aller Schärfe 
der Selbstanklage gelegentlich in der Biographie beobachtet. Von der grossartigen 
Unbefangenheit Augustins ist nicht die Rede. Hier sprach kein grosser Mensch, 
wohl aber ein Aristokrat des Geistes, um den bereits eine Ahnung von wirklich 
humanistischer Luft weht. 

Ein gewaltiger Zug zur Welt, zur Macht, zum Wissen, zum Lebensgenuss 
geht durch die Kirche des XII. und XIII. Jahrhunderts. Und doch bezeugen eben 



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damals grossartige mönchische Reformbewegungen die noch vorhandene Lebens- 
fähigkeit des alten asketischen Geistes. Und schon ehe die Bettelorden in einer 
bisher unerhörten Weise die Laienwelt zu selbsttätiger, nicht nur empfangender 
Teilnahme am religiösen Leben aufgeregt hatten, war bereits jene Entwicklung der 
kirchlichen Frömmigkeit zur Mystik eingeleitet, deren geistiger Inhalt der theologi- 
schen Wissenschaft und deren Erscheinungsformen der Jahrhunderte lang gesteigerten 
und verfeinerten Askese entstammen. Ein so ungestörtes Ausreifen des Gemüts- 
lebens von der zarten frischen Blüte bis zum Überreifen, Süsslichen und zuweilen 
auch Fauligen war noch niemals dagewesen. Charakteristisch ist für diese Periode 
geistigen und moralischen Raffinements wie für die viel spätere uud reichere der 
modernen Romantik die höchst bedeutende , oft führende Rolle der Frau 28 ). Seit 
dem XII. Jahrhundert nimmt die religiöse Selbstbiographie in den Kreisen der 
berühmten Visionärinnen und ihrer mitfühlenden Vertrauensmänner, die meist die 
Aufzeichnung besorgten, immer mehr einen ausgesprochen weiblichen Charakter an, 
indem an die Stelle der früheren Dämonenkämpfe und Höllenphantasien allmählich 
eine geistliche Erotik empfindsamster Art gesetzt ward und neben den weicheren Ge- 
fühlen auch ein gewisses Schönheitsbedürfnis, eine naive Freude an lieblichen Gestalten, 
schimmernden Farben, reichen Gewändern und Kleinodien sich offenbarte. Das Zeit- 
alter der ritterlichen Kultur mit ihrem Minnedienst und ihren starken künstlerischen 
Neigungen ist bis in die Visionen hinein deutlich zu spüren, selbst bei der im 
Ganzen noch sehr herben und apokalyptisch gerichteten Hildegard von Bingen 
(f 1 179). Die umfänglichen Schriften, die unter ihrem Namen auf uns gekommen 
sind und in denen sich auch Ansätze zu einer Selbstbiographie finden, rühren in der 
uns vorliegenden Gestalt keinenfalls von der hochgefeierten Visionärin selbst her, 
sondern sind durch männliche Vermittlung aufgezeichnet und zum Mindesten be- 
trächtlich umgemodelt worden. Von ihrer Zeitgenossin Elisabeth von Schönau be- 
sitzen wir, wieder durch Vermittlung ihres Bruders, des Abts Eckbert, ein förmliches 
Tagebuch über ihre Visionen mit genauer Angabe der Daten 29 ). Später tritt die 
hier noch vorhandene Teilnahme an den grossen Kämpfen der Zeit immer mehr vor 
den rein persönlichen Beziehungen und Erlebnissen zurück; die Freundinnen und 
Freunde mystischer Beschaulichkeit spinnen sich förmlich ein in ihren engsten Kreisen 
und damit nehmen auch die autobiographischen Aufzeichnungen vielfach einen ge- 
radezu pathologischen Charakter an 30 ). Die Heldinnen sind, sehr verschieden von 
jenen Frauen der Märtyrerzeit, in der Regel krank und schwach oder wenigstens 
durch Askese heruntergebracht; sie schildern oft ihre körperlichen Leiden mit 
peinlicher Sorgfalt Durchaus weiblich ist dann das Schwelgen in bräutlichen und 
mütterlichen Gefühlen; denn neben Christus dem Bräutigam, zu dem ihr Verhältnis 
sich ganz nach dem Muster des höfischen Minnelebens gestaltet, beansprucht das 



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Christkind, seine Pflege, seine kindliche Anmut und Schalkheit einen grossen Platz 
in dem Traumleben seiner Verehrerinnen. Es wird von ihnen mit einer manchmal 
recht raffiniert anmutenden Naivetät gebadet, getränkt und geliebkost und bezeich- 
nender Weise auch ausgefragt: wie es sich denn bei seiner Geburt und in den 
ersten Jahren gefühlt und betragen habe, ob es wahr sei, dass Joseph es in seine 
Hosen eingewickelt oder dass es einem der drei Könige ins Haar gegriffen habe, 
wohin denn die von den Königen geschenkten Kostbarkeiten gekommen seien 31 ). 
Diese spielende Art überträgt sich auch auf die Männer, die in solchem Verkehr 
sich wohl fühlten. Es ist charakteristisch für die Umkehr des Verhältnisses, dass 
die Lebenserinnerungen Heinrich Suso's zuerst nicht von ihm selbst, sondern nach 
seinen Gesprächen, ohne dass er es wusste, von seiner »geistlichen Tochter« Elsbeth 
Stagel aufgezeichnet worden sind. Was sollen wir aber davon urteilen, dass Meister 
Heinrich von Nördlingen sich von seiner abgöttisch verehrten Freundin Margarethe 
Ebner einen ihrer abgelegten Schlafröcke erbat und auch wirklich trug? Denn das 
gegenseitige Anschwärmen und Verherrlichen ist hier unter anderen Formen eben 
so stark ausgebildet wie nachmals bei den Humanisten. Die Verfeinerung und Ver- 
tiefung des Gemütslebens, die sich ja von der Starrheit und Derbheit des früheren 
Mittelalters deutlich abhebt, war mit einer gefährlichen Verweichlichung erkauft 
worden. Heinrich von Nördlingen fühlt beim Schreiben an Margarethe einen sanft- 
fliessenden Brunnen in seinem Herzen entspringen; er weint mit Genuss. Und der 
Laie Rulman Merswin von Strassburg verirrte sich bis zur völligen Erdichtung 
eines angeblichen grossen Gottesfreundes, den er zum Teil unter wirksamer Anwen- 
dung autobiographischer Erzählung zum Helden eines mystischen Romans machte 32 ). 
Unnatur und Unwahrheit waren das Ende der mystischen wie der ritterlichen Em- 
pfindsamkeit. 

Und doch war damals schon jene Bewegung der Geister in vollem Anzug, 
die zur Genesung führen sollte. Eine Wiedergeburt freilich nicht der Antike allein, 
aber für die Befreiung der europäischen Menschheit aus den beengenden Banden 
einer überlebten Ordnung der Dinge hat doch der neuerwachte Glaube an die Schön- 
heit und Grösse des griechisch-römischen Altertums unschätzbare Dienste geleistet. 
Nirgends tritt uns das Ringen und die allmähliche Mischung des Alten und Neuen, 
des mittelalterlichen und des klassischen Geistes anziehender vor Augen als in den 
Werken Dante's, der ja gewiss nicht zu den Humanisten gezählt werden darf, aber 
doch wie ein Prophet der kommenden Weltanschauung mitten in scholastischer Denk- 
arbeit und mystischer Sehnsucht die erhabenen Gestalten der antiken Dichter auf 
sich zuschreiten sieht und sich ihnen anreiht. Denn an stolzer Selbstherrlichkeit und 
Ruhmesliebe konnte es der gewaltige Florentiner des XIV. Jahrhunderts mit den 
Alten wie mit den Grössen der Renaissance aufnehmen. Nach Jahrhunderten geist- 


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licher Wissenschaft trat endlich wieder ein Laie auf den Plan, der die Bildung seiner 
Zeit voll und ganz beherrschte. Wenn seine Divina Commedia den würdigen und 
alles frühere unendlich überragenden Abschluss in der Entwicklung der Visionsliteratur 
darstellt, so führt die Vita Nuova, deren Gegenstand- seine Liebe zu Beatrice ist, trotz 
ihrer mittelalterlichen Einkleidung in eine neue Welt 33 ). Im engsten Zusammenhang 
mit der Mystik, überall mit scholastischen Spitzfindigkeiten und wunderlichen Ge- 
sichten durchsetzt, atmet doch diese kleine Erstlingsschrift Dante's eine natürliche 
Wärme der Empfindung und eine Freude an feiner Beobachtung des eignen Herzens, 
wie sie uns seit Augustin nicht mehr begegnet sind. Nur dass bei Dante das alles 
nicht einer Beichte überwundener Verirrungen gilt, sondern die Geschichte seiner 
Jugend uns menschlich so nahe bringt, dass davor die konventionelle wSchwärmerei 
der ritterlichen Minnedichter nicht minder verblasst wie die sinnlich-übersinnliche Erotik 
der mystischen Klosterfrauen und Beguinen. Freilich wirkt das Mittel der Vision, 
dessen sich Dante noch nicht zu entschlagen vermag, trotz der Milderung zur Allegorie 
auf den modernen Leser fremdartig, aber der Kern, den diese krausen Traumspiele 
und künstlichen Allegorien nur halb verhüllen, ist höchst persönlich , individuell und 
darum allen Zeiten zugänglich. 

Das Fehlen jeder Beziehung auf die öffentlichen Dinge in der Vita Nuova 
erinnert uns zurück an die Konfessionen Agustins, an die Entstehung der Selbst- 
biographie. Mit Dante und mit Petrarka, der seine Epistel an die Nachwelt schreibt, 
tritt sie in ein neues Stadium. Ihre ausschliesslich religiöse Zeit war vorüber wie das 
Monopol des Klerus auf die Wissenschaft. Sehen wir doch, wie schon im XII. Jahr- 
hundert bei dem einen und andern geistlichen Schriftsteller das asketische Ideal ab- 
geschwächt oder fast ganz zurückgedrängt erscheint. Aber es ist kein Zufall, dass 
Petrarka, der Vater des Humanismus, sein Buch de contemtu mundi, auch eine Art 
von Beichte, in die Form eines Zwiegesprächs mit Augustinus gebracht hat, wobei er 
freilich auf seine Liebe und seinen Ruhm trotz aller Bemühungen des Kirchenvaters 
nicht verzichten will. Die Belauschung des eignen Herzens ist christlichen Ursprungs. 
Was sie aber zu Tage gefördert hat und stes zu Tage fördern wird, ist — Dichtung 
und Wahrheit. 


Der Wahrheit ohne Dichtung soll unser Lehren und Lernen an der Hoch- 
schule geweiht sein, oder sagen wir bescheidener: dem Streben nach Wahrheit. 
Dass dieses Streben heutzutage sich frei und unverkümmert betätigen kann, ist eine 
der schönsten Errungenschaften und Zierden unseres modernen Staatslebens. Unsere 


.1 



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bairischen Landesuniversitäten mögen in Erinnerung an alles Gute, was ihnen unter 
dem Walten eines Kunst und Wissenschaft schirmenden Herrscherhauses wieder- 
fahren ist, mit dankbarer Verehrung in die Vergangenheit, mit freudiger Zuversicht 
in die Zukunft blicken. 

Wir Erlanger aber haben noch das besondere Vorrecht, unseres allverehrten 
Regenten, des Prinzen Luitpold von Baiern, huldigend gedenken zu dürfen als 
unseres durchlauchtigsten 


Rector magnificentissimus. 



4. 


Anmerkungen. ^ 

1) Vgl. W. Wundt, Essays (Leipzig 1885) p. 135. Eine so feine Kennerin wie G. Sand 
urteilt (Histoire de ma vie , Paris 187b, I, 2); »L'^tude du coeur humain est de teile nature (jue plus 
qu'on s'y absorbe, moins on y voit claire«. Über den modernen »roman d'analyse« und die »memoires 
d'analyse« (Selbstbiographien) vgl. P. Bourget, La terre promise (1892) p. IV f. Viel zu günstig charak- 
terisirt die Wahrhaftigkeit der Selbstbiographien R. Gottschall in Unserer Zeit X. 2 (1874), 661 f., 
dagegen sehr richtig das ihnen anhaftende pathologische Element. 

2) Vgl. F. 0. Bau r in der Zeitschr. für wissensch. Theologie I, 459 ff.; Teuf fei, Geschichte 
der röm. Literatur (5. Aufl.) § 272. 

3) Vgl. A. Wiedemann, Ägypt. Geschichte I, 97; A. Erman, Ägypten p. 494; 671 ff.; 
F. Hommel, Geschichte Babyloniens p. 780; C. P. Tiele, babyL-assyr. Geschichte p. 112 ff. 

4) E. Rohde, der griech. Roman und seine Vorläufer, Leipz. 1876; über die Existenz von 
(nicht erhaltenen) psychologischen Romanen im modernen Sinn in der hellenistischen Zeit vgl. G. Thiele, 
Zum griech. Roman (Aus der Anomia. Archäolog. Beiträge, Berlin 1890, p. 124 ff.); F. Susemihl, 
Geschichte der griech. Lit. in der Alexandrinerzeit I (1892), 574. 

5) Vgl. den Artikel von S. Baring-Gould, Early Christian greek romances, in der Contem- 
porary Review XXX, 1877; V. Schultze, Artikel ^Legende« bei Ersch u. Gruber 11.42 (1888); Der- 
selbe, Geschichte des Untergangs des griech. -röm. Heidentums II (1892) 79 ff.; die Praxis dieser 
Romandichter sehr gut auseinandergesetzt bei Th. Zahn, Acta Joannis (1880) p. XLIX ff . Näheres 
über den Mönchsroman bei H.Weingarten (Zeitschr. f. Kirchengesch. I, 1877); H. Usener, der heil. 
Theodosius (1890); W. Israel in der Zeitschr. f. wissensch. Theol. XXIII, 145 ff. 

6) Vgl. die Stelle des Theodoretus in der Vorrede zu seiner (pdo&eoc; hiogla (Migne, Patrol. 
series graeca LXXXII col. 1292, hiezu vgl. ebd. col. 1448 ff. ; 1465); die V. Macarii Romani in latein. 
Übersetzung bei Rosweyde, Vitae patrum (Antw. 1628) p. 224 ff. Über die Rolle der Löwen vgl. 
ausser den oben angef. Beispielen die Legenden der Maria Aegyptiaca, des Cyriakus, Georgius Chozebita 
u. a. m. Sprechende Vögel in der Legende des Makarius Romanus; in der Gesch. des Zosimus (bei 
Robinson, Texts and studies II. 3, Cambr. 1893, p. 86 ff.) werden selbst Wolke und Wind redend 
eingeführt. In den Icherzählungen tritt der wirkliche oder angebliche Verf. bald mehr bald weniger mit 
seiner Person hervor; manchmal dient sie nur zur leichten Einkleidung und Verbindimg des Erzählten, 
in andern Fällen werden wieder zusammenhängende Erzählungen in der ersten Person eingeschoben, wie 
in den Legenden der ägyptischen Maria, des Cyriakus, des Makarius Romanus, vielfach in den 
Sammlungen der Büssergeschichten (Rufinus, Palladius u. s. w.). 

7) Vgl. Baring-Gould p. 867 ff.; Zahn, Acta Joannis; R. A. Lipsius, die apokryphen 
Apostelgeschichten I. (1883). 

8) Aus der grossen Zahl verwandter Legenden seien ausser Pelagia (H. Usener, Legenden 
der Pelagia, Bonn 1879) nur die ägyptische Maria (vgl. H. Knust, Legenden der h. Katharina 
und der h. Maria Aegyptiaca, Halle 1890) und die Büsserin Pansemne beispielsweise hervorgehoben. 
Häufig ist die männliche Verkleidung, wie bei Pelagia, Thekla, Euphrosyne, Susanna, Apollinaris Syn- 


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clctica. Die teilweise lüsterne Färbung* begegnet sowohl in den Mönchsromanen (K.Müller, Kirchen- 
geschichte I, 1892, p. 213). als auch anderwärts; über das Ungesunde in dem übertriebenen Kultus der 
Virginität A. Harnack, Dogm^ngesch. III (1890), 198 A. 1. Anknüpfung der Märtyrergeschichte von 
Galactio u. Episteme an einen Roman von Achilles Tatius: Baring-Gould p. 871 f. 

9) Vgl. Harnack IE, 97 A. ; über die Anwendung auf Pctrarka A. Lasso n in den Preuss. 
Jahrbüchern LXII (1888), 431*. Die höhere Wertung des Einzelnen als eine Folge des Christentums 
charakterisirt vortrefflich Lotze- Mikrokosmus III 8 , 361. 

10) Von so schwach ji heidnischen Ansätzen zu religiöser Selbstbiographie wie bei Apuleius, 
will ich ganz absehen. Vereinzelte Mitteilungen über den eignen Lebensgang bei Porphyrios und Eunapios. — 
Vgl. Zahn, Cyprian von Antiochien und die deutsche Faustsage, Erl. 1882; bes. p. 18 ff. ; 73 ff.; 103 ff. 

1 1) Uber Ephracm's (in verschiedenen Fassungen überlieferte) autobiographische Erzählung vgl. 
Le Blant, les actes des martyrs (1872) p. 170 ff. ; die 99 Gedichte des Gregor von Nazianz, die sich 
auf seine Person beziehen (darunter namentlich zu beachten xfoi tov ravrov ßiov), bilden das 2. Buch 
seiner Poesien; nicht wenige tragen apologetischen Charakter. Die -Memoiren^ des Dioskuros (Mit- 
teilungen aus der Sammlung des Papyrus Erzh. Rainer IV, 63 ff.) und die sogenannte Tragocdie des 
Nestorius (bei Irenaeus Comes), beide nachaugustinisch, fallen nicht in den Rahmen dieser Darstellung. 

12) Harnack III, 66; vgl. seinen Vortrag über die Konfessionen, Giessen 1888; ferner Zeit- 
schrift f. Philosophie XCIII, 170 ff.; XCIX, 124 ff.; histor. Zeitschr. XXXII, 271; 278; Dilthey, Ein- 
leitung in die Geisteswissenschaften I, 326 ff. ; 337 A 1; G. Boi ssier, la fin du paganisme I (1891), 
339 f.; A. Ebert, Gesch. der Literatur des M. A. .1* (1889), 218 ff. 

13) Gute Zusammenstellung antiker Höllcnfahrten bei Rohde, der griech. Roman p. 260 
A. 3; vgl. E. Norden in der Allgem. Zeitung 1893, Beil. Nr. 89; über . eine heidnische Apokalypse 
E. Zeller, Vorträge III (1884), 52 ff. Einen bekannten heidnischen Visionär charakterisirt H. Baum- 
gart, Aelius Aristides 1874). 

14) Darüber, dass der »Hirt< des Hermas nicht den Romanen beizuzählen ist, Zahn, der 
Hirt des Hermas (1868) p. 80; auch Baring-Gould p. 863. Über die Akten der Perpetua u. Felicitas 
vgl. die Ausgabe von Harris und Gifford (1890) sowie (in der Hauptfrage abweichender Ansicht) 
Robinson, Texts and studies I (1891) Nr. 2. Ausserdem z.B. die Acta SS. Montani , Lucii, Juliani 
u.s.w. (vgl. Harris u. Gifford p. 27), die passio SS. Jacobi, Mariani et aliorum, die vita et passio S. 
Caecilii Cypriani episcopi (vgl. Harnack, Gesch. der altchristl. Literatur I, 729 f.; 820); über Timotheus 
und Maura: Le Blant p. 239 f. Uber den Eindruck der Visionen Harris u. Gifford p. 6: »it is the 
visions that have impressed the Church . Auch in den apokryphen Apostelgeschichten mit Vorliebe das 
visionäre Element gepflegt (Lipsius a. a. O. p. 8). 

15) Vgl. hierüber z. B. J. Bemays, Gesammelte Abhandlungen II (1885), 245 f.; Usener, 
Theodosius p. XX ff.; E. Zeller in der deutschen Rundschau LXXIV (1893), 195; 214 ff ; (namentlich 
auch über die Gewohnheit pseudonymer Veröffentlichung, die ja eine uralte ist und z. B. in der ägypti- 
schen Literatur die Regel bildet, E. Meyer, Gesch. des alten Ägyptens, 1887, p. 128); auch Zahn 
der Hirt des Hermas p. 88 ff.; Harnack, altchristl. Lit.-Gesch. I, XXVI. Über die Entwicklung der 
Legende, namentlich ihrer Verwendung im Gottesdienst, vgl. Eüert bei Ersch u. Gruber I, 341 ff.; 
C. Horstmann, altengl. Legenden (1881), Einleitung. Für ihre Weiterbildung nach der phantastischen 
Seite hin sind besonders die Kelten von Einfluss. 

16) Für die Fälschungen des M. A. braucht wohl nicht erst auf einzelne Beispiele verwiesen 
zu werden. Vgl. G Ellinger, Das Verhältniss der öffentl. Meinung zu Wahrheit und Lüge im X., 
XL und XII. Jahrh., Berl. Diss. 1884; B. Lasch, Das Erwachen und die Entwicklung der historischen 
Kritik im M. A. Breslau 1887. 


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17) Vgl. C. Fritzsche, die latcin. Visionen des Mittelalters bis zur Mitte des XII. Jahr- 
hunderte; ein Beitrag zur Kulturgesch. (in Vollmöller's Kornan. Forschungen Bd. II. III; 1886/7). 

18) Über die Confessio des hl. Patrick vgl. Zimmer in der Zeitschr. für deutsches Altertum 
XXXV, 79 Anm.; J. von Pf lugk-Harttung in den Neuen Heidelberger Jahrbüchern III (1893), 
71 ff. Ober die an den Geist französischer Memoiren gemahnende Art des Sulpicius Severus: Ebert 
P, 336; über Gregor von Tours ebd. 570 f. Gregor gibt hist. Franc. VIII. 15 die kurze Selbstbiographie 
des Diakons Vulfilaich, den er zum Erzählen nötigt, im Wortlaut. Autobiographische Notizen z. B. bei 
dem Byzantiner Menander Protektor (vgl. Krumbacher, Geschichte der byzantin. Literatur p. 51 f.), 
bei Beda, hist. eccles. V. 24, bei einer vornehmen Dame der Karolingerzeit in den für ihren Sohn be- 
stimmten Aufzeichnungen (vgl. Bondurand, le manuel de Dhuoda, 1887). 

19) Sackur, die Cluniazenser I (1892) p. V. 

20) Über R. vgl. A.Vogel, R. von Verona u. das X. Jahrh. 2 Bde. 1854; Ebert III, 380 ff. 
Die praeloquia*, in denen er bereits mit seinen Geständnissen beginnt (Vogel I, 89), sind c. 936 verf., 
der »dialogus confessionalis cuiusdam sceleratissimi — Ratherii< 957 (ebd. 226 ff.), die >qualitatis con- 
iectura cuiusdam« 966 (ebd. 329 ff.). Auch in der *phrenesis 952 und in »de proprio lapsu« und de 
otioso sermone « 964 ; (ebd 200 ; 298 ff.) findet sich Hiehergehöriges. 

21) Petras Damiani, Opuscula XI. 19. 

22) Vgl. ebd. passim; Petri Venerabiiis abb. Cluniac. de miraculis libri II (z. B. I. 2; 6; 10; 
23; 27; II. 32). Der heil. Dunstan lässt eine in einer Vision gehörte Antiphonie gleich nach dem Er- 
wachen aufzeichnen, sammt der Melodie (V. Dunstani § 29). 

23) Rodulfus Glaber, historiarum liber V. 1 ; hiezu E. Gebhart, l'£tat d'äme d'un moine 
de Tan 1000 (Rev. des deux mondes III. 107 , 1891 , p. 600 ff.). Zahlreiche Visionen schon in der Vita 
S. Odonis (des ersten Abts von Cluny, f 942) von seinem Schüler Johannes, der sowohl seinen Helden 
selbst z. B. seine Jugendgeschichte erzählen lässt als auch eigne Erinnerungen gibt (vgl. Mabillon, Acta 
Sanctorum ordinis S. Benedicti, saec. V., pag. 148 ff.; 164 ff.; 172; 178 ff.); er sagt: »ea nimirum scribere 
bene complacuit, quae quasi de alio narrante ex eius ore sumpsi et meae memoriae coramendavi « . 

24) Über Otloh und seine Schriften vgl. B. Pez im Thesauiiis aneedotorum III, X ff., Mon. 
Germ. SS. IV. 521 ff.; XI, 377; S. Riezler, Gesch. Baierns I (1078), 497 ff ; ; Lasch a. a. O. p. 52 f.; 
61 f.; auch K. Werner, Gerbert (1878) p. 240 ff. und K. Lamprecht Deutsche Gesch. II (1892), 
197 f. ; über seine Visionen Fritzsche a. a. O. III, 349 ff. Seine Teilnahme an den zu S. Emmeram verübten 
Fälschungen vermutet He ine mann (Neues Archiv XV, 336 ff.). Nach G. Gröber (Grundriss der 
roman. Philologie II. 1, 276) beginnt mit O. die geistliche Selbstbiographie nach dem Muster von Augustins 
Konfessionen. Stilistisch berührt sich jedoch O. mit diesem kaum; er zitirt überhaupt die Väter nur 
selten, Aug. z. B. im dialogus de tribus quaest. prolog; Cap. 4; V. S. Wolfkangi prolog; sonst 
ein paar Mal Gregor den Grossen und die Vita patrum (Legende). Autobiographisches enthalten folgende 
von seinen Schriften, de spiritali doctrina, das sich inhaltlich (vgl. Cap. 14; 17) mit Stücken des liber 
visionum und des libellus de tentationibus deckt; liber visionum (zw. 1062 und 1066); seit 1067: de con- 
fessione actuum suorum (— de tentat. I); de cursu spirituali (Cap. 21 = de tentat. I, mit geringen Ab- 
weichungen) ; libellus de suis tentationibus, varia fortuna et scriptis (pars I und II). Nicht uninteressant 
ist, dass O. seine Unterredungen mit dem Reichenauer Mönch Heinrich zuerst ohne Nennung ihrer Namen 
niederschrieb, der andere ihn aber bat, >ut et causam scribendi illustrarem prologo et utriusque personae, 
meae videlicet ac sui, memoriam patefacerem in dialogo« ; dies geschah dann auch in dialogus de tribus 
quaestionibus (vgl. de tentat. II). — Der Propst Arnold, mit dem O. noch eine Zeit lang zu S. Emmeram 
zusammenlebte, hatte in der Vorrede seines Werks über den Klosterheiligen ebenfalls eine freilich kurze 
Selbstbiographie gegeben ; auch er wird von der Vorliebe für die heidnischen Autoren geheilt, durch den 


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Tod eines Freundes (M. G. SS. IV, 543 ff.; vgl. Riezler I, 495 ff.); Autobiographisches auch II. 52, 
Visionen in der Vorrede und II. 47; 64 ff. 

25) Guiberti de Novigento de vita sua sive monodiarura libri III; vgl. über ihn d' Achery, 
der bereits die Nachahmung Augustins hervorhebt (bei Migne, Patrol. lat. CLVI, 1047 f.); Wagen- 
mann in Herzogs Realenzyklopädie V 2 , 4(>4; Hist litter. de la France X, 439 ff Autobiographische 
Notizen bei dem englischen Chronisten (—1141) Ordericus Vitalis, hist. ecclesiast. V. 1; XIII. 22 (wo er 
die Hauptdaten seines Lebens in Form eines Gebets zu Gott wiederholt). Die Geschichte seiner Bekehrung 
erzählt lebendig und mit Einflechtung bedeutsamer Visionen der ehemalige Jude und nachherige Prämon- 
stratenser Hermann (Migne CLXX, 805 ff.). Die Erzählung des Abts Rupert von Deutz (f 1135) 
von seinen eigenen Visionen, wobei er einmal auf Augustins Konfessionen Bezug nimmt (Migne P. L. 
CLXVIIL 1591), führt mit ihren reichlichen Küssen und Umarmungen bereits in die Zeit der mystischen 
Empfindsamkeit hinüber. 

26) Über Giraldus Cambrensis (t nach 1192) vgl. Lappenberg-Pauli, Gesch. von England 
II, 282; III, 880 f. Ausser den libri III de rebus a se gestis (in der Ausgabe seiner Werke, Lond. 
1861 ff., Bd. I; vgl. Einleitung p. LXXXIX) und den invectiones geben auch verschiedene andere seiner 
Schriften Autobiographisches, meist in der dritten Person (im speculum ecclesiae dist. III. 6 spricht er in 
der ersten Person). Für seine klassische Bildung und Ruhmesliebe vgl. namentlich Opp. V, 3 ff.; 
VI, 7 ff. 

27) Historia calamitatum; vgl. S. M. Deutsch, Peter Abälard (1883) p. 26 f.; 42 ff.; A. Haus- 
rath, P. A. Ein Lebensbild (1893) p. V; 1 f.; 125 ff. 

28) Was H. Brandes (Lit. des XIX. Jahrh. VI, 1891, p. 311) in Bezug auf die Periode der 
Romantik sagt, gilt ebenso für die Mystik des XIII. und XIV. Jahrhunderts. 

29) Die in die V. Hildegardis aufgenommenen Icherzählungen der Heldin tragen, wie P reg er 
(Deutsche Mystik I, 16) mit Recht bemerkt, »das Gepräge von Stücken einer Selbstbiographie der Hilde- 
gard«. Ihre Gepflogenheit z. B. im Scivias die himmlische Stimme ganze Abhandlungen vortragen zu 
lassen erinnert an Otloh (s. o.). Die Frage nach der Entstehung bez. Echtheit ihrer sehr umfänglichen 
Schriften ist noch keineswegs endgültig gelöst. Die Visionen Elisabeths von Schönau herausgegeben von 
F.W. C. Roth (1884). Uber die Art der Aufzeichnung vgl. Hildegards Brief an Guibert von Genibloux 
(Pitra, Analecta sacra VIII, 1882, p. 331 ff.); hiezu A. von der Linde, die Handschr. der Landesbibl. 
in Wiesbaden (1877) p. 43 A. 1; 80 ff; 99; allg. d. Biogr. XII, 407 f., P. Weinhold, die deutschen 
Frauen, I 4 , 81 ff. 

30) Vgl. K. Müller in der Zeitschr. f. Kirchengesch. VII, 122; Beispiele in Menge bei 
C.Greith, die deutsche Mystik im Predigerorden, Freib. 1861; bei P reger, deutsche Mystik I; II. 
Einen wesentlich andern, nichts weniger als weiblichen Charakter tragen trotz der visionären und erbau- 
lichen Einschaltungen die autobiographischen Mitteilungen des Minoriten Salimbene von Parma; vgl. 
A. Dove, die Doppelchronik von Reggio (1873) p. 1; 4; Michael, Salimbene (1889) p. 22 f.; 49; 92. 

31) Vgl. Ph. Strauch, Margarethe Ebner und Heinrich von Nördlingen (1882) p. XXXVI f.; 
89 f.; 99 ff.; hiezu Lochner, Leben und Gesichte der Christina Ebnerin (1872) p. 15. 

32) Vgl. H. Denifle in der Zeitschr. f. Deutsches Altertum XXIV; XXV; Strauch in der 
Allg. Deutschen Biographie XXI, 459 ff. Über die ungesunde Sentimentalität der mystischen Kreise : R. See- 
berg, Ein Kampf um jenseitiges Leben (1889) p. 59 f.; 72; über die unverkennbare Bereicherung und 
Verfeinerung des Gefühlslebens: Harnack III, 380 f. 

33) Vgl. F. X. Wegele, Dante (3. Aufl. 1879) S. 115; 122. 

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